Recht und Rechtskommunikation in modernen Rechtssystemen: Zur rechtstheoretischen Standortbestimmung des russischen Zivilrechts im Kontext der deutschen und europäischen Rechtsordnung [1 ed.] 9783428533961, 9783428133963

Das Potential einer deutsch-russischen Zusammenarbeit im Bereich von Wirtschaft, Politik, Recht und Kultur ist heute bei

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Recht und Rechtskommunikation in modernen Rechtssystemen: Zur rechtstheoretischen Standortbestimmung des russischen Zivilrechts im Kontext der deutschen und europäischen Rechtsordnung [1 ed.]
 9783428533961, 9783428133963

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 254

Recht und Rechtskommunikation in modernen Rechtssystemen Zur rechtstheoretischen Standortbestimmung des russischen Zivilrechts im Kontext der deutschen und europäischen Rechtsordnung Von Stanislav Kabanov

Duncker & Humblot · Berlin

STANISLAV KABANOV

Recht und Rechtskommunikation in modernen Rechtssytemen

Schriften zur Rechtstheorie Heft 254

Recht und Rechtskommunikation in modernen Rechtssystemen Zur rechtstheoretischen Standortbestimmung des russischen Zivilrechts im Kontext der deutschen und europäischen Rechtsordnung

Von Stanislav Kabanov

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

D6 Alle Rechte vorbehalten © 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13396-3 (Print) ISBN 978-3-428-53396-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83396-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In der modernen Informations- und Wissensgesellschaft mit ihren vorwiegend staatlich organisierten Rechtssystemen bahnt sich in West wie in Ost seit Beginn des 21. Jahrhunderts ein tiefgreifender sozietaler Wandel an. Er hat – einmal abgesehen von den europa- und weltweiten wirtschaftlichen Beziehungen – längst auch die normativen Strukturen und Organisationsformen des Rechts selbst erfaßt und erstreckt sich auch auf diejenigen des Rechtsstaats und der Demokratie als politisch-rechtlicher Ordnungsform. Die Welt des Rechts erscheint heute zunehmend dadurch gekennzeichnet, daß die politischen, kulturellen und sozialen Grenzen zwischen den Rechtssystemen sich immer weniger an denen der nationalen Territorialstaaten orientieren. Geht man von der Differenzierung von Information und Wissen aus, die in der modernen Gesellschaft alle zwischenmenschlichen Kommunikationen, insbesondere die Kommunikation von Recht bestimmt, so schafft im digitalen Zeitalter Wissen im allgemeinen und wissenschaftliche Erkenntnis im besonderen, normen- und handlungstheoretisch gesehen, ganz neue Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Deren Potential in Politik und Recht ist heute in den Umrissen erkennbar, erscheint aber in normativer Hinsicht bei weitem nicht ausgelotet. Dies gilt auch für die Möglichkeit und Notwendigkeit politisch-rechtlicher Zusammenarbeit in Kontinentaleuropa und für die Modernisierung der Rechtssysteme in regional- und weltgesellschaftlicher Perspektive. Was die moderne Gesellschaft und das moderne Recht angeht, so befinden wir uns in einem in diesen Ausmaßen bislang nicht gekannten Prozeß einer sich ständig steigernden Modernisierung der Modernisierung von Gesellschaft und Recht, der die normativen Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen selbst zunehmend transformiert und tiefgreifend verändert. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht das Bestreben, die möglichen Ansatzpunkte und Voraussetzungen einer deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft zu bestimmen, die sich in der rechtlichen Kommunikation und Kooperation ergeben und einer bestmöglichen Nutzung und weiteren Entwicklung bedürfen. Wohl niemand wird erwarten, daß aus einer Globalisierung einzelner Rechtsmaterien, wie sie gegenwärtig weltweit stattfindet, eine Art mundialer rechtlicher Universalkultur entstehen könnte, doch erscheinen das deutsch-russische Vorbild partnerschaftlicher Zusammenarbeit und die hier gewonnenen bilateralen Erfahrungen durchaus geeignet, beim Aufbau einer Modernisierungspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und Rußland nützliche Dienste zu leisten. Ich erblicke den Schwerpunkt meiner Untersuchung in der allgemeinen Rechtstheorie, insbesondere der allgemeinen Theorie der Rechtskommunikation, wie sie in Rußland vor allem von Prof. Dr. Boris N. Topornin (Moskau) und Prof. Dr. Aleksej

6

Vorwort

V. Poljakov (St. Petersburg), in Deutschland von den Professoren Dres. Niklas Luhmann, Werner Krawietz u. a. entwickelt wurde. Ihnen ist mein Rechtsdenken auch dort verpflichtet, wo sie nicht eigens erwähnt und zitiert werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Analyse der Ansatz- und Ausgangspunkte einer juristischen Methodenlehre, wie sie heute vor allem im beiderseitigen Zivil- und Wirtschaftsrecht gepflegt wird. Aus der Perspektive staatlich organisierter Rechtssysteme – sei es der deutschen, sei es der russischen Rechtsordnung – betrachtet, bedeutet Europäisierung und Globalisierung des Rechts, wie die moderne Rechts- und Gesellschaftstheorie zu zeigen vermag, nicht nur in ihren unterschiedlichen Schwerpunkten, sondern auch in ihren Voraussetzungen und Folgen höchst Unterschiedliches. Wie die vorliegende Untersuchung zu zeigen bestrebt ist, können die Modernitätsmerkmale des Rechts in zeitlicher und räumlicher Hinsicht je nach dem gesellschaftlichen Kontext in ihren normativen Wirkungszusammenhängen differieren. Wir haben es somit, wie zeitgenössische Feldforschungen in diversen Rechtssystemen zeigen, nicht mit der Modernität des Rechts und der Modernität der Gesellschaft zu tun, sondern mit höchst unterschiedlichen multiplen Modernitäten (Shmuel N. Eisenstadt), die sich in der Eigenart der jeweiligen Rechtssysteme manifestieren. Dies hat auch Konsequenzen für den Aufbau und Ausbau einer deutsch-russischen Modernitätspartnerschaft, wie sie auf dem europäischen Kontinent gegenwärtig vor allem die inter- und multinationale Zusammenarbeit im Bereich des Rechts mitbestimmt. Der Verfasser beabsichtigt, einen – wenn auch bescheidenen – Beitrag zur Aufklärung dieser normativen Rechtsverhältnisse zu leisten, um das Potential zur rechtlichen Kooperation genauer zu bestimmen und besser zu verstehen als bisher. Ich kann hier nicht allen denjenigen danken, die mir auf meinem bisherigen Lebens- und Bildungsweg in der einen oder anderen Form nachhaltig geholfen haben. Ich danke vor allem meiner Mutter, die mir das Studium im deutschen Ausland ermöglicht und mich laufend unterstützt hat, sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der mich unterstützte und auch die Veröffentlichung dieser Arbeit gefördert hat. Großen Dank schulde ich ferner meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wilfried Bergmann, der mir immer wieder neue Anregungen für meine Untersuchungen gegeben hat. Sehr herzlich danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz, meinem Lehrer des Öffentlichen Rechts und der Theorie von Recht und Staat in Moskau / Münster, der meine Studien begleitet und ermutigt hat, desgleichen Herrn Prof. Dr. Wilfried Schlüter, der mir die Augen für die Zusammenhänge zwischen Zivilrecht, Wirtschafts- und Arbeitsrecht öffnete. Den beiden Geschäftsführern des Verlags Duncker & Humblot, Herrn Prof. Dr. jur. h.c. Norbert Simon und Herrn Dr. Florian R. Simon, LL.M. (Cornell), danke ich für die wohlwollende Förderung und die Aufnahme der Untersuchung in die von ihnen herausgegebenen Schriften zur Rechtstheorie. Moskau / Münster im Sommersemester 2010

Stanislav Kabanov

Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft I. Modernisierungspartnerschaft und Kommunikation in und zwischen Rechtssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Verschiedenheit der Rechtssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2. Existenz der Rechtsordnungen als Teile eines globalen Informations- und Kommunikationssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

3. Kommunikation von Recht auf nationaler, internationaler und transnationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

4. Struktureller Wandel und Transformation aller rechtsstaatlichen Beziehungen . .

22

5. Konstruktion und Dekonstruktion des konventionellen Stufenbaus der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

6. ,Stufenbau‘ und Hierarchie des Rechts in kommunikationstheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. Weltrechtssystem oder Globalisierung einzelner Rechtsmaterien? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1. Positivität des Rechts als normative Struktur der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2. Ausdifferenzierung sozietaler Teilsysteme in der modernen Gesellschaft . . . . . . . .

26

3. Eigen- und Selbstproduktion des Rechts als kommunikative Autopoiese . . . . . . . .

28

4. Normen-, Rechts- und Gesellschaftstheorie als Theorie selbstreferenzieller sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

5. Institutionalisierung, binäre Schematisierung und Prozeduralisierung des jeweils geltenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

6. Strukturprobleme der Europäisierung und Globalisierung des Rechts . . . . . . . . . . .

33

III. Zivil- und Wirtschaftsrecht im europäischen und globalen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

1. Wirtschaft und Gesellschaft in der weltgesellschaftlichen Perspektive einer modernen Interessen- und Wertungsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. Positivität des Rechts als Selektivität und Variabilität moderner Rechtssysteme . . .

37

3. Erweiterung des Rechtsbegriffs in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

8

Inhaltsverzeichnis 4. Kommunikation von Recht – normen- und handlungstheoretisch gedeutet . . . . . .

39

5. Konsequenzen für die zeitgenössische Interessen- und Wertungsjurisprudenz . . .

39

Zweiter Abschnitt Probleme und Denkansätze juristischer Methodik und allgemeiner Rechtslehren und ihre Relevanz für die Entwicklung des russischen Zivil- und Arbeitsrechts I. Handlungs- und Forschungsdesign im Verhältnis von Zivilrecht und staatlich organisiertem Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

1. Zivilrecht und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

2. Unterscheidung von Zivilrecht und Öffentlichem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

3. Interdependenzen und Wechselwirkungen im Verhältnis von Zivilrecht und Öffentlichem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

4. Methodik der Rechtsfindung und Rechtsgewinnung im Einzelfalle . . . . . . . . . . . . .

53

a) Gesetzesauslegung, Anwendung und Bindung der richterlichen Rechtsfindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

b) Generalklauseln und unbestimmte Gesetzes- und Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . .

56

c) Obiter dictum und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

d) Rechtsfortbildung durch Analogie und teleologische Argumentation . . . . . . . .

59

e) Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts . . . . . . . .

63

f) Analogie und Umkehrschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

5. Allgemeine methodologische Voraussetzungen und normative Prämissen richterlicher Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

6. Objektivität des Richters und des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

7. Zivilrecht und Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

II. Arbeitsrecht und Recht des Arbeitskampfes als Teile des Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . .

71

1. Verhältnis von Tarifvertragsrecht und Recht des Arbeitskampfes . . . . . . . . . . . . . . . .

71

2. Tarifvertragsrechtliche Grenzen der Arbeitskampffreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

III. Genese und Geltungsgrundlagen des deutschen Zivilrechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

1. Stellung des Zivilrechts im deutschen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

2. Liberalismus als Geltungsgrund der Zivilrechtsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

3. Entwicklung des Zivilrechts im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts . . . . . . . .

88

Inhaltsverzeichnis

9

IV. Genese und Geltungsgrundlagen des russischen Zivilrechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . .

95

1. Rolle des Zivilrechts im russischen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

2. Zivilgesetzbuch – Gesetzesnovellen des ZGB 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Aktuelle Tendenzen der Entwicklung und Ausdifferenzierung von Rechtsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4. Gegenstand des Zivilrechts und sozietale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

Dritter Abschnitt Interdependenzen zwischen dem russischen und dem westlichen Privatrecht I. Ausdifferenzierung des russischen Zivilrechts in neue Rechtsbereiche . . . . . . . . . . . . . 115 1. Zivilrecht und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Zivilrecht und Finanzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Zivilrecht und Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4. System des Privatrechts in Rußland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5. Problem des ,unternehmerischen‘ Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6. Gesetzes- und Rechtsanalogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II. Auswirkungen des westlichen Privatrechts auf das russische Privatrechtssystem . . . . 128 1. Novellen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Probleme unmittelbarer Anwendung internationaler Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Internationales und innerstaatliches Recht im modernen Rußland . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Einflüsse des westlichen Rechtssystems auf das russische Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Ist das Rechtssystem Rußlands ein Bestandteil der romanisch-germanischen Rechtsfamilie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Merkmale und Besonderheiten des sozialistischen Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Einwirkungen des europäischen Primärrechts auf das nationale Privatrecht . . . . . 168 IV. Einbettung der Privatrechtsbeziehungen in das Verhältnis von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) zueinander und im Verhältnis zu Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Unmittelbare Anwendbarkeit von Grundfreiheiten im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zum Mitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Unmittelbare Drittwirkung von Grundfreiheiten im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

10

Inhaltsverzeichnis 3. Mittelbare Drittwirkung von Grundfreiheiten im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4. Primärrechtskonforme Auslegung und Fortbildung des nationalen Privatrechts . . 174 5. Einwirkungen des Sekundärrechts auf das nationale Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6. Recht als Medium und Instrument der laufenden Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 176

Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Erster Abschnitt

Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft I. Modernisierungspartnerschaft und Kommunikation in und zwischen Rechtssystemen 1. Verschiedenheit der Rechtssysteme Analysen der Rechtskommunikationen, die sich an den existierenden Rechtssystemen der modernen Lebenswelt orientieren, lassen erkennen, daß die Kommunikation von Recht in und zwischen den Staaten ein hochkomplexer Gegenstandsbereich ist, der heute gesteigerte Anforderungen an die Rechtswissenschaft und die mit ihr kooperierenden benachbarten Wissenschaften stellt. Dies macht es notwendig, bei den hier anzustellenden Untersuchungen gewisse Eingrenzungen und Beschränkungen vorzunehmen, um zu einer genaueren Bestimmung des Gegenstandes und der Formulierung einer sozialadäquaten normativen, d. h. mit den Normen und dem Handeln befaßten Kommunikationstheorie des Rechts1 zu gelangen. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, hier den Bereich der Kommunikation zwischen und innerhalb von Staaten auf die Kommunikation zwischen und innerhalb von Rechtssystemen zu fokussieren.2 Bevor jedoch eine derartige Untersuchung vorgenommen werden kann, erscheint es erforderlich, zunächst den Begriff des Rechtssystems zu bestimmen und die Variationsbreite der unterschiedlichen, heute bereits existierenden Rechtssysteme darzustellen. Auf diese Weise wird es in einem weiteren Schritt möglich, Systeme aus diesem Kreis auszusondern, welche sich auf den ersten Blick als Rechtssystem präsentieren, aber dennoch nicht den an ein solches gelegten Ansprüchen genügen. Dadurch wird eine genauere analytisch-begriffliche Bestimmung3 des Kreises der Rechtssysteme ermöglicht, was zu einer Präzisierung der Kommunikationstheorie beiträgt. 1 Grundlegend: Poljakov, Aleksej V., Prošcanie s klassikoj, ili kak vozmozna kommunikativnaja teorija prava [Farewell to the Classics or How Communicative Theory of Law is Possible], in: Russian Yearbook of Legal Theory 1 (2008), S. 9 – 43; ders., Teorija prava v epochu globalizacii [Theory of Law in the Epoch of Globalization], ebd., S. 372 – 375. Krawietz, Werner, Legal Communication in Modern Law and Legal Systems. A Multi-Level Approach to the Theory and Philosophy of Law, in: My Philosophy of Law. The Law in Philosophical Perspectives, hrsg. von Luc J. Wintgens, Dordrecht / Boston 1999, S. 69 – 120. 2 Krawietz, Werner / Pieroth, Bodo / Topornin, Boris N. (Hrsg.), Kommunikation und Recht in der modernen Wissensgesellschaft – national oder international? Wissenschaftstage der NRW-Landespräsentation in Moskau vom 9. bis 12. Juni 2003, Berlin 2003.

12

1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

Zwar können an dieser Stelle nicht sämtliche Kennzeichen eines Rechtssystems dargelegt werden. Es werden jedoch dessen Hauptmerkmale aufgezeigt, anhand deren sich ein Rechtssystem identifizieren und näher bestimmen läßt. So grenzt sich ein Rechtssystem von anderen Systemen dadurch ab, daß es über eine systemeigene Normsprache mit einem Geflecht normativer Positionen und operativer Zusammenhänge verfügt. Auch besitzt es eingebaute Möglichkeiten der Erzeugung und autoritativen authentischen Interpretation von Normen und mehr oder weniger klare Kriterien für die Zurechenbarkeit des menschlichen Erlebens und Handelns zu diesem System. Nach Eckhoff / Sundby gilt als ein weiteres wesentliches Kriterium für ein Rechtssystem, daß das jeweilige System über eine direkte oder indirekte Verbindung mit einem oder mehreren Staaten verfügt.4 Durch diese wichtige Vorgabe scheidet bereits eine Vielzahl von sozialen Systemen aus diesem Zugehörigkeitsbereich aus, welche im übrigen die zuvor angeführten Elemente erfüllen. Zu diesen gehören nationale und internationale Nongovernmental Organizations (NGOs, INGOs) und Assoziationen, wie beispielsweise ,Ärzte ohne Grenzen‘, eine transnationale Assoziation von mehr als 2500 Doktoren, der ,World Worldlife Fund‘, jetzt: Worldwide Fund for Nature, und seine transnationale Schwester Greenpeace mit ihren Millionen von Mitgliedern.5 Auch sie können beispielsweise durch Satzungen oder Betriebsordnungen mittels einer systemeigenen Normsprache Normen erzeugen und autoritativ in der Weise interpretieren, daß klare Kriterien der Systemzurechenbarkeit geschaffen werden. Jedoch fehlt ihnen eine direkte oder indirekte Verbindung mit einem oder mehreren Staaten. An dieser Einschätzung ändert auch die Tatsache nichts, daß sowohl international agierende Großunternehmen sowie transnationale Organisationen und Assoziationen die Leitung eines Staates stark beeinflussen können. Den entscheidenden Unterschied macht hier die Form der Einflußnahme. So kann die Existenz großer Organisationen oder mächtiger Konzerne für spätere behördliche Entscheidungen von eminenter Bedeutung sein. Dies ist jedoch nur in faktischer Hinsicht von Relevanz, aber keinesfalls eine normative Prämisse für derartige Entscheidungen.6 Die Möglichkeit der normativen Einflußnahme ist aber für ein System, welches als Rechtssystem einzustufen ist, entscheidend. 3 Hierzu: Krawietz, Werner, Recht als Information und Kommunikation in der modernen Informationsgesellschaft – Normen- und Handlungstheorien im Übergang, in: Brand, Jürgen / Strempel, Dieter (Hrsg.), Soziologie des Rechts, Baden-Baden 1998, S. 175 – 206, 180 ff. et passim. Vgl. ferner: Poljakov (FN 1). 4 Eckhoff, Torstein / Sundby, Nils Kristian, Rechtssysteme: Eine systemtheoretische Einführung in die Rechtstheorie, Berlin 1988, S. 176. 5 Zur rechtlichen Einbettung dieser normativen Organisationsformen und Gemeinschaftsbildungen in das Rechtssystem in rechtstheoretischer Perspektive: Boli, John / Thomas, George M., Constructing World Culture: International Nongovernmental Organizations since 1875, California 1999; Harold J. Berman, World Law Journal, Vol. 18 (1995), S. 1617 – 1622. Vgl. ferner: Simon, Florian, Assoziation und Institution als soziale Lebensformen in der zeitgenössischen Rechtstheorie, Berlin 2001. 6 Eckhoff / Sundby (FN 4), S. 185.

I. Kommunikation in und zwischen Rechtssystemen

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Aus dieser Formulierung von Anforderungen an ein Rechtssystem im Sinne von Eckhoff / Sundby folgt, daß letztlich nur Staaten, aber auch internationale Organisationen wie die Europäische Union bzw. die Europäischen Gemeinschaften sowie das zwischenstaatliche Völkerrecht mit den hierin entwickelten nationalen oder internationalen Rechtsnormen als ein solches Rechtssystem bezeichnet werden können.7 Nicht vergessen werden darf, daß es auch, wie oben dargelegt, ein Recht innerhalb von sozialen Systemen gibt. Würde man die hier gefundene Formel für Rechtsstaat auf sie übertragen, so würden sie durch dieses Raster fallen. Es empfiehlt sich daher eine Unterscheidung zu machen, die auch den folgenden Ausführungen zur Rechtskommunikation zugrunde liegt. So muß einerseits die Rechtskommunikation zwischen und innerhalb von Staaten als ,wirklichen‘ Rechtssystemen im genannten Sinne betrachtet werden. Ebenso muß aber auch ein Blick auf die kleinförmigen Rechtssysteme, d. h. auf die einzelnen sozialen Systeme im Rechtssystem geworfen werden.

2. Existenz der Rechtsordnungen als Teile eines globalen Informations- und Kommunikationssystems Es zeigt sich auch im Bereich der Kommunikation innerhalb und zwischen Staaten, daß – wie im Bereich der sozialen Systeme überhaupt – eine Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren zu berücksichtigen ist. Um diesen Faktoren bei der Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie die ihnen angemessene Beachtung zukommen zu lassen, empfiehlt es sich, zwar recht allgemeine, aber doch hinreichend differenzierungsfähige Formulierungen zu wählen. Zunächst sind deshalb das Wort und der Begriff der Kommunikation zu klären. Der aus dem Lateinischen stammende Ausdruck bedeutet in erster Linie soviel wie Mitteilung oder Unterredung. Spezifischer ausgedrückt ist darunter auch die Übermittlung von Informationen, die hierdurch bewirkte Verständigung und die sich daraus ergebende Bildung von sozialen Übereinkünften, Einheiten und Interaktionen sowie deren Verbindung untereinander zu verstehen.8 Hinsichtlich der Thematik der Kommunikation von Recht ist diese dabei in zwei große Bereiche zu unterteilen. Darunter fällt einerseits das bloße Informations- und Kommunikationsrecht, welches die elektronische Kommunikation im gesamten Bereich des Rechts regelt, andererseits die Kommunikation von Recht als Recht, welche nicht nur vom Handelnden in der Perspektive des jeweiligen Rechtssystems, sondern vielmehr vom Standpunkt eines teilnehmenden Beobachters aus rechtstheoretischer Perspektive wahrgenommen und analysiert wird.9 Der erstgenannte Bereich befaßt sich mit der stetig und schnell anEbd., S. 177. Krawietz, Werner, Jenseits von national und staatlich organisierten Rechtssystemen – Normative Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft, in: Rechtstheorie 34 (2003), S. 317 – 331, 317 f. 9 Ebd., S. 317 ff. 7 8

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

wachsenden Menge von Vorschriften, die sich mit der Verarbeitung der durch die neuen Errungenschaften des Internets oder der Satellitenkommunikation ergebenden rechtlichen Informationen und den Regeln der Rechtskommunikation beschäftigen.10 Die neuen technischen Möglichkeiten haben die praktischen Möglichkeiten des rechtlichen Erlebens und Handelns der Menschen schon jetzt stark erweitert und verändert und so neue Formen der sozialen und gesamtgesellschaftlichen Kommunikation von Recht geschaffen.11 Die Bedeutung der neuen Medien zeigt sich auch darin, daß mittlerweile gewisse Bereiche des Rechts, welche sich mit dieser Thematik befassen, eine eigenständige und nicht zu unterschätzende Bedeutung gewonnen haben. Als Beispiele seien hier nur die Gebiete des Medien-, Telekommunikations- und Informationsrechts genannt. Hingegen beschäftigt sich der Begriff der Rechtskommunikation12 im normativen Sinne mit dem gesamten Bereich der wirklichen und möglichen Kommunikation von Recht auf den unterschiedlichen nationalen und internationalen Ebenen. Die Rechtskommunikation beinhaltet in diesem Kontext die Gesamtheit der Direktiven und Normen, die im Rechtssystem der modernen Gesellschaft unter laufender Bezugnahme des jeweiligen Rechtssystems auf sich selbst, also selbstreferenziell, fungieren. Die Rechtskommunikation umfaßt somit alle Formen des Rechtshandelns sowie sämtliche Arten der rechtlichen Verantwortungsattribution. Daher stellt sich die Frage, ob die Rechtssysteme der modernen Welt, von denen hier die Rede ist, als unterschiedliche eigenständige Kommunikationssysteme oder als ein einziges globales Informations- und Kommunikationssystem anzusehen sind. Die Beantwortung dieser Frage besitzt Relevanz für die Behandlung der rechtlichen Kommunikation zwischen Individuen und die Kommunikation auf nationaler, internationaler und transnationaler Ebene. Aufgrund der hier angestellten Überlegungen zur Komplexität der sozialen Systeme kann bereits hier die Feststellung getroffen werden, daß eine Theorie der normativen Kommunikation im Bereich des Rechts nicht außeracht lassen darf, daß neben dem menschlichen Willen und seinem Bewußtsein, die in der systemischen Theoriekonstruktion eine eher periphere Rolle spielen, auch und vor allem die Existenz, Identität und Autonomie sozialer Systeme zur Kenntnis genommen werden muß, die sich selbstreferenziell aus faktischen und normativen Kommunikationen aufbauen. Neben der Berücksichtigung der sozialen Systeme spielt nach Krawietz auch der Prozeß der Kommunikationsverarbeitung im Rahmen der Rechtskommunikation eine maßgebende und entscheidende Rolle. Denn nur auf diese Weise kann erforscht werden, wie es zur Kommunikation von Recht kommt, wann und unter welEbd. Ebd., S. 319 f. 12 Dazu und zum folgenden: Van Hoecke, Mark, Law as Communication, Oxford 2002, S. 7 ff., 115 ff. 10 11

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chen sozialen Bedingungen Akte der Rechtskommunikation als gelungen angesehen werden können und wem die Akte der Rechtskommunikation unter dem Aspekt der Verantwortungsattribution zuzurechnen sind. Nach Krawietz setzt sich die normative Kommunikation von Recht aus einem dreistelligen Selektionsprozeß zusammen, in welchem sich die Elemente der Information, der Mitteilung und des Verstehens zu einer emergenten Rechtseinheit verbinden.13 Diese Ansicht vertritt – freilich nicht unter dem Aspekt genuin normativer Kommunikation – auch Luhmann14, der aber die Gesellschaft in den Fokus seiner Erkenntnisinteressen rückt, letztere verstanden als das alle Kommunikation umfassende soziale System, in dessen Umwelt es keine Kommunikationen, sondern nur Operationen und Ereignisse anderer Art gibt.15 Keines dieser drei Elemente kann aber für sich allein gesehen in diesem Zusammenhang existieren.16 Daher findet eine normative Kommunikation im Bereich des Rechts nur dann statt, wenn diese drei Operationen zu einer inhaltlichen Kongruenz gebracht werden und mithin normativ deckungsgleich erfolgen. Als plakatives Beispiel für seine Theorie führt Krawietz den Gesetzgeber an. Dieser beschließt auf der Informationsebene ein Gesetz, indem er die hierzu erforderlichen normativen Informationen in Form einer Wenn-Dann-Regelung fixiert.17 Sodann wird auf der Mitteilungsebene das beschlossene Gesetz publik gemacht, indem der Gesetzgeber es an diejenigen adressiert und mitteilt, die es angeht. Schließlich muß das Gesetz von den Adressaten, welche es verpflichten soll, also den Bürgern, Rechtsgenossen oder Teilen der Staatsorganisation zur Kenntnis genommen und verstanden werden.18 Das Gesetz wird damit auch als ein Akt arbeitsteiliger Kommunikation verstanden.19 Aber nicht nur durch die Gesetzgebung wird das Rechtssystem kommunikativ tätig; es kann auch durch andere ,Outputs‘ die Rechtskommunikation in Gang setzen. Dies geschieht einerseits durch Handlungsprogramme, unter denen Muster für vorgeschriebenes oder mögliches Verhalten in bestimmten Situationen zu verstehen sind, wie beispielsweise Urteile, in denen eine Person dazu verurteilt wird, einen bestimmten Geldbetrag an einen anderen zu entrichten.20 Weiterhin findet 13 Vgl. Krawietz, Jenseits von national und staatlich organisierten Rechtssystemen (FN 8), S. 324. 14 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1988, S. 193 ff. 15 Luhmann, Niklas, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, S. 54 f. 16 Krawietz, Jenseits von national und staatlich organisierten Rechtssystemen (FN 8), S. 324. 17 Vgl. ebd. 18 Krawietz, Werner, Information and Communication in Modern Legal Systems, in: Rechtstheorie 34 (2003), S. 27 – 38, 34. 19 Struck, Gerhard, Das Gesetz als Kommunikation des Gesetzgebers mit dem Bürger, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 373 – 391, 375. 20 Eckhoff / Sundby (FN 4), S. 201.

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auch durch die jeweilige schwerpunktmäßige Einstellung eines Rechtssystems eine entsprechende Wertbeeinflussung (Ziele, Zwecke, Werte) der Bevölkerung statt, da, wie oben gesehen, Rechtsetzung aber auch Rechtspraxis sowohl durch individuelle, aber auch kollektive Einstellungen geprägt werden können.21 Aber auch durch die Erfindung neuer Vertragstypen oder Gesellschaftsformen seitens privater Akteure kann eine Rückkoppelung zum Rechtssystem stattfinden.22 Wie gezeigt, bedarf es für das Vorliegen der Kommunikation von Recht gleichermaßen der drei Voraussetzungen Information, Mitteilung und Verstehen. Dennoch ist an dieser Stelle insbesondere der Aspekt des Verstehens von großer Relevanz, da Rechtskommunikation an sich nur auf einer von Verstehen geprägten Grundlage möglich ist. Dies deshalb, weil das Verstehen als ein von Information und Mitteilung unterscheidbarer Teilaspekt normativer Sinnselektion ist.23 Das Verstehen kann insofern als ein bewußtseinsexternes Kriterium der Kommunikation angesehen werden. Es schließt die Kommunikation gleichsam von hinten her ab und ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß Anschlußkommunikation stattfinden kann.24 Eine solche Unterscheidung drängt sich auch schon auf aus dem Grunde, daß – gesehen vor dem Hintergrund der Theorie sozialer Systemreferenzen – sowohl Information und Mitteilung primär der Sphäre des aktiv Kommunizierenden zuzurechnen und von diesem beeinflußbar sind. Das Verstehen der mitgeteilten Information auf Seiten des Adressaten ist jedoch nur bedingt beeinflußbar (beispielsweise durch ausführlichere Erklärungen innerhalb eines beschlossenen und veröffentlichten Gesetzes). Es ist insofern gleichgültig, ob die erzeugte Information korrekt übermittelt wurde oder nicht, denn auch auf eine falsch mitgeteilte Information kann der Adressat in entsprechender Weise reagieren, wenn er diese versteht. Sieht man also das Verstehen auf Seiten des Adressaten als einen wesentlichen Part der Rechtskommunikation an, so kann hieraus die Schlußfolgerung gezogen werden, daß unter den Bedingungen der Positivität allen Rechts keine automatische Rechtsentstehung existiert.25 Von einer erfolgreichen Rechtskommunikation kann dann gesprochen werden, wenn der Adressat die generell oder individuell an ihn gerichtete faktische bzw. normative Mitteilung verstanden hat und es ihm somit ermöglicht wird, daß er sich nach seiner Entscheidung entweder normkonform oder normabweichend orientieren und verhalten kann.26 Vgl. ebd., S. 203 ff. Vgl. ebd., S. 215. 23 Krawietz, Jenseits von national und staatlich organisierten Rechtssystemen (FN 8), S. 325. 24 Riechers, Gert, Rechtssystem als normative Struktur und sozietaler Prozeß. Anforderungen an eine Theorie der Positivität des Rechts, in: Rechtstheorie 29 (1998), S. 497 – 563, 543. 25 Krawietz, Jenseits von national und staatlich organisierten Rechtssystemen (FN 8), S. 325. 26 Krawietz, Information and Communication (FN 18), S. 34. 21 22

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Mit diesem ersten Schritt einer erfolgreichen Rechtskommunikation verkettet oder vernetzt ist dann wiederum die Reaktion des Adressaten hierauf. Denn dieser hat die Wahl, ob und in welcher Weise er an diese Rechtskommunikation anknüpfen möchte. Entscheidet er sich dafür, eine Reaktion in Form der Annahme oder Ablehnung zu zeigen oder zu äußern, so ist hierin die Eröffnung einer weiteren, neuen Kommunikation zu sehen, da hierdurch eine neue Information über geltendes bzw. gelten sollendes Recht herbeigeführt wird, welche ebenfalls mitgeteilt und natürlich auch verstanden werden muß.27 Der ,Ball der Rechtskommunikation‘ wird quasi wie in einem Tischtennis- oder Fußballspiel, wenn dies von den jeweiligen Adressaten gewollt ist, hin und her gespielt, wodurch auch weitere dritte Adressaten in das Spiel mit einbezogen werden können. Hieraus entwickelt sich dann beständig und nicht bloß mengenmäßig, sondern auch inhaltlich weiter anwachsend das Geflecht der Rechtskommunikation, welches durch fortlaufende Bezugnahmen auch in der Lage ist, andere Themen der Rechtskommunikation mit der soeben geführten zu verknüpfen. Diese Kommunikation findet innerhalb und zwischen den zuvor im Umriß beschriebenen sozialen Systemen statt. Um in rechtmäßiger Weise zwischen diesen sozialen Systemen kommunizieren zu können, bedarf es eines Mediums. Dieses ist das Recht selbst, welches nicht nur als ein strukturgebendes Element in Erscheinung tritt, sondern darüber hinaus auch der Regulierung der sozialen Systeme dient.28 Es hat somit quasi eine Doppelbedeutung als gesellschaftliches Steuerungsmedium einerseits und als integrative, wertbestätigende Ideologie andererseits.29 Dabei ist aber stets zu beachten, daß Recht nicht gleichgesetzt wird mit der normativen Kommunikation, sondern Rechtskommunikation vielmehr nach Maßgabe des Rechts kommuniziert.30 Die Rechtskommunikation ist dabei in hohem Maße abhängig von den gesamtgesellschaftlichen Strukturbildungen, welche durch ihre normativen Strukturvorgaben die Assoziationen, Institutionen und die sozialen Systeme determinieren, welche alles menschliche Handeln mitbestimmen und mit den Mitteln des Rechts steuern.31 Daher ist es gerade das Recht, welches als Medium den Unterschied in der Kommunikation zwischen Staaten und innerhalb von Staaten ausmacht. Während bei der Kommunikation zwischen Staaten auf beiden Seiten Adressaten vorhanden sind, welche der juristischen Sprache mächtig sind, ist die Rechtkommunikation innerhalb eines Staates zwischen der staatlichen Verwaltung und seinen Bürgern mitunter gestört. Mag die Rechtskommunikation zwischen den einzelnen Verwal27 Krawietz, Jenseits von national und staatlich organisierten Rechtssystemen (FN 8), S. 325 f. 28 Ebd., S. 328. 29 Eckhoff / Sundby (FN 4), S. 216. 30 Krawietz, Jenseits von national und staatlich organisierten Rechtssystemen (FN 8), S. 330. 31 Ebd., S. 328.

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tungsapparaten eines Staates noch gut funktionieren, so zeigt sich hier in bezug auf den nicht juristisch vorgebildeten Bürger ein ganz anderes Bild. Dieser kann gewöhnlich nur unter Schwierigkeiten an der Rechtskommunikation zwischen ihm und dem übergeordneten Staat teilnehmen, weil diese rechtssprachlich und in den Formen von Verwaltung und Gesetzgebung erfolgt. Diese Schwierigkeiten sind darin begründet, daß auf der Beziehungsebene zum Adressaten die Gesetze in der Regel nur in mehr oder minder deutlicher Form dem Bürger den Schluß nahelegen, daß mit dem jeweiligen Gesetz vernünftigerweise nur Juristen umgehen sollten.32 Denn während Richter, Rechtsanwälte und Verwaltungen das Recht in seiner geschriebenen Form verstehen, bleibt der Bürger von diesem Verständnis in vielen Fällen ausgeschlossen, da er die innerhalb des Mediums Recht gewählte Fachsprache nicht versteht. Die an ihn gemachte Mitteilung wird zum Teil zwar durch umgangssprachliche Ausdrücke vermittelt, doch haben diese einen bestimmten Fachinhalt, der sich dem Bürger als Adressaten nur schwer erschließt.33 Als Beispiel hierfür sei nur § 873 BGB genannt, nach welchem das Eigentum an einem Grundstück zu übertragen ist. Dabei wird dem rechtsunkundigen Adressaten in der Regel nicht sofort klar sein, daß mit Grundstück in den meisten Fällen nicht nur der Boden, sondern auch ein Haus gemeint ist und auf welche Weise dieses übertragen werden kann. Erschwert wird diese Sprache des Rechts noch durch die Verwendung einer juristischen Fachsprache, welche sich deutlich in Begriffen wie dem ,Auch-fremden Geschäft‘, der ,überschießenden Innentendenz‘ oder den ,immanenten Grundrechtsschranken‘ widerspiegelt.34 Darüber hinaus trägt auch die teilweise verwirrende Länge einiger Normen dazu bei, daß sich der nicht rechtskundige Betrachter ausgeschlossen vorkommt und das Gefühl erlangt, daß der Gesetzgeber auf seine Fragen als Bürger und die damit verbundene Kommunikation keinen Wert gelegt habe.35 Aus diesem Grunde ist die hier vorgenommene Unterscheidung hinsichtlich der Kommunikation zwischen und innerhalb von Staaten gerechtfertigt. Denn zum weitaus größten Teil wird nur zwischen einzelnen Staaten eine erfolgreiche Rechtskommunikation möglich sein, da nur diese über die Voraussetzungen hierfür verfügen. Dies sei am Beispiel eines Staatsvertrages belegt: In diesem sind alle Elemente der Rechtskommunikation enthalten. Zunächst enthält dieser die für beide Seiten erforderlichen normativen Informationen, welche an den jeweils anderen Staat zumeist in der entsprechenden Landessprache adressiert und mitgeteilt werden. Sodann folgt die hier entscheidende Ebene der Kenntnisnahme und des Verstehens. Da die Verwaltungen sowie die jeweils zuständigen Stellen der zur Abfassung von Staatsverträgen benötigten Rechtssprache kundig sind und damit auch die intellektuellen Voraussetzungen zu ihrer Beherrschung auf der Verstandesebene 32 33 34 35

Struck (FN 19), S. 385. Ebd. Ebd. Ebd., S. 387 f.

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mit sich bringen, wird die mitgeteilte Information verstanden, so daß von einer erfolgreichen Kommunikation gesprochen werden kann. Durch die entsprechenden Handlungen, Aktionen und Reaktionen in bezug auf den jeweiligen Staatsvertrag kann sich dann das zuvor schon angeführte Geflecht oder Netzwerk der Rechtskommunikation weiter entwickeln. Demgegenüber erfüllt ein beispielsweise vom Gesetzgeber erlassenes Gesetz in den meisten Fällen die beiden ersten Voraussetzungen – die Information und die Mitteilung. Jedoch dürften Normen wie §§ 22 oder 34 BauGB, welche je nach Textausgabe mit einer Länge von teilweise mehr als zwei Buchseiten den nichtjuristischen Adressaten überfordern. Das Erfordernis des Verstehens dürfte hier dann kaum noch gegeben sein, so daß in der Folge auch keine weitere Rechtskommunikation mehr zustande kommt, da mangels Verständnisses weder Ablehnung noch Zustimmung gezeigt werden kann. Aus diesem Grunde kann zwischen diesen Akteuren auch nur schwerlich eine erfolgreiche Rechtskommunikation im oben genannten Sinne entstehen. Es zeigt sich daher, daß die Rechtskommunikation zwischen Staaten aufgrund des besseren Verständnisses intensiver stattfinden kann, als dies zwischen dem Gesetzgeber und dem Bürger der Fall ist. Betrachtet man hinsichtlich der innerstaatlichen Kommunikation jedoch die Rechtskommunikation zwischen den einzelnen Verwaltungsebenen und Behörden, so kann hier wiederum festgestellt werden, daß aufgrund der Besetzung dieser Verwaltungen ein höheres Maß an Rechtskommunikation stattfinden kann, da aufgrund der vorhandenen juristischen Kenntnisse die wechselseitigen Voraussetzungen auf der Verstehensebene größer sind. Jedoch muß ebenfalls beachtet werden, daß Rechtskommunikation ihren Beginn nicht lediglich im Rahmen der ,Outputs‘ des Rechtssystems, nämlich in den durch den Gesetzgeber erlassenen Gesetzen findet, sondern daß Rechtskommunikation auch durch ,Inputs‘ möglich ist. Diese Eingänge in das Rechtssystem durch den Bürger oder durch ökonomische Systeme manifestieren sich insbesondere in individuellen Forderungen, die sich auf die Erlangung oder Bewahrung einer bestimmten Rechtsposition beziehen, oder in Forderungen und Wünschen nach neuen generellen Regeln zu einem bestimmten Thema.36 Diese Forderungen werden als Information dem Rechtssystem mittels Eingaben und Petitionen mitgeteilt und von diesem aufgrund der rechtlichen Kenntnisse auch verstanden. Es erfolgt sodann in der Regel eine Reaktion hierauf, welche sich durch die Beschäftigung mit der angesprochenen Thematik und schließlich mit deren Ablehnung oder Zustimmung zeigt. Es findet also auch auf diese Weise eine erfolgreiche Rechtskommunikation statt. Zusammenfassend kann hinsichtlich des Bereiches der Rechtskommunikation zwischen und innerhalb von Staaten festgestellt werden, daß die Theorie der Rechtskommunikation von Krawietz aufgrund ihres einfachen bekannten dreistufigen Aufbaus sowie der Übertragbarkeit auf viele weitere Ebenen der normativen Kommunikation sehr gut geeignet ist, diese zu erklären und zu strukturieren. Hier 36

Eckhoff / Sundby (FN 4), S. 199.

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bietet es sich an, die Kommunikation von Recht als Netzwerk zu deuten. Festgestellt werden kann neben den drei Voraussetzungen der Information, der Mitteilung und des Verstehens aber auch, daß nach der Theorie von Krawietz im Zentrum der Rechtskommunikation immer das Verhältnis von normativer Regelsetzung und Regelbefolgung steht und daß die Rechtssysteme der modernen Gesellschaft als Informations- und Kommunikationssysteme zu begreifen sind, in denen die laufende Korrelation von Normen und Fakten von Fall zu Fall stattfindet.37 Es bietet sich jedoch an, daß hinsichtlich der Verstehensebene genaue Differenzierungen aller Kommunikationen bezüglich der rechtlichen Qualität oder der Qualifikation des Adressaten vorgenommen werden, da ansonsten eine erfolgreiche Rechtskommunikation daran scheitert, daß der Empfänger die jeweilige Mitteilung nicht als an ihn gerichtet versteht. Krawietz führt aus, daß sich der Rezipient entweder normkonform oder normabweichend verhalten kann und somit im Rahmen der Rechtkommunikation Annahme oder Ablehnung zum Ausdruck bringt. Dieses dichotomisierende zweigliedrige Verhaltensmuster könnte noch um eine dritte Möglichkeit erweitert werden. So könnte man beispielsweise daran denken, daß es auch eine Stufe der Gleichgültigkeit gibt, welche in den Fällen eintritt, in denen der Adressat die Mitteilung nicht versteht, aber mangels Interesse, Betroffenheit oder aus sonstigen Motiven heraus nichts dagegen unternimmt. Es läge in solchen Fällen nur eine einseitige Rechtskommunikation vom Gesetzgeber in Richtung des Bürgers vor, bei welcher dieser kein Feedback vom Adressaten erhält. Es wäre dann in einem weiteren Schritt notwendig, empirisch zu untersuchen, inwieweit eine gleichgültige Einstellung in der Form zu bewerten ist, daß der Bürger dem jeweiligen Gesetz zumindest konkludent zustimmt. 3. Kommunikation von Recht auf nationaler, internationaler und transnationaler Ebene Natürlich läßt sich ebenfalls feststellen, daß auch auf nationaler, internationaler und transnationaler Ebene juristische Kommunikation stattfindet. Als ein Beispiel für erfolgreiche Rechtskommunikation im transnationalen und internationalen Bereich können die im Wege der Globalisierung aufgestellten Regelungen des Wirtschaftsrechts genannt werden, welche die Vergesellschaftungsbestrebungen des Rechts weiter vorangetrieben haben.38 Auch die nationalstaatlichen Rechtssysteme sind zwar operativ geschlossene Subsysteme, doch ist es ihnen möglich, Kommunikation zwischen den nationalen Rechtssystemen in der Form zu betreiben, daß sie ausländische Rechtsakte im Inland wahrnehmen und mitunter auch die Geltungslage des Rechts im eigenen Land verändern können.39 Krawietz (FN 8), S. 329. Krawietz, Werner, Gemeinschaft und Gesellschaft. Das Tönnies’sche Handlungs- und Forschungsparadigma in neueren Rechtstheorien, in: Gewohnheitsrecht – Rechtsprinzipien – Rechtsbewußtsein. Transformationen der Rechtskultur in West- und Osteuropa, hrsg. von Werner Krawietz und Alfred Sproede, Berlin 2004, S. 579 – 652, 639 f. 37 38

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Auch wenn diese Beispiele Indizien für eine gut funktionierende Kommunikation ,im größeren Rahmen‘ darstellen, so ist doch anzumerken, daß dies keineswegs den Regelfall darstellt. Um dies zu belegen, reicht ein Blick in die europäische Rechtsentwicklung. Hier gelangt man im Hinblick auf die unterschiedlichen Rechtskulturen zu dem Ergebnis, daß sowohl die national, inter-, supra- und transnational organisierten Rechtsgemeinschaften in Europa und dabei vor allem das Gemeinwesen der Europäischen Union, welche selbst kein Staat und schon gar nicht ein ,Superstaat‘ ist, bis auf den heutigen Tag fragmentiert geblieben sind und es aller Voraussicht nach auch in Zukunft bleiben werden.40 Dennoch haben sich für die jeweiligen Mitgliedstaaten im Zuge dieser Vergemeinschaftung hieraus bereits diverse Umstrukturierungs-maßnahmen ergeben. Der Grund für den mangelnden Erfolg wurde bereits zuvor benannt. Durch das Adaptieren von übergeordneten Regeln kommt es nicht selten zu einer verminderten Akzeptanz innerhalb eines gewachsenen sozialen Systems. Es besteht zumeist ein Konsens darüber, daß die althergebrachten Regelungen mit dem eigenen Rechtsverständnis übereinstimmen und die neuen Regelungen daher abgelehnt oder mangels erfolgreicher Rechtskommunikation erst gar nicht verstanden werden. Zwar erfolgte der Aufbau der Europäischen Gemeinschaft von Anfang an nach gemeineuropäischen rechtsstaatlichen Prinzipien.41 Dennoch gibt es beispielsweise ebenso wenig eine kollektive gemeineuropäische Identität wie ein hinreichend informationshaltiges, in gemeineuropäischem Besitz befindliches, voll konsentiertes rechtliches Gemeinschafts-paradigma, welches über alle Mitgliedstaaten hinweg ein obligatorisches Muster politisch-rechtlicher Vergemeinschaftung abgeben oder eine politisch-kulturelle Identität Europas gewährleisten könnte.42 Auch das Völkerrecht muß in diesem Zusammenhang Erwähnung finden. Dieses regelt als internationales System jedoch nur die Beziehungen von staatlich organisierten Gemeinschaften untereinander, nicht aber die Beziehungen von Völkern zueinander.43 Adressaten innerhalb dieser internationalen Rechtskommunikation können nur die Völkerrechtssubjekte sein, mithin die Staaten und, von diesen abgeleitet, die internationalen Organisationen.44 Die einzelnen Kulturkreise und damit die Völker als solche, werden vom Völkerrecht hingegen nicht als Völkerrechtssubjekte anerkannt.45

39 Buckel, Sonja / Christensen, Ralph / Fischer-Lescano, Andreas (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2., neubearb. Aufl., Tübingen 2009, S. 57, 68 f. 40 Krawietz, Gemeinschaft und Gesellschaft (FN 38), S. 639. 41 Dreier, Horst / Schulze-Fielitz, Helmut, Der Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., Tübingen 2008, zu Art. 20, Rn. 22. 42 Krawietz, Gemeinschaft und Gesellschaft (FN 38), S. 639. 43 Pieper, Stefan Ulrich, „The Clash of Civilizations“ und das Völkerrecht, in: Rechtstheorie 29 (1998), S. 331 ff., 334. 44 Ebd. 45 Ebd.

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4. Struktureller Wandel und Transformation aller rechtsstaatlichen Beziehungen Es kann festgestellt werden, daß die zwar noch immer vorwiegend nationalen Rechtsordnungen in zunehmendem Maße durch die dargestellten inter-, supra- und transnationalen Rechtsbildungen überlagert werden, was bereits zu einer deutlichen Umstrukturierung der bestehenden, genuin staatlichen Rechtsordnungen geführt hat.46 Diese stellen jedoch nur einen Teilbereich der Umstrukturierung dar. Denn auch innerhalb der einzelnen staatlich organisierten Rechtssysteme finden fortlaufend Umstrukturierungen in Form einer Transformation des Rechts und der Rechtssysteme statt. In besonderem Maße gilt dies für die ehemaligen sozialistischen Staaten, welche sich, wie vor allem im russischen Rechtssystem deutlich wird, im Übergang zur Demokratie und zum Rechtsstaat befinden. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems wurde hier die Adaption an ein anderes (Rechts-)System gesucht, wobei der demokratische Rechtsstaat schnell als Antwort gefunden wurde. Um dies effektiv durchzusetzen, orientierten sich viele osteuropäische Staaten am Vorbild von westlichen Systemen. Ohne an dieser Stelle auf die Machbarkeit und die konkreten Auswirkungen einer derart schnellen Transformation von Recht einzugehen, kann bereits an dieser Stelle festgestellt werden, daß innerhalb der jeweiligen Staaten ein verstärkter Prozeß der Umstrukturierung erfolgen mußte. Diese Umstrukturierung hat aber nicht nur Auswirkungen auf das jeweilige nationale System, sondern auch auf die rechtsstaatlichen Beziehungen mit anderen Staaten. Es wird schnell klar, daß bei derart gravierenden Änderungen auch ein Wechsel in althergebrachten Theorien erfolgen muß, welche diesen rasanten Veränderungen nicht mehr entsprechen können. 5. Konstruktion und Dekonstruktion des konventionellen Stufenbaus der Rechtsordnung Eine derartige Umstrukturierung hat vor allem einen gewissen Einfluß auf den traditionellen Stufenbau der Rechtsordnung. Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung stammt ursprünglich von Merkl und wurde durch die Übernahme von Kelsen47 zu einer der herrschenden Theorien auf diesem Gebiet.48 Dem Stufenbau der Rechtsordnung liegt der Gedanke zugrunde, daß nicht alle Rechtssätze den gleichen Rang innehaben, sondern in einer Rangordnung gegliedert sind, so daß bei Wertungswidersprüchen der Rechtssatz mit dem höheren Rang vor der nachgeordKrawietz, Gemeinschaft und Gesellschaft (FN 38), S. 595. Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, Leipzig / Wien 1934 [Nachdr. der 2., vollst. neu bearb. und erw. Auflage von 1960], Wien 2009, S. 228 ff. 48 Rüthers, Bernd, Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, München 1999, Rn. 272. 46 47

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neten Rangstufe den Vorzug erhält.49 Daraus ergibt sich das Bild, daß an erster Stelle das EG-Recht mit seinen supranationalen EG-Normen steht. Diesem folgen die Verfassungsnormen und darauf, jeweils abgeleitet, die Bundesgesetze, Rechtsverordnungen des Bundes und Satzungen autonomer Organisationen des Bundes, Landesverfassungen, Landesgesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen der Länder sowie das Gewohnheitsrecht.50 Daraus wiederum ergibt sich der nachfolgende Schluß, daß wenn eine bedingende Norm eine stärkere derogierende Kraft hat als eine durch sie bedingte Norm, dann nicht nur eine Rangordnung zwischen diesen Normen besteht, sondern logischerweise auch zwischen den Organen, die zur Setzung dieser Normen ermächtigt sind.51

6. ,Stufenbau‘ und Hierarchie des Rechts in kommunikationstheoretischer Perspektive Dieses auf überkommenen Denkgewohnheiten52 basierende Hierarchiesystem reicht jedoch mittlerweile kaum mehr aus, um die soziale Wirklichkeit des modernen Rechts zu erfassen und zu begreifen. So erscheint insbesondere die soeben skizzierte Vorstellung, daß das Recht seinem Wesen nach als ein hierarchisches System anzusehen ist, welches aus einem rangmäßig differenzierten Stufenaufbau von arbeitsteilig organisierten Rechtsnormerzeugern und den von ihm und in ihm erzeugten Rechtsnormen besteht, heute nicht mehr zeitgemäß und passend.53 So ist beispielsweise die zentrale Steuerung von einer einzigen Stelle im staatlich organisierten Rechtssystem nicht möglich, da aus Sicht einer normativ-realistischen Betrachtungsweise schon allein die bestehenden internen, durch Rechtsregeln vermittelten Interdependenzen im Entscheidungs- und Erkenntnisprozeß in so hohem Maße abstrakt, hyperkomplex und vielfältig sind, daß selbst eine interne Transparenz dieser Interdependenzen und mit ihr die Voraussetzungen für eine wirksame systemische Selbstkontrolle von einer einzigen Stelle aus nicht mehr gegeben sind. Vielmehr ist davon auszugehen, daß das Rechtssystem als Ganzes in seiner Entwicklung aus sich heraus sowohl das staatlich organisierte Rechtssystem als auch das Rechtswissenschaftssystem ausdifferenziert hat.54 Auf diese Weise konnten Teilfunktionen der Festlegung rechtlicher Verhaltensprämissen durch generell-abEbd. Ebd., Rn. 273. 51 Koller, Peter, Theorie des Rechts: Eine Einführung, 2., verb. und erw. Aufl., Wien 1997, S. 108. 52 Eingehend hierzu: Krawietz, Werner, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts – eine säkularisierte politische Theologie? In: ders. / Schelsky, Helmut (Hsrg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Berlin 1984, S. 255 – 271. 53 Krawietz, Gemeinschaft und Gesellschaft (FN 38), S. 598. 54 Ebd., S. 600. 49 50

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strakte, kollektiv-bindende Entscheidungen und durch rechtswissenschaftliche Erkenntnis der Eigenverantwortung besonderer Sozialsysteme für die rechtliche Entscheidung (Parlamente, Regierungen, Verwaltungen, Gerichte, etc.) und für die rechtswissenschaftliche Erkenntnis (Rechtsfakultäten, Forschungsinstitute, etc.) überlassen werden. Darauf beruhend steht dem Rechtssystem als Ganzem, d. h. dem alle formale und informale Rechtskommunikation umfassenden Teilsystem der Gesellschaft, allenfalls die Möglichkeit zu einer partiellen Selbststeuerung zur Verfügung.55 Wie zuvor schon dargestellt, können derart komplexe Systemzusammenhänge nicht in einer Hierarchie geordnet werden, sondern müssen statt dessen der Heterarchie fluktuierender Inter-System-Beziehungen überlassen bleiben, welche eine direkte und von oben nach unten erfolgende vollständige Steuerung und Kontrolle quasi ausschließen. Hieraus kann der Schluß gezogen werden, daß die gesamtgesellschaftliche Steuerung und Kontrolle mit Mitteln des Rechts nicht als ein monozentrisches, hierarchisch gegliedertes Mehrebenensystem angesehen werden darf, sondern das soziale Leben in all seinen Ausformungen mindestens ebenso unter dem Aspekt einer wirklichen und möglichen Heterarchie56 relativ autonomer Entscheidungsträger und Entscheidungsstellen gewürdigt werden muß.

II. Weltrechtssystem oder Globalisierung einzelner Rechtsmaterien? 1. Positivität des Rechts als normative Struktur der Gesellschaft Blickt man auf die Entwicklung des Rechtssystems der modernen Gesellschaft, letztere hier verstanden als das alle anderen sozialen Systeme umfassende Gesellschaftssystem – ganz im Sinne der Theorie sozialer Systeme, insbesondere der soziologischen Gesellschaftstheorie, wie Niklas Luhmann (gest. 1998) sie noch zu Lebzeiten vorgelegt hat –, so stehen wir heute am Beginn des 21. Jhdts. in der Weltgeschichte, die in hoc saeculo ersichtlich nicht mehr länger eine Weltgeschichte Europas ist, vor einer bislang einmaligen Entwicklung. Unter den Bedingungen der Positivität allen Rechts, die – verstanden als evolutionäre Errungenschaft der modernen Gesellschaft57 – faktisch (oder doch zumindest virtuell) in allen Regionalgesellschaften der sozietalen Welt Eingang gefunden hat, wenn auch noch nicht überall in vollem Umfange verwirklicht wurde, hat sich das gewaltige, bislang allzu stiefmütterlich (weil ausschließlich oder einseitig rechtsdogmatisch) behandelte Forschungsfeld der Rechtswissenschaft(en), das durch die ModernisieEbd. Krawietz, Werner, Der soziologische Begriff des Rechts, in: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 157 – 177, 175. 57 Eingehend hierzu: Poljakov (FN 1), S. 372 ff. 55 56

II. Weltrechtssystem oder Globalisierung einzelner Rechtsmaterien?

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rung des Rechts und der diversen Rechtssysteme nachhaltig ,umgepflügt‘ wurde, infolge einer Modernisierung der Modernisierung in ganz signifikanter Weise gewandelt und strukturell verändert.58 Während die konventionelle Rechtsdogmatik, deren praktische Notwendigkeit niemand ernsthaft bestreiten kann, durch die gewandelten wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen derjenigen Disziplinen, die mit den Grundlagen des Rechts befaßt sind, infolge der modernen Rechts – und Wissenschaftsentwicklung im Reich des Rechts – in evolutionärer und dynamischfunktionaler Perspektive betrachtet – an die Peripherie versetzt wurde, fokussiert sich die Grundlagenforschung im Recht heute auf zwei Schwerpunkte der Rechtsentwicklung, nämlich (1) auf diejenige in den Regionalgesellschaften mit ihrem in aller Welt jeweils höchst unterschiedlichen geschichtlichen, politisch-rechtlichen und kulturellen Kontext und (2) auf die Bedingungen, unter denen alles moderne Rechtsdenken in den weltgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen operiert. Aufgrund dieser Rechtsentwicklungen hat sich für die moderne Wissenschaft, hier gleichfalls verstanden als sozietales Funktionssystem, auf nationaler, internationaler und supranationaler Ebene, aber auch in transnationaler Hinsicht ein weites Feld sozialer Systembildungen eröffnet, die teils der Art nach bereits bekannt, teils aber auch in sozialer Form und Funktion neuartig sind und die Rechts- und Gesellschaftstheorie vor ganz neue Aufgaben stellen.59 Im Rahmen des Funktionssystems Wissenschaft sind hier im Wege der internen disziplinären und / oder subdisziplinären Differenzierung eine Reihe von sozialen Handlungswissenschaften entstanden, die von den Theologien und der Politikwissenschaft, den Wirtschaftswissenschaften und der Jurisprudenz bis hin zu den Erziehungswissenschaften und einigen weiteren Spezialdisziplinen, wie Handlungs- und Normentheorie, Informationstheorie und Kommunikationsforschung reichen und sich jeweils auf ihre Weise mit dem Recht und den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft befassen.60 Diese teils geisteswissenschaftlich, teils sozialwissenschaftlich designten, partiell neuartigen Disziplinen, die sich ihrerseits sprachanalytischen und sprachphilosophisch begründeten Anforderungen, auch erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Art, ausgesetzt sehen bis hin zu der Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung formaler Logik und Epistemologie im Rahmen ihrer Theoriebildung, können – ihrerseits verstanden als soziale Systembildungen – ganz offensichtlich mit den Mitteln rechtstheoretischer und 58 Krawietz, Werner, Peresmotr ponjatija prava: Direktivi i normi s tocki zrenija novogo pravovogo realizma [Revision of the Concept of Law: Directives and Norms from the Point of View of New Legal Realism], in: Russian Yearbook of Legal Theory 1 (2008), S. 433 – 445; ders., Modern Society and Global Legal System as Normative Order of Primary and Secondary Social Systems – An Outline of a Communicative Theory of Law, in: Protosociology 26 (2009). 59 Krawietz, Werner, Weltrechtssystem oder Globalisierung des Rechts? Konstruktion und Rekonstruktion der modernen Welt des Rechts in kommunikations- und systemtheoretischer Perspektive, in: Rechtstheorie 39 (2008), S. 419 – 451, 425 ff. 60 Weber-Grellet, Heinrich, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 5. Aufl., Münster 2010, S. 89 f., 131 ff., 138.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

rechtssoziologischer Systemanalyse beobachtet und durchleuchtet werden, so daß sich auch für eine Theorie und Soziologie des Rechts, kommunikations- und systemtheoretisch verstanden, ganz neue Forschungsmöglichkeiten eröffnen.61

2. Ausdifferenzierung sozietaler Teilsysteme in der modernen Gesellschaft Was das Verhältnis der Evolution von Gesellschaft und Recht und die gesellschaftliche Differenzierung in Teilsysteme angeht, hat sich auf dem langen Wege, der von Spencer über Durkheim, Max Weber und Helmut Schelsky bzw. über Talcott Parsons, Niklas Luhmann und Werner Krawietz bis in die Gegenwart führt, in der modernen Theorie und Soziologie des Rechts die Auffassung durchgesetzt, daß sich der Prozeß der sozietalen Modernisierung des Rechts in Begriffen der Differenzierungstheorie beobachten und beschreiben läßt. Das gilt für die Weltgesellschaft wie für Regionalgesellschaften, denn die Weltgesellschaft ist und bleibt, wie Hondrich überzeugend dargelegt hat, eine Gesellschaft von Gesellschaften.62 Das ist auch und gerade dann der Fall, wenn man beide Gesellschaftsformen, die es ja in Wirklichkeit gibt, kommunikations- und systemtheoretisch rekonstruiert. Dies gilt vor allem dann, wenn Gesellschaft sich aus Kommunikationen aufbaut, die als Letzteinheiten fungieren. Als soziale Differenzierung wird die Wiederholung der Systembildung innerhalb von Systemen bezeichnet. Ausdifferenzierte Systeme bleiben somit ein Teil des Systems, aus dem sie sich aus- differenziert haben. Auf diese Weise gewinnt auch die ,Weltgesellschaft‘, verstanden als das umfassende Gesamtsystem aller Kommunikationen, „die Funktion einer ,internen Umwelt‘ für die Teilsysteme, und zwar für jedes Teilsystem in je spezifischer Weise“. Neben dieser primären Differenzierung in Teilsysteme, in deren Rahmen sich auch das Recht als Funktionssystem der Gesellschaft verselbständigt hat, findet zugleich in den bereits sozial etablierten Regionalgesellschaften – und dies ist die zentrale These dieser Untersuchung – eine sekundäre Differenzierung in soziale (Sub-)Systeme (Interaktions-, Organisationssysteme) statt, die sich auf diese Weise nicht bloß teilen, sondern auch multiplizieren. 63 Sie bleiben ihrerseits – in der Perspektive der Gesellschaftstheorie gesehen – Teil des regionalgesellschaftlichen Krawietz, Weltrechtssystem (FN 59), S. 427 ff. Hondrich, Karl Otto, Der kommunizierende Mensch – und seine Mißverständnisse, in: ders., Der Neue Mensch, Frankfurt am Main 2001, S. 139 – 162, 141. 63 Dazu und zum folgenden, insbesondere zur evolutionären Differenzierung in Gesellschafts-, Organisations- und Interaktionssysteme jetzt: Preyer, Gerhard, Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft. Mitgliedschafts-theoretische Untersuchungen, Wiesbaden 2006, S. 74 ff., 77 ff. Vgl. ferner: Krawietz, Werner, Ausdifferenzierung von Praxis und Theorie in juristischer systemtheoretischer Perspektive, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 345 – 357, 346 f., 349, 356 f. 61 62

II. Weltrechtssystem oder Globalisierung einzelner Rechtsmaterien?

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Rechtssystems, aus dem sie sich ausdifferenziert haben. Für sie fungiert die Regionalgesellschaft mit ihrem Recht als ,interne Umwelt‘, die ausschnitthaft mit dem jeweiligen Sozialsystem (Interaktions-, Organisationssystem) korreliert. Als prominentes Beispiel können hier die staatlich organisierten Rechtssysteme, aber auch Staatenverbindungen gelten, deren Identität durch den jeweiligen regionalgesellschaftlichen Kontext bestimmt und geprägt wird, aber dies geschieht natürlich implizit und zugleich im weltgesellschaftlichen Zusammenhang, in den sie eingebettet sind. Die Funktionssysteme bestimmen und prägen heute ganz maßgeblich die sozietalen Lebensbedingungen und Lebensformen in allen Teilbereichen der Gesellschaft, aber nicht intentional, durch gezielte und bezweckte operative Aktivitäten und Handlungsbeiträge, da sie als Funktionssysteme der Gesellschaft nicht selbst kommunizieren und handeln können, sondern, was sehr häufig ignoriert wird, nur in Form von sozietalen Strukturvorgaben (sogen. Funktionsprimat!) fungieren. Dies läßt sich auch am Funktionssystem Recht ablesen.64 Die neuartigen, in der modernen Gesellschaft einer verwissenschaftlichten Selbst- und Fremdbeobachtung ausgesetzten Lebensbedingungen zeichnen sich in sozialstruktureller Hinsicht durch zwei Momente aus, nämlich erstens dadurch, daß innerhalb der Gesellschaft als ganzer, gleichsam im Wege der Arbeitsteilung sozietale Teilsysteme ausgebildet, verselbständigt und institutionell auf Dauer gestellt werden, die sich primär jeweils nur noch an einer, für sie spezifischen Funktion orientieren. Sie wird durch deren Codierung (z. B. Recht / Unrecht für das Rechts-system, Wahrheit / Unwahrheit für das Wissenschaftssystem usf.) zum Ausdruck gebracht und so weit wie möglich durch weitere systemische Vorkehrungen (binäre Schematisierung, Programmierung und Konditionalisierung des Verhaltens o. ä.) gewährleistet, d. h. institutionell auf Dauer gestellt. Ferner haben sich in der modernen Gesellschaft in der Folge innerhalb des Funktionssystems Recht sekundär auch die staatlich organisierten Rechtssysteme ausdifferenziert, die – strukturell gekoppelt mit dem politischen System und dessen kommunikativen Medien, d. h. auf Grund von Macht, die nach Maßgabe des jeweils geltenden Rechts autoritativ geübt wird – der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen dienen. Auctoritas, non veritas facit legem. Funktionale Differenzierung setzt ferner zweitens voraus, daß bei weiterem Wachstum der Gesellschaft das jeweilige sozietale Teilsystem nur noch weiterwachsen und sich modernisieren kann, indem es sich auch weiterhin intern arbeitsteilig ausdifferenziert, d. h. sekundär weitere soziale Subsysteme ausbildet. Letztere müssen ebenfalls in ihren System / Umwelt-Beziehungen Systemgrenzen institutionell auf Dauer stellen, innerhalb welcher auch sie eine gewisse, freilich nur relative Autonomie im eigenen intentionalen Zweckhandeln erlangen. Auf diese Weise haben sich im Rahmen der staatlich organisierten Rechtssysteme eine Reihe von sozialen Subsystemen gebildet, die beispielsweise als Gesetz64

Vgl. Krawietz, Weltrechtssystem (FN 59), S. 430 f.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

gebungssystem, Regierungssystem, Verwaltungssystem, Rechtsprechungssystem usf. – auch auf der Grundlage intern noch fortgesetzter, weiterer sozialer Subsystembildungen, z. B. durch Ausbildung von Instanzenzügen und Gerichten im Rahmen einer Gerichtsbarkeit! – in ihren jeweiligen sozialen Systemumwelten operieren. Diese Kommunikationen und Operationen ereignen sich in der jeweiligen Regionalgesellschaft, der das staatlich organisierte Rechtssystem angehört, ohne mit ihr identisch zu sein.65 Jedoch sind alle derartigen Ereignisse (events), regional- und weltgesellschaftlich gesehen, zugleich Episoden im umfassenden Gesellschaftssystem, in dessen variety-pool sie Eingang finden und gleichsam ,aufgehoben‘ werden. Unter den Bedingungen der Positivität allen Rechts und der sozialen Systemabhängigkeit aller Rechtsbildung hat sich der Schwerpunkt der Erkenntnisinteressen in einer modernen, an diesen Entwicklungen orientierten, dynamisch-funktionalen Rechtstheorie – verglichen mit früheren Phasen dieser Entwicklung – zumindest in Kontinentaleuropa auf die sekundären Systembildungen verschoben.66 Man könnte fast den – freilich trügerischen! – Eindruck gewinnen, daß die moderne Rechtstheorie hauptsächlich eine Theorie sekundärer Systeme geworden ist. In den sekundären sozialen Systemen – seien es staatliche, seien es nichtstaatliche Systembildungen! – findet heute die eigentliche, fortlaufende Produktion und Reproduktion des jeweils geltenden Rechts statt. Sie bewerkstelligen zugleich – innerhalb des sozietalen Funktions- und Teilsystems Recht operierend – aufgrund und im Rahmen der institutionell schon etablierten Rechtsordnung in den hierfür vorgesehenen Verfahren die anstehenden, notwendigen Rechtsreformen durch Transformation und erforderlichenfalls durch weitere funktionale und organisatorische Ausdifferenzierung von Recht.67 3. Eigen- und Selbstproduktion des Rechts als kommunikative Autopoiese Für die funktional ausdifferenzierten Teilsysteme, insbesondere für das staatlich organisierte Rechtssystem als einem immanenten sozialstrukturellen Bestandteil des sozietalen Funktionssystems Recht, wird gewöhnlich schon von Verfassungs wegen gewährleistet, daß eine fortlaufende Transformation des jeweils geltenden Rechts stattfinden kann, da auch das Normieren des Normierens (verfassungs-) rechtlich geregelt und institutionell auf Dauer gestellt ist. Sie ist einerseits eine bloße Selbstproduktion der Rechtsordnung (normative Autopoiese!), die sich auch 65 Zur Ausarbeitung dieser zusammenhänge jetzt auch: Luhmann, Niklas, Politische Soziologie, Berlin 2010, S. 88 f., 192 ff., 435 f. 66 Eingehend hierzu: Krawietz, Werner, Moderne Rechtstheorie als Theorie primärer und sekundärer sozialer Systeme, in: Gerhard Preyer (Hrsg.), Neuer Mensch und kollektive Identität in der Kommunikationsgesellschaft, Wiesbaden 2009, S. 249 – 271. 67 Vgl. Krawietz, Weltrechtssystem (FN 59), S. 431.

II. Weltrechtssystem oder Globalisierung einzelner Rechtsmaterien?

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in der Anwendung des bereits geltenden Rechts auf einzelne Fälle vollzieht, andererseits jedoch – makrotheoretisch gesehen – eine zumindest partielle Selbstsubstitution des Rechtssystems in dem Sinne, daß unter Nutzung der hierfür geschaffenen Kompetenzen, auf den hierfür vorgesehenen Wegen und in den dafür eigens eingerichteten Verfahren ,altes‘ durch ,neues‘ Recht ersetzt werden kann. Das staatlich organisierte Rechtssystem der modernen Gesellschaft verfügt unter den Bedingungen der Positivität allen Rechts, das heißt aufgrund der im Rechtssystem selbst institutionalisierten und organisierten Struktur- und Prozeßvorgaben für Rechtserzeugung, über politisch-rechtliche Entscheidungsmechanismen, in denen Rechtsregeln nicht bloß produziert und reproduziert, sondern auch die tradierten Rechtsvorstellungen der jeweiligen regional- und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im Wege der Selbstsubstitution intersystemisch normativ angeglichen und in neues Recht transformiert werden können. Demgegenüber ist zu betonen, daß die gesamte Leistung der Rechtsordnung einer Gesellschaft – und ich denke hier in rechtsinhaltlicher Hinsicht vor allem und in erster Linie an Regionalgesellschaften – nach der normativen Kommunikations- und Systemtheorie erst erkennbar und damit beobachtbar wird, wenn man die jeweilige, stets nur partiell formalisierte Einheit von Primär- und Sekundärsystem des Rechts in Betracht zieht, welche die Identität eines Rechtssystems ausmacht. Das staatliche Sekundärsystem des Rechts dient, komplementär zu den Funktionen der jeweiligen Primärordnung des gesellschaftlichen Rechts, dem formalen Aufbau und Ausbau, dem Schutz und der Kontrolle der Primärordnung bis hin zur – notfalls zwangsweisen, letzten Endes sogar physischen – Durchsetzung (mit den Mitteln des Rechtszwangs). Gesamtgesellschaftlich (im Sinne von Weltgesellschaft) gesehen, fungiert das Sekundärsystem des Rechts weltweit, aber auch regionalgesellschaftlich jeweils als Kontroll- und Schutzeinrichtung des Primärsystems, System hier als Kollektivsingular verstanden. Auf der Ebene der formalen Rechtsnormen, die symbolisch durch Rechtsnormsätze präsent gehalten werden, korreliert diese Systemdifferenzierung mit der Unterscheidung von primären und sekundären Rechtsnormen, die der Sache nach schon seit dem 19. Jahrhundert der Rechtstheorie (Ihering, Bierling u. a.) durchaus geläufig war. Sie wurde von Hart in sprachanalytisch-begrifflicher Hinsicht für das anglo-amerikanische Rechtsdenken entdeckt und fruchtbar gemacht.68 Bisweilen ist auch von Aktionsnormen und Reaktionsnormen (Theodor Geiger) die Rede, welche – verstanden als sogen. Bedingungsnormsätze – die normative Struktur sozialer Integrate (Assoziationen, Institutionen, sozialer Systeme o. ä.) ausmachen. Dabei handelt es sich um zwei (!) verschiedene Sorten von Rechtsnormen, die in Form von Bedingungsnormsätzen miteinander verbunden sein können, 68 Zur Abgrenzung einer nachpositivistischen Position gegenüber dem rechtspositivistischen Denkansatz von Hart: Krawietz, Werner, Recht ohne Staat? Spielregeln des Rechts und Rechtssystems in normen- und institutionentheoretischer Perspektive, in: Rechtstheorie 24 (1993), S. 81 – 133, 115 ff., 121 f.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

aber nicht müssen. Während die primären Rechtsnormen sich an alle Mitglieder (z. B. Staatsangehörige, Rechtsgenossen) einer Rechtsgemeinschaft richten und sich auf deren Rechtsbeziehungen untereinander erstrecken, werden die sekundären Rechtsnormen gewöhnlich an den sogen. Rechtsstab, d. h. an die rechtliche Entscheidungsbürokratie und deren soziale Subsystembildungen (z. B. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung) adressiert. Auf diese Weise wird es möglich, die prätendierte inhaltliche Einheit der Rechtsordnung oder – da letztere rechtsrealistisch und pragmatisch gesehen in Wirklichkeit nicht existiert, sondern unter diesem Label bloß ein normatives Postulat propagiert wird – die Identität des gesamten Rechtssystems der modernen Weltgesellschaft und des modernen Rechts auf den diversen Abstraktionsstufen des von Krawietz entwickelten, hier zugrundegelegten Multi Level Approach im Rahmen der Theorie sozialer Systeme zu bestimmen. Es handelt sich beim modernen Recht, wie dargelegt, nicht um ein (und nur ein!) Rechtssystem, sondern – empirisch und geschichtlich betrachtet – um ein System von Rechtssystemen.69 4. Normen-, Rechts- und Gesellschaftstheorie als Theorie selbstreferenzieller sozialer Systeme Wer im alltäglichen sozialen Leben, wo und wie auch immer, eine Rechtsfrage aufwirft, einen Vertrag unterzeichnet, beim Gericht eine Klage einreicht oder gegen einen Akt der Verwaltung Widerspruch einlegt, erzeugt – aus kommunikations- und systemtheoretischer Perspektive gesehen – durch derartige Operationen diskriminierende Effekte. Die Multireferenzialität der systemischen Strukturen des modernen Rechts, durch welche die gesamte normen- und handlungstheoretische Konzeption von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft charakterisiert wird, bestimmt auch die jeweiligen Ausgangspunkte der Systemanalyse. Jedoch hängt die Handhabung der diversen sozialen Systemreferenzen darüber hinaus vor allem davon ab, daß bei der Beobachtung von Recht zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterschieden wird, die faktisch in Praxis und Theorie in der zwischenmenschlichen Kommunikation immer zugleich in Erscheinung tritt. In der modernen Gesellschaft, so wie sie sich heute einer Theorie und Soziologie des Rechts in kommunikations- und systemtheoretischer Perspektive darstellt, die ihrerseits einer gesellschaftstheoretischen Fundierung bedarf, muß bei der (Re-)Konstruktion des Rechts, hier verstanden als universale normative Ordnung des menschlichen Verhaltens, d. h. des gesamten Erlebens und Handelns, stets mit mehreren verschiedenartigen sozialen Systemreferenzen gearbeitet werden. Die hier vertretene Zentralthese besagt, daß (1) soziale Systeme zureichend nur dann beschrieben werden können, wenn man sich fortlaufend an ihren sinnhaften normativen Strukturen orientiert sowie (2) daran, daß Recht und Rechtssystem als maßgebende Teile der normativen Struktur jeder Gesellschaft fungieren.70 Ihren 69

Krawietz, Gemeinschaft und Gesellschaft (FN 38), S. 439 ff.

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Funktionsprimat erkennt man aber nur dann, wenn man die regionalgesellschaftlichen Zusammenhänge berücksichtigt, ohne die zugleich bestehenden gesamtgesellschaftlichen Bezüge zu ignorieren. Wir haben es somit nicht nur in der Rechtspraxis mit der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenzen zu tun, sondern operieren auch in der Theoriebildung unter den Bedingungen normativer sozialer Multireferenzialität. Sie wird uns durch die gesellschaftliche Wirklichkeit allen Rechts im regionalen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang aufgenötigt und prägt auch unser gesamtes Erleben und Handeln in Interaktionen und Organisationen.

5. Institutionalisierung, binäre Schematisierung und Prozeduralisierung des jeweils geltenden Rechts Die Umgangs- und fachsprachlichen Ausdrücke modern, Modernisierung und Modernität haben mit der weitgehenden sozietalen Transformation dessen, was sie in Verbindung mit Recht und Gesellschaft bezeichnen, im Gefolge der Ausdifferenzierung des Funktionssystems Recht und des in einigen Regionalgesellschaften rasch fortschreitenden sozialen Wandels mit seinen sekundären Differenzierungen ihre – an den jeweiligen fachsprachlichen Begriffsverwendungen ablesbare – Bedeutung tiefgreifend verändert. Das Ausmaß dieses sozietalen Modernisierungsprozesses wurde bislang in weiten Kreisen der Rechtsdogmatik, letztere hier verstanden als Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechtssystems, aber auch von einer auf Theoretisierung der Rechtsdogmatik reduzierten ,Rechtstheorie‘ nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Letztere hat sich noch immer nicht von bestimmten tradierten, aber unkritisch mitgeschleppten, bloß konventionellen, an sich durch die Wissenschaftsentwicklung längst überholten Philosophemen (naturrechtlicher, vernunftnaturrechtlicher und sich selbst apriorisierender Prinzipienlehren alteuropäischer Provenienz) emanzipiert. Sie versperren ihr den Weg zu einer sich weiterhin modernisierenden, hochgradig verwissenschaftlichten modernen Rechtstheorie.71 Wir befinden uns heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts an der Schwelle und im Übergang zu einer Informations- und Wissensgesellschaft, in der die Verwissenschaftlichung des Rechts und des gesamten Rechtsdenkens sowie die Professionalisierung des Rechtsbetriebs ein bis dato nicht erreichtes Ausmaß erlangt hat. Sie konfrontiert uns mit der Notwendigkeit, unser gesamtes rechtliches Erleben und 70 Krawietz, Werner, Interessen- und Wertungsjurisprudenz als Methode und Theorie des Rechts für das 21. Jahrhundert? In: Klaus Peter Berger et al. (Hrsg.), Zivil- und Wirtschaftsrecht im Europäischen und Globalen Kontext, Berlin 2006, S. 1163 – 1177, 1169 ff. Vgl. ferner: Weber-Grellet, Heinrich, Rechtsrealismus, in: Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 2. Aufl., Leipzig-Mannheim 2005, S. 1084 – 1085. 71 Eingehend hierzu: Dais, Eugene E. et al. (Hrsg.), Consequences of Modernity in Contemporary Legal Theory, Berlin 1998.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

Handeln neu zu gestalten und tiefgreifend zu verändern. Die durch Technik und Kommunikationsmedien bedingte, durchaus neuartige Entwicklung betrifft nicht nur die praktische und theoretische Argumentation im Bereich des Rechts. Sie erfaßt informationell und kommunikativ auch unser analytisch-begriffliches Rechtsdenken selbst und das gesamte juristische Weltbild, das wir uns im Hinblick auf die sozietale Welt allen Rechts, insbesondere mit Blick auf die modernen Rechtssysteme, zurechtgelegt haben.72 Das Informations- und Kommunikationssystem des Rechts insgesamt ist ein normatives, institutionell auf Dauer gestelltes Netzwerk, das sich aus systemischen Kommunikationen und Operationen zusammensetzt. Es baut sich auf und entwikkelt sich fort aus einer kontingenten Anzahl von Rechtskommunikationen, die in der alltäglichen Rechtspraxis normativ miteinander verkettet, d. h. organisatorisch, strukturell und prozedural miteinander gekoppelt werden. Dieses Netzwerk kann mit Mitteln des Rechts, normen- und handlungstheoretisch gesehen, jederzeit nach Belieben erweitert werden, alle Sozialbereiche menschlichen Erlebens und Handelns erfassen, programmieren und konditionieren und auf diese Weise praktisch den ganzen Erdball umspannen, immer vorausgesetzt, daß die sozietalen und rechtssprachlichen Transformations- und Übersetzungsprobleme bewältigt werden. Schon die bloße institutionelle Existenz einer Rechtsordnung schafft, verstanden als normative Struktur und Medium der Verhaltensorientierung, die Möglichkeit und Form sozialer Kontrolle, da sie als Maßstab zu fungieren vermag.73 Sie findet – einmal abgesehen von den Möglichkeiten einer eigenständigen, gleichsam spontan geübten oder vertraglich vereinbarten Selbstkontrolle oder Schiedsgerichtsbarkeit – ferner in staatlichen Organisationssystemen statt durch politisch-rechtliche Wahlen, Abstimmungen, Gesetzgebung und sonstige, hieran anschließende, hochselektive rechtliche Entscheidungsverfahren in Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung. Letztere fungieren als sekundäre Systeme des Rechts im Rahmen des staatlich organisierten Rechtssystems und der jeweiligen Regionalgesellschaft als ihrer jeweiligen sozialen Umwelt und sind ihrerseits eingebettet in den weltgesellschaftlichen Kontext. Diese Verfahren orientieren sich an einer binären Schematisierung und analytisch-begrifflichen Dichotomisierung des vorgeschriebenen Verhaltens nach Normen und Fakten. Derartige institutionalisierte Verfahrensweisen können außerdem einer weitergehenden Prozeduralisierung durch verbindliche Rechtsregeln (Gerichtsverfassungsrecht, Prozeßrechtsgesetze, Verwaltungsverfahrensgesetze o. ä.) unterworfen werden. Infolgedessen kann, darf und sollte sich der von den Bürgern und / oder Rechtsgenossen geschuldete Gehorsam gegenüber dem jeweils geltenden, für sie Van Hoecke (FN 12), S. 197 – 217. Krawietz, Werner, Ansätze zu einem Neuen Institutionalismus in der modernen Rechtstheorie der Gegenwart, in: Juristenzeitung 40 (1985), S. 706 – 714; ders., What Does it Mean ,To Follow an Institutionalized Legal Rule‘? On Re-Reading Wittgenstein and Max Weber, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 40 (1991), S. 7 – 14. 72 73

II. Weltrechtssystem oder Globalisierung einzelner Rechtsmaterien?

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verbindlichen Recht – ohne Meinungsmacht aufzuerlegen oder Gesinnungsterror auszuüben! – darauf beschränken, den Rechtsadressaten nur das abzuverlangen, was sie zu leisten vermögen und wozu sie von Verfassungs und Rechts wegen ohnehin verpflichtet sind, nämlich zur schlichten Befolgung des geltenden, für sie verbindlichen Rechts, auch wenn sie selbst es nicht billigen sollten. Die juridische Rationalität eines derartigen Vorgehens kommt zum Ausdruck in der kommunikativen Annahme / Ablehnung der mit förmlicher Rechtsgeltung ausgestatteten, normativen Verhaltenserwartungen, die – seien es generelle, seien es individuelle – in der Rechtskommunikation als normative Prämissen des rechtlichen Erlebens und Handelns fungieren und von Fall zu Fall in tatsächliches Verhalten umgesetzt werden müssen.

6. Strukturprobleme der Europäisierung und Globalisierung des Rechts Im Rahmen der rezenten Europäisierung und Globalisierung einer wachsenden Anzahl von bislang nationalstaatlich regulierten Rechtsmaterien erscheint heute zwischen politisch-rechtlichen, mit Mitteln des Verfassungs- und des sonstigen Rechts strukturell gekoppelten Rechtssystemen, auch rechtspolitisch gesehen, eine enge Zusammenarbeit angesagt bis hin zu einer Art Modernitätspartnerschaft. Es geht darum, die Modernisierung des Rechts in nationaler, internationaler und transnationaler Perspektive zu betreiben und nach Möglichkeit zu optimieren. Modernität des Rechts ist freilich nicht etwas, was in staatlich organisierten Rechtssystemen von oben herab – gleichsam von einer Spitze oder einem Zentrum ausgehend – top down verfügt werden kann. Es handelt sich – neben einem sich ausdifferenzierenden formalen Recht – wohl eher um ein sozietales Emergenzphänomen mit normativen inhaltlichen Implikationen, das zunehmend die gesamte Weltgesellschaft erfaßt, letztere verstanden als eine Gesellschaft von (Regional-) Gesellschaften.74 Jedoch können die charakteristischen Modernitätsmerkmale des Rechts, gesellschaftlich und geschichtlich gesehen, in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, je nach sozietalem Kontext und Wirkungszusammenhängen durchaus differieren. Es handelt sich dabei um – zum Teil neuartige – Rechtsprobleme einer transeuropäischen und transnationalen Rechtsentwicklung. Sie erfassen im Rahmen der Europäisierung und Globalisierung des Rechts – wenn auch beschränkt auf bestimmte Gegenstandsbereiche und Rechtsmaterien – über alle regionalgesellschaftlichen Grenzen hinausgehend in struktureller Hin74 Zum Aufbau einer neuen Weltordnung: Bergmann, Wilfried / Krawietz, Werner Perestrojka als politisch-rechtliches Prinzip? Herkunft und Zukunft einer Leitidee in zivilgesellschaftlicher und globaler Perspektive, in: Rechtstheorie 40 (2009), S. 149 – 158, 150 f., 155 ff. Vgl. ferner: Weber-Grellet, Heinrich, Staat und Recht als Instrumente der demokratischen Gesellschaft im Lichte rechtsphilosophischer und rechtstheoretischer Entwicklungen, in: Rechtstheorie 34 (2003), S. 157 – 194.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

sicht zunehmend die gesamte Weltgesellschaft. Dies macht die Modernitätsforschung im Recht zu einer anspruchsvollen und schwierigen, bislang selbst wenig erforschten kommunikativen und kooperativen Wahrheitssuche, in der die Strukturen und Prozesse aller Rechtskommunikation, in dynamisch-funktionaler Perspektive betrachtet, im Zentrum moderner Rechtstheorie stehen. Wir stehen heute, was die moderne Gesellschaft und das moderne Recht angeht, in einem vielfältigen, bislang in diesen Ausmaßen nicht gekannten Prozeß der Modernisierung der modernen Regionalgesellschaften und ihrer Rechtssysteme. Es ist eine, auch rechts- und gesellschaftstheoretisch nicht länger zu ignorierende institutionelle Tatsache, daß die moderne Gesellschaft – ich verwende das Wort und den Begriff Gesellschaft hier als Kollektivsingular – sich in globalem Ausmaße selbst transformiert. Von Gesellschaft kann und muß auch deswegen im Plural gesprochen werden, weil es, wie die Rechtsethnologie lehrt und die systemvergleichende Rechtstheorie belegt, auf dem Erdball auch heute noch Anteile von archaischer Gesellschaft und archaischem Recht neben solchen des vormodernen und modernen Rechts nebst zugehörigen Lebens- und Gesellschaftsformen gibt. Auch sind schon heute die Konturen der nächsten Gesellschaft erkennbar, im Hinblick auf welche bereits von Zweiter und Dritter Moderne die Rede ist, obwohl noch nicht hinreichend geklärt ist, was die Erste Moderne, rechts- und gesellschaftstheoretisch gesehen, war und ist. Während in dem einen Rechts- und Kulturkreis die Modernisierung des Rechtssystems, hier verstanden als Positivität allen Rechts, die im Wege politisch-rechtlichen Entscheidens bewerkstelligt wird, sehr weitgehend verwirklicht sein mag, kann sie in einer Reihe anderer, regional begrenzter und beschränkter Rechtssysteme – und sei es auch nur partiell im Rahmen einzelner Rechtsbereiche – nach wie vor in den Formen des archaischen oder des prämodernen Rechts vorneuzeitlicher Hochkulturen befangen sein. Wenn alles Recht, rechts- und gesellschaftstheoretisch gesehen, durchgängig ein sozietales Phänomen ist, das sich rekonstruktiv – in evolutionärer Perspektive betrachtet – von ursprünglich mythisch-magischen Anfängen archaischer Provenienz über die prämodernen, vorneuzeitlichen Hochkulturen bis hin zur modernen Gesellschaft entwickelt hat, so fragt es sich, ob dieser Entwicklung auf der Ebene ,gesellschaftlicher‘ Gemeinschaftsbildung (societal community) ein Trend entspricht, der von der Vergesellschaftung zur wachsenden Vergemeinschaftung hin tendiert, um mit einer welteinheitlichen Integration beider Tendenzen in einer umfassenden Rechtsgemeinschaft zu kulminieren.75 Auch läßt sich die weitere Frage anschließen, ob mit dieser Entwicklung, zumindest regionalgesellschaftlich gesehen, eine gesteigerte Verrechtlichung aller sozialen Beziehungen korrespondiert, nicht zuletzt auch in dem Sinne, daß in der modernen Gesellschaft – in dynamisch funktionaler, d. h. zeitlicher Perspektive gesehen – schon jetzt eine globale strukturelle Erstreckung der Regulierung von bestimmten Rechtsmaterien, wie beispielsweise der Wettbewerbsordnung, des Infor75

Bergmann / Krawietz (FN 74), S. 157 f.

III. Zivil- und Wirtschaftsrecht im europäischen und globalen Kontext

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mations-, Telekommunikations- und Medienrechts u. a. m., einhergeht. Dies geschieht mit dem Ziel oder doch zumindest dem so gar nicht bewußt intendierten, emergenten Effekt, daß diese Regelungen und ihre in der westlichen Gesellschaft oder zumindest im westeuropäischen Bereich bewährten Rechtsinhalte erdumspannend und weltweit wirksam werden. Eine derartige Modernisierung und Globalisierung des Rechts muß letzten Endes auch die Frage aufwerfen, ob wir, emphatisch formuliert, bereits auf dem Wege zu einer Weltgesellschaft oder gar Weltgemeinschaft76 sind, deren globale Identität auf dem Hintergrund einer mundialen rechtlichen Universalkultur, was immer dies sein mag, auch so etwas wie eine Weltrechtsgemeinschaft erkennen läßt.

III. Zivil- und Wirtschaftsrecht im europäischen und globalen Kontext 1. Wirtschaft und Gesellschaft in der weltgesellschaftlichen Perspektive einer modernen Interessen- und Wertungsjurisprudenz In der modernen Wissens- und Kommunikationsgesellschaft, in der die heute technisch mögliche Kommunikation von Recht alles menschliche Erleben und Handeln weltweit jederzeit füreinander erreichbar macht, ist deshalb nicht ohne Grund von der Emergenz einer Weltgesellschaft (world society) und einem Weltrecht (world law) die Rede, deren normativer und epistemologischer Status allerdings nicht bloß in rechtsdogmatischer, sondern auch in methodologischer und rechtstheoretischer Hinsicht klärungsbedürftig erscheint. Vielleicht muß man heute eher Wirtschafts- und Gesellschaftsrechtler sein und sich nicht bloß mit dem nationalen Recht eines staatlich organisierten Rechtssystems und den inter- und supranationalen Rechtsbeziehungen zwischen State Legal Systems und dem von ihnen herrührenden oder doch abzuleitenden Recht (domestic law, municipal law) befassen, so wie es vom Öffentlichen Recht her gedacht wird, sondern auch mit den aktuellen Bestrebungen, ein demgegenüber eigenständiges transnationales Recht zu etablieren und weltweit in Geltung zu setzen, um – unverstellt durch die konventionellen Vorgaben der tradierten dogmatischen Rechtswissenschaft (legal dogmatics, legal doctrine) – eine moderne Theorie des Rechts und der Rechtswissenschaft konzipieren zu können. Zu den modernen deutschen Zivilrechtslehrern, die diesen Weg beschritten haben, zählt u. a. Norbert Horn. Er gehört wegen seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit den geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Rechts, deren Behandlung er auf hohem, auch rechtstheoretischem Niveau betrieben hat, zu den wissenschaftlichen Hochschullehrern, die – neben dem geltenden Recht und seiner Anwendung bis hin zur fortlaufenden Rechtsgewinnung im Einzelfalle – zugleich auch die juristische Methodenlehre und die 76

Krawietz, Weltrechtssystem (FN 59), S. 447 ff.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

Rechtstheorie professionell vertreten und beherrschen. Dies geschieht unter Einschluß der philosophischen Voraussetzungen und Implikationen, welche für die juristische Argumentation und Entscheidung (!) Relevanz besitzen. Er erscheint exemplarisch für den zeitgenössischen Trend, der in den modernen Rechtstheorien von den bloß analytisch-begrifflichen Denkrichtungen und sich selbst apriorisierenden, reinen Prinzipienlehren weg heute vor allem zu eher pragmatischen rechtsrealistischen Denkansätzen und Einschätzungen führt, und hat diese Entwicklung mit höchst eigenständigen, wichtigen Denkanstößen begleitet und gefördert. Es geht heute darum, daß – im Anschluß an die von Coing wiederentdeckte Provenienz der deutschen Interessenjurisprudenz aus dem durch Rudolf von Ihering vermittelten Utilitarismus Benthams und aus seiner Interessen- und Werttheorie – die vermeintlich divergierenden und differierenden Argumentations- und Denkansätze der Interessenjurisprudenz sowie der Wertungsjurisprudenz wieder zusammengeführt werden.77 Auch wird es gegenüber der konventionellen juristischen Hermeneutik heute mehr als bisher darauf ankommen, die Eigenständigkeit der Interessen- und Wertungsjurisprudenz78 herauszuarbeiten, letztere verstanden als juristische Argumentations- und Entscheidungstheorie, welche die Autorität und Rationalität aller genuin rechtlichen Argumentation auf eine neue, geschichtlicher und gesellschaftlicher Erfahrung zugängliche, werttheoretische Basis stellt. Sie kann weder dem Naturrecht noch einem säkularisierten Vernunft(natur)recht zugeordnet werden, läßt sich aber auch nicht als bloßer Legalismus (Gesetzes- und Rechtspositivismus) qualifizieren, sondern ist in einem noch näher zu bestimmenden Sinne nachpositivistisch. Sehr treffend hat Berger darauf hingewiesen, daß in der normativen Entwicklung eines transnationalen Rechts, die in der modernen Weltgesellschaft um sich greift, unsere Vorstellungen von Recht und Rechtswissenschaft, die hier zum Ausdruck gelangen, sich selbst schon seit geraumer Zeit tiefgreifend verändert und transformiert haben und noch weiter verändern werden. „A non-positivistic notion of the law is beginning to emerge.“ In dem Bestreben, einen Beitrag zur näheren Bestimmung des sich rasch entwikkelnden transnationalen Rechts zu leisten, so wie diese Genese gesellschaftlicher Normen des Rechts sich heute in der juristischen Methodenlehre und Theorie des Rechts darstellt, geht es nicht nur um dessen Charakterisierung in struktureller und funktionaler Hinsicht. Ich werde im folgenden zwischen (i) den methodologischen und (ii) den rechtstheoretischen Aspekten dieser Problemstellung unterscheiden, doch muß ich mich hier aus Mangel an Raum auf einige kursorische Überlegungen beschränken.

Hierzu und zum Beitrag von Horn vgl. Krawietz (FN 70), S. 1169. Zu deren Grundlagen: Werner Krawietz, Interessenjurisprudenz, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel / Stuttgart 1976, Bd. 4, Sp. 494 – 514. 77 78

III. Zivil- und Wirtschaftsrecht im europäischen und globalen Kontext

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2. Positivität des Rechts als Selektivität und Variabilität moderner Rechtssysteme In einer Studie, die Harold J. Berman vom Standpunkt seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Theorie des Rechts der Bestimmung der umstrittenen rechtlichen Qualität einer lex Mercatoria und eines darüber noch hinausreichenden transnationalen Rechts gewidmet hat, werden die mit diesen Worten und Begriffen gekennzeichneten und umschriebenen Strukturen und Gegenstandsbereiche des modernen Rechts als Kernstück eines sich in unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft rasch ausbreitenden Weltrechts (World Law) ausgewiesen, das seinerseits für die zusammenwachsende Weltgesellschaft (World Society) charakteristisch ist.79 Nach seiner Auffassung geht es heute darum, (i) der Gleichsetzung nationalen Rechts mit dem Recht überhaupt zu begegnen, (ii) die Irrtümer einer rein historischen und sozialökonomischen Rechtsauffassung (,Historische Schule‘) zu überwinden sowie (iii) diejenigen einer rein philosophischen und moralischen Rechtsauffassung (Naturrecht, Vernunftnaturrecht, Prinzipienlehren o. ä.) und einer bloß analytischen (,vernünftigen‘) Jurisprudenz (Analytical Jurisprudence) zu vermeiden. Die normative Eigenart eines transnationalen Rechts erschließt sich infolgedessen nach seiner Auffassung am ehesten einer integrativen Theorie des Rechts und der Rechtswissenschaft (,Integrative Jurisprudence‘), welche die eigentlichen Errungenschaften der drei herkömmlichen Schulen vereinigt, aber zugleich über sie hinausgeht. Man kann diesem Credo und Wissenschaftsprogramm Bermans zustimmen, das – wie der Autor sehr treffend bemerkt – darauf hinausläuft, den juristischen Positivismus endgültig zu verabschieden und den Rechtsbegriff selbst mit Blick auf die sozietale Wirklichkeit allen Rechts in globaler Perspektive zu erweitern. Ich schließe mich seiner Auffassung ausdrücklich an, folge jedoch der Problemsicht von Krawietz, der – im Hinblick auf eine gewisse Inflationierung der Theorieangebote – eine ,Theorieintegration,‘ bzw. den Aufbau einer Theorie der Theorieintegration80 gefordert und betrieben hat. Ich tue dies aber eingedenk der Tatsache, daß – da nicht alles mit allem in einer Theorie des Rechts integrierbar ist – auch eine Theorieevaluation oder gar eine Theoriesubstitution, d. h. die Ersetzung einer Vorläufertheorie durch eine Nachfolgetheorie, erforderlich werden kann. Im Hinblick darauf kann man nicht nur die Substitution des Natur- und Vernunftrechtsdenkens durch Theorien des positiven Rechts bzw. Theorien einer praxisorientierten, genuin fachwissenschaftlichen Jurisprudenz fordern. Dies erscheint auch mit Blick auf die Eigenart des transnationalen Rechts und seiner Anwendung durchaus vonnöten.

79 Dazu und zum folgenden: Berman, Harold, Integrative Jurisprudence and World Law, in: Atienza, Manuel / Pattaro, Enrico / Schulte, Martin / Topornin, Boris / Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Theorie des Rechts und der Gesellschaft, Berlin 2003, S. 3 – 16. 80 Krawietz, Werner, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S. 158 ff., 192 ff.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

3. Erweiterung des Rechtsbegriffs in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive Desgleichen erscheint – im Hinblick auf die Erfordernisse der dogmatischen Rechtswissenschaft und der zugehörigen juristischen Methodenlehre – die Substitution einer bloß analytisch-normativistischen Jurisprudenz durch eine interessenund wertorientierte, rechtsrealistische Jurisprudenz und Entscheidungstheorie vonnöten, wie sie mit der Interessen- und Wertungsjurisprudenz jedenfalls im Umriß schon vorliegt. Nur am Rande sei hier angemerkt, daß es – wenn man mit Berman eine rechts- und gesellschaftstheoretische Erweiterung des Rechtsbegriffs im Sinne eines gesellschaftlichen Rechts verfolgt – gegenwärtig, einmal abgesehen von der Interessen- und Wertungsjurisprudenz, insoweit zwar komplementäre Theorieangebote, aber keine wirklichen Alternativen gibt. Zwar haben sich – miteinander konkurrierend – eine ,neue‘ topische, rhetorische, dialektische und / oder dialogische Jurisprudenz entwickelt, die ihr den Rang abzulaufen suchen, doch geht es hier nicht um Jurisprudenz, sondern um Topik, Rhetorik, Dialektik oder Dialogik im Dienste der Jurisprudenz, also um genuin philosophisch begründete ,Ersatzdienstleistungen‘, die in Geschäftsführung ohne Auftrag ab extra an die fachwissenschaftlichen Problemstellungen herangetragen und ihnen, wie Krawietz bei früheren Gelegenheiten eingehend dargelegt hat, mit wohlmeinender List untergeschoben werden. Entsprechendes gilt für eine bloß hermeneutische Jurisprudenz, aber auch für eine ,neue‘ analytische Hermeneutik, wie er bei anderer Gelegenheit näher herausgearbeitet und eingehend belegt hat.81 Die in der Rechtspraxis vorherrschende, genuin rechtsnormative Interessen- und Wertungsjurisprudenz hat infolgedessen alle von außen an sie herangetragenen, wie auch immer philosophisch begründeten Angriffe – manche würden sagen: Diskursangebote – im Verlaufe der letzten Jahrzehnte ziemlich unbeeindruckt überstanden. Die Erforschung der Struktur und Funktionen, insbesondere der global wie lokal wirksam werdenden Verkehrsfunktionen eines transnationalen Rechts kann, wie die Analysen der Positivität allen modernen Rechts überhaupt, heute anknüpfen an die rezenten Untersuchungen zur Rechtskommunikation, in der die Rechtssysteme der modernen Gesellschaft – unbeschadet der fortlaufenden Übergangs- und Transformationsprozesse82 von Rechtsordnungen in West und Ost! – im geschichtlichen, politisch-kulturellen und weltgesellschaftlichen Zusammenhang als Informationsund Kommunikationssysteme miteinander kooperieren und sich integrieren. Dies gilt auch für die rechtlichen Gemeinschaftsbildungen im transnationalen Recht, bei denen es sich jedenfalls um gesellschaftliches Recht handelt.83 81 Hierzu: Krawietz, Werner, Sprachphilosophie in der Jurisprudenz, in: Dascal, Marcelo et al. (Hrsg.), Philosophy of Language. An International Handbook of Contemporary Research, Berlin / New York 1996, Vol. 2 / Tome 2, Nr. 102, S. 1440 – 1489, 1471 ff., 1476 ff. 82 Eingehend hierzu: Krawietz, Werner / Varga, Csaba (Hrsg.), On Different Legal Cultures, Premodern and Modern States and the Transition to the Rule of Law in Western and Eastern Europe, Berlin 2002.

III. Zivil- und Wirtschaftsrecht im europäischen und globalen Kontext

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4. Kommunikation von Recht – normen- und handlungstheoretisch gedeutet Der von mir hier verwendete, in normen- und handlungstheoretischer Hinsicht erweiterte Begriff der normativen Kommunikation, insbesondere der Rechtskommunikation, deckt den gesamten Gegenstandsbereich wirklicher / möglicher Kommunikation von Recht ab, erfaßt also sämtliche sozialen Beziehungen zwischen den Rechtsnormen und dem Handeln, so wie sie in den jeweiligen Dogmatikbereichen aus der Perspektive der Interessen- und Wertungsjurisprudenz schon seit jeher behandelt werden und auch pro futuro zu bearbeiten, zu beurteilen und zu bewerten sind. Er erlaubt auch eine genuin normative, aber sozialadäquate (Re-)Konstruktion des nationalen, internationalen und transnationalen Rechts und seiner Anwendungen in weltgesellschaftlicher Perspektive. Im globalen Zusammenhang betrachtet, ist das Informations- und Kommunikationssystem des Rechts ein sich aus systemimmanenten Operationen zusammensetzendes, institutionell auf Dauer gestelltes Netzwerk, das sich aus einer beliebigen Anzahl von weltweit anfallenden Rechtskommunikationen aufbaut und fortentwickelt, die in der alltäglichen Rechtspraxis im Wege juristischen Entscheidens miteinander verkettet werden. Dieses Netzwerk kann jederzeit nach Belieben erweitert werden, alle Sozialbereiche menschlichen Erlebens und Handelns erfassen und strukturieren und praktisch die ganze Welt umspannen. Vom Standpunkt der Theorie und Methode der Interessenund Wertungsjurisprudenz, die seit jeher von einer rechtsrealistischen Theorie der Rechtsquellen ausgeht, erscheint es – im begrifflichen Framework des modernen gesellschaftlichen Rechts gedacht, das nicht nur staatliches, sondern auch nichtstaatliches Recht kennt und umfaßt – nicht nachvollziehbar, daß dem modernen Transnational Law, wie manche meinen, die Rechtsqualität fehlen soll.84

5. Konsequenzen für die zeitgenössische Interessenund Wertungsjurisprudenz Die Interessen- und Wertungsjurisprudenz, so wie sie in der juristischen Methodenlehre und allgemeinen Rechtslehre von Ihering, Heck, Esser u. a. entwickelt und mit bezug auf das deutsche Rechtssystem auf alle Gebiete des geltenden Rechts erstreckt wurde, in denen sie als normative „Bewertungsjurisprudenz“ (Westermann)85 bis auf den heutigen Tag sehr effektiv fungiert, erscheint – rechtsund kommunikationstheoretisch betrachtet – nach wie vor geeignet, in Rechtspraxis und praktischer (dogmatischer) Rechtswissenschaft als Methodenlehre erster Wahl zu dienen, wenn es darum geht, zu ermitteln und zu entscheiden, was in einer Rechtsordnung von Fall zu Fall als Recht gilt. Wegen ihrer Praxisorientierung, ih83 84 85

Krawietz, Interessen- und Wertungsjurisprudenz (FN 70), S. 1170. Ebd., S. 1173 ff. Krawietz, Recht als Regelsystem (FN 80), S. 179.

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1. Abschn.: Kommunikation von Recht in der modernen Gesellschaft

rer Stützung auf Erfahrung und Beobachtung bei der Analyse des Rechts und ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Fundierung in Theorie und Methode, die sich vorrangig auf Erforschung der tatsächlich in der sozialen Wirklichkeit bestehenden Rechtskonflikte, der an ihnen beteiligten Interessen (Interests don’t lie!) und ihrer rechtlichen Bewertung stützt, wo immer man sie in einer Rechtsordnung – sei es in nationalen, sei es in internationalen oder transnationalen Zusammenhängen – identifizieren kann, erscheint die Interessen- und Wertungsjurisprudenz ihren genuin fachwissenschaftlichen Aufgaben besser gewachsen zu sein als konkurrierende Methodenlehren (topische, rhetorische, dialektische, dialogische, diskursive, analytisch-hermeneutische Jurisprudenz u. a. Vorgehensweisen),86 die ihr Forschungsdesign nicht primär am geltenden Recht sowie der Rechtspraxis ausrichten, sondern philosophischen Vorgaben entlehnen, die ab extra an die juristische Entscheidungsproblematik herangetragen werden. Die Interessen- und Wertungsjurisprudenz trägt jedenfalls dem Umstand Rechnung, daß es in allem geltenden Recht und seiner Anwendung, normen- und handlungstheoretisch gesehen, primär um juristische Entscheidung – und nicht durchgängig um wissenschaftliche Erkenntnis! – geht, da bei aller Rechtsgewinnung im Einzelfalle stets nicht nur kognitive, sondern vor allem volitive, normative und evaluative Informationen und Faktoren zusammenspielen. Die Interessen- und Wertungsjurisprudenz hat sich in Methode und Theorie des Rechts – verglichen mit konkurrierenden Denkansätzen – am frühesten und nachhaltigsten aus der Umklammerung durch Natur-und Vernunftrechtstheorien und eine bloß analytisch-begriffliche Jurisprudenz (Begriffsjurisprudenz, Jurisprudence of Concepts, Analytical Jurisprudence o. ä.) befreit, doch erscheint die Ablösung von den Prämissen des kontinentaleuropäischen juristischen Positivismus, insbesondere von denen des überkommenen staatsrechtlichen Gesetzes- und Rechtspositivismus noch nicht auf allen Rechtsgebieten hinreichend bewältigt.87 Hierdurch wird bisweilen der Blick auf die Positivität des Rechts – nicht zu verwechseln mit dem wissenschaftlichen Empirismus und Positivismus! – verstellt. Letztere erscheint – nicht bloß national, sondern auch inter- und transnational betrachtet – gekennzeichnet durch ihre Selektivität und Variabilität. Vor allem der in der modernen Weltgesellschaft mit ihren Möglichkeiten einer globalen Rechtskommunikation nicht mehr zu rechtfertigende juristische Positivismus und Etatismus einer bloß analytischen Reinen Rechtslehre, wie er beispielsweise im Rahmen der Wiener rechtstheoretischen Schule (Kelsen u. a.)88 vertreten wird, steht wegen seiner verfehlten Annahme einer Identität von Staat und Recht der Konzeption einer wirklichkeitsgerechten Theorie der Rechtsquellen entgegen, die – ausgehend von einem modernen, pragmatischen und realistisch fundierten Rechtsbegriff – alle Eingehend hierzu: Krawietz, Sprchphilosophie (FN 81), S. 1476 ff., 1482 ff. Krawietz, Recht als Regelsystem (FN 80), S. 33 ff., 57 ff., 179 ff. 88 Hierzu aus heutiger Perspektive: Krawietz, Werner, Hans Kelsen – ein normativer Mastermind des Rechts und der Rechtstheorie für das 21. Jahrhundert? In: Rechtstheorie 38 (2007), S. 33 – 98. 86 87

III. Zivil- und Wirtschaftsrecht im europäischen und globalen Kontext

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Rechtssysteme im globalen Zusammenhang integrativ zu erfassen sucht (Integrative Jurisprudence).89 Eine Interessen- und Wertungsjurisprudenz, die ihre – vom Ansatz einer geschichtlich-gesellschaftlichen Theorie des Rechts eröffneten – Rationalitätspotentiale wirklich ausschöpft, zumal sie von Anfang an zu den Begründern einer pragmatischen, rechtsrealistischen Theorie des Rechts gehörte, erscheint in der Lage, im Rahmen aller im weltgesellschaftlichen Zusammenhang auffindbaren rechtlichen Wertgemeinschaften auch den Rechtscharakter eines transnational law vom Standpunkt der Theorie der Rechtsquellen zu identifizieren, zu begründen und zu rechtfertigen.

89

Berman (FN 79), S. 3 ff. et passim.

Zweiter Abschnitt

Probleme und Denkansätze juristischer Methodik und allgemeiner Rechtslehren und ihre Relevanz für die Entwicklung des russischen Zivil- und Arbeitsrechts I. Handlungs- und Forschungsdesign im Verhältnis von Zivilrecht und staatlich organisiertem Rechtssystem 1. Zivilrecht und Grundgesetz Wenn die möglichen Inhalte des Zivilrechts von den Grundentscheidungen des politischen Systems abhängig sind, so muß die Verfassung auch für das Zivilrecht Bedeutung haben. Bei aller Ähnlichkeit von Zivilrechtsordnungen ist die Vorstellung unhaltbar, das Zivilrecht bilde einen verfassungsimmunen Regelungsbereich. Es ergibt sich dies schon aus der Erkenntnis, daß die Zivilrechtsnormen nicht Schöpfungen ,privaten‘ Willens, sondern der im Staate politisch organisierten Gesellschaft sind. Die zuständigen Organe der Normenbildung, nämlich die Organe der Legislative, Exekutive und Judikative sind in ihren Aktivitäten selbstverständlich an die Verfassung gebunden (vgl. Art. 1 I 2, 1 III GG). Das Zivilrecht ist ein Teilstück des normierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems, dessen Legalität und Legitimität nur im Rahmen der Verfassung besteht. Die Vorstellung, die Zivilrechtsnormen befänden sich außerhalb des Relevanzbereichs der Verfassung, kann durch einfache Beispiele widerlegt werden. Ein Rechtssatz des Zivilrechts, der die Begründung eines Sklavenverhältnisses für gültig erklären würde, verstieße sowohl gegen die Menschenwürde (Art. 1 I GG) als auch gegen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG), über deren Kern auch der Träger selbst nicht verfügen kann. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit kann generell dadurch verletzt werden, daß die Zivilrechtsnormen dieser Freiheitsentfaltung die nötige rechtliche Absicherung verweigern. Deshalb ergibt sich aus Art. 2 I GG nicht nur das Prinzip der Vertragsfreiheit, sondern auch die Verpflichtung des Staates, den im Einklang mit der Rechtsordnung stehenden Verträgen zur Durchsetzung zu verhelfen. Das Grundrecht des Art. 5 I GG kann durch eine Haftungsvorschrift verletzt werden, welche die Meinungsfreiheit generell bei den Vermögensinteressen anderer enden läßt, so daß eine Meinungsäußerung typischerweise zu einer schadensersatzrechtlich riskanten Sache wird. Die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) kann durch ein Zivilrecht verletzt werden, das die Vereinsbildung durch un-

I. Zivilrecht und staatlich organisiertes Rechtssystem

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angemessene Haftungsbestimmungen gezielt erschwert. Der Katalog ließe sich beliebig erweitern.90 Die Zivilrechtsnormen können natürlich auch verfassungsrechtliche Einrichtungsgarantien wie die des Eigentums und Erbrechts (Art. 14 I GG) verletzen, indem sie den genannten Instituten den Zivilrechtsschutz verweigern. Desgleichen kann die Sozialstaatsklausel (Art. 20 I GG) durch Zivilrecht verletzt werden; man denke an eine Vorschrift, nach welcher in einem Dienstverhältnis der Dienstnehmer für die Schäden einstehen müßte, die durch seine Erkrankung dem Dienstgeber entstehen. Niemand denkt freilich daran, derartige Regelungen einzuführen, aber sie zeigen die zivilrechtliche Relevanz des Grundgesetzes.91 Die Anforderungen, die das Grundgesetz an das Zivilrecht stellt, lassen sich aus dem Sinngehalt der Freiheitsrechte, der Einrichtungsgarantien und der Sozialstaatsklausel ableiten. Es geht darum, die Konfliktfelder zu ermitteln, über die das Grundgesetz mit seinen Rechtssätzen eine Aussage machen und eine Regelung treffen will. Die Freiheitsrechte umschreiben Bereiche existentieller Selbstbestimmungsinteressen des Menschen (oder Bürgers), die auch mit Hilfe der Normen des Zivilrechts nicht in verfassungswidriger Weise beschränkt werden sollen. Einrichtungsgarantien, wie diejenigen der Art. 6 I 1, II und Art. 14 I GG, verlangen ein Zivilrecht, das den mit ihrer Hilfe zugewiesenen Entfaltungs- und Schutzinteressen (z. B. dem Interesse der Eltern an der Erziehung ihres Kindes, Art. 6 II GG) zur Durchsetzung verhilft. Die Relevanz der Sozialstaatsklausel ist schon wegen der Begriffsschwankungen schwer in einem Satz auszudrücken; sozialstaatswidrig wäre z. B. eine Zivilrechtsnorm, welche das Interesse einer Person am Existenzminimum niedriger bewertet als das Interesse einer anderen an bloßer Gewinnoptimierung . Daß die Verfassung Anforderungen an das Zivilrecht stellt, bedeutet freilich nicht, daß die Zivilrechtsnormen im Detail aus der Verfassung abgeleitet werden könnten oder gar müßten, so als ob es für einen Konflikt nur jeweils eine verfassungskonforme Lösung gäbe. Vielmehr umgrenzen die Aussagen der Verfassung den Spielraum von Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Rechtssatzbildung. In erheblicher Bandbreite stellen die Wertungsalternativen und rechtstechnischen Mittel, die sich für eine Konfliktlösung anbieten, weder die Freiheitsrechte noch die Institutsgarantien noch das Sozialstaatsprinzip in Frage. Der freiheitliche Sozialstaat bildet kein geschlossenes System, aus dem sich eine Zivilrechtsordnung als einzig richtige ableiten ließe. Er setzt vielmehr ein Ziel, das unter ständig wandelbaren kulturell-ökonomischen Voraussetzungen mit unterschiedlichen Mitteln angesteuert werden kann und infolge permanenter Bewußtseinsveränderungen in der Gesellschaft immer wieder neu definiert werden muß. Da infolge der Anfällig90 Renner, Karl, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion: Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts, Tübingen 1929, Nachdr. Stuttgart 1965. 91 Egger, August, Vom individualistischen zum sozialen Zivilrecht, in: Ausgewählte Schriften und Abhandlungen, Bd. 1., hrsg. von Walther Hug, Zürich, 1957, S. 1209.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

keit und Fehlbarkeit des menschlichen Verstandes das situationsgebundene Optimum immer nur erstrebt, nicht aber garantiert und vollständig erreicht werden kann, muß der Politik ein weiter Raum für Entscheidungen bleiben. Man wird in den meisten Fällen darüber streiten können, welche Maßnahmen und Regeln für die Erzielung des sozialen Fortschritts geeignet sind. Man könnte z. B. den Automobil-produzenten die Pflicht auferlegen, nur solche Fahrzeuge herzustellen und zu verkaufen, die – was die Verkehrssicherheit betrifft – auf dem heute höchstmöglichen technischen Stand sind. Man würde dabei jedoch Gefahr laufen, die Automobile so zu verteuern, daß sie für den Bürger mit normalem Einkommen unerschwinglich werden. Läßt man sich aber auf Kompromisse ein, so wird man lange darüber streiten, welche technischen Vorkehrungen unverzichtbar sind und welche vernachlässigt werden können. Bei jeder Maßnahme wirtschaftlicher Steuerung muß beachtet werden, daß die Gesellschaft ein hochkomplexes soziales System bildet. Nicht selten bewirken die bestgemeinten Eingriffe das Gegenteil des Beabsichtigten. Die Duldung von Mißständen ist nicht selten sozial erträglicher als ihre rigorose Bekämpfung. Auch dieser Aspekt verlangt einen relativ weiten Entscheidungsraum für den Gesetzgeber. Ein Gesetz ist nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil es die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung weiter einschränkte, als sich hinterher notwendig erwies oder weil es der Individualfreiheit weiteren Raum ließ, als man hinterher als gut erkannte.92 Die Frage nach der Bedeutung des Grundgesetzes für das Zivilrecht wird vielfach unter dem Stichwort Drittwirkung der Grundrechte erörtert. Zur Zeit des klassischen Liberalismus, so meint man, hätten sich die Grundrechte ausschließlich gegen den Staat gerichtet; das Grundgesetz habe demgegenüber die Funktion der Grundrechte erweitert und sie mit Schutzpositionen auch gegenüber den Mitbürgern, vor allem aber gegenüber zivilrechtlich organisierten sozialen Mächten (Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften etc.) ausgestattet. Die Theorie der Drittwirkung wird in doppelter Gestalt vertreten. Die Theorie der unmittelbaren Drittwirkung behauptet, daß die Grundrechte (oder einige von ihnen) ,das Privatrecht‘ oder ,den Privatrechtsverkehr‘ unmittelbar betreffen; Rechtsgeschäfte, die gegen die Grundrechte verstoßen, sollen daher nichtig sein.93 Die Theorie der mittelbaren Drittwirkung anerkennt ebenfalls die normative Bedeutung der Verfassung für Privatrecht und Privatrechtsverkehr. Diese Bedeutung soll aber nicht darin liegen, daß die Privatpersonen in ihrem Verhältnis zueinander die Grundrechte unmittelbar zu beachten hätten; vielmehr wird angenommen, daß die Grundrechte Wertentscheidungen zum Ausdruck bringen, die bei der Handhabung und Interpretation der Zivilrechtsnormen, insbesondere bei Auslegung der Generalklauseln, wie §§ 138, 826, 157 und 242 BGB zu berücksichtigen 92 Kraft, Alfons, Rechtspflicht und Gewissenspflicht, in: Archiv für die civilistische Praxis 163 (1964), S. 472 ff. 93 Wieacker, Franz, Vertragsbruch aus Gewissensnot, in: Juristen-Zeitung 1954, S. 466 ff.

I. Zivilrecht und staatlich organisiertes Rechtssystem

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sind. Das Bundesverfassungsgericht hat sich der Sache nach der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung angenähert. Es sieht im Grundrechtsabschnitt der Verfassung eine „objektive Wertordnung“, ein „Wertsystem“ errichtet, von dem Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung „Richtlinien und Impulse“ empfangen. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlichrechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden. Der Rechtsgehalt der Grundrechte entfaltet sich nach dem Bundesverfassungsgericht im Privatrecht jedoch durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Generalklauseln wie § 826 BGB, die auf außerzivilrechtliche Maßstäbe verweisen.94 Der Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte kommt das Verdienst zu, die Ausübung sozialer Macht mit Hilfe des Zivilrechts als verfassungsrechtliches Problem erkannt zu haben. Als Lösungsansatz des Themas ,Zivilrecht und GG‘ halte ich sie gleichwohl mit einem Teil der Literatur für sehr problematisch. Sie bildet eine Quelle fortgesetzter Mißverständnisse, weil sie die Grundrechte abwechselnd auf das Privatrecht und den Privatrechtsverkehr bezieht, als ob ein Normengefüge und das den Normen unterworfene Geschehen dasselbe wären. In Wirklichkeit stellen die Personen des Zivilrechts, wenn es um ihre Rechtsverhältnisse untereinander geht, keine tauglichen Adressaten der Grundrechte dar; denn nicht sie sind die Schöpfer des Zivilrechts (auch nicht, wenn sie Verträge schließen), sondern Gesetzgebung und Rechtsprechung. Gesetzgeber und Richter als die zuständigen Organe der Rechts-normenerzeugung haben ein Zivilrecht zu schaffen, das dem GG entspricht; verfehlen sie bei dieser Aufgabe den rechtspolitischen Entscheidungsrahmen, den ihnen die Verfassung läßt, so sind sie es (nicht die rechtsunterworfenen Privatpersonen), welche die Verfassung verletzen. Sagt man z. B.: „Die Abrede in einem Vertrag, wonach ein Vertragspartner während der Vertragsdauer nicht seine Religion wechseln darf, ist verfassungswidrig.“, so meint man, daß die Normen des Zivilrechts eine solche Abrede von Verfassungs wegen (Art. 4 I GG) nicht als gültig oder nicht als bindend oder nicht als erzwingbar behandeln dürfen.95 Die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte darf vor allem nicht zu der Fehlvorstellung verleiten, das rechtsgeschäftliche Handeln der Privatpersonen sei an die gleichen Regeln gebunden wie das Handeln von Hoheitsträgern. Eine solche Auffassung widerspricht gerade der Entscheidung des Grundgesetzes für die Freiheit der Individuen und Gruppen. Während z. B. ein Hoheitsträger die Bürger unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln hat, steht eine Privatperson in ihrem zivilrechtlichen Verhalten keineswegs unter dem Gebot der Gleichbehandlung. Es kann jemand, dem mehrere Vertragsangebote gemacht sind, im Prinzip beliebig 94 BVerfGE 7, 198; BVerfGE 34, 279 spricht von „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte auf das Privatrecht. Vgl. zur gesamten Problematik: Guckelberger, Annette, Die Drittwirkung der Grundrechte, in: Juristische Schulung 2003, S. 1151 – 1157. 95 Kaufmann, Horst, Die Einrede der entgegenstehenden Gewissenspflicht, in: Archiv für die civilistische Praxis 161 (1962), S. 289 ff.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

wählen, welches Angebot er annimmt; er braucht nicht sachlich zu begründen, warum er dieses oder jenes Angebot ablehnt. Ein Gläubiger kann dem einen Schuldner seine Schuld erlassen und gleichzeitig gegen einen anderen Schuldner gerichtlich vorgehen, ohne daß ein ,sachlicher Grund‘ für diese Ungleichbehandlung vorliegen müßte. Der Vermieter kann bei Vertragsablauf den Mietvertrag mit einem Mieter verlängern, dem anderen die Verlängerung verweigern, ohne diese Differenzierung sachlich begründen zu müssen.96 Die Freiheit des Handelns vom Gleichbehandlungsgebot (einschließlich der Freiheit vom Begründungszwang) ist für eine liberale Zivilrechtsordnung grundlegend.97 Der gleiche Grundsatz der Freiheit verlangt aber, daß durch zivilrechtliches Handeln der grundrechtlich garantierte Freiheitsraum anderer Personen nicht der Substanz nach rechtswirksam geschmälert wird. Von diesem Denkansatz her sollte das Problem betrachtet werden, welche Anforderungen das Zivilrecht an das Handeln der zivilrechtlich organisierten sozialen Mächte zu stellen hat. Haben sich z. B. die Angehörigen eines Berufsstandes zu einer zivilrechtlich organisierten Standesvertretung zusammengeschlossen, deren Mitgliedschaft berufliche Vorteile mit sich bringt, so darf es nicht mehr im Belieben der Organisation liegen, ob sie das Aufnahmegesuch eines Berufsangehörigen ablehnen will oder nicht.98 Das Zivilrecht hat durch geeignete Mechanismen (etwa Aufnahmepflicht unter bestimmten sachlichen Voraussetzungen) die Berufsangehörigen vor einer wesentlichen Schmälerung ihrer Freiheit der Berufsausübung zu schützen (Art. 12 I GG). Ein Sportbund, der über die Teilnahme von Sportlern an internationalen Wettbewerben entscheidet, darf durch das Zivilrecht nicht in die Lage versetzt werden, die Nominierung der Sportler für Weltmeisterschaften u. ä. nach Willkür vorzunehmen und so über die sportliche Entfaltung einer Person beliebig zu bestimmen. Je mehr mit Hilfe der Handlungsformen des Zivilrechts soziale Macht über den Freiheitsraum anderer Personen ausgeübt wird, desto mehr muß das Zivilrecht den Handlungsspielraum des Mächtigen einengen.99 Die Freiheitsidee des Liberalismus ist von ihrem Ursprung her allergisch gegen Abhängigkeitsverhältnisse, die nach Dauer und Grad der Abhängigkeit die Freiheit des einzelnen bedrohen. Histo96 Hierzu: Leisner, Walter, Grundrechte und Privatrecht, München 1960; Canaris, C. W., Grundrechte und Privatrecht, Archiv für die civilistische Praxis 184 (1984), S. 201; Jarass, H. D., Grundrechte als Wertent-scheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 110 (1985), S. 363 – 397. 97 97 Vgl. dazu: Bosch, F. W. / Habscheid, W., Vertragspflicht und Gewissenskonflikt, in: Juristen-Zeitung 1954, S. 213; JZ 1956, S. 297; Blomeyer, Karl, Gewissensprivilegien im Vertragsrecht? In: Juristen-Zeitung 1954, 351 f. 98 Ramm, Thilo, Einführung in das Privatrecht, Erster Teils des BGB, München 1969, §§ 16 – 18; Ridder, Helmut, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1960, S. 24. 99 Raiser, Ludwig, Grundgesetz und Privatrechtsordnung, Festvortrag Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Essen 1966.

I. Zivilrecht und staatlich organisiertes Rechtssystem

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risch gesehen kehrte der liberale Freiheitsbegriff seine Spitze gegen die Abhängigkeitsverhältnisse des Feudalsystems.100 Dabei übersah die liberale Theorie lange Zeit, daß die unterschiedslose Zuteilung von Handlungsfreiheit an die Träger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht neue Abhängig-keitsverhältnisse schuf und daß das Freiheitspostulat als Mittel zu neuer Unterdrückung verwendet werden konnte. Gerade die Fortführung des liberalen Freiheitsbegriffs über die historische Konstellation seiner Entstehung hinaus verlangt ein Zivilrecht, das gegen die Ausnutzung gesellschaftlicher Macht zur Bedrohung der Freiheit hohe Barrieren errichtet.101 Die Zivilrechtsregeln müssen daher eine differenzierte Handhabung erfahren je nach dem faktischen Machtgefälle, das zwischen den Beteiligten eines Rechtsverhältnisses besteht.102 2. Unterscheidung von Zivilrecht und Öffentlichem Recht Über die Abgrenzung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht gibt es zahlreiche Theorien. Von einer Einigung in dieser Frage ist die Wissenschaft weit entfernt. Seit langem gibt es zudem Auffassungen, die den Sinn, die Zulässigkeit oder die Zweckmäßigkeit der genannten Zweiteilung leugnen. Hauptsächlich liegen die Schwierigkeiten darin begründet, daß der Staat nicht nur hoheitlich tätig wird, sondern bei bestimmten Bereichen, etwa dem Einkauf von Büromöbeln bei einem Möbelhändler oder beim Kauf eines Grundstücks zwecks Errichtung eines Amtsgebäudes, wie ein Privatmann auftritt und diesbezüglich nach den Regeln des bürgerlichen Rechts behandelt zu werden pflegt. Da folglich der Staat als zum Teil öffentlichrechtlich, zum Teil zivilrechtlich Handelnder gedacht wird, entsteht das schwierige Problem, die Vielzahl der Staatstätigkeiten der einen oder der anderen Kategorie zuzuteilen.103 Das Gerichtswesen 100 Vgl. dazu: Enneccerus, Ludwig / Nipperdey, Hans Carl, BGB AT I, § 15 „Geist des Privatrechts. Privatrecht und Verfassung“, 15. Aufl., 2. Hlbd., 1960, S. 1506 f.; Maunz / Dürig / Herzog, Grundgesetz-Kommentar, GG Art. 1 Abs. III, Rdz. 127. 101 Dazu etwa: Laufke, Franz, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, in: Festschrift für Heinrich Lehmann, hrsg. in Gemeinschaft mit Mitarb. von H. C. Nipperdey, Berlin 1956, Bd. I, S. 145 ff.; Schmidt-Salzer, Joachim, Vertragsfreiheit und Verfassungsrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift 1970, S. 8 ff.; Flume, Werner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Bd.: Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl., Berlin 1992, § 1, 8 – 10; Wolf, Manfred, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, Tübingen 1970; ders., Selbstbestimmung durch vertragliches Abschlußrecht, in: Juristen-Zeitung 1976, S. 41 – 45. 102 Vgl. hierzu: Hueck, Götz, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, München / Berlin 1958; Mikat, Peter, Gleichheitsgrundsatz und Testierfreiheit, in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey, hrsg. von Rolf Dietz, München / Berlin 1965, S. 581; MeyerCording, Ulrich, Der Gleichheitssatz im Privatrecht und das Wettbewerbsrecht, in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey, a. a. O., S. 537 – 551. 103 Eingehend dazu: Krawietz, Werner, Theorie der Verantwortung – neu oder alt? Zur normativen Verantwortungsattribution mit Mitteln des Rechts, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, S. 184 – 216, 201 ff., 205 f.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

nötigt zu dieser Aufgliederung. Für Rechtsstreitigkeiten stehen nämlich verschiedene Gerichtsorganisationen (Rechtswege) zur Verfügung: Verfassungsgerichte (für verfassungsrechtliche Streitigkeiten), Verwaltungsgerichte (für öffentlichrechtliche Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art, § 40 I VwGO), ordentliche Gerichte (für Strafsachen und bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, § 13 GVG) und schließlich Gerichte für besondere Gebiete (z. B. Sozialgerichte, Finanzgerichte). Die Rechtsnatur der Streitigkeit und damit des Rechtsverhältnisses, in dem der Konflikt ausgebrochen ist, entscheidet darüber, welcher Rechtsweg beschritten werden kann. Für unseren Problemzusammenhang ist die Unterscheidung zwischen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (ordentliche Gerichte) und öffentlichrechtlichen Streitigkeiten (Verwaltungsgerichte) einschlägig.104 Wir wollen die komplizierten Theorien hier beiseite lassen. Denn die von ihnen eigentlich angesteuerte Frage, ob, inwieweit und mit welchen Rechtsfolgen es dem Staate gestattet sein kann, sich als Subjekt des Zivilrechts zu definieren, liegt für das Zivilrecht selbst am Rande; die Entscheidung darüber muß vom öffentlichen Recht her erfolgen. Es geht nicht um Grenzbereiche, sondern um die Hauptsache, nämlich um Struktur und Funktion der Rechtsnormen.105 Nach welchen Unterscheidungsmerkmalen teilen wir die Normen in öffentlichrechtliche und zivilrechtliche ein? Was hat die Unterscheidung zu besagen? Wie ist das Verhältnis dieser Normkomplexe zu begreifen? Dabei ist eine Beschränkung der Fragestellung am Platz. Unter öffentlichem Recht versteht man üblicherweise das Verfassungsrecht, das Strafrecht, das Verwaltungsrecht und das Prozeßrecht. Die Verhältnisbestimmung dieser Normkomplexe zum Zivilrecht ist aber jeweils unterschiedlich. Das Verfassungsrecht bildet z. B. vorrangiges Recht gegenüber allen anderen Rechtsnormen und scheidet daher aus der Fragestellung aus. Generell sind Zweifel erlaubt, ob die Zusammenfassung des Strafrechts und des Verwaltungsrechts unter dem Begriff ,öffentliches Recht‘ sinnvoll ist.106 Die Frage soll deshalb beschränkt werden auf das Verhältnis von Zivilrecht und öffentlichem Verwaltungsrecht. Der Unterschied zwischen den Normen des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts liegt im Zuordnungssubjekt der Rechtsfolgen. Man vergleiche folgende Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) vom 19. Dezember 1952: – § 4 I: Erweist sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, so muß ihm die Verwaltungsbehörde die Fahrerlaubnis entziehen . . . – § 2 I 1: Wer auf öffentlichen Wegen oder Plätzen ein Kraftfahrzeug führen will, bedarf der Erlaubnis der zuständigen Behörde . . . 104

Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre. Eine Einführung, 4. Aufl., München

1985. 105 Huber, Hans, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit. Vortrag vor der Berliner Juristischen Gesellschaft am 12. 11. 1965, Berlin 1966. 106 Raiser (FN 99), S. 1 ff.; Huber (FN 105).

I. Zivilrecht und staatlich organisiertes Rechtssystem

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– § 7 I: Wird bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter des Fahrzeugs verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.

Diese Vorschriften ordnen Rechtsfolgen an, die sich aus bestimmten Tatbeständen ergeben. Die Vorschriften unterscheiden sich jedoch in der Frage, wen die Rechtsfolgen treffen und im Verhältnis zu wem sie eintreten: – § 4 I ordnet eine Rechtsfolge (Pflicht) für eine Verwaltungsbehörde gegenüber einer beliebigen Person an: Sie hat ihr den Führerschein zu entziehen, wenn sie sich als ungeeignet erweist. – § 2 I 1 ordnet eine Rechtsfolge für eine beliebige Person an, nämlich das Verbot, ein Kraftfahrzeug auf öffentlichen Wegen oder Plätzen ohne behördliche Erlaubnis zu führen. Es handelt sich um eine Rechtsfolge, die im Verhältnis zu den die Einhaltung des Verbots überwachenden Hoheitsträgern, also letztlich zum Staate eintritt. – § 7 I ordnet eine Schadensersatzpflicht im Verhältnis beliebiger Personen untereinander an.

Die Folgerung liegt nahe: § 7 I bildet einen Rechtssatz des Zivilrechts; die §§ 4 I und 2 I 1 sind Rechtssätze des öffentlichen Rechts. Ehe daraus eine Regel gebildet werden kann, muß geklärt werden, was eine ,Behörde‘ ist. Nach dem Sprachgebrauch des Gesetzes scheint es, als sei die Behörde (indem sie etwas tun muß oder ihr gegenüber etwas getan werden soll) eine Person, d. h. Träger von Rechten und Pflichten. In Wirklichkeit bilden die Behörden lediglich organisatorische Teile innerhalb größerer politischer Organisationskomplexe, z. B. des Staates (der Bundesrepublik Deutschland, des Freistaates Bayern etc.) oder der kommunalen Körperschaften (Landkreis, Gemeinde).107 Die handelnden Personen im Rechtssinne, denen Pflichten auferlegt oder Befugnisse zugesprochen werden, sind demzufolge nicht Behörden, sondern die juristischen Personen des öffentlichen Rechts.108 Wenn von einer Behörde die Rede ist, so ist lediglich ausgesagt, welcher Organisationsteil innerhalb dieser Körperschaften und Anstalten für die geregelte Angelegenheit zuständig sein soll. Wir könnten demnach versuchen, die Regel wie folgt zu formulieren: Öffentlich-rechtlich sind solche Rechtssätze, die Rechtsfolgen für eine Körperschaft oder 107 Bei der Verantwortungszuschreibung nach Maßgabe des Privatrechts spricht die deutsche Rechtsordnung von Haftung, bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Schuld und Strafe, bei der öffentlichrechtlichen Verantwortlichkeit, die sich gewöhnlich auf einen räumlichen Ausschnitt erstreckt, von der Haftung für einen kontrollierten Lebensbereich (Handlungshaftung, Zustandshaftung pp.) Vgl. Krawietz, Theorie der Verantwortung (FN 103), S. 200 ff. Vgl. ferner: Zippelius, Reinhold, Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14 (1989), S. 257 – 266. 108 Schwabe, Jürgen, Grundrechte und Privatrecht, in: Archiv für die civilistische Praxis 1985, S. 1 ff.; ferner: Canaris (FN 96), S. 9.

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Anstalt des öffentlichen Rechts oder für eine beliebige Person gegenüber einer solchen Körperschaft oder Anstalt anordnen. Als grobe Regel ist diese Definition brauchbar. Die Sache kompliziert sich durch den erwähnten Umstand, daß die Personen des öffentlichen Rechts auch wie Privatpersonen im Geschäftsverkehr auftreten und dann nach Zivilrecht behandelt werden. Die Rechtsfolgen, die durch die öffentlichrechtlichen Normen ausgesprochen werden, betreffen folglich die öffentlichrechtlichen Körperschaften und Anstalten als Hoheitsträger. Es kommt hinzu, daß auch solchen Personen, die nicht der öffentlichrechtlichen Organisation angehören, Hoheitsbefugnisse verliehen werden können (sog. Beliehene, etwa TÜV). Folglich ist die Regel derart zu verallgemeinern, daß man für ,Körperschaft und Anstalt des öffentlichen Rechts‘ den Begriff ,Hoheitsträger‘ setzt. Die Definition lautet dann: Die Normen des öffentlichen Rechts ordnen Rechtsfolgen für Hoheitsträger oder für beliebige Personen im Verhältnis zu Hoheitsträgern an. Unter Hoheitsträgern verstehen wir dabei (1) Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, wenn sie nicht wie Privatleute auftreten; (2) sonstige Personen, soweit ihnen ausnahmsweise Hoheitsbefugnisse eingeräumt sind.109 Der Unterschied nach den Zuordnungssubjekten der Rechtsfolge ist der einzig wesentliche und allgemeine. Er läßt sich in jeder auf Freiheit der Bürger hin angelegten Rechtsordnung der Sache nach aufweisen, wenn er auch nicht überall explizit entwickelt ist. Der Unterscheidung liegt die Aussage des politischen Systems zugrunde, daß die Verhältnisse unter den Bürgern von anderen Regeln gestaltet werden als die Verhältnisse der politischen Organe zu den Bürgern und untereinander. Die Freiheit der Individuen besteht gerade auch darin, in ihrem Verhalten zueinander nicht an die Gesetze und Grenzen der Staatstätigkeit gebunden zu sein. In der Redensart, die Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht sei überholt, können daher freiheitsgefährdende Tendenzen gewollt oder ungewollt impliziert sein. Die These von der Hinfälligkeit der Unterscheidung hängt oft auch mit Fehlvorstellungen zusammen, die der Privatrechtsbegriff auslöst.110 Grundlegend dafür ist der von dem römischen Juristen Ulpian (Digesten 1, 1, 2) überlieferte Satz: publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem. Der somit hergestellte Bezug des öffentlichen Rechts zum Zustand des politischen Gemeinwesens, des Privatrechts zu Individualinteressen ist sowohl nach der Konzeption des Liberalismus wie des Sozialstaats unbrauchbar. Denn nach dem liberalen Gesellschaftsmodell soll gerade das ,freie‘, mit den Mitteln des Zivilrechts abgesicherte Handeln der Bürger auch zum sozialen Optimum führen; der Sozialstaat will mit Hilfe des öffentlichen Rechts auch dem einzelnen Mindestgarantien für eine menschenwürdige Existenz verschaffen.111 Die Begren109 Zöllner, Walter, Die politische Rolle des Privatrechts, in: Juristische Schulung 1988, S. 329 – 336. 110 Novickij, Igor B., Rimskoe pravo [Römisches Recht], Moskau 2000, S. 74 ff. 111 Vgl. Pawlowski, Hans-Martin, Einführung in die juristische Methodenlehre. Ein Studienbuch zu den Grundlagenfächern Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Heidelberg 1986.

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zung des ,Privatrechts‘ auf das Private als Gegensatz zum Gesellschaftlichen und Öffentlichen entspricht generell nicht der liberalen Vorstellung, nach der die Vorgänge der freien, sich selbst bewegenden Gesellschaft in den Formen des Privatrechts vollzogen werden. Die Öffentlichkeit ist im politischen Sprachgebrauch des Liberalismus gerade nicht spezifisch auf den Staat, sondern auf die Gesellschaft bezogen. Die analytisch-begriffliche Verwirrung scheint daher zu stammen, daß der aus der juristischen Begriffstradition stammende staatsbezogene Begriff des öffentlichen Rechts isoliert vom politisch-sozialen Begriff des Öffentlichen einhergeht und die Versuchung nahelegt, dem öffentlichen Recht das Bezugsfeld ,Öffentlichkeit‘ zuzuordnen. In Wirklichkeit war und ist das Privatrecht (oder eben besser Zivilrecht) nicht allein auf ,Privatsphäre‘ beschränkt, sondern ergreift ebenso die gesellschaftlichen, dem Raum des Öffentlichen zugehörigen Handlungszusammenhänge wie das Marktgeschehen, die Warenproduktion und die Organisation von Wirtschaftsunternehmen und Verbänden. 3. Interdependenzen und Wechselwirkungen im Verhältnis von Zivilrecht und Öffentlichem Recht Daß öffentliches und bürgerliches Recht unterschieden werden können, ist kein Anlaß, sie voneinander zu isolieren. Denn insgesamt sollen die Normenkomplexe eine einheitliche, widerspruchsfreie Rechtsordnung ergeben. Soweit sie das Handeln der Individuen und Gruppen regeln, treffen öffentliches und bürgerliches Recht in denselben Lebenssachverhalten aufeinander und verfolgen dabei oft gleiche Regelungsziele, freilich mit Hilfe verschiedener Mittel. Daher kann die Rechtslage, die für einen normierungsbedürftigen gesellschaftlichen Zusammenhang besteht, nur dann richtig erfaßt werden, wenn man Zivilrecht und öffentliches Recht in ihren Wechselwirkungen aufeinander insgesamt ins Auge faßt. Der Inhalt des Grundeigentums kann z. B. nur dann vollständig erkannt werden, wenn man seine öffentlichrechtlichen Beschränkungen, auf die § 903 BGB nur pauschal verweist („soweit nicht das Gesetz entgegensteht“), mitberücksichtigt. Die Freiheit der Vereinsbildung und ihre Grenzen ergeben sich nicht nur aus den Vorschriften des BGB, sondern zugleich auch aus dem Vereinsgesetz. Generell bestimmt das öffentliche Recht den Stellenwert, der dem Zivilrecht in der Gesamtrechtsordnung zukommt. So ist z. B. den Regeln über Voraussetzungen und Folgen des Vertragsschlusses allein nicht anzusehen, welche Bedeutung die Vertragsschlüsse im Zusammenhang des gesamten Normsystems haben; bestehen z. B. gleichzeitig umfassende polizeistaatliche Genehmigungsvorbehalte oder ist der Vertragsschluß durch Strafgesetz in weitem Umfang verboten, so wird das Vertragswesen eine andere Relevanz besitzen als in einer auf Vertragsfreiheit hin angelegten Rechtsordnung. Funktionale und begriffliche Unterscheidungen dürfen also nicht zum Auseinanderreißen von Zusammenhängen führen. Die Aufteilung des Rechtsstoffs in ver-

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schiedene Normkomplexe ist überhaupt nur durch deren Verzahnungen möglich. In diesem Zusammenhang sind zwei Vorschriften des BGB zu nennen, die zahlreichen Normen des öffentlichen Rechts zivilrechtliche Wirkungen verleihen und damit die in ihnen enthaltenen Ge- und Verbote in das Zivilrecht hineinnehmen: (1) Nach § 134 BGB ist ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nichtig, wenn sich aus dem Gesetz nicht ein anderes ergibt. Als Verbotsgesetze kommen auch Vorschriften des öffentlichen Rechts in Betracht. (2) Nach § 823 II BGB trifft denjenigen eine Pflicht zum Schadensersatz, der gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt, wenn er dadurch den Geschützten schädigt. ,Schutzgesetz‘ in diesem Sinne können auch Vorschriften des öffentlichen Rechts sein. Daß die Normen des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts gleiche oder ähnliche Steuerungsziele haben können, ist für das Rechtsverständnis sehr wichtig. Man vergleiche112

– § 4 I 1 Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG v. 15. 3. 1974): „Die Errichtung und der Betrieb von Anlagen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit oder ihres Betriebs in besonderem Maße geeignet sind, schädliche Umwelteinwirkungen hervorzurufen oder in anderer Weise die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zu gefährden, erheblich zu benachteiligen oder erheblich zu belästigen, bedürfen einer Genehmigung.“

– § 907 I 1 BGB: „Der Eigentümer eines Grundstücks kann verlangen, daß auf den Nachbargrundstücken nicht Anlagen hergestellt oder gehalten werden, von denen mit Sicherheit vorauszusehen ist, daß ihr Bestand oder ihre Benutzung eine unzulässige Einwirkung auf sein Grundstück zur Folge hat.“

Beide Vorschriften befassen sich mit Anlagen, deren Bestand oder Betrieb Nachteile für andere mit sich bringen kann. Beide Normen bezwecken (zumindest auch) den Schutz der nachteilig betroffenen Personen und zwar § 4 I 1 BImSchG den Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarn, so daß also z. T. dieselben Personen gegen dieselbe Art von Beeinträchtigung geschützt werden. Soweit sich die Anwendungsbereiche des § 4 I 1 BImSchG und § 907 BGB decken, liegt ihr Unterschied im gewählten Mittel. Das BImSchG, eine Vorschrift des öffentlichen Rechts, führt den Schutz mit Hilfe einer Behörde durch. Diese wacht mit hoheitlichen Mitteln (Genehmigungsvorbehalt) darüber, daß die Gefährdung, Benachteiligung und Belästigung anderer ein zumutbares Maß nicht überschreitet. § 907 I 1 BGB hingegen, eine Norm des Zivilrechts, gibt dem Geschützten selbst einen Anspruch gegen den Störer. Die zivilrechtliche Norm legt die Initiative zum Rechtsschutz ganz in die Hände der beeinträchtigten Person selbst; die öffentlichrechtliche schiebt die hauptsächliche Schutzverantwortung einem Hoheitsträger zu. Freilich können sich am Ge112

BImSchG, 1974, S. 17 ff.

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nehmigungsverfahren nach dem BImSchG auch ,Dritte‘ beteiligen und Einwendungen gegen die geplante Anlage erheben – ein Beispiel dafür, wie nahe sich zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Normen auch in den rechtstechnischen Mitteln kommen können. Da die beiden Normen inhaltlich nicht zu denselben Resultaten führen (es können Anlagen genehmigt werden, welche die Voraussetzungen des § 907 BGB erfüllen), ergibt sich die Frage ihres Verhältnisses, vgl. dazu § 14 BImSchG. Das Maß, in dem eine Rechtsordnung das öffentliche Recht einsetzt, kennzeichnet ihren Charakter. Je mehr die Überwachung der gesellschaftlichen Pflichten der politischen Hoheitsorganisation überantwortet wird, desto mehr nähert sich das rechtliche Gesamtgefüge dem Bild des ,Polizeistaats‘, in dem das Individualverhalten ,von oben‘ kontrolliert und geleitet wird. Je mehr die Durchsetzung sozialer Pflichten hingegen dem Zivilrecht und daher der privaten Initiative überlassen wird, desto stärker sind die freiheitlichen Elemente der Rechtsordnung. Auch Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte spielen eine Rolle. Wenn jemand auf seinem Grundstück ein Haus bauen will, so kann er andere dadurch benachteiligen und gefährden. Man könnte den Schutz der anderen zivilrechtlich organisieren. Man hätte dann eine Fülle von An-sprüchen von Nachbarn, Passanten etc. darauf, daß der Bau ihre Sicherheit, ihre Rechte undvielleicht sogar ihr ästhetisches Empfinden nicht beeinträchtigt. Die Fülle von Einzelansprü-chen ergäbe jedoch kein rationales Verfahren; ob die Sicherheit anderer durch einen Bau be-einträchtigt wäre, könnte nur durch eine Vielzahl zivilrechtlicher Einzelstreitigkeiten geklärt werden. Es ist daher naheliegend, die Bautätigkeit einem behördlichen Genehmigungsverfahren zu unterwerfen, wie es die geltenden Bauordnungen tun. Daß damit bürgerlichrechtliche Ansprüche mit ähnlichen Zielen nicht ausgeschlossen sind, beweisen die nachbarrechtlichen Vorschriften (vgl. §§ 909, 912 BGB).

4. Methodik der Rechtsfindung und Rechtsgewinnung im Einzelfalle Wie gezeigt, ist in unserer vom Gesetzesrecht geprägten Rechtsordnung das Gesetz der Ausgangspunkt für die zivilrechtlichen Entscheidungen. Das Gesetz enthält aber die Wertungsmaßstäbe nicht vollständig und ist demzufolge als Rechtsnorm noch unfertig. Die Rechtsprechung und die ihr zur Seite stehende Wissenschaft wirken daher an der Rechtsnormenbildung mit, mindestens in der Weise, daß sie den gesetzlichen Vorschriften durch Interpretation eine deutlichere Gestalt verleihen. Auch wenn für einen entscheidungsbedürftigen Streitfall eine gesetzliche Regelung besteht, ergibt sich die Rechtsnorm als Obersatz in der Subsumtion erst aus einem Zusammenwirken von Gesetzgeber und Richter. ,Gesetzesanwendung‘ besteht folglich nicht nur in der Subsumtion, sondern darüber hinaus in der Teilnahme an der Rechtssatzbildung.113 113

Kelsen, Hans, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979.

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Diese Thesen sind keineswegs unbestritten. Verschiedentlich ist auch heute noch die Vorstellung lebendig, der Richter habe – zumindest in der Regel – überhaupt keine rechtsnormenbildende Aufgabe. Nach dieser Meinung ist die Konfliktentscheidung im Gesetz schon vollständig enthalten und braucht folglich dem Gesetz nur entnommen zu werden: Der Richter hat zu erkennen, nicht zu werten; es soll ihm verboten sein, außergesetzliche Wertungen ins Spiel zu bringen (Gesetzespositivismus). Diese Deutung der richterlichen Tätigkeit stammt aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus, der sich vor der Aufgabe sah, anstelle einer unübersichtlichen Masse von verschiedenen Rechtsquellen (gemeines Recht, Landrecht, Provinzialrecht, Stadtrecht, Dorf- und Höferecht etc.) ein einheitliches, für jedermann verständliches und sicheres Recht zu schaffen. Dabei fürchteten die Verfasser der aufgeklärten Gesetzeswerke, die Rechtsgelehrten und die von ihnen inspirierten Richter könnten die Bemühungen um das Vernünftige zunichte machen, indem sie den herkömmlichen Rechtsstoff in die neuen Gesetze hineintrügen und den Sinn der Gesetze durch den Wust der Tradition verdunkelten.114 Das preußische ALR war daher sowohl der Jurisprudenz als auch der Rechtsschöpfung durch den Richter abgeneigt: „Auf Meinungen der Rechtslehrer, oder ältere Aussprüche der Richter, soll, bei künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden.“ (Einleitung § 6); der Richter soll sich an das Gesetz halten (vgl. Einleitung § 46) und Zweifel über den Sinn des Gesetzes von einer Gesetzeskommission beurteilen lassen (§§ 47, 48). Eine derartige Deutung des Verhältnisses von Gesetz und Richter war auch auf demokratische Systeme übertragbar, die vom Fürstenabsolutismus zunächst die Vorstellung von einem starken Souverän übernahmen, von dem alle Gewalt und alle Rechtsnormen ausgehen. An die Stelle des Monarchen setzte die demokratische Theorie das Volk; die Gesetze erschienen als Ausdruck eines auf das Volk zurückgeführten allgemeinen Willens (volonte générale), an dem ein beamtetes Richtertum nichts zu deuteln hatte. a) Gesetzesauslegung, Anwendung und Bindung der richterlichen Rechtsfindung an das Gesetz Die Idee eines Gesetzes, das abschließend und unzweideutig den Willen des Gesetzgebers für alle vorfallenden Streitigkeiten verlautbart, hat sich jedoch als illusionär erwiesen. Freilich ergibt sich gerade in einem demokratischen System die Pflicht der Richter, durch sorgfältige Auslegung des Gesetzes die verbindliche Regelungsentscheidung des demokratischen Gesetzgebers zu erfassen und in der Streitentscheidung nachzuvollziehen. Zu diesem Zwecke hat die Methodenlehre Auslegungselemente entwickelt, über deren Zahl, Art und Stellenwert freilich keine Einigkeit besteht. 114

Fezer, Karl-Heinz, Die Pluralität des Rechts, in: Juristen-Zeitung 1985, S. 762 – 771.

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Im Anschluß an Savigny kennt man (1) ein grammatisches Auslegungselement, das die Bedeutung der Gesetzesworte in Verbindung mit der Gesetzes- und der allgemeinen Rechtssprache beleuchtet; (2) ein logisches Auslegungselement, das die formale Gliederung der Gedanken ins Auge faßt; (3) ein systematisches Auslegungselement, das sich auf den inneren Zusammenhang bezieht, welcher die Regeln und Begriffe zu einer einheitlichen Rechtsordnung verbindet; (4) das historische Auslegungselement, das man auf Unterschiedliches bezieht: teils auf den zur Zeit der Gesetzgebung bestehenden Regelungszustand (so Savigny), teils allgemeiner auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, teils generell auf den geschichtlichen Zusammenhang einer Regelung; (5) das sehr beliebte teleologische Auslegungselement, d. h. der Rückschluß vom Zweck auf den Inhalt des Gesetzes. Weder diese noch eine andere Methodenlehre vermag die mitgestaltende Funktion des Richters und der Wissenschaft bei der Rechtsnormenbildung zu verhindern (dies ist auch gar nicht der Sinn der Methodenlehren). Denn keine Gesetzessprache, auch wenn sie engumrissene Tatbestände beschreiben will, ist exakt genug, um gleitende Übergänge bei den Rechtsbegriffen und Mehrdeutigkeit bei den Aussagen zu vermeiden.115 Das gilt schon bei ganz einfachen Schilderungen naturhafter Zustände, wie „zur Nachtzeit“ und „Erlangung tatsächlicher Gewalt“. Nach § 854 I BGB wird der Besitz einer Sache durch Erlangung der tatsächlichen Gewalt erworben; nach § 856 I BGB wird der Besitz durch Verlust der tatsächlichen Gewalt wieder beendet. Diese Regelung löst zunächst eindeutige Vorstellungen aus: Wir denken an das Haus, das wir vor unerwünschten Eindringlingen verschließen oder an die Geldbörse in unserer Tasche. Vielfach ist die Beurteilung der Besitzlage aber schwierig: Hat man Besitz an dem Hut, den man – wie man sicher weiß – auf der Parkbank vergessen hat? Oder den man liegenließ, ohne genau zu wissen, ob auf der Parkbank oder im Kaffeehaus? Oder den man irgendwo im Park verloren hat? Es gibt demnach unterschiedliche Grade der ,Gewaltbeziehung‘; irgendwo verläuft die Grenze zwischen Besitz und Nichtbesitz, die aus den Worten ,tatsächliche Gewalt‘ allein nicht hergeleitet werden kann. Der Interpret wird sich vor allem überlegen, welche rechtlichen Folgen die Annahme oder Nichtannahme des Besitzes für die Fallentscheidung hat; dergestalt wird nicht nur vom Gesetz auf das Ergebnis, sondern zugleich von den möglichen Ergebnissen auf den Inhalt des Gesetzes geschlossen. Je allgemeiner die gesetzlichen Begriffe, desto weiter und undeutlicher sind die Begriffsfelder. Was bedeutet ,schuldhaftes Zögern‘ in § 121 I 1 BGB? Wie lange 115

Ebd.

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muß die Verzögerung der Anfechtungshandlung andauern, auf welchen Gründen muß sie beruhen, damit das Werturteil ,schuldhaft‘ gefällt werden kann? Was bedeutet ,Freiheit‘ in § 823 I BGB (Freiheit wovon? Freiheit wozu?). Ist ein gesetzlicher Begriff oder Aussagezusammenhang vieldeutig, so muß der Richter unter den Deutungsmöglichkeiten wählen, sofern seine Entscheidung davon abhängt. Er setzt dabei die genannten Auslegungselemente ein, die jedoch zumeist nicht dazu führen, daß eine und nur eine Deutung als die allein gesetzmäßige angesehen werden kann. Vielmehr lassen sich die verschiedenen Auslegungselemente oft für unterschiedliche Resultate einsetzen; nicht selten kann ein und dasselbe Auslegungsmoment pro und contra verwendet werden. Der Richter wird folglich innerhalb des ihm gegebenen Spielraums die Entscheidung der Wertung des Gesetzgebers bzw. des Gesetzes und aus eigener Wertung der Interessenlage heraus fällen. Er greift damit auf die dem Gesetz zugrunde liegende Wertungsproblematik zurück und bewältigt sie in einem Zusammenspiel der durch den Gesetzgeber im Rahmen der Rechtsordnung formulierten Wertungsmaßstäbe und seiner eigenen Wertung. Im Vorgang der richterlichen Entscheidungsfindung ereignet sich demnach ein Zweifaches: Der Richter versteht und nachvollzieht das Gesetz; gleichzeitig füllt er den Inhalt des Gesetzes von seinem Problemverständnis her auf.

b) Generalklauseln und unbestimmte Gesetzes- und Rechtsbegriffe Die unvollkommene Begriffsschärfe des Gesetzes, oft als Manko beklagt, bietet bei näherem Zusehen einen wichtigen Vorteil. Der Gesetzgeber hat bei seiner Regelung bestimmte als möglich gedachte Konflikte im Auge, die er normativ gestalten will. Der menschliche Geist ist aber weder in der Lage, Wirklichkeit vollständig und vollkommen zu erfassen, noch die in der Zukunft liegenden tatsächlichen Entwicklungen und Veränderungen sicher vorauszusehen. Mit der Fehleinschätzung und Veränderung der bei der Gesetzgebung vorgestellten Wirklichkeit verlieren aber die im Gesetz niedergelegten Wertungen an Überzeugungskraft. Infolgedessen ist der Gesetzgeber entweder zu ständigen, rasch aufeinanderfolgenden Gesetzesänderungen gezwungen oder aber er vertraut darauf, daß die Gerichte das gesetzgeberische Erkenntnisdefizit ausgleichen. Die Richter haben vor den Instanzen der Gesetzgebung den Vorzug, daß ihnen die wirklichen Konflikte begegnen. Das Gesetz bleibt als menschliches constructum gegenüber der Vielfalt des Lebens notwendig zurück; es ist nach einer gängigen Formulierung im Zeitpunkt seines Inkrafttretens schon veraltet. Es ist die richterliche Handhabung, die das Gesetz trotzdem brauchbar und lebensfähig erhält; dabei kommt der Rechtsprechung gerade die Mehrdeutigkeit des Gesetzes zur Hilfe.116 Ein kluger Gesetzgeber wird der Rechtsprechung die Teilnahme an der Rechtsnormenbildung deshalb ermöglichen und erleichtern. Es geschieht dies durch die 116

Engisch, Karl, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl., Stuttgart 1983.

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Verwendung relativ weiter, ausfüllungsbedürftiger Begriffe wie ,Billigkeit‘ (§ 829 BGB), ,im Verkehr erforderliche Sorgfalt‘ (§ 276 I 2 BGB), ,wichtiger Grund‘, ,zumutbar‘, u. ä. Derartige unbestimmte Gesetzes- und Rechtsbegriffe enthalten die Ermächtigung an die Gesetzesanwender, den Begriffsgehalt näher zu konkretisieren und auszugestalten (für ,Billigkeit‘ vgl. § 315 III 2 BGB). Als besonders wichtige Ermächtigungsnormen für richterliche Rechtsbildung erweisen sich die Generalklauseln. Darunter sind allgemein formulierte rechtliche Zusammenhänge zu verstehen, denen prinzipielle Bedeutung eingeräumt wird, wie z. B. das Prinzip von ,Treu und Glauben‘ (§§ 157, 242 BGB) oder der ,guten Sitten‘ (§§ 138, 826 BGB, § 1 UWG). Bei den Generalklauseln ist aus den gesetzgeberischen Rechtsbestimmungen verhältnismäßig wenig zu erschließen; ihr Inhalt wird durch Rechtsprechung und Wissenschaft aufgefüllt.

c) Obiter dictum und Rechtsfortbildung Was die praktische juristische Argumentation und Entscheidungstätigkeit angeht, müssen die im Begründungszusammenhang die notwendigen Rechtsausführungen (ratio decidendi) von den entbehrlichen (obiter dicta) unterschieden werden, um die Grenzen zulässiger richterlicher Begründungsweise naher zu umreißen und die Ansatzpunkte für eine richterliche Rechtsfortbildung zu bestimmen. Dieser Abgrenzung von ratio decidendi und obiter dictum hat das deutsche Schrifttum kaum Beachtung geschenkt, abgesehen von der profunden monographischen Untersuchung von Wilfried Schlüter, auf die hier Bezug genommen wird. Der deutsche Jurist verwendet, wie Schlüter belegt, bei der Lektüre höchstrichterlicher Entscheidungen auch im allgemeinen wenig Aufmerksamkeit darauf, ob die dort niedergelegten Rechtsausführungen zur Begründung der im konkreten Fall getroffenen richterlichen Entscheidung auch wirklich notwendig waren oder nicht. Sein Augenmerk richtet er vor allem darauf, welche Auffassung der jeweilige oberste Gerichtshof zu einer bestimmten Rechtsfrage vertritt. Dabei findet der Sachverhalt, soweit er überhaupt veröffentlicht ist, meistens geringere Beachtung als die der Entscheidung regelmäßig vorangestellten Leitsätze. Der deutsche Jurist betrachtet eine gerichtliche Entscheidung, wie es Cohrt einmal formuliert hat, als „theoretical answer of a more or less abstract question“.117 Es spielt allerdings die Abgrenzung zwischen den die Entscheidung ,tragenden‘ Gründen (sogen. ratio decidendi) und den sie ,nicht tragenden‘ (sogen. obiter dicta) eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die in den Entscheidungsgründen niedergelegten richterlichen Rechtsausführungen zu bestimmen, die zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit vonnöten sind. 117 Dazu und zum folgenden: Schlüter, Wilfried, Das Obiter dictum. Die Grenzen höchstrichterlicher Entscheidungsbegründung, dargestellt an Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, München 1973, S. 77 ff.

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Es braucht hier nicht im einzelnen dazu Stellung genommen zu werden, ob mit der unscharfen Formel von den ,tragenden‘ Gründen wirklich die relevanten Rechtsansichten zutreffend erfaßt werden können oder ob es hierzu nicht einer eingehenderen Analyse der einzelnen Bestimmungen bedarf, die zwar alle der Wahrung der Rechtsprechungseinheit dienen, hierbei aber durchaus unterschiedliche Akzente setzen. Sieht man einmal davon ab, daß bisher keineswegs eindeutig geklärt ist, wann eine Rechtsansicht ,tragende Grundlage‘ einer Entscheidung und damit ausgleichspflichtig ist, so ist es jedenfalls nicht angängig, die dort entwikkelten Regeln unbesehen ohne Weiteres auf die hier vorliegende, ganz anders geartete Fragestellung zu übertragen. Es interessiert hier nicht, welche in den Entscheidungsgründen enthaltenen inhaltlichen Rechtsansichten im Falle einer Divergenz der Entscheidungsbegründungen heranzuziehen sind, um die Rechtsprechungseinheit zu wahren. In diesem Zusammenhang geht es vielmehr nur darum, Maßstäbe dafür zu gewinnen, welche rechtlichen Ausführungen objektiv notwendig sind, um einen rational nachprüfbaren Begründungszusammenhang zu gewährleisten. Wegen dieser unterschiedlichen Zielsetzung brauchen die im Begründungszusammenhang notwendigen mit den eine Entscheidung ,tragenden‘ Rechtsausführungen nicht identisch zu sein, wie an einem Beispiel leicht verdeutlicht werden kann: Ist ein bestimmtes Klagebegehren nach mehreren (!) Gesetzesbestimmungen gerechtfertigt, dann genügt es für eine sachgemäße Begründung, wenn das Gericht seine Entscheidung jedenfalls auf eine dieser Normen stützt. Nur insoweit sind seine Rechtsausführungen objektiv notwendig. Hat das Gericht aber sein Urteil kumulativ auch mit anderen Anspruchsgrundlagen begründet, dann ist ein Teil dieser durchaus fallbezogenen Entscheidungsgründe im Ergebnis überflüssig. Das heißt aber nicht, daß die dort vertretenen Rechtsansichten insoweit die Entscheidung nicht ,tragen‘. ,Tragend‘, wenn auch nicht notwendig, sind alle Rechtsansichten, mit denen das Gericht die Entscheidung des konkreten Falles erkennbar absichern und untermauern wollte. Hat beispielsweise ein Senat des Bundesgerichtshofs sein Urteil gleichgewichtig nebeneinander auf zwei verschiedene Normen gestützt, dann erscheint es geboten, daß ein später erkennender Senat zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit nach § 136 GVG den Großen Senat anruft, wenn er in einem für ihn nunmehr entscheidungserheblichen Punkt von einer der Begründungen des früheren Urteils abweichen will. Wie wenig zuverlässig sich die Begründung von Rechtsansichten mit der allgemeinen Klassifizierung einzelner Gründe als ,notwendig‘ oder ,tragend‘ ist, wird schließlich an dem Sonderfall der Divergenzrevision (§ 72 ArbGG) evident. Ist das mit einer Divergenzrevision angefochtene Urteil alternativ auf zwei verschiedene Begründungen gestützt, wobei die eine von der Rechtsansicht eines anderen Landesarbeitsgerichts oder des Bundesarbeitsgerichts abweicht, dann ist die Divergenzrevision nach herrschender Meinung unzulässig.118 Dieses Ergebnis läßt sich nun schwerlich damit begründen, das angefochtene Urteil beruhe nicht auf der 118

Ebd.

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divergierenden Rechtsansicht, weil in jedem Fall die andere Begründung für den Urteilsspruch bestehen bleibe. Denn bestimmt man das, was für die Entscheidung ,tragend‘ ist, danach, ob die betreffende Rechtsansicht bei abstrakt-hypothetischer Betrachtungsweise zur Begründung des Ergebnisses unerläßlich ist, dann wäre bei einer Doppelgründung eigentlich keine der Begründungen ,tragend‘. Jede kann für sich betrachtet entfallen, ohne daß sich das Ergebnis ändert. ,Tragend‘ sind aber beide Begründungen deshalb, weil das Gericht hiermit erkennbar seine im konkreten Fall getroffene Entscheidung absichern wollte und auch abgesichert hat. Das Institut der Divergenzrevision dient, wie abschließend zu bemerken ist, nicht nur der Wahrung der Rechtsprechungseinheit, sondern auch dem Interesse der Parteien, was schon daran erkennbar wird, daß der Gesetzgeber die Einleitung dieses Verfahrens ihrer Initiative überläßt. Die unterlegene Partei führt eine Revision nicht durch, um einen Beitrag zur Rechtsprechungseinheit zu leisten, sondern um ihren Prozeß doch noch zu gewinnen. Wie jedes andere Rechtsmittel soll auch die Divergenzrevision den Parteien zu einer im Ergebnis richtigen Entscheidung verhelfen. Der Gesetzgeber sieht die Gefahr einer unrichtigen Entscheidung dann als relativ groß an, wenn das erkennende Gericht von anderen höchstrichterlichen Entscheidungen abgewichen ist. Der Sinn dieses Rechtsmittels entfällt aber, wenn der Revisionsrichter trotz einer Korrektur der möglicherweise fehlsamen divergierenden Ansicht im Ergebnis die landesarbeitsgerichtliche Entscheidung bestätigen müßte. Das wäre aber der Fall, wenn bei einem mehrfach begründeten Urteil sich nur eine der Begründungen als unrichtig erwiese. Das Bundesarbeitsgericht müßte, auch wenn es die abweichende Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht teilt, die Revision aus dem anderen rechtlich nicht zu beanstandenden Grund zurückweisen (§ 563 ZPO). Ließe man die Divergenzrevision auch in diesem Fall zu, dann wäre nicht einmal gewährleistet, daß die durch das landesarbeitsgerichtliche Urteil entstandene Divergenz beseitigt würde. Das Bundesarbeitsgericht könnte – und sollte – die Frage, in der das Landesarbeitsgericht von einer anderen höchstrichterlichen Entscheidung abgewichen ist, offen lassen und den Rechtsstreit mit der anderen strittigen Erwägung entscheiden.119 Schon diese wenigen, bloß exemplarischen Bemerkungen zeigen, daß die hier verwendeten, durchaus problematischen Begriffe der ,tragenden‘ ,ratio decidendi‘ bzw. der eine praktische juristische Entscheidung wirklich ,tragenden‘ Gründe vor dem Hintergrund der hier verfolgten Normen- und Entscheidungstheorie einer Revision bedürfen. d) Rechtsfortbildung durch Analogie und teleologische Argumentation Auch in den Fällen, in denen der Richter das Recht durch Analogie oder teleologische Argumentation fortbilden muß, um den an ihn herangetragenen Fall lösen 119 Canaris, Claus Wilhelm, Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, Berlin 1964.

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zu können, gilt für die Entscheidungsbegründung und ihre Grenzen im Prinzip alles das, was bei der Rechtsanwendung gesagt wurde. Die Begründung bewegt sich auch hier im Rahmen des Justizsyllogismus. Besonderheiten ergeben sich nur insofern, als der Richter den Obersatz für den Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung nicht dem Gesetz entnehmen kann, ihn vielmehr erst gewinnen muß. Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen schwierigen Fragen der juristischen Analogie und der ideologischen Reduktion einzugehen. Hier, wo es sich nur um die Abfassung höchstrichterlicher Entscheidungsgründe handelt, genügen folgende Bemerkungen: Da für eine Rechtsfortbildung nur dort Raum ist, wo das positive Recht für den zur Entscheidung anstehenden Sachverhalt keine Regelung enthält, also lückenhaft ist, muß der Richter in seiner Begründung zunächst einmal das Vorliegen einer Lücke nachweisen. Wann von einer Lücke gesprochen werden kann, wie der Lükkenbegriff zu definieren und weiterhin zu unterteilen ist, kann hier auf sich beruhen. Mit der inhaltlichen Bestimmung des Lückenbegriffs werden die materiellen Grenzen angesprochen, die dem Richter bei der Rechtsfortbildung durch seine Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gezogen sind. Hier interessiert aber nicht die Legitimation des Richters zur Rechtsfortbildung, sondern in welchem Umfang er seine als zutreffend unterstellten Rechtsansichten in den Entscheidungsgründen niederlegen darf, also die Unterscheidung zwischen notwendigen und entbehrlichen Rechtsausführungen. Nimmt er eine Lücke an, obwohl der betreffende Fall im Gesetz geregelt ist, dann mag sein Urteil im Ergebnis unrichtig sein; der Vorwurf, die ihm bei der Entscheidungsbegründung gesetzten Grenzen verletzt zu haben, trifft ihn deshalb aber nicht.120 Wenn er das Vorliegen einer Lücke begründet hat, muß er auch angeben, wie er diese Lücke ausfüllt, also den fehlenden Obersatz gewinnt. Lückenfeststellung und -ausfüllung, vornehmlich durch Analogie, sind aber keine rein logischen Operationen. Ebenso wie bei der Rechtsanwendung ist auch bei der Analogie und der teleologischen Reduktion die Gewinnung der Prämissen für den Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung, hier also des Obersatzes, eine Frage rechtlicher Bewertung. Der juristische Analogieschluß als wichtigstes Mittel zur Ausfüllung von Gesetzeslücken erschöpft sich keinesfalls in formallogischen Folgerungen. Die entscheidende Frage bei der juristischen Analogie besteht darin, ob der vom Richter zu beurteilende Fall den im Tatbestand einer Norm geregelten Fällen rechtlich gleichwertig ist, so daß es gerechtfertigt ist, die an die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen geknüpfte Rechtsfolge auch in dem nicht geregelten Fall eintreten zu lassen. Für die Feststellung dieser Gleichwertigkeit bietet die Logik keine hinreichenden Maßstäbe. Sie kann nur durch eine axiologisch-teleologische Betrachtung, durch Rückgriff auf die Grundgedanken und Wertungen des Gesetzes, ge120 Ebd. Dazu und zum folgenden Stammler, Rudolf, Rechtsphilosophie, Berlin / Leipzig 1928, Nachdruck Berlin 1970, S. 276 f. und Bartholomeyczik, Horst, Die Kunst der Gesetzesauslegung. Eine wissenschaftliche Hilfe zur praktischen Rechtsanwendung, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1960.

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wonnen werden. Ist festgestellt, daß die Tatbestandsmerkmale der Norm und der von seinen Besonderheiten abstrahierte Sachverhalt in den rechtlich relevanten Punkten gleichwertig sind, so bereitet der Schluß auf die Gleichheit der Rechtsfolge keine Schwierigkeit mehr. Diese für die Lückenausfüllung durch analoge Anwendung einer oder mehrerer Normen maßgebenden Erwägungen hat der Richter in seinen Entscheidungsgründen aufzudecken. Entsprechend hat er zu verfahren, wenn es gilt, eine zu weit gefaßte Norm durch ideologische Reduktion auf den ihr nach der immanenten Teleologie des Gesetzes zukommenden Anwendungsbereich zurückzuführen. Nur dann ist gewährleistet, daß die für den Analogieschluß maßgebenden Gründe deutlich hervortreten und nicht von tatsächlichen oder Billigkeitserwägungen überdeckt werden. Um aber zugleich in ihren Konsequenzen nicht überschaubare Präjudizierungen zu vermeiden, darf der analoge Obersatz nicht zu weit gefaßt werden. Anders als bei den wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen lassen sich hier für die Fassung und Formulierung der Obersätze genauere Kriterien angeben: Der Obersatz muß so formuliert sein, daß er den geregelten Tatbestand und den nicht geregelten Sachverhalt gerade noch umfaßt. Bei diesem Aufsteigen von der Norm zum allgemeinen Obersatz müssen die ihr zugrunde liegenden Prinzipien und Wertungen soweit herausgearbeitet und von allem Unwesentlichen und Beiläufigen abstrahiert werden, bis sich für die Entscheidung des Gesetzgebers und die vom Richter zu treffende Entscheidung ein gemeinsamer Obersatz ergibt. Der Obersatz muß also, um einen Begriff aus der Mathematik zu verwenden, gleichsam den ,kleinsten gemeinsamen Nenner‘ von Tatbestand und Sachverhalt bilden. Greift er darüber hinaus und besitzt er eine so allgemeine Fassung, daß er auch andere nicht geregelte Fallgestaltungen ergreift, so ist er wegen dieses ,überschießenden‘ Teils wegen dieser zu weitgehenden Abstrahierung ein entbehrliches obiter dictum mit all den Gefahren, die zu weitgehenden richterlichen Regelbildungen drohen. Die hier aufgestellte Forderung nach rechtssatzmäßiger Formulierung des analogen Obersatzes ist im Schrifttum nicht unbestritten. Manche Autoren meinen, es komme jedenfalls bei der praktischen Durchführung nicht so sehr auf die Herausarbeitung des allgemeinen Obersatzes an, dessen Tragweite dahingestellt bleiben könne; es genüge die Erkenntnis der Wesensähnlichkeit zwischen dem einen und anderen Fall. Ähnlich soll sich Stammler geäußert haben, der zwar bei der Analogie einen darüber stehenden Obersatz nicht leugnete, aber dessen volles Ausschöpfen für unnötig und die Erkenntnis der Gesamtheit der ihm unterstehenden Sonderfälle für nicht relevant ansieht. Aus diesen Ausführungen ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob sich die Autoren nur gegen zu weitreichende Formulierungen des Obersatzes wenden, die – ungeachtet des zur Entscheidung gestellten Falles – alle anderen nicht geregelten Fallgestaltungen erfassen, für die überhaupt eine analoge Anwendung dieser Norm in Betracht kommen kann. Wäre das gemeint, so wäre dem uneingeschränkt zuzustimmen. Stammler hätte dann nur mit anderen Worten das ausgedrückt, was oben bereits gesagt wurde.121 Von einigen Autoren scheint

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aber die Bildung des analogen Obersatzes in jedem Fall als überflüssig angesehen zu werden. Dem ist entgegenzuhalten, daß auch die ,Wesensähnlichkeit‘ zwischen den vom gesetzlichen Tatbestand erfaßten Fällen und dem nicht geregelten, zur Entscheidung anstehenden Fall in einer rational nachvollziehbaren Weise nur nachgewiesen werden kann, wenn die in der Norm getroffenen gesetzlichen Wertentscheidungen herausgestellt und zu einer Regel höherer Abstraktionsstufe verarbeitet werden. Nur wenn man zu einer verallgemeinernden Aussage gelangt, werden die Argumente, die für die Analogie bestimmend waren, aus der Sphäre reiner Billigkeitserwägungen herausgehoben. Erst mit der rechtssatzmäßigen Formulierung des Obersatzes in den hier vorgezeichneten Grenzen können höchste Gerichte in ihrer Rechtsprechung richtungweisend sein, weil sie dann die für die Entscheidung maßgebenden Gründe offenbaren und sich selbst darüber Rechenschaft ablegen. Bartholomeyczik weist mit Recht darauf hin, daß derjenige, der den analogen Obersatz nicht mit der Genauigkeit einer gesetzlichen Vorschrift formuliert, sehr leicht in die Gefahr gerät, unrichtig zu entscheiden. Nun ist nicht zu verkennen, daß auch höchste Gerichte in ihren Urteilen oft nicht so verfahren. Häufig begnügen sie sich damit, die Ähnlichkeit des in der Norm geregelten Sachverhalts mit dem nicht geregelten in „bündiger axiologischcr Begründung“ festzustellen. Das trifft vor allem zu, wenn die Analogie von einem einzelnen Rechtssatz (Gesetzesanalogie) und nicht von mehreren Rechtssätzen (Rechtsanalogie) ausgeht. Bei dieser Begründungsweise, bei der die Gerichte stärker auf die ,konkrete Sachbezogenheit‘ abstellen und ihre Anstrengungen ausschließlich auf die Erkenntnis der ,Wesensähnlichkeit‘ richten, die tragenden allgemeinen Rechtsgedanken aber in einer nur ,ungefähren, mehr intuitiven Vorausschau‘ erfassen, werden zwar zu weit reichende richterliche Regelbildungen leichter vermieden. Der Verzicht auf die rechtssatzmäßige Formulierung des analogen Obersatzes führt aber nicht nur zu einer Einbuße an ,Normativität‘ der Entscheidung, sondern bewirkt zugleich, daß die einzelnen Stadien des Begründungszusammenhangs in den Entscheidungsgründen nicht mehr deutlich hervortreten. Deshalb kann auch schwerer festgestellt werden, wann das Gericht von dem kürzesten Weg zur Rechtfertigung seiner Entscheidung abgewichen ist.122 Zusammenfassend läßt sich mit Blick auf entbehrliche, in Form von Obiter dicta geäußerte Rechtsausführungen im Bereich der Rechtsfortbildung folgendes feststellen: (1) Obiter dicta können einmal auftreten, wenn das Gericht den analogen Obersatz zu umfassend formuliert, so daß er sich nicht nur auf den vom Gesetz geregelten und den zur Entscheidung gestellten nicht geregelten Fall erstreckt, sondern auch weitere ungeregelte Fallgestaltungen erfaßt. (2) Verzichtet das Gericht auf eine rechtssatzmäßige Formulierung seines Obersatzes und stellt es stärker auf die ,konkrete Sachbezogenheit‘ ab, so sind obiter 121 122

Ebd. Ebd.

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dicta daran zu erkennen, daß es in seinen Vergleich der ,Wesensähnlichkeit‘ andere nicht vorliegende Fallgestaltungen einbezieht. (3) Entsprechendes gilt, wenn durch teleologische Reduktion der Anwendungsbereich einer Norm eingeschränkt wird. (4) Obiter dicta liegen auch vor, wenn das Gericht die Möglichkeit einer Analogie oder teleologischen Reduktion nicht nur im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt, sondern allgemein für weitere nicht vorliegende Fallgestaltungen, verneint. Auch bei der Ablehnung einer Rechtsfortbildung sollte sich das Gericht ebenso wie bei ihrer Bejahung in den Entscheidungsgründen nur zu der gegebenen Fallgestaltung äußern.

e) Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Das soeben dargelegte soll nunmehr an einigen Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts näher verdeutlicht werden. In seinem Urteil vom 8. 2. 1957 hatte der I. Senat über Schadensersatzansprüche eines Arbeitgebers gegen eine Gewerkschaft wegen Verletzung der tarifvertraglichen Friedenspflicht zu befinden (BAG, NJW 1957, 687). Anläßlich dieses Sonderfalles einer positiven Vertragsverletzung befürwortet der Senat ohne jede Einschränkung die analoge Anwendung des § 282 BGB auf alle Fälle positiver Vertragsverletzung. Für eine so weitgehende Analogie bestand um so weniger Veranlassung, als sich der Senat damit zu der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs in Widerspruch setzte. Bereits in seinem Urteil vom 18. 12. 1952 hatte der VI. Senat des Bundesgerichtshofs eine analoge Anwendung des § 282 BGB auf die Fälle positiver Vertragsverletzung nur dann zugelassen, wenn die Schadensursache aus dem Gefahrenkreis des Schuldners hervorgegangen war. Die Rechtsprechung des I. Senats wurde ferner vom IV. Senat des Bundesarbeitsgerichts abgelehnt. Dieser lehnte in seinem Urteil vom 2. 4. 1958 ab, ohne sich mit der Entscheidung des I. Senats auseinanderzusetzen eine analoge Anwendung auf das Arbeitsverhältnis generell. Auch der IV. Senat ging mit dieser uneingeschränkten Feststellung viel zu weit. Die möglichen Fallkonstellationen positiver Vertragsverletzung im Arbeitsrecht sind zu vielgestaltig, um anhand eines konkreten Streitfalles eine so weit gehende Aussage treffen zu können. Vorbildlich ist demgegenüber die Begründungsweise des 1. Senats in seinem Urteil vom 30. 8.1966, in dem er unter sorgfältiger Herausarbeitung des rechtspolitischen Zwecks des § 282 BGB eine analoge Anwendung dieser Bestimmung auf die positive Vertragsverletzung nicht allgemein, sondern nur für die Fallgruppe ablehnt, über die er zu entscheiden hatte, nämlich die Fälle einer Vertragsverletzung bei gefahrengeneigter Arbeit. Dem Bundesarbeitsgericht wären die Schwankungen in der Rechtsprechung wahrscheinlich erspart geblieben, wenn sich die Senate von Anfang an um die Herausarbeitung des analogen Ober-

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satzes bemüht und sich dabei auf die zur Entscheidung anstehenden Fallgestaltungen beschränkt hätten.

f) Analogie und Umkehrschluß Die Unvollkommenheit des Gesetzes kann auch in einer nicht beabsichtigten Regelungslücke bestehen, wenn nämlich Konflikte eintreten, die der Gesetzgeber überhaupt nicht oder nicht in ihren speziellen Modalitäten vorausgesehen und bedacht hat. Derartige Lücken werden, soweit möglich, durch Analogie geschlossen. Die Analogie besteht in der Übertragung einer Norm auf Fälle, die nicht den Normtatbestand erfüllen, die aber in den wesentlichen Punkten derartige Ähnlichkeiten mit dem Normtatbestand aufweisen, daß die gleiche Rechtsfolge angebracht erscheint. Wendet man eine gesetzliche Vorschrift analog an, so spricht man von Gesetzesanalogie. Gewinnt man hingegen aus einem Zusammenhang ähnlicher Vorschriften ein allgemeines Prinzip, das man über den Wortlaut der Vorschriften hinaus ausdehnt, so spricht man mit einem von Rechtsanalogie (z. B. Lehre von den vertragsähnlichen Vertrauensverhältnissen aus §§ 122, 179 II, 307 BGB).123 Die Anwendungsfälle des Analogieschlusses sind vielfach sehr problematisch. Ein ,Schweigen des Gesetzes‘ zu einer speziellen Konfliktsituation bedeutet noch lange nicht, daß der Gesetzgeber sie nicht vorausgesehen und mitbedacht hat. Vielmehr kann es auch sein, daß der Gesetzgeber die besondere Konfliktmodalität zwar gesehen hat, aber für sie keine spezielle Regelung anordnen wollte. Indem der Gesetzgeber die Entscheidungsmaßstäbe für gedachte Konflikte festlegt, scheidet er andere Gesichtspunkte als irrelevant aus. Dieser Auswahlvorgang darf durch den Gesetzesanwender nicht mit Hilfe der Lückentheorie beliebig rückgängig gemacht werden. Anderenfalls könnte der Richter jedes Gesetz, das ihm nicht gefällt, mit der Begründung aus dem Weg räumen, es enthalte für die Entscheidung gerade dieses oder jenes Rechtsstreits eine Lücke. Ist anzunehmen, daß die Nichterwähnung eines möglichen Entscheidungsgesichtspunkts vom Gesetzgeber gewollt ist, so wird mit dem sog. Umkehrschluß (argumentum e contrario) gearbeitet: Weil der Entscheidungsgesichtspunkt im Gesetz nicht erwähnt ist, bleibt er irrelevant. Da der Wille des Gesetzgebers über die Tragweite seiner Vorschriften im Detail selten zu rekonstruieren sein wird, steht der Richter oft vor der Wahl zwischen Analogie- und Umkehrschluß, die wiederum durch die eigene Wertung gesteuert wird.124 Dies belegen die folgenden Fallkonstellationen. 123 Langenbucher, Katja, Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl., Baden-Baden 2008, S. 17 ff. 124 Müller, Friedrich, Juristische Methodik, 10. neubearb. und stark erw. Aufl., Berlin 2009.

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Beispiel für Analogie: Nach § 12 BGB hat derjenige, dessen Namensrecht in bestimmter Weise durch einen anderen beeinträchtigt wird (z. B. durch unbefugte Namensführung), Anspruch auf Beseitigung der Beeinträchtigung und auf Unterlassung gegen den anderen. Schon bald ergab sich die Frage, ob der Namensschutz sich auch auf das von einer Person geführte Wappen erstrecke (im Wege der Analogie bejaht z. B. schon von RGZ 71, 262). Weiteres Beispiel: Das Versprechen einer Vergütung an den Heiratsvermittler begründet nach § 656 I 1 BGB keine Verbindlichkeit. Deshalb entstand die Frage, ob diese Vorschrift analog auch für Partner-Vermittlungsverträge gilt (bejaht in BGHZ 112, 122). Beispiel für Ablehnung einer Analogie: Ehegatten genießen gemäß §§ 1931, 1371, 2303 II BGB ein gesetzliches Erb- und Pflichtteilsrecht bei Tod ihres Partners. Es ergab sich die Frage, ob diese erbrechtliche Position auch für die Partner einer ,eheähnlichen‘ Gemeinschaft entsteht. Verneinend OLG Saarbrücken NJW 1979, 2050: Das eheähnliche Verhältnis ist gegenüber der gesetzlich geregelten Ehe ein völliges ,aliud‘, die analoge Anwendung des Ehegattenerbrechts würde zudem gegen Art. 6 I GG verstoßen.

5. Allgemeine methodologische Voraussetzungen und normative Prämissen richterlicher Rechtsfortbildung Die Argumentationstechniken, mit deren Hilfe sich die Gerichte in die Gestaltung der Rechtsnormen einschalten, sind – über die bereits genannten hinaus – vielfältig und im einzelnen durchaus problematisch. Einige Gesichtspunkte haben die richterliche Rechtsbildung in besonderem Maße beeinflußt:125 (a) Das teleologische Auslegungselement ist für die richterliche Einflußnahme auf den Rechtssatz in besonderer Weise geeignet, weil der Gesetzestext den Zweck einer Regelung nur selten angibt. Folglich wird man über Gesetzeszwecke streiten können. Der Zweck, mit dem argumentiert wird, kann daher schon im Hinblick auf das gewünschte Ergebnis gewählt werden. (b) Die heute h. M. erklärt als Erkenntnisziel der Gesetzesauslegung nicht (wie die sog. subjektive Theorie) den Willen des Gesetzgebers, sondern den Willen des Gesetzes (objektive Theorie). Dabei ist die Vorstellung maßgebend, das Gesetz entfalte, wenn es einmal in Kraft gesetzt ist, einen eigenen, von der Autorität des historischen Gesetzgebers sich ablösenden Regelungswillen. Folglich wird die Relevanz des historischen Auslegungselements zurückgedrängt. Es kann dem Gesetz eine Bedeutung zugeschrieben werden, die der historische Gesetzgeber nachweislich nicht gemeint hat. In Wirklichkeit ist somit der gegen den Willen des Gesetzgebers ins Feld geführte ,Wille des Gesetzes‘ nichts anderes als der Wille des Gesetzesanwenders. 125 Dubischar, Roland, Vorstudium zur Rechtswissenschaft. Eine Einführung in die juristische Theorie und Methode anhand von Texten, Stuttgart 1974.

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(c) Mit oder ohne Berufung auf die Generalklauseln werden außergesetzliche oder gar außerrechtliche Entscheidungsmaßstäbe in das Gesetz hereingenommen und es wird von nichtrechtlichen Erkenntnisquellen her argumentiert (Schöpfungsordnung – BGHZ 8, 243; Natur des Menschen, Natur der Sache; ethisches Prinzip; Vernunft). Der Einsatz außergesetzlicher Argumentationsmittel wird sowohl für die Ausfüllung von Interpretationsspielräumen als auch zur Ergänzung und Korrektur des Gesetzes benutzt. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ist es vielfach zur Gepflogenheit geworden, erwünschte Ergebnisse, wenn sie vom Gesetz nicht getragen werden, als die verfassungsmäßig einzig zulässigen zu postulieren. Heute ergibt sich insgesamt das Bild einer mit dem Gesetz verhältnismäßig frei umgehenden Rechtsprechung, die zugunsten des gerechten Ergebnisses teils mit subtilen Begründungen, teils aber unter pauschalem Verweis auf ,Treu und Glauben‘, ,Zumutbarkeit‘ u. ä. das Gesetz nicht nur interpretiert, sondern vielfach ergänzt und gelegentlich auch korrigiert. Ergänzung und Korrektur des Gesetzes werden als ,richterliche Rechtsfortbildung‘ gerechtfertigt. Ursache für den Spielraum, den die Gerichte gewonnen haben, ist das Alter der Zivilrechtsgesetze, vor allem aber der Umstand, daß in einem parlamentarischen und pluralistischen System die Gesetzgebung weder so prompt erfolgt noch so prononciert ausfällt wie in einem Obrigkeitsstaat. So kommt es, daß gesetzespolitische Reformen, obwohl längst als notwendig erkannt, lange auf sich warten lassen, unterbleiben oder auf undeutliche Formelkompromisse hinauslaufen. Der derzeitige Zustand wird teils gefeiert (,königliches Richtertum‘, Richter als ,sozialer Ingenieur‘, ,richterliches Gewohnheitsrecht‘), teils mit Sorge um die Bindung des Richters an das Gesetz beobachtet. Gleichgültig, ob und bis zu welcher Grenze man den Einfluß des Richters auf die Gestalt der Rechtsnormen für legitim hält – unbestreitbar entscheidet der Richter innerhalb des ihm gelassenen Spielraums nach seiner eigenen Wertung der Interessenlage. Bei der Auslegung des Gesetzes gerät er häufig in die Lage, zwischen mehreren Deutungen des Gesetzes wählen zu können, die sich sämtlich ohne Verstoß gegen Logik und Methodik als gesetzeskonform erweisen lassen. Die Wahl fällt dann tendenziell auf diejenige Deutung, die nach Auffassung des Richters zum gerechtesten Ergebnis führt.126 Denn der Richter will nicht nur eine gesetzmäßige, sondern (und dies in erster Linie) eine gerechte und zudem eine die Öffentlichkeit möglichst überzeugende Lösung finden. Man darf sich daher den inneren Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung nicht so vorstellen, als ob in getrennten Schritten zuerst das Gesetz ausgelegt (und somit näher gestaltet) und dann auf den Fall angewendet würde. Vielmehr wandert der Blick, wie man es treffend im Anschluß an die berühmte Formulierung von Engisch beschreibt, zwischen Rechtsnorm und Resultat ständig hin und her: Die Rechtsnorm beeinflußt nicht nur das Resultat, sondern 126

Fezer (FN 114), S. 762 f.

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auch das Resultat die Rechtsnorm. Für das Verständnis der Gesetzesanwendung ist das von größter Bedeutung. Die gesetzlichen Begriffe werden nicht als abschließend vorgegebene Größen betrachtet und aus sich heraus gedeutet, sondern im ständigen Kontakt mit immer neuen Konflikterfahrungen umgestaltet. Rechtsbegriffe haben kein Dasein für sich, sondern bilden gleichsam Signaturen für Regelungszusammenhänge. Ihre Auslegung erfolgt im Hinblick auf Rechtsfolgen, die als erwünscht oder unerwünscht beurteilt werden.

6. Objektivität des Richters und des Richterrechts Ist es unvermeidlich, daß der Richter – innerhalb eines weiteren oder engeren Spielraums – selbst wertet, so stellt sich die schwierige Frage nach der Objektivität und Rationalität seiner Wertung. Woher gewinnt er seine Maßstäbe, wodurch sind sie als verbindlich legitimiert? Wie kann sich die auf subjektiven Gerechtigkeitsempfindungen beruhende Beurteilung eines Interessenkonflikts als objektiv darstellen und daher Autorität erheischen? Die damit angedeutete, vor allem auch methodologische und rechtstheoretische Problematik kann hier nur im Umriß in einigen rechtspraktisch wichtigen Punkten charakterisiert werden. Es sind dies schwierige und faszinierende Fragen. Einige Punkte seien angesprochen: (1) Wenn wir bisher von dem Richter gesprochen haben, so gelangen wir leicht zur fehlerhaften Vorstellung von dem völlig auf sich gestellten Richter, der seine Bewertung, soweit ihm das Gesetz dazu Raum läßt, originär aus sich schöpft. In Wirklichkeit sind die Zivilgerichte vom Landgericht aufwärts als Kollegialgerichte eingesetzt. Das Urteil wird nicht durch eine subjektive Introspektion getroffen, sondern durch die diskursive Erörterung und Willensbildung mehrerer.127 Der Zwang, in der Urteilsberatung der Kammern und Senate überzeugend, d. h. mit Gründen zu argumentieren, zwingt die Mitglieder des Gerichts, eine gemeinsame Sprach- und Vorstellungsebene aufzusuchen, einzunehmen und mithin den Bereich subjektiver Empfindung zu überschreiten. Aber auch das mit einem Streitfall befaßte Kollegialgericht steht nicht allein und isoliert da. Denn ähnliche Konflikte entstehen auch im Zuständigkeitsbereich anderer Gerichte, so daß viele Richter – zunächst unabhängig voneinander – vor gleichen oder ähnlichen Wertungsproblemen stehen.128 Das streitentscheidende Gericht wird regelmäßig die veröffentlichten Entscheidungen anderer Gerichte in ähnlichen Fällen berücksichtigen und somit die Wertungserfahrungen anderer Gerichte in sein Judiz aufnehmen. Vor allem wird das Gericht die Rechtsprechung des im Instanzenzug übergeordneten Gerichts, bei dem die Parteien ein Rechtsmittel einlegen können, in Rechnung stellen. 127 Smid, Stefan, Richterliche Rechtserkenntnis. Zum Zusammenhang von Recht, richtigem Urteil und Urteilsfolgen im pluralistischen Staat, Berlin 1989. 128 Picker, Eduard, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung? In: Juristen-Zeitung 1988, S. 62 f.

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Durch Veröffentlichung der Urteile und Urteilsleitsätze des Bundesgerichtshofs, der Oberlandesgerichte, aber auch der Land- und Amtsgerichte entsteht eine umfangreiche Sammlung schon gewonnener gerichtlicher Entscheidungssätze (Präjudizien). Diese Präjudizien sind zwar für das jeweils streitentscheidende Gericht – jedenfalls nach deutschem Recht – nicht bindend; es wird aber nicht ohne triftigen Grund gegen sie Stellung beziehen. Dergestalt findet unter den Gerichten eine Kommunikation statt, die ein wichtiges Mittel der Objektivierung darstellt. (2) In der Auffindung von Wertungsgesichtspunkten und -begriffen sind die Gerichte nicht auf sich allein gestellt. Vielmehr gibt es eine sozial etablierte, als institutionelle Einrichtung organisierte Rechtswissenschaft und darüber hinaus eine große Zahl ,juristischer Schriftsteller‘, welche durch Interpretation des Gesetzes und der Konfliktlagen den Gerichten Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen und Entwürfe für Konfliktlösungen liefern. Die Rechtswissenschaft hat gegenüber der Gerichtsbarkeit gleichzeitig die kritische Aufgabe, die richterlichen Entscheidungen auf ihre innere Logik, Übereinstimmung mit dem Gesetz und sachliche Überzeugungskraft zu überprüfen. Die Gerichte sehen sich demnach einem Widerhall ihrer Rechtsfindung gegenüber, der gewöhnlich nicht ohne Einfluß bleibt.129 Vor allem ist zu bedenken: Das streitentscheidende Gericht hat einen konkreten Sachverhalt zu bewältigen, dessen individuelle Besonderheiten es stets vor Augen hat. Die Entscheidung muß aber von einer allgemeingültigen Regelungsprämisse her erfolgen, die für alle einschlägigen Fälle eine gerechte Entscheidung ermöglicht. Ferner müssen die zur Begründung verwendeten Begriffe und Rechtsfiguren im größtmöglichen Einklang mit der allgemeinen Rechtssprache und rechtlichen Systematik stehen, damit unterschiedliche Fälle vergleichbar bleiben und innerhalb desselben Normsystems gedeutet werden können. Da die Rechtsprechung leicht in Gefahr gerät, die konkreten Streitfälle aus den allgemeinen Zusammenhängen zu lösen, besteht eine Aufgabe der Wissenschaft hauptsächlich darin, den gesamten Rechtsstoff einschließlich der richterlichen Präjudizien in einen möglichst stimmigen System-, Begriffs- und Anschauungszusammenhang zu bringen (Dogmatik). Die rechtswissenschaftliche Dogmatik gerät ihrerseits in die Versuchung, die systematische und begriffliche Folgerichtigkeit höher zu setzen als die Einzelfallgerechtigkeit. Zwischen Rechtsprechung und wissenschaftlicher Dogmatik findet demnach eine gegenseitige Kontrolle und Korrektur statt. (3) Die Rechtsprechung findet eine objektivierende Kontrolle ferner durch die öffentliche Meinung, die wichtige Urteile durch die Massenmedien zur Kenntnis nimmt und kommentiert. Die öffentliche Meinung gewinnt einen (freilich schwer abzuschätzenden) Einfluß auf die richterliche Rechtsbildung schon da129

1990.

Schmalz, Dieter, Methodenlehre für das juristische Studium, 2. Aufl., Baden-Baden

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durch, daß die Gerichte bei rechtspolitisch prekären Entscheidungen gar nicht umhin können, die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das so oder so gefällte Urteil mitzubedenken. Der Richter will nicht nur gerecht sein, sondern auch überzeugen. Freilich sollte er sich sowohl vor opportunistischen Anpassungen an die öffentliche Meinung als auch vor dem Versuch hüten, die Öffentlichkeit in erzieherischer Absicht zu provozieren.130 (4) Als Mittel der Objektivierung richterlicher Wertung verlangt Josef Esser die sachrationale Begründung: Der Richter soll seine Entscheidung nicht nur aus dem Gesetz herleiten, sondern darüber hinaus mit Sachgründen als rational erweisen; er soll „zu allen Seiten – auch der rechtspolitischen – seines Entscheidungsproblems Stellung . . . nehmen“.131 Diesbezüglich ist jedoch Vorsicht am Platze. Gewiß sollen die Gerichte bei gesellschaftlich wichtigen Entscheidungen, die sie aufgrund eigener Wertung treffen, nicht bloß aus dem Gesetz deduzieren, sondern sich auf die Interessenlage selbst einlassen und von der Sache her in unparteiischer Weise Wertungsgesichtspunkte formulieren. Man darf nur nicht erwarten, daß Sachargumente, die über vordergründige Erwägungen der praktischen Vernunft hinausgehen, zur Objektivierung der Entscheidung beitragen. Über die rechtspolitische Wertung eines Problems kann man immer streiten. Je vielschichtiger die Sachargumente sind, desto abhängiger sind sie vom jeweiligen ,Vorverständnis‘; desto begrenzter wird folglich der Kreis derjenigen, die durch sie überzeugt werden können. Werden die Voraussetzungen eines Sacharguments immer weiter ,hinterfragt‘, so wird der Punkt erreicht, in dem der Argumentierende sein für die Problemerfassung entscheidendes ,Vorverständnis‘ nicht einmal mehr beschreiben kann. Es ist ja auch nicht so, als ob die richterliche Wertung schlechthin durch eine abstrakt wägende Vernunft bestimmt wäre. Für die menschlichen Entscheidungen spielt das Rechtsbewußtsein und Rechtsgefühl eine wichtige Rolle.132 Die wertende Beurteilung ließe sich hinter einem bloß vernünftigen, abstrakt bleibenden Begründungstheater ignorieren und verbergen, aber nicht dadurch beseitigen.133 Sachargumente werden nur objektiv durch die interessengerechte Übereinstimmung, die sich über sie erzielen läßt; folglich durch ihre Dogmatisierung als rechtlich bedeutsame Gesichtspunkte in Rechtsprechung und Lehre. Die richterliche 130

Kaiser, Torsten, Materielles Zivilrecht im Assessorexamen, 3. überarb. Aufl., Köln

2008. 131 Esser, Josef, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1972, S. 171. 132 Grundlegend hierzu in deutscher und russischer Perspektive: Sproede, Alfred: „Rechtsbewusstsein“ (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts, in: Gewohnheitsrecht – Rechtsprinzipien – Rechtsbewußtsein. Transformationen der Rechtskultur in West- und Osteuropa, hrsg. von Werner Krawietz und Alfred Sproede, Berlin 2004, S. 437 – 506. 133 Coing, Helmut, Juristische Methodenlehre, Berlin 1972.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

Entscheidungsfindung stellt sich als das Ergebnis eines unentwirrbaren Gemenges von Gesetzesableitung, Problemeinsicht und Empfindung dar. Will das Gericht sein Urteil nicht auf schwankendem Boden begründen, so tut es gut daran, sich darauf zu beschränken, seine Wertung als mit dem Gesetz vereinbar zu begründen (Gesetzesableitung) und darüber hinaus, wo immer möglich, aus dem Vorrat anerkannter Wertungsgesichtspunkte zu schöpfen (der sogenannten Topoi, von griech. topos = Ort, von daher Topik = die Lehre von den Topoi), anstatt mit vollen Segeln auf das offene Meer der rechtspolitischen Diskussion hinauszufahren.134 Die Ausschöpfung der juridischen Rationalität ist Sache der Wissenschaft, nicht der unter Zeitdruck und Entscheidungszwang stehenden Gerichte. Indem die Rechtswissenschaft mit Hilfe der empirischen Sozialwissenschaften Entwürfe für die Erfassung, Deutung und Normierung der gesellschaftlichen Realität konzipiert, bietet sie dem Gesetzgeber und den Gerichten wichtige Entscheidungsalternativen und Begründungshilfen. Unter den von der Wissenschaft angebotenen gesetzeskonformen Lösungsmöglichkeiten können die Gerichte auswählen, ohne sich auf deren metajuridische Voraussetzungen tiefschürfend einlassen zu müssen.135 Topisches und systematisches Denken werden üblicherweise als unterschiedliche Arten der Problemerfassung gegenübergestellt.136 Falsch ist die Gegenüberstellung von Topik und Dogmatik, weil es ohne dogmatisierte Gesichtspunkte keine sinnvolle Topik gibt. 7. Zivilrecht und Verfahrensrecht Das Verfahrensrecht wird auch als formelles Recht, im Unterschied zum Bürgerlichen Recht (bzw. allgemeiner: dem Privatrecht) als dem materiellen Recht bezeichnet. Damit ist gemeint, daß das Verfahrensrecht die Art und Weise der Rechtsdurchsetzung (in diesem Sinne die Form) betrifft, während der Inhalt der zu treffenden Entscheidung (die Materie) vom Privatrecht bestimmt wird. Das deutsche Rechtssystem ist von einer scharfen Trennung zwischen dem materiellen und dem formellen Recht geprägt. Das BGB geht regelmäßig vom Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts aus und knüpft daran Ansprüche, ohne sich etwa um die gerichtliche Durchsetzung, einschließlich der praktisch so wichtigen Frage des Beweises, zu kümmern. Effektiv wird die Rechtsordnung jedoch erst, wenn neben die Sätze des materiellen Rechts auch ein gerichtliches Verfahren tritt, das dazu geeignet ist, das Recht zu identifizieren zu erkennen und gegebenenfalls durchzusetzen. Die Trennung im 134 Pawlowski, Hans-Martin, Methodenlehre für Juristen. Theorie der Norm und des Gesetzes, 2. Aufl., Heidelberg 1991; siehe auch: Engisch, Karl, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., Heidelberg 1963. 135 Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Tübingen 1975 – 1977. 136 Eingehend hierzu: Krawietz, Sprachphilosophie (FN 81), S. 1471 ff., 1476 ff.

II. Arbeitsrecht und Recht des Arbeitskampfes

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System der deutschen Rechtsordnung und damit auch in den einzelnen Gesetzbüchern darf folglich nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwischen dem materiellen Recht und Verfahrensrecht ein enger normativer Sinnzusammenhang besteht. Beide Rechtsgebiete müssen zusammenwirken, um bei der Bewältigung von Konflikten zu einem möglichst gerechten Ergebnis zu gelangen.137

II. Arbeitsrecht und Recht des Arbeitskampfes als Teile des Zivilrechts 1. Verhältnis von Tarifvertragsrecht und Recht des Arbeitskampfes Das Arbeitskampfrecht gehört zum Tarifvertragsrecht. Der Tarifvertrag ist das wichtigste Gestaltungsinstrument zur Regelung der kollektiven Arbeitsbedingungen. Die Tarifautonomie kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn ein Lösungsinstrument für solche Konfliktlagen vorhanden ist, in denen die Tarifparteien sich nicht einigen können. Dieses Instrument ist der Arbeitskampf. Arbeitskampf ist ,Preiskampf‘ am Arbeitsmarkt. Als solcher ist er auch verfassungsrechtlich geschützt.138 Diese Grundsätze hat das BVerfG in den Beschlüssen vom 26. 6. 1991 und vom 2. 3. 1993 ausdrücklich anerkannt.139 Mit dem im Rahmen der Notstandsverfassung neugeschaffenen Art. 9 III 3 GG hatte der Arbeitskampf schon 1968 Eingang in das Grundgesetz gefunden. Die Reichweite dieser Verfassungsänderung ist jedoch umstritten geblieben.140 Der in der Verfassung grundsätzlich gewährleisteten Arbeitskampffreiheit der sozialen Koalitionen entspricht ein Verbot staatlicher Zwangsschlichtung. Der Staat hat sich insbesondere aller hoheitlichen Eingriffe in laufende, rechtmäßig geführte Arbeitskämpfe zu enthalten.141 Eine Ausnahme gilt nach überwiegender Auffassung dort, wo die Fortführung des Arbeitskampfes überragend wichtige Gemeinschaftsgüter konkret gefährden würde. Der Arbeitskampf wird als Mittel zum Abschluß von Tarifverträgen geschützt. Diese funktionale Verknüpfung zwischen Tarifautonomie und Arbeitskampf ist maßgeblich für das zutreffende Verständnis der Arbeitskampfgarantie. Die tarifautonome Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen kann nur funktionieren, wenn die Tarifpartner notfalls 137 Leipold, Dieter, BGB I: Einführung und allgemeiner Teil. Ein Lehrbuch mit Fällen und Kontrollfragen, 4., neubearb. Aufl., Tübingen 2007. 138 BVerfGE 84, 212. 139 BVerfGE 88, 103. 140 Rüthers (FN 48), Rn. 1948 – 1952. 141 Vgl. ferner dazu: Brox, Hans / Rüthers, Bernd, Arbeitskampfrecht: ein Handbuch für die Praxis, Stuttgart 1965, Rdnr. 706; Otto, Hansjörg, Arbeitskampf und Schlichtungsrecht, München 2006, § 20 Rdnr. 10.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

durch Arbeitskampfmaßnahmen Druck und Gegendruck ausüben können, um die andere Seite zu einer Einigung zu zwingen. Der von gewerkschaftsnaher Seite häufig vorgetragenen Argumentation, bei Art. 9 III GG handele es sich um ein Grundrecht, das allein der ,Emanzipation‘ der Arbeitnehmer diene und somit ein Recht auf Aussperrung nicht enthalten könne, wurde vom BVerfG142 eine Absage erteilt. An der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Abwehraussperrung kann seither kein Zweifel bestehen (inwieweit auch andere Formen der Aussperrung geschützt sind, hat das BVerfG ausdrücklich offen gelassen). Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer können sich auf Art. 9 III GG berufen. Der Begriff des Arbeitskampfes ist gesetzlich nicht definiert. Nach übereinstimmender Auffassung spricht man von einem Arbeitskampf, wenn von der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite kollektive Maßnahmen zur Störung der Arbeitsbeziehungen ergriffen werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. a) Kampfparteien eines Arbeitskampfes sind Arbeitgeberverbände und Arbeitgeber einerseits sowie Gewerkschaften und Arbeitnehmer andererseits. Deshalb liegt kein Arbeitskampf vor z. B. beim Schulstreik (Kampf der Eltern gegen die Schulverwaltung), beim Vorlesungsstreik (Kampf der Studenten gegen Universitätsverwaltung oder Landesregierung), beim Ärztestreik (Kampf der niedergelassenen (!) Ärzte gegen die Krankenkassen). aa) In der Regel stehen sich im Arbeitskampf Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gegenüber, weil sie tariffähig sind und es beim Arbeitskampf meist darum geht, günstigere Tarifvertragsbestimmungen zu erreichen. Selbst wenn auf der Arbeitnehmerseite keine Gewerkschaft steht, sondern etwa die Belegschaft oder ein Teil der Belegschaft die Arbeit niederlegt (,wilder Streik‘), so liegt gleichwohl ein Arbeitskampf vor. Denn für den Begriff des Arbeitskampfes ist es unerheblich, ob der Kampf im Einzelfall rechtmäßig oder rechtswidrig ist. bb) Auch ein einzelner Arbeitgeber kann Partei eines Arbeitskampfes sein. Der kollektive Charakter der Kampfmaßnahme folgt daraus, daß auf der Gegenseite mehrere Arbeitnehmer beteiligt sind. Häufig wird der Kampf um den Abschluß eines Tarifvertrags gehen, dessen Partei ein einzelner Arbeitgeber sein soll.143 Dagegen kann ein einzelner Arbeitnehmer nicht Partei eines Arbeitskampfes sein, weil es an einer kollektiven Kampfmaßnahme fehlt. Allerdings handelt es sich dann um einen Arbeitskampf, wenn etwa ein Arbeitnehmer in einer Schlüsselposition aufgrund eines kollektiven Kampfbeschlusses (z. B. der Gewerkschaft) die Arbeit niederlegt. b) Kampfmittel ist jede kollektive Maßnahme zur Störung der Arbeitsbeziehungen. Zu den Kampfmaßnahmen gehören vor allem die Nicht- oder Schlechtleistung der Arbeitnehmer und die Nichtannahme der Leistung durch den oder die Arbeit142 143

BVerfGE 88, 103; 92, 365. § 21 TVG; Firmentarifvertrag; Rdnr. 712.

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geber. Auch ein bloß wirtschaftlicher oder nur psychologischer Druck wird als Kampfmittel angesehen, sofern dadurch die Arbeitsbeziehungen gestört werden. c) Kampfziel ist in der Regel das Erreichen einer Tarifvereinbarung. Das braucht aber nicht so zu sein. Von einem Arbeitskampf spricht man auch, wenn ein anderes (z. B. politisches) Ziel angestrebt wird. Auf die Art des Kampfziels kommt es also bei der Begriffsbestimmung nicht an. Damit ist jedoch über die Rechtmäßigkeit des Kampfes nichts ausgesagt. d) Wichtigste Formen des Arbeitskampfes sind Streik und Aussperrung sowie die kollektive Ausübung von Individualrechten.144 aa) Auf Seiten der Arbeitnehmer ist der Streik (von ,to strike work‘) die von einer Mehrzahl von Arbeitnehmern planmäßig und gemeinsam durchgeführte Arbeitseinstellung zur Erreichung eines Zieles; die Arbeitseinstellung erfolgt ohne Einverständnis des Arbeitgebers und ohne vorherige Kündigung. Beispiele: Fernbleiben von der Arbeitsstelle, Sitzstreik, Bummelstreik, ,Dienst nach Vorschrift‘ (= bewußt übertriebene Beachtung von Ordnungs- oder Sicherheitsvorschriften). Wichtige Arten des Streiks sind: der (gewerkschaftlich) organisierte Streik, der wilde Streik (= nicht von der Gewerkschaft geleitet), der Warnstreik (= von vornherein auf eine kurze Dauer beschränkt), der Wechselstreik (Gewerkschaft tauscht betroffene Unternehmen häufig aus), der Wellenstreik (flexibler Streik, bei dem der Arbeitgeber vorher nicht weiß, wann wie viele Arbeitnehmer streiken werden. Ziel ist es, eine schnelle Reaktion des Arbeitgebers auf die Kampfmaßnahme zu erschweren); der Demonstrationsstreik (= zur Demonstration und nicht zur Erzwingung einer bestimmten Maßnahme), der Sympathiestreik (= zur Unterstützung eines anderen, des Hauptstreiks), der politische Streik (= wegen einer politischen Forderung). bb) Auf Seiten der Arbeitgeber ist die Aussperrung (von ,lock out‘) die von einem oder mehreren Arbeitgebern planmäßig erfolgte Arbeitsausschließung zur Erreichung eines Zieles; die Arbeitsausschließung erfolgt ohne Einverständnis der Arbeitnehmer und ohne vorherige Kündigung. Beispiele: Absperrung vom Arbeitsplatz, Verhinderung der Erbringung der Arbeitsleistung etwa durch Abschalten des Stromes. Nach der Rechtsprechung des BAG verfügt der Arbeitgeber über verschiedene Möglichkeiten, um auf einen Streik zu reagieren: (i)

Echte Kampfmaßnahme ist die Aussperrung. Sie bedarf einer ausdrücklichen Erklärung. Für sie gelten besondere Voraussetzungen.

(ii) Jedem bestreikten Arbeitgeber ist ferner die Stillegung des gesamten Betriebes erlaubt. Die Stilllegungsentscheidung bedarf keiner Begründung und ist an keine besondere Voraussetzung gekoppelt. Als Folge entfallen die Entgeltansprüche auch der arbeitsbereiten Arbeitnehmer, selbst wenn deren Beschäftigung möglich wäre. 144

Brox, Hans, Arbeitsrecht, Stuttgart 2007, S. 741 ff.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

(iii) Schließlich kann sich der Arbeitgeber auf die Grundsätze des Arbeitskampfrisikos berufen und die Beschäftigung nur solcher Arbeitnehmer ablehnen, hinsichtlich derer die Beschäftigungsmöglichkeit aufgrund des Streiks entfallen ist. Diese Arbeitnehmer verlieren nach § 326 I 1 BGB ihren Lohnanspruch; sie tragen mit anderen Worten das Entgeltrisiko. cc) Unter der kollektiven Ausübung von Individualrechten versteht man die Massenkündigung und die kollektive Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts. Dadurch kann die Gegenseite ebenso unter Druck gesetzt werden wie durch Streik oder Aussperrung. Deshalb sind kollektive Kündigungen und die gemeinsame Ausübung von Zurückbehaltungsrechten zum Arbeitskampf zu rechnen (str., BAG AP Nr. 1 zu § 1 TVG Friedenspflicht). e) Als weitere Formen des Arbeitskampfes sind in der Vergangenheit erprobt worden: aa) Betriebsbesetzungen – Die Arbeitnehmer begnügen sich nicht mit der kollektiven Verweigerung der Arbeit, sondern halten gegen den Willen des Arbeitgebers die Betriebsgebäude und die Arbeitsplätze (,Sitzstreik‘) besetzt. Das Ziel kann die Verhinderung der Produktion sein, aber auch darin bestehen, die Veräußerung, die Übernahme durch einen Erwerber oder den Abbau von Betriebsmitteln zu verhindern. bb) Absperrungen (Betriebsblockaden) – Die Arbeitnehmer verhindern durch die Blockade der Ein- und Ausgänge von Betrieben den Zu- und Abtransport von Rohstoffen, Fertigprodukten oder den Zugang von ,Streikbrechern‘. Aufgrund der Radikalisierung des Arbeitskampfes, die als Folge dieser einschneidenden Kampfmaßnahmen eintritt, werden sie heute kaum praktiziert.

2. Tarifvertragsrechtliche Grenzen der Arbeitskampffreiheit Da gesetzliche Vorschriften weitgehend fehlen, richtet sich die Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes nach den von der Rechtsprechung und der Wissenschaft entwickelten Grundsätzen. Danach ist ein Arbeitskampf nur dann rechtmäßig, wenn er sich innerhalb der tarifrechtlichen Grenzen hält. Außerdem müssen die allgemeinen Grundsätze rechtmäßiger Kampfführung beachtet werden. Schließlich darf kein besonderes gesetzliches Kampfverbot entgegenstehen. Arbeitskämpfe sind wegen der Verfassungsgarantie des Art. 9 III GG für ein freiheitliches Tarifsystem zwar grundsätzlich zulässig. Die Arbeitskampffreiheit ist aber nicht unbeschränkt, sondern nur zweckgerichtet gewährleistet. Aus der dienenden Funktion des Arbeitskampfes als Hilfsinstrument der Tarifautonomie folgt, daß das Kampfziel der Abschluß eines Tarifvertrags sein muß. Deshalb darf ein Arbeitskampf nur zwischen Tarifvertragsparteien um ein tariflich regelbares Ziel geführt werden. Andernfalls ist der Arbeitskampf tarifgesetzwidrig. Abgesehen davon kann der Arbeitskampf auch tarifvertragswidrig sein; das ist dann der Fall,

II. Arbeitsrecht und Recht des Arbeitskampfes

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wenn der Kampf gegen einen bestehenden Tarifvertrag, besonders gegen die Friedenspflicht, verstößt. a) Nur tariffähige Parteien dürfen Arbeitskämpfe fuhren. Tariffähig sind Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber und Arbeitgebervereinigungen sowie Spitzenorganisationen. Ein Streik kann also nur dann rechtmäßig sein, wenn er von einer Gewerkschaft geführt wird. Allerdings brauchen die streikenden Arbeitnehmer der Gewerkschaft nicht anzugehören. Der nicht von einer Gewerkschaft getragene (= wilde) Streik ist rechtswidrig, weil der Angreifer nicht Partei eines Tarifvertrags sein kann.145 Übernimmt die Gewerkschaft einen wilden Streik durch Erklärung gegenüber dem Kampfgegner, so wird er nach Auffassung des BAG rückwirkend rechtmäßig, sofern die anderen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen vorliegen. Der vom Betriebsrat ausgerufene Streik ist schon mangels Tariffähigkeit des Betriebsrats rechtswidrig. Die Beschränkung auf tariffähige Parteien ist nicht unumstritten, da Art. 6 Nr. 4 a der Europäischen Sozialcharta eine vergleichbare Rechtmäßigkeitsvoraussetzung nicht kennt; die Auswirkungen sind bislang nicht geklärt.146 b) Nur um tariflich regelbare Ziele darf ein Arbeitskampf geführt werden. aa) Kampfziel muß der Abschluß eines Tarifvertrags sein. Deshalb sind folgende Arbeitskämpfe nicht rechtmäßig: (i)

Mit einem politischen Arbeitskampf wird eine Forderung an eine staatliche Instanz (Parlament, Regierung, Gericht) gestellt und keine tarifvertragliche Regelung erstrebt.

(ii) Bei einem Demonstrationsarbeitskampf soll eine bestimmte Ansicht zu einer aktuellen Frage (z. B. zu einem politischen Ereignis, zu einer Maßnahme der Gegenseite) besonders eindringlich zum Ausdruck gebracht und nicht ein Tarifvertrag erkämpft werden. (iii) Der Sympathiearbeitskampf wird zur Unterstützung eines anderen Arbeitskampfes, des Hauptarbeitskampfes, geführt. Die Kämpfenden erstreben kein eigenes tarifliches Kampfziel, sondern wollen nur ihre Solidarität mit der kämpfenden Partei des Hauptkampfes bekunden. Richtiger Ansicht nach ist schon deshalb ein Sympathiearbeitskampf rechtswidrig; außerdem kann der Kampfbetroffene des Sympathiekampfes das nicht gewähren, was die Kämpfenden des Hauptkampfes von ihrem Gegner fordern, wonach ein Sympathieoder Unterstützungsstreik rechtmäßig sein soll.147 (iv) Ein (befristeter) Warnarbeitskampf soll der Gegenseite die Entschlossenheit zeigen, für bestimmte Forderungen notfalls auch einen unbefristeten ArbeitsBAG AP Nr. 32 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Kohte, Wolfhard / Dörner, Hans-Jürgen, Arbeitsrecht im sozialen Dialog: Festschrift für Helmut Wissmann, München 2005, S. 97 ff. 147 Brox / Rüthers (FN 141), Rdnr.142 ff. 145 146

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kampf zu führen. Sofern mit dem Kampf kein Tarifvertrag erreicht werden soll, fehlt es schon deshalb an der Rechtmäßigkeit. bb) Wenn Kampfziel der Abschluß eines Tarifvertrags ist, so muß weiter geprüft werden, ob die von der Kampfpartei erhobene Forderung überhaupt in einem Tarifvertrag zulässigerweise geregelt werden kann. Die Grenzen der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien werden vornehmlich durch die Verfassung und das Tarifvertragsgesetz gezogen: (i)

Der erstrebte Inhalt des Tarifvertrags darf nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen, sonst ist der deshalb geführte Arbeitskampf rechtswidrig. Dabei ist die mittelbare Wirkung der Grundrechte zu beachten. Beispiele: Im Tarifvertrag sollen für Männer und Frauen unterschiedliche Löhne bei gleicher Arbeit festgelegt werden (Art. 3 II GG; vgl. BAG AP Nr. 111 zu Art. 3 GG); Kinderzulagen sollen nach ehelicher und nichtehelicher Geburt differenziert werden (Art. 6 V GG; vgl. BAG AP Nr. 77 zu Art 3 GG); Organisationsklauseln und Tarifausschlußklauseln im Tarifvertrag verstoßen gegen die negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG); Lohnverwendungsabreden (wonach die Arbeitnehmer etwa einen Teil des Lohnes zu sparen haben) sind unzulässig. Gleiches gilt für Rationalisierungsverbote in einem Verbandstarifvertrag, die in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingreifen. Ein Streik darf nicht das Ziel verfolgen, das ,Ob‘ einer unternehmerischen Entscheidung (z. B. Standortverlagerung ins Ausland) zu verhindern. Dies wäre mit Art. 12, 14 GG nicht zu vereinbaren. Tariflich regelbar sind Regelungen zur sozialen Abfederung einer Standortverlagerung. Solange die unternehmerische Entscheidung nicht faktisch blockiert wird, sind entsprechende Streiks zulässig.148

(ii) Schranken der Vereinbarungsbefugnis der Tarifparteien und damit Schranken der Arbeitskampffreiheit können sich auch aus dem Tarifvertragsgesetz und sonstigen zwingenden Gesetzen ergeben. Beispiele: Die Anrechnungsklausel im Tarifvertrag verstößt gegen das Günstigkeitsprinzip (§ 4 III TVG). Es liegt nicht in der Macht der Tarifparteien, Effektivgarantieklauseln zu vereinbaren. Dagegen verstößt eine tarifliche Regelung der Arbeitszeit im Einzelhandel nicht gegen wettbewerbsrechtliche Normen. Neben normativen sind auch schuldrechtliche Regelungen des Tarifvertrags erkämpfbar, allerdings nur, soweit eine Regelung der ,Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen‘ angestrebt wird.149 Ist das nicht der Fall, sind Gewerk148 Rieble, Volker, Arbeitsniederlegung zur Standorterhaltung, in: Recht der Arbeit 2005, S. 200 ff.; Schiefer, Bernd / / Worzalla, Michael, Unzulässige Streiks um Tarifsozialpläne, in: Der Betrieb 2006, S. 46 – 49. 149 Säcker, Franz Jürgen, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, in: Recht der Arbeit 1969, S. 291 ff., 297.

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schaften und Arbeitgeber zwar berechtigt, freiwillige Vereinbarungen zu treffen; einen Arbeitskampf dürfen sie deshalb aber nicht führen. c) Der Arbeitskampf ist tarifvertragswidrig, wenn er gegen die Friedenspflicht verstößt. Es ist der Sinn des Tarifvertrags, Arbeitskämpfe um die im Vertrag geregelten Fragen zu verhindern. Wegen der Friedensfunktion des Tarifvertrags sind die Tarifparteien verpflichtet, während der Geltungsdauer des Tarifvertrags jede Kampfmaßnahme zur Änderung des Vertragsinhalts zu unterlassen. Welche Kampfmaßnahmen wegen der Friedenspflicht verboten sind, ist aus der getroffenen Vereinbarung zu entnehmen. Sofern vertraglich nichts Besonderes geregelt ist, verstoßen bloße Vorbereitungshandlungen (z. B. verbandsinterne Willensbildung, wie Urabstimmung) nicht gegen die Friedenspflicht, wenn dadurch der Arbeitsvollzug nicht gestört wird (str., a.A. BAG AP Nr. 2 zu § 1 TVG Friedenspflicht).

III. Genese und Geltungsgrundlagen des deutschen Zivilrechtssystems 1. Stellung des Zivilrechts im deutschen Rechtssystem Das Zivilrecht bildet einen Ausschnitt aus der Gesamtheit der in einem politischen Gemeinwesen geltenden Rechtsnormen. Das heutige Zivilrecht beruht auf einer jahrhundertelangen Entwicklung, die vor allem auf das Römische Recht zurückgeht. Dessen Besonderheit und zugleich die Quelle seiner nachhaltigen Wirkung war, daß es sich um ein wissenschaftliches Recht handelte, das vom Bemühen um eine klare analytisch-begriffliche Durchdringung getragen war. Den Schlußpunkt der Gestaltung des Römischen Rechts bildete die zusammenfassende Gesetzgebung des Kaisers Justinian in den Jahren 529 bis 534, für die sich später die Bezeichnung Corpus iuris civilis einbürgerte. Das germanische Recht fand seinen Ausdruck zunächst in Gestalt der Volksrechte der einzelnen germanischen Stämme, ferner im Lehensrecht (dem Recht der Lehensmänner, die Besitz und Amt vom Lehnsherrn – oberster Lehnsherr war der König – erhielten) und im Recht der Städte. Private Rechtssammlungen entstanden vor allem im 13. Jahrhundert, von denen der Sachsenspiegel des Eike von Repgow (entstanden zwischen 1220 und 1225) besondere Verbreitung erlangte.150 Herausragende Bedeutung kommt der Rezeption des Römischen Rechts zu, die mit der Entdeckung einer vollständigen Handschrift des corpus iuris im 11. Jahrhundert begann, zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Recht und zur Ausbildung eines Rechtsstudiums in Italien (vor allem an der Universität Bologna) führte und schließlich auch die Verbreitung und Übernahme des fortentwickelten römischen Rechts in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert zur Folge 150 Kunkel, Wolfgang / Schermaier, Martin Josef, Römische Rechtsgeschichte, 14. durchges. Aufl., Köln u. a. 2005, S. 208 ff.

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hatte. Auch das Recht der Katholischen Kirche (kanonisches Recht) war Gegenstand der Rezeption.151 In Gestalt des gemeinen Rechts (d. h. allgemeinen Rechts) galt das weiterentwickelte römische und kanonische Recht in den deutschen Gebieten, soweit dort keine besonderen Gesetze erlassen wurden. Die partikularen Gesetze hatten stets den Vorrang. Die Rechtslage war damit gerade umgekehrt, als wir dies heute nach dem Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) gewohnt sind. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Recht und insbesondere auch das Privatrecht in den deutschen Ländern durch starke Zersplitterung gekennzeichnet.152 In verschiedenen Territorien galten in erster Linie landesrechtliche Kodifikationen. Hinzu trat eine Fülle von Partikularrechten mit oft sehr begrenztem Anwendungsbereich.153 Der Deutsche Bund, der von 1815 bis 1866 bestand, war lediglich ein Staatenbund, dagegen kein Bundesstaat. Immerhin konnten sich aber die einzelnen Staaten auf einheitliche Gesetze einigen, die sodann in jedem Staat durch einen gesonderten Gesetzgebungsakt in Kraft gesetzt wurden. Auf diese Weise wurde 1848 die Allgemeine Deutsche Wechselordnung geschaffen und 1861 folgte das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch. Erst die Gründung des Bismarck’schen Deutschen Reichs im Jahre 1871 eröffnete den Weg zu einem einheitlichen Bürgerlichen Recht.154 Als Tag des Inkrafttretens bestimmte man erst den 1. Januar 1900 – das neue Jahrhundert sollte mit dem neuen Recht eröffnet werden. Durch zahlreiche Reformgesetze sind seit 1900 alle Bücher des Zivilrechts erheblich verändert worden, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Hier möchte ich die große Schuldrechtsreform 2001 und die Neubekanntmachung des BGB genauer untersuchen. Das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. November 2001 (BGBl. I S. 3138), das am 1. Januar 2002 in Kraft getreten ist, stellt die tiefgreifendste Änderung dar, die das BGB in den über einhundert Jahren seiner bisherigen Geltung erfahren hat. Das gilt nicht nur wegen der großen Anzahl neuer oder geänderter Vorschriften und der Eingliederung von Gesetzen, die bisher außerhalb des BGB standen, sondern auch, weil in grundlegenden systematischen Fragen, vor allem des Rechts der Leistungsstörungen und der Gewährleistung beim Kaufund Werkvertrag, nunmehr ein neuer Weg eingeschlagen wurde.155 Auch nach der Schuldrechtsreform 2001 wurde das Zivilrecht durch zahlreiche neue Gesetze verändert. Ein Staat entwickelt sich mit der Zeit Schritt für Schritt und sein Rechtssystem entwickelt sich parallel. Eine Evolution des Rechtssystems 151 Vgl. hierzu: Kornemann, Ernst, bearb. von Hermann Bengtson, Römische Geschichte, in 2 Bänden, 7. Aufl., Stuttgart 1977. 152 Säcker, Franz Jürgen, Münchener Kommentar zum BGB, Bd. I, Einl., Rn 9. 153 Novickij (FN 110), S. 16 ff. 154 Schlosser, Hans, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext, 10. Aufl., Heidelberg 2005, S. 180 ff. 155 Ebd.

III. Genese und Geltungsgrundlagen des deutschen Zivilrechtssystems

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geschieht, abgesehen von der Emergenz allen Rechts, auch durch Änderung der Gesetze. Sie bezieht sich unter anderem auf die aktuelle politische Situation und auf eingelebte Rechtstraditionen, wobei die Rolle eines bestimmten Rechtsgebiets – hier des Zivilrechts – im politischen Leben eines Staates sehr wichtig ist. Man könnte sagen, daß das Rechtssystem die politischen Verhältnisse des Staates nach innen und nach außen abbildet. Die Vorstellung, daß alle gesellschaftlichen Vorgänge und Beziehungen, daß menschliche Lebensäußerungen überhaupt einen wie auch immer begriffenen politischen Bezug haben, ist weit verbreitet. Die von ihren politischen Implikationen losgelöste Betrachtung wissenschaftlicher Gegenstände gilt heute als naiv oder als Verschleierung der wirklichen politischen Absichten. Dies muß natürlich auch für die Betrachtung und Behandlung des Rechts gelten. Die Konsequenzen der These vom politischen Charakter aller Dinge sind je nach dem vorausgesetzten Politikbegriff und seinem Anschauungszusammenhang unterschiedlich. Für den totalen Staat bietet die These von der Omnivalenz des Politischen eine Begründung für die Befugnis der politischen Instanzen, jegliches Individualverhalten bis hinein in das familiäre Zusammenleben und in die künstlerische Entfaltung nach politischen Zielsetzungen auszurichten und dementsprechend zu reglementieren. Heute wird die Forderung nach Einbeziehung des Politischen in die Behandlung des Rechts mit breitgestreuten, oft formulierten Zielrichtungen gebraucht. Die Unklarheit des Gemeinten und Gewollten hängt wesentlich damit zusammen, daß der Politikbegriff derart unterschiedliche Ausdeutungen erfahren hat, daß seine Konturen zu zerfließen drohen. Unter dem politischen System verstehen wir den Inbegriff der Funktionen und Gesellschaftsstrukturen, die heute sehr weitgehend durch den Staat und die Staatstätigkeit bestimmt, aber nicht ausweglos determiniert sind. Bezugsbegriff des Politischen ist also in diesem Zusammenhang der Staat. Die genannte Bestimmung des politischen Systems setzt voraus, daß Staat und Gesellschaft unterschiedliche Größen darstellen.156 Ein politisches System kann derart angelegt sein, daß im Prinzip die gesellschaftlichen Vorgänge überwiegend durch den Staat bewirkt und bestimmt sind. In einem auf Freiheit hin angelegten politischen System wird hingegen der wesentliche Teil der gesellschaftlichen Vorgänge dem spontanen Handeln der einzelnen und den von ihnen gebildeten primären sozialen Systemen und der Gruppen überlassen. Das politische System ist dann so angelegt, daß es die auf dem freien Handeln der Menschen beruhenden sozialen Vorgänge absichert und kontrolliert, aber zugleich gemäß seinen Grundentscheidungen begrenzt.157 Der Staat und seine arbeitsteilige Ausdifferenzierung bilden dann insgesamt das sekun156 Eingehend hierzu: Krawietz, Werner, Staatliches oder gesellschaftliches Recht? Systemabhängigkeiten normativer Strukturbildung im Funktionssystem Recht, in: ders. / Welker, Michael (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt am Main 1992, S. 247 – 301, 274 ff. 157 Ferner dazu: Schwab, Dieter, Einführung in das Zivilrecht. Einschließlich BGB – Allgemeiner Teil, 17., neu bearb. Aufl., Heidelberg 2007.

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däre System der Gesellschaft (Regionalgesellschaft, Weltgesellschaft) aus, die sich in weitere Subsysteme aufgliedert. Indem die Zivilrechtsnormen bestimmen, unter welchen Voraussetzungen die Personen wirksam Verträge miteinander schließen können oder welche Lebensrisiken sie in ihrem Verhältnis zueinander auf sich zu nehmen haben, legen sie zugleich soziale Regeln des Zusammenlebens durch die in der politischen Organisation begründete Autorität fest. Die These der politischen Bedingtheit von Begriff, Stellenwert und den zulässigen Inhalten des Zivilrechts darf freilich nicht zu dem Fehlschluß führen, das Zivilrecht lasse sich völlig aus den politischen Grundentscheidungen der jeweiligen Gesellschaft ableiten oder erklären. Das verzinsliche Darlehen als wirtschaftlichen Vorgang gab und gibt es seit Jahrtausenden. Über den politischen Wandel hinweg sind die Konflikte, die unter den am Darlehensverhältnis beteiligten Personen entstehen, durchaus vergleichbar. Folglich weisen auch die Rechtsregeln gemeinsame charakteristische Züge auf. Je mehr man sich in Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung vertieft, desto erstaunlicher erscheinen die strukturellen Übereinstimmungen, die zivilrechtlichen Konfliktlagen trotz größer Unterschiede im politischen System aufweisen. Die Konflikt-regelungen variieren vielfach mehr nach ihren zivilisatorischen Voraussetzungen (Art der Rechtssprache und ihres Abstraktionsgrades, Vorhandensein einer Schriftkultur, etc.) als nach ihren politischen Prämissen. Es liegt dies unter anderem daran, daß die politische Systeme, so unterschiedlich sie sein mögen, auf die soziale Wirklichkeit ein und desselben Menschen treffen.158 Politische Systemmodelle lassen sich beliebig konstruieren; der Mensch mit seine Bedürfnissen, Instinkten, Interessen und geistigen Fähigkeiten ist selbst Teil der gesellschaftlichen Organisationsform und lebt eingebettet in Traditionen, Geschichte und Kultur, die durch das politische System nur begrenzt bestimmbar und beeinflußbar erscheinen.159 Gewiß unterliegen die menschlichen Lebens- und Verhaltensformen starken Veränderungen und einem raschen sozialen Wandel, der sich mit beängstigender Geschwindigkeit vollzieht. Aber es sind nicht die politischen Systementscheidungen allein und schon gar nicht in erster Linie, welche die Veränderungen bewirken. Vielmehr erzeugt die zivilisatorisch-technische Ausfaltung der menschlichen Lebensmöglichkeiten, die bisher in relativ geringem Maße durch die politischen Instanzen geplant wurde, die Fortentwicklung der Verhaltensformen und damit zugleich die Änderung der Rechtsprobleme. Mit dem Maschinenzeitalter ist z. B. ein bis dahin unbekanntes Unfallrisiko entstanden. Die rechtliche Problembewältigung im technischen Zeitalter wird bei allen politischen Unterschieden letztlich in der gleichen Richtung liegen, nämlich in der Vergemeinschaftung der Risiken. Die Entwicklung des Familienrechts erhält zwar von dem politischen Postulat nach Gleichberechtigung der Geschlechter wichtige Impulse.160 Zugleich sind es Hierzu unter bezug auf Hondrich: Krawietz (FN 66), S. 249 – 271. Ertelt-Vieth, Astrid, Interkulturelle Kommunikation und kultureller Wandel: eine empirische Studie zum russisch-deutschen Schüleraustausch, Tübingen 2005, S. 99 ff. 158 159

III. Genese und Geltungsgrundlagen des deutschen Zivilrechtssystems

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aber die enormen Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsmedizin, die das Recht aller Staaten, gleich welcher politischen Prägung, herausfordern. Es ist also nicht so, daß der Inhalt der Zivilrechtsnormen sich allein oder auch nur überwiegend aus dem politischen System ergibt. Folglich bedingen grundsätzliche Unterschiede im politischen System keineswegs eine völlige Verschiedenheit der jeweiligen Zivilrechte. Trotz aller politisch bedingten Differenzen ergeben sich unter ähnlichen zivilisatorischen Voraussetzungen vielfach gleiche oder doch ähnliche Rechtsregeln. Wie oben schon erwähnt wurde, weisen die heute gültigen Zivilrechtsgesetze zum Teil ein erstaunliches Alter auf. Das BGB gilt – abgesehen vom Familienrecht – größtenteils unverändert seit dem 1. 1. 1900. Es stellt sich natürlich eine wichtige Frage: „Wie soll eigentlich dieses Buch, ein Produkt des zweiten deutschen Reiches, gleichermaßen für die Weimarer Republik, für den Nationalsozialismus und jetzt für die Bundesrepublik passen?“ Wie steht es mit der politischen Bedingtheit des Zivilrechts, wenn man hört, daß das zur Zeit großkapitalistischer Entfaltung geschaffene BGB bis 1. 1. 1976 auch in der DDR gegolten hat?161 Nimmt man hinzu, daß das BGB seine wesentliche Ausformung einer Rechtswissenschaft verdankt, die das römische Recht der Antike zum Ausgangspunkt und zum hauptsächlichen Stoff ihrer Arbeit erhob, so mag man versucht sein, im Zivilrecht ein dem politischen System gegenüber autonomes Regelsystem zu sehen. Dieser unzutreffende Eindruck entsteht nicht nur aufgrund der schon bemerkten Ähnlichkeit der zivilrechtlichen Konfliktverhältnisse unter gleichen zivilisatorischen Voraussetzungen. Entscheidend ist auch, daß das rechtstechnische Instrumentarium insofern politisch neutral ist, als es für beliebige Konfliktlösungen und Wertungen eingesetzt werden kann. Dabei ist folgendes entscheidend geworden: Bereits im römischen Reich der Antike ist eine großartige Rechtswissenschaft entstanden, welche die Ausbildung der zivilrechtlichen Begriffe, Rechtsfiguren und des zivilrechtlichen Systems so weit vorangetrieben hat, daß die folgenden Zeiten geistig davon leben konnten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stellte sich die Zivilrechtswissenschaft überwiegend als Wissenschaft vom römischen Recht dar, deren Begriffe und Rechtstechniken sie fortführte und ausfeilte. Das Instrumentarium des römischen Rechts erwies sich dabei als fähig, mit gewissen Anpassungen unterschiedlichen sozialen Ordnungen zu dienen.162

BVerfG Urteil, FamRZ 1991, 535. Baldus, Christian, Historische und vergleichende Auslegung im Gemeinschaftsprivatrecht: zur Konkretisierung der „geringfügigen Vertragswidrigkeit“, in: ders., Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht. Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive, München 2006, S. 1 – 24. 162 Troiano, Stefano, Die Generalklausel in Kontinentaleuropa. Erwartungen an die deutsche Rechtswissenschaft, in: Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht. Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive, Hrsg. von Christian Baldus und Peter-Christian Müller-Graff, München 2006, S. 81 – 92. 160 161

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

Auf dieser Tradition des Zivilrechts beruht es unter anderem, daß man zu der Zeit, als die großen Gesetzbücher geschaffen wurden, regelmäßig nicht den Versuch eines Gesamtgesetzbuches gemacht hat, in dem Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Zivilrecht etc. vereinigt und in ihren gegenseitigen Bezügen erkennbar gewesen wären. Man hat vielmehr gesonderte Zivilgesetzbücher geschaffen, die – dem römischen Recht verpflichtet – vom öffentlichen Recht und dem konkreten politischen Zustand des Gemeinwesens abstrahieren und kraft ihrer abstrakten Natur der Anpassung an politische Veränderungen in besonderem Maß fähig sind. Eine derartige Zivilrechtsordnung legt z. B. keineswegs erschöpfend fest, welche Verträge verboten sind; sie überläßt dies dem öffentlichen Recht und regelt nur die zivilrechtlichen Folgen für den Fall, daß ein Vertrag verbotswidrig abgeschlossen wird. Will man also wissen, welche Verträge erlaubt sind, so wird man aus dem Zivilgesetzbuch verhältnismäßig wenig erfahren. Gerade die Ausschaltung des öffentlichen Rechts bedingt aber die Langlebigkeit der Zivilgesetzbücher durch die Zeiten und die politischen Systeme hindurch. Ihre Langlebigkeit bezahlen die Zivilgesetzbücher freilich mit einem stetig wachsenden Substanzverlust. Je weiter sich ein Gesetzbuch von seinen politischen Ursprüngen entfernt, je rascher sich die Verhältnisse wandeln, auf die es angewandt werden soll, desto mehr werden Gerichtsbarkeit und Wissenschaft gezwungen sein, die gesetzlichen Normen durch Interpretation umzugestalten oder außergesetzliche Normen zu bilden. Es wird also das Gewicht der ,Gesetzesanwender‘ gegenüber dem Gesetz steigen.163 Das Gesetz droht dann, seinen Charakter als soziale Norm, als Träger von verbindlichen Wertungen für Interessenkonflikte einzubüßen; seine Rolle wird dann mehr und mehr beschränkt, für die Wertungen der Richter und Wissenschaftler die neutralen Rechtstechniken zur Verfügung zu stellen. In dieser Richtung entwickelt sich heutzutage das Bürgerliche Gesetzbuch in vielerlei Hinsicht.

2. Liberalismus als Geltungsgrund der Zivilrechtsgesetze Es besteht Einigkeit darüber, daß das Zivilrecht der Bundesrepublik Deutschland, schon vom geschichtlichen Ursprung der Zivilrechtsgesetze her gesehen, in erheblichem Ausmaß vom politischen Systemmodell des Liberalismus geprägt ist. Es ist daher wichtig, sich einen Begriff vom Liberalismus zu machen und zu bestimmen, welches Bündel von politisch-sozialen Systemvorstellungen man darunter versteht.164 Dies ist vor allem dann vonnöten, wenn es darum geht, Defizite und Fehlentwicklungen im russischen Zivilrechtssystem zu erkennen und durch den 163 Hamza, Gábor, Die Untergliederung der modernen Rechtsordnungen und die römischrechtliche Tradition, in: Revista Internacional de Derecho Romano y Tradición Romanistica XXII (2009), S. 191 – 220. 164 Preyer, Gerhard, Konstitutiver Liberalismus als soziale Ordnung der Europäischen Union, in: Rechtstheorie 40 (2009), S. 493 – 507.

III. Genese und Geltungsgrundlagen des deutschen Zivilrechtssystems

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Vergleich mit dem deutschen Zivilrechtssystem Ansatzpunkte für eine Reform und Transformation des russischen zu gewinnen. Der Liberalismus als Denkhaltung und als Summe politischer Postulate hat in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts Eingang gefunden. Er gehört zu den aus der Aufklärung entstandenen, auf Veränderung der Gesellschaft abzielenden Bestrebungen und war alsbald die wirkmächtigste unter ihnen. Die soziale und rechtliche Wirklichkeit, die es zu überwinden galt, ist durch die Begriffe ,Absolutismus‘, ,Polizeistaat‘ und ,Feudalismus‘ gekennzeichnet. Die für das Zivilrecht relevanten Grundpositionen des Liberalismus lassen sich wie folgt beschreiben: a) Der Staat ist um der einzelnen Staatsbürger willen da, nicht umgekehrt. Der Staat stellt sich dar als Vereinigung seiner Mitglieder zum Schutze der Rechte und der Sicherheit jedes einzelnen. Im Frühliberalismus, der noch die naturrechtliche Theorie der Aufklärung akzeptierte, erfuhr dieser Gedanke eine plastische Anschaulichkeit in der Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag: In der Menschheitsentwicklung gab es einmal einen Zustand ohne Staat (status naturalis, state of nature, Naturzustand). Dieser Zustand ist durch Unsicherheit gekennzeichnet: Bei Konflikten siegt der Mächtige über den Schwachen. Darum schließen sich die Menschen durch einen Vertrag zusammen, um nach vereinbarten Regeln friedlich miteinander zu leben: Sie schließen den Gesellschaftsvertrag (social contract, contrat social), mit dem der Staat gegründet wird. Der Staat hat demnach als einzigen Zweck den Schutz des Individuums, denn nur um dieses Schutzes willen war der einzelne bereit, den Naturzustand mit dem ,bürgerlichen‘ (status civilis) zu vertauschen. b) Mit dem Vertragsschluß geht der einzelne nicht im Staate auf. Vielmehr stehen dem Menschen von Natur aus bestimmte aus seiner Persönlichkeit erwachsende Rechte zu (Menschenrechte), deren er durch den Gesellschaftsvertrag keineswegs verlustig geht. Nach der liberalen Deutung des Gesellschaftsvertrags ist die Staatstätigkeit gerade dadurch definiert, daß sie die angeborenen Rechte – deren Summe und Inbegriff die Freiheit ist – schützt und verwirklicht. Staatszweck nach der liberalen Theorie ist die im Naturzustand gefährdete Realisierung der Individualfreiheit. Jede Staatstätigkeit, die nicht diesem Ziel dient, verletzt den Gesellschaftsvertrag und ist daher wider das Recht. Gewiß geht der Staatsbürger im Sozialkontrakt auch Verbindlichkeiten ein; es kann in einer Gemeinschaft keine totale Handlungsfreiheit geben, jeder hat die Rechte des anderen zu achten. Die bürgerliche Freiheit eines Menschen im Staate ist daher durch die bürgerliche Freiheit aller anderen begrenzt; insofern tritt der Mensch im Gesellschaftsvertrag einen Teil seiner natürlichen Freiheit ab. Dieser Freiheitsverzicht steht jedoch unter der Bedingung, daß der Freiheitskern um so unversehrter erhalten bleibt. Mit dieser Anschauung gelingt es der liberalen Theorie, den einzelnen mit einer unverzichtbaren Freiheitsposition gegen den Staat auszustatten. Auf dieser Vorstellung basieren die Grundrechte des Menschen, die sich seit der Virginia Bill of Rights (1776)

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

und der revolutionären Verfassung Frankreichs von 1791 in den Verfassungen finden.165 c) Die liberale Freiheit stellt sich ganz wesentlich als Freiheit des Eigentums dar. Grundlegend ist die Lehre von John Locke (1632 – 1704): Nach ihm gibt es schon im Naturzustand Eigentum einzelner Menschen an den Sachgütern. Es entsteht dadurch, daß der Mensch auf die Sachgüter Arbeit verwendet. Denn jeder Mensch hat ursprünglich ein Eigentum an der eigenen Person und an seiner Arbeit. Verwendet jemand Arbeit auf einen Gegenstand, gräbt er also Bodenschätze aus oder pflügt er ein Grundstück, so vermischt er seine Person mit dem Gegenstand, und also wird auch der Gegenstand sein eigen. Der Gesellschaftsvertrag wird nun keineswegs unter Verzicht auf das Eigentum geschlossen; vielmehr wird der Staat gerade dazu gegründet, um das Eigentum zu schützen (Two Treatises of Government, 1690). Dieser Lehre war eine gewaltige Tragweite beschieden. Wenn das Sacheigentum auf das persönliche Recht jedes Menschen an sich selbst und seiner Arbeit gegründet ist, erscheint es nicht als bloß äußerliche Habe, sondern als Entfaltungsbereich der Persönlichkeit. Wird der Inbegriff der Menschenrechte als Freiheit definiert, wird andererseits das Recht des Menschen an sich selbst als Eigentum begriffen, so fallen Freiheit und Eigentum zusammen. ,Freiheit und Eigentum‘ wird die Parole des Liberalismus. Das dergestalt auf die Freiheit des Menschen gegründete Eigentum wurde von der französischen Nationalversammlung heilig gesprochen („La propriété est un droit inviolable et sacré . . .“), von dem deutschen Liberalen Carl von Rotteck als Persönlichkeitsrecht gedeutet. In der Konsequenz der Verbindung von Freiheit und Eigentum liegt es, daß die Grundrechtskataloge der Verfassungen die Garantie des Privateigentums gegen staatlichen Zugriff als ein Freiheitsrecht enthalten. aa) Die Forderung nach freiem Eigentum berührt das Zivilrecht unmittelbar. Die Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts lehnte es freilich ab, den politischverfassungsrechtlichen Begriff des Eigentums als Inbegriff der Freiheitsrechte oder auch nur als Inbegriff aller privaten Vermögensrechte unverändert zu übernehmen; vielmehr bezogen die Juristen gemäß ihrer wissenschaftlichen Tradition das Eigentum auf körperliche Gegenstände (Sachen, § 90 BGB). Seitdem gibt es zwei Rechtsbegriffe des Eigentums, deren Verschiedenheit bei den am Zivilrecht geschulten Juristen gelegentlich vergessen wurde, nämlich – den politisch-verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff des Art. 14 I GG, der nach heutiger Interpretation (zumindest) alle Vermögensrechte des Zivilrechts umgreift; – den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff, der die Innehabung einer nicht zweckbegrenzten Bestimmungsgewalt über einen körperlichen Gegenstand (Sache) meint.

bb) Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff und -schutz ist demnach wesentlich weiter gefaßt als der zivilrechtliche. Der Einfluß des Liberalismus auf die 165

Preyer (FN 164), S. 493 – 507.

III. Genese und Geltungsgrundlagen des deutschen Zivilrechtssystems

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Eigentumsregelung des Zivilrechts liegt folglich weniger beim Eigentumsobjekt als bei der Eigentumsstruktur. Der Ruf nach Freiheit des Eigentums erhob sich nicht nur gegen staatliche Eingriffe, sondern verlangte seine Ausgestaltung als ein Recht, das dem Inhaber die prinzipiell uneingeschränkte ,Herrschaft‘ über den Gegenstand einräumt. Der seine Persönlichkeit im Eigentum entfaltende Eigentümer mußte rechtlich imstande sein, mit der Sache ,nach Belieben‘ zu verfahren (siehe § 903 BGB), einschließlich ihrer Zerstörung (ausdrücklich § 362 ABGB). Die Freiheit der Nutzung schloß die Befugnis ein, das Eigentum an Produktionsgütern (Boden und Kapital) – d. h. Gütern, die nicht dem Verbrauch (Konsumgüter), sondern der Gewinnung weiterer Produkte dienen – zum Zwecke persönlicher Gewinnerzielung einzusetzen. Eigentumsfreiheit verstand sich auch als Befugnis, das Eigentum beliebig an andere zu veräußern; demzufolge wurde das Eigentum zu einem Markt- und Tauschobjekt wie die beweglichen Sachen.166 cc) Bei der normativen Verwirklichung der liberalen Eigentumsvorstellungen spielten Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zusammen. Die Gesetzgebung hatte den letztlich entscheidenden Anteil. Ihr kam vor allem die Aufgabe zu, das Eigentum an Grund und Boden aus seiner ,feudalen‘ in die ,bürgerliche‘ Erscheinungsform überzuführen. Es bedeutete dies insbesondere: Beseitigung der ständischen Erwerbsschranken, die das Eigentum gewisser Grundstücke (Rittergut) dem Adel vorbehielten; Abschaffung oder Ablösbarkeit der permanenten, in der politischen Verfassung begründeten Grundstückslasten (Abgabeverpflichtungen gegenüber Gerichtsherrn etc.); Beseitigung oder Rückbildung der permanenten familiären Bindungen des Grundeigentümers; Aufhebung der Lehnsverhältnisse und der Grund- und Gutsherrschaften über die Bauern. Im Gefolge dieser Gesetzgebung wurde die dem Feudalsystem adäquate Rechtsfigur des geteilten Eigentums (dominium divisum) beseitigt. Bei dem geteilten Eigentum waren die Bestimmungsbefugnisse des Eigentümers aufgeteilt zwischen einem Obereigentümer (dominus directus, z. B. dem Lehnsherrn) und einem Nutzeigentümer (dominus utilis, z. B. dem Lehnsmann). Ähnlich wurde das Verhältnis zwischen dem adeligen Grundherrn und dem auf der Grundherrschaft angesiedelten, seinen Hof erblich besitzenden Bauern gedeutet. Da beide Eigentümerpositionen nach Familienerbrecht weitergegeben wurden, bildete das geteilte Eigentum das Mittel zur Herstellung ,ewiger‘, in der Grundverfassung wurzelnder Rechtsverhältnisse, die durch die Vermischung des Wirtschaftlichen und Politischen vielfach Elemente von Hoheit und Abhängigkeit in sich trugen. Sowohl die permanente Teilung der Eigentümerbefugnisse als auch die auf zivilrechtlichem Titel beruhende ,Privatobrigkeit‘ widersprach dem liberalen Freiheitsverständnis. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erhielt daher das Grundeigentum seine ,entfeudalisierte‘ Gestalt und seinen vielzitierten Warencharakter (als Objekt freien Tauschverkehrs), deren Berechtigung heute wiederum den Gegenstand politischer Kontroversen bildet. 166

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d) Die Idee der individuellen Freiheit äußert sich auf den wirtschaftlichen Bereich bezogen nicht nur in der Freiheit des Eigentums, sondern generell in der Freiheit wirtschaftlicher Betätigung: Freiheit des Handels und Gewerbes, des Tauschverkehrs, der Güterproduktion und der Arbeitsverhältnisse. Die Begrenzung des Staatszwecks auf Schutz und Sicherung der Individualfreiheit wendet sich gegen die absolutistische Veranstaltung und dirigistische Steuerung der sozialen Vorgänge. Die gesellschaftlichen Beziehungen und Prozesse sollen vielmehr durch das freie und spontane Handeln der Bürger bewirkt werden. Der Umstand, daß ein Vorgang das öffentliche Interesse berührt oder das gemeine Wohl beeinflußt, begründet allein keineswegs schon die Zuständigkeit und Bestimmungsgewalt der staatlichen Bürokratie. Dem Staate wird vielmehr die Gesellschaft als lebender Organismus gegenübergestellt, bestehend aus einem ,Gewirre‘ individueller Aktionen, die wie durch wunderbare Hand gelenkt in ihrer Resultante das Gemeinwohl herstellen. Die Gesellschaft, nicht der Staat bewältigt in erster Linie die sozialen Aufgaben; an die Stelle der Allzuständigkeit der polizeistaatlichen Bürokratie tritt die Primärzuständigkeit der freien Bürgergesellschaft. Die liberale Theorie entdeckte die gewaltige, wertschöpferische Kraft des Egoismus und setzte sie in die Mitte ihres sozialen Modells. Dabei ermöglichte ein immenser Harmonieglaube die Vorstellung, daß das selbstbezogene Handeln der einzelnen einem Naturgesetz gleich das soziale Optimum herstelle. Für die liberale Wirtschaftslehre wurde dieser Harmoniegedanke grundlegend. Die Liberalen sahen (und sehen) den Staat und seine Bürokratie als schlechte Wirtschafter an. Deshalb soll sich der Staat von der Wirtschaft fernhalten und diese sich selbst, d. h. dem freien Handeln der Bürger überlassen: Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui même. Die Steuerung der Wirtschaft wird durch das ,freie Spiel der Kräfte‘ selbst besorgt. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die Markt- und Preislehre geworden, die der schottische Philosoph Adam Smith (1723 – 1790) entwickelt hat und die dem Gerüst nach in die modernen ökonomischen Lehren eingegangen ist. Nach liberaler Vorstellung funktioniert die Wirtschaft dann am besten, wenn sich bezüglich einer Ware oder sonstigen Leistung eine Vielzahl von Anbietern und eine Vielzahl von Nachfragern jeweils im Wettbewerb (Konkurrenz) gegenüberstehen. Das vom Wettbewerb bestimmte Austauschgeschehen nennt man Markt. In einer ,Marktwirtschaft‘ bildet demnach das wettbewerbliche Marktgeschehen das Grundprinzip, welches die ökonomischen Vorgänge steuert. Der sich auf dem Markt bildende Preis wird zwar stets nach dem jeweiligen Verhältnis von Angebot und Nachfrage schwanken, sich gleichwohl aber kraft des Wettbewerbs von einer mittleren Linie nicht zu weit entfernen, sondern um diese Linie herum pendeln und gleichzeitig Art und Menge der Güterproduktion im Einklang mit dem Güterbedarf halten.167 Die Durchsetzung der Handels- und Gewerbefreiheit im Verlauf des 19. Jahrhunderts betraf nicht nur das öffentliche Recht, das gegenüber Merkantilsystem und 167

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Wirtschaftspolizei des Absolutismus auf ein Regelungsminimum zurückgedrängt wurde, sondern auch das Bürgerliche Recht. Zivilrechtlicher Ausdruck des geschilderten Wirtschaftsmodells ist der Grundsatz der Vertragsfreiheit: Jedermann soll mit jedem, der sich dazu bereit findet, Verträge beliebigen Inhalts rechtmäßig und bindend schließen können; bei der Festlegung von Voraussetzungen und Grenzen dieser vertraglichen Gestaltungsfreiheit soll der Staat einen größtmöglichen Freiheitsspielraum lassen. e) Die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung bildet, wenngleich bei manchen liberalen Theoretikern isoliert, nur einen Ausschnitt aus der allgemeinen Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung (vgl. den Wortlaut von Art. 2 I GG), die sich insbesondere in der Glaubens- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit von Wissenschaft und Kunst äußert. Personale und wirtschaftliche Entfaltung sind dabei nicht als getrennte Bereiche konzipiert; sogar das Eigentum als das Vorbild der wirtschaftlich nutzbaren Rechte wird als Bereich von Freiheitsverwirklichung gedacht und somit personalisiert. Dem entspricht eine auch durch das Zivilrecht abzusichernde, allgemeine Handlungsfreiheit (Privatautonomie), die im Prinzip ihre Grenze am Freiheitsraum der anderen Mitglieder der Gesellschaft findet. Sie schließt das Recht der einzelnen ein, sich ohne obrigkeitliche Erlaubnis zu Vereinigungen rechtswirksam zusammenzuschließen (Vereinigungsfreiheit) und begreift das Recht der Vereinigungen ein, ihre Angelegenheiten dem Grundsatz nach ohne staatliche Intervention zu regeln (,Vereinsautonomie‘). Freilich ist die Vereinigungsfreiheit auf dem Gebiet der politischen und gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse erst in unserem Jahrhundert und keineswegs durch die liberale Bewegung durchgesetzt worden.168 f) Der Gedanke, daß Eigentum und wirtschaftliche Betätigung prinzipiell in den Entfaltungsbereich des einzelnen und der ,freien‘ Gesellschaft gehören, verlangt nach einem ,Privaterbrecht‘, d. h. nach Regelungen, die das Vermögen einer Person nach ihrem Tode nicht dem Staat anheimfallen, sondern auf andere ,Privatpersonen‘ übergehen lassen. Nur durch ein solches Erbrecht kann sich das politische System des Liberalismus ständig reproduzieren; je höher der Staat durch die Erbschaftssteuer am Vermögen Verstorbener partizipiert, desto stärker droht ein auf Privateigentum und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit gegründetes System sich aufzugeben. Deshalb tritt neben die Garantie des Eigentums in den liberalen Verfassungen die Gewährleistung des Erbrechts (Art. 14 I GG). So selbstverständlich dem Liberalismus das Prinzip des Privaterbrechts ist, so wenig einig sind sich liberale Konzepte in der Frage, welche Personen zur Erbschaft berufen sein sollen; ob dies z. B. die Familienangehörigen sein sollen (Familienerbrecht) oder ob der Erblasser den (die) Erben soll frei bestimmen können (Testierfreiheit). Diese Unklarheit des liberalen Programms liegt in der zwiespältigen Einstellung gegenüber dem Familienerbrecht. Als Instrument der Verewigung adeliger Vorrechte und feudaler Herrschaftsverhältnisse mußte das Familienerb168

Ebd.

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recht den liberalen Theoretikern zuwider sein; andererseits wurde im 19. Jh. auch im Anschauungsbereich des Liberalismus eine auf die bürgerliche Familie zugeschnittene, restaurative Familientheorie ausgebildet, die nicht ohne Auswirkung auf das Erbrecht bleiben konnte. Die modernen Zivilrechte versuchen familiäre Bindung des Vermögens und Testierfreiheit in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen. Nach dem BGB sind der Ehegatte und die Verwandten nach einer bestimmten Ordnung zur Erbfolge berufen (gesetzliches Erbrecht); der Erblasser kann aber durch Verfügung von Todes wegen (z. B. Testament) über das Schicksal seines Vermögens nach dem Tode beliebige anderweitige Bestimmungen treffen; wird auf diese Weise der Ehegatte oder werden gewisse nähere Verwandte von der Erbfolge ausgeschlossen, so erhalten sie einen Anspruch auf den Pflichtteil gegen den (die) Erben; der Pflichtteil besteht aus der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils (§ 2303 I 2 BGB). g) Dem Gedanken der individuellen Freiheit steht der Grundsatz der Rechtsgleichheit zur Seite. Er bedeutet insbesondere, daß alle Bürger Inhaber der gleichen Freiheitsrechte und den Gesetzen in gleicher Weise unterworfen sind. Nach dem liberalen Gesellschaftsmodell gibt es daher keine Bevölkerungsschichten mit gemindertem (Sklaven, Hörige) oder erhöhtem (Adel) Freiheitsstatus. Beim Abschluß des contrat social stehen sich die Menschen als Inhaber der gleichen natürlichen Freiheit gegenüber, um mit Errichtung des Staats die gleiche bürgerliche Freiheit zu erlangen. Freilich bedeutet dies nicht die Gleichheit des Vermögens. Denn obwohl jeder die gleiche Freiheit genießt, so können die Menschen je nach ihren Fähigkeiten doch unterschiedlichen Gebrauch davon machen. Die quantitative Gleichheit des Eigentums gehört daher nicht zu den liberalen Postulaten. Zwar liegt vielen liberalen Programmen die Forderung zugrunde, daß es im Staate möglichst viele Eigentümer gebe und daß möglichst jeder die Chance erhalte, Eigentum zu bilden. Daß aber die unterschiedliche persönliche Entfaltung zu unterschiedlichen Vermögen führt, ist unausweichliche und auch bejahte Konsequenz der liberalen Theorie. Man hört daher oft die Behauptung, der liberale Gleichheitssatz sei ,bloß formal‘. Dies ist unrichtig: Der Liberalismus verurteilt eine Reihe von Ungleichheiten der Sache nach, so die Ungleichheit in persönlichen Rechten oder in den Regeln des Rechtserwerbs; er verwirft nur eben nicht die Ungleichheit des Vermögens. Jeder soll nach den gleichen Gesetzen Eigentum erwerben und nutzen können; wieviel er aber erwirbt und wie er das Erworbene nutzt, ist seine Sache. 3. Entwicklung des Zivilrechts im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts Die Postulate des Liberalismus wurden im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts teils vollständig, teils in Ansätzen verwirklicht. Auf dem Gebiet des Zivilrechts

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bietet das BGB, jedenfalls seiner Intention nach, einen verhältnismäßig reinen Ausdruck liberalen Denkens. Zur Zeit der Entstehung des Gesetzbuches hatte sich indes längst gezeigt, daß das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte keineswegs zum sozialen Optimum führte und daß mit der Verwirklichung von Handlungsund Eigentumsfreiheit die gesellschaftlichen Probleme nicht gelöst, sondern zum Teil erst geschaffen wurden. Die durch Gewährung wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit und beliebiger Einsetzbarkeit des Eigentums entfesselten Kräfte erwiesen sich als Antriebe nicht für Harmonisierung, sondern für Polarisierung der Gesellschaft. Es bildete sich nicht – wie von Frühliberalen erträumt – eine Nation der Eigentümer, vielmehr ein Gegensatz zwischen den wenigen sozial Gesicherten und der Masse der im Elend lebenden Kleinbauern, Handwerker, Landarbeiter und Fabrikarbeiter. a) Schon die Gesetzgebungspolitik des zweiten deutschen Kaiserreiches ist daher keineswegs allein von liberalen Gedanken geprägt, sondern zeigt eine schwankende Gestalt. Seit Ende des 19. Jh. erscholl allenthalben der von sehr unterschiedlichen Interessen getragene Ruf nach einer Intervention des Staates in die gesellschaftlichen Abläufe. 1926 konnte der Nationalökonom J. M. Keynes das Ende des Laissez-faire verkünden. Das Ungenügen des liberalen Gesellschaftsmodells zeigte sich unter anderem in folgenden Zusammenhängen. Die Vertragsfreiheit drohte sich auf wirtschaftlichem Gebiet selbst auszuhöhlen, insofern die Unternehmer durch Preisabsprachen und andere marktbeeinflussende Abreden (Kartelle) die Gesetzmäßigkeiten des wettbewerblichen Marktgeschehens ausschalten. Der gleiche Effekt kann dadurch erzielt werden, daß die Unternehmen auf der Anbieteroder Nachfragerseite sich zu Konzernen oder sonstigen Unternehmensverbindungen (siehe §§ 15 – 19 AktG) zusammenschließen oder sich zu einer rechtlichen und wirtschaftlichen Einheit verschmelzen,169 auf diese Weise entstehen Formen der Marktbeherrschung durch ein Unternehmen oder einen Unternehmensverbund bis hin zum Monopol. b) Die heutige Situation ist durch zunehmende Konzentrationsbewegungen in der Wirtschaft gekennzeichnet. Daß die Kartelle und die zur Marktbeherrschung führenden Zusammenschlüsse die Vertragsfreiheit der nicht entsprechend organisierten Partner am Markt beseitigen, wurde erst allmählich erkannt (grundsätzliche Erlaubtheit der Kartelle: RGZ 38, 158). Der Gesetzgebung in erster Linie kam die Aufgabe zu, durch Beschränkungen der Vertragsfreiheit den Wettbewerb zu sichern (Kartellgesetzgebung, Anti-Trust-Gesetzgebung). Damit war die Illusion dahin, der Wettbewerb werde sich von Natur aus einstellen und einspielen, wenn nur der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehe; die freie Konkurrenz ist vielmehr ein vom Staate in ihren Voraussetzungen geordnetes und gesichertes Geschehen. Heute ist die Rechtslage hauptsächlich durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen bestimmt.170 169 170

Fusion; vgl. §§ 339 – 358 a AktG. GWB i. d. F. v. 24. 9. 1980.

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c) Wirtschaftskrisen, wie vor allem die Inflation der Jahre 1919 bis 1924 und der Zusammenbruch der Volkswirtschaften im Jahre 1929 zeigten deutlich, daß es mit der Sicherung des Wettbewerbs nicht getan ist. Die seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts vordringenden Lehren der Nationalökonomie verlangten vom Staat eine Globalsteuerung der Volkswirtschaften, die soziale Katastrophen verhindern und sozialen Fortschritt anstreben soll. Die besonderen Erfordernisse einer staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Kriegs- und Nachkriegszeiten verstärkten die Gewöhnung an staatliche Eingriffe und Einflüsse in das Wirtschaftsgeschehen. Infolgedessen verschaffte sich der Staat im Laufe dieses Jahrhunderts ein subtiles Instrumentarium für Einflußnahme auf die Wirtschaft, angefangen von Subventionen bis hin zur Außerkraftsetzung des Marktgeschehens durch Festlegung von Preisen oder Preisgrenzen. Die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hat die Elemente der Wirtschaftsplanung weiter verstärkt. Hinzu tritt die Tatsache, daß sich Staat und kommunale Körperschaften in zunehmendem Ausmaß veranlaßt sehen, selbst als Unternehmer aufzutreten und zur Sicherung der Versorgung (,Daseinsvorsorge‘) Leistungen zu erbringen: Wirtschaft ist nicht mehr allein Angelegenheit der freien Gesellschaft. Nicht das Ob des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft, sondern die Mittel und Grenzen dieses Einflusses sind umstritten. In diesem Punkte differieren die dem marktwirtschaftlichen Gedanken verpflichteten Akteure erheblich, angefangen bei interventionistischen Konzepten bis hin zu neoliberalen Doktrinen, die ein Höchstmaß unternehmerischer Freiheit aufrechterhalten wollen; irgendwo dazwischen steht die Lehre von der sozialen Marktwirtschaft, welche die Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit bestimmt hat. d) Die Rechtsgrundlagen für den staatlichen Einfluß auf die Wirtschaft liegen verstreut. Von konzeptioneller Bedeutung ist – auch aus heutiger Sicht betrachtet – besonders das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ vom 8. 6. 1967, das die staatliche Wirtschaftspolitik auf ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht verpflichtete. Die Maßnahmen sind „so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“ (§ 1). Die Wirklichkeit sieht weniger harmonisch aus: Die Verhinderung oder Bewältigung von wirtschaftlichen (und damit politischen) Krisen erscheint als das erste Ziel (crisis management).171 Daß das freie Spiel der Kräfte allein keine annehmbaren Ergebnisse garantiert, wurde besonders schmerzlich im Bereich der Arbeitsverhältnisse deutlich. Der vom Liberalismus postulierte, von den Juristen verkündete ,freie Arbeitsvertrag‘ bildete in einer Zeit gewaltigen Überangebots an Arbeitskräften das Instrument zu menschenunwürdiger Gestaltung der Löhne und Arbeitsverhältnisse.172 Die Vorstellung, daß der Unternehmer auf der einen, der 171 172

Wiethölter, Rudolf, Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1968. BVerfG 58, 300.

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einzelne Arbeiter auf der anderen Seite sich als freie Personen auf einer mittleren Linie ihrer Interessen vertraglich einigten, erscheint uns heute als zynische Karikatur der Verhältnisse. Die Gesetzgebung mußte daher in den Angebot-NachfrageMechanismus zugunsten der Arbeitnehmer eingreifen und Mindestschutzbedingungen (Kündigungsschutz etc.) anordnen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schied demzufolge das Arbeitsrecht als Sondermaterie aus der Masse des noch nach den klassischen liberalen Grundsätzen geprägten Zivilrechts aus.173 e) Im Arbeitsrecht bahnte sich ferner eine weitere, für das heutige Verständnis grundlegende Entwicklung an. Die Erkenntnis, daß der einzelne Arbeiter als Vertragspartner des ökonomisch mächtigen Unternehmers seine Interessen nicht zu verfolgen vermag, führte zur Bildung und schließlich zur rechtlichen Anerkennung der Arbeitnehmerorganisationen als Vertragspartner (Tarifvertrag) des Unternehmers oder der gleichfalls verbandlich organisierten Unternehmer. Durch Verlagerung der Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen aus einer individuellen auf eine kollektive Ebene wurde die liberale Vorstellung vom ,freien Vertrag‘ unter neuen Vorzeichen verwirklicht; Gewerkschaften und Unternehmerverbände bilden die ,freien und gleichen‘ Instanzen, die durch Vereinbarungen einen Interessenausgleich zu erzielen vermögen. Für die Folgezeit ist ein Zuwachs an gruppenbezogenem Denken auch für andere Gebiete typisch. aa) Die Bildung großer wirtschaftlicher Mächte einerseits und die Formierung der Gesellschaft in Interessengruppen, wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Parteien, Berufsvereinigungen, Mieterbünde, Haus- und Grundbesitzervereine andererseits, ordnen sich nicht in das klassische liberale Gesellschaftsmodell ein. Die Theorie des 19. Jahrhunderts war auf ,den einzelnen‘ ausgerichtet und begriff die Gesellschaft als Gewebe von Individualbeziehungen. Die juristische Doktrin hatte demzufolge mit der Deutung von Vereinigungen große Schwierigkeiten. In dem Maße, in dem sich erwies, daß die einzelnen zur Durchsetzung ihrer Interessen sich zusammenschließen mußten, wandelte sich die Beziehung ,Staat – Einzelner (Gesellschaft von einzelnen)‘ zu einem Spannungsdreieck ,Staat – Gruppe (in Gruppen formierte Gesellschaft) – Einzelner‘. Zwischen Staat und Individuum schieben sich Zusammenschlüsse, die für den einzelnen und seine Freiheit zwiespältige Wirkungen entfalten: Sie sichern und fördern seine Freiheit, indem sie seine Interessen kollektiv und daher mächtig vertreten; sie bedrohen gleichzeitig seine Freiheit, indem sie ihn einem Gruppenreglement unterwerfen und damit neue Dimensionen der Abhängigkeit schaffen. So dienen die Zusammenschlüsse der Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft der Durchsetzung ihrer Interessen; sie beschneiden zugleich aber teils rechtlich, teils faktisch (Streikposten!) die freie Entscheidung des einzelnen Arbeitnehmers über den Abschluß von Arbeitsverträgen und den Einsatz seiner Arbeitskraft. 173 Rebe, Bernd, Privatrecht und Wirtschaftsordnung. Zur vertragsrechtlichen Relevanz der Ordnungsfunktionen dezentraler Interessenkoordination in einer Wettbewerbswirtschaft, Bielefeld 1978.

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bb) Von vornherein konnte das Eigentum seine ihm zugedachte Funktion als Garant der Freiheit für große Teile der Bevölkerung, nämlich für den vom Liberalismus vernachlässigten ,vierten Stand‘ der Fabrik- und Landarbeiter, nicht erfüllen. Daß die liberale Theorie dies in Kauf nahm, zeigt ihre Bindung an die Interessen des besitzenden Bürgertums. Die wirtschaftliche Entwicklung, in deren Verlauf durch Kriegseinwirkungen und Inflationen auch mittlere Vermögen stark getroffen wurden, verschärfte die Entwertung des Eigentums als Mittel sozialer Sicherung. Für die Vielzahl der Menschen konnte das Eigentum das Problem der Existenzsicherung folglich nicht lösen. Als die ,soziale Frage‘ als Frage nach den Lebensbedingungen der Arbeiter in das allgemeine Bewußtsein trat und in ,Sozialpolitik‘ einmündete, erwiesen sich nicht so sehr die Programme der Eigentumsstreuung, sondern die Ausfaltung des Systems der Sozialleistungen (Sozialversicherung, Arbeitslosenversicherung) und die vermehrten Ausbildungschancen für jedermann als die entscheidenden Instrumente sozialer Sicherheit.174 Sowohl die Notwendigkeit einer Absicherung des Wirtschaftsablaufs als auch das erwachte soziale Bewußtsein stellten an den Staat die Anforderung, seine Distanz zur ,freien Gesellschaft‘ aufzugeben und durch Gesetz und Verwaltungshandeln die gesellschaftlichen Vorgänge sei es selbst zu bewirken, sei es nach Plan zu steuern, sei es in engeren Grenzen zu halten. Die Alternative zu sozialistischen Programmen bestand in einem Sozialmodell, das die Elemente der Individualfreiheit und des Privateigentums zwar aufrechterhielt, aber den Zielen der Wohlfahrt für alle und der sozialen Gerechtigkeit unterordnete. cc) Das Programm dieser Verbindung von Individualfreiheit mit gesellschaftlicher Solidarität, von Freiheit zu egoistischer Interessenentfaltung mit sozialer Steuerung hat in den Begriffen Wohlfahrtsstaat (welfare state) und – damit nicht schlechthin identisch – Sozialstaat plakative Kennzeichnungen gefunden. Bei aller Verschiedenheit der damit verbundenen Postulate erwies sich der Sozialstaatsbegriff als geeignet, den Rahmen für eine gesellschaftspolitische Verständigung von Sozialdemokratie, konfessionellen politisch-sozialen Bewegungen und Liberalismus abzugeben. Das Sozialstaatspostulat ist daher in die Verfassung eingegangen (Art. 20 I GG ,sozialer Bundesstaat‘; Art. 28 I 1 GG ,sozialer Rechtsstaat‘).175 Welche Anforderungen die Sozialstaatsklausel des GG an das staatliche Handeln stellt, ist im einzelnen kontrovers: Die Postulate reichen von dem Gebot, den sozial Schwachen zu helfen, über die Umverteilung der Einkommen bis hin zur Behauptung, der Staat sei zur Sozialisierung verpflichtet.176 Für unseren historischen Zusammenhang und seine erinnerte Vergegenwärtigung genügt es, die Unterschiede 174 Leisner, Walter, Sozialbindung des Eigentums, Berlin 1972. Aus der Rechtsprechung siehe das grundlegende Urteil des BVerfG vom 15. 7. 1981. 175 Hallstein, Walter, Wiederherstellung des Privatrechts, in: Schweizerische Juristen-Zeitung Jhg. 1 (1946), S. 1 ff. 176 Kübler, Friedrich Karl, Eigentum verpflichtet? Eine zivilrechtliche Generalklausel, in: Archiv für die civilistische Praxis 159 (1960), S. 236 ff.; Stein, Erwin, Zur Wandlung des Eigentumsbegriffes, in: Festschrift für Gebhart Müller, Hannover 1970, S. 503 ff.

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zum klassischen Liberalismus festzuhalten: Die gerechte soziale Ordnung bildet danach nicht das zwangsläufige Ergebnis der ungehinderten Individualentfaltung, sondern muß das wesentliche Ziel staatlicher Politik (Sozialpolitik) bilden. Die Ziele der Sozialpolitik werden durch die Vorstellung bestimmt, daß – wenn schon nicht die Gleichheit der Vermögen herzustellen ist – jedermann materielle Mittel zur Bestreitung eines menschenwürdigen Daseins und darüber hinaus einen ,gerechten Lohn‘, d. h. den höchstmöglichen Güteranteil für seine Arbeit erhält. An die Stelle des Eigentümers, auf den die liberale Gesellschaftstheorie letztlich zugeschnitten war, tritt ,jedermann‘: Die Gleichheitsidee erfaßt nun auch den Bereich der Güterhabe in dem Sinne, daß dem Menschen wenigstens der gleiche ausreichende Mindeststandard an Lebensmöglichkeiten und sozialer Sicherheit zu verschaffen ist.177 Die Idee der Freiheit nimmt über den Grundsatz der Betätigungsfreiheit hinaus das Element der Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten in der Gesellschaft an: Neben die Freiheitsrechte des Liberalismus treten ,soziale Grundrechte‘ (siehe: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948, Art. 22 – 28; Europäische Sozialcharta vom 18. 10. 1961, BGBl. 1964 II, 1262). dd) Für die Konzeption des Sozialstaats ist entscheidend, daß dem Staat die letzte Verantwortung für die ,gerechte‘ soziale Ordnung auferlegt wird mit der Konsequenz, daß ihm auch die rechtlichen und wirtschaftlichen Mittel eingeräumt werden müssen, um auf die genannten Ziele hinzuwirken. Gegenüber dem Liberalismus ergibt sich demzufolge ein verändertes Staatsverständnis. Die Verschmelzung von Sozialstaatsidee mit Elementen des Liberalismus bedeutet demnach im Prinzip: Freiheit der individuellen Betätigung, Wettbewerbswirtschaft und Freiheit des Eigentums bleiben dem Grundsatz nach aufrechterhalten; diese Freiheiten treten aber in ein permanentes Spannungsverhältnis zu den sozialpolitischen Zielen und erfahren von daher Steuerungen und Begrenzungen.178 Demzufolge erhalten die Freiheitsrechte, wo ihr Gebrauch mit den sozialstaatlichen Zielen kollidieren kann, Schranken, die in ihr Wesen hineindefiniert werden. Die Freiheit des Vertrags und Eigentums wird nicht zunächst einmal isoliert gedacht und sodann begrenzt, sondern versteht sich von vorneherein nur nach Maßgabe sozialstaatlicher Ordnung. Besonders deutlich wird dies beim Eigentum. Nach den sozialistischen Lehren unterschiedlicher Ausprägung hat das Kapital einen notwendig gesellschaftlichen Charakter und kann oder darf daher nicht im Privateigentum, sondern muß im kollektiven Eigentum stehen. Die These vom gesellschaftlichen Charakter des Eigentums drang seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in nicht-sozialistische Lehren vor. Es wurde dort zwar nicht die Konsequenz gezogen, daß das Kapital zu sozialisieren sei; vielmehr wurde das Privateigentum einer in seinen Begriff hineingenommenen Sozialbindung unterzogen.179 177 Ihering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, 2. umgearb. Aufl., Leipzig [hier zitiert nach: Nachdr., hrsg. von Christian Helfer, Hildesheim 1970 ], S. 523. 178 Locher, Gottfried W., Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, 2. erw. Aufl., Zürich 1962.

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Das Eigentum erscheint demzufolge nicht mehr zunächst als der absolute Entfaltungsraum des Individuums, der sodann gewisse Begrenzungen erfährt; vielmehr bildet es eine gesellschaftlich-politische Schöpfung. Die Gesellschaft teilt das Eigentum zu und bestimmt durch ihre Gesetze, welche Inhalte und welche Befugnisse damit verbunden sind. „Es ist also nicht wahr, daß das Eigentum seiner Idee nach die absolute Verfügungsgewalt in sich schlösse. Ein Eigentum in solcher Gestalt kann die Gesellschaft nicht dulden und hat sie nie geduldet – die Idee des Eigentums kann nichts mit sich bringen, was mit der Idee der Gesellschaft in Widerspruch steht.“180 Eine solche Auffassung öffnet das Privateigentum den gesellschaftlichen Anforderungen; seitdem sind Eigentumsfreiheit und soziale Bindung dem Eigentumsbegriff inhärent und bedingen seine innere Spannung. In den Veränderungen der konkreten Gestalt des Eigentums, insbesondere durch Reform des öffentlichen Bodenrechts, des Siedlungsrechts, des Miet- und Pachtrechts fand die Anschauung vom sozialverpflichteten Eigentum ihren Ausdruck. Die Entwicklung vom liberalen zum freiheitlich-sozialen Staat, ferner die Tatsache, daß mit zivilrechtlichen Mitteln soziale Macht ausgeübt werden kann, bleiben nicht ohne Einfluß auf den Inhalt des Zivilrechts. Die Verwirklichung des Sozialstaats geschah und geschieht freilich primär durch öffentlichrechtliche Regelungen. Daher dringt das öffentliche Recht, für den klassischen Liberalismus lediglich ein Zaun an der Peripherie des sozialen Geschehens, mächtig auf Kosten des Zivilrechts vor. Im Sozialstaat erhält das Zivilrecht folglich einen geminderten Stellenwert; es bildet nicht mehr das hauptsächliche rechtliche Gerüst des sozialen Geschehens, sondern normiert die Lebenssachverhalte im Zusammenspiel mit weitreichenden öffentlichrechtlichen Normen.181 In gewisser Weise beeinflußt das Sozialstaatsprinzip auch die Inhalte des Zivilrechts selbst. Rechtsprechung und Wissenschaft obliegt die schwierige Aufgabe, klassisch-liberale Gesetze in einem sozialstaatlichen Verständnis zu deuten und anzuwenden. Die Herkunft des BGB aus einem individualrechtlichen Freiheitsverständnis erinnert die Interpreten an die Aufgabe des Zivilrechts, die Freiheit des einzelnen zu sichern und daher für die Realisierung von Erwerbschancen, für Schutz und Ausübung erworbener Rechte, für die Unantastbarkeit des personalen Entfaltungsbereichs die geeigneten Regeln zu bilden.182

179 Vgl. dazu: Hippel, Fritz von, Zum Aufbau und Sinnwandel unseres Privatrechts, Tübingen 1957, S. 165; Ramm (FN 98), §§ 9 – 12; Raiser, Ludwig, Die Zukunft des Privatrechts, 1971. Siehe auch: Hallstein (FN 165), S. 1 ff. 180 Ihering (FN 177), S. 523. 181 Näher dazu: Radbruch, Gustav, Vom individualistischen zum sozialen Recht, in: Der Mensch im Recht, Göttingen 1957, S. 35.; Wieacker, Franz, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, Karlsruhe 1953; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 1967, S. 514, 543. 182 Vgl. dazu: Gierke, Otto Friedrich von, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889; Nachdr. Berlin 1960.

IV. Genese und Geltungsgrundlagen des russischen Zivilrechtssystems

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IV. Genese und Geltungsgrundlagen des russischen Zivilrechtssystems 1. Rolle des Zivilrechts im russischen Rechtssystem Bis vor gar nicht so langer Zeit stellte das russische Rechtssystem, das sich als System des sowjetischen Rechtes entwickelte, einen Komplex äußerst zahlreicher (über einige Dutzende!) selbständiger Rechtsbranchen dar. Die Hauptbesonderheit des einheimischen Rechtssystems bestand in Vielfalt seiner Bestandteile bei prinzipiellem Verzicht auf ihre allgemeine, traditionelle Aufteilung in privates Recht und öffentliches Recht. Zu den bekannten Vorteilen eines solchen Herangehens an das Recht zählten die Möglichkeiten der maximalen Berücksichtigung der Besonderheiten unterschiedlicher Arten von durch das Recht geregelten gesellschaftlichen Verhältnissen sowie die Sorgfalt und Verzweigtheit der Regelungen. Allerdings waren dabei Kompliziertheit und mangelnde Durchschaubarkeit des auf diese Weise gebildeten Systems sowie die Notwendigkeit der laufenden Abgrenzung und Konkretisierung der Rechtskomplexe unvermeidlich, die deren gegenseitige Übereinstimmung erschwerten. Das wurde besonders in Grenz- sowie in Übergangssituationen erkennbar, die an der Grenze einzelner Rechtsbranchen entstanden. Die Problemlösung wurde oftmals in Herausbildung neuer, ,komplexer‘ bzw. ,sekundärer‘ Rechtsbranchen nebst den vorherigen, allgemeingültigen Rechtsbranchen gesucht, was das ganze System noch komplizierter machte. Aber die Hauptaufgabe des Rechtssystems ist nicht Abgrenzung der Rechtsbranchen und ihrer Bereiche (obgleich es offensichtlich ist, daß ohne dies gar nicht von deren System gesprochen werden kann), sondern die Gewährleistung der möglichen Einwirkungen einheitlichen, auf die zu regelnden gesellschaftlichen Verhältnisse. Deswegen ist das Rechtssystem durch die innere Übereinstimmung aller sozialen Subsysteme zu charakterisieren, die sich auf sozial-wirtschaftliche und verwaltungsrechtliche Faktoren stützt. Die Rechtsordnung suchte früher diese Ziele durch Aufbauen eines Systems von Rechtszweigen zu erreichen, die nach einem hierarchischem Prinzip geordnet wurden.183 Dieses System stellte sich als eine ,Pyramide‘ dar, an deren Spitze das (staatliche) Verfassungsrecht stand. Darauf folgten die dem Verfassungsrecht untergeordneten ,Hauptzweigen‘ – Zivilrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht, Prozeßrecht, – die ihrerseits die einzelnen Rechtsbranchen leiteten, die sich größtenteils aus den ,Mutterbranchen‘ ausgliederten (z. B. gliederten sich aus dem Zivilrecht das Familienrecht und das Arbeitsrecht aus, aus dem Verwaltungsrecht, das Finanzrecht aus usw.). Demgemäß war dieses ganze System durch seine öffentlichen Grundlagen bestimmt und geprägt, die 183 Dazu und zum folgenden: Hamza, Gábor, The Classification (Divisio) into ,Branches‘ of Modern Legal Systems (Orders) and Roman Law Traditions, in: Revista International de Derecho Romano y Tradición Romanistica XXII (2009), S. 221.

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einen unbeschränkten Eingriff des Staates in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der Gesellschaftsmitglieder ermöglichten und den vorrangigen Schutz staatlicher und öffentlicher Interessen gewährleisteten. Dieses Herangehen entsprach durchaus dem Verwaltungs- und Plancharakter einer ,durchstaatlichten‘ Wirtschaft und der realen Rolle des damaligen Staates im gesellschaftlichen Leben. a) Die kardinale Reform der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung hatte die Änderung dieses Systems zur unvermeidlichen Folgen. Die Wiederherstellung der privatrechtlichen Grundlagen und der Übergang zur prinzipiellen Aufteilung des ganzen Rechtsbereiches in einen privatrechtlichen und einen öffentlichrechtlichen Bereich führten dazu, daß ein neues Branchensystem den Platz der ,Pyramide‘ von untergeordneten Branchen einnahm, das auf prinzipiellen Gleichheit des privatrechtlichen und des öffentlichrechtlichen Herangehens beruht. In diesem System bestimmen zwei zusammenwirkende, aber einander nicht untergeordnete Bereiche und Regelsysteme, nämlich die des privaten und des öffentlichen Rechts, eine Vielzahl einzelner Rechtsbranchen und deren Gruppierungen. Das System des Privatrechts wurde schon eingangs charakterisiert. Ein komplizierteres System weist heute der Bereich des öffentlichen Rechtes auf. Im Großen und Ganzen wurde die Vielfalt der Rechtsbranchen beibehalten und sogar noch ausgeweitet, wie das heutige Verfassungs- und Verwaltungsrecht zeigt. Es ist offensichtlich, daß in diesem System kein Platz mehr für ,komplexe‘, wenig durchschaubare Rechtsgebilde ist. Die beiden Teilbereiche stehen aber noch in lebhafter Entwicklung. Die endgültigen Antworten auf die dabei entstehenden Fragen hat die Theorie von Staat und Recht noch zu geben. b) Es ist klar, daß das neue Rechtssystem sehr viel mehr den Aufgaben der Herausbildung des Rechtsstaates und der Zivilgesellschaft gerecht wird, die nun nicht mehr unter ständiger und umfassender Kontrolle des Staates stehen. Die Einheitlichkeit und innere Übereinstimmung der Teile dieses gesellschaftlichen Systems werden nicht durch hierarchische Unterordnung ihrer Elemente, sondern durch die Einheitlichkeit seiner allgemeinen grundlegenden Rechtsprinzipien sowie der Differenzierungskriterien der Rechtsbranchen gewährleistet, welche die funktionellen Besonderheiten jedes dieser sozialen Subsysteme bestimmen. Ihre sozialwirtschaftliche Grundlage beruht auf einer Anerkennung der Schlüsselrolle der unabdingbaren Rechte und Freiheiten der Persönlichkeit, auf der wachsenden Bedeutung Rolle der Regionen sowie der örtlichen Selbstverwaltung und auf dem beruhenden föderativen System der Staatsordnung und der Marktorganisation der Wirtschaft. Die allgemeingültigen Hauptkriterien der Selbständigkeit von Rechtszweigen orientieren sich am Vorhandensein eines selbständigen Gegenstandes der rechtlichen Regelung, d. h. eines besonderen Bereiches der gesellschaftlichen Verhältnisse, sowie der Methode rechtlicher Regelung, d. h. einer Gesamtheit von Maßnahmen und Einwirkungsweisen auf den Gegenstandsbereich der diesem Sonder-

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charakter entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Als zusätzliche Kriterien werden auch besondere Funktionen des jeweiligen Rechtszweiges angegeben, von deren Berücksichtigung die juristische Homogenität der diesen Rechtszweig bildenden Rechtsinstitute und Normen abhängt. Das Zivilrecht orientiert sich als heute eigen- und selbständiger Rechtsbereich an diesen Kriterien, was die Zivilrechtswissenschaft vor gesteigerte Anforderungen stellt. In diesem Zusammenhang sind auch die vor der Revolution geltenden Dogmen und Doktrinen sowie die damals in der Gerichtspraxis herrschenden Trends heute wieder interessant, die als tradierte Bestände der russischen Rechtskultur gelten. Dies ist vor allem deswegen wichtig, weil für den Bereich des Zivilrechts im vorrevolutionären Rußland ein Kodifikationsakt fehlte. Der Entwurf eines Zivilgesetzbuches, dessen Ausarbeitung seinerzeit noch in Angriff genommen wurde, erstarkte leider nicht zu einem Gesetz. Dieser Entwurf enthielt aber auch keine direkte Antwort auf die Frage des Gegenstandes des Zivilrechts. Und dies trotz des unbedingten Bedürfnisses nach einer solchen Antwort, auch außerhalb des materiellen Rechts. Es handelt sich darum, daß kraft Art. 1 der damals geltenden Ordnung für das Zivilrechtsverfahren in Rußland „alle Streitigkeiten über Zivilrecht der Genehmigung der gerichtlichen Festlegungen unterliegen“. Folglich bestimmte die Zugehörigkeit des einschlägigen Rechts zum jeweiligen Rechtszweig über die weitere Behandlung des entstandenen Rechtsstreites. Unter Bezugnahme auf den obigen Artikel der Ordnung hatte der zuständige Senat184 erkannt, daß die Klage eines Lehrers gegen die Landschaftsverwaltung auf Besoldung und die Klage eines Angestellten gegen seine ehemalige Dienststelle, die Stadtverwaltung, auf Erstattung der von ihm entrichteten Rentenfonds-Beiträge in Zusammenhang mit seiner Kündigung nicht vor Gericht, sondern auf administrativem Wege zu behandeln seien. Dabei bezog sich der Senat auf die besondere Stellung der Beklagten in den beiden Rechtssachen: die Stadt (in der ersten Sache)ist Vertreterin der gesellschaftlichen Gewalt und die Rentenordnung (in der zweiten Sache) ist ein öffentlicher Akt. Eine derartige Praxis war seinerzeit weit verbreitet. c) Bei Bestimmung des jeweiligen Rechtszweiges wurde im vorrevolutionären Rußland die Aufteilung des Rechts in öffentliches und privates Recht zum Ausgangspunkt der Wissenschaft. Jedoch bestanden erhebliche Unterschiede in den Auffassungen der einzelner Wissenschaftler in bezug auf diese Rechtszweige und demgemäß in bezug auf den Gegenstand jedes Rechtszweiges. aa) Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß eine Reihe von Wissenschaftlern zum Gegenstand des Zivilrechtes nur Vermögensverhältnisse zählte. Das bedeutete, daß nichtvermögensrechtliche Verhältnisse außerhalb des Zivilrechtes lagen. Diese Idee wurde in diversen Arbeiten von K. D. Kavelin dargestellt, darunter auch in der im Jahre 1864 unter dem Titel „Was ist Zivilrecht und wo sind dessen Grenzen?“ 184 Anders als heute ging das römische Recht, wie Hamza (FN 183), S. 223, an zahlreichen Beispielen belegt, nicht von einer strikten Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht aus.

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herausgegebenen.185 Einer der Ausgangspunkte dieser Arbeit bestand darin, daß die im Zivilrecht geregelten Rechtsverhältnisse zum Gegenstand materielle Werte, Sachwerte in Form von körperlichen Sachen, Rechte und Dienstleistungen haben.186 Hieraus folgte, daß bei konsequenter Entwicklung dieses Standpunktes nichtvermögensrechtliche Verhältnisse, darunter auch die mit persönlichen Elementen durchdrungenen Familienverhältnisse, außerhalb des Zivilrechtes lagen. Die jeweiligen Grundsätze wurden vor allem von D. I. Meier weiter entwickelt. Er kam zu dem Ergebnis, daß „die Zivilrechtswissenschaft als Wissenschaft über Vermögensrecht zu definieren ist“. Besonderes Interesse erwecken in diesem Zusammenhang seine Einstellungen in bezug auf die Natur des Familienrechts. Meier meinte, daß „in den Familienverhältnissen die Vermögensseite vorhanden ist; aber ihrem Wesen nach ist die Gründung der Familie dem Zivilrechtsbereich fremd“. Dementsprechend schlug er vor, diese Verhältnisse, die im kanonischen Recht hauptsächlich die Fragen der Eheschließungs- und – Ehescheidungsbedingungen umfaßten, dem öffentlichen Recht zuzuteilen. Das staatliche (öffentliche) Recht sollte nicht nur die Fragen der Vormundschaft (Pflegschaft), sondern auch Fragen der Verhältnisse zwischen den Eltern und Kindern regeln. Meier wies darauf hin, daß die „rechtliche Seite der Verhältnisse zwischen den Eltern und den Kindern hauptsächlich in der elterlichen Gewalt besteht“, und meinte, daß „es angebracht wäre, die Lehre über die elterliche Gewalt dem staatlichen Recht zuzuordnen“. bb) Die größte Verbreitung erntete die Einstellung derjenigen Autoren, die eine Einschränkung des Gegenstandes nur auf Vermögensverhältnisse nicht für möglich hielten. Dementsprechend hielt man für notwendig, nebst den Vermögensverhältnissen auch persönliche nichtvermögensrechtliche Verhältnisse in den Gegenstand des Zivilrechtes einzubeziehen. Damit entfielen die Bedenken in bezug auf Aufnahme der Familienverhältnisse ins Zivilrecht. Infolgedessen begann man, ohne besondere Hindernisse als zivil auch andere persönliche Verhältnisse zu betrachten. Als Beispiel können die Ansichten von I. A. Pokrovskij187 angeführt werden, der für die Auffassung plädierte, auch die Komplexität der menschlichen Existenz in der gesellschaftlichen Geschichte zu berücksichtigen. Dabei erkannte man, daß die Entwicklung der Persönlichkeit zur Vielfalt ihrer Interessen führt, was wiederum das Bedürfnis nach sich zieht, immer breitere Kreise menschlicher Rechte (darunter auch die Rechte am Namen, am Schutz intimer Lebensverhältnisse, am Schutz der menschlichen Existenz vor Eindringen Unbefugter) auch durch zivilrechtliche Regelung zu gewährleisten. Pokrovskij nannte den maximalen Schutz 185 Näher dazu: Litovkin, Viktor / Rachmilovic, Vladimir, Problemy sovremennogo graz Šdanskogo prava [Probleme des modernen Zivilrechts], Moskau 2004. 186 Hierzu und zu den nachfolgenden Autoren vgl.: Avenarius, Martin, Rimskoe pravo v Rossii [Das römische Recht in Rußland], Moskau 2008; Kavelin S. 53 f., Meier S. 8, 31 – 34, 38 – 40 et passim, Pokrovskij S. 78 – 93, 128, ŠeršenevicŠ S. 121. 187 Siehe oben FN 186.

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menschlicher Interessen als Ziel des Zivilrechtes und ordnete die Ausnahmerechte im Rahmen des behandelten Bereiches unter andere Nicht-Vermögensrechte ein. Es handelt sich um die Rechte, deren Objekt das geistige Eigentum ist, das vor allem im Zusammenhang mit der „Schaffung eines literarischen Werkes, eines Gemäldes, einer wissenschaftlichen oder technischen Entdeckung“ entsteht. Das war im breiteren Kontext mit der positiven Entscheidung der Frage verbunden, zu der sich das Römische Recht negativ einstellte, nämlich zur Möglichkeit der Existenz von nichtvermögensrechtlichen Verpflichtungen im Zivilrecht. Natürlich begrüßte Pokrovskij den ersten Schritt, den der Artikel 28 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches in dieser Richtung machte, in dem der Schutz persönlicher Rechte behandelt wurde. Eine ähnliche Idee wurde von Anfang an in den Entwurf des Zivilgesetzbuches (Grazdanskoje Ulozenie) Rußlands aufgenommen. Schon im ersten Artikel war vorgesehen, daß „jeder als frei anerkannt wird, von Geburt an (persönliche und Vermögens-) Zivilrechte zu haben und sie sich anzuschaffen“. Gleichzeitig umfaßte der Entwurf das Familienrecht als einen Bestandteil und sonderte demgegenüber das Autorenrecht und das Patentrecht ab. d) Die Anerkennung der selbständigen Existenz des öffentlichen und des privaten Rechts führte zu der Notwendigkeit, die Abgrenzungen zwischen beiden näher zu bestimmen. Hierzu faßte G. F. Šeršenevic188 die Ansichten zu zwei zentralen zusammen. Dieser Wissenschaftler meinte, daß diese Abgrenzung bei einer Gruppe von Autoren „auf Vermögensmomenten“, bei einer anderen Gruppe auf davon abweichenden „formalen Momenten“ beruhe. Die erste Gruppe der Wissenschaftler machte die Nichtübereinstimmung der ,Interessen‘ zur Grundlage (das private Interesse wurde dem öffentlichen Interesse gegenübergestellt!), die zweite Gruppe verwendete nicht den Gegenstand, sondern die Art und Weise des Schutzes als Kriterium. Im letzten Fall nahm man an, daß im Hinblick auf das öffentliche Recht die Schutzinitiative vom Staat ausgehen und unabhängig, eventuell auch entgegen die Interessen des Geschädigten erfolgen solle. Inzwischen geht diese Initiative im Hinblick auf das Privatrecht unbedingt vom Geschädigten aus. aa) Šeršenevic vertrat die erste Ansicht. Dementsprechend kam er zu dem Ergebnis, daß „das Zivilrecht die Gesamtheit der Normen ist, die die Privatverhältnisse einzelner Personen in der Gesellschaft bestimmen. Folglich wird der Bereich des Zivilrechtes durch zwei Tatsachen bestimmt: (1) Privatpersonen als Subjekte der Verhältnisse, (2) Privatinteresse als Inhalt der Verhältnisse“. bb) In der zivilistischen Literatur des vorrevolutionären Rußlands herrschte die Idee des ,Monismus‘, nämlich der Einheitlichkeit des Zivilrechts und des Handelsrechts (Unternehmensrecht, Geschäftsrecht). Demgemäß verwendeten die Anhänger dieser Idee die Begriffe ,Zivilrecht‘ und ,Privatrecht‘ synonymisch. Einer ihrer konsequentesten Anhänger war Šeršenevic, der unter anderem das öffentliche Han188

Ebd.

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delsrecht, das die Verhältnisse zwischen dem Staat und den Kaufleuten regelte, und das Privatrecht, dessen Gegenstand Verhältnisse zwischen Privatpersonen in bezug auf den Handel waren, streng differenzierte. Nach Meinung von Šeršenevic ist das Handelsrecht „nicht mehr als eine monographische Ausarbeitung des Bereiches des Zivilrechtes, die durch praktisches Interesse hervorgerufen“ wird. Dementsprechend wandte er sich scharf gegen diejenigen, die das Handelsrecht für die Gesamtheit der nur in den Handelsbeziehungen verwendeten Normen hielten (Šeršenevic selbst nannte namentlich nur einen russischen Autor: A. F. Fedorov). Derartige Normen, machte Šeršenevic geltend, „reichen durchaus nicht, und sie sind zu fragmentarisch, um daraus etwas Einheitliches zu schaffen“. Diese Einstellung zum Handelsgeschäft findet sich in der französischen Gesetzgebung in § 109, den das französische Handelsgesetzbuch diesem wichtigsten Handelsgeschäft widmet. e) Unter dem Einfluß dieser Einsichten basierte die Entwicklung des Entwurfs des ersten Zivilrechts in Rußland, des Zivilgesetzbuches, die noch im letzen Viertel des XIX. Jahrhunderts begann, auf der monistischen Idee. Im Unterschied zu Deutschland, Frankreich und einer Reihe anderer Länder, die zwei parallel geltenden Gesetzbücher – das Zivilgesetzbuch und das Handelsgesetzbuch – besaßen und behielten, wurde der vorbereitete Entwurf des Zivilgesetzbuches, einschließlich des letzten Entwurfes, der 1913 bei der Staatsduma eingereicht wurde, im Hinblick auf die Regelung der Zivilverhältnisse in umfassendem Sinne vorbereitet. Im Ergebnis erwies sich, daß die absolute Mehrheit der Normen dieses Entwurfes in gleichem Maße nur in bezug auf die Verhältnisse angewandt werden konnte, die sich sowohl mit Teilnahme als auch ohne Teilnahme von Unternehmern bilden. Der Entwurf des Zivilgesetzbuches umfaßte nicht wenige Normen, die von vornherein gerade auf Unternehmer abzielten. So enthielt zum Beispiel eines der Hauptkapitel des Entwurfes (es handelt sich um das 5. Buch des Zivilgesetzbuches unter dem Titel „Obligationsrecht“) nicht wenige Abschnitte, die speziell den Verträgen gewidmet wurden, bei denen die Unternehmer wenigstens als eine der Vertragsparteien auftraten: Frachtenbeförderung, Versicherung usw. Der Entwurf dieses Aktes enthielt die dem Rechtsstatus des Unternehmers gewidmeten Abschnitte einschließlich unterschiedlicher Gesellschaften, Genossenschaften, Arbeitsarten sowie einzelne Wertpapiergattungen. aa) Der Entwurf des Zivilgesetzbuches wurde nie verabschiedet. Die Verabschiedung wurde zuerst durch den Ersten Weltkrieg und dann durch die Oktoberrevolution verhindert. bb) Das erste Zivilgesetzbuch Rußlands erschien und galt unter Bedingungen, unter denen die Idee Ulpians über die Existenz zweier unterschiedlicher Rechtsbranchen – des öffentlichen und des privaten Rechtes – auf höchster Ebene und in höchst einschneidender Weise abgelehnt wurde. Gemeint ist hier die bekannte Äußerung von Lenin, daß „wir nichts Privates anerkennen, für uns sind alle Bereiche der Wirtschaft öffentlich-rechtlich und nicht privat“.189

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Erstaunlich erscheint demgegenüber der Mut von B. B. Cerepachin, der 1925 die Unterscheidung von ,öffentlichem und privatem Recht“ verteidigte, was er ,Drang‘ nannte. Im Gesetzbuch selbst fehlten direkte Hinweise darauf, was den Gegenstand des Zivilrechtes bildet. Das Gesetzbuch wiederholte nur den oben angeführten Artikel 1 der Ordnung des Zivilrechtsverfahrens (im Art. 2 des Gesetzbuches stand: „Die Rechtsstreitigkeiten über Zivilrecht werden auf gerichtlichem Wege geführt.“). Es wurde lediglich der Hinweis hinzugefügt, daß „Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden, Verhältnisse aus Einstellung von Arbeitskräften, und Familienverhältnisse durch spezielle Gesetzbücher geregelt werden“ (Art. 3). Die angeführte Norm schuf objektive Voraussetzungen für deren ungleiche Auslegung. Die in der Fachliteratur herrschende Ansicht schätzte die Bestimmung des Art. 3 als einen direkten Hinweis darauf ein, daß Bodenrecht, Arbeitsrecht und Familienrecht selbständige Bereiche sind wie auch das Zivilrecht. Und erst sehr viel später entstanden Bedenken in bezug auf das Familienrecht, die einzelne Autoren zu der festen Überzeugung führten: das Familienrecht ist ein Teil des Zivilrechts.190 cc) Erst der kategorische Verzicht auf Abgrenzung des öffentlichen und des privaten Rechts brachte die Notwendigkeit, die Verwendung des Gegenstandes nebst der Methode der Regelung zur Identifikation des Zivilrechts und anderer Rechtszweige zu nutzen. Die Kombination dieser beiden als unabhängig voneinander gesehenen Merkmale diente als Ausgangsbasis bei der Aussonderung von Zivilrecht, Bodenrecht und Familienrecht einerseits und von Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Finanzrecht, Strafrecht, Strafprozeßrecht und Zivilprozeßrecht andererseits.191 f) Unter dem Druck seitens des Staates verlor das Privatkapital allmählich seine Positionen. Die weitere Entwicklung des Landes führte dazu, daß das Privatunternehmertum endgültig aus dem Umsatz ausgeschlossen wurde. Im Ergebnis gehörten die meisten Produktionsfonds des Landes (bis zu 90%) dem Staat. Außer dem Staat übten nur Genossenschaftsbetriebe Produktionstätigkeiten und Handelsgewerbe aus. Die 1936 verabschiedete Verfassung nahm das Privateigentum in das Verzeichnis der zulässigen Eigentumsformen nicht auf. Dadurch wurde anerkannt, daß im Land außer den Genossenschaftsbetrieben nur ein ,Unternehmer‘ – der Staat selbst – existiert. Der eigentliche Zivilumsatz reduzierte sich im Großen und Ganzen auf die Verhältnisse der Organisationen, die in der Regel dem Staat gehörten, zwischen ihnen und den Bürgern. Eine direkte Folge der Vereinigung des Souveräns und des Eigentümers des Umsatzvermögens in einer Person bestand darin, daß eine Umsetzung des vertikalen, für das öffentliche Recht typischen Verhältnisses über die Verhältnisse, die ihrerseits zum Zivilrecht gehörten, erfolgte. Zur Bestätigung kann auf den Bereich der Vgl. dazu: Suchanov, Evgenij (Hrsg.), Grazdanskoe pravo [Zivilrecht], Moskau 2001. Suchanov, Evgenij, Grazdanskij kodeks v chosjajstvennoj praktike [Zivilgesetzbuch in der Wirtschaftspraxis], in: Chosjastvo i pravo [Wirtschaft und Recht] Nr. 5, 1997, S. 78 – 89. 191 Emeljanov, Vladimir, Predely osušcestvlenija grazdanskix prav [Grenzen der Verwirklichung von Zivilrechten], in: Russkaja Justicija [Russische Justiz] Nr. 6, 1999. 189 190

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Verträge hingewiesen werden. Der Gesetzgeber hat anerkannt, daß Grundlage des Vertrags der Plan sein sollte, der durch das übergeordnete Organ bestätigt werden sollte. Infolgedessen ergab sich die Notwendigkeit des Ersatzes des Gesetzbuches von 1922. g) Inzwischen verschärfte sich in der Fachliteratur die Konfrontation der Einsichten von Anhängern des ,Dualismus‘, d. h. der Anerkennung des Vorhandenseins von zwei selbständigen Rechtszweigen, des Zivilrechts sowie des Wirtschaftsrechts, und des ,Monismus‘, d. h. der Anerkennung der Einheit des Zivilrechts. aa) Die ersteren, die Anhänger des Dualismus, bildeten die sogenannte ,Schule des Wirtschaftsrechts‘. Die Vertreter dieser Schule meinten, daß planorganisatorische Verhältnisse zwischen Unternehmen und staatlichen Organen sowie Vermögensverhältnisse (Verhältnisse zwischen Unternehmen) eine ,untrennbare Einheit‘ bilden. Bezüglich der Verträge zwischen Unternehmen herrschte die feste Überzeugung, daß hier eine untrennbare Einheit von planorganisatorischen Elementen und Vermögenselementen entsteht, denn beide seien natürliche Bestandteile des einheitlichen Wirtschaftsverhältnisses. Die Anerkennung der ,Einheit‘ des vertikalen (Unternehmen mit dem übergeordneten Staatsorgan) und des horizontalen (zwischen bestehenden Unternehmen) Verhältnisses führte die Anhänger beider Ideen zu der Schlußfolgerung, es sei notwendig, neben dem Zivilgesetzbuch ein weiteres abgesondertes Gesetzbuch zu schaffen.192 bb) Die Vertreter der zweiten Schule (,Monisten‘), zu der vor allem die wichtigsten Zivilisten, wie S. H. Bratusj, W. P. Gribanov, O. S. Ioffe, G. K. Matveev, E. A. Fleinic, R. O. Halfin und ihre zahlreichen Anhänger gehörten,193 gingen aus von der Notwendigkeit einer strikten Abgrenzung vertikaler und horizontaler Verhältnisse und meinten, daß die Regelung dieser Verhältnisse zu unterschiedlichen Rechtszweigen, nämlich dem Verwaltungsrecht und dem Zivilrecht gehört. Daraus folgte die Herausbildung eines einheitlichen Zivilgesetzbuches, das berufen war, ausschließlich die horizontalen Verhältnisse, d. h. die auf Grundsätzen der Gleichheit beruhenden Verhältnisse zu regeln, unabhängig davon, ob daran Bürger oder Unternehmen teilnehmen. Beim Vergleich dieser beiden Richtungen kann man zu dem Schluß gelangen, daß die Anhänger einer Richtung, die sich auf das Vorhandensein eines planwirtschaftlichen Kommando-Systems stützten, auf Verbesserung der beiden rechtlichen Konstruktionen zielten. Die Anhänger der zweiten – zivilistischen – Richtung strebten danach, traditionelle zivilrechtliche Verhältnisse wieder ins Leben zu rufen, hauptsächlich im Hinblick auf die Verhältnisse, die als ,unternehmerisch‘ bezeichnet werden können.

Suchanov (FN 190). Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung von: Makovskij, A., Zivilrecht des modernen Rußlands, Moskau 2008, S. 46 – 54. 192 193

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2. Zivilgesetzbuch – Gesetzesnovellen des ZGB 1994 Das geltende Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation wurde zu einer Zeit vorbereitet und verabschiedet, in der ein endgültiger Verzicht auf ideologische Einschränkungen, darunter auch im Hinblick auf Aufteilung des Rechtes in öffentliches und privates Recht stattfand. Nicht zufällig wurde die Idee eines privaten Rechts gerade zu dieser Zeit mit Nachdruck ins Leben gerufen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Reden von S. S. Alekseev, und daraufhin von V. V. Vitrjanskij, G. D. Golubov, Ju. H. Kalmykov, A. L. Makovskij, W. A. Dosorcev, E. A. Suchanov, S. A. Chochlov, W. F. Jakovlev u. a.194 Damit wurde in organisatorischer Hinsicht die Bildung eines Forschungszentrums für Privatrecht verbunden, das die Arbeiten zur Entwicklung des Zivilgesetzbuches leitete. Das alles erlaubte es, als Ausgangspunkt der dritten Kodifizierung des Zivilrechtes im nachrevolutionären Rußland das anzuerkennen, was der „Hauptaspekt des Verhältnisses des Zivilgesetzbuches, der Zivilgesetzgebung und des Staates war, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht“. Unter diesen Bedingungen entstand auch das Bedürfnis nach neuen Lösungen vieler Fragen des Zivilrechts. Darunter nahm das Problem des Gegenstandes des Zivilrechts den Vorrang ein. Das Gesetzbuch selbst regelte die Frage nach der Wirkung des Zivilrechts. Dabei dienen einige der einschlägigen Normen zur Bestimmung von Besonderheiten der durch den jeweiligen Bereich geregelten Verhältnisse, die anderen beziehen sich auf die Art und Weise der Regelung.195 Unter den Novellierungen des ZGB muß vor allem die Regulierung hervorgehoben werden, die den unveräußerlichen Rechten und Freiheiten des Menschen und anderen immateriellen Werten gewidmet ist. Letztere werden nach Punkt 2 Art. 2 durch die Zivilgesetzgebung geschützt. In dieser Formulierung sind zwei Momente hervorzuheben. Der erste Moment ist damit verbunden, daß derartige Werte nur in den Fällen geschützt werden, sofern aus ihrem Wesen nichts anderes resultiert. Dieser Hinweis stimmt überein mit Punkt 1 Art. 2 ZGB. Auch die Vermögens- und damit verbundenen nichtvermögensrechtlichen Verhältnisse werden ebenso als „durch Zivilrecht geregelt“ bezeichnet, wenn nichts anderes aus ihrem Wesen resultiert. Ein anderer Fall ist die Spezifikation der persönlichen nichtvermögensrechtlichen Werte im ZGB, die nur durch das Zivilrecht geschützt werden. In dieser Frage obsiegte der Standpunkt von S. H. Bratusj, der meinte, daß „das Verhältnis zum Schutz von Würde, Urheberschaft, Name eng mit den Vermögensverhältnissen verbunden ist“.196 Im Ergebnis kann man – gestützt auf die Grundsätze des Rechtssystems – zu dem Schluß gelangen, daß das Zivilrecht sowohl vermögens- als auch nichtvermögensrechtliche Verhältnisse regeln kann. Freilich kann der Regelungs194 195 196

Ebd. Suchanov (FN 190), S. 79 ff. Makovskij (FN 193), S. 95.

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gegenstand allein nicht als Klassifizierungsmerkmal der Zuordnung zu einem der großen Rechtsgebiete gelten. Unter den Normen, die den Umfang der durch das Zivilrecht geregelten Verhältnisse bestimmen, hat der Punkt 1 Art. 2 ZGB Vorrang. Diese Norm enthält die Charakteristik des Hauptgegenstandes der Regelung des Zivilrechts – der vermögens- und nichtvermögensrechtlicher Verhältnisse, von denen schon die Rede war. Zugleich weist dieser Punkt (wenn man im Auge behält, daß solche Verhältnisse auch durch Rechtszweige geregelt werden können, die zu den öffentlichen gezählt werden) auf drei Merkmale der durch Zivilgesetzgebung geregelten Verhältnisse hin, nämlich: (i) Gleichheit, (ii) Willensautonomie und (iii) vermögensmäßige Selbständigkeit der Teilnehmer. Die durch die Zivilgesetzgebung geregelten Verhältnisse, vor allem die Vermögensverhältnisse beruhen auf diesen drei genannten Grundsätzen. Die zahlreichen Diskussionen über die Korrelation zwischen öffentlichem und privatem Recht ist zu entnehmen, daß viele der zu verschiedenen Zeiten angebotenen Kriterien zur Abgrenzung des privaten (bürgerlichen) und öffentlichen Rechts gar nicht im Stande sind, diese Rolle zu erfüllen. Insbesondere betrifft das solche Merkmale, wie ,Subjekte des Rechtsverhältnisses‘. Es genügt hier, darauf hinzuweisen, daß nach Art. 124 ZGB Teilnehmer des Zivilrechtsverhältnisses neben natürlichen und juristischen Personen auch die Russische Föderation selbst, Subjekte der Russischen Föderation und munizipale Einrichtungen sein können. In diesem Zusammenhang verliert die Verwendung sowohl des Gegenstandes als auch der Methode als Mittel zur Charakterisierung des Zivilrechts an Bedeutung. Nach dem geltenden ZGB wird alles auf eine das Zivilrechtsverhältnis konstituierende Besonderheit reduziert: auf die Methode der Regelung. Es erscheint angebracht, sich den Schlußfolgerungen anzuschließen, die B. B. Cerepachin197 als Ergebnis in seiner Studie gezogen hat: „Die Grundlage der Aufteilung des Rechts in Privatrecht und Zivilrecht muß ein formales Kriterium der Aufteilung sein. Diese Aufteilung ist je nach Art und Regelung der Rechtsverhältnisse, der Systeme von Privatrecht und Zivilrecht zu ziehen. Das privatrechtliche Verhältnis basiert auf Prinzipien der Koordination von Subjekten, das private Recht stellt das System der dezentralisierten Regelung der Lebensverhältnisse dar. Das öffentlich-rechtliche Verhältnis basiert auf Prinzipien der Unterordnung von Subjekten, das öffentliche Recht stellt das System der zentralisierten Regelung der Lebensverhältnisse dar.“ Diese Grundlegung schließt allerdings das Eindringen von Normen des Privatrechts in die Verhältnisse nicht aus, die ihrem Charakter nach öffentlich-rechtlich sind. Ein Hinweis darauf ergibt sich aus Punkt 3 Art. 2 ZGB, der die Anwendung der Normen der Zivilgesetzgebung auf „Vermögensverhältnisse vorsieht, die auf administrativer oder anderer Unterordnung einer Seite gegenüber der anderen be197

Makovskij (FN 193), S. 111.

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ruht“. Hierzu bedarf es eines ausführlichen gesetzgeberischen Hinweises. Diese Funktion erfüllt das Gesetzbuch selbst. So werden beispielsweise kraft Art. 16 und Art. 1069 ZGB auf Gewaltverhältnisse, die durch Verabschiedung rechtswidriger Akte oder sonstiger Machthandlungen eines Organs (bzw. durch dessen Amtswalter) Schäden verursacht haben, die Normen über zivilrechtliches Delikt angewendet. Ein anderes Beispiel ist Art. 13 ZGB, der nicht nur den Grundlagen und der Ordnung, sondern auch den Auswirkungen (und zwar den Auswirkungen mit zivilrechtem Charakter) bei der Ungültigkeitserklärung von Akten staatlicher Organe oder Organe der örtlichen Selbstverwaltung gewidmet ist. Zu beachten ist dabei, daß die Rückwirkung von den auf die Gewaltverhältnisse gerichteten Normen, d. h. Normen des öffentlichen Rechtes, auf zivilrechtliche (privatrechtliche) Verhältnisse im Prinzip ausgeschlossen ist. In diesem Zusammenhang sollte man darauf hinweisen, daß im Gesetzbuch selbst einzelne Normen mit öffentlichrechtlichem Charakter enthalten sind. Als Beispiel können die Bestimmungen des ZGB angeführt werden, die sich auf unterschiedliche Registrierungsarten beziehen. In allen diesen Fällen, in denen es sich beispielsweise um Registrierung von Zivilstandsakten (Art. 47), um staatliche Registrierung juristischer Personen (Art. 51), um staatliche Registrierung des Besitztums (Art. 131) regeln diese Normen (obgleich sie im Gesetzbuch enthalten sind) die Verhältnisse zwischen den Teilnehmern an zivilrechtlichen Kommunikationen und den jeweiligen Organen, die in diesen Verhältnissen ihre Machtfunktionen ausüben. Die Wesensfremdheit der traditionell in den Gesetzbüchern dargestellten Normen, die durch juristisch-technische Aspekte bedingt ist, wird schon dadurch bestätigt, daß die durch diese Normen geregelten Verhältnisse außerhalb der Rechtswirkungen des allgemeinen Teils des ZGB liegen.198

3. Aktuelle Tendenzen der Entwicklung und Ausdifferenzierung von Rechtsbereichen a) Für die inländische Wirtschaft stellte sich das Problem des Verhältnisses zwischen privatem und öffentlichem Recht immer sehr pointiert. Der Gegenstandsbereich des Privatrechts als der eines Bereichs, der grundsätzlich vor willkürlichen Eingriffen des Staates zu bewahren, fehlten in der Geschichte Rußlands fast völlig. Noch Ende des XVII. und Anfang des XVIII. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, in der sich in den westeuropäischen Staaten eine privatkapitalistische Wirtschaft entwickelte, war der russische Zar berechtigt, nach Belieben Vermögensbestandteile jedes Untertanen zu entziehen (wie das zum Beispiel Peter I. machte, indem er Geld für die Kriegführung verlangte). Erst in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts gestattete Katharina II. dem Adel das Sonderprivileg eines Privateigen198 Komissarova, Elena, Ob osnovnych nacalach grazdanskogo zakonadatel’stva [Grundlagen der zivilrechtlichen Gesetzgebung], in: Zurnal rossijskogo prava [Zeitschrift des russischen Rechts], Nr. 5, Mai 2001.

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tums, das nicht Gegenstand einer willkürlichen Beschlagnahme zugunsten des Staates oder einer anderen Belastung „im fiskalischen Interesse“ werden durfte. Für alle anderen Schichten wurde diese Vermögensregelung rechtlich erst nach den Reformen Alexanders II., d. h. in der zweiten Hälfte der 60er Jahre des XIX. Jahrhunderts möglich, und existierte nur bis 1918 bzw. 1922, d. h. nur 50 Jahre. Das war eine für die russische Geschichte einzigartige, aber sehr kurze Zeit der Anerkennung und Existenz des Privatrechts. Da in Rußland die Grundsätze des Privatrechts weder davor noch danach existierten, war der Staat daran gewöhnt, bedenkenlos, willkürlich und uneingeschränkt in die Vermögenssphäre einzugreifen. Erst in den letzten Jahren wurden zum Beispiel das ,Einfrieren‘ von Währungskonten juristischer Personen, das Verbot für Bürger, mehr als 500 Rubel von den Sparkassenkonten (mit jeweiligem Vermerk im Personalausweis) abzuheben, die Forderung, versandte Waren, erstellte Leistungen oder erbrachte Dienstleistungen innerhalb von drei Monaten abzurechnen (diese Regelung richtet sich an formal anerkannte Privateigentümer!) und viele andere ähnliche Maßnahmen festgelegt. b) Das sowjetische Zivilrecht entfaltete sich unter den Umständen der Herrschaft eines bekannten Grundsatzes von Lenin gemäß der Voraussetzung, daß wir „nichts ,Privates‘“ akzeptieren und daß für uns alles auch im Bereich der Wirtschaft „öffentlichrechtlich“ und nicht privatrechtlich ist.199 Dieses Herangehen führte in der Wirtschaft zur Vorherrschaft der strengen zentralisierten Grundsätze, die beispielsweise die Kategorie von ,planwirtschaftlichen‘ Verträgen bestimmten. Der Inhalt dieser Verträge richtete sich nicht nach dem Willen und den Interessen der Teilnehmer, sondern wurde durch Planungsorgane bestimmt, die beschließen, wer, mit wem und zu welchen Bedingungen einen konkreten Vertrag schließen darf. Aber auch dabei war die Bestimmung einiger Bedingungen notgedrungen der jeweils anderen den Seite überlassen, und die Verträge, an denen sich Bürger beteiligten, standen deshalb gewöhnlich unter indirektem und nicht direktem Einfluß des Planes (außer dem System der Warenzuteilung nach Karten). Die Basis für eine zivilrechtliche Regelung blieb erhalten, aber der Inhalt dieser Regelung wurde wesentlich verändert, und man gab sich Mühe, die privatrechtliche Terminologie nicht mehr zu verwenden. c) Eine Reihe von privatrechtlichen Prinzipien wurde formal durch die Gesetzgebung festgelegt. Das Zivilgesetzbuch Rußlands aus dem Jahre 1994 enthält in Punkt 1 Art. 1 zum ersten Mal in der Gesetzgebung die wichtigsten Grundsätze des Privatrechts. aa) Zu den Besonderheiten des Systems des russischen Rechts gehören seine Vielfältigkeit und Differenzierung in zahlreiche selbständige Rechtsbereiche unter prinzipiellem Verzicht auf deren traditionelle Aufteilung in öffentliches Recht und 199 Lenin im Brief an den Volkskommissar für Justiz, D. I. Kurskij, vom 20. 2. 1922, in: Lenin, Vladimir I., Gesamtwerk, Bd. 44, Moskau 1977, S. 398.

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privates Recht. Dieses Herangehen hat sowohl seine Vorteile, aber auch seine Nachteile. bb) Zu den Vorteilen könnte die Möglichkeit einer maximalen Berücksichtigung der Besonderheiten unterschiedlicher Arten von gesellschaftlichen, durch das Recht geregelten Verhältnissen, die Konkretheit und die Verzweigtheit ihrer Reglementierung gezählt werden. In der Praxis sind hier jedoch die Kompliziertheit und mangelnde Handhabbarkeit des Systems sowie die Notwendigkeit der nachhaltigen gegenseitigen Abstimmung und Abgrenzung von Rechtskomplexen unvermeidlich. Daher wird auf der Basis des Privatrechts eine Gruppe unterschiedlicher Rechtszweige mit ,zivilrechtlichem Profil‘ gebildet, die die Vermögensverhältnisse einigermaßen regeln. Diese Gruppe zeichnet sich durch bestimmte Gemeinsamkeiten aus, die sich allerdings einer formalen Festlegung entziehen. Im Ergebnis sind nicht immer einheitliche Regelungsweisen für die vielen Grenz-, Übergangssituationen vorhanden. In den dem Zivilrecht angrenzenden Rechtszweigen bleibt häufig das Bedürfnis nach einheitlicher, koordinierter Einwirkung auf die zu regelnden Verhältnisse unbefriedigt. Die Lösung dieser Probleme wird oftmals in der Begründung unterschiedlicher neuer ,komplexer‘, ,sekundärer‘ und sonstiger Rechtszweige neben den wichtigsten, allgemein anerkannten Rechtszweigen gesucht. Gleichzeitig versucht man jedoch die Einheitlichkeit des Rechtssystems zu erhalten. cc) Vom sozialwirtschaftlichen Standpunkt aus müssen sich innere Übereinstimmung und Einheitlichkeit des Rechts auf lange Sicht auf die Vielfältigkeit der Eigentumsformen und die Einheitlichkeit ihrer Ordnung stützen; ferner auf die durch wirtschaftliche Verfahren vorzüglich zu regelnden Markt-, Handels- und monetären Verhältnisse zwischen den Teilnehmern des ökonomischen Kreislaufes sowie auf die Entwicklung der Freiheit der unternehmerischen Tätigkeit innerhalb der durch das Gesetz nicht untersagten Grenzen. Vom politischen Standpunkt aus hat das System des einheimischen Rechts den Organisationsprinzipien der Föderation sowie der wachsenden Bedeutung der Republiken, Regionen und der Organe der örtlichen Selbstverwaltung bei der Verwaltung aller Sphären in der Gesellschaft zu entsprechen. d) Vom rechtlichen Standpunkt aus bestimmen sich die innere Übereinstimmung und Einheitlichkeit des Rechtssystems durch die Einheitlichkeit der Rechtsprinzipien, die das Wesen des Rechts zum Ausdruck bringen. Sie sind in neuen Verfassungs- und anderen grundlegenden Akten festzulegen, die im Rahmen der Befugnisse der legislativen Organe erlassen werden, sowie durch die Einheitlichkeit der Kriterien, die der Abgrenzung der Rechtszweige zugrunde gelegt werden und die funktionalen Besonderheiten jedes dieser Subsysteme bestimmen. aa) Die Erfahrungen der Gesetzgebung in Rußland wie im Ausland zeugen davon, daß die am meisten akzeptierten Kriterien der Differenzierung der Rechtszweige schon vorher vorhanden waren und erhalten bleiben sollen: erstens ist das

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der Gegenstand rechtlicher Regelung, d. h. der Bereich der gesellschaftlichen Verhältnisse einer bestimmten Art, die durch diesen Rechtszweig geregelt werden; zweitens ist das die Methode der rechtlichen Regelung, d. h. die jeweilige Gesamtheit von Maßnahmen, Mitteln sowie der Art und Weise, mit deren Hilfe dieser Rechtszweig auf die von ihm geregelten gesellschaftlichen Verhältnisse einwirkt. Dabei entspricht das Verfahren rechtlicher Regelung sehr weitgehend dem Charakter der zu regelnden Verhältnisse; drittens sind das die Funktionen dieses Rechtszweiges, d. h. die spezifischen Aufgaben, die dieser Rechtszweig im allgemeinen Rechtssystem zu lösen hat. Die funktionale Abgrenzung der Rechtszweige verleiht der Rechtsordnung die Eigenschaft eines einheitlichen Systems und gewährleistet eine umfassende Regelung der vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die in dieser Gesellschaft entstehen.200 Das Zivilrecht nimmt den zentralen Platz unter den die Vermögensverhältnisse regelnden Rechtszweigen ein. Die führende Rolle des Zivilrechts zeigt sich zum Beispiel an der Tatsache, daß gerade im Falle von Lücken in der jeweiligen speziellen Gesetzgebung die Normen des Zivilrechts auf die Familien-, Arbeits-, Naturressourcen- und Naturschutzverhältnisse angewendet werden. bb) Unter den Bedingungen der Änderung der Produktionsverhältnisse, der Entwicklung der vielfältigen Eigentumsformen und der unterschiedlichen Wirtschaftsformen umfassenden Marktwirtschaft wächst die Rolle des Zivilrechts, denn der Funktions- und Wirkungsbereich des Zivilrechts weitet sich aus, das Bedürfnis nach einem zivilrechtlichen Instrumentarium zur Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse wächst, und dieses Instrumentarium beruht auf der Gleichberechtigung der unabhängigen Teilnehmer an der Kommunikation von Recht. Die Notwendigkeit der Ausarbeitung der Normen, die auf die Aufrechterhaltung des individuellen und kollektiven Unternehmertums, auf den Kampf gegen Monopolstellung einzelner Warenproduzenten gerichtet sind, ist offensichtlich. Das alles zeugt von der Steigerung des sozialen Wertes des Zivilrechts als eines der effizientesten Reglers der sich herausbildenden Marktverhältnisse. e) Zugleich verlangen die Bedürfnisse einer professionellen unternehmerischen Tätigkeit nach besonderen gesetzlichen Regeln, die die Eigenart des kommerziellen Verkehrs zwischen Geschäftsleuten einerseits und zwischen Geschäftsleuten und Verbrauchern andererseits in Betracht ziehen. aa) Diese Regelung wurde zur Basis für die bekannte Differenzierung zwischen dem Handelsrecht (Geschäftsrecht) und dem Zivilrecht. Aber dieser ,Dualismus‘ der Regelung der Vermögensverhältnisse führt nicht, wie ausländische Erfahrungen zeigen, zu ihrer vollständigen Spaltung; umgekehrt stärkt ihre starke Wechselwirkung (besonders die Wirkung des Handelsrechts auf das Zivilrecht, die unter der Bezeichnung ,Kommerzialisierung‘ des Zivilrechtes bekannt ist) die Grundlage für das an sich und in seinen Grundlagen einheitliche Zivilrecht (Privatrecht).201 200 201

Suchanov (FN 189), S. 79 ff. Vgl. ebd.

IV. Genese und Geltungsgrundlagen des russischen Zivilrechtssystems

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bb) Das Zivilrecht bildet die Grundlage der privatrechtlichen Regelungen. Dadurch wird sein Platz im Rechtssystem in bezug auf den grundlegenden basalen Rechtszweig bestimmt, der für die Regelung von Privat-, vor allem von Vermögensverhältnissen bestimmt ist. Daraus folgt, daß die allgemeinen Normen und Prinzipien des Zivilrechts zur Regelung beliebiger Verhältnisse angewendet werden können, die zum privatrechtlichen Bereich gehören, wenn in diesem Bereich direkte Verordnungen der Sondergesetzgebung (d. h. in der subsidiären Ordnung) fehlen. Das betrifft vor allem den Bereich des Familienrechts, in dem diese Bestimmung eine direkte gesetzgeberische Festlegung (Art. 4 Familiengesetzbuch der Russischen Föderation) erfuhr,202 aber auch die privatrechtlichen Verhältnisse, die im Arbeitsrecht und im Umweltrecht angeschnitten werden. Darauf basieren Versuche der Gerichtspraxis, zivilrechtliche Normen auf Ersatz von immateriellen Schäden in den Verhältnissen zu nutzen, die bei gegenstandsloser Kündigung oder Änderung des Arbeitsvertrages entstehen. Dagegen können unter keinen Umständen die Normen des Arbeitsrechts oder zum Beispiel des Familienrechts zur Ausfüllung von Lücken im Bereich der zivilrechtlichen Regelung angewendet werden. cc) Zur Zeit erfolgt eine gewisse Ausweitung des Wirkungsbereichs des Zivilrechts. So gehört zum Bereich des Zivilrechts jetzt eine Reihe der Verhältnisse einer Bodennutzung und Naturnutzung, die ihre wirtschaftliche und rechtliche Natur mit der Anerkennung des privaten Eigentumsrechts an bestimmten Grundstücke und anderen Naturobjekten geändert haben. Die zivilrechtlichen Grundlagen dringen mehr und mehr den Bereich der Familienverhältnisse ein. Die gegenseitigen Verhältnisse eines individuellen Geschäftsführers mit der ihn einstellenden Gesellschaft (zum Beispiel mit einer Aktiengesellschaft) bilden sich nach den Normen der Aktien- (Zivil-)Gesetzgebung, und nicht nach den Normen der Arbeitsgesetzgebung. Demgemäß nimmt das Zivilrecht den zentralen Platz, den Schlüsselplatz im privatrechtlichen Bereich und insgesamt in der Reglementierung der meisten vermögens- und vieler nichtvermögensrechtlicher Verhältnisse ein. Ein indirekter Hinweis darauf sind auch verbreitete Versuche einer Anwendung der zivilrechtlichen Normen auf die Vermögensverhältnisse, die zum Gegenstand des öffentlichen und nicht des Privatrechtes gehören. f) Die wichtigsten, allgemein anerkannten Kriterien der Eigenständigkeit von Rechtszweigen sind das Vorhandensein eines selbständigen Gegenstandes rechtlicher Regelung, d. h. eines besonderen Bereichs der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie und der Methode der rechtlichen Regelung. Als zusätzliche Kriterien werden das Vorhandensein der besonderen, selbständigen Funktionen der Rechtszweige angegeben, was mit deren Lage als Element des allgemeinen Rechtssystems, der Allgemeinen Bedingungen (des Allgemeinen Teils) verbunden ist, die von der rechtlichen Homogenität der den Bereich bildenden Rechtsinstitute und Normen 202 Familiengesetzbuch der Russischen Föderation vom 29. Dezember 1995 Nr. 223 FG / Russische Zeitung 27. Januar 1996 Nr. 17 mit Änderungen vom 29. Dezember Nr. 258 FG.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

zeugt. Das Zivilrecht entspricht als ein selbständiger Rechtszweig in vollem Maße allen aufgezählten Kriterien. Zur Zeit erfolgt eine bestimmte Ausweitung des Wirkungsbereiches des Zivilrechts. So gehört zum Bereich des Zivilrechts jetzt eine Reihe der Verhältnisse der Bodennutzung und Naturnutzung, die ihre wirtschaftliche und rechtliche Natur im Zusammenhang mit Anerkennung des Privateigentumsrechts an bestimmten Grundstücken und anderen Naturobjekten geändert haben. Die zivilrechtlichen Grundlagen dringen mehr und mehr in den Bereich der Familienverhältnisse ein. Die gegenseitigen Verhältnisse eines individuellen Geschäftsführers mit der ihn einstellenden Gesellschaft (zum Beispiel mit einer Aktiengesellschaft) bilden sich nach den Normen der Aktien- (Zivilgesetzgebung), und nicht nach den Normen der Arbeitsgesetzgebung. Das alles zeugt von der Steigerung des sozialen Wertes des Zivilrechts als eines der effizientesten Reglers der sich herausbildenden Marktverhältnisse.

4. Gegenstand des Zivilrechts und sozietale Entwicklung Aus der Rechtstheorie ist bekannt, daß das Recht der Russischen Föderation ein bestimmtes System bildet, dessen bedeutendste Glieder als Rechtszweige bezeichnet werden. Als Kriterien der Abgrenzung der Rechtszweige werden gewöhnlich Gegenstand und Methode der rechtlichen Regelung verwendet. Mittels Gegenstand und Methode kann nicht nur das Zivilrecht im einheitlichen System des russischen Rechts identifiziert, sondern auch seine Besonderheiten festgestellt werden, die hinreichend sind, eine klare Vorstellung über Zivilrecht gebildet wird. a) Wie andere Rechtsbereiche besteht das Zivilrecht aus den Rechtsnormen, welche die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse regeln. Ist deswegen der Begriff des Gegenstandes mit der Frage danach verbunden, welche gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Normen des Zivilrechts geregelt werden? Ohne Antwort auf diese Frage ist es schwer zu verstehen, was das Zivilrecht Rußlands eigentlich ist. Aber die Antwort auf diese Frage ist nicht so einfach, wie das auf den ersten Blick erscheinen mag. Tatsache ist, daß der Kreis der gesellschaftlichen Verhältnisse, die durch das Zivilrecht geregelt werden, ungewöhnlich breit ist. Die Bürger und Organisationen, die eine unternehmerische Tätigkeit ausüben, gehen ständig gesellschaftliche Beziehungen ein, die durch die Normen des Zivilrechtes geregelt werden. Auch die Bürger begründen in ihrem Alltagsleben soziale Beziehungen, indem sie Dienstleistungen unterschiedlicher Organisationen in Anspruch nehmen, d. h. auch sie gehen gesellschaftliche Verhältnisse ein, die durch das Zivilrecht geregelt werden. Fährt man mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit, so geht man mit einer Transportgesellschaft ein Verhältnis ein, das durch die Normen des Zivilrechts geregelt wird. Legt man in einer Garderobe einer Organisation den Mantel ab, so wird man damit zum Teilnehmer eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das durch die Normen des Zivilrechts geregelt wird. Kauft man notwendige

IV. Genese und Geltungsgrundlagen des russischen Zivilrechtssystems

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Nahrungsmittel oder Industriewaren in einem Warenhaus, so nimmt man an den gesellschaftlichen Verhältnissen teil, auf die sich die Normen des Zivilrechts erstrecken. Die Normen des Zivilrechts beziehen sich auch auf die Verhältnisse, die zwischen den Bürgern entstehen (zum Beispiel beim Abschluß eines Darlehensvertrags, eines Mietvertrags, eines Schenkungsvertrags und anderer durch das Gesetz nicht untersagter Verträge). Das Zivilrecht regelt ferner die Verhältnisse, die durch die Verbreitung von nicht wirklichkeitsgetreuen, wahrheitswidrigen Informationen über den Bürger entstehen, welche seine Ehre, Würde oder geschäftliche Reputation verletzen. aa) Aber nicht alle Verhältnisse, an denen Bürger teilnehmen, werden durch das Zivilrecht geregelt. Indem man Abgeordnete wählt, werden diese Bürger zu Teilnehmern von gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch das staatliche Recht und nicht durch das Zivilrecht geregelt werden. Andererseits erstreckt sich die Wirkung des Zivilrechts auch auf solche gesellschaftlichen Verhältnisse, an denen die Bürger überhaupt nicht teilnehmen. So regeln die Normen des Zivilrechts die Verhältnisse zwischen den Organisationen (juristischen Personen), die im Prozeß der Produktion von Waren entstehen, deren Beförderung im Eisenbahn-, Hochseeschiffs-, Fluß- und Luftverkehr sicherstellen, im Prozeß der Versicherung von Frachten, der Rechnungsführung für gelieferte Produkte tätig sind. Das Zivilrecht regelt auch die Verhältnisse, die unter Teilnahme der Russischen Föderation von sonstigen Subjekten der Russischen Föderation und von munizipalen Institutionen entstehen, zum Beispiel im Falle der Vererbung des Vermögens von Bürgern an den Staat. bb) Der Bereich der durch das Zivilrecht geregelten gesellschaftlichen Verhältnisse ist so groß und vielfältig, daß es im Prinzip nicht möglich ist, ein vollständiges Verzeichnis zu geben. Das ist auch nicht notwendig. Aufgabe der Zivilrechtswissenschaft ist nicht eine Aufzählung (mit maximaler Genauigkeit und Sorgfalt operierende) aller durch das Zivilrecht geregelten gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die Aufdeckung derjenigen Eigenschaften, die es erlauben, sie konstruktiv Gegenstand eines und desselben Rechtsbereichs zu verbinden. Dieser Rechtsbereich wird Zivilrecht genannt.203 Ganz in diesem Sinne spricht Artikel 2. von den durch die Zivilgesetzgebung geregelten Verhältnissen. b) Die Zivilgesetzgebung bestimmt die Rechtslage der Teilnehmer der zivilrechtlichen Verkehrs, die Grundlagen der Entstehung und Ordnung einer Geltendmachung des Eigentumsrechtes und anderer Sachenrechte, die Rechte an den Ergebnissen der intellektuellen Tätigkeit (geistiges Eigentum); sie regelt Vertragsund sonstige Verpflichtungen sowie andere vermögens- und damit verbundene nichtvermögensrechtliche persönliche Verhältnisse, die auf Gleichheit, Willensautonomie und vermögensmäßiger Selbständigkeit ihrer Teilnehmer beruhen. aa) Die Teilnehmer der durch die Zivilgesetzgebung geregelten Verhältnisse sind Bürger und juristische Personen. An den durch die Zivilgesetzgebung gere203

Vgl. dazu: Sergeev, Aleksej / Tolstoj, Juri, Grazdanskoe pravo [Zivilrecht], Moskau 2003.

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

gelten Verhältnissen können auch die Russische Föderation, sonstige Subjekte der Russischen Föderation und munizipale Einrichtungen (Artikel 124) teilnehmen. bb) Die Zivilgesetzgebung regelt die Verhältnisse zwischen den eine unternehmerische Tätigkeit ausübenden Personen bzw. die Verhältnisse von Personen, die daran teilnehmen. Sie geht davon aus, daß als unternehmerisch selbständig jede auf eigenes Risiko auszuübende Tätigkeit gilt, die auf systematische Gewinnerzielung aus der Nutzung von Vermögen, aus Warenverkauf, der Ausführung von Arbeiten bzw. Erbringung von Leistungen durch die in dieser Eigenschaft gesetzmäßig angemeldeten Personen gerichtet ist. cc) Auf Vermögensverhältnisse, die auf administrativer oder sonstiger Unterordnung der einen Seite unter die andere beruhen, darunter auch auf Steuer- und sonstige Finanz- und Verwaltungsverhältnisse wird die Zivilgesetzgebung nicht angewendet, wenn nicht etwas anderes vorgesehen ist.“ c) Artikel 2 ZGB legt den Bereich des Verhältnisses fest, der Gegenstand des Zivilrechts ist, den Wirkungsbereich der Zivilgesetzgebung und ein lückenloses Verhältnis der Teilnehmer (Subjekte) der zivilrechtlichen Verhältnisse. Die Einbeziehung der unternehmerischen Verhältnisse in den Bereich der Zivilgesetzgebung (Punkt 1 Art. 2 ZGB) und ihre ausführliche Regelung in anderen Artikeln des ZGB schließt die Notwendigkeit der Verabschiedung eines besonderen Gesetzes über die unternehmerische Tätigkeit aus. aa) Das Zivilrecht hat es mit Vermögensverhältnissen zu tun. Unter den Vermögensverhältnissen werden gewöhnlich solche gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden, die aus der Verwendung von Sachen, Arbeiten, Dienstleistungen und sonstigem Vermögen im weiten Sinne dieses Wortes entstehen. Unter Vermögen werden im Zivilrecht nicht nur Sachen verstanden, die sich bei einer bestimmten Person befinden, sondern auch Forderungsrechte (zum Beispiel die Bargeldeinlage eines Bürgers bei einer Bank, die das Recht auf Rückforderung der Geldübergabe beinhaltet). Die Vermögensverhältnisse entstehen und bestehen immer im Zusammenhang mit dem Vorhandensein des Vermögens bei einer bestimmten Person bzw. im Zusammenhang mit dem Übergang des Vermögens von einer Person auf eine andere. Die Vermögensverhältnisse sind die Verhältnisse zwischen Menschen und bestimmten Kollektiven mit bezug auf das Vermögen. Die durch das Zivilrecht geregelten Vermögensverhältnisse sind zahlreich und vielfältig. Vom sozialwirtschaftlichen Standpunkt her stellen sie unterschiedliche Realisierungsformen der Eigentumsverhältnisse dar. Sie sind in einem ähnlich: das Zivilrecht bestimmt die Personen, die wirtschaftlich voneinander unabhängig und selbständige Wareneigentümer sind. Die Vielfältigkeit der Vermögensverhältnisse hängt ab von dem Charakter und dem Grad der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Teilnehmer am zivilrechtlichen Verkehr.204 204

Suchanov (FN 189), S. 79 ff.

IV. Genese und Geltungsgrundlagen des russischen Zivilrechtssystems

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bb) Das Zivilrecht regelt allerdings bei weitem nicht alle in unserer Gesellschaft entstehenden Vermögensverhältnisse, sondern nur einen bestimmten Teil derselben, die als Vermögens-Wert-Verhältnisse bezeichnet werden. Zu den VermögensWert-Verhältnissen gehören in erster Linie Ware-Geld-Verhältnisse. Zu beachten ist, daß das Zivilrecht auch solche Vermögensverhältnisse regelt, die nicht unmittelbar mit einem Geldumsatz verbunden sind und deswegen nicht als ,Ware-GeldVerhältnisse‘ anzusehen sind. Es geht zum Beispiel Warenaustausch, Schenkung usw. Diese Verhältnisse sind allerdings (wie auch Ware-Geld-Verhältnisse) durch ihren Kostencharakter gekennzeichnet. Demgemäß wäre es besser, diese zum Gegenstand des Zivilrechtes gehörenden Vermögensverhältnisse ,VermögensWert-Verhältnisse‘ zu nennen. Das sind diejenigen Verhältnisse, die einer Bewertung in Geld unterliegen, die mit einem entgeltlichem Warenaustausch und unterschiedlichen Arten von Dienstleistungen sowie der Schaffung und Nutzung des geistigen Eigentums verbunden sind. d) Unter den Bedingungen eines entwickelten Geldsystems bilden die WareGeld-Verhältnisse den Hauptumfang der Vermögens-Wert-Verhältnisse. Eine erfolgreiche Entwicklung der in unserer Gesellschaft objektiv existierenden WareGeld-Verhältnisse ist nur dann möglich, wenn sie in eine adäquate Rechtsform gebracht wird. Eine der Ursachen der früher vorhandenen Stagnation unserer Gesellschaft ist mit der Anwendung von administrativen Methoden bei der Regelung der Ware-Geld-Verhältnisse verbunden, weil die Ware-Geld-Verhältnisse dann eine ihnen fremde administrativ-rechtliche Form bekommen, die gar nicht zu diesen Verhältnissen paßt. Die jahrhundertelange Praxis rechtlicher Regelung hat gezeigt, daß für die normale Entwicklung der Ware-Geld-Verhältnisse die zivilrechtliche Form am vorteilhaftesten ist. Die Fertigung der für die Gesellschaft notwendigen Produkte kann auch auf administrativem Wege gestellt werden, indem man das Unternehmen veranlaßt seine Produkte entgegen seinen ökonomischen Interessen herzustellen. Die Praxis zeigte allerdings, daß dieser Weg weder zu Reichtum noch und zu einer Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse führt. Ein Unternehmen, das an der Herstellung bestimmter Produkte nicht interessiert ist, wird immer Gründe finden, warum es die administrativ verordnete Aufgabe nicht erfüllt hat. Eine ganz andere Situation entsteht hingegen, wenn die Fertigung der für die Gesellschaft notwendigen Produkte auf der Grundlage eines mit dem Unternehmen geschlossenen Vertrages erfolgt, der die ökonomischen Interessen des Unternehmens widerspiegelt und dessen Erfüllung dem Unternehmen die Befriedigung seiner Interessen sichert. Unter diesen Umständen wird das Unternehmen alles von ihm Abhängende tun, um die für die Gesellschaft notwendigen Produkte herzustellen, denn das entspricht auch seinen wirtschaftlichen Interessen. Dabei ist keine Anwendung irgendwelcher Zwangsmaßnahmen seitens des Staates notwendig. e) Das Zivilrecht unterscheidet sich von anderen Rechtszweigen dadurch, daß es über ein einheitliches, jahrhundertelang ausgearbeitetes rechtliches Instrumentarium verfügt, das die Organisation und Ordnung der gesellschaftlichen Produktion ohne unmittelbaren Kontakt mit der staatlichen Zwangsapparatur, durch und ohne Ein-

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2. Abschn.: Probleme und Denkansätze juristischer Methodik

wirkung auf die wirtschaftlichen Interessen der Teilnehmer der gesellschaftlichen Produktion gewährleistet. Punkt 3 Art. 2 ZGB schließt aus dem Bereich des Zivilrechts die Vermögensverhältnisse aus, die auf administrativer oder anderer Unterordnung der einen Seite unter die andere beruhen, darunter auch die durch Steuer-, Finanzrecht und administrative Gesetzgebung geregelten Verhältnisse, sofern die Gesetzgebung nicht anderes vorsieht. Der Übergang unseres Landes zur Marktwirtschaft führt ganz unvermeidlich zur Ausweitung des Bereichs der zivilrechtlichen Regelung der Vermögensverhältnisse, die sich in diversen Tätigkeitsbereichen bilden. Die zentralisierte Aufteilung der materielltechnischen Ressourcen, die administrativrechtlich erfolgte, wurde durch Börsen-, Groß- und sonstige Formen des Handels ersetzt, die durch die Normen des Zivilrechts geregelt werden. Die im administrativen Wege festgelegten Preise für erzeugte Waren und Gebrauchsgüter wurden durch Vertragspreise ersetzt, deren Festlegung in zivilrechtlichen Formen erfolgt. Die früher im administrativen Wege verteilten Wohnräume können in das Eigentum der Bürger übergehen. Die Rechte an diesen Wohnräumen werden durch die Bürger im Rahmen der zivilrechtlichen Verhältnisse wahrgenommen. Boden, Bodenschätze und andere Naturobjekte sind in den zivilrechtlichen Verkehr mit einbezogen und werden zu Objekten zivilrechtlicher Geschäfte. Das Zivilrecht ist ein notwendiges Element des sich selbst regulierenden wirtschaftlichen Mechanismus, der ,Markt‘ genannt wird. Deswegen werden, je nach Werdegang der Marktwirtschaft in Rußland, die Rolle und die Bedeutung des Zivilrechts im Leben der Gesellschaft stetig steigen.

Dritter Abschnitt

Interdependenzen zwischen dem russischen und dem westlichen Privatrecht I. Ausdifferenzierung des russischen Zivilrechts in neue Rechtsbereiche 1. Zivilrecht und Verwaltungsrecht Im russischen Rechtssystem sind alle Rechtszweige funktional miteinander verbunden und strukturell gekoppelt. Ihre Abgrenzung erfolgt aufgrund des Charakters der zu regelnden Verhältnisse sowie aufgrund der Notwendigkeit der Wahl besonderer Grundlagen, der Art und Weise und der Maßnahmen für ihre Reglementierung.205 Am deutlichsten abgegrenzt ist das auf der Gleichheit der Subjekte beruhende Zivilrecht von den Rechtszweigen, welche die Verhältnisse des Typs ,GewaltUnterordnung‘ regeln. Das sind staatliches, administratives, ökologisches Recht usw., in denen eine Methodik verwendet wird, deren zentrale Grundlage die Forderung nach Unterordnung ist. Selbst das Verhalten der Machtsubjekte, die in einen Verwaltungsvertrag eingetreten sind, wird unter Berücksichtigung und in bezug auf ihre Rechtsbefugnisse in dem einen oder anderen Bereich koordiniert. Im Zivilrecht werden die Maßnahmen der Koordinierung des Verhaltens gleicher Teilnehmer verwendet. Das Verwaltungsrecht erscheint heute als ein moderner Rechtszweig, in dem die die Persönlichkeitsrechte festlegenden und den Schutz gegen Verwaltungswillkür gewährleistenden Normen einen wichtigen Platz im Rechtssystem einnehmen. Die Realisierung der Ideen natürlicher und unabdingbarer Rechte des Bürgers, der Gewaltenteilung und der Kontrolle der staatlichen Verwaltung ist in der Gesetzgebung eine notwendige Bedingung der Verwandlung und Transformation des Verwaltungsrechts. Das Verwaltungsrecht ist einer der größten und kompliziertesten Rechtszweige im Rechtssystem Rußlands. Es wird durch die Vielfalt der ihm gestellten Aufgaben bestimmt. Für jeden der Gesellschaftsbereiche sind verwaltungsrechtliche, ihre Tätigkeiten strukturierende Normen unentbehrlich. Es gibt keinen Bereich des Gesellschaftslebens, an dem die Staatsverwaltung nicht beteiligt ist. Und in einigen Bereichen (Verteidigung, Staatssicherheit, Schutz 205

Makovackij (FN 193), S. 35.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

der öffentlichen Ordnung, Gesundheitswesen, Volksbildung, Transport, Post- und Fernmeldewesen, Energetik) ist ihre Rolle maßgebend und entscheidend. Das Verwaltungsrecht ist ein sehr wichtiger Rechtszweig, denn die Rolle der Staatsverwaltung hat in Rußland einen sehr hohen Stellenwert. Davon hängt die Effizienz der Verwaltung und Realisierung vieler Rechte durch die Bürger ab. Die Rechtszweige unterscheiden sich voneinander vor allem nach Gegenstand und Methode der rechtlichen Regelung. Der Gegenstand des Verwaltungsrechts ist die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im Prozeß der Organisation und Tätigkeit der Exekutivgewalt bilden. Ganz allgemein kann man sagen, daß das Verwaltungsrecht, kommunikativ gesehen, ein Leitungsrecht ist. Es realisiert die Verhältnisse, die im Laufe der Ausbildung und Funktion der staatlichen Administration entstehen, indem es den Bereich der staatlichen und munizipalen Verwaltung ,bedient‘ und institutionell auf Dauer stellt. Die Verwaltung besteht in allen Bereichen des Gesellschaftslebens. Ihre Tätigkeit ist dem Volumen nach umfassend und dem Inhalt nach vielfältig. In vielen Fällen ist die Verwaltungstätigkeit mit einer besonderen Art der geregelten Tätigkeiten verbunden, indem ihre Normen nicht den administrativen, sondern andere Rechtszweige regeln. Die Verwaltungstätigkeit der Administration von Unternehmen und sonstigen Einrichtungen wird in bezug auf ihre Mitarbeiter verwirklicht durch das Arbeitsrecht, Untersuchungen und Ermittlungsverfahren verwirklichen das Strafverfahrensrecht, die mit den Finanzen verbundenen Verwaltungsbeziehungen verwirklichen das Finanzrecht. Deswegen ist bei der Bestimmung des Gegenstandes des Verwaltungsrechts folgendes festzuhalten: das Verwaltungsrecht regelt alle Verwaltungsbeziehungen, ausgenommen diejenigen Verhältnisse, die in anderen Zweigen des Rechtssystems der Russischen Föderation festgelegt werden.206 Die Vorstellungen über den Standort des heutigen Zivilrechts werden vollständiger und klarer, wenn man es deutlich und konsequent von den benachbarten Rechtszweigen abgrenzt. Jede Menschentätigkeit braucht eine bestimmte Organisation. Deswegen bilden sich ganz unvermeidlich Organisationsverhältnisse in jedem Bereich der Menschentätigkeit aus. Diejenigen Organisationsverhältnisse, die im Bereich von Produktion, Verteilung, Austausch und Verbrauch entstehen, sind aufs engste mit den dort entstehenden Vermögens-Wert-Verhältnissen verbunden. Für die Ausübung der Bautätigkeit ist eine Genehmigung der zuständigen Behörde der staatlichen Verwaltung erforderlich. Deswegen entsteht zwischen einem Baubetrieb und einem Organ der staatlichen Verwaltung mit der Erteilung einer Baugenehmigung ein Organisationsverhältnis, das eng mit den VermögensWert-Verhältnissen verbunden ist, die ein Baubetrieb im Laufe der Ausführung der Bauarbeiten eingeht. Die Natur der Organisationsverhältnisse sieht allerdings deren rechtliche Regelung durch verbindliche Verordnungen vor, die auf rechtli206

Makovackij (FN 193), S. 39.

I. Ausdifferenzierung des russischen Zivilrechts

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chen Machtbefugnissen und Zuständigkeiten der Organe der staatlichen Verwaltung basieren. Deswegen werden die sich in den unterschiedlichen Bereichen der menschlicher Tätigkeit bildenden Organisationsverhältnisse, obgleich sie mit den Vermögens-Wert-Verhältnissen verbunden sind, durch die Normen des Verwaltungsrechts geregelt, in denen das Verfahren „Gewalt-Unterordnung“ angewendet wird. Die Normen des Verwaltungsrechts regeln die Verhältnisse zwischen den jeweiligen Verwaltungsausschüssen für Staatsvermögen und den von ihnen geleiteten Staatsorganen, welche für die Zuteilung und Versorgung der letzteren mit dem notwendigen Vermögen zuständig sind. Die rechtliche Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Bereich der staatlichen Verwaltung erfolgt durch Festlegung der in den Normen des Verwaltungsrechts fixierten Verhaltensregeln, die für alle Adressaten und Teilnehmer der geregelten Verhältnisse rechtlich verbindlich sind. Indem der Staat diese Regeln festlegt, schafft er ein bestimmtes Rechtsregime zur Verwirklichung der Leitungsfunktionen und der in diesem Zusammenhang entstehenden Verhältnisse. Ein konkretes gesellschaftliches Verhältnis ist verwaltungsförmig und verwaltungsmäßig und deswegen unterliegt es der reglementierenden Einwirkung des Verwaltungsrechts in folgenden Fällen. Erstens: an der Einwirkung nimmt das jeweilige Organ der staatlichen Verwaltung obligatorisch teil (Amtsträger). Zweitens: dieses Organ realisiert praktisch die Befugnisse, die ihm für Ausübung der Verwaltungstätigkeit gestellt sind. Die Sache liegt so, daß bei weitem nicht jedes gesellschaftliche Verhältnis im Tätigkeitsbereich der Organe der staatlichen Verwaltung bzw. das Verhältnis unter Teilnahme dieses Organs verwaltend ist. Wie oben dargestellt wurde, können diese Organe auch solche Handlungen vollziehen, die durch die Normen anderer Rechtszweige geregelt werden. Sie können zum Beispiel Vermögensgeschäfte schließen.207 Derartige Handlungen werden durch das Zivilrecht geregelt. Das jeweilige Verwaltungsorgan übt, indem es Vermögen bereitstellt, natürlich keine vollziehend-verfügende Tätigkeit aus; es realisiert seine Vermögensrechte. Folglich entstehen solche gesellschaftlichen Verhältnisse, die tatsächlich verwaltend sind und deswegen unter den Einfluß verwaltungsrechtlichen Regelung geraten, nur dann, wenn dieses Organ tatsächlich eine vollziehend-verfügende Tätigkeit ausübt. Es besteht ein tiefer innerer Zusammenhang zwischen den Normen des Verwaltungsrechts und des Zivilrechts. Wenn die Normen des Zivilrechts vermögens- und persönliche nicht vermögensrechtliche Verhältnisse verwirklichen, benötigen sie eine Vermittlung durch verwaltungsrechtliche Normen. Deshalb ist im Punkt 2 Teil 1. Art. 8 ZGB der Russischen Föderation vorgesehen, daß Zivilrechte und Zivilpflichten aus Rechtsakten der Exekutivorgane entstehen können. Die Regierung der Russischen Föderation, Ministerien, Behörden und andere föderale Exekutivorgane können Rechtsakte erlassen, die die Normen des Zivilrechts voraussetzen (Punkt 4, 7 Art. 3 ZGB der Russischen Föderation). Der Staat legt allgemeine 207

Makovackij (FN 193), S. 48.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Rechtsgrundlagen der Wirtschaftslenkung fest, d. h. er übt eine ,schonende‘ Regelung aus auf die Tätigkeit der Subjekte des privaten und öffentlichen Eigentums. Gleichzeitig tritt der Staat selbst als der größte Eigentümer auf, was eine direkte Administration in bezug auf eigene Subjekte der Wirtschaftsbeziehungen voraussetzt. Zugleich besteht ein Unterschied zwischen diesen Bereichen in Gegenstand und Methode der rechtlichen Regelung, was deren Zuordnung zum privaten und öffentlichen Recht angeht.

2. Zivilrecht und Finanzrecht Die Vermögensverhältnisse, die im Prozeß der Tätigkeit der Organe der staatlichen Verwaltung im Zusammenhang mit der Akkumulation von Geldmitteln und deren Verteilung für gesamtstaatliche Bedürfnisse entstehen, haben kein Wertmerkmal. Im Rahmen der angegebenen Verhältnisse tritt das Geld nicht als Wertmaßstab auf, sondern es erfüllt die Funktion eines Akkumulationsmittels. Die Geldbewegung erfolgt in Zusammenhängen, die keinen Bewertungscharakter haben. Deswegen werden die angegebenen Vermögensverhältnisse durch die Normen des Finanzrechts geregelt. Das wurde im Punkt 3 Art. 2 ZGB widergespiegelt, wo vorgesehen ist, daß auf Vermögensverhältnisse, die auf administrativer oder anderer Machtunterordnung einer Seite unter die andere, darunter auch auf Steuer- und sonstige Finanz- und administrative Verhältnisse, die Zivilgesetzgebung nicht angewendet wird, sofern nichts anderes durch die Gesetzgebung vorgesehen ist. Gegenstand des Finanzrechts sind die Finanzverhältnisse, die Bildung und Ausführung des Staatshaushalts, Geldverkehr, Bankoperationen, Kredite, Anleihen, Steuern. Die Subjekte dieser Verhältnisse sind alle juristische und natürliche Personen.208 Die Normen des Finanzrechts sind eng mit dem Staatsrecht und mit dem Verwaltungsrecht verbunden, denn die Bereiche dieser drei Rechtszweige verflechten sich in vielerlei Hinsicht. Die Finanztätigkeit hat sehr weitgehend einen vollziehend-verfügenden Charakter. Die Verfahren der Regelung sind Kontrolle, Revisionen, Verordnungen. Aber unter den Bedingungen des Übergangs zur Marktwirtschaft verschieben sich die Rahmen, innerhalb welcher Selbständigkeit praktiziert werden kann, ein System von Kommerzbanken entstand. Die Finanzen sind ein System von Wirtschaftsbeziehungen im Bereich der Bildung, der Verteilung und des Einsatzes von Geldmittelbeständen. Mit anderen Worten sind die Geldverhältnisse, deren Verwirklichung und rechtliche Gestaltung durch die Sonderfonds erfolgt, Finanzverhältnisse. Demgemäß sind die Finanzen ein unabdingbarer Bestandteil der Geldverhältnisse. Aber nicht alle Geldverhältnisse sind Finanzverhältnisse. Die Finanzen unterscheiden sich von Geld sowohl nach Inhalt als auch nach zu erfüllenden Funktionen. Die Finanzen sind ein wirtschaftliches Instrument der Verteilung und Neuverteilung des Bruttoinlandsprodukts, ein Kontrollinstrument der Bildung und des Einsatzes von Geldmittelbeständen. Das Wesen der Finanzen 208

Makovackij (FN 193), S. 71.

I. Ausdifferenzierung des russischen Zivilrechts

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drückt sich in ihren Funktionen aus: verteilende, kontrollierende, anregend fiskale Funktion. Die Gesamtheit der Finanzbeziehungen im Rahmen der Nationalwirtschaft bildet das Finanzsystem des Staates. Vom Standpunkt der sozial-wirtschaftlichen Verhältnisse her bildet es sich aus den zentralisierten, den dezentralisierten Finanzen und den Finanzen von Privathaushalten. Vom Standpunkt der makroökonomischen Analyse und der Rolle des Staates in der Entwicklung der Nationalwirtschaft haben die Staatsfinanzen eine besondere Bedeutung. Einige Vermögensverhältnisse mit Finanzcharakter werden kraft direkter Hinweise des ZGB durch die Zivilgesetzgebung geregelt. So bestimmt Art. 855 ZGB die Reihenfolge der Abbuchung der Geldmittel von Kundenkonten, darunter nach Zahlungsdokumenten, die Abführungen an den Haushalt und an außerbudgetäre Fonds vorsehen. In der Erläuterung der Staatsduma vom 11. Oktober 1996 wird bestimmt, daß bei Widerspruch der Normen der Steuergesetzgebung und der Finanzgesetzgebung gemäß Art. 855 ZGB die Bestimmungen dieses Artikels des ZGB angewendet werden.209 Geldforderungen, die im Laufe von Beobachtung, Außensteuerung und Konkursverfahren entstanden sind, werden allgemein unter Einhaltung der Reihenfolge erfüllt, die im Art. 855 ZGB der Russischen Föderation und in den föderalen Gesetzen festgelegt ist; im Streitfall werden sie im Streitverfahren getrennt vom Verfahren über Insolvenz (Bankrott) behandelt. 3. Zivilrecht und Familienrecht Familie und Verwandtschaft sind soziale Systeme innerhalb der Gesellschaft, die sich – anders als noch in der politischen Ökonomie der griechischen Stadt und ihres Gemeinwesens – gegenüber dem Wirtschaftssystem verselbständigt haben. Deswegen können die Verhältnisse zwischen der Familie und ihren Angehörigen in gesellschaftlicher Hinsicht primär nicht als Vermögensverhältnisse bestimmt werden. Der Charakter dieser Verhältnisse wird in der Fachliteratur sehr unterschiedlich eingeschätzt. Unter den Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft kamen die meisten Autoren zu dem Ergebnis, daß die sich zwischen den Familienangehörigen bildenden Vermögensverhältnisse kraft ihres rein persönlichen Charakters nicht durch das Zivilrecht, sondern durch einen besonderen Rechtszweig – durch das Familienrecht geregelt werden müssen. Diese Folgerung wurde durch das Streben begünstigt, den qualitativen Unterschied zwischen den Familienverhältnissen in der sozialistischen und in der bürgerlichen Gesellschaft zu betonen. Vor der Verabschiedung des neuen Zivilgesetzbuchs und des neuen Familiengesetzbuchs der Russischen Föderation wurde der Gegenstand des Familienrechts gewöhnlich definiert als „persönliche und Vermögensverhältnisse, die zwischen den Menschen aufgrund von Ehe, Blutsverwandt209

Ebd., S. 132.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

schaft, Adoption, Kinderaufnahme in die Familie zur Erziehung entstehen“ oder als „persönliche und davon abgeleitete Vermögensverhältnisse, die zwischen den Menschen aufgrund von Ehe und Zugehörigkeit zur Familie entstehen“. Praktisch alle Autoren meinten, daß das Familienrecht einen selbständigen Rechtszweig darstellt, der sich vom Zivilrecht unterscheidet. Mit Verabschiedung des Zivilgesetzbuchs und des Familiengesetzbuchs änderte sich die Definition des Gegenstandes des Familienrechts und des Zivilrechts erheblich. Das Verhältnis zwischen diesen Rechtszweigen wurde korrigiert. Einige Institute (Vormundschaft, Fürsorge, Zivilstandsakte), die traditionell zum Familienrecht gehörten, wurden in das Zivilgesetzbuch verschoben. Auch das theoretische Herangehen an die Erforschung von Gegenstand und Methode des Familienzivilrechts änderte sich. Das Wiederaufleben der Unterscheidung und Theorie des privaten und des öffentlichen Rechts in unserem Land ermöglichte die Analyse dieser Fragen von einem anderen Standpunkt her. Im neuen Gesetzbuch ist angegeben, daß das Familienrecht die Bedingungen und die Ordnung der Eheschließung, der Ehescheidung und der Nichtigkeits-Gültigkeitserklärung der Ehe festlegt. In diesem Bereich änderte sich die Definition des Gegenstandes des Familienrechts, wie eingangs dargelegt, praktisch nicht.210 Ferner wird darauf hingewiesen, daß das Familienrecht persönliche nichtvermögensrechtliche Verhältnisse und die Vermögensverhältnisse zwischen den Ehegatten, Eltern und Kindern regelt, denen diejenigen zwischen Adoptiveltern und Adoptierten gleichgestellt werden. Das Familienrecht bestimmt auch die Formen und Ordnung der Aufnahme von Kindern in die Familie ohne Elternfürsorge. Während die früher geltende Familiengesetzgebung den Gegenstand des Familienrechts so breit definierte, daß dies ganz deutlich der Realität nicht entsprach, so wurde im neuen Familiengesetzbuch ein Versuch unternommen, dem Familienrecht eine klarere und engere Definition zu geben. Es ist offensichtlich, daß das Familienrecht nie alle nichtvermögensrechtlichen Verhältnisse und alle Vermögensverhältnisse regelte, die in der Familie zwischen den Ehegatten, Eltern und Kindern und auch zwischen anderen Familienangehörigen entstehen. Die Vermögensverhältnisse zwischen den Eltern und Kindern sowie zwischen anderen Familienangehörigen, darunter auch diejenigen, die in der Familie entstehen, zum Beispiel Eigentumsverhältnisse, wurden immer durch die Normen des Zivilrechts, und nicht des Familienrechts geregelt. Zum Bereich des Familienrechts gehörten nur die zwischen diesen Personen bestehenden Alimenteverpflichtungen. Im Familiengesetzbuch 1995 wurde die Definition etwas enger gezogen. Diese Definition spricht nach wie vor von Vermögensverhältnissen und persönlichen und nichtvermögensrechtlichen Verhältnissen zwischen den Ehegatten, Eltern und Kindern und ohne jegliche Einschränkung. Aber in bezug auf andere Familienangehörige handelt es sich nicht um alle persönlichen und nichtvermögensrechtlichen Verhältnisse zwischen ihnen, sondern nur um diejenigen, die direkt in der Familiengesetzgebung vorgesehen sind. Außerdem kann die Familiengesetzgebung die Grenzen bestimmen, innerhalb 210

Makovackij (FN 193), S. 64.

I. Ausdifferenzierung des russischen Zivilrechts

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welcher diese Verhältnisse unter ihre Einwirkung geraten. Zum Beispiel regelt die Familiengesetzgebung zur Zeit nur einige Aspekte der Vormundschaft und Fürsorge, insbesondere diejenigen Verhältnisse, die in Zusammenhang mit Erziehung der Kinder in der Familie des Vormunds entstehen. Aus der Analyse dieser Norm läßt sich der Schluß ziehen, daß die Familiengesetzgebung nach wie vor keine qualitativen materiellen Kriterien besitzt, die es erlauben, Familienverhältnisse von den durch andere Rechtszweige geregelten Verhältnissen zu unterscheiden. Diese Verhältnisse werden nur nach formellen Merkmalen bestimmt. Sie müssen zwischen den Ehegatten oder Eltern und Kindern, zwischen anderen Verwandten oder sonstigen Personen bestehen, aber in den letzten beiden Fällen der Regelung solcher Verhältnisse muß ein direkter Hinweis in den Normen der Familiengesetzgebung enthalten sein. Wie schon bemerkt wurde, regelt die Familiengesetzgebung nicht alle persönlichen und nichtvermögensrechtlichen Verhältnisse zwischen den Ehegatten, Eltern und Kindern. Wegen Nichtvorhandenseins eines materiellen Kriteriums zur Abgrenzung der durch das Familienrecht und Zivilrecht geregelten Verhältnisse ist es beinahe unmöglich, die Frage zu beantworten, welche Vermögensverhältnisse zwischen den Eltern und Kindern sowie zwischen Ehegatten als familienrechtlich anzusehen sind. Die einzige Art und Weise zu bestimmen, ob die Familiengesetzgebung in bestimmten Fällen anzuwenden ist, besteht in der Klärung der Frage, ob Normen des Familienrechts existieren, die direkt diese Verhältnisse regeln. Falls solche Normen fehlen, ist es notwendig zu untersuchen, ob das Zivilrecht diese Verhältnisse regelt. Je nach dem erreichten Grad der Entwicklung und des Übergangs zur Marktwirtschaft ändert sich der Charakter der Vermögensverhältnisse, die zwischen den Familienangehörigen entstehen. Unter den Bedingungen der Marktwirtschaft werden die Vermögens-Wert-Verhältnisse zwischen allen Teilnehmern am zivilrechtlichen Verkehr neu bestimmt. Die Vermögensverhältnisse zwischen Familienangehörigen bilden keine Ausnahme. Der persönliche Charakter der gegenseitigen Verhältnisse zwischen den Familienangehörigen prägt in Wirklichkeit auch die zwischen ihnen entstehenden Vermögensverhältnisse, ändert aber ihre Natur nicht, die durch den Warencharakter vorbestimmt wird. Andererseits können die Familie und Verwandtschaft ihre Funktion als soziale Systeme in einer eher modernen Gesellschaft, deren Wirtschaftssystem sich verselbständigt hat und durch die Art und Weise der Warenproduktion vorbestimmt wird, nur in sehr begrenztem Umfang erfüllen, weil sie mit dem Funktionssystem Wirtschaft strukturell nicht gekoppelt sind. Die Vermögensverhältnisse innerhalb des wirtschaftlichen Teilsystems unterscheiden sich aber qualitativ nicht von den Vermögensverhältnissen, die in der gesamten Gesellschaft existieren. Deswegen bekommen die Vermögensverhältnisse zwischen den Familienangehörigen unter den Bedingungen der Marktwirtschaft unvermeidlich den Wertcharakter. Das beweisen auch die letzten Änderungen in der Familiengesetzgebung, die mit Ausweitung des Bereiches des zivilrechtlichen Instrumentariums in der Regelung der Familienverhältnisse verbunden sind. Ge-

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

mäß dem neuen Familiengesetzbuch der Russischen Föderation ist die Schließung eines Ehevertrags, die Möglichkeit des Übergangs vom Gesamteigentum zum Gemeineigentum nach Bruchteilen oder zum gesonderten Eigentum der Ehegatten usw. zugelassen. Der Wertcharakter der Vermögensverhältnisse zwischen den Familienangehörigen bestimmte auch die Transformation einer Reihe von Rechtsnormen, die traditionell durch Akte der Ehe- und Familiengesetzgebung im ZGB niedergelegt wurden (Art. 31–41, 47, 256 usw.). Den gegenseitigen Bewertungscharakter tragen auch persönliche nichtvermögensrechtliche Verhältnisse unter Beteiligung von Familienangehörigen. Das Vorhandensein des Gegenstandsmerkmals des Zivilrechtes in den Verhältnissen zwischen Familienangehörigen hat mit Notwendigkeit die Anwendung der allgemeinen Normen des Zivilrechts zur Folge. Deswegen legt Art. 4 des Familiengesetzbuchs der Russischen Föderation fest, daß auf durch die Familiengesetzgebung geregelte Vermögensverhältnisse und auf persönliche nichtvermögensrechtliche Verhältnisse zwischen den Familienangehörigen die Familiengesetzgebung angewendet wird, sofern dies dem Wesen der Familienverhältnisse nicht widerspricht. Stärker verbreitet ist demgegenüber heute die Position derjenigen Autoren, die das Familienrecht als Teil der inneren Struktur des Zivilrechts betrachten. Dabei bildet das Familienrecht nach Umfang und Eigenart die umfangreichste Struktureinheit des Zivilrechts, die deswegen auch als Teilbereich des Zivilrechts bezeichnet wird.211 In Anlehnung an den obigen Grundsatz Lenins entwickelte sich das gesamte sowjetische Zivilrecht. Dieses Herangehen führte in der Wirtschaft zur Vorherrschaft der strengen Grundsätze einer Zentralisierung. Sie führten in analytisch-begrifflicher Hinsicht beispielsweise zur Kategorie vom „Plan“ und von planwirtschaftlichen Verträgen. Der Inhalt dieser Verträge richtete sich nicht nach dem Willen und den Interessen der Teilnehmer, sondern er wurde durch Planungsorgane bestimmt, die beschließen, wer, mit wem und zu welchen Bedingungen einen konkreten Vertrag schließen wird. Dabei wurde die Bestimmung einiger Bedingungen notgedrungen den beteiligten Seiten überlassen. Die Verträge, an denen sich die Bürger beteiligten, standen gewöhnlich unter dem indirekten (und nicht direkten) Einfluß des Plans (außer dem System der Warenaufteilung nach Karten). Die Basis für eine zivilrechtliche Regelung blieb erhalten, aber der Inhalt dieser Regelung wurde wesentlich verändert und man war bestrebt, die privatrechtliche Terminologie außer Kraft zu setzen. Aber einige privatrechtliche Prinzipien wurden formal durch Zivilgesetzgebung geregelt. Das Zivilgesetzbuch Russlands von 1994 legte in Punkt 1 Art. 1 zum ersten Mal in der Gesetzgebung die wichtigsten Grundsätze des Privatrechts fest: – Gleichheit der Teilnehmer an Vermögensverhältnissen; – Unantastbarkeit des Eigentums; 211

Makovackij (FN 193), S. 119.

I. Ausdifferenzierung des russischen Zivilrechts

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– Freiheit von Verträgen; – Unzulässigkeit des willkürlichen Eingreifens in Privatsachen; – unbehinderte Ausübung der Zivilrechte und ihr gerichtlicher Schutz vor Verstößen, darunter auch vor solchen seitens der öffentlichen Gewalt (des Staates).

Die Anwendung dieser Prinzipien kann jetzt nur durch ein föderales Gesetz und nur in dem Maße beschränkt werden, wie dies zum Schutze der Grundlagen von Verfassungsordnung, Moral, Gesundheit, von Rechten und gesetzlichen Interessen anderer Personen und zur Gewährleistung der Verteidigung des Landes und der Sicherheit des Staates erforderlich ist. Deswegen sind mögliche und notwendige Beschränkungen der privatrechtlichen Grundlagen nicht die allgemeingültige Regel, sondern eher Ausnahme von der Regel.

4. System des Privatrechts in Rußland Im inländischen Rechtssystem war das Privatrecht immer in Form von Zivilrecht vertreten. In der Zeit der Sowjetunion wurden nach dem Verzicht auf Teilung des Rechts in öffentliches und privates Recht aus dem Zivilrecht als selbständige Rechtszweige das Familienrecht und das Arbeitsrecht ausgesondert, und an der Grenze des Zivilrechts und des Verwaltungsrechts entstanden das Bodenrecht und das Recht der Naturressourcen. Man versuchte auch das internationale Privatrecht auszusondern, das privatrechtliche Verhältnisse mit Auslandsbezug (d. h. unter Teilnahme ausländischer Bürger, juristischer Personen und Personen ohne Staatsbürgerschaft) regeln sollte. Alle diese Rechtsbildungen bildeten die Familie der zivilrechtlichen (dem Wesen nach privatrechtlichen) Rechtszweige unserer Rechtsordnung. Die Rückkehr zu den klassischen Grundlagen des Rechtssystems, das sich auf die prinzipielle Unterscheidung des öffentlichen und des privaten Rechts stützte, verlangte nicht nur den Verzicht auf eine hierarchische ,Aufschichtung‘ der verstaatlichten Wirtschaft im zivilrechtlichen Bereich, sondern auch eine bestimmte Neueinschätzung der Rechtsnatur dieser ,benachbarten‘ Rechtszweige. Unter den Bedingungen der Herausbildung der Marktwirtschaft erfolgt eine bestimmte Kommerzialisierung der Verhältnisse, die früher zum öffentlich-rechtlichen Bereich gehörten. Nach Verzicht auf das Alleineigentum des Staates am Boden und nach Genehmigung des Abschlusses einer Reihe von Geschäften über Grundstücke (Kauf und Verkauf, Miete, Verpfändung, Vererbung usw.) wurden die entsprechenden Verhältnisse zum Gegenstand des Zivilrechts (d. h. privatrechtlichen Regelung) und aus dem Gegenstand des Bodenrechts ausgeschlossen. Das Bodenrecht konzentriert sich jetzt nicht auf Regelung eines für diesen Bereich fremden Bodenverkehrs, sondern auf Bestimmung der öffentlich-rechtlichen Ordnung unterschiedlicher Arten von Grundstücken, einschließlich ihrer Zweckverwendung, der Anforderungen mit Naturschutzcharakter, mengenmäßige Beschrän-

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

kungen usw. Anders gesagt zeigt das Bodenrecht jetzt seine öffentlich-rechtliche Natur. Das gilt in gleichem Maße auch für einen breiteren Bereich des Naturressourcenrechts und des Naturschutzrechts, des sogen. ökologischen Rechts. Die gesetzliche Anerkennung der Möglichkeit einer Schließung von Eheverträgen, die nach dem Willen der Ehegatten die rechtliche Ordnung ihres Vermögens bestimmen, zeugt vom Anwachsen privatrechtlicher Grundlagen auch im Bereich der Familienverhältnisse. Das Familienrecht war charakterisiert immer durch die Dominanz nicht vermögensrechtlicher Elemente vor den Vermögenselementen und durch das Prinzip des minimalen Eingreifens des Staates in die Familienverhältnisse (im wesentlichen zum Schutz der Interessen von Minderjährigen, von arbeitsunfähigen Ehegatten usw.) sowie durch den gutwilligen und rechtsgleichen Charakter der Familienbeziehungen. Unter Berücksichtigung des traditionellen Vorhandenseins eines großen Kreises persönlicher nichtvermögensrechtlicher Verhältnisse im Gegenstandsbereich des Zivilrechts (Schutz von Ehre, Würde und Geschäftsreputation, Ersatz von nicht vermögensrechtlichen Schäden, Schutz unterschiedlicher Nichtvermögensrechte von Bürgern) kann man von der privatrechtlichen Natur des Familienrechts sprechen, die eigentlich für alle entwickelten Rechtsordnungen charakteristisch ist. Was das Arbeitsrecht betrifft, so kann seine Natur zur Zeit nicht eindeutig bestimmt werden. Für seinen privatrechtlichen Charakter sprechen viele Regelungen über den Arbeitsvertrag, die die Grundlage dieses Bereichs bilden und die jetzt weiter entwickelt werden. Die Hauptrichtung der rechtlichen Reglementierung bildet hier jedoch die Festlegung eines breiten Spektrums spezieller sozialer (d. h. im öffentlichen bzw. im öffentlich-rechtlichen Interesse ausgesprochener) Garantien für Teilnehmer der Anstellungsverhältnisse. Diese Reglementierung ist für öffentlich-rechtliche Rechtszweige charakteristisch. Zugleich wird im kontinentaleuropäischen Recht, vor allem in seinem germanischen Zweig das Arbeitsrecht gewöhnlich als privatrechtliches Gebilde betrachtet. Das Internationale Privatrecht hat demgegenüber seine nach Gegenstand, Methodik und Verfahren privatrechtliche Natur verloren, die in den entwickelten Rechtsordnungen allseitig anerkannt ist. Außerdem wird es in der Theorie bisweilen als Bestandteil des Zivilrechts betrachtet.212 Aufgrund der bürgerlich-rechtlichen Normen über juristische Personen werden in den entwickelten ausländischen Rechtsordnungen gewöhnlich die Regelungen über den Status der Handelsorganisationen behandelt, die durch den Begriff ,Gesellschaftsrecht‘ verbunden sind. Im inländischen Rechtssystem versuchte man früher, das Kolchosrecht und danach das Genossenschaftsrecht auszusondern. Diese Rechtsbildungen können nicht als selbständig angesehen werden, denn sie existieren im Rahmen des Privatrechts als Teil des Zivilrechts oder auch des Handelsrechts. 212

Makovackij (FN 193), S. 205.

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Das Zivilrecht bildet, wie schon dargestellt, die Grundlage des Privatrechts. In der inländischen Rechtsordnung umfaßt das allgemeine System des Privatrechts auch das Familienrecht und das Internationale Privatrecht, die traditionell in bezug auf Zivilrecht hier eigentlich als selbständige Rechtszweige angesehen werden. Dieser Umstand bildet die Eigenart des Systems des russischen Privatrechts, denn im kontinentaleuropäischen Recht werden diese Bereiche gewöhnlich als Bestandteile des Zivilrechts betrachtet werden. 5. Problem des ,unternehmerischen‘ Rechts In Rußland gab es weder historische noch gesellschaftspolitische Ursachen für eine Absonderung und Verselbständigung des Handelsrechts. Die Besonderheit der russischen Staatsordnung bestand immer im Nichtvorhandensein einer wirklichen Autonomie der Stände sowie der privatrechtlichen Traditionen insgesamt. Deswegen bestand bei uns auch vor der Revolution 1917 kein ,Dualismus des Privatrechts‘. Der vorrevolutionäre Entwurf des Zivilgesetzbuches basierte auf dem Prinzip der Einheit des Privatrechts. Das Privatrecht war in Rußland immer ausschließlich durch Zivilrecht vertreten. Demgemäß existieren bei uns keine historischen Grundlagen für Entwicklung eines besonderen Handelsrechts. In der früheren Rechtsordnung, die auf der Verstaatlichung der Wirtschaft beruhte, entstand die Idee des sogenannten Wirtschaftsrechts, das berufen war, planorganisatorische (verwaltungsrechtliche, d. h. öffentliche) und VermögensWert-Elemente (bürgerlich-rechtliche, d. h. private) Elemente zu einer „neuen Eigenschaft der rechtlichen Regelung“ zu verbinden das heißt zwei unverbindbare Grundlagen zusammenzufügen. Als Resultat dieser ,Verbindung‘ sollten ,neue‘ Kategorien und Begriffe entstehen, die die traditionellen privat-rechtlichen Konstruktionen beseitigen: beispielsweise ,Wirtschaftsorgan‘ statt juristischer Person (d. h. Wirtschaftsorganisation des Staates, die unter seiner vollständigen Kontrolle steht und die keine eigenen Vermögensinteressen hat); ,Wirtschaftlicher Vertrag‘ bzw. ,Planvertrag‘ statt Vertrag, deren Beteiligte beinahe nichts zu vereinbaren hätten, denn alle Hauptangaben eines solchen ,Vertrags‘ wurden von oben, top down (in Anordnungen und sonstigen Planakten) verordnet. Es ist klar, daß derartige Konstruktionen, in denen privat-rechtliche Elemente den Verwaltungselementen unterstellt wurden, in der Tat keine ,Verbindung‘, sondern eine Übernahme und ein Aufgehen der privatrechtlichen Grundlagen durch öffentliche Grundlagen bedeutete, was durchaus den Bedingungen der früheren Wirtschaftsordnung entsprach. Zivilrechtswissenschaftler kritisierten schon früher diese wirtschaftsrechtliche Konzeption. Mit dem Übergang zur marktwirtschaftlichen Konzeption verlor sie auch ihre sozialwirtschaftliche Grundlage und damit die Basis für eine ernsthafte theoretische Argumentation. Zur Zeit werden Versuche zur Wiederbelebung der ,wirtschaftlich-rechtlichen Idee‘ gemacht, indem man ein spezielles Unternehmensrecht postuliert. Das Unter-

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

nehmensrecht wird auch manchmal zum Nachfolger nicht nur des ,Wirtschaftsrechts‘, sondern auch des ,Handelsrechts‘ ernannt, obwohl das Handelsrecht nach wie vor eine Abart des privaten und nicht des kaum für jemand bekannten ,privatöffentlichen‘ Rechts ist. Dabei wird gewöhnlich auf Unannehmbarkeit des privatrechtlichen Herangehens hingewiesen, das angeblich jeden staatlichen Eingriff in die Wirtschaft unmöglich macht, und auf die Möglichkeit einer neuen ,Vereinigung‘ privatrechtlicher und öffentlichrechtlicher Elemente im Rahmen des ,Unternehmensrechts‘ hingewiesen. Es ist bemerkenswert, daß die Idee des ,Wirtschaftsrechts‘ (des ,Unternehmensrechts‘), die früher durch Hinweise auf die Eigenart der sozialistischen gesellschaftlichen Entwicklung begründet wurde, jetzt ebenso ,erfolgreich‘ durch Hinweise auf die Besonderheiten der staatlich geregelten kapitalistischen Marktwirtschaft begründet wird.213 Demgegenüber ist zu betonen, daß das Privatrecht seiner Natur nach die einzig akzeptable Form für den regulären Vermögensverkehr, wie für den Unternehmensverkehr ist. Die Marktwirtschaft braucht rechtlich gleichgestellte und materiell selbständige Teilnehmer, die nach ihren persönlichen Interessen bei Nichtvorhandensein von willkürlichen Eingriffen des Staates in ihren Privatsachen handeln. Die öffentlich-rechtlichen Regelungen unterdrücken und beschränken kraft ihrer Natur die privatrechtlichen Grundlagen. Deswegen ist ihre Vereinigung in ein und demselben Rechtszweig ausgeschlossen. Dies zeigen nationale wie transnationale Erfahrung. Die rechtliche Regelung der unternehmerischen Tätigkeit erfolgt durch privatrechtliche, aber auch durch öffentlich-rechtliche Einwirkungen. In Rußland erfolgten diese Einwirkungen im Rahmen des Zivilrechts, während öffentlich-rechtliche Wirkungen dem Charakter der unterschiedlichen Rechtszweige folgen und mittels der Normen des Verwaltungs-, Finanz-, Boden- und Prozeßrechts sowie sonstiger Teildisziplinen des öffentlichen Rechts vorgenommen werden. Der Vorschlag zur Vereinigung aller entsprechenden Regeln in einem einheitlichen Rechtszweig erscheint nicht nur gekünstelt, sondern auch schädlich, denn seine Verwirklichung führt ganz unvermeidlich zur Unterdrückung der privatrechtlichen Grundlagen. Für die einheimischen Umstände hat diese Entwicklung eine besondere Bedeutung, denn es geht um die Überwindung der Tradition allumfassender Verstaatlichung. Nach dieser Anschauung wird die Konzeption des ,Unternehmensrechts‘ zum offensichtlichen Bremsfaktor auf dem Wege progressiver Veränderungen und Transformation unserer Gesellschaft. Das Zivilrecht umfaßt eine Reihe spezieller Normen, deren Anwendung ausschließlich auf Verhältnisse unter Beteiligung von Unternehmern gerichtet ist. Dazu gehören die Regelungen des vermögensrechtlichen Status der Unternehmer, das Handelsunternehmertum, Besonderheiten und Erfüllung der Verbindlichkeit bei Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit. Aber die Besonderheiten profes213

Makovackij (FN 193), S. 302.

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sioneller Teilnehmer an den Vermögensverhältnissen (Unternehmer, Kaufleute) schließen die Anwendung der allgemeinen Bestimmungen des Zivilrechts auf diese Verhältnisse, zum Beispiel derjenigen über juristische Personen, Sachenrechte, Geschäfte, Verpflichtungen usw. nicht aus, sondern setzen deren Anwendung voraus. Die Normen selbst sowie ihre Gesamtheit sind zivilrechtlich. Für ihre Absonderung und Verselbständigung in einem speziellen Rechtsbereich, vor allem im Rahmen des Privatrechts existieren weder theoretische noch praktische Grundlagen. Die Verhältnisse der Unternehmer werden, wie das russische Gesetz ausdrücklich sagt, durch das Zivilrecht geregelt (Abs. 3 Punkt 1 Art. 2 ZGB). Es erscheint bemerkenswert, daß von 26 Verträgen und ihren zahlreichen Abarten, die im Zweiten Teil des neuen ZGB geregelt werden, nur ein Vertrag ausschließlich auf die Verhältnisse unter den Unternehmern gerichtet ist (Vertrag der Geschäftskonzession – Art. 1027 ZGB) und nur ein Vertrag unter Unternehmern nicht geschlossen werden kann, nämlich der Schenkungsvertrag (Art. 575 ZGB). Alle anderen Verträge werden auf Vermögensverhältnisse angewendet, unabhängig von ihren Subjekten, was von der rechtlichen Homogenität dieser Beziehungen zeugt.214 Eine andere Sache ist die Absonderung der entsprechenden Gesetzgebung bzw. die Aussonderung einer Studiendisziplin, die sich mit der rechtlichen Regelung unternehmerischer Tätigkeiten befaßt. Sowohl die Gesetzgebung über das Unternehmertum als auch das Unternehmerrecht die Studiendisziplin haben einen sehr komplexen Charakter und umfassen sowohl privatrechtliche als auch öffentlichrechtliche Regelungen und Konstruktionen. Unter Berücksichtigung der praktischen Ziele ihrer Ausdifferenzierung erscheint dies durchaus zulässig. Dies ist auch möglich für die Bereiche ,Versicherungsrecht‘, ,Transportrecht‘ oder ,Bankenrecht‘. Man sollte allerdings im Auge halten, daß derartige komplexe Gebilde keine objektiven fundamentalen Grundlagen haben und die grundlegende Rechtsaufteilung nicht beeinflussen können. In analytisch-begrifflicher Hinsicht wie ihrem Gegenstande nach unterscheiden sich das Rechtssystem und das Gesetzgebungssystem, hier verstanden als soziale Systeme, von dem sozialen System der Rechtswissenschaften und ihren Studiendisziplinen.

6. Gesetzes- und Rechtsanalogie Artikel 6 des Zivilgesetzbuches der Russischen Föderation (ZGB) erblickt den Sinn der Gesetzesanalogie in folgendem: wenn das ihrem Wesen nicht widerspricht, so wird auf die Verhältnisse, die durch die Gesetzgebung nicht geregelt 214

Ebd., S. 11.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

sind, bei gleichzeitigem Fehlen einer Vereinbarung oder von Gewohnheiten des Geschäftsverkehrs, die gesetzgeberische Regelung angewendet, die ähnliche Verhältnisse regelt. Art. 6 betont jedoch, daß die Anwendung des Verfahrens der Gesetzesanalogie nur für die Verhältnisse möglich ist, die das Zivilgesetz (Punkt 1 und 2 Art. 2) für bürgerlich hält, d. h. nur für solche, die den Merkmalen des Gegenstandes dieses Rechtszweiges entsprechen. Die rechtszweigbezogene Einheitlichkeit zeigt sich vor allem bei der Rechtsanalogie. Prinzipielle Bedeutung hat in diesem Fall die Novellierung des geltenden ZGB. Vor ihrer Verabschiedung sah die Norm, die der Rechtsanalogie gewidmet ist, welche damals nicht im materiellen Recht, sondern im Prozeßgesetz enthalten war (es handelte sich um Art. 10 der Zivilprozeßordnung RSFSR 1964), das angegebene Verfahren der Rechtsanalogie darin, daß bei Nichtvorhandensein einer Norm, die ähnliche Verhältnisse regelt, „das Gericht von den allgemeinen Grundlagen und dem Sinn der sowjetischen Gesetzgebung ausgeht“. Das konnte bedeuten, daß auf die Zivilrechtsverhältnisse, die durch die konkreten Normen des Zivilrechts nicht geregelt werden, die Grundlagen angewendet werden sollten, die an sich Ausgangspunkt für das ganze im Lande geltende Recht sind. Das Gesetz nahm in der angegebenen Frage eine andere Position ein. Im angegebenen Art. 6 ist folgendes vorgesehen: „Bei Unmöglichkeit der Anwendung der Gesetzesanalogie werden auch die beiderseitigen Verpflichtungen der Seiten aufgrund der allgemeinen Grundlagen und des Sinnes der Zivilgesetzgebung bestimmt . . .“ Die Abgrenzung und Korrelation des privaten und öffentlichen Rechts war immer ein kompliziertes Problem. Im Bereich des Privatrechts war der Gesetzgeber oftmals gezwungen, allgemeinverbindliche, zwingende Regeln, darunter auch Verbote anzuwenden, welche die Selbständigkeit und Initiative der Teilnehmer an den geregelten Verhältnissen einschränkte. Für die inländische Wirtschaft stand und stellt sich das Problem des Verhältnisses zwischen privatem und öffentlichem Recht nach wie vor scharf. Der Bereich des Privatrechts als des Bereichs, der an sich vor willkürlichen Eingriffen des Staates allgemein gestützt ist, existierte in der Geschichte Rußlands so gut wie gar nicht.

II. Auswirkungen des westlichen Privatrechts auf das russische Privatrechtssystem 1. Novellen des Privatrechts Das Internationale Privatrecht ist ein komplexer Rechtszweig, der (zivilrechtliche) Vermögens-, Familien-, Arbeits- und zivilprozessuale Verhältnisse regelt. Eine solch vielfältige Palette der Verhältnisse, die dieser Rechtszweig umfaßt, löste Streitigkeiten und unterschiedliche Meinungen über die Rechtsnatur der Normen des internationalen Privatrechts und über die Existenz dieses Rechtszweiges aus.215 Wie bekannt, meinten einige Autoren, daß das Internationale Privatrecht

II. Westliches Privatrecht und russisches Privatrechtssystem

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und seine Normen Bestandteile des internationalen öffentlichen Rechts sind. Andere Autoren meinen, daß das Internationale Privatrecht zum Zivilrecht gehört, zumal die früher geltenden Grundlagen zur Zivilgesetzgebung und das Zivilgesetzbuch von 1964 Bestimmungen enthielten, welche die Regelung von Fragen des internationalen Privatrechts betrafen . Es gibt auch andere Standpunkte in bezug auf diese Frage. Aber die Momente, welche die angegebenen Verhältnisse zum Gegenstand der rechtlichen Regelung des Internationalen Privatrechts miteinander verbinden, sind erstens die Teilnahme von Ausländern und ausländischen juristischen Personen an zivilrechtlichen Verhältnissen, und zweitens – Vorhandensein sonstiger ausländischer Elemente, wie zum Beispiel Objekte (Vermögen) im Ausland und im Ausland entstehende Rechtstatsachen. a) Unter den sich ändernden sozialwirtschaftlichen Bedingungen Rußlands, unter denen sich der Markt und die Marktverhältnisse bilden und die Teilnehmer an außenwirtschaftlichen Geschäften auch russische Unternehmer (natürliche und juristische Personen) sein können und sind, entstand die objektive Notwendigkeit, das Bedürfnis nach Verabschiedung eines kodifizierten oder anderen Normativakts als der Quelle des Internationalen Privatrechts. Zu diesem Zweck verabschiedete die Staatsduma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation am 1. November 2001 den Dritten Teil des Gesetzbuchs der Russischen Föderation. Die Novelle des Dritten Teils des Zivilgesetzbuchs ist Abschnitt VI – „Internationales Privatrecht“, der als bedeutende Errungenschaft der Zivilrechtswissenschaft und der rechtsschöpferischen Tätigkeit des russischen Staates anzusehen ist, denn vor Verabschiedung dieses Abschnitts des ZGB der Russischen Föderation fehlte ein spezielles Gesetz bzw. ein kodifizierter normativ-rechtlicher Akt als Quelle des Internationalen Privatrechts. In einigen Ländern bestehen hingegen spezielle Gesetze und ein Internationales Privatrecht. In der Republik Kasachstan wurde im Jahre 1999 ein Einheitliches Zivilprozeßgesetzbuch verabschiedet, in dem ein spezieller Abschnitt V – „Internationaler Prozeß“ enthalten ist, der das Verfahren unter Teilnahme ausländischer Personen regelt, das auch zu den Novellen des Internationalen Privatrechtes zu zählen ist. Wir behandeln hier aber nur die Novellen des Abschnitts VI des Dritten Teils ZGB der Russischen Föderation. Abschnitt VI des Dritten Teils des ZGB der Russischen Föderation beinhaltet drei Kapitel: Kapitel 66 „Allgemeine Bestimmungen“; Kapitel 67 „Recht, das der Anwendung zur Bestimmung der Rechtslage von Personen unterliegt“; Kapitel 68 „Recht, daß der Anwendung auf Vermögens- und persönliche nichtvermögens215 Vgl. dazu: Barinov, N. A., Mezdunarodnoe castnoe pravo: kommentarij k III casti GK [Internationales Privatrecht: Kommentar zum Teil III des Bürgerlichen Gesetzbuches der Russischen Födeartion], in: Mezdunarodnoe castnoe pravo: Sbornik naucnich statej pod red. N. P. Antipova [Internationales Privatrecht. Wissenschaftliche Beiträge hrsg. von N. P. Antipov], Saratov 2003.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

rechtliche Verhältnisse unterliegt“. Die angegebenen Kapitel umfassen 39 Artikel: Art. 1186 – 1224. Das Kapitel über allgemeine Bestimmungen umfaßt neun Artikel – Art. 1186 – 1194. Im Art. 1186 ist die Definition des Rechts vorgesehen, das der Anwendung auf zivilrechtliche Verhältnisse unter Teilnahme von Ausländern bzw. auf zivilrechtliche Verhältnisse unterliegt, die durch ein anderes ausländisches Element betroffen sind. In Punkt 1 Art. 1186 wird festgelegt, daß ein derartiges Element ein sich im Ausland befindendes zivilrechtliches Objekt sein kann. Die Wissenschaft des Internationalen Privatrechts zählt auch im Ausland entstehende Rechtstatsachen zu diesen Elementen. Der Gesetzgeber erwähnt letztere in Punkt 1 Art. 1186 nicht ausdrücklich; er war wohl der Auffassung, daß sie mit den zivilrechtlichen Objekten verbunden sind. Allerdings schließt der Gesetzgeber, wie Art. 1186, das Vorhandensein anderer, außer den angegebenen, ausländischen Elementen nicht auch aus. Im Art. 1186 ist ein Hinweis darauf enthalten, daß die Besonderheiten des Rechts, das der Anwendung durch die internationale Handelsarbitrage unterliegt, im Gesetz über internationale Handelsarbitrage festgelegt werden. Das Gesetz der Russischen Föderation „Über internationale Handelsarbitrage“ wurde am 7. Juli 1993 verabschiedet. Dieses Gesetz wird entsprechend dem Art. 1 auf die internationale Handelsarbitrage angewendet, wenn der Sitz der Arbitrage auf dem Territorium der Russischen Föderation liegt. Aber die in den Art. 8, 9, 35 und 36 vorgesehenen Bestimmungen werden auch in den Fällen angewendet, in denen der Sitz einer Arbitrage im Ausland ist. Diese Bestimmung kann bei Vorhandensein der Arbitragevereinbarung über den Verweis der Klage an eine bestimmte Arbitrage (Art. 8), über Maßnahmen zur Klagesicherung durch das Gericht, sofern dies mit der Arbitragevereinbarung kompatibel ist (Art. 9) und über die Anerkennung und Vollziehung der Arbitrageentscheidung (Art. 35 und 36) gelten. b) Die Qualifizierung der Rechtsbegriffe zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts wird durch Art. 1187 regelt. Die Auslegung der Rechtsbegriffe erfolgt, wenn nichts anderes durch das Gesetz (Punkt 1 Art. 1187) vorgesehen ist, gemäß dem russischen Recht. Sind die zu qualifizierenden Rechtsbegriffe dem russischen Recht nicht bzw. in nur einer anderen wörtlichen Bezeichnung bzw. mit einem anderen Inhalt bekannt, aber durch Auslegung gemäß dem russischen Recht bestimmbar, so kann das ausländische Recht zu ihrer Qualifizierung (Punkt 2 Art. 1187) herangezogen werden. In einigen Ländern existiert eine Mehrzahl von Rechtssystemen, deren Anwendbarkeit Art. 1188 regelt. Geht es um die Anwendung des Rechts des Landes, in dem mehrere Rechtssysteme gelten, so wird das Rechtssystem angewendet, das nach dem Recht dieses Landes vorgesehen ist. Wenn es gemäß dem Recht dieses Landes nicht möglich ist, zu bestimmen, welches dieser Rechtssysteme anzuwenden ist, so wird das Rechtssystem angewendet, das dem Verhältnis am nächsten steht.216 216

Ebd.

II. Westliches Privatrecht und russisches Privatrechtssystem

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aa) Das Internationale Privatrecht umfaßt viele unterschiedliche Begriffe und Fachausdrücke, zu denen auch der Begriff der „Gegenseitigkeit“ gehört. Er bedeutet, daß das ausländische Recht einer Anwendung in Rußland unterliegt, unabhängig davon, ob im jeweiligen ausländischen Staat bei derartigen Verhältnissen das jeweilige russische Recht angewendet wird. Eine Ausnahme hiervon bilden die Fälle, in denen die Anwendung des ausländischen Rechts auf Grundlage der Gegenseitigkeit durch das Gesetz vorgesehen ist. Hängt die Anwendung des ausländischen Rechts von der Gegenseitigkeit ab, so wird vermutet, daß diese Gegenseitigkeit besteht, falls nichts anderes nachgewiesen wird (Art. 1189). bb) Ferner gilt „Rückverweisung“ (Art. 1190). Dieser Begriff bedeutet, daß jeder Verweis auf das ausländische Recht als Verweis auf materielles und nicht auf Kollisionsverweisungsrecht des jeweiligen Landes zu verstehen ist. Das Kollisionsverweisungsrecht stellt die Gesamtheit von Kollisionsnormen dar. Eine Kollisionsnorm kann auch als abstrakte Regel gelten, die eine Frage nicht löst, sondern darauf hinweist, welches Recht welchen Staates auf die jeweiligen Verhältnissen anzuwenden ist. Die Kollisionsnorm besteht aus zwei Teilen (Elementen) dem Umfang und der Anknüpfung. Der Umfang weist auf den Charakter der Verhältnisse hin, auf die sich diese Norm erstreckt; die Anknüpfung weist auf das Recht des Landes hin, das auf diese Verhältnisse anzuwenden ist. Es existieren unterschiedliche Arten der Anknüpfung, zum Beispiel an: „persönliches Recht einer natürlichen Person“ (lex personalis), die bedeutet, daß das Gesetz des Landes anzuwenden ist, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat; „Recht des Ortes der Prozeßführung“ (lex fori) bedeutet, daß auf diese Verhältnisse das Gesetz des Landes angewendet wird, in dem das Gericht tätig ist. Darüber hinaus, gibt es auch andere Anknüpfungen. cc) Von „Rückverweisung“ ist die Rede nicht nur in bezug auf ausländisches Recht, sondern auch in bezug auf das russische Recht. Die Rückverweisung auf ausländisches Recht kann auch in den Fällen eines Verweises auf das russische Recht angewendet werden, das die Rechtslage einer natürlichen Person (Art. 1195 – 1200) bestimmt, d. h. von der russischen Staatsangehörigkeit der natürlichen Person ausgehen und das russische Gesetz (Punkt 2 Art. 1190) anwenden. dd) Wichtig ist auch das Problem, dem Art. 1191 gewidmet ist: Es geht um die Festlegung des Inhalts der Normen des ausländischen Rechts, die eine wichtige theoretische und praktische Bedeutung besitzt. Bei Anwendung des ausländischen Rechtes legt das Gericht den Inhalt dieser Normen gemäß ihrer offiziellen Auslegung, der Praxis der Anwendung und der Doktrin im jeweiligen ausländischen Staate fest. Aber nicht immer ist die offizielle Auslegung einer Norm vorhanden. Deswegen kann sich das Gericht zur Festlegung des Inhalts von Normen des ausländischen Rechts mit einer Bitte um Amtshilfe an das Justizministerium der Russischen Föderation und an andere zuständigen Behörden oder Organisationen in Rußland und im Ausland wenden. In einer Reihe von Fällen kann das Gericht für die Festlegung des Inhaltes des ausländischen Rechtes auch Experten heranziehen.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

c) Neben der offiziellen Auslegung und Erläuterung der zuständigen Behörden bei der Festlegung des Inhaltes der Normen des ausländischen Rechts können auch die am Rechtsstreit Beteiligten mitwirken. Sie können Dokumente zur Verfügung stellen, die den Inhalt der Normen des ausländischen Rechtes bestätigen und auf die sie zur Begründung ihrer Anforderungen oder Einwendungen Bezug nehmen. Die an der Sache Beteiligten können auch sonst in geeigneter Weise vor Gericht bei der Festlegung des Inhaltes dieser Normen mitwirken. Die Beweislast für den Inhalt der Normen des ausländischen Rechts kann auch denjenigen auferlegt werden, die mit der Ausübung unternehmerischer Tätigkeit durch die beteiligten Personen betraut wurden. In den Fällen, in denen trotz getroffener Maßnahmen der Inhalt der Normen des ausländischen Rechts in angemessener Zeit nicht festgelegt wurde, wird das russische Recht angewendet. Im Internationalen Privatrecht gibt es ferner einige Besonderheiten, welche die Anwendung imperativer Normen betreffen (Sh. Art. 1192). Bei Anwendung des Rechts eines Landes kann das Gericht u. a. die imperativen Normen eines anderen Landes in Betracht ziehen. d) Bemerkenswert ist der Art. 1193 „Klausel über öffentliche Ordnung“. Das Wesen der Klausel über öffentliche Ordnung besteht darin, daß die Norm des ausländischen Rechts in Ausnahmefällen nicht angewendet wird, wenn die Auswirkungen ihrer Anwendung den Grundlagen der Rechtsordnung, d. h. der öffentlichen Ordnung der Russischen Föderation, widersprechen. Falls notwendig wird in diesen Fällen die jeweilige Norm des russischen Rechts angewendet. Hier ist zu beachten, daß der Verzicht auf die Anwendung einer Norm des ausländischen Rechts nicht auf Unterschieden des rechtlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems des ausländischen Staates im Verhältnis zum rechtlichen, politischen oder wirtschaftlichen System Rußlands beruhen darf. e) Die „Retorsion“ sieht die Festlegung von Gegeneinschränkungen (Retorsion) durch die Regierung Rußlands mit Bezug auf die vermögensrechtlichen Vermögens- und persönlichen nichtvermögensrechtlichen Rechte der Bürger und juristischer Personen ihres Staates vor, wo spezielle Einschränkungen der vermögensrechtlichen und persönlichen nichtvermögensrechtlichen Rechte der Bürger und juristischer Personen (Art. 1194) stattfinden. Als Beispiel kann der Fall dienen, daß die Regierung Polens vor zwei Jahren die Rechte russischer Bürger bei der Ausübung des Grenzhandels einschränkte. Die russische Regierung wandte unverzüglich analoge Einschränkungen (Retorsionen) in bezug auf polnische Bürger an. Ein weiteres Beispiel: Die amerikanische Regierung machte zusätzliche, die Rechte russischer Bürger einschränkende Forderungen bei der Erteilung von Visa für die Einreise in die USA geltend. Die russische Regierung traf Gegenmaßnahmen und erhob Zusatzforderungen für die Dokumente für nach Rußland einreisende amerikanische Bürger. Dies sind die allgemeinen Bestimmungen, die im Abschnitt VI „Internationales Privatrecht“ des Dritten Teils des Zivilgesetzbuchs der Russischen Föderation enthalten sind und die juridische Kommunikation über das nationale Recht weit hinausreichend nachhaltig reglementieren.

II. Westliches Privatrecht und russisches Privatrechtssystem

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f) Kapitel 67 des Abschnittes „Internationales Privatrecht“ ist dem Recht gewidmet, das der Anwendung bei Bestimmung der Rechtslage der Personen unterliegt. aa) In Art. 1195 „Persönliches Recht natürlicher Person“ (lex personalis) wird bestimmt, dass als persönliches Recht natürlicher Person das Recht des Landes genannt wird, dessen Staatsangehörigkeit diese Person besitzt. Bei doppelter Staatsangehörigkeit (z. B. russischen und einer ausländischen Staatsangehörigkeit) gilt als persönliches Recht einer Person das russische Recht. Wenn ein ausländischer Bürger in Rußland wohnhaft ist, so ist sein persönliches Recht das russische Recht. Wenn eine Person mehrere fremde Staatsangehörigkeiten hat, so gilt als ihr persönliches Recht das Recht des Landes, in dem diese Person wohnhaft ist. Ähnlich wird die Frage auch in bezug auf Personen ohne Staatsbürgerschaft behandelt. Ihr persönliches Recht ist das Recht des Landes, in dem wohnhaft sind. Persönliches Recht von Flüchtlingen ist das Recht des Landes, das dem Flüchtling Unterkommen gewährt.217 bb) Ferner muß das Recht bestimmt werden, das der Anwendung bei Bestimmung der Zivilrechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit einer natürlichen Person unterliegt. Die Zivilrechtsfähigkeit einer natürlichen Person wird durch ihr persönliches Recht bestimmt. Die ausländischen Bürger und Personen ohne Staatsbürgerschaft genießen in Rußland die gleiche Zivilrechtsfähigkeit wie die russischen Bürger, ausgenommen die im Gesetz (Art. 1196) festgelegten Fälle. Die Zivilrechtsfähigkeit einer natürlichen Person wird auch durch ihr persönliches Recht (Punkt 1 Art. 1197) festgelegt. cc) Die Bestimmung über das Recht, das bei Bestimmung der Fähigkeit einer natürlichen Person anzuwenden ist, eine unternehmerische Tätigkeit auszuüben, ist die Novelle dieses Abschnitts. Die natürliche Person kann eine unternehmerische Tätigkeit auch ohne Ausbildung einer juristischen Person als Einzelunternehmer ausüben. Diese Tätigkeit wird gemäß dem Recht des Landes bestimmt, in dem die natürliche Person als Einzelunternehmer gemeldet ist. Bei Nichtvorhandensein der verbindlichen Registrierung wird das Recht des Landes des Grundortes der Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit (Art. 1201) angewendet. dd) Subjekte des Internationalen Privatrechts sind auch juristische Personen. Im Kapitel 67 wird die Rechtslage einer juristischen Person festgelegt; dieser Frage ist ein einzelner Artikel – Art. 1202 – „Persönliches Recht der juristischen Person“ gewidmet. Gemäß dem Punkt 1 Art. 1202 ist persönliches Recht einer juristischen Person das Recht des Landes, indem diese juristische Person gegründet wurde. Und der Punkt 2 sieht vor, daß aufgrund des persönlichen Rechtes einer juristischen Person folgendes festgelegt wird: (1) der Status der Organisation als juristische Person; (2) die organisationsrechtliche Form der juristischen Person; 217

Barinov (FN 215).

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

(3) die Anforderungen an die Bezeichnung der juristischen Person; (4) Fragen der Gründung, Reorganisation und Liquidation juristischer Personen, darunter auch die Fragen der Rechtsnachfolge; (5) der Inhalt der Rechtsfähigkeit juristischer Personen; (6) Ordnung der Bestellung von Zivilrechten und die Übernahme von Zivilpflichten durch eine juristische Person; (7) die Innenverhältnisse, darunter auch Verhältnisse der juristische Person zu ihren Teilnehmern; (8) die Fähigkeit der juristischen Person, für ihre Verpflichtungen zu haften. In Punkt 3 Art. 1202 ist vorgesehen, daß eine juristische Person nicht auf die Einschränkung der Befugnisse ihrer Organe oder von den Vertretern auf Vornahme eines Rechtsgeschäfts Bezug nehmen kann, das dem Recht des Landes nicht bekannt ist, in dem das Organ oder der Vertreter der juristischen Person ein Geschäft abgeschlossen hat. Diese Regelung ist analog zur Regelung in Punkt 2 Art. 1197, der eine natürliche Person betrifft. Außer dem persönlichen Recht natürlicher und juristischer Personen wird im Kapitel auch das persönliche Recht der ausländischen Organisationen bestimmt, die nach ausländischem Recht keine juristischen Personen sind (Art. 1203). Das persönliche Recht einer solchen Organisation ist das Recht des Landes, in dem diese Organisation gegründet wurde. Wenn auf diese Organisation das russische Recht angewendet wird, so werden die Bestimmungen des Gesetzbuches angewendet, welche die Tätigkeit juristischer Personen regeln, sofern aus dem Gesetz, aus sonstigen Rechtsakten oder aus dem Wesen des Verhältnisses nichts anderes hervorgeht. Subjekte des Internationalen Privatrechts sind auch die Staaten. Deswegen werden auf Zivilrechtsverhältnisse, die durch ein ausländisches Element bestimmt werden, auf die Beteiligung des Staates die Regelungen dieses Abschnittes angewendet, sofern durch das Gesetz nichts anderes festgelegt wurde. Letzteres ist zum Beispiel der Fall bei dem staatlichen Vermögen, das sich auf dem Territorium eines ausländischen Staates befindet. Hierüber wird im nächsten Kapitel 68 – „Recht, das der Anwendung auf vermögensrechtliche und persönliche nichtvermögensrechtliche Verhältnisse unterliegt“ die Rede sein. Hierbei ist zu beachten, daß die allgemeinen Bestimmungen über das Recht, das der Anwendung auf Sachenrechte unterliegt, darin bestehen, daß der Inhalt des Eigentumsrechts und sonstiger Sachenrechte auf immobiles und mobiles Vermögen, ihre Ausübung und ihr Schutz nach dem Recht des Landes bestimmt werden, in dem sich dieses Vermögen befindet. Diese Bestimmung bedeutet, daß auf Vermögen, das sich im Ausland befindet, die Anknüpfung „Gesetz des Sitzes des Vermögens“ angewendet wird, d. h. das Gesetz des Staates, auf dessen Territorium sich das Vermögen befindet. Dieses allgemeine Prinzip ist aber auf das Staatsvermögen nicht anwendbar, denn letzteres ist immun, d. h. unantastbar. Es darf nicht

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beschlagnahmt werden; es darf der Einziehung und ähnlichen Handlungen ohne Zustimmung des Staates als des Eigentümers nicht unterworfen werden. Die Immunität ist bedingt durch die staatliche Souveränität. Nur der jeweilige Staat ist berechtigt, das Schicksaal seines Vermögens zu bestimmen. In Art. 1206 ist das Recht vorgesehen, das die Entstehung und Beendigung der Sachenrechte betrifft. Die Entstehung und Beendigung des Eigentumsrechts und sonstiger Rechte am Vermögen wird nach dem Recht des Landes bestimmt, in dem dieses Vermögen zum Zeitpunkt der Umstände war, die zur Entstehung und Beendigung des Eigentumsrechts und sonstiger Sachenrechte führten. Ein besonderer Fall ist die Entstehung und Beendigung des Eigentumsrechts und sonstiger Sachenrechte an beweglichem Vermögen. Bei solchen Geschäften wird Entstehung und Beendigung des Rechts nach dem Recht des Landes festgelegt, aus dem das Vermögen abgesendet wurde, sofern nichts anderes durch Gesetz festgelegt wurde. Die Entstehung des Eigentumsrechts am Vermögen kraft der Erwerbsverjährung wird nach dem Gesetz des Landes bestimmt, in dem sich das Vermögen am Zeitpunkt des Ablaufs der Erwerbsverjährung befand.218 Zum Eigentumsrecht und sonstigen Sachenrechten an Luftfahrzeugen und Seefahrzeugen, an Schiffen in der Binnenschiffahrt und an kosmischen Objekten wird das Recht des Landes angewendet, in dem diese Schiffe und Objekte angemeldet sind (Art. 1207). g) Im Dritten Teil des ZGB der Russischen Föderation werden auch die Fragen der Klageverjährung (Art. 1208) behandelt. Die allgemeine Regelung besteht darin, daß die Klageverjährung nach dem Recht des Landes bestimmt wird, dem die Anwendung auf die jeweiligen Verhältnisse unterliegt. Zu beachten ist, daß in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Rechtssystemen das Institut der Klageverjährung seiner Rechtsnatur nach entweder zum materiellen Recht (europäisches Rechtssystem) oder zum prozessualen Recht (anglo-amerikanisches Rechtssystem) gehört. Im selben Abschnitt ist auch ein Hinweis auf die Form des Geschäftes und auf das Recht vorhanden, das der Anwendung in Form des Geschäftes unterliegt. Die allgemeine Regelung besteht darin, daß sich die Form des Geschäftes dem Recht des Ortes der Vornahme des Geschäftes unterordnet. Wenn aber das Geschäft im Ausland vollzogen ist und dabei die Form des Geschäftes nicht eingehalten wurde, kann letzteres nicht für ungültig erklärt werden, wenn die Anforderungen des russischen Rechts eingehalten wurden. Die Regelungen über die Form des Geschäftes gelten auch für die Form der Vollmacht (Punkt 1 Art. 1209). Es gelten einige Besonderheiten für die Form eines außenwirtschaftlichen Geschäftes. Unabhängig vom Ort der Vornahme eines außenwirtschaftlichen Geschäftes durch eine russische juristische Person unterliegt dessen Form dem russischen Recht. Diese Regelung erstreckt sich auch auf die Fälle, in denen wenigstens eine der Seiten des jeweiligen Geschäftes eine natürliche Person ist, welche die 218

Ebd.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

unternehmerische Tätigkeit ausübt und deren persönliches Recht russisches Recht ist. Was die Form des Geschäftes in bezug auf immobiles Vermögen angeht, so unterliegt dieses dem Recht des Landes, in dem sich dieses Vermögen befindet, und in bezug auf immobiles Vermögen, das ins Staatliche Register Rußlands eingetragen wurde, dem russischen Recht (Art. 1209). Einige Artikel dieses Abschnitts sind der Wahl des Rechtes durch die Vertragsparteien gewidmet. Bei Vertragsschließung bzw. danach können die Vertragsparteien nach Vereinbarung das Recht wählen, nach dem sich ihre Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag bestimmen. Das durch die Vertragsparteien gewählte Recht wird auf die Entstehung des Eigentumsrechtes und sonstiger Sachenrechte am mobilen Vermögen unbeschadet der Rechte Dritter (Punkt 1 Art. 1210) angewendet.219 Die Vereinbarung der Vertragsparteien über die Wahl des anzuwendenden Rechts soll ausdrücklich erfolgen bzw. aus den Vertragsbedingungen und der Gesamtheit der Sachverhalte (Punkt 2 Art. 1210) folgen. Wenn die Vertragsparteien eine Vereinbarung über die Wahl des anzuwendenden Rechts nach Vertragsschließung geschlossen haben, so hat diese Vereinbarung Rückwirkung und gilt unbeschadet der Rechte Dritter ab dem Zeitpunkt der Vertragsschließung (Punkt 3 Art. 1210). Dabei können die Vertragsparteien das anzuwendende Recht für den Vertrag im Ganzen, aber auch für seine Einzelteile bestimmen. In Art. 1211 wird die Frage nach dem anzuwendenden Recht bei Nichtvorhandensein einer Vereinbarung der Vertragsparteien über die Wahl des Rechtes geregelt. Fehlt eine derartige Vereinbarung, so wird auf den Vertrag das Recht des Landes angewendet, mit dem der Vertrag am engsten verbunden ist. Als Recht des Landes gilt in diesem Fall das Recht des Landes, in dem die Vertragspartei wohnhaft ist bzw. ihre Wirkungsstätte hat, bzw. in dem die Vertragspartei die Erfüllung ausübt, die für den Vertragsinhalt entscheidend ist. Als Vertragspartei, die diese Erfüllung ausübt, gelten: (1) Verkäufer – im Kaufvertrag; (2) Schenker – im Schenkungsvertrag; (3) Vermieter – im Mietvertrag; (4) Darlehensgeber – im Darlehensvertrag; (5) Auftragnehmer – im Werkvertrag; (6) Spediteur – im Speditionsvertrag; (7) Expeditor – im Expeditionsvertrag. Ebenso wird die Frage für 12 andere in Art. 1211 aufgezählte Verträge gelöst. In Punkt 4 dieses Artikels wird festgelegt, daß als Recht des Landes, mit dem der 219

Ebd.

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Vertrag am engsten verbunden ist, insbesondre (wenn nichts anderes aus dem Gesetz, aus den Bedingungen oder aus dem Wesen des Vertrags bzw. aus der Gesamtheit der Sachverhalte resultiert) mit Blick auf den Bauleistungsvertrag sowie den Werkvertrag über die Ausführung der Entwurfs-, Ermittlungs- und Vorarbeiten das Recht des Landes gilt, in dem generell die durch den jeweiligen Vertrag vorgesehenen Ergebnisse gefallen werden; für den Vertrag der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts gilt das Recht des Landes, in dem generell die Tätigkeit einer solchen Gesellschaft ausgeübt wird; in bezug auf den Vertrag, der bei einer Auktion, Versteigerung oder in der Börse geschlossen wurde gilt das Recht des Landes, in dem die Auktion oder die Versteigerung durchgeführt wird bzw. in dem sich die Börse befindet. Der jeweils geschlossene Vertrag kann Elemente unterschiedlicher Verträge enthalten. Auf diese wird das Recht des Landes angewendet, mit dem der Vertrag, im Allgemeinen angesehen, am engsten verbunden ist, sofern nichts anderes aus dem Gesetz, den Bedingungen oder dem Wesen des Vertrags bzw. der Gesamtheit der Sachverhalte resultiert. Bei Vertragsschließung können die im internationalen Geschäftsverkehr anerkannten Fachausdrücke verwendet werden. Bei Nichtvorhandensein sonstiger Hinweise im Vertrag gilt, daß die Vertragsparteien die Anwendung der guten Sitten des Geschäftsverkehrs vereinbarten haben, die durch die jeweiligen kaufmännischen Fachausdrücke (Punkt 6 Art. 1211) bezeichnet werden. Was diese kaufmännischen Fachausdrücke betrifft, so wurden im Jahre 2000 Internationale Handelsklauseln, sogen. „INCOTERMS-2000“ verabschiedet. Alle Fachausdrücke unterteilen sich in vier Gruppen: Gruppe E enthält nur einen Fachausdruck – „frei ab Fabrik“; Gruppe F enthält vier Fachausdrücke: „frachtfrei“, „frei an Bord“, „Bestimmungshafen“, „Kosten und Fracht“; Gruppe C enthält gleichfalls fünf Fachausdrücke: „Kosten und Fracht“, „Bestimmungshafen“, „Preis, Versicherung, Fracht, Bestimmungshafen“, „Transport bezahlt bis . . . Bestimmungsort“, „Transport und Versicherung bezahlt bis . . . Bestimmungsort“; Gruppe D enthält sechs Fachausdrücke: „frei Längsseite Schiffs“, „Versandhafen“, „frachtfrei“, „delivered at frontier“, „delivered ex quay (mit Angabe des Bestimmungshafens)“, „Sendestelle Artikel mit Vorbehalt der Ware mit den Bedingungen SGT, DDR usw.“.220 Die im Art. 1212 festgelegten Beschlagnahmen werden auf den Speditionsvertrag, auf den Vertrag über Arbeitsausführung oder über Dienstleistungen nicht angewendet, wenn Erfüllung in einem anderen Land zu vollziehen ist, als dem Land des Wohnortes des Verbrauchers. Aber die angegebenen Beschlagnahmen erstrecken sich nicht auf Verträge über Beförderungsdienstleistungen und die Anordnung von Pauschalpreisen, insbesondre nicht auf Verträge im Bereich der Touristenbetreuung. 220

Ebd.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Bei Nichtvorhandensein einer Vereinbarung der Vertragsparteien über das auf Immobilien anzuwendende Recht, wird das Recht des Landes angewendet, mit dem der Vertrag am engsten verknüpft ist. Als Recht des Landes, mit dem ein Vertrag am engsten verbunden ist, gilt das Recht des Landes, in dem sich immobiles Besitztum befindet, sofern aus dem Gesetz, den Bedingungen oder dem Wesen des Vertrags bzw. der Gesamtheit der Sachverhalte nichts anderes resultiert. Auf Verträge über Grundstücke, Bodenstücke, abgesonderte Wasserobjekte und anderes immobiles Besitztum, die sich auf dem Territorium Rußlands befinden, wird russisches Recht (Art. 1213) angewendet. Auf den Vertrag über die Gründung einer juristischen Person mit ausländischer Beteiligung wird das Recht des Landes angewendet, in dem gemäß dem Vertrag die juristische Person (Art. 1214) zu gründen ist. In Art. 1215 wird der Wirkungsbereich des auf die Verträge anzuwendenden Rechts festgelegt. Zu diesen Wirkungsbereichen gehören: die Auslegung des Vertrags, Rechte und Pflichten der Vertragsparteien, die Erfüllung des Vertrags, Folgen der Nichterfüllung des Vertrags, Beendigung und Folgen der Ungültigkeit des Vertrags. In Art. 1217 wird das auf die Verträge anzuwendende Recht festgelegt, das aus einseitigen Rechtsgeschäften entsteht. Als solches Recht gilt das Recht des Landes, in dem sich der Wohnort oder die Hauptwirkungsstätte der Vertragspartei befindet, welche die Verpflichtungen aus dem einseitigen Rechtsgeschäft wahrnimmt, sofern nichts anderes aus dem Gesetz, den Bedingungen oder dem Wesen des Vertrags bzw. der Gesamtheit der Sachverhalte resultiert. Das in bezug auf die Verhältnisse zur Zinszahlung anzuwendende Recht ist im Art. 1218 vorgesehen, gemäß dem die Erhebung, die Erhebungsform und der Betrag von Geldforderungen auf die jeweilige Verpflichtung anzuwendenden Recht des Landes bestimmt wird. h) Im Abschnitt VI des Dritten Teils des Zivilgesetzbuches ist eine Reihe von Artikeln der Regelung der Verantwortlichkeit wegen Schadenzufügung gewidmet. Nach Bestimmungen der internationalen rechtlichen Normen sowie dem Gesetz der Russischen Föderation „Über Schutz der Verbraucherrechte“ legt Art. 1221 das Recht fest, das Mängel an Waren, Arbeiten oder Dienstleistungen regelt. Auf Forderungen von Schadensersatz bei Mängeln an Waren, Arbeiten oder Dienstleistungen werden nach Wahl des Geschädigten angewendet: (1) das Recht des Landes, in dem der Verkäufer oder Warenproduzent bzw. ein anderer Schadensverursacher wohnhaft ist oder seine Hauptwirkungsstätte hat; (2) das Recht des Landes, in dem der Geschädigte wohnhaft ist oder seine Hauptwirkungsstätte hat; (3) das Recht des Landes, in dem die Arbeit ausgeführt, die Dienstleistung erbracht wurde oder das Recht des Landes, in dem die Ware angeschafft wurde.

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Aber die Wahl des in Punkt 2 und 3 vorgesehenen Rechtes durch den Geschädigten kann nur anerkannt werden, wenn der Schadensverursacher nicht beweist, daß die Ware ohne seine Zustimmung in das jeweilige Land kam. Nimmt der Geschädigte das ihm erteilte Recht der Wahl nicht in Anspruch, so wird das anzuwendende Recht gemäß Art. 1219 des Gesetzbuches bestimmt, d. h. das Recht des Landes wird angewendet, in dem die Handlung oder ein sonstiger Umstand eintraten, welche die Grundlage für die Schadensersatzforderung bilden. Die Regelungen des Art. 1221 werden auch auf Ersatzforderungen wegen eines Schadens angewendet, der infolge unzuverlässiger oder unzureichender Informationen über Waren, Arbeit oder Dienstleistungen zugefügt wurde. Unter den Bedingungen der Gestaltung des russischen Marktes und der Marktverhältnisse wird großer Wert auf Vervollkommnung der antimonopolistischen Gesetzgebung gelegt, die auf Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs gerichtet ist. Im Art. 1222 des ZGB der Russischen Föderation ist festgelegt, daß auf die Verpflichtungen, die infolge unlauteren Wettbewerbs entstehen, das Recht des Landes angewendet wird, dessen Markt durch diese Konkurrenz betroffen wurde, sofern nichts anderes aus dem Gesetz oder aus dem Wesen der Verpflichtung resultiert. Die Einnahme der marktbeherrschenden Position in einem der Wirtschaftsbereiche durch ein Wirtschaftssubjekt führt zum Monopolismus. Dem Monopolismus und dem von ihm beherrschten Monopolmarkt kann nur der wirtschaftliche Wettbewerb auf den von ihm beherrschten Märkten entgegenwirken. Der Konkurrenzmarkt ist außerdem mit den demokratischen Grundlagen eng verbunden, indem er die wirtschaftliche Gegenmacht der Verbraucher etabliert und auf Dauer stellt. Konkurrenz schafft Impulse zur Entwicklung von Produktion und Wirtschaft. Sie dient als Mechanismus zur Aufdeckung der effizientesten Lösungen und gewährleistet die Bedingungen der Handlungsfreiheit und des wirtschaftlichen Handelns. Abschnitt VI des Dritten Teils des ZGB der Russischen Föderation enthält in Art. 1224 – „Das auf Erbverhältnisse anzuwendende Recht“. Punkt 1 dieses Artikels sieht vor, daß Erbverhältnisse nach dem Recht des Landes bestimmt werden, in dem der Erblasser zuletzt wohnhaft war. Dieser Artikel kann aber auch anderes vorsehen. Und weiterhin ist vorgesehen, daß die Erbschaft des immobilen Vermögens nach dem Recht des Landes bestimmt wird, in dem sich dieses Erbe befindet. Die Beerbung immobilen Vermögens, das ins staatliche Register Rußlands eingetragen wurde, wird nach dem russischen Recht bestimmt. In Punkt 2 Art. 1224 werden die Umstände charakterisiert, die mit der Fähigkeit einer Person, das Testament zu errichten und zu widerrufen, auch mit der Testamentsform und dem Akt des Testamentswiderrufs verbunden sind. Diese Fragen werden nach dem Recht des Landes bestimmt, in dem der Erblasser im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments oder des Aktes wohnhaft war. Zugleich wird in diesem Artikel hervorgehoben betont, daß das Testament oder der Akt des Testamentswiderrufs wegen Nichteinhaltung der Form nicht für ungültig erklärt werden

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

können, wenn sie den Rechtsforderungen des Ortes, an dem das Testament oder der Akt des Testamentswiderrufs abgefaßt wurden, den Anforderungen des russischen Rechts genügen. Der Abschnitt „Internationales Privatrecht“ im Dritten Teil des ZGB der Russischen Föderation kennzeichnet eine neue Etappe in der russischen Gesetzgebung, nämlich den Weg zur Begründung und Entwicklung des Internationalen Privatrechts in Rußland am Beginn des XXI Jahrhunderts. Sie dient der Herausbildung und der weiteren Entfaltung der Regelungsbasis von zivilrechtlichen und sonstigen Rechtsverhältnissen unter Teilnahme ausländischer Bürger und ausländischer juristischer Personen sowie von zivilrechtlichen Verhältnissen mit sonstigen ausländischen Elementen. Diese Regelungen zeigen zugleich, wie voraussetzungsvoll die juridische Kommunikation im Überschneidungsbereich nationaler und internationaler Rechtsordnungen geworden ist, an denen auch Rußland und die Russische Föderation nachhaltig beteiligt sind.

2. Probleme unmittelbarer Anwendung internationaler Verträge Internationale Verträge221 sind die Quelle sowohl des internationalen öffentlichen Rechts als auch des internationalen Privatrechts. In diesem Artikel wird das Problem der unmittelbaren Anwendung sowie der Wirkungen internationaler Verträge Rußlands als der Quellen des internationalen Privatrechts behandelt. Das Problem der unmittelbaren Anwendung internationaler Verträge Rußlands ist ein hochkomplexes und aktuelles theoretisches wie praktisches Problem. Seine theoretische Bedeutung besteht in einer rechtlichen Begründung der Notwendigkeit unmittelbarer Anwendung internationaler Verträge Rußlands sowie der Herausbildung und Begründung der Doktrin der unmittelbaren Anwendung von Bestimmungen internationaler Verträge. Ihre praktische Bedeutung besteht in der Stärkung der Rechtsbasis des sozial-wirtschaftlichen Bereiches, in der Sicherung der stabilen Lage der Teilnehmer des zivilrechtlichem Verkehrs, d. h. natürlicher und juristischer Personen, unter den geänderten sozial-wirtschaftlichen Bedingungen Rußlands, unter den Bedingungen der Gestaltung des Marktes und der Marktverhältnisse, die auf das System des russischen Rechtes Einfluß durch äußere Faktoren, Geschehnisse und Prozesse in der Welt ausübten und ausüben. Die Begründung der Doktrin (der Lehre) über die unmittelbare Anwendung internationaler Verträge in Rußland geht aus den allgemeinen Prinzipien des internationalen Rechts hervor, die in grundlegenden internationalen rechtlichen Akten festgelegt sind. Die wichtigsten sind die Deklaration der Menschenrechte, die durch die Organisation der Vereinten Nationen am 10. November 1948 verabschie221 Barinova, Marina N., Processual’nie normi v rossijskich mezdunarodno-pravovych aktach [Normen des Prozeßrechts in internationalen Rechtsakten Rußlands], Saratov 2000.

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det wurde, und die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die vom Europarat am 4. November 1950 verabschiedet wurde. In Art. 2 der Deklaration wurde festgelegt, daß jeder Mensch Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten hat. Der Art. 28 besagt, daß jeder Mensch Recht auf soziale und internationale Ordnung hat, wobei die in der Deklaration formulierten Rechte und Freiheiten in vollem Umfang realisiert werden können. Für das Internationale Privatrecht ist die Vorherrschaft der dadurch geregelten Vermögensverhältnisse (zivilrechtlicher Verhältnisse) charakteristisch. Hiervon gehen die im Art. 17 der Deklaration festgelegten Bestimmungen aus: „1. Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben. 2. Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.“ Bei Verstoß gegen die grundlegenden Menschenrechte sieht die Deklaration vor, daß alle Menschen dem Gesetz gegenüber gleich sind und deshalb ein Recht auf gleichen Schutz durch das Gesetz und die effektive Wiederherstellung der Rechte durch zuständige Gerichte haben. Im Art. 6 der Europäischen Konvention wird das Recht jedes Menschen bei Bestimmung seiner Zivilrechte und Zivilpflichten an gerechter Gerichtsverhandlung festgelegt. Zu diesem Zwecke wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegründet. Bekommt der Mensch keine positive gerichtliche Behandlung durch Gerichtsbehörden des Landes seines Wohnortes, so ist er berechtigt, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden. Die anzunehmenden internationalen Verträge haben von den Bestimmungen auszugehen, die in der Deklaration und der Konvention festgelegt sind. Internationale Verträge haben eine große Rolle nicht nur bei Herausbildung der Rechtsgrundlage zwischenstaatlicher Beziehungen, sondern auch beim Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten des Menschen. Gemäß Punkt 4 Art. 15 der Verfassung der Russischen Föderation sind die internationalen Verträge nebst allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des internationalen Rechtes Bestandteil des russischen Rechtssystems. Deswegen entsteht die Frage: Können internationale Verträge unmittelbar ohne Änderung, ohne Transformation in die innere (russische) Gesetzgebung angewendet werden? Aber dieses Problem (diese Doktrin), wie auch andere Doktrinen des Internationalen Privatrechts wurden erst in den letzten Jahren erarbeitet.222 Wie G. K. Dmitrieva bemerkt, hat die „extraterritoriale Rechtswirkung viele Aspekte, die sowohl privates als auch öffentliches Recht betrifft. Einen besonderen Platz nimmt dabei die Anwendung des ausländischen Rechtes ein.“223 222 Ferner dazu: Boguslavskij, Michail, Mezdunarodnoe castnoe pravo [Internationales Privatrecht], Moskau 1994, S. 86 ff.; Dmitrieva, Galina, Mezdunarodnoe castnoe pravo [Internationales Privatrecht], Moskau 2000, S. 143 ff.; Fedoseeva, Galina, Mezdunarodnoe castnoe pravo [Internationales Privatrecht], Moskau 1999, S. 91 – 107. 223 Vgl. Dmitrieva (FN 222), S. 143.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Das Problem der Anwendung des ausländischen Rechts sieht einige kommunikative Etappen vor, die der unmittelbaren Anwendung des Rechts vorausgehen. Diese Etappen sind unserer Meinung nach: der Grund für die Anwendung des ausländischen Rechts bei Beteiligung von Ausländern und sonstigen ausländischen Elementen; die Festlegung des Inhalts des ausländischen Rechts; Auslegung der Normen des ausländischen Rechts; Wahl des anzuwendenden Rechts; Rechtsqualifizierung; Einschränkung der Anwendung des ausländischen Rechts. Die Staatsduma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation verabschiedete am 1. November 2001 den Dritten Teil des ZGB der Russischen Föderation mit dem „Abschnitt VI. Internationales Privatrecht“.224 Das ist eine Novellierung nicht nur des Zivilgesetzbuches, sondern auch der russischen Gesetzgebung, denn in Rußland war weder ein spezielles Gesetz über Internationales Privatrecht noch ein Abschnitt im Gesetzbuch vorhanden, wie das in den meisten Ländern der Welt der Fall ist. Gemäß Punkt 1 Art. 1186 des Dritten Teils des Zivilgesetzbuches wird das Recht, das an zivilrechtliche Verhältnisse unter Beteiligung ausländischer Bürger oder juristischer Personen, zivilrechtliche Verhältnisse mit sonstigen ausländischen Elementen angewendet, darunter auch in den Fällen, in denen sich das Objekt der Zivilrechte im Ausland befindet. Die Rechtsanwendung erfolgt auf Grund internationaler Verträge, des ZGB der Russischen Föderation, anderer in Rußland anerkannter Gesetze und der guten Sitten bestimmt. In diesem Artikel ist ein Grund wie Vereinbarung der Vertragsparteien nicht angegeben, doch das bedeutet nicht, daß ein derartiger Grund überhaupt nicht vorgesehen ist. Artikel 1210 des ZGB der Russischen Föderation ist speziell der Vereinbarung der Vertragsparteien über die Wahl des anzuwendenden Rechtes gewidmet. Unter sonstigen ausländischen Bezügen werden in Art. 1186 des ZGB der Russischen Föderation Rechtstatsachen erwähnt, mit denen die Anwendung des ausländischen Rechtes verbunden ist: hier wird das Recht des Landes angewendet, in dem die Rechtstatsachen vorkamen. Zu beachten ist, daß unter den angegebenen Gründen internationale Verträge Rußlands den Vorrang genießen, was dem Punkt 4 Art. 15 der Verfassung der Russischen Föderation und Art. 7 des ZGB der Russischen Föderation entspricht. In der juristischen Fachliteratur wird darauf hingewiesen, daß die Einschätzung internationaler Vereinbarungen (Verträge) in drei Etappen erfolgen soll: a) Bestimmung des Kreises von dazugehörenden internationalen Vereinbarungen; b) Bestimmung des Wirkungsbereiches dieser Vereinbarungen vom Standpunkt der vermögensrechtlichen, persönlichen, räumlichen und zeitlichen Kriterien; c) Bezugnahme auf andere Vereinbarungen und allgemeine Prinzipien internationalen Rechts.225 Gesetzessammlung der Russischen Föderation, 2001, Nr. 49. Art. 4552. Siehe auch: Winkler von Mohrenfels, Peter / Koch, Magnus, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 4. Aufl., München 2001, S. 24. 224 225

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Was die unmittelbare Anwendung und Wirkung internationaler Verträge angeht, so besteht im Schrifttum keine einheitliche Meinung. Die Meinungen und Theorien, divergieren mit den unterschiedlichen Rechtssystemen. Nach der englischen Doktrin (Theorie) entscheidet das „Recht, das dem Vertrag innewohnend ist“ („proper law of the contract“), über das Recht, „das ein englisches oder sonstiges Gericht bei Bestimmung von Vertragsverpflichtungen anzuwenden hat“.226 Es gilt das grundlegende Rechtssystem, d. h. das so genannte „Recht, das als dem Vertrag innewohnend “ bezeichnet wird. Jedoch werden nicht alle Fragen des Vertrags durch ein und dasselbe Recht geregelt. Die Vertragsparteien können vorsehen, daß unterschiedliche Aspekte und Teile des Vertrags durch unterschiedliche Rechtssysteme geregelt werden. Nach Wesen einer anderen Theorie wird darauf abgestellt, daß das „Recht, das dem Vertrag innewohnend ist“, das Recht des Landes ist, in dem der Vertrag als lokalisiert zu gelten hat. Der Vertrag soll daher die Angaben über den Anmeldeort enthalten. Demgemäß wird der Vertrag dem Recht dieses Landes untergeordnet.227 In Europa verbreitet ist die Doktrin der ,Willensautonomie‘, die in drei Fällen in Erscheinung tritt: (1) Die Vertragsparteien haben das dem Vertrag innewohnende Recht direkt gewählt; (2) die Wahl des dem Vertrag innewohnenden Rechts kann sich auch von selbst verstehen; (3) die Vertragsparteien haben ganz im Gegenteil kein dem Vertrag innewohnendes Recht gewählt. Der letzte Fall wird verbunden mit dem Prinzip der „Absichten der Vertragsparteien“. Das Gericht selbst hat die Absichten der Vertragsparteien über das anzuwendende Recht zu erschließen. Eine Analyse der angegebenen Doktrinen (Theorien) zeigt, daß sie das Recht vorsehen, das dem Vertrag innewohnend ist oder auf den ganzen Vertrag oder einzelne seiner Elemente anzuwenden ist. Hier handelt es sich nicht nur um das auf den Vertrag anzuwendende Recht, sondern um Verträge, die bestimmte Regelungen festlegen, konkrete Verhältnisse regeln und unmittelbar angewendet werden und wirken. Dem internationalen Vertrag kommt dabei eine bestimmende Rolle bei Herausbildung der Normen des internationalen Privatrechtes zu. Demgemäß regeln internationale Verträge im Bereich des internationalen Privatrechts die rechtlichen Verhältnisse unter Beteiligung juristischer und natürlicher Personen-Subjekte des Binnenrechts. Aber die Vertragsverpflichtungen werden auch dem daran teilnehmenden Staat auferlegt, der für Angleichung seines Binnenrechts an seine internationalen Verpflichtungen haftet.228 Die Angleichung des Binnenrechts an internationale Verträge erfolgt durch Transformation (Implementierung), d. h. durch Überführung der Normen des inter226 Zitiert nach: Cešir, Jurij / Nort, Petr, Mezdunarodnoe castnoe pravo [Internationales Privatrecht], Moskau 1982, S. 243. 227 Vgl. ebd., S. 246. 228 Siehe auch: Skaridov, Aleksandr, Mezdunarodnoe castnoe pravo [Internationales Privatrecht], Sankt Petersburg 1998, S. 57.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

nationalen Vertrags in innerstaatliche Rechtsnormen. Indem der Staat die Normen der internationalen Verträge in innerstaatliches Recht transformiert, drückt er seine Zustimmung zur Verbindlichkeit des internationalen Vertrags aus. Diese Zustimmung ist in Art. 6 FG „Über internationale Verträge der Russischen Föderation“ 1995 vorgesehen. Diese Zustimmung äußert sich in der Unterzeichnung des Vertrags, dem Austausch der den Vertrag bildenden Dokumente u. a. m. Hierdurch wird die kommunikative Übereinstimmung zum Ausdruck gebracht, die von den Vertragsparteien vereinbart wurde. Aber die Gesetzgebung der Russischen Föderation sieht auch die unmittelbare Anwendung internationaler Verträge Rußlands vor. So ist im Punkt 2 Art. 7 des Zivilgesetzbuches festgelegt, daß die internationalen Verträge der Russischen Föderation unmittelbar auf die Verhältnisse angewendet werden, die im Punkt 1 und 2 Art. 2 des Gesetzbuches festgelegt werden. Eine Ausnahme hiervon bilden die Fälle, in denen aus dem internationalen Vertrag resultiert, daß für dessen Anwendung die Verabschiedung eines innerstaatlichen Aktes erforderlich ist. In Punkt 1 Art. 2 des ZGB der Russischen Föderation wird bestimmt, daß die in der Zivilgesetzgebung festgelegten Regelungen auf die Verhältnisse unter Beteiligung ausländischer Bürger, Personen ohne Staatsbürgerschaft und ausländischer juristischer Personen angewendet werden, wenn nichts anderes durch die föderalen Gesetze vorgesehen ist. Im Art. 5 FG „Über internationale Verträge der Russischen Föderation“ gelangen die Bestimmungen des Punktes 4 Art. 15 der Verfassung der Russischen Föderation und des Punktes 1 Art. 7 des ZGB der Russischen Föderation zum Ausdruck, daß die internationalen Verträge Rußlands nebst allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des internationalen Rechts Bestandteil des Rechtssystems sind, und wenn internationale Verträge Rußlands sonstige andere Regelungen festlegen als das Gesetz es vorsieht, so werden die Regelungen des internationalen Vertrags angewendet. Art. 7 des ZGB der Russischen Föderation besagt, daß die Bestimmungen offiziell veröffentlichter internationaler Verträge Rußlands, die keine Verabschiedung und Zustimmung durch innerstaatliche Akte verlangen, in der Russischen Föderation unmittelbar gelten. Für die Erfüllung sonstiger Bestimmungen internationaler Verträge Rußlands werden entsprechende Rechtsakte verabschiedet.229 Demgemäß ist die unmittelbare Anwendung und Wirkung internationaler Verträge Rußlands nicht ausgeschlossen. Aber in der juristischen Fachliteratur besteht auch eine andere Meinung. So meint G. K. Dmitrieva, daß die von ihr durchgeführten Analysen dieses Problems den Schluß nahelegen, daß ein internationaler Vertrag keine Anwendung im binnenstaatlichen Bereich finde und folglich auch keine 229 Maryševa, Nadezda / Sadikov, Oleg, Mezdunarodnoe castnoe pravo [Internationales Privatrecht], Moskau 1984, S. 18; Lunc, L. A., Mezdunarodnoe castnoe pravo [Internationales Privatrecht], Moskau 1970, S. 54.

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Quelle des Binnenrechts, darunter auch des internationalen Privatrechts als eines der Rechtszweige des Binnenrechts, sei.230 Nach der hier vertretenen Auffassung bedarf die Folgerung von Dmitrieva der Kritik, denn sie stimmt mit der geltenden Gesetzgebung nicht ganz überein. Dmitrieva hat allerdings darin Recht, daß die meisten internationalen Verträge keine unmittelbare Anwendung finden. Aber wenn eine zusätzliche Zustimmung des Staates zur Anwendung nicht notwendig ist, so ist ein derartiger internationaler Vertrag Rußlands unmittelbar anzuwenden und insoweit nicht nur Quelle des internationalen Privatrechts, sondern auch des Binnenrechts. Wie es scheint, spricht der angeführte Inhalt des Punktes 1 Art. 1186 des Zivilgesetzbuches auch für die Anerkennung und die theoretische Begründbarkeit der unmittelbaren Anwendung einzelner internationaler Verträge Rußlands.

3. Internationales und innerstaatliches Recht im modernen Rußland Die Frage nach der Korrelation und nach dem Zusammenwirken des internationalen und des nationalen innerstaatlichen Rechts stand tatsächlich schon immer im Blick der inländischen Forscher. Davon zeugen zahlreiche Publikationen zum Thema, aber auch die hier anschließenden wissenschaftlichen Diskussionen. Das Interesse am Problem der Wechselbeziehung des internationalen und des nationalen inneren Rechtes Rußlands stieg besonders nach der Verabschiedung der Verfassung 1993. Artikel 15 der Verfassung Rußlands legte zum ersten Mal in der Entwicklungsgeschichte des Verfassungsrechts in unserem Land die Bestimmungen fest, die eine zwiespältige Reaktion der Sachkenner im Bereich des internationalen und innerstaatlichen Rechts Rußlands auslösten und zahlreiche wissenschaftliche Diskussionen verursachten.231 Dieser Artikel der Verfassung hat folgenden Wortlaut: „Die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des internationalen Rechts und internationale Verträge der Russischen Föderation sind ein Bestandteil des Rechtssystems der Russischen Föderation. Legt der internationale Vertrag der Russischen Föderation andere Regelungen fest als die durch das Gesetz vorgesehenen, so werden die Regelungen des internationalen Vertrags angewendet.“ Die Verabschiedung dieses Artikels zeugt davon, daß Rußland einen Riesenweg im Begreifen und Verstehen des internationalen Rechts und in der Bestimmung seines Charakters und des Verhältnisses in dem diese zum Binnenrecht Rußlands stehen, zurückgelegt hat. Ausgangspunkt auf diesem Wege war die bedingungslose Anerkennung der Priorität des einheimischen Rechts vor dem internationalen 230 231

Dmitrieva (FN 222), S. 144 f. Usenko, E.T., Mezdunarodnoe pravo [Internationales Recht], Moskau 2005, S. 13.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Recht. Weit verbreitet war die Meinung, daß das internationale Recht „in das System des sowjetischen Rechts als dessen Rechtszweig einzubeziehen ist“ sowie Überlegungen zum Thema „sowjetisches internationales Recht“ zur Priorität des sowjetischen Rechts gegenüber über dem internationalen Recht.232 Eine Zwischenstation auf diesem Wege war die Anerkennung der Priorität der Normen des internationalen ,Vertragsrechts‘ in den 60-er Jahren und die Entstehung zunächst zögerlich geäußerter und später auch offen ausgesprochener Meinungen über die Notwendigkeit einer Anerkennung der Priorität des internationalen Rechts vor dem nationalen Recht, wie sie in den 70-er Jahren unter dem Einfluß prowestlicher Stimmungen stattfand. Dabei setzten einige Autoren hintergründig, aber nachhaltig den folgenden Gedanken durch: da internationales Recht vom nationalen Recht nicht durch ,die Chinesische Mauer‘ getrennt sei, habe es keinen Sinn, über die relative Selbständigkeit und Unabhängigkeit dieser beiden Rechtssysteme zu streiten. Die Priorität solle beim internationalen Recht liegen. Der bekannte Wissenschaftler E. T. Usenko schrieb mit Recht, daß die „Einwände gegen die Selbständigkeit von zwei Rechtssystemen wissenschaftlich gegenstandslos sind“. Sie basieren auf Argumenten, die in der Logik Argumente ad hominem genannt werden, d. h. auf Argumenten, die sich an die Gefühle und Eindrücke des Menschen richten; sie gehen nicht von dem Wesen der Sache aus und sind keine Argumente ad rem. Letzte Etappe auf dem Wege der Ausarbeitung des internationalen Rechts und des Charakters seines Verhältnisses zum russischen Recht war eine intensive Herausbildung, Begründung und Rechtfertigung der Meinung, daß es notwendig und wichtig sei, die Priorität des internationalen Rechts nicht nur im Bereich der Vertragsverhältnisse des russischen Staates anzuerkennen, sondern auch in anderen Bereichen der Zusammenwirkung des internationalen und des innerstaatlichen Rechts in der zweiten Hälfte der 80er und Anfang der 90er Jahre.233 Die Apotheose dieser eigenartigen ,Kampagne‘ der Festlegung einer Priorität des internationalen Rechts bzw. einer rangmäßigen Überlegenheit über das innerstaatliche Recht Rußlands war die Verabschiedung der Bestimmung über die Einbeziehung eines wesentlichen Teils des internationalen Rechts durch dessen in seiner innerstaatliche Festlegung zuerst in der Verfassung, dann in anderen normativ-rechtlichen Akten. Das Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation wiederholt mit Blick auf die Verfassung Rußlands die Hauptbestimmung des Art. 15 Punkt 4 des Verfassung. In Artikel 7 Punkt 1 des Zivilgesetzbuches Rußlands heißt es: „Allgemein anerkannte 232 Vyšinskij, Aleksandr, Voprosi mez šdunarodnogo prava i mezšdunarodnoj politiki [Fragen des internationalen Rechts und der internationalen Politik], Moskau 1949, S. 481. 233 Ginzburg J., Sootnošenie mez šdunarodnogo i vnutrennego prava v SSSR i v Rossii [Verhältnis zwischen dem internationalen und innerstaatlichem Recht in der UdSSR und in Rußland], in: Gosudarstvo i pravo [Staat und Recht], Nr. 3 (1994), S. 111.

II. Westliches Privatrecht und russisches Privatrechtssystem

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Prinzipien und Normen des internationalen Rechts und internationale Verträge der Russischen Föderation sind gemäß der Verfassung der Russischen Föderation Bestandteil des Rechtssystems der Russischen Föderation.“ Auch im Zivilgesetzbuch erschien somit die Bestimmung (im Anschluß an die Verfassung Rußlands), wonach zu den Bestandteilen des Rechtssystems Rußlands nicht nur „internationale Verträge der Russischen Föderation“, sondern auch „allgemein anerkannte Prinzipien“ sowie „Normen des internationalen Rechts“ gehören. Allerdings wird in diesem normativ-rechtlichen Akt nichts über Rechtswirksamkeit internationaler Verträge Rußlands in bezug auf inländische Gesetze gesagt, wie das in der Verfassung Rußlands der Fall ist, welche die bedingungslose Priorität internationaler „Vertragsnormen“ vor den in den Gesetzen enthaltenen Normen festlegt. Aber die Zivilgesetzgebung ging weiter als die Verfassung in der Lösung der Frage nach dem Charakter des Verhältnisses des internationalen Vertragsrechts und des innenstaatlichen russischen Rechts. Das Zivilgesetzbuch Rußlands konkretisierte die die Priorität der internationalen Vertragsnormen festlegenden Verfassungsbestimmungen, indem es festlegte, daß internationale Verträge der Russischen Föderation unmittelbar auf eine Reihe der Verhältnisse angewendet werden, die im Gesetzbuch angegeben sind (Punkt 1–2 Art. 2), „ausgenommen die Fälle, in denen aus dem internationalen Vertrag resultiert, daß für seine Anwendung die Verabschiedung eines innerstaatlichen Aktes erforderlich ist“. Es handelt sich dabei um Verhältnisse, die entstehen: bei Bestimmung der Rechtslage der Teilnehmer des zivilrechtlichen Verkehrs; bei Bestimmung der Entstehung und Ordnung des Eigentumsrechts und anderer Sachenrechte; Verhältnisse, die ausschließliche Rechte an den Ergebnissen intellektueller Tätigkeit (geistiges Eigentum) betreffen; Schutz unveräußerlicher Rechte und Freiheiten des Menschen und anderer immaterieller Sachen durch die Zivilgesetzgebung, „wenn nichts anderes aus dem Wesen dieser immateriellen Sachen resultiert“ usw. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, nach denen die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des internationalen Rechtes sowie internationale Verträge der Russischen Föderation zum Bestandteil des Rechtssystems der Russischen Föderation erklärt werden, sowie die Bestimmungen über die Anerkennung der Priorität internationaler Verträge Rußlands vor Binnengesetzen der Russischen Föderation lösten bei diversen Autoren, die sich mit dem Verhältnis zwischen nationalem und internationalem Recht befassen, unterschiedliche Reaktionen und Bewertungen aus. Die Meinungspalette war und ist nach wie vor, auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr breit und unterschiedlich. Sie umfaßt die traditionellen Meinungen, die uneingeschränkt den in der Russischen Verfassung festgelegten offiziellen Standpunkt vertreten und unterstützen, aber auch sonstiges Meinungen. Die Vertreter der ersten Meinung weisen darauf hin, daß die Verfassung, ganz bewußt „dem internationalen Recht Rechnung trug“. Sie kritisieren deshalb die Gegner dieser Auf-

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

fassung, die dem obigen Umstand nicht Rechnung tragen wollen. Letztere berufen sich darauf, daß die Einbeziehung der allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des internationalen Rechts ins Rechtssystem des Landes nur für zwischenstaatliche Verhältnisse bestimmt war. Es ist schwer, dieser Position zu folgen.234 Viele einheimische Autoren schätzen die verfassungsrechtlichen Bestimmungen gerade deswegen sehr positiv ein, weil sie die Einbeziehung allgemein anerkannter Prinzipien, der Normen des internationalen Rechtes sowie internationaler Verträge ins Innenrecht Rußlands zulassen. Einige der Autoren meinen sogar, daß die Entstehung einer solchen Bestimmung für die Verfassung Rußlands, ein „historischer Schritt von Riesenbedeutung“ ist.235 Die Einbeziehung ändere ganz „grundlegend den Begriff des Rechtssystems Rußlands und seine Struktur und behandelt das Verhältnis und die Hierarchie der Rechtsakte nach ihrer Rechtswirksamkeit und den darin enthaltenen Rechtsnormen“ völlig neu. Die verfassungsrechtliche Anerkennung dieser Prinzipien, Normen und internationalen Verträge als Bestandteil des russischen Rechtssystems ist „nicht einfach ein Verweis der Verfassung auf das internationale Recht; es ist etwas Bedeutsameres, was das normative Wesen unseres Rechtssystems qualitativ ändert“. Andere Wissenschaftler haben eine ganz andere Auffassung in bezug auf die Frage der verfassungsrechtlichen Betrachtung allgemein anerkannter Prinzipien, der Normen des internationalen Rechtes sowie internationaler Verträge als des Bestandteils des Rechtssystems Rußlands. Usenko hält die Feststellung für „ausreichend eindeutig“, daß das ganze „Konglomerat von Prinzipien, Normen und Verträgen Bestandteil des Rechtssystems Rußlands“ ist. Diese kritische Einstellung zur behandelten Verfassungsnovelle wurde durch folgendes hervorgerufen. Erstens „können bei weitem nicht alle Normen des internationalen Rechts seinem Wesen nach als Regulatoren zwischenstaatlicher Verhältnisse im innerstaatlichen Recht den Platz finden, der meistens auf die Regelung nicht zwischenstaatlicher, sonder anderer Verhältnisse gerichtet ist“. Zweitens „kann nicht jeder internationale Vertrag Quelle des innerstaatlichen Rechts“ sein. Abgesehen davon kann man konstatieren, daß es sich eigentlich nicht nur um die Einbeziehung oder Nicht-Einbeziehung handelt, sondern um die Folgen dieses Prozesses, nämlich um die Anerkennung oder Nicht-Anerkennung der uneingeschränkten Priorität oder gar rangmäßigen Überlegenheit des internationalen Rechts gegenüber dem nationalen russischen Recht. Aus der Beurteilungslogik der Autoren und ihren Folgerungen ergibt sich, daß durch diese Neuerung „die Verfassung Rußlands die Grundlagen für die Festlegung der Priorität der Normen des internationalen Rechts einschließlich der Vertragsnormen“ im Rechtssystem des Landes geschaffen hat; daß die Verfassung „die Be234 Lukašcuk, Igor, Konstitucija Rossii i mezdunarodnoe pravo [Verfassung Russlands und internationales Recht], Moskau 2003, S. 35, 48. 235 Talalaev, A. N., Pravo mezdunarodnych dogovorov [Internationales Vertragsrecht], Moskau 2000, S. 10.

II. Westliches Privatrecht und russisches Privatrechtssystem

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stimmung über die prinzipiell verfassungsrechtliche Lösung nach dem Verhältnis des internationalen Rechts und des innerstaatlichen Rechts, in Anerkennung der Priorität internationaler Verträge der Russischen Föderation vor ihren Binnengesetzen“ festlegte; daß demzufolge Rußland heute mit dem „Problem der Wahl zwischen der früheren dualistischen Doktrin und dem monistischen Konzept konfrontiert wird, das aus Anerkennung der Priorität des internationalen Rechts vor dem innerstaatlichen russischen Recht“.236 In solchen Meinungen kommen hauptsächlich positive oder wenigstens „neutrale“ Einschätzungen der Idee der Priorität des internationalen Rechtes vor dem russischen innerstaatlichen Recht zum Ausdruck, während in den anderen Meinungen scharf kritische negative Einschätzungen zum Ausdruck gelangen. Es sei „höchste Zeit anzuerkennen“, schreibt Usenko, daß „die sich noch in den 70er Jahren zeigenden Versuche zur Einführung des Konzepts der Priorität des internationalen Rechts in unsere internationalrechtliche Doktrin unter dem Motto eines ,neuen Wortes‘ in der Wissenschaft eines der Anzeichen und Erscheinungsmerkmale des Beginns eines Zerfalls der sowjetischen Staatlichkeit“ waren. Subjektiv stellten sie eine Reaktion auf die „ideologische Inhaltslosigkeit“ unserer Gesetzgebung im Bereich der politischen Rechte des Menschen, der Anstellungsverhältnisse, vieler ziviler Rechte dar. Objektiv gesehen waren sie gegen die staatliche Souveränität des Landes“ gerichtet. Internationales Recht kann äußerst effektiv und positiv auf die Entwicklung des nationalen Rechts und auf die nationale Staatlichkeit einwirken, „wenn diese Einwirkung durch nationales Recht erfolgt“. Aber Internationales Recht und seine „Standards“ können auch als ideologisches Instrument zur Auflockerung oder gar Zerstörung des staatlichen Rechtssystems eines Landes verwendet werden. Die neueste Geschichte und darunter auch die Geschichte unseres Landes führt überzeugende Beispiele dafür an. Usenko weist in seiner scharfen Kritik auf die nach seiner Auffassung bestehende theoretische Unbegründetheit der Doktrin einer Priorität des internationalen Rechts hin sowie darauf, daß diese Doktrin praktisch gesehen eine negative Rolle in bezug auf das nationale Recht spielen kann und es in Wirklichkeit auch tut. Diese Doktrin beschränkt die Aktivität des nationalen Rechts „in allen zahlreichen Bereichen des innerstaatlichen Lebens, in die das internationale Recht durchdringt“, und versetzt sie, nach der bildlichen Äußerung von Jan Brounli, „in die Lage eines Rentners des internationalen Rechtes“. 237

236 Chlestov, Oleg N., Mezdunarodnoe pravo i Rossija [Internationales Recht und Rußland], in: Moskovskij zurnal mezdunarodnogo prava [Moskauer Zeitschrift für internationales Recht], Nr. 4 (1994), S. 55 f. 237 Brounli, Jan, Mezdunarodnoe pravo [Internationales Recht], Bd 1., Moskau 1977, S. 67.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Wenn man die Frage nach dem Charakter der Verhältnisse des modernen internationalen Rechts und des innerstaatlichen Rechts Rußlands im allgemeinen und nach der Priorität des internationalen Rechts im besonderen stellt, muß man von zwei miteinander strukturell gekoppelten, einander ergänzenden und zusammenwirkenden Faktoren ausgehen: a) dem Akt der tieferen und vielseitigen Einbeziehung des russischen Staates und seines Rechtssystems in die staatlich-rechtliche Weltgemeinschaft und b) dem Faktor seiner unveräußerlichen Souveränität, bei dessen Berücksichtigung das internationale Recht, „indem es das Recht des Staates festlegte, sein Rechtssystem selbst zu bestimmen“, zugleich festlegte, daß „bei Ausübung der Souveränitätsrechte einschließlich des Rechts auf Gesetzgebung sich die Staaten nach seinen Verpflichtungen aus dem internationalen Recht richten“.238 Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man sich im Hinblick auf die obigen Faktoren nicht von der realen, bei weitem nicht immer mit den theoretischen Strukturen übereinstimmenden sozialen Wirklichkeit allen Rechts entfernen. Das bedeutet vor allem die Notwendigkeit, jegliche Idealisierung des international-rechtlichen Lebens und der international-rechtlichen Verhältnisse, deren Teilnehmer die Russische Föderation ist zu vermeiden. Auch muß auf jede Übersteigerung oder gar und um so mehr Verabsolutierung des Faktors der Einbeziehung und der realen Rolle des modernen Rußlands in der Weltgemeinschaft verzichtet werden. Das moderne Rußland ist in der Tat (und es ist bedauerlich, dies konstatieren zu müssen), bei weitem nicht der Staat mit einem entsprechenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsniveau, der den anderen Weltmächten und vor allem den USA gleichgestellt werden kann, wie das vor dem Zerfall des sowjetischen Staates noch der Fall war. Deswegen kann unser Staat de facto nicht den gleichen Einfluß auf den Prozeß der Herausbildung und Realisierung der Normen des internationalen Rechts ausüben, wie zum Beispiel die USA oder andere wirtschaftlich und finanziell unabhängige Staaten. Eine elementare Logik zeigt und die belegt, wie beispielsweise Ausweitung des NATO-Einflußbereiches in Europa; Versuche, die UNO-Friedensstifterfunktionen zu ersetzen; ,humane‘ Bombardierungen von Jugoslawien usw.), daß im wirklichen Leben der Prozeß der Herausbildung und Realisierung des internationalen Rechts nicht immer ein Prozeß der Koordinierung der Handlungen und des Willens aller souveränen Staaten ist, die dazu auch noch gleichberechtigte Partner sind. Formalrechtlich und theoretisch gesehen treten alle Teilnehmerstaaten als gleichberechtigte Partner und als Träger gleichwertiger staatlicher Willensbildungen auf. Tatsächlich geht es darum, den Willen jedes Staates, seinen realen Inhalt, die von ihm verfolgten Ziele und Aufgaben, seine Selbstbestimmung und letzten Endes seine wirklichen Möglichkeiten und deren unrealisiertes Potential mit den gegebenen Möglichkeiten zu vergleichen. Durch einen derartigen Vergleich werden auch die unrealisierten Möglichkeiten und das Potential des Trägers, d. h. eines 238

Lukašcuk (FN 234), S. 29.

II. Westliches Privatrecht und russisches Privatrechtssystem

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konkreten Staates bestimmt. Je stärker der Staat, desto fester, massiver und realer erscheint sein Wille zur Realisierung der von ihm verfolgten Bestrebungen. Aus diesem Grund erscheint es nicht übertrieben, zu sagen, daß der Prozeß der Koordinierung der formalrechtlich gleichgestellten und gleichwertigen staatlichen Willensbildungen, der dem internationalen Recht zugrunde liegt, ein eher theoretisches Schema ist, eine Art internationales rechtliches Ideal, das nicht immer mit der Realität korreliert. Die Realität ist leider so beschaffen, daß es oft besser wäre, im Prozeß der Herausbildung und Realisierung des internationalen Rechts nicht bloß über die Koordinierung, sondern über direkten oder indirekten Druck zu handeln. Dies kann geschehen durch Verwendung von Finanz-, Kredit- und sonstiger monetärer Instrumente. Bei Abschluß strategisch wichtiger internationaler Verträge können die finanziellwirtschaftlich und in sonstiger Hinsicht stärkeren Staaten auf die schwächeren Staaten einwirken. Dies sind bei weitem nicht bloß einzelne Beispiele der ,Koordinierung‘ des staatlichen Willens durch die Gestalter des internationalen Rechts. Sie sind praktisch in jedem Bereich des Lebens der Weltgemeinschaft und dementsprechend in jedem Bereich der zwischenstaatlichen Verhältnisse zu finden. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren, d. h. unter Berücksichtigung nicht nur der theoretischen Ansätze, die das Wesen des internationalen Rechts als Ergebnis der Koordinierung des Staatswillens widerspiegeln, sondern auch unter Berücksichtigung des wirklichen Lebens, der alltäglichen internationalen rechtlichen Wirklichkeit im modernen, finanzwirtschaftlich und in anderen Hinsichten sehr geschwächten Rußland sollte die Frage nach dem Charakter der Wechselbeziehungen zwischen dem Innenrecht und dem internationalen Recht im Allgemeinen und die Frage nach Priorität des internationalen Rechts gelöst werden. Nicht ohne Grund machen Kenner des internationalen Rechts geltend, daß alle existierenden Konzeptionen einer Korrelierung des internationalen und des zwischenstaatlichen Rechts „nicht zufällig entstanden sind“. Jede dieser Konzeptionen hat eine bestimmte soziale Bedeutung, die in den Prämissen und Voraussetzungen des jeweils geltenden Rechts mehr oder weniger explizit gemacht wird oder zumindest als Hintergrundannahme bei der Bestimmung der normativen Sinns von Recht fungiert. Sie alle „widerspiegeln nicht nur die persönlichen Einstellungen des einen oder des anderen Autors, sondern auch durchaus reale Interessen des einen oder des anderen Staates“. Die in dieser Entwicklung zum Ausdruck gelangende Tendenz, die sich bislang abzeichnete, bestand darin, daß „die Anhänger des Klimas des internationalen Rechts meistenteils die Interessen mächtiger Staaten vertraten, die eine längere Zeit großen Einfluß auf die Entwicklung des internationalen Rechts ausübten und deswegen in einem gewissen Sinne internationale Gesetzgeber waren“.239 239 Tunkin, Georgij, Teorija mezdunarodnogo prava [Theorie des internationalen Rechts], Moskau 2000, S. 128 – 129.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Diese Tendenz besteht in gewissem Grade auch im modernen internationalen Recht, in einer unipolaren Welt und des dabei unvermeidlichen finanziell-wirtschaftlichen und sonstigen Drucks der ,führenden Weltmächte‘ auf alle anderen Staaten unter Einschluß Rußlands. Wie die moderne internationale rechtliche, politische und finanziell-wirtschaftliche Praxis der Wechselbeziehungen unterschiedlicher Staaten, darunter auch Rußlands zeigt, sind das keine Anomalien der Weltgesellschaft, auch wenn die Weltgesellschaft durch die einen oder anderen Politologen und Ideologen als eine einheitliche, vor allem allgemein menschliche Interessen widerspiegelnde oder umgekehrt als in sich gespaltene, hauptsächlich innerstaatliche egoistische Interessen widerspiegelnde bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um die durchaus alltägliche soziale Wirklichkeit des Rechts. Das bedeutet keineswegs, daß Rußland als aktiver Teilnehmer am Prozeß der internationalen rechtlichen Normsetzung und als Subjekt des internationalen Rechts nun eine Selbstisolierung in der Weltgemeinschaft betreiben müßte oder gar sollte, in dem es die Formen von Zivilfreiheiten, internationalem Handel und andere Bereiche der Priorität des internationalen Rechts akzeptiert. Das würde den Interessen des russischen Staates nicht entsprechen und auch die Entwicklung des innerstaatlichen Rechts Rußlands nicht fördern. Zur Vermeidung von Verletzungen der Souveränitätsrechte Russlands scheint folgendes in bezug auf die Anerkennung der Priorität des internationalen Rechts wichtig zu sein. Erstens sollte die Priorität des internationalen Rechts nicht in der „dominierenden Rolle der Normen des internationalen Rechts“ insbesondere des Vertrags und in Möglichkeit ihrer direkten Wirkung auf die innere Gesetzgebung erblickt werden, sondern in der Notwendigkeit einer Anpassung der nationalen Rechtsnormen an die internationalen, für jeden Staat verbindlichen Abkommen und in der Koordinierung des innerstaatlichen Rechts mit den allgemein anerkannten Prinzipien des internationalen Rechts bestehen. Zweitens sollte die Zuordnung der allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des internationalen Rechts wie auch der internationalen Verträge Rußlands zum Innenrecht Rußlands und folglich zu seinem Rechtssystem obligatorisch durch ihre Transformation begleitet werden. In der derzeitigen Entwicklungsphase des modernen russischen Staates und der russischen Gesellschaft ist die obligatorische Transformation nicht einfach ein Wunsch, eine subjektiv wahrgenommene, durch positive Erfahrungen gut bestätigte Notwendigkeit, sondern eine durch komplizierte außenwirtschaftliche, außenpolitische und sonstige Faktoren bedingte objektive Zweckmäßigkeit und ein Desiderat des modernen russischen Rechtsdenkens.

III. Westliches Rechtssystem und russisches Privatrecht

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III. Einflüsse des westlichen Rechtssystems auf das russische Privatrecht 1. Ist das Rechtssystem Rußlands ein Bestandteil der romanisch-germanischen Rechtsfamilie? a) In der einheimischen und ausländischen Fachliteratur der Vor-Perestrojka-Zeit existierte die Frage nach Status, Platz und Rolle des russischen Rechtssystems im Verhältnis zu anderen Rechtssystemen als solche nicht. Sie wurde – wenn überhaupt – nur im Gesamtkontext der sozialistischen Rechtsfamilie gestellt. Selbstverständlich wurde in dieser Rechtsfamilie dem sowjetischen Recht besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Denn dieses Recht war, wie westliche Forscher bemerken, nicht nur das ,älteste‘ unter anderen sozialistischen Rechtssystemen, sondern auch das „am meisten exportierte und am meisten kopierte Recht“.240 Das Rechtssystem der UdSSR, dessen natürlicher Bestandteil das Rechtssystem Rußlands war, fungierte als Zentrum der ganzen sozialistischen Rechtsfamilie. Wie das Rechtssystem Großbritanniens in bezug auf die ganze angelsächsische Rechtsfamilie oder das Rechtssystem Frankreichs in bezug auf die romanisch-germanische Rechtsfamilie, so beeinflußte das Rechtssystem der Sowjetunion und damit auch Rußlands nicht nur den Prozeß der Entstehung und Herausbildung der sozialistischen Rechtsfamilie, sondern auch den Prozeß seiner weiteren Entwicklung und Vervollkommnung. Anfang der 1990er Jahre, d. h. nach Zerfall der UdSSR und der ,Gemeinschaft sozialistischer Staaten‘, änderte sich die Situation grundlegend. Demzufolge wurde in den dem sozialistischen und postsozialistischen Recht gewidmeten wissenschaftlichen Forschungen dem russischen Recht mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Nebst vielen anderen Fragen, die dieses Rechtsgebilde betreffen, wurde ziemlich oft die Frage nach Natur und Charakter des russischen Rechtssystems, nach seinem Platz und seiner Rolle unter und neben anderen Rechtssystemen aufgeworfen.241 Es handelt sich natürlich nicht nur um das eigentlich russische Rechtssystem, sondern um die ganze sozialistische Rechtsfamilie, in deren Zentrum dieses System stand. Aber im Westen wird in den letzten Jahren gerade dem russischen Rechtssystem besondere Aufmerksamkeit geschenkt.242 b) Eine oft gestellte Frage lautet: Behält das russische Rechtssystem seinen (relativ) eigenständigen, eigenartigen Charakter oder ist dieses Rechtssystem ein 240 Hierzu aber: Van Hoecke (FN 12), S. 197 f., der davon spricht, daß mit dem Kollaps der kommunistischen Regime „the socialist family suddenly disappeared“. 241 Siehe auch: Vasil’ev, A. M., Pravovaja sistema socializma [Rechtssystem des Sozialismus], Bd. 1, Moskau 1986, S. 14 – 47. 242 Näher dazu: Nelson, Lynn D. / Kuzes, Irina Y., Radical Reform in Yeltsin’s Russia, New York 1995, S. 8 – 27; Khotin, Leonid, Old and New Enterpreneuers in Today’s Russia, in: Problem-of Post-Communism 43 (January – February 1996), S. 49 – 57.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Bestandteil der romanisch-germanischen Rechtsfamilie? Bei der Antwort auf diese Frage schlagen einheimische und ausländische Autoren drei unterschiedliche Varianten vor. Die erste Variante einer Antwort besteht darin, daß das Russische Rechtssystem als Kern der ehemaligen sozialistischen Rechtsfamilie seinen (relativ) eigenständigen Charakter behält und zu keiner anderen Rechtsfamilie gehört. Die Autoren, die diese Einstellung vertreten, gehen davon aus, daß das russische Recht als wichtigster Bestandteil des sozialistischen Rechts im Vergleich zu anderen Rechtssystemen „sehr wesentliche Besonderheiten aufweist, daß es in bezug auf diese Systeme als ,Vis-á-vis‘ anzusehen ist“.243 Die meisten westlichen Komparatisten, so M. Bogdan, betrachten die sozialistischen Rechtssysteme einschließlich des russischen Rechtssystems als ein „einheitliches, von anderen Rechtsfamilien abgesondertes Rechtssystem“. Und dies obgleich es in der Realität nie ein monolithisches System war, sondern sich auf solche Subsysteme, wie sowjetisches Recht, osteuropäisches Recht und Recht außereuropäischer sozialistischer Länder und Staaten erstreckte. Eine ähnliche Meinung vertraten auch die anderen, meistens sozialistischen Autoren, die das russische Recht zusammen mit dem ganzen System des sozialistischen Rechts als selbständige Rechtsfamilie betrachteten. Das Wesen der zweiten Variante der Antwort auf die Frage nach dem Charakter des Verhältnisses zwischen dem russischen und dem romanisch-germanischen Recht besteht darin, dass das russische Recht ein Bestandteil, „eine Erweiterung“ des romanisch-germanischen Rechts war und ist. Rußland „war immer ein Teil der romanisch-germanischen Rechtsfamilie“, wie David und Jauffret-Spinosi erklären.244 Die „Russische Jurisprudenz entlehnte vieles aus dem byzantinischen Recht, d. h. aus dem römischen Recht, und aus den Ländern des kontinentalen Europas, die sich an das romanische System halten“. Allerdings „existierten ursprüngliche russische Sitten und Akte“, wie auch im XVIII. Jahrhundert ursprüngliche französische und deutsche Sitten und Ordonanzen existierten, aber wie im Frankreich und Deutschland des XVIII. Jahrhunderts „existierte auch in Rußland keine weitere Rechtswissenschaft, außer der romanischen Rechtswissenschaft. Die Kategorien des russischen Rechts sind die Kategorien des romanischen Systems.“ Die in russischen Universitäten und in der Rechtspraxis angenommene Rechtskonzeption war die romanische Konzeption. Das russische Recht, so folgern David und Jauffret-Spinosi, „trat vom kasuistischen Rechtstyp zurück“. Deswegen „hielt ein russischer Jurist das Recht nicht für 243 Glendon, M. / Gordon, M. / Osakwe, Ch., Comparative Legal Traditions in a Nutshell, St. Paul., Minn. 1982, S. 268 ff. 244 Dazu und zum folgenden: David, René / Jauffret-Spinosi, Camille, Les grands systemes de droit contemporains, 9. Aufl. / 11. Aufl., Paris 1992 / 2002. (Hier zit. nach der russischen Ausgabe: David, Rene / Zofre-Spinosi, Kamilla, Osnovnie pravovie sistemi sovremennosti, [Die größten Rechtssysteme der Gegenwart], Moskau 1999.), S. 111 – 113, 117 – 118, 119 – 123.

III. Westliches Rechtssystem und russisches Privatrecht

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ein Produkt der Gerichtspraxis“. Er betrachtete die Rechtsnorm, wie dies auch französische und deutsche Juristen taten, als eine den Individuen vorgeschriebene Verhaltensnorm, „die durch eine Doktrin oder einen Gesetzgeber, und nicht durch einen Richter zu formulieren ist“. Rußland hatte keine so vollständigen Gesetzbücher, wie andere Länder Westeuropas, „war aber bereit, sie zu haben“. Eine ähnliche Einstellung zum Charakter des Verhältnisses zwischen dem russischen und dem kontinentalen Recht vertraten und vertreten nach wie vor andere ausländische und einheimische Autoren. Der Unterschied zwischen ihnen besteht lediglich darin, daß die einen für ihre Einstellung argumentieren und sie zu begründen versuchen, während die anderen das russische Rechtssystem a priori als Bestandteil der romanisch-germanischen Rechtsfamilie behandeln. Charakteristisch ist, daß wissenschaftliche Forschungen, wenn sie ,zusätzliche‘ mit dem Charakter des Verhältnisses zwischen dem russischen und dem kontinentalen Recht verbundene Fragen behandeln, die Zugehörigkeit des russischen Rechts zum kontinentalen Recht als objektiv gegebenes Merkmal, als Axiom ansehen. Darüber hinaus wird dieses ,objektiv gegebene Merkmal‘ in einigen Fällen auch als inhaltliches Argument zugunsten der in bezug auf die eine oder andere Frage geäußerten Position benutzt. Das zeigt sich beispielsweise bei der Behandlung von Fragen nach Rolle der Gerichtspraxis im Rechtssystem Rußlands, bei der Beantwortung der Frage, ob das russische Verfassungsgericht Präzedenzfälle schafft u. a. m. Die Eigenart des Herangehens an die Beurteilung und Bewertung der Entscheidungen des Verfassungsgerichts ist, wie N. Bogdanova auf einer Konferenz im Jahre 1997 darlegte, „mit dem Typ des Rechtssystems verbunden, zu dem das russische Recht gehört. Das ist, wie bekannt, das romanisch-germanische (kontinentale) Rechtssystem, das keine rechtsschöpferische Funktion der Gerichtsorgane anerkennt, keine Form von Rechtsquellen, wie wir sie aus gerichtlichen Präzedenzfällen bzw. richterlichen Präjudizien kennen oder wie das Prinzip des Vorrangs einer Schriftnorm vor der Meinung oder Überzeugung des Richters behauptet.“245 Die dritte Variante einer Antwort auf die Frage nach dem Charakter des Verhältnisses zwischen dem russischen und dem romanisch-germanischen Recht läuft ihrem Sinne nach darauf hinaus, den ,typologischen‘ selbständigen Charakter des russischen Rechts als wichtigsten Bestandteil des sozialistischen Rechts für die sowjetische Zeit zu bejahen und für die nachsowjetische Zeit zu verneinen. Das russische Rechtssystem wird dabei als ein System angesehen, das ein breites Spektrum allgemeiner Merkmale mit anderen Rechtsfamilien und Systemen teilt, aber mehr zum kontinentalen Rechtssystem neigt. 245 Bogdanova, Nadezda, Konstitucionnij sud RF v sisteme konsititucionnogo prava [Verfassungsgericht der Russischen Föderation im System des Verfassungsrechts], in: Vestnik konstitucionnogo suda RF [Mitteilungen des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation], Nr. 3 (1997), S. 64 ff.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Die Analyse des russischen Rechtssystems kann im Hinblick auf die Struktur des gesamten sozialistischen Rechts von drei unterschiedlichen Standpunkten her gesehen werden, und zwar als „konzeptuell-formalistische Kategorie“, als „historische, politische, wirtschaftliche und soziale Kategorie“ und als „pseudoreligiöse Kategorie“. Die Ermittlung gemeinsamer Merkmale dieser Struktur und anderer Rechtsfamilien und Systeme, die von verschiedenen Autoren vorgenommen wurde, zeigt, daß es enger mit dem kontinentalen Recht als mit allen anderen Rechtsfamilien und Systemen verbunden ist.246 Das sozialistische und danach das sowjetische Rechtssystem haben im Hinblick auf das kontinentale Recht auch allgemeine Ursprünge und Rechtstraditionen, die allerdings in der romanisch-germanischen Rechtsfamilie als „marxistisch-leninistische“ Traditionen angesehen werden. c) Ohne auf die Einzelheiten der genannten Standpunkte und Varianten von Antworten auf die Frage nach dem Charakter des Verhältnisses zwischen dem russischen und dem romanisch-germanischen Recht sowie der Zugehörigkeit des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Recht einzugehen, ist hier nur festzuhalten, daß jedes Herangehen seine eigenen besonderen Argumente hat. Unter den Argumenten, die für die Zugehörigkeit des modernen russischen Rechts zum romanisch-germanischen Recht oder über ihre wesentliche Ähnlichkeit oder über die Neigung des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Recht sprechen, wird in der wissenschaftlichen Literatur vor allem der Einfluß des römischen Rechts auf den Prozeß der Herausbildung und Entwicklung des russischen Rechts und der romanisch-germanischen Rechtsfamilie genannt. Das nähert das russische dem kontinentalen Recht an von und betont seine Nähe zur romanisch-germanischen Rechtsfamilie. In der einheimischen wissenschaftlichen Literatur gibt es allerdings keine einheitliche Meinung im Hinblick auf die Frage der Rezeption des römischen Rechts in Rußland und den Grad des Einflusses des römischen Rechts auf das russische Recht. Neben der Ansicht, daß russisches Recht im wesentlichen ein direktes Produkt der Rezeption des römischen Rechts ist, „daß seine Ursprünge gerade im römischen Recht, in der byzantinischen Tradition liegen, und daß die Rezeption des römischen Rechts sowohl im Westen als auch in Rußland nicht nur eine „historische Notwendigkeit“, sondern auch ein „Progreßfaktor“ war, äußerten die Autoren, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, auch eine Reihe von anderen Meinungen. Man meinte zum Beispiel, daß das russische Recht immer „wirkte und selbst aus seinen eigenen Naturkräften heranwuchs“, und nicht kraft der direkten Einwirkung seitens des römischen Rechts. Von diesem Standpunkt her verneinen viele Autoren die Rezeption des römischen Rechts in Rußland und akzeptieren nur die historische und die „allgemeinkulturelle“ Bedeutung des römischen Rechts in unserem Land. Dabei war die Verneinung der Rezeption des römischen Rechts nicht nur für vorrevolutionäre Autoren (Oktober 1917), sondern auch (und nicht ohne Grund) für berühmte moderne Wissenschaftler charakteristisch.247 246

Ebd., S. 70.

III. Westliches Rechtssystem und russisches Privatrecht

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In Rußland war (im Unterschied zu den Ländern Westeuropas, Asiens und Lateinamerikas), wie Elena Salogubova schreibt, „nie die Rezeption des römischen Rechts im vollsten Sinne dieses Wortes vorhanden und die Digesten waren nie geltendes Recht“. Zur gleichen Zeit wurden „einige Normen römischer Quellen“ durch die russische Zivilprozeßgesetzgebung in den unterschiedlichen Etappen ihrer Entwicklung aufgenommen. Allerdings handelt es sich auch in diesem Falle um eine Verneinung der Rezeption des römischen Rechts im allgemein anerkannten Sinne in bezug auf das russische Zivilprozeßrecht. Das läßt sich auch in bezug auf jeden Bereich des russischen materiellen Rechts und insbesondere in bezug auf das Zivilrecht sagen. Moderne Zivilrechtler bemerken in diesem Zusammenhang mit Blick auf die Zusammenfassung des umfangreichen empirischen Materials durchaus richtig, daß das russische Zivilrecht „beinahe nie direkt gesetzgebende Lösungen des römischen Rechts verwendete (wie den berühmten napoleonischen Code Civil, der bisher formal in Frankreich gültig ist). Das russische Zivilrecht entlehnte vor allem die Ideen selbst, das Wesen dieser Lösungen und erarbeitete auf dieser Grundlage eigene juristische Konstruktionen“.248 Deswegen erscheint es als eine „durchaus logische Schlußfolgerung“, daß „von einer direkten Rezeption des römischen Rechts hier nicht die Rede ist“. Andererseits verwendete das russische Recht „aktiv und unmittelbar die Materialien sowohl eigener römischer Quellen, als auch germanischer Pandektisten für die Entwicklung der juristischen Ausbildung und die Ausbildung von Juristen in der Gesetzgebungstätigkeit“. Wir gehen auf die Frage der Rezeption des römischen Rechts in Rußland nicht weiter ein, sondern verweisen einfach nur auf folgendes: Unabhängig davon, ob diese Rezeption heute noch vorhanden oder nicht vorhanden ist, war der Einfluß des römischen Reiches auf das russische Recht in allen Etappen der Entwicklung des russischen Rechts ständig zu spüren und ist deshalb nachzuvollziehen.249 Nach Auffassung einheimischer Wissenschaftler beeinflußten unterschiedliche Ideen, Prinzipien sowie einzelne Normen und sogar Institute des römischen Reichs bestimmte so wichtige russische Gesetzgebungsakte, wie „Russkaja Pravda“ (XI. Jahrhundert), „Sudebnik“ von 1497, „Sobornoje Ulozenije des Zaren Aleksej Michajlovic (1649), „Svod Zakonov“ (1832) und viele andere.250 Der Einfluß des 247 Dazu auch: Vladimirskij-Budanov, Michail, Obzor istorii russkogo prava [Überblick der Geschichte des russischen Rechts], Sankt Petersburg / Kiev 1997, S. 85 – 112. 248 Tomsinov, Vitalij A., O sušcnosti javlenija, nasyvaemogo rezensiej rimskogo prava [Über das Phänomen, das Rezension des römischen Rechts genannt wird], in: Vestnik MGU: Serija pravo [Mitteilungen der MGU, Reihe „Recht“], Nr. 4 (1998), S. 24 – 33. 249 Salogubova, Elena, Elementy rimskogo prava v Rossijskom sudoproizvodstve X – XVII vv. [Elemente des römischen Rechts in der russischen Rechtsprechung des X. – XVIII. Jahrhunderts], in: Drevnee pravo [Das Recht der Antike], Nr. 1 / 4 (1999), S. 173 ff. 250 Suchanov, E. A. / Kofanov, Leonid, Vlijanie rimskogo prava na novij grazdanskij kodeks Rossijskoj Federacii [Einfluss des römischen Rechts auf das neue Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation], in: Drevnee pravo [Recht in der Antike], Nr. 1 (1999), S. 7 – 20.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

römischen Rechts auf das Rechtssystem Rußlands war nicht nur im Vorstadium seiner Herausbildung und Entwicklung, sondern auch im Laufe der folgenden Jahrhunderte und bis zur gegenwärtigen Zeit zu merken. Außerdem stieg das Interesse am römischen Recht im postsowjetischen Rußland je nach ,Liberalisierung‘ wirtschaftlicher und anderer damit eng verbundener gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Dieser Anstieg des Interesses am römischen Recht ist, wie V. A. Tomsinov und L. N. Šestakov sagen, „durchaus erklärbar“. Ohne Kenntnis des römischen Rechts ist es schwierig, die Logik des juristischen Denkens nachzuvollziehen, unterschiedliche Rechtszweige des modernen Rechts zu untersuchen und keinesfalls möglich, ein wirklich qualifizierter Fachjurist zu werden. Dabei reduziert sich die „allgemeine Bedeutung des römischen Rechts nicht auf seinen Beitrag zur Verbesserung der Fertigkeiten des juristischen Denkens, zur Ausbildung qualifizierter Fachjuristen“. Das römische Recht ist „eines der wichtigsten Elemente der Weltkultur, dessen Verlust einen negativen Einfluß auf das Kulturniveau heutiger und künftiger Generationen ausüben könnte“. Das anwachsende Interesse am rechthistorischen, ,kulturellen‘ und sonstigen Einfluß des römischen Rechts auf den Prozeß der Herausbildung und Entwicklung des russischen Rechts nähert sich zweifellos dem auf dem römischen Recht beruhenden romanisch-germanischen Recht an. Bedeutet das die Identität ihrer ,römischen Wurzeln‘, aber auch der Rechtssysteme selbst? Das letztere ist fraglich, denn a) ist der Charakter und der Wirkungsgrad des römischen Rechts auf das russische und romanisch-germanische Recht bei weitem nicht gleich und schwer vergleichbar. Das römische Recht übte Einfluß auf das russische Recht aus und bestimmte Wesen, Struktur, Tätigkeitsprinzipien und Inhalt des romanisch-germanischen Rechts im voraus. Ferner sind b) die Einwirkungsformen des römischen Rechts auf russisches und romanisch-germanisches Recht bei weitem nicht identisch und nicht vergleichbar. Der Wirkungsmechanismus des römischen Rechts auf das russische Recht beschränkt sich im wesentlichen auf Ideen und Prinzipien und nur in Einzelfällen auf Normen und Institute. Und in bezug auf das romanisch-germanische Recht wird in vollem Umfang das ganze Spektrum der Formen und Wirkungsmittel verwendet. Schließlich sind c) die Bereiche der ,Anwendung‘ und die Natur des Wirkungsmechanismus des römischen Rechts auf die behandelten Rechtssysteme unterschiedlich und schwer vergleichbar. Es handelt sich um folgendes: Wenn die Rede von der Einwirkung des römischen Rechts auf das romanisch-germanische Recht ist, so handelt es sich eigentlich um den Einfluß des einen Systems auf das andere System. Er verläuft tatsächlich innerhalb ein und derselben Rechtskultur und der allgemeinen Kultur, einer ähnlichen Mentalität, ein und derselben (,westlichen‘) Zivilisation, ein und desselben kontinentalen Systems. Streng genommen scheinen der Fachausdruck und der Begriff der Rezeption des römischen Rechts, seiner Natur und seinem Charakter

III. Westliches Rechtssystem und russisches Privatrecht

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nach in diesem Zusammenhang durchaus relativ, denn diese jahrhundertelange Entwicklung erfolgte innerhalb des seiner Natur und seinem Charakter nach gemeinsamen europäischen Rechts. Anders steht es mit der Natur der Einwirkung des römischen Rechts auf das russische Recht. Das russische Recht ist in bezug auf das römische Recht eine innerlich nicht verwandte, sondern eine äußere Erscheinung und in manchen Verhältnissen sogar ein fremdes Recht. In der wissenschaftlichen Literatur wird in diesem Zusammenhang mit Grund darauf hingewiesen, daß mit der Annahme des Christentums in Rus’ und dem Erscheinen der Kirche mit ihren kanonischen Gesetzen, die wenig mit den russischen Sitten übereinstimmen, im Lande Situation entstand, in der nationales Recht durch ein fremdes ausländisches Recht ersetzt werden konnte. „Aber dank der Beständigkeit des russischen Rechts führte das nur zur teilweisen Entlehnung byzantinischer Normen.“251 Hierzu ist zu bemerken, daß die „teilweise Entlehnung byzantinischer Normen“ nebst entsprechenden Ideen, Traditionen der Rechtsschöpfung und den Rechtsprinzipien des östlichen Teils des Römischen Reiches (Ostrom), nach wie vor wichtige Besonderheit des Wirkungsablaufs des römischen Rechts auf das russische Recht darstellt, vor allem im Vergleich zu seinem Einfluß auf das romanisch-germanische Recht. Gerade das orientalische byzantinische Recht, seine Kodifizierung, Systematisierung der Gesetzgebung (Codex Gregorianus, Codex Hermogenianus, Codex Theodosianus und später der berühmte Corpus iuris civilis) und seine anderen Besonderheiten strebte „nach Einfluß (nach Annahme des Christentums in Rus’) zuerst auf das altrussische und später auf das russische Recht .252 R. David wies auf diese Besonderheit hin und schrieb: „Die Kirche, die im Westen nach dem römischen Recht lebte, leitete sich in Rußland nach byzantinischem Recht, das durch die Nomokanonens dargestellt wurde, die dem Zivil- und gleichzeitig Kanonischen Recht gewidmet wurde“. In Kiewer Rus’ verwendete die Kirche byzantinisches Recht unmittelbar in ihren wirklich umfassenden Ländereien, in denen sie ihre Gerichtsbarkeit ausübte. Gleichzeitig strebte sie danach, den Bereich der Anwendung des byzantinischen Rechts vor allem „durch unterschiedliche Eingriffe in die redaktionelle Abfassung auszuweiten“.253 Demgemäß können wir die Gemeinsamkeit, genauer gesagt die Ähnlichkeit des russischen und romanisch-germanischen Rechts bei der Einwirkung des römischen Rechts feststellen, aber auch wirklich wesentliche Unterschiede dieser Rechte. Das Argument der Zugehörigkeit zur oder des Einbezugs des russischen Rechts in die romanisch-germanische Rechtsfamilie allein aus dem Grunde, daß sie allgemeine ,römische Wurzeln‘ haben erscheint, ist ziemlich anfechtbar und fragwürdig. Man Salogubova (FN 249), S. 175. Kofanov, Leonid / Tomsinov, Vitalij, Pamjatniki rimskogo prava Corpus iuris civilis [Säulen des römischen Rechts: Corpus iuris civilis], Moskau 1998, S. 6 – 7 ff. 253 David, René, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart. Rechtsvergleichung, München 1988, S. 165 ff. 251 252

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

kann und muß über die Ähnlichkeit, die Nähe und letzten Endes über die gegenseitige Anziehung des russischen und des romanisch-germanischen Rechts aus dem Grunde sprechen, weil sie der Einwirkung seitens des römischen Rechts, wenn auch (in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt wurden; man kann und darf aber nicht von ihrer Homogenität bzw. Identität oder Einheitlichkeit sprechen. d) Außer dem genannten Argument, das als Stärkung der These über die Zugehörigkeit des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Rech dient, über dessen Eintritt in die romanisch-germanische Rechtsfamilie, werden auch andere Argumente verwendet. Darunter wird, zum Beispiel, der hauptsächlich kodifizierte Charakter der russischen Gesetzgebung genannt, die in diesem Zusammenhang mit der romanisch-germanischen Gesetzgebung vergleichbar ist. Vor allem wird dabei die Folgerichtigkeit und Kontinuität des Prozesses der Kodifizierung des russischen Rechts in allen Phasen seiner Entwicklung genannt: vorrevolutionäre Phase, Übergang zum sowjetischen, danach zum postsowjetischen Recht. Insbesondere wird betont, daß „Rußland vor der Revolution von 1917 tatsächlich ein Land des (romanisch-germanischen) Zivil- Rechts war“254, in dem „zum Zentrum des Gesetzgebungsverfahrens“ die Kodifizierung und Systematisierung von Gesetzgebungsakten wurde. Und die Sowjetunion erbte diesen Stil. Als Beweis für diese Behauptung wird das Zivilgesetzbuch Rußlands von 1922 angeführt, „das vieles aus dem Deutschen Zivilgesetzbuchs übernahm“ sowie viele modifizierte und systematisierte Akte.255 e) Unter den allgemeinen Merkmalen, die das russische Recht dem romanischgermanischen Recht annähern, wird in der wissenschaftlichen Literatur ihr doktrineller Charakter genannt. Betrachtet man das Wort und den Begriff Doktrin in weitem Sinne, d. h. nicht nur als System von Ideen und Einsichten, die eine ganzheitliche Vorstellung über Gegenstand und Erscheinung, aber auch wissenschaftliche Werke von Juristen – Theoretikern und Praktikern – darstellen, welche der Betrachtung der einen oder anderen sozial bedeutsamen Frage gewidmet sind, dann wird deutlich, daß es sich hauptsächlich um unterschiedliche Meinungen von Experten, Kommentare zu Gesetzgebungsakten und sozial wichtige Dokumente handelt, die zu einer Gesamtheit von Lehrmeinungen (doctrina) zusammengefasst werden. Die Autoren gehen davon aus, daß in der Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung Russlands, wie in den meisten westlichen Ländern, die Doktrin (interpretatio doctrinalis) als eine der informellen Rechtsquellen auftritt und für sie eine bleibende Bedeutung besitzt.256 Der Unterschied im Wesen von Doktrinen und ihrer Anwen254 Vgl. dazu: Babaljan, Lev A., Rimskoe pravo i sovremennost’ [Römisches Recht und die Gegenwart], in: Drevnee pravo [Recht der Antike], Nr. 1 (1999), S. 188 – 194; Šcegolev, Aleksandr, Bibliografija rossijskoj literaturi po rimskomu pravu c 1860 po 1996 gg. [Bibliographie der russischen Literatur zum römischen Recht von 1860 bis 1996], in: Drevnee pravo [Recht in der Antike], Nr. 1 / 2 (1997), S. 136 – 163. 255 Quigley, John, Socialist Law and the Civil Law Tradition, in: American Journal of Comparative Law, Bd. 37, 1989, S. 781 – 808.

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dung in Rußland bestand im Vergleich zu den romanisch-germanischen Ländern nach Meinung der Forscher nur darin, daß in der sowjetischen Zeit in Rußland als juristisch bedeutsame und relevante Doktrinen nicht nur rechtliche, sondern auch politische Doktrinen (Parteitagsbeschlüsse, Beschlüsse des Parteiplenums usw.) auftraten, während in den westeuropäischen Ländern eine derartige Praxis fehlte und fehlt. Es ist interessant, daß einige westliche Autoren wirklich sachlich und ausführlich die Bedeutung von Parteibeschlüssen in der sowjetischen Zeit für die Entwicklung unterschiedlicher gesellschaftlicher Lebensbereiche einschließlich des Rechtsbereichs analysierten und eine für ausländische Wissenschaftler ziemlich ungewöhnliche Schlußfolgerung über die „Unanfechtbarkeit der doktrinellen Bedeutung“ derartiger Dokumente machten, denn diese Dokumente enthielten „die Auslegung der marxistisch-leninistischen Theorie in ihrer modernen Form zu den unterschiedlichsten Fragen“. Ein sowjetischer Jurist und „jede andere Person, die sowjetisches Recht untersuchen“, müsse sich nach Auffassung dieser Autoren, „ständig an diesen Dokumenten orientieren“. In anderen westlichen Studien ging man von der Riesenbedeutung der ideologischen und politischen Doktrin für das russische und das gesamte sozialistische Recht und verglich die sozialistische Rechtsfamilie sogar mit Rechtssystemen, die auf religiöser (islamischer, kanonischer, hinduistischer und sonstiger) Grundlage operieren. Man versuchte sogar, das russische Recht als „pseudoreligiöse Kategorie“ zu deuten.257 f) Neben den genannten allgemeinen Merkmalen und Prinzipien des russischen Rechtssystems und des romanisch-germanischen Rechts, die in der einheimischen und ausländischen Fachliteratur als Beweis der Verwandtschaft und Zugehörigkeit des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Recht angeführt wurden, führen die Anhänger dieser Meinung auch andere Argumente an. Beispielsweise wird zur Bestätigung dieser These darauf hingewiesen, daß sowohl im russischen Recht als auch innerhalb der romanisch-germanischen Rechtsfamilie die Priorität unter den Rechtsquellen dem Gesetz oder genauer gesagt einem normativen gesetzgeberischen Akt und nicht einem Urteil in einem Präzedenzfall gegeben wird, wie das im angelsächsischen Recht der Fall ist. Einige einheimische Wissenschaftler verfechten die Meinung, daß das russische Recht gemäß dem russischen Rechtssystem „im Rahmen der kontinentaleuropäischen (romanisch-germanischen) Familie der Rechtssysteme bleibt“. Sie lenken die besondere Aufmerksamkeit darauf, daß „man nicht vergessen darf, daß im Rahmen der kontinentalen Rechtssysteme (kraft ihrer typologischen Besonderheiten, der Gesetzmäßigkeit ihrer Herausbildung und Entwicklung usw.) die gerichtliche Rechtsschöpfung (der gerichtliche Präzedenzfall usw.) als Rechtsquelle fehlt, was hingegen für das angelsächsische Rechtssystem charakteristisch ist“. 256 Hazard, John N. / Butler, William E. / Maggs, Peter B., The Soviet Legal System: Fundamental Principles and Historical Commentary, New York 1977, S. 458 – 467. 257 Glendon et al. (FN 243), S. 274 – 277.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Die Behauptung, daß im romanisch-germanischen Rechtssystem und im russischen Recht das Gesetz die Priorität genießt, ist exakt und unanfechtbar. Es fällt auf, daß in dieser Hinsicht dem sowjetischen Recht zwischen und der romanischgermanischen Rechtsfamilie eine besondere Ähnlichkeit besteht. Aber bei näherer Betrachtung „erweist sich diese Ähnlichkeit als formal“. Es handelt sich darum, daß die Bedeutung des Gesetzes in den Ländern der romanisch-germanischen Rechtsfamilie darin gesehen wird, daß es der „deutlichste und bequemste Ausdruck der Rechtsnormen“ ist, während in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern die Bedeutung des Gesetzes darin gesehen wurde, daß es die „natürlichste Weise der Rechtsbildung ist, die mit dem Willen der Regierenden identifiziert wird“. In diesen Ländern wird dem Gesetz die führende Rolle auch deswegen eingeräumt, weil „es sich um eine sich schnell ändernde Gesellschaft handelt. Die Dynamik der sowjetischen Gesellschaft führte zur Glorifizierung des Gesetzes, das den Faktoren einer langsameren Entwicklung des Rechts gegenübergestellt wird, wie den Sitten und der Gerichtspraxis“.258 Auch rein technisch wurden „die Akte, die von amtlichen Stellen in den Ländern der romanisch-germanischen Familie und in den sozialistischen Ländern ausgehen, unterschiedlich ausgelegt“. Mit anderen Worten: obwohl zwischen den Akten, die von diversen „amtlichen Stellen ausgehen“, also von unterschiedlichen Rechtsquellen, und zwischen den Gesetzen des sowjetischen Rußlands und den Ländern des romanisch-germanischen Rechts äußere Ähnlichkeit besteht, fehlt zwischen ihnen ein tiefer innerer Zusammenhang, eine ,genetische‘ Homogenität und Einheitlichkeit. Was die Ähnlichkeit des Rechtssystems im postsowjetischen Rußland und in der romanisch-germanischen Rechtsfamilie angeht, wie die Priorität des Gesetzes vor dem Präzedenzfall, so existiert sie, wie oben dargelegt, aber sie trägt einen äußeren, nur sehr bedingten Charakter. Die Sache besteht in folgendem: In der romanisch-germanischen Rechtsfamilie wurde und wird ein Präzedenzfall als Rechtsquelle (sekundär und nicht primär, real bzw. faktisch und nicht formal) durchaus anerkannt (in einigen einheimischen Veröffentlichungen wird das fälschlicherweise verneint). Und in diesem Fall kann und muß man über die Priorität des Rechts vor dem Präzedenzfall sprechen, d. h. vom Produkt der richterlichen Rechtsschöpfung, die nur im Rahmen des Gesetzes erfolgt. Anders in Rußland. In Rußland werden jahrelange ,Positionsstreitigkeiten‘ geführt und als Ergebnis dieser Streitigkeiten bleibt die vollständige Ungewißheit in bezug auf die Tatsache der Existenz des Präzedenzfalls als Rechtsquelle im Rechtssystem Rußlands. Infolge dessen bleibt hintergründig auch die Ungewißheit in bezug auf den Charakter seines Zusammenhangs und seines Zusammenwirkens mit anderen Rechtsquellen und in erster Linie mit dem Gesetz erhalten. Wenn die Einsicht triumphiert, gemäß der das Russische Rechtssystem einem Präzedenzfall nicht fremd gegenübersteht und er einen würdigen Platz als Rechtsquelle unter anderen Quellen des russischen 258

David / Jauffret-Spinosi (FN 244), S. 119 ff.

III. Westliches Rechtssystem und russisches Privatrecht

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Rechts einnimmt, dann kann und muß man sein Verhältnis zu anderen Rechtsquellen, vor allem zum Gesetz klären und präzisieren. In jedem Fall ist dem Gesetz eine Priorität einzuräumen und damit eine gewisse Ähnlichkeit des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Recht zu diagnostizieren. g) Außer den angegebenen, für das russische Rechtssystem und das romanischgermanische Recht gemeinsamen Merkmalen, die nach Meinung der Autoren – den Anhängern der These von der Zugehörigkeit des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Recht – über die Richtigkeit des von ihnen behaupteten Standpunktes vertreten werden, wird in der wissenschaftlichen Literatur auch auf andere Faktoren hingewiesen.259 Vor allem wird darauf hingewiesen, daß sowohl dem russischen als auch dem romanisch-germanischen Rechtssystem ein ,inquisitorischer Stil‘ des Rechtswegs, eine ähnliche Methodik der Verbrechensermittlung, ein ,schriftlich-dokumentierter‘ Charakter der Durchführung der Untersuchungshandlung, die bedeutende Rolle des ,zivilistischen Blocks‘ im russischen und im romanisch-germanischen Rechtssystem, insbesondere in demjenigen des Zivilrechts und Zivilverfahrensrechts, usw. eigen sind. Es ist offensichtlich, daß diese Faktoren, die als Beweis der Ähnlichkeit des russischen Rechts und des romanisch-germanischen Rechts und der Zugehörigkeit des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Recht angeführt werden, einen eher äußerlichen Charakter als eine tiefgreifende Basis haben. Aufgrund dieser Faktoren kann man mit voller Sicherheit über die Gemeinsamkeit, die Ähnlichkeit der behandelten Rechtsstrukturen und Gebilde sprechen. Außerdem kann man über eine größere Ähnlichkeit des russischen Rechts zum romanisch-germanischen Rechtskreis als zu anderen Rechtsfamilien sprechen. Die Entwicklungstendenz geht, besonders in den letzten Jahren, in Richtung einer vertieften Aufnahme der Traditionen und Werte der romanisch-germanischen Rechtsfamilie. Aber es wäre wirklich übereilt, nur aufgrund dieser Tatsachen zu behaupten, das russische Rechtssystem sei ein Bestandteil der kontinentalen Rechtsfamilie. Das läßt sich gegenwärtig nicht einmal über die osteuropäischen ,neuen Demokratien‘ (die ehemaligen ,Länder der Volksdemokratie‘, wie Ungarn, Tschechoslowakei, Polen u. a. sagen, deren Rechtssysteme historisch immer näher daran waren und nach Einsicht einiger Autoren „früher zur romanisch-germanischen Rechtsfamilie gehörten“. Sie enteilten vor allem dank der sowjetischen Perestrojka und der freien Entwicklung nach Westeuropa, behielten aber im Hinblick auf die vergangene Zugehörigkeit zum ,kommunistischen‘ System nur einige mit ihrer ,neuen Orientierung‘ kompatible Merkmale. h) Über die Zugehörigkeit des russischen Rechtssystems zur romanisch-germanischen Rechtsfamilie kann auch deshalb nicht gesprochen werden, weil es gegen259 Vgl. dazu: Zweigert, Konrad / Kötz, Hein, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, Bd. 1, Tübingen 1984, S. 264 – 270.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

wärtig (wie das auch früher war) viel mehr eigene, ihm selbst innewohnende spezifische Merkmale hat als allgemeine, beiden gemeinsame Merkmale. Indem westliche Wissenschaftler diese Merkmale benennen, betonen sie vor allem folgendes: Das russische Rechtssystem ist (a) ein eher prärogatives als ein normatives System; in ihm gelten eher ,Rechtsbegriffe‘ als ,Rechtsnormen‘. Dieses System hat (b) einen pseudoreligiösen Charakter, ähnlich den auch auf religiöser Grundlage basierenden Systemen. Im Rechtssystem Rußlands tritt (c) das Recht nach wie vor als ein Mittel in den Händen des Staates auf, das früher zum Errichten des Kommunismus verwendet wurde, und jetzt „für die Gestaltung einer neuen wirtschaftlichen Ordnung im Land“. (d) Das Privatrecht wird im russischen Rechtssystem maßgeblich durch das öffentliche Recht aufgenommen. (e) Wie auch in den früheren Jahren hängt das russische Recht maßgeblich von Politik und Wirtschaft ab. (f) Im russischen Rechtssystem fehlt im Unterschied zur romanisch-germanischen Rechtsfamilie ein aus dem Bereich des Zivilrechts ausdifferenziertes System von das Handelsrecht gestaltenden Normen. Das Handelsrecht Rußlands ist praktisch im ,reinen‘ Zivilrecht aufgehoben.260 Das zeugt einerseits vom niedrigen Entwicklungsniveau im Land des Warenmarktes und andererseits vom Übergangszustand des ,zivilistischen Blocks‘ des russischen Rechts als objektive Folge. Das Gesagte wird vom Leben selbst bewiesen. Es spiegelt sich wider in den wissenschaftlichen Werken führender einheimischer Zivilisten. Als Beispiel kann die Arbeit von B. I. Puginskij „Handelsrecht Russlands“ angeführt werden, der auf den „nicht normalen Zustand“ der russischen Gesetzgebung über die Handelstätigkeit hinweist. Seine Schlußfolgerung ist die „zwingende Notwendigkeit“ der Erarbeitung eines einheitlichen Gesetzes – eines Handelsgesetzbuches für Rußland. Um die gegenwärtige russische Krise zu überwinden, muß man „stabile handelswirtschaftliche Verhältnisse zwischen einheimischen Produzenten und Verbrauchern einrichten“. Und das ist ohne Ausarbeitung eines Handelsgesetzbuchs nach dem offensichtlich nicht ausreichenden Zivilgesetzbuch unmöglich. Die Erfahrungen führender Staaten zeigen das deutlich. Der Rückstand Rußlands wurzelt im Nichtvorhandensein eines entwickelten Warenmarktes, und dieser Markt ist ohne Festlegung deutlicher gesetzgebender Regelungen nicht zu etablieren“.261 Ähnliche Gedanken über die Notwendigkeit der ständigen Verbesserung der Zivilgesetzgebung, einer Ausdifferenzierung der Handelsgesetzgebung sowie der Herausbildung eines auf dieser Grundlage selbständigen Rechtszweigs – des Handelsrechts – wurden schon zu UdSSR-Zeiten geäußert und durchaus überzeugend begründet.262

260 Mehr dazu: Zenin, Igor, Grazdanskoe i torgovoe pravo sarubeznych stran [Zivil- und Handelsrecht in kapitalistischen Ländern], Moskau 1999, S. 11 – 15. 261 Puginskij, Boris, Kommerceskoe pravo Rossii [Handelsrecht Russlands], Moskau 2000, S. 32. 262 Naryškin, Roman, Grazdanskoe i torgovoe pravo kapitalisticeskich gosudarstv [Zivilrecht und Handelsrecht in kapitalistischen Ländern], Moskau 1983, S. 7 – 10.

III. Westliches Rechtssystem und russisches Privatrecht

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Aber jetzt handelt es sich nicht darum. In bezug auf die von uns behandelte Frage nach dem Charakter des Verhältnisses des russischen Rechts und der romanisch-germanischen Rechtsfamilie ist es wichtig, aufgrund der ,Aufnahme‘ des Handelsrechts Rußlands durch das Zivilrecht zu betonen, daß diese für das russische Recht spezifische Situation nicht von seiner Zugehörigkeit zum romanischgermanischen Recht zeugt. Zusammen mit anderen Faktoren weist diese Situation darauf hin, daß es sich genau umgekehrt verhält. Die Situation zeugt davon, daß das russische Recht mit seinen eigenen historischen, sozial- politischen, kommunalen, geistigen, nationalen (multinationalen) Grundlagen nach wie vor eigenartig selbständig ist. Es hängt aber, wie auch jedes andere, relativ selbständige Recht, eng mit den romanisch-germanischen, angelsächsischen und anderen Rechtsfamilien und Systemen zusammen, mit denen es eng verbunden ist und zusammen wirkt. Es ist nicht notwendig zu beweisen, denn es ist offensichtlich, daß das russische Recht historisch, geographisch und teilweise auch geistig dem romanisch-germanischen Recht näher ist, als den anderen Rechtsfamilien und Rechtssystemen. Außerdem nähert sich das russische Recht je nach seiner Entwicklung, (wie eine Vielzahl von Rechtstatsachen hauptsächlich in Form neuer Gesetzgebungsakte belegen dem romanisch-germanischen Recht immer mehr an. Aber gegenwärtig besteht kein Anlaß für die Zuordnung des russischen Rechts zu dieser Rechtsfamilie, für die Identifikation mit die Auflösung des russischen Rechts im romanisch-germanischen Recht. Das russische Rechtssystem als das stärkste und einflußreichste der ehemaligen sozialistischen Rechtssysteme befindet sich gegenwärtig in einer Übergangsphase, die für den Austausch von Ideen, Erfahrungen und für die Wechselwirkung mit anderen Rechtssystemen offen ist. Davon zeugt praktisch alles – Verfassungs-, Zivil-, Finanz-, Banken-, Steuer- und die sonstige russische Gesetzgebung. Und es erscheint nicht notwendig zu versuchen, den Geschehnissen vorzugreifen und künstlich russisches (,nationales‘) Recht an romanisch-germanisches (,internationales‘, europäisches) oder ein anderes ausländisches Recht anzupassen. Trübe politische Erfahrungen der beschleunigten Errichtung des „gesamteuropäischen“ Hauses in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre am Platze der zerstörten „Gemeinschaft sozialistischer Staaten“ mit der Sowjetunion an ihrer Spitze und ähnliche Erfahrungen der Errichtung einer Zone der Sicherheit auf dem Territorium Europas nach Aufhebung des Warschauer Vertrages zeugen davon, daß in jedem Bereich des Gesellschaftslebens einschließlich des Rechts eine künstliche Forcierung von sich bereits abziehendes Prozessen und Geschehnissen wirklich risikoreich ist. Wirklich wichtig ist nun im beginnenden Prozeß der Annäherung oder gar Integration des russischen Rechtssystems mit der romanisch-germanischen Rechtsfamilie nicht nur seine Eigenart zu bewahren, sondern auch ihre potenziellen Möglichkeiten zu stärken, damit ein Prozeß der natürlichen Annäherung und der gegenseitigen Integration stattfindet, und keine einseitige Aufnahme und allmähliche

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

Unterdrückung der Eigentümlichkeiten und Möglichkeiten eines Rechtssystems durch ein anderes Rechtssystem oder gar durch eine andere Rechtsfamilie.

2. Merkmale und Besonderheiten des sozialistischen Rechtssystems a) Wenn man über die Frage der Aussonderung von Merkmalen und Besonderheiten des sozialistischen Rechts und danach des sozialistischen Systems beschließt, wird man mit einer anderen – unerwarteten – Frage konfrontiert, und zwar mit der Frage danach, um was für einen Sozialismus es sich eigentlich handelt. Es geht nämlich um die Ebene des früheren sozialistischen Alltagsbewußtseins: Sozialismus ist „einheitlich und nicht zu bekämpfen“. Jetzt existiert derselbe Gedanke, aber unter einem anderen Vorzeichen – dem Minus! Über die Massenmedien und einige ,wissenschaftliche‘ Veröffentlichungen wird der Gedanke vermittelt, daß der Sozialismus – seinem Wesen nach einheitlich – gleichwohl wie die Erfahrungen der Zerstörung seiner staatlichen Struktur in den ehemaligen, so genannten sozialistischen Länderbezeugen – nicht nur besiegt werden kann. Er wurde auch Geschichte, ist in Vergessenheit geraten und besiegt worden.263 Der amerikanische Wissenschaftler japanischen Ursprungs F. Fukujama dramatisierte die Situation noch, indem er das sich nähernde Ende der Geschichte diagnostizierte und behauptete, daß der westliche Liberalismus, der als Antipode des Sozialismus angesehen wurde, „keine lebensfähigen Alternativen hatte“. Allerdings bezweifelten andere westliche Autoren, die die Situation in der Welt nach den 1990er Jahren realistischer einschätzten, die Richtigkeit dieser Einschätzung. Sie vermuteten, daß es sich um nicht mehr und nicht weniger als um die Auseinandersetzung unterschiedlicher Zivilisationen miteinander handelt und nicht um das Ende der Geschichte.264 b) Wir gehen auf politische und ideologische Diskussionen über die Ewigkeit und Unbesiegbarkeit des Sozialismus oder des Kapitalismus, über das Ende oder den Anfang der Geschichte nicht ein. Wir weisen nur darauf hin, daß weder in der Theorie noch in der Praxis eine einheitliche Vorstellung über Sozialismus, sozialistisches System und folglich auch über Postsozialismus, postsozialistisches System vorhanden ist. Wenn man sich an sowjetische oder moderne postsozialistische 263 Liggio, Leonard, The Collapse in Historical Perspective, in: Moore, John H. (ed.)., Legacies of the Collapse of Marxism, Fairfax, Va. 1994, 1 – 17. 264 Vgl. Fukuyma, Francis, The End of the History and the Last Man (1989, 1992), hier zit. nach: Fukujama, Frensis, Konec istorii [Ende der Geschichte], in: Voprosy filosofii [Fragen der Philosophie], Nr. 3 (1990), S. 134 ff.; Kritisch dazu: Mols, Manfred / Derichs, Claudia: Das Ende der Geschichte oder ein Zusammenstoß der Zivilisationen? Bemerkungen zu einem interkulturellen Disput um ein asiatisch-pazifisches Jahrhundert, in: Zeitschrift für Politik, 42 (1995) 3, S. 225 – 249.

III. Westliches Rechtssystem und russisches Privatrecht

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Quellen hält, kann man feststellen, daß der Sozialismus (von lat. „socialis“ – gesellschaftlich) durch folgende Merkmale gekennzeichnet wird, nämlich: (a) durch eine erste (niedrige) Phase der kommunistischen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Formation; (b) durch eine wissenschaftliche Theorie, welche die historische Notwendigkeit einer Festsetzung der kommunistischen Formation, die Wege ihrer Gestaltung und die Prinzipien ihrer Organisation begründet; (c) durch unterschiedliche Lehren, in denen als Zweck und Ideal der Sozialismus als Lebensform der Vergesellschaftung festgesetzt wird, aber die „Vorstellungen über den Sozialismus und die Weisen der Erreichung eines wissenschaftlichen Sozialismus“ unterschieden werden. Charakteristische Merkmale des Sozialismus, genauer gesagt der sozialistischen Gesellschaft, auf deren Grundlage der jeweilige Typ des Staates und der Rechte entsteht und sich entwickelt, sind: (1) die Vorherrschaft „des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln bei planmäßiger Entwicklung der ganzen Volkswirtschaft“; (2) das Nichtvorhandensein von „Ausbeuterklassen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“; (3) die Konzentration der Macht in den Händen derer, die arbeiten: die „Diktatur des Proletariats“ – in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus und ein „das gesamte Volk umfassender Staat“ – in der Zeit des „entwickelten Sozialismus“; (4) staatliche Garantien des Rechts auf Arbeit (bei vollständiger Liquidation der Arbeitslosigkeit), auf Erholung, auf medizinische Betreuung, auf Bildung, auf soziale Versorgung usw. Etwas anders wird der ,Sozialismus‘ und dementsprechend das sozialistische System in ausländischen Quellen interpretiert. Beispielsweise werden das Wort und der Begriff „Sozialismus“ in dem bekannten Webster-Wörterbuch folgendermaßen verstanden, nämlich als: (a) „Theorie, gemäß der das Eigentumsrecht, das Verwaltungsrecht und das Recht auf Verfügung über Produktionsmittel und erzeugte Produkte nicht den Privatpersonen, sondern der ganzen Gesellschaft oder unterschiedlichen Gemeinschaften gehört; (b) „politische Bewegung“, die die Herausbildung einer sozialistischen Gesellschaft zum Ziel hat; (c) entsprechende Doktrinen, Methoden, Ideen usw., die durch die sozialistischen Parteien verwendet werden; und (d) Etappe der Gesellschaftsentwicklung, die sich „nach kommunistischer Doktrin“ in der Übergangsphase „vom Kapitalismus zum Kommunismus“ befindet und sich durch Aufhebung des Privateigentums und Festlegung des Prinzips „jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen“ charakterisiert.265

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Webster’s New Universal Unabridged Dictionary, New York 1993, S. 1722 – 1723.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

3. Einwirkungen des europäischen Primärrechts auf das nationale Privatrecht Das Gemeinschaftsrecht richtet sich zunächst einmal an die Mitgliedstaaten, die ihre Rechtsordnung an dessen Vorgaben auszurichten haben. Was bedeutet es für den Bürger eines Mitgliedstaates, wenn sich herausstellt, daß in einem von ihm geführten Rechtsstreit eine gemeinschaftsrechtswidrige Bestimmung des nationalen Rechts Anwendung finden soll? Die möglichen Antworten auf diese Frage dekken ein weites Spektrum ab: Man könnte den Bürger schlicht auf die Zukunft verweisen und ihn hoffen darauf lassen, sein Mitgliedstaat werde die gemeinschaftswidrige Bestimmung von selbst oder aufgrund eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 f. EG außer Kraft setzen. Wenigstens theoretisch denkbar wäre ferner, ihm ein Klagerecht gegen seinen Staat auf Erlaß eines gemeinschaftsrechtskonformen Gesetzes zuzubilligen. Praktisch besser durchsetzbar erscheint eine Klage auf Ersatz des Schadens, den er dadurch erleidet, daß die nationale Rechtsnorm gemeinschaftsrechtswidrig ist. Geholfen wäre dem Bürger auch, wenn man das nationale Recht, sofern das möglich ist, so auslegt, daß es den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts entspricht. Besonders effektiv wäre es schließlich, wenn sich der rechtsuchende Bürger direkt auf diejenigen Bestimmungen des Primärrechts berufen könnte, die der nationale Normgeber mißachtet, ohne deren Umsetzung abwarten zu müssen.

IV. Einbettung der Privatrechtsbeziehungen in das Verhältnis von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) zueinander und im Verhältnis zu Dritten 1. Unmittelbare Anwendbarkeit von Grundfreiheiten im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zum Mitgliedstaat Den zuletzt genannten Weg hat der EuGH für das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat beschritten: Bestimmte Normen des Primärrechts sind unmittelbar anwendbar. Dabei bedeutet „unmittelbar“ : ohne staatlichen Umsetzungsakt. Fehlt es an einer nationalen Norm, liefert das Gemeinschaftsrecht den Rechtsanwendungsbefehl; liegt eine gemeinschaftsrechtswidrige Norm vor, bleibt diese außer Anwendung. In der Entscheidung van Gend & Loos266 wandte sich eine niederländische Transportfirma gegen einen erhöhten Einfuhrzoll für aus Deutschland importierte Waren. Das niederländische Gericht legte die Frage dem EuGH vor. Dieser erkannte, das Gemeinschaftsrecht solle nicht nur den Mitgliedstaaten, sondern im Grundsatz auch dem einzelnen sowohl Pflichten auferlegen als auch Rechte ver266

EuGH v. 5. 2. 1963, Rs 26 / 62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1 NJW 1963, 974.

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leihen. Enthalte der Vertrag eine „rechtlich vollkommene“ Vorschrift, so sei diese Vorschrift unmittelbar anwendbar. Rechtlich vollkommen ist nach dem EuGH eine klare und vollständige Vorschrift, welche eine Handlungs- oder Unterlassungspflicht für den Mitgliedstaat statuiert, die dieser ohne weitere Zwischenschritte erfüllen kann. Auf sie kann sich folglich der Bürger eines Mitgliedstaates berufen, noch bevor sie in nationales Recht umgesetzt wird. Art. 25 EG ist nach dem EuGH eine solche Vorschrift: Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten klar und eindeutig, weder Ein- und Ausfuhrzölle noch Abgaben mit gleicher Wirkung zu erheben. Damit begründet sie eine Pflicht des Mitgliedstaates, bestehende Zölle aufzuheben und keine neuen Zölle zu schaffen. Der Kläger des Ausgangsverfahrens durfte sich somit gegenüber der Zollforderung der Niederlande unmittelbar auf Art. 25 EG berufen. Die Rechtsgrundlage für die Zollforderung durfte nicht angewandt werden.267 Auf die oben gestellte Frage, ob sich Bürger unmittelbar auf Gemeinschaftsrecht berufen dürfen, ist somit eine erste Antwort gefunden: In einem Rechtsstreit zwischen Bürger und Mitgliedstaat sind „rechtlich vollkommene“ Vorschriften des Vertrages unmittelbar anwendbar. Für das Privatrecht läßt sich daraus folgern: Auf eine gemeinschaftsrechtswidrige Vorschrift kann ein Mitgliedstaat keine Klage stützen. Neben Art. 25 EG hat der EuGH vor allem noch die Vorschriften über den freien Warenverkehr, über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit für unmittelbar anwendbar gehalten.

2. Unmittelbare Drittwirkung von Grundfreiheiten im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander Mit der unmittelbaren Anwendbarkeit des Primärrechts steht fest, daß Mitgliedstaaten gegenüber ihren Bürgern an Gemeinschaftsrecht gebunden sind. Dieser Grundsatz gilt auch für das Privatrecht uneingeschränkt. Gerade dort sind freilich Streitigkeiten zwischen Rechtsunterworfenen praktisch viel wichtiger. Wer vom Privatrecht her kommt, wird deshalb mit besonderer Spannung fragen, ob sich auch Privatrechtssubjekte in einem Rechtsstreit untereinander direkt auf Bestimmungen des Primärrechts berufen können. Man spricht dabei von unmittelbarer Drittwirkung der Grundfreiheiten: ,Drittwirkung‘, weil die Rechtsunterworfenen der Mitgliedstaaten im Regelfall nicht die Adressaten des Vertrages sind, sondern eben Dritte; ,unmittelbar‘, weil es um die Frage geht, ob allein aufgrund von Be267 Zum freien Warenverkehr vgl. EuGH v. 1. 7. 1969, Rs 2 u. 3 / 69 (Sociaal Fonds voor de Diamantarbeiders), Slg. 1969, 211; zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer vgl. EuGH v. 4. 4. 1974, Rs 167 / 73 (Kommission / Frankreich), Slg. 1974, 359 („Französische Schiffsbesatzungen“) = Hummer / Vedder, S. 560; zur Niederlassungsfreiheit vgl. EuGH v. 21. 6. 1974, Rs 2 / 74 (Reyners), Slg. 1974, 631; zur Dienstleistungsfreiheit vgl. EuGH v. 3. 12. 1974, Rs 33 / 74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299, 1311= NJW 1975, 1095; 29. 4. 1999, Rs C-224 / 97 (Ciola), Slg. 1999, 1 – 2517.

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3. Abschn.: Interdependenzen zwischen russischem und westlichem Recht

stimmungen des Primärrechts Rechte und Pflichten zwischen Privatrechtssubjekten entstehen können. Ob und wie weit die unmittelbare Drittwirkung des Primärrechts, insbesondere der Grundfreiheiten, anerkannt werden kann, ist umstritten. Der EuGH hat bestimmte Grundfreiheiten, insbesondere die Art. 12, 39, 49 und 141 EG für zwischen Privaten unmittelbar anwendbar gehalten. Für eine Drittwirkung spricht aus der Sicht des EuGH vor allem der offene Wortlaut dieser Bestimmungen sowie der Grundsatz des „effet utile“.268 Bei diesem handelt es sich um ein Optimierungsgebot zur Auslegung des Vertrages.269 Dessen Bestimmungen sind hiernach stets so zu interpretieren, daß der gemeinschaftlichen Rechtsordnung die größtmögliche Durchschlagskraft verliehen wird. Wirken die Grundfreiheiten nicht nur im Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten, sondern auch unmittelbar zwischen den Bürgern der Mitgliedstaaten, ist die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts höher. Zuletzt hat der EuGH darauf verwiesen, die Wirksamkeit der Grundfreiheiten könne nicht davon abhängen, ob ein und dieselbe Aufgabe im Mitgliedstaat von der öffentlichen Hand besorgt oder der Privatinitiative überlassen werde. Wirken die Grundfreiheiten unmittelbar zwischen Privatpersonen, so hat das zur Folge, daß sich jeder Bürger eines Mitgliedstaates gegenüber der Diskriminierung durch einen anderen Bürger eines Mitgliedstaates auf das Gemeinschaftsrecht berufen kann. Eine Maßnahme, die im Sinne der Grundfreiheiten diskriminierend wirkt, ist ohne weiteres unwirksam. In den Fällen Bosman270, Deliege271 und Lehtonen hat der EuGH Bestimmungen auf Statuten europäischer Berufs-Fußballverbände direkt an Art. 39 EG gemessen. Das betraf zum einen die Vorschrift, wonach bei einem Meisterschaftsspiel nicht mehr als drei Ausländer gleichzeitig eingesetzt werden dürfen; zum anderen die Vorschrift, wonach beim Vereinswechsel eines Spielers – unabhängig von seiner Nationalität – eine Ablösesumme an den bisherigen Verein zu zahlen ist. Im Ergebnis hat der EuGH beide Vorschriften der Verbandsstatuten wegen der Beschränkung der Freizügigkeit der Fußballspieler für unwirksam gehalten. Unmittelbar aufgrund des Art. 39 EG hat der EuGH im Fall Angonese272 auch die Einstellungsvoraussetzungen einer Sparkasse in der italienischen Provinz 268 Zu diesem Begriff vgl. Streinz, Rudolf, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Festschrift für Ulrich Everling, hrsg. von O. Due et al., Bd. II, Baden-Baden 1995, S. 1491 ff. 269 Zu diesem Begriff: Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1994, S. 75 ff. 270 EuGH v. 5. 12. 95, Rs C-415 / 93 (Bosman), Slg. 1995,1 – 4921 = NJW 1996, 505. 271 EuGHv. 11. 4. 2000, verb. RsC-51 / 96 (Deliege) und 191 / 97, Slg. 1995,1 – 2549 = NJW 2000, 2011. / H EuGH v. 13. 4. 2000. Rs C-176 / 96 (Lehtonen and Castors Braine), Slg. 2000, 1 – 2681 = NJW 2000, 2015. 272 EuGH v. 6. 6. 2000, Rs C-281 / 98 (Angonese), Slg. 2000, 1 – 4139 = NJW 2000, 3634.

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Bozen für unwirksam erklärt. Diese hatte von Bewerbern einen Nachweis der Zweisprachigkeit in einer Form gefordert, die nur in der Provinz Bozen zu erlangen war. Hierin sei eine Diskriminierung der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten zu erblicken. Folglich war es der Sparkasse verwehrt, nur solche Bewerber einzustellen, die den Nachweis vorlegen konnten. Der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten wird in der deutschen Literatur häufig beigetreten, zum Teil aber auch deutlich widersprochen.273 Tatsachlich ist die unmittelbare Drittwirkung aus der Sicht des deutschen Privat- und Verfassungsrechts zunächst einmal geradezu eine Sensation. Das zeigt sich, wenn man die Frage, ob die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten auf das Privatrecht einwirken, mit der Frage vergleicht, ob die Grundrechte des deutschen GG auf das Privatrecht einwirken können. Heutzutage ist man sich weitgehend einig, daß die Grundrechte des GG jedenfalls nicht unmittelbar zwischen Subjekten des Privatrechts gelten, wenn dies nicht – wie in Art. 9 III 2 GG – ausdrücklich angeordnet ist. Das beruht im Wesentlichen auf drei Erwägungen. Erstens auf einem Umkehrschluß zu Art. 9 III 2 GG: Wird die unmittelbare Drittwirkung ausdrücklich angesprochen, ist sie offenbar kein allgemeiner Grundsatz.274 Das ergibt sich auch aus dem Wortlaut des Art. 1 III GG. Für diese Sicht spricht zweitens das System der Gesetzesvorbehalte. Grundrechte sind nach dem GG nur durch den Gesetzgeber einschränkbar, nicht durch vertragliche Abreden. Eine unmittelbare Geltung der Grundrechte zwischen Privaten ohne die Möglichkeit, einzelne Grundrechte einzuschränken, ist wiederum ganz undenkbar: Nahezu jede vertragliche Abrede schränkt bestimmte Grundrechte ein, beispielsweise jeder Arbeitsvertrag die Freizügigkeit oder die Freiheit der Berufsausübung.275 Drittens wird eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte abgelehnt, weil sich das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, welches die Beurteilung der Gesetzesvorbehalte leitet, auf den Privatrechtsverkehr nicht übertragen läßt. Anders als der in Grundrechtspositionen eingreifende Hoheitsträger müssen Privatrechtssubjekte ihr Handeln im Grundsatz nicht rechtfertigen. Privatautonomes Handeln ist auch dann zulässig, wenn es nicht den Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit genügt.276 Diese Argumentation läßt sich auch für die Kritik an der unmittelbaren Drittwirkung von Grundfreiheiten fruchtbar machen. Wie das GG mit Art. 9 Abs. 3 Satz 2 enthält auch der EG mit Art. 86 Abs. 2 eine Bestimmung, die ausdrücklich ,Unter273 Ferner dazu: Ganten, Ted Oliver, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten. Die EGGrundfreiheiten als Grenze der Handlungs- und Vertragsfreiheit im Verhältnis zwischen Privaten, Berlin 2000, S. 94 ff.; Roth (FN 226), S. 1231, 1233 ff. 274 Rs C-144 / 04 (Mangold), Slg. 2005, 1 – 9981 = EuZW 2006, 17. 275 Canaris, Claus-Wilhelm, Zur Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: Umwelt, Wirtschaft und Recht. Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstages Reiner Schmidt, hrsg. von Hartmut Bauer et. al., Tübingen 2002, S. 29 ff. 276 Hager, Johannes, Grundrechte im Privatrecht, in: Juristen-Zeitung 1994, S. 373 – 383, 373 ff.

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nehmen‘, mithin Privatrechtssubjekte, anspricht. Im Umkehrschluß dazu sollen offenbar nicht sämtliche Grundfreiheiten unmittelbar das Verhalten von Privatrechtssubjekten regeln. Die Parallelität der Argumentation setzt sich mit Blick auf die Gesetzesvorbehalte des GG fort. Diese richten sich an den Gesetzgeber, die Rechtfertigungsgesichtspunkte des Art. 39 Abs. 3 EG sind ganz offenkundig auf die Mitgliedstaaten zugeschnitten, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist es für ein Privatrechtssubjekt praktisch meist sehr aufwendig, Rechtfertigungsgründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit vorzubringen. Es handelt sich hierbei um typische Gesichtspunkte zur Legitimation staatlichen, nicht aber privaten Handelns. Zum anderen greifen diese Rechtfertigungsgründe zu kurz. Das zeigt sich, wenn man den Einwand der mangelnden Eignung des Übermaßverbots für das Handeln Privater9 auf die Grundfreiheiten überträgt. Anders als der in Rechtspositionen eingreifende Hoheitsträger muß sich das Privatrechtssubjekt für sein Handeln schon im Grundsatz gar nicht legitimieren. Keinesfalls kann aber eine solche Legitimation nur aufgrund der Gesichtspunkte der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zulässig sein. Trotz der parallelen Argumentationsstruktur in der Diskussion der unmittelbaren Drittwirkung von Grundrechten des GG und Grundfreiheiten des EGV ist ein zentraler Unterschied nicht zu verkennen: Die Grundrechte des GG sind in erster Linie Abwehrrechte des einzelnen gegenüber dem Staat, zusätzlich begründen sie in einigen Fällen Schutzpflichten des Staates zu Gunsten seiner Bürger. In beiden Konstellationen ist aber der Staat notwendiger Teil des Beziehungsgefüges. Die Grundfreiheiten des EGV sind demgegenüber nicht als Abwehrrechte des Bürgers konzipiert, sondern als Grundordnung eines gemeinsamen Binnenmarkts, verbunden mit der Verpflichtung aller Mitgliedstaaten, diesen herzustellen. Legt man – wie der EuGH bei der Frage unmittelbarer Anwendbarkeit des Primärrechts zwischen Mitgliedstaat und Bürger – den Schwerpunkt auf den zuerst genannten Aspekt, der Schaffung einer eigenen Rechtsordnung, so liegt es nahe, die Bürger der Gemeinschaft an dieser Rechtsordnung partizipieren zu lassen. Die Frage, auf welche Weise eine solche Partizipation dogmatisch am besten umsetzbar wäre, ist noch immer nicht beantwortet. Eine mittlere Position im Streit um die unmittelbare Drittwirkung von Grundfreiheiten nehmen Autoren ein, welche die unmittelbare Drittwirkung jedenfalls dann bejahen, wenn es um ,private Macht‘ oder ,intermediäre Gewalten‘ geht. Was ist damit gemeint? In den Urteilen des EuGH vor Angonese ging es stets um Regelwerke von Sportsverbänden. Im Verhältnis dieser Verbände zu den von ihnen unter Vertrag genommenen Profisportlern ist ein deutliches Machtgefälle nicht zu verkennen. Wegen dieser Machtposition der Verbände hat man davon gesprochen, es handele sich um private Macht oder eben intermediäre Gewalten, die zwischen dem Staat und den übrigen Privatrechtssubjekten einzuordnen wären. Jedenfalls für solche Gewalten hielt man eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten für angemessen. Gegen diese Ansicht sprechen vor allem schon die Schwierigkeiten, eine überwiegende Trennlinie zwischen privater Macht und schlichtem Privat-

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rechtssubjekt zu ziehen. Außerdem ist das probate Mittel zur Kontrolle privater Macht eher im Wettbewerbsrecht als im Gemeinschaftsrecht zu suchen.

3. Mittelbare Drittwirkung von Grundfreiheiten im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander Viele Ergebnisse, die der EuGH mit der unmittelbaren Drittwirkung von Grundfreiheiten begründet hat, lassen sich auch auf die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung stützen.277 Diese ist aus der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte des GG entwickelt worden. Hiernach hat der Bürger einen grundrechtlich gesicherten Schutzanspruch gegen den Staat, der sich auf die Gewährleistung eines verfassungsrechtlichen Minimalstandards richtet (Untermaßverbot). Diesem Schutzanspruch kommt die Legislative durch Gesetzgebung, die Judikative durch Rechtsprechung nach. Auf diesen Minimalstandard können sich Privatrechtssubjekte in ihrem Verhältnis zueinander zwar nicht direkt, wohl aber mittelbar, nämlich vermittelt durch eine staatliche Stelle, berufen. Die Abweichung von der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung zeigt sich an der Rechtsfolge. Die unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten führt zu einer Überprüfung privaten Handelns am Maßstab der Grundrechte. Kommt es zu einem Verstoß, ist die Handlung ohne weiteres unwirksam bzw. sie verpflichtet zu Schadensersatz. Geht man von einer mittelbaren Drittwirkung aus, kann die angegriffene Handlung eines Privatrechtssubjekts nur dann unwirksam sein, wenn der Mitgliedstaat seiner Schutzgebotsfunktion mit den Mitteln des Privatrechts nachzukommen verpflichtet ist und sich hierfür ein methodologisch zulässiges Instrument finden läßt. Ein Vertrag, der den Gewährleistungsgehalt der Grundrechte berührt, kann als unwirksam angesehen werden, wenn sich das unter Rückgriff auf § 138 BGB begründen läßt. Eine Handlung, die Wertungen der Grundrechte nicht respektiert, verpflichtet nur dann zum Schadensersatz, wenn sich ein solcher Anspruch zivilrechtlich begründen läßt – sei es auch unter Rückgriff auf die §§ 242, 826 BGB. Überträgt man den Gedanken der mittelbaren Drittwirkung auf das Gemeinschaftsrecht, ergibt sich folgendes: Die Grundfreiheiten in ihrer Funktion als Auftrag an die Mitgliedstaaten, einen gemeinsamen Binnenmarkt herzustellen, enthalten ein Schutzgebot zu Gunsten der Bürger. Auf dieses können sich Privatrechtssubjekte insofern berufen, als die Judikative bei der Entscheidung eines Rechtsstreits die privatrechtlichen Normen grundfreiheitenkonform auszulegen hat. Eine Schutzgebotsfunktion der Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH in der Tat in der Sache „Kommission gegen Frankreich“ angenommen.278 Dabei ging es um gewaltsame Ausschreitungen französischer Landwirte gegen den Import von Erzeugnis277 Vgl. dazu: Eger, Thomas, Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, Tübingen 2007. 278 EuGH v. 9. 12. 1997, Rs C-265 / 95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, s.6959 („Agrarblockaden“) = EuZW 1998, 84; Riesenhuber, Rn. 104.

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sen aus anderen Mitgliedstaaten. Die französischen Behörden waren diesen Protesten gegenüber untätig geblieben. Der EuGH bejahte einen Verstoß gegen Art. 28 EG, obwohl es um Handlungen von Privatpersonen ging. Er hielt Frankreich für verpflichtet, „alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um [ . . . ] die Beachtung dieser Grundfreiheiten sicherzustellen“. 279 Die mittelbare Drittwirkung läßt sich am besten als Dreiecksbeziehung denken. Ein Privatrechtsubjekt beruft sich gegenüber einem anderen Privatrechtssubjekt auf die Beeinträchtigung seiner Grundfreiheiten. Nimmt es dafür den Schutz staatlicher Gerichte in Anspruch, entsteht für den Mitgliedstaat die Aufgabe, seiner Schutzgebotsfunktion gegenüber dem Privatrechtssubjekt nachzukommen, welches sich in seinen Grundfreiheiten beeinträchtigt fühlt. In einem Rechtsstreit erfüllt der Mitgliedstaat diese Aufgabe, indem er das methodologische Instrumentarium des nationalen Privatrechts umfassend ausschöpft, um die Grundfreiheiten zu verwirklichen.

4. Primärrechtskonforme Auslegung und Fortbildung des nationalen Privatrechts Bislang haben wir gesehen, daß sich Private gegenüber gemeinschaftswidrigen nationalen Rechtsnormen auf die Rechtsfiguren der unmittelbaren Anwendbarkeit und der unmittelbaren Drittwirkung von Primärrecht berufen können. Einen anderen Weg beschreitet die primärrechtskonforme Auslegung und Fortbildung des nationalen Privatrechts. Wird im erst genannten Fall der gemeinschaftsrechtlichen Norm unmittelbar Geltung zwischen Privatrechtssubjekten verschafft, geht es im zuletzt genannten Fall darum, den Interpretationsspielraum des nationalen Rechts gemeinschaftsrechtlich zu nutzen. Die Verpflichtung zur primarrechtskonformen Interpretation läßt sich aus Art. 10 EG herleiten: Hiernach hat jeder Mitgliedstaat geeignete Maßnahmen zur Erfüllung von Verpflichtungen aus dem EG zu treffen. Damit ist zunächst einmal der nationale Gesetzgeber aufgerufen, seine Rechtsordnung so auszugestalten, daß sie nicht gegen Primarrecht verstößt. Art. 10 EG verpflichtet aber auch die Judikative bei der Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts, gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zu berücksichtigen. Praktisch bedeutsam ist bislang freilich weniger die primarrechtskonforme als vielmehr die richtlinienkonforme Auslegung geworden.280 Ein Beispiel bietet die Auslegung des Begriffs des „tauglichen Bürgen“ im Sinne des § 239 BGB. § 239 BGB fordert einen Gerichtsstand im Inland.281 Das 279 EuGH v. 9. 12. 1997, Rs C-265 / 95 (Kommission / Frankreich), Slg. 1997, 1 – 6959 („Agrarblockaden“), Rn. 32 = EuZW 1998. 84. 280 Zur Abgrenzung der beiden Institute: Ehricke, Ulrich, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 59 (1995), S. 598.

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kann zu einer Verletzung der Dienstleistungsfreiheit führen, etwa wenn einer Bank mit Sitz außerhalb Deutschlands nicht gestattet wird als Bürge in einem Prozeß aufzutreten. Aus dem Blickwinkel des deutschen Rechts spricht zunächst einmal vieles dafür, das Wort „Inland“ in § 239 Abs. 1 BGB als „Deutschland“ zu lesen. Als Ergebnis teleologischer Interpretation vertretbar ist es aber auch, „Inland“ als ein Land zu lesen, in welchem der Vollstreckung bei dem Bürgen keine nennenswerten Hindernisse entgegenstehen. Nur diese Interpretation wahrt den Vorrang des Primärrechts. § 239 BGB ist folglich gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen, daß ein Gerichtsstand innerhalb der EU ausreicht.

5. Einwirkungen des Sekundärrechts auf das nationale Privatrecht Das Sekundärrecht der Gemeinschaft wird von den Organen der EG im Vollzug der Verträge gesetzt. Neben völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 300 EG versteht man unter Sekundärrecht die in Art. 249 EG aufgezählten Kategorien. Ganz eindeutig ist nach Art. 249 Abs. 2 EG die Form, in welcher die Verordnung auf nationales Privatrecht wirkt: Sie gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Auf eine Verordnung, die Rechte und Pflichten von Privatpersonen betrifft, können sich die Bürger somit vor den Zivilgerichten ihres Mitgliedstaates ohne weiteres berufen.282 Ein Beispiel hierfür bildet die Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro. Überweist ein Bankkunde aus Deutschland 500 A nach Frankreich und stellt ihm seine Bank für die Ausführung dieser Überweisung eine höhere Gebühr in Rechnung als für eine Inlandsüberweisung, so kann sich der Bankkunde unmittelbar auf Art. 3 Abs. 2 der Verordnung berufen. Hiernach hat ein Bankinstitut für Auslandsüberweisungen die gleichen Gebühren wie für Inlandsüberweisungen zu erheben. Eine höhere Gebühr der Bank muß der Kunde nicht bezahlen. Hat die Bank sein Konto hiermit belastet, muß sie die Belastung ex tunc stornieren. Die Entscheidung betrifft nach Art. 249 Abs. 4 EG nur ihre Adressaten. Darüber hinaus kommt einer Entscheidung nur in Ausnahmefällen Bedeutung für die Anwendung des nationalen Privatrechts zu. Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nach Art. 249 Abs. 5 EG nicht verbindlich und haben folglich auch keine Wirkung auf das nationale Privatrecht.283 Art. 249 Abs. 3 EG schreibt die Verbindlichkeit der Richtlinie für die nationale Rechtsordnung der Mitgliedstaaten vor. Daraus folgt zunächst einmal die Umset281 Ehricke, Ulrich, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 1994, 259 ff.; ders. (FN 280), S. 607; OLG Koblenz RIW 1995, 775; Düsseldorf ZIP 1995, 1667 und NJW 1995, 2859. 282 Streinz, Rufolf, Europarecht, 5. Aufl., München 2001, Rn. 423. 283 Zu den Einzelheiten: Streinz, Rudolf / Schroeder, Werner, EUV / EGV, München 2003, Art. 249 Rn. 92.

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zungsverpflichtung des Mitgliedstaates. Dessen Organe haben eine effektive und rechtssichere Durchsetzung der Ziele der Richtlinie zu gewährleisten. Die Wirkung der Richtlinie erschöpft sich allerdings nicht hierin. Ihr kommt weiter Maßstabsfunktion für die Auslegung des nationalen Rechts zu. Das gilt zum einen für das angeglichene Recht selbst, zum anderen für die gesamte Rechtsordnung, soweit es um die Durchsetzung des für den Mitgliedstaat verbindlichen Ziels der Richtlinie geht. Daneben hat der EuGH der Richtlinie eine Sanktionsfunktion zugemessen. Kommt ein Mitgliedstaat der Umsetzungspflicht gar nicht oder nicht rechtzeitig nach, so kann die Richtlinie gleichwohl zugunsten eines Rechtsunterworfenen dieses Staates unmittelbar anwendbar sein.

6. Recht als Medium und Instrument der laufenden Kommunikation Wie oben bereits dargelegt, stellt Recht das Medium und Instrument der laufenden Rechtskommunikation dar. Wurde früher das Recht weder in der juristischen Methodenlehre noch in der allgemeinen Rechtslehre als normatives Kommunikat verstanden, so setzt sich neuerdings die Erkenntnis durch, daß das Recht und dessen Wirkungsweise auf das menschliche Verhalten einer detaillierten sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung bedarf. Hierzu gehören natürlich auch die sich bildenden Institutionen, Organisationen und sozialen Systeme als normativ-institutionelle Fakten und damit die sozialen Strukturen und Prozeduren, welche wiederum organisatorisch und systemisch gesteuert werden.284 Daraus ergibt sich, wie dargestellt, daß Recht als System und demzufolge auch alle Rechtstheorie als eine Theorie sozialer Systeme angesehen werden kann und muß. Hieraus ist abzuleiten, daß das Recht nicht nur als eine normative Struktur, sondern auch als ein Medium und Instrument fungiert, welches der Regulierung sozialer Beziehungen dient. Wie die hier angestellten Untersuchungen gezeigt haben, strukturiert das moderne Recht alle Rechtsverhältnisse, nicht nur diejenigen des Privatrechts, sondern auch alle übrigen, wie beispielsweise diejenigen des nationalen und internationalen ausländischen Öffentlichen Rechts sowie des Völker- und Gemeinschaftsrechts. Diese Einsicht ist nun abschließend dahingehend zu erweitern und zu vertiefen, daß dabei durchgängig auch das Recht und die durch das Recht geprägten sozialen Verhältnisse miteinander verknüpft werden und zusammenwirken, daß heißt, daß alle normative Kommunikation von Recht in hohem Grade von den gesamtgesellschaftlichen Strukturbildungen abhängig ist. Auf diese Weise ist es dem Recht als Medium möglich, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln alles menschliche Handeln zu beeinflussen und soweit möglich zu steuern. 284 Dazu und zum folgenden jetzt: Krawietz, Werner, Juridische Kommunikation im modernen Rechtssystem in rechtstheoretischer Perspektive, in: Brugger, Winfried / Neumann, Ulfrid / Kirste, Stephan (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, S. 181 – 206.

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Besonders deutlich wird die Funktion des Rechts als Medium dann, wenn man die Ausgestaltung in Form von Rechtsnormen betrachtet. Als solche Rechtsnormen können sowohl Gesetze wie auch Verträge, Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen oder sonstige Direktive angesehen werden. Denn die Kommunikation mittels des Mediums Recht funktioniert vor allem durch die Bezugnahme auf bereits geltende und effektiv wirksame Rechtsnormen einer immer schon vorausgesetzten, mit normativer Verbindlichkeit ausgestatteten und sozial bereits etablierten Rechtspraxis. Das Recht als solches stellt mithin ein normatives Kommunikat dar. Es kann daher festgestellt werden, daß das Recht in der juridischen Kommunikation in seiner Form als Medium Instrument und somit Kommunikat einen unentbehrlichen Bestandteil der modernen sozialen Lebensformen darstellt.

Rückblick und Ausblick Wie im vorstehenden Zusammenhang dargestellt, hat es in der Entwicklungsgeschichte des Menschen stets Fortschritte zur Verbesserung seiner Kommunikationsmöglichkeiten und zum Austausch von Informationen gegeben. So ist es heutzutage möglich, mit Hilfe von Computern, Telefonen, Fax oder via E-Mail schnell und problemlos miteinander zu kommunizieren. Zu diesem Gebiet zählt auch die Kommunikation von Rechtsvorschriften und Rechtsvorstellungen, welche in den jeweiligen staatlich organisierten Rechtssystemen, aber auch international als Spielregeln des Rechts gelten und tatsächlich wirksam werden, indem sie das menschliche Erleben und Handeln beeinflussen, wie es beispielsweise im Bereich des E-Commerce der Fall ist. Durch die neuen technischen Möglichkeiten haben sich aber nicht nur die praktischen Möglichkeiten des rechtlichen Erlebens und Handelns der Menschen verändert, sondern zugleich auch die soziale Wirklichkeit des Rechts. Es muß jedoch festgestellt werden, daß bislang weder die dogmatische Rechtswissenschaft noch die juristische Methodik noch die mit beiden befaßte allgemeine Rechtslehre diese modernen Möglichkeiten praktischer Rechtskommunikation hinreichend identifiziert, erkannt und erklärt, geschweige denn voll ausgeschöpft haben. Dies betrifft nicht nur die mangelnde rechtliche Einholung und Einbindung der technischen Entwicklung, sondern insbesondere die innovative gedankliche Durchdringung der Strukturen und Prozesse moderner Rechtskommunikation und mit ihnen des geltenden Rechts. Zwar kann zu jeder Zeit festgestellt werden, daß das Recht niemals den jeweils neuesten Stand der Technik umfaßt, da das Recht auf neue Gegebenheiten stets nur reagieren kann und insoweit immer ein gewisses Zeitfenster benötigt, um sich an die Neuerungen anzupassen (sog. cultural lag des Rechts). Jedoch fällt auf, daß insbesondere mit der immer weiter fortschreitenden Ausweitung des Internet und dessen Bedeutung der Abstand zwischen der real gegebenen Situation und dem Stand des Rechts in größerem Maße gewachsen ist als dies bisher der Fall war. Auch findet, wie dargestellt, bedingt durch die Vereinfachung der Kommunikation, eine Art Transformation des Rechts statt, in welchem – überspitzt formuliert – ganz ,unreflektiert‘ versucht wird, das Rechtssystem anderer staatlich organisierter Systeme mit dem eigenen zu verbinden oder gar diesem ,aufzupfropfen‘. Darin verbirgt sich ein Problem, welches in dieser Form bislang in der Weltgesellschaft noch nicht aufgetaucht war (höchstens zu Zeiten der Kolonialisierung – dort jedoch zumeist unfreiwillig und unter anderen Vorgaben). Wie bereits eingehend erörtert, konnte bislang davon ausgegangen werden, daß das Recht innerhalb eines sozialen Systems wächst. Dies zwar stetig, aber in moderatem Tempo. Mit-

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tels dieser neuen Kommunikationswege aber ist es möglich, daß eine neue Geschwindigkeit in der Selbstreproduktion des Rechts erreicht wird, mit welcher die althergebrachten Traditionen der Entwicklung von Recht nicht mehr Schritt halten können. Das zuvor beschriebene Gleichgewicht gerät auf diese Weise aus dem Tritt. Als Beispiel dafür sei nur der Weg Rußlands zur Demokratie genannt. Hier war es Putin, welcher äußerte, daß sein Land sich von selbst auf den Weg zur Demokratie gemacht habe und deshalb selbst bestimmen könne, mit welchem Tempo deren Verwirklichung voranschreite. Eine solche Einstellung birgt jedoch das Problem in sich, daß in einem vormals sozialistischen Staat in kürzester Zeit und nicht auf intern gewachsenem Wege demokratische Grundwerte eingeführt werden. Betrachtet und rekonstruiert man dieses Bild mit den Mitteln der Kommunikationstheorie, so kann folgendes festgestellt werden. Die von der Regierung ausgegebenen demokratischen Informationen werden dem Volk als Adressaten mitgeteilt. Da dieses jedoch noch an die zuvor gelernten und eingelebten sozialistischen Verhaltensmuster gewöhnt ist, werden die demokratischen Grundideen von vielen nicht richtig verstanden, geschweige denn sozialadäquat umgesetzt. Folge ist, daß die Kommunikation ins Stocken gerät und kein Feedback bzw. eine sich anschließende Rechtskommunikation ergibt. Dies kann im schlimmsten Fall dazu führen, daß sich aus dem Nicht-Verstehen des Volkes eine Ablehnung entwickelt (auch bedingt durch die übrigen Geschehnisse in der sozialen Umwelt), welche auf Dauer zu einem rechtlichen Chaos führen kann. Bereits jetzt läßt sich feststellen, daß sich in der Bevölkerung zahlreicher politisch-rechtlicher Systeme Osteuropas und Rußlands eine wachsende Unzufriedenheit und Enttäuschung ausbreitet, die sicherlich mit den übersteigerten Erwartungen an Demokratie und Rechtsstaat zusammenhängt.285 Diese übertriebenen Erwartungen können einerseits als Produkt einer mißlungenen Rechtskommunikation angesehen werden. Die Hintergründe für dieses Maß an Nicht-Verstehen können aber auch in der Geschichte und der Mentalität des russischen Volkes erblickt werden. Denn dieses sah sich einem jahrhundertelangen ,Enteignungszustand‘ ausgesetzt, welcher zu einer gewissen Unmündigkeit führte, zumindest dann, wenn man das individuelle Sondereigentum als Grundvoraussetzung für die Selbstbehauptung und Mündigkeit eines Staatsbürgers ansieht.286 So führt beispielsweise Silnizki in diesem Zusammenhang aus, daß die Nichtachtung fremder Rechte und Ansprüche sowie ein Mangel jeder klaren Vorstellung von den Grenzen der eigenen Rechtssphäre dazu geführt hat, daß Unrecht tun und dulden zu einem maßgebenden Zug des Volkscharakters geworden ist.287 Krawietz, Gemeinschaft und Gesellschaft (FN 38), S. 579 ff. Schomacher, Georg, Geschichte, Mentalität und Recht. Zum Problem der Differenz respektive des Gegensatzes von ,westlicher‘ und russischer Rechtskultur, in: Werner Krawietz / Alfred Sproede (Hrsg.), Gewohnheitsrecht – Rechtsprinzipien – Rechtsbewusstsein. Transformationen der Rechtskultur in West- und Osteuropa, Berlin 2004, S. 427 – 436, 433; Silnizki, Michael, Der Geist der russischen Herrschaftstradition, Köln u. a. 1991, S. 45. 287 Silnizki, ebd., S. 37. 285 286

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Andererseits kann genau hier der Bezug zu einer zu schnellen Transformation oder doch zumindest ein Ansatzpunkt für die Hoffnung auf eine (noch) schnellere Transformation hergestellt werden. Dieser Übergang und die Umformung der staatlichen Systeme in Osteuropa bringt aber auch für westliche Rechtsstaaten eine Vielzahl von Problemen mit sich. Denn diesen fehlt ein einheitliches grundbegriffliches ,Framework‘, welches den westlichen Staaten erlauben würde, vergleichende kultur- und rechtstheoretische Analysen anzustellen, die zugleich geeignet wären, zur Formulierung gemeinsamer praktischer Handlungsempfehlungen zu gelangen.288 Der ,westliche‘ Staat, nach dessen System viele osteuropäische Staaten streben, ist immer weniger in der Lage, den tatsächlichen Regelungsbedarf der diversen Rechtssysteme zu befriedigen.289 Dies gilt auf europäischer Ebene in Hinsicht auf die EG, aber auch im weltgesellschaftlichen Zusammenhang, in dem der moderne Staat sich mit einer Unmenge an politisch-rechtlichen Entscheidungsmechanismen auseinandersetzen und sie koordinieren muß. Mit Blick auf Rußland und die osteuropäischen Staaten kann jedoch gesagt werden, daß mit dem Übergang zum Rechtsstaat und zur Demokratie nicht gewartet werden durfte, auch wenn die ebenfalls notwendige angemessene Modernisierung des Staates und seiner Strukturen in einigen dieser Systeme noch länger auf sich warten lassen wird.290 Es muß somit festgestellt werden, daß in rechtstheoretischer, aber auch in staatstheoretischer Hinsicht ein Umdenken erforderlich ist. Wie bereits ausgeführt, kann das tradierte Modell eines Stufenbaus und einer Stufentheorie des Rechts in einem derartigen Geflecht von hyperkomplexen Beziehungen in der modernen Informations- und Wissensgesellschaft nicht mehr zufriedenstellend funktionieren, wie dies beschrieben wurde. Die bereits gezogene Quintessenz daraus kann folglich nur sein, daß die gesamtgesellschaftliche Steuerung und Kontrolle mit Mitteln des Rechts unter dem Aspekt einer wirklichen und möglichen Heterarchie relativ autonomer Entscheidungsträger und Entscheidungsstellen gewürdigt werden muß. Geht man davon aus, daß im Bereich des – wie auch immer beschaffenen – Rechts der Sache nach seit jeher eine normative Kommunikation stattgefunden hat, auch wenn dies den Beteiligten nicht bewußt ist, so muß doch festgehalten werden, daß in jüngster Zeit die Form, aber auch die Geschwindigkeit der Rechtskommunikation einem erheblichen Wandel unterliegt. Dabei stehen insbesondere die Formen der Mitteilung mittels Satellitenkommunikation und vor allem durch das Internet als für den Anstieg des Kommunikationstempos verantwortliche Faktoren im Vordergrund. Stellt man darauf ab, daß das Internet im Prinzip nichts anderes ist als ein hyperkomplexes, sich selbst organisierendes Informationssystem, in dem keine zentrale Leistungsvermittlung stattfindet, so muß auch für die Rechtstheorie die netzwerk288 289 290

Krawietz, Gemeinschaft und Gesellschaft (FN 38), S. 579 (597). Ebd., S. 579 ff. Ebd., S. 579, 642.

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förmige, nichthierarchische und dynamische Dauerreproduktion und fortlaufende Ausdifferenzierung von sozialen Systemen in den Vordergrund und in das Zentrum der wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen rücken. Mit dieser Vorstellung muß dann aber auch die Einsicht einhergehen, daß sich die Formen der über Medien verbreiteten Vermittlungsleistungen zwischen Rechtssystem und Umwelt mit dem Wandel zur Computerkultur selbst in Richtung einer Dynamisierung und Fluktuanz verändern.291 Da die Leistungen des Rechtssystems heutzutage in hohem Maße von Überlappungen, Hybridbildungen und strukturellen Kopplungen abhängig sind, muß das Recht als solches der Gesellschaft mehr Erwartungssicherheit bieten als bisher.292 So stellt Vesting darauf ab, daß dieser technische Einschnitt in die Evolution von Recht mit einem Wissen in Verbindung zu bringen ist, welches von heterarchischen hybriden Verschleifungen und Relationierungen von Suchprozessen in Netzwerken bestimmt ist, mithin von einer Logik der intra- und interorganisationalen Netzwerke. Dies führt nach seiner Ansicht aber auch dazu, daß wegen des Übermaßes an jetzt vorhandener Information eine Kommunikation und ein Konsens im althergebrachten Sinne nicht einfach unterstellt werden kann. Denn während früher Lehrbücher noch dafür sorgten, daß Innovationen nicht auf eine kleine Gemeinschaft von Rechtswissenschaftlern beschränkt blieben, so kann diesbezüglich heute keine Garantie mehr abgegeben werden, da in einem Netzwerk überlappender Nachbarschaften zwangsläufig auch die Prozesse der Selbstabschließung zunehmen. Die Folge davon ist, daß neue Erkenntnisse nicht mehr so schnell einer größeren Zahl von Interessierten zur Verfügung stehen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß auch früher Lehrbücher gekauft oder bestellt werden mußten, um an neue Informationen aus einem bestimmten Bereich zu gelangen. Es mag zwar richtig sein, daß sich beispielsweise einige ,communities‘ voneinander durch ihre Thematik abgrenzen. Jedoch wäre es verfehlt, deshalb von einer Verlangsamung der Kommunikation zu sprechen. Denn durch die Eingabe relevanter Begriffe in diverse Internetsuchmaschinen kann der Zugang zu einer solchen ,community‘ ermöglicht werden. Neben den neuen technischen Voraussetzungen tragen vor allem die Bestrebungen vieler osteuropäischer, ehemals sozialistischer Staaten einen wesentlichen Teil zu dieser Beschleunigung bei, welche nach dem Niedergang des alten Systems in außerordentlich kurzer Zeit neue demokratisch und rechtsstaatlich geprägte Orientierungen in ihrer Gesellschaft umsetzen und transformieren möchten.293 Es liegt auf der Hand, daß diese mit Nachdruck verfolgten Ziele einhergehen mit einem vielfach erhöhten Aufwand an Rechtskommunikation, welcher sowohl innerhalb von, aber auch zwischen den einzelnen Staaten stattfinden muß. Diese Kommunikation zwischen staatlich organisierten Rechtssystemen zeigt, daß der von Krawietz vertretene, kommunikations- und systemtheoretische Theorieansatz294 auch 291 292 293

Dazu und zum folgenden: Vesting, Thomas, Rechtstheorie, München 2007, Rn. 294. Ebd., Rn. 294. Hierzu vor allem: Poljakov, Farewell to the Classics (FN 1), S. 9 ff.

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mit der russischen und osteuropäischen Rechtswelt kompatibel und ihr angemessen ist. Ein Denkansatz, der ausschließlich von den tradierten, bloß konventionellen, gewaltenteiligen hierarchischen295 Strukturen ausgeht, wäre wohl kaum geeignet, die soziale Wirklichkeit des modernen Rechts zu erfassen und zu begreifen. Hier kommt die von Krawietz schon bei früherer Gelegenheit entwickelte, dynamischfunktionale Normen- und Strukturtheorie des Rechts zum Tragen, mit ihrer zentralen, durch Beobachtung und Erfahrungen gut bestätigten (Hypo-)These, daß in der modernen Gesellschaft bei derart komplexen Systemzusammenhängen nur ein heterarchisch geordnetes Modell fluktuierender Inter-System-Beziehungen in der Lage ist, auch diese Kommunikationen zu erfassen. Dies gilt auch für die stetig wachsenden Zusammenschlüsse von Staaten, wie beispielsweise diejenigen der EU aber auch außerhalb derselben.

294 Zur kommunikationstheoretischen Grundlegung: Krawietz, Werner, Are there ,Collective Agents‘ in Modern Legal Systems? An Institutional and Systems Theoretical Puzzle in Recent Theories of Norms and Action, in: Actions, Norms, Values. Discussions with Georg Henrik von Wright, hrsg. von Georg Meggle, Berlin / New York 1998, S. 273 – 278. Vgl. vor allem den Abschnitt 3 „Rearranging the Design of the Theory of Norms and Actions as Legal Communication“, ebd., S. 275 ff. 295 Krawietz, Recht als Regelsystem (FN 80), S. 138, 141.

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Personenregister Alekseev 103 Alexander II. 106 Avenarius 98, 183 Babaljan 160, 183 Baldus 81, 183, 193 Barinov 129, 133, 183 Barinova 140, 183 Bartholomeyczik 61, 62, 183 Bentham 36 Bergmann 33, 34, 183 Berman 12, 37, 38, 41, 183 Blomeyer 46, 183 Bogdan 154 Bogdanova 155, 156, 183 Boguslavskij 141, 184 Boli 12, 184 Bosch 46, 184 Bratusj 102, 184 Brounli 149, 184 Brox 71, 73, 75, 184 Buckel 21, 184 Canaris 46, 49, 59, 62, 171, 184 Cerepachin 104 Cešir 143, 184 Chlestov 149, 184 Chochlov 103, 189 Christensen 21, 184 Cohrt 57 Coing 69, 184 Dais 31, 184 David 154, 158, 162, 184 Dmitrieva 141, 144, 145, 185 Dörner 75, 186 Dosorcev 103 Dreier 21, 185 Dubischar 65, 185

Dürig 47, 189 Durkheim 26 Eckhoff 12, 13, 15, 17, 19, 185 Eger 173, 185 Egger 43, 185 Ehricke 174, 175 Emeljanov 101, 185 Engisch 56, 66, 70, 185 Enneccerus 47, 185 Ertelt-Vieth 80, 185 Esser 39, 69, 185 Fedorov 100 Fedoseeva 141, 185 Fezer 54, 66, 185 Fikentscher 70, 185 Fleinic 102 Flume 47, 185 Fukuyama 166 Ganten 171, 185 Geiger 29 Gierke 94, 185 Ginzburg 146, 185 Glendon 154, 161, 185 Golubov 103 Gribanov 103 Guckelberger 45, 186 Habscheid 47, 184 Hager 171, 186 Halfin 102 Hallstein 92, 95, 186 Hamza 82, 95, 97, 186 Hazard 161, 186 Heck 39 Herzog 48 Hondrich 26, 80, 186 Horn 36, 183

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Personenregister

Huber 48, 186 Hueck 47, 186 Ihering 29, 36, 39, 186 Ioffe 102 Jakovlev 103 Jarass 46, 186 Jauffret-Spinosi 154, 162, 184 Justinian 77 Kaiser 69, 186 Kalmykov 103 Katharina II. 106 Kaufmann 46, 186 Kavelin 97 Kelsen 22, 23, 40, 53, 186, 187, 188 Keynes 89 Khotin 153, 186 Kofanov 158, 159, 186, 193 Kohte 75, 186 Koller 23, 186 Komissarova 105, 187 Kornemann 78, 187 Kraft 44, 187 Krawietz 11, 12, 13, 14, 12, 15, 16, 17, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 47, 49, 69, 70, 79, 80, 176, 179, 181, 182, 183, 184, 187, 188, 189, 192 Kübler 92, 189 Kunkel 77, 189 Kurskij 106 Kuzes 153, 190 Langenbucher 64, 189 Laufke 47, 189 Leipold 71, 189 Leisner 46, 92, 189 Lenin 100, 106, 122, 189 Lescano 21, 184 Liggio 166, 189 Litovkin 98, 189 Locher 93, 189 Locke 84 Luhmann 15, 24, 26, 28, 79, 187, 189 Lukašcuk 148, 150, 189 Lunc 144, 189

Makovskij 102, 103, 104 Maryševa 144 Matveev 102 Maunz 47, 189 Meier 98 Meyer-Cording 47, 190 Mikat 47, 190 Mols 166, 184 Müller, Friedrich 64, 190 Müller, Gebhart 92, 192 Müller-Graff, Christian 81, 193 Naryškin 164 Nelson 153, 190 Nipperdey, Carl 47, 189, 190 Nipperdey, Hans 47, 185 Nipperdey, Thomas 190 Novickij 50, 78, 190 Parsons 26 Pawlowski 50, 69, 190 Peter I. 105 Picker 67, 190 Pieper 21, 190 Pieroth 11, 188 Pokrovskij 98, 99 Poljakov 11, 12, 24, 181, 190 Preyer 26, 28, 82, 85, 86, 188, 190 Puginskij 164, 190 Quigley 160, 190 Radbruch 94, 190 Raiser 46, 47, 94, 190 Ramm 46, 94, 191 Rebe 91, 191 Renner 43, 191 Rieble 76, 191 Riechers 16, 191 Riesenhuber 173, 191 Rüthers 22, 71, 75, 184, 191 Säcker 76, 78, 191 Salogubova 157, 159, 191 Savigny 55 Šcegolev 160, 191 Schelsky 23, 26, 187 Schermaier 77, 189

Personenregister Schiefer 76, 191 Schlosser 78, 191 Schlüter 57, 192 Schmalz 68, 192 Schmidt-Salzer 47, 192 Schulze 21, 185 Schwab 79, 192 Schwabe 49, 192 Sergeev 111, 192 Šeršenevic 98, 99, 100 Šestakov 158 Simon 12, 192 Skaridov 143, 193 Smid 67, 192 Sproede 20, 69, 179, 188, 192 Stammler 60, 61, 192 Stein 92, 192 Streinz 170, 175, 192 Struck 15, 19, 192 Suchanov 101, 102, 103, 108, 112, 157, 193 Sundby 12, 13, 15, 17, 19, 185

Troiano 81, 193 Tunkin 151, 193

Talalaev 148, 193 Thomas 12, 184 Tomsinov 157, 158, 159, 187, 193 Topornin 11, 37, 183, 188

Zenin 164, 194 Zippelius 48, 49, 194 Zöllner 50, 194 Zweigert 163, 194

Ulpian 50, 100 Usenko 145, 146, 148, 149, 193 Van Hoecke 14, 32, 153, 193 Varga 38, 188 Vasil’ev 153, 193 Vitrjanskij 103 Vladimirskij-Budanov 157, 193 Vyšinskij 146 Weber 24, 32 Weber-Grellet 25, 31, 33, 193 Westermann 39 Wieacker 44, 94, 193 Wiethölter 90, 193 Winkler von Mohrenfels 142, 194 Wolf 47, 194

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