Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht - anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland [1 ed.] 9783428536405, 9783428136407

Mit den in dem vorliegenden Band enthaltenen sechs Beiträgen, die auch in Moskau im Rahmen einer umfangreicheren Publika

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Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht - anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland [1 ed.]
 9783428536405, 9783428136407

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1188

Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht – anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland Herausgegeben von Heinrich Scholler

Duncker & Humblot · Berlin

HEINRICH SCHOLLER (Hrsg.)

Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht – anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1188

Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht – anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland

Herausgegeben von Heinrich Scholler

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13640-7 (Print) ISBN 978-3-428-53640-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83640-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die hier veröffentlichten sechs Beiträge sind einem Projekt entnommen, das aus der Zusammenarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung mit der Akademie für den öffentlichen Dienst beim Präsidenten der russländischen Föderation entstanden und inzwischen zur Publikation in russischer Sprache in Moskau gelangt ist. Gleichzeitig war das Vorhaben entstanden, die von Deutschen verfassten Beiträge zusammen mit dem Beitrag von Prof. Andrej Matsnev, der als Mitherausgeber der russischen Publikation nicht nur die Aufgabe der Koordination, sondern auch der Übersetzung ins Russische hatte, zu veröffentlichen. Es entsprach unserem Wunsch, nicht nur in Russland und den Ländern der GUS gehört und gelesen zu werden, sondern auch das deutsche Fachpublikum mit den Grundgedanken der deutschen Rechtsstaatsentwicklung vertraut zu machen, die unseren russischen Partnern gegenüber zum Ausdruck gebracht wurden. Allerdings sind die hiermit nun veröffentlichten sechs Beiträge gegenüber den russisch-sprachigen Vorbildern teilweise nicht unerheblich erweitert. Dennoch dienen sie dem Zweck, dass es zu einem besseren Dialog kommt, wenn auch auf der deutschen Seite eine Möglichkeit besteht, sich mit den Beiträgen zu beschäftigen. Eine gewisse Erweiterung des rein nationalen Problem- und Themenkreises stellt der Beitrag von Prof. Dieter Scheuing, Universität Würzburg, dar, der sich mit der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips im Europarecht befasste. Da zwischen der Niederschrift seines in Russland publizierten Beitrages und der Veröffentlichung der deutschen, hier vorgelegten Beiträge der Lissabon-Vertrag in Kraft trat, musste Prof. Scheuing sein Manuskript wesentlich abändern und erweitern. Das gilt in geringerem Umfange auch für die anderen Beiträge, vor allem auch den von Prof. Bernd Schünemann und jenen von mir als Herausgeber. Da die hier veröffentlichten Beiträge gleichzeitig in der russisch-sprachigen Fachwelt gehört und diskutiert werden sollen, scheint es auch im Sinne der Hanns-Seidel-Stiftung zu sein, in diesem Vorwort auch in jedem Fall die verschiedenen Autoren und die von ihnen behandelten Themen zu erwähnen. Die in Moskau erfolgende russische Ausgabe des Buches enthält zwölf aktuelle Arbeiten zum Stand der Entwicklung des Rechtsstaats in Ländern, die sich von Mitteleuropa bis Ostasien erstrecken. Der Rechts- und Verfassungsstaat, der hiermit vorgestellt werden soll, ist das Ende einer juristischen und politischen Entwicklung, die als nur vorläufig abgeschlossen bezeichnet werden kann, weil doch wieder Lücken in dem angestrebten Ziel der Verankerung des liberalen grundrechtegebundenen Rechts- und Verfassungsstaats in Erscheinung treten. Man bezeichnet diesen Rechtsund Verfassungsstaat auch als einen „Kompromiss“ zwischen dem politischen Bedürfnis nach einer homogenen Staatsgewalt als Rechtsfriedensgewalt und dem Bedürfnis nach höchstmöglicher individueller Freiheit. Diese Vermittlung soll erreicht

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Vorwort

werden durch Institutionalisierung der Staatsgewalt auf der Grundlage freier Wahlen sowie der Freiheit der Meinungs- und Presseäußerung sowie der Differenzierung zwischen der parlamentarischen Gesetzgebungsgewalt, der Exekutivgewalt und der in der Verfassungsgerichtsbarkeit kulminierenden Rechtsprechungsgewalt. Dabei ist zu zeigen, dass sich dieser Prozess in Deutschland und Russland nicht gleichzeitig und auch nicht harmonisch vollzogen hat, denn in Deutschland hatte sich zunächst ein liberaler Staat organisiert, bis nach einer Unterbrechung durch die Diktatur des Nationalsozialismus mit einer gewissen Verspätung die demokratische Ausgestaltung des Staates im 20. Jahrhundert hinzutrat. In Osteuropa, vor allem nach den Jahren der Revolution in Russland im Anschluss an den Ersten Weltkrieg und der Umgestaltung der politischen Strukturen und Ordnungen nach dem Zweiten Weltkrieg, ist eine Abkehr vom Rechtsstaatsprinzip oft eingetreten. Auch stellte man die Gewalteneinheit an die Stelle der Gewaltenteilung und die formell in die Verfassungen aufgenommenen Menschenrechte wurden nicht entsprechend geachtet. Damit war der Weg sehr viel weiter, den die osteuropäischen Staaten zu gehen hatten, um zurück zur Rechtsstaatlichkeit zu kommen. Um diesen längeren und schwierigen Weg zu zeigen, darf kurz auf einige Prinzipien der sozialistischen Rechtslehre hingewiesen werden, die die Ursache für die rückwärts gerichtete Entwicklung dieser Staaten war. Die marxistische Gesellschaft zeichnete sich aus nicht nur durch die Einparteienherrschaft und den Führungsanspruch eines Einzelnen oder einer Kleingruppe, sondern auch gerade durch das Fehlen der Civil Society und die Ersetzung der Rechtsordnung der hierarchisch gegliederten geordneten Systematik von der Verfassung herab bis zur Gemeindesatzung durch ideologische Parteidogmatik und Parteianweisung. Es traten noch hinzu die Phasen der Rechtsfeindschaft und der Lehre vom Absterben des Staates, die sich beide dahingehend ausgewirkt haben, dass das Recht keine regulative Kraft mehr für die öffentliche Ordnung hatte. Täuschen wir uns aber nicht, denn mancher aus dem Osten Kommende, der hoffnungsvoll der Freiheit des Westens entgegenging, wurde, wie Joachim Gauck, der Fechter für Demokratie und Mitbegründer des Neuen Forums, enttäuscht, als er etwas erlebte, was man als Spätdemokratie bezeichnet hat. Kein Zweifel kann deshalb bestehen, dass es auch gerade im Westen erforderlich ist, einmal errungene Rechte und Freiheiten, die Transparenz und die demokratische Partizipation immer erneut zu erringen und zu festigen, wozu gerade die höchsten Verwaltungsgerichte und die jeweiligen nationalen Verfassungsgerichte zuständig sind und auch ihren Beitrag geleistet haben. Hier soll nur das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zur Gültigkeit des Lissabon-Vertrages erwähnt werden, der die Grundlage der neuen europäischen gemeinsamen öffentlichen Ordnung sein soll. Damit darf ich schon darauf hinweisen, dass zwei Beiträge sich zentral mit diesen Themen von deutscher Seite beschäftigen: Ein Beitrag über das Bundesverfassungsgericht von seinem ehemaligen Präsidenten Prof. Hans-Jürgen Papier und ein weiterer über die Rechtsstaatsgarantie in der Verwirklichung des Lissabon-Vertrages (Dieter Scheuing). Rechtsstaat und Strafrecht (Bernd Schünemann) sowie Rechtsstaat und Verwaltungsrecht (Dr. Jürgen Harbich) werden ebenfalls angesprochen und die his-

Vorwort

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torische Entwicklung des Rechtsstaates (Prof. Heinrich Scholler) wird mit großen Zügen nachgezeichnet. Blickt man auf die einzelnen Beiträge der nachfolgend im Einzelnen aufgeführten russischen Hochschullehrer im russischen Gesamtprojekt, dann sind hier folgende Hinweise nützlich: Hier stehen die Gedanken des Rechtsstaates in Verbindung mit dem republikanischen, föderativen Aspekt (Michail Stoljarov). Gefolgt wird der Beitrag von einer Untersuchung der Bedeutung von Rechtsstaat und Raumintegration (Andrej Matsnev) sowie einem weiteren Aufsatz hinsichtlich der Bedeutung des föderativen Rechtsstaatsaspektes für die Bekämpfung des Extremismus (Valerij Wlasov). Ein perfektionistischer Ansatz wird ebenfalls diskutiert, wenn der Rechtsstaat als Erfüllung des Föderalismus bezeichnet wird (Ljubov Boltenkova), doch werden Rechtsstaat und Föderalismus auch geradezu antithetisch gegenübergestellt (Farid Muchametschin). Wenn man auch zwischen den deutschen und den russischen Beiträgen deutlich eine verschiedene Sichtweise feststellen kann, ist doch allen Beiträgen bewusst, dass die Realisierung des Rechtsstaates mit föderativen Aspekten und Zielsetzungen in Verbindung zu bringen ist. Sowohl Deutschland als auch Russland stehen vor der epochalen Aufgabe, aus der national-zentralistisch orientierten Staatsgewalt zu einer übernationalen, neuorganisierten staatlichen Ordnungsmacht zu kommen. Der Zweck der Veröffentlichung vieler Stellungnahmen zum Thema des modernen Rechtsstaates ist aber nicht nur, den Blick in die Vergangenheit zu werfen, um das Vergangene zu kritisieren, sondern die Gegenwart und die gemeinsamen Rechtswerte darzustellen, um evtl. auch die erforderlichen Ansatzpunkte zu finden, die in der einen oder anderen Rechts- und Verfassungsordnung aufgegriffen werden müssen, um dem Rechtsstaat mehr Leben und Effektivität zu verschaffen. Eine erreichte oder angestrebte rechtsstaatliche Ordnung verwirklicht eine in der Gesellschaft verankerte Idee der Garantie und Sicherung der Autonomie des Menschen, die gleichzeitig die Grundlage aller geistig-kulturellen und künstlerischen Weiterentwicklung sein müsste. Wenn man in dieser angestrebten Ordnung den Vorrang des Kollektivs als allgemeines Prinzip zurückweist, will man aber doch mit dem Rechtsstaat nicht einem solipsistischen Menschenbild den Weg bereiten. Diese neue rechtsstaatliche Ordnung soll gleichzeitig allen totalitären und terroristischen Strömungen entgegenwirken, um durch die Verbindung des Sozialen mit dem Rechtsstaat zum sozialen Rechtsstaat auch die ökonomische Absicherung des Einzelnen zu erreichen. In dieser Veröffentlichung ist nur der Beitrag von Andrej Matsnev, Moskau, aus der Reihe der eben erwähnten russischen Artikel übernommen, um die Spannungsweise der rechtsstaatlichen Problematik in einem Europa darzustellen, das vom Atlantik bis Ostasien reicht. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Zentralstaatssystems versuchen nunmehr Politik und Wissenschaft eine Neuorientierung unter Heranziehung der Entwicklung im Westen, insbesondere im Hinblick auf die USA, aber auch auf Frankreich und Großbritannien. In diesen drei historisch entwickelten Staatsformen liegen

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Vorwort

„dialektisch“ entwickelte Verbindungen von Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus vor, was im Sinne von Matsnev sich als ein System der Wechselwirkung zwischen Zentralstaatlichkeit einerseits und föderativer Auflockerung andererseits darstellt. Die Regierungsform in Russland wird immer auch im Zusammenhang mit der Veränderung „makrowirtschaftlicher“ Verhältnisse untersucht. Unter den verschiedenen Besonderheiten, die das ungeheure Reich Russlands als Föderation darstellt, wird immer wieder die Gefahr erkannt, dass dieses System durch den Ural in zwei Teile zerfallen könnte, wobei der eine atlantisch, der andere dagegen pazifisch orientiert wäre. Auch wird dem aus Deutschland stammenden Prinzip der Subsidiarität für Russland eine große Bedeutung zugeschrieben. In der Betonung der horizontalen Ebene des Rechtsstaats als föderalistische Gliederung und Zuweisung von Kompetenzen steht die ebenfalls an Bedeutung zugenommene vertikale Position des Rechtsstaates, indem die Gemeindeordnung oder besser gesagt die Verlagerung der Kompetenzen nach unten eine zunehmende Bedeutung erlangt. Erwähnt wird hier auch die Notwendigkeit der kommunalen Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen, wodurch auch überkommunale Organisationen wie Kreise oder Bezirke angesprochen werden, ohne dass diese ausdrückliche Erwähnung finden. So erklärt Andrej Matsnev: „Die Hauptaufgabe des Föderalismus ist die vertikale konstitutionelle Teilung der Vollmachten und Kompetenzen und der Verantwortung zwischen den Machtebenen …“. Man sieht, dass bei ihm das Moment der zeitlichen Entwicklung und der dialektischen Spannung zwischen Rechtsstaat einerseits und vertikalem und horizontalem Föderalismus andererseits eine entscheidende Rolle spielt in einem relativ jungen Entwicklungsprozess, den der russische Staat und seine Rechtsordnung zur Zeit durchlaufen. Für die Mitarbeit bei der Erstellung dieser Publikation möchte ich Andrej Matsnev und Jürgen Harbich herzlich danken. Der Hanns-Seidel-Stiftung soll hier ein besonderer Dank ausgesprochen werden, denn die Finanzierung des großen russischen Projektes der Artikel russischer und deutscher Juristen zum Rechtsstaat wurde im Wesentlichen von ihr getragen, während die russische Seite die Organisation und den Druck durchführte. Ohne die Verwirklichung des russischen, beachtlichen und anspruchsvollen Projekts hätte das deutsche, kleinere Projekt nicht so einfach verwirklicht werden können. München, im April 2011

Heinrich Scholler

Inhaltsverzeichnis Hans-Jürgen Papier Die Sicherung des Rechtsstaates durch die Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . .

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Dieter H. Scheuing Europäische Union und Rechtsstaatlichkeitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Schünemann Strafrecht und Strafprozess im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heinrich Scholler Die geschichtliche Entwicklung des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen Harbich Rechtsstaatliche Prinzipien für das Verwaltungshandeln. Eine Auswahl . . . . . . .

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Andrej Matsnev Föderalismus und Rechtsstaat im gegenwärtigen Russland: am Vorabend einer Wandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Die Sicherung des Rechtsstaates durch die Verfassungsgerichtsbarkeit Von Hans-Jürgen Papier1 I. Einleitung „Solange eine Verfassung der (…) Garantie der Vernichtbarkeit verfassungswidriger Akte ermangelt, fehlt ihr auch der Charakter voller Rechtsverbindlichkeit im technischen Sinne.“2 Wollte man die Frage der Sicherung des Rechtsstaates durch die Verfassungsgerichtsbarkeit auf einer rein rechtstechnischen Ebene angehen, wäre mit dieser formal gesehen einleuchtenden, wenn auch methodologisch umstrittenen3, Aussage Hans Kelsens aus dem Jahr 1929 an sich das Wesentliche zum vorliegenden Thema gesagt. Doch die Dinge liegen komplizierter. Denn rechtstatsächlich gesehen ist die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Rechtsstaatlichkeit eines Staates. Achten die Verfassungsorgane der Legislative und Exekutive sowie die Judikative die inhaltlichen rechtsstaatlichen Vorgaben aus eigener Überzeugung und Behutsamkeit, bedarf der politische Prozess eines Staates und insbesondere der gesetzgeberische politische Prozess nicht zwingend der Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Umgekehrt kann ein Verfassungsgericht kaum „im Alleingang“ rechtsstaatliche Zustände garantieren, wenn Exekutive, Legislative und Fachgerichtsbarkeit dieses Ziel nicht ebenfalls verfolgen4. Und letztlich ist für die Rechtsstaatlichkeit eines Gemeinwesens ganz entscheidend, dass die Bevölkerung, also die Bürger selbst, auf der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards besteht, sei es mit oder ohne eine Verfassungsgerichtsbarkeit, im staatsbürgerlich-politischen Diskurs. Doch mögen die Voraussetzungen in Gesetzgebung, Regierung und Fachgerichtsbarkeit sowie ein Bewusstsein und Engagement der Bürger auch noch so günstig sein, verhält es sich mit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle staatlicher Maßnahmen wie mit allem anderen menschlichen Verhalten: Die Möglichkeit einer unabhängigen 1

Bei der Abfassung des Manuskripts wurde der Autor von seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter beim BVerfG, Herrn Regierungsdirektor Dr. Amadeus Hasl-Kleiber, tatkräftig unterstützt. 2 Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 1929, S. 30 – 84, abgedruckt in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 77 ff. (102). 3 Vgl. Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), abgedruckt in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 108 ff. 4 Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2 (1980), § 44 I 3 c) m.w.N.

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Überprüfung und ggf. der Aufdeckung eines Korrekturbedarfs erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die derart getroffenen und überprüften Maßnahmen und Entscheidungen rechtsstaatlichen Anforderungen genügen. Trotz dieser allgemeinen Erkenntnis dürfte sich allerdings der einer Verfassungsgerichtsbarkeit mögliche Anteil an der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit nicht abstrakt und staatenunabhängig bestimmen lassen (vgl. unter II.). Angesichts dieser Heterogenität können Wechselwirkungen und Problemstellungen zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und anderen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen im Hinblick auf die Sicherung des Rechtsstaates nur für Teilaspekte systemübergreifend beschrieben werden (vgl. unter III.). Die nachfolgenden Überlegungen verfolgen dabei keinen rechtsvergleichenden, sondern einen – vom deutschen Grundgesetz ausgehenden – staatstheoretischen Ansatz. II. Rahmenbedingungen für verfassungsgerichtliche Wirksamkeit 1. Zum Begriff der Rechtsstaatlichkeit Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit hat viele Facetten, die in den verschiedenen Verfassungen unterschiedliche Betonungen erfahren5. Mit ihm werden so weitgespannte Aspekte wie Rechtssicherheit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns und staatlichen Rechts einerseits und die Erforderlichkeit eines parlamentarischen Gesetzes für Eingriffe in individuelle Rechte („Vorbehalt des Gesetzes“) andererseits, sowie einerseits die Erforderlichkeit einer hinreichenden Bestimmtheit gesetzlicher Eingriffsermächtigungen und andererseits der Verhältnismäßigkeit der im Gesetz vorgesehenen Mittel im Hinblick auf die von ihm verfolgten Zwecke angesprochen. Schon diese – bei weitem nicht abschließenden – Beispiele machen deutlich, dass das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit keineswegs begrifflich-abstrakt verstanden werden kann, sondern in seinem Inhalt von den anderen Standards der jeweiligen Verfassung abhängig ist. Klaus Stern sagt zu Recht: „Rechtsstaatlichkeit erlangt ihre Konturen erst in der jeweiligen Verfassung eines Staates; sie formt und prägt den Rechtsstaat.“6 Zwar dürfte der Aspekt der Rechtssicherheit einen quasi „formalisierbaren“ Wert an sich darstellen, und zwar unabhängig von der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Staates im Übrigen. Allerdings werden sich bereits bei der zentralen Frage, inwieweit das Prinzip der Rechtssicherheit nach der jeweiligen Verfassung seinerseits durch den – ebenfalls zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gehörenden – Aspekt der

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Vgl. zum Begriff und zur internationalen Etymologie: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1984, § 20 I 1.; s. auch BVerfGE 52, 131 (144) zur Konkretisierungsbedürftigkeit dieses Verfassungsgrundsatzes. 6 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1984, § 20 III 3 a). Für die im Grundgesetz wichtigen Elemente des Rechtsstaatsprinzip vgl. ders., ebenda, § 20 III 3 b).

Sicherung des Rechtsstaates durch Verfassungsgerichtsbarkeit

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Gerechtigkeit, insbesondere durch menschenrechtliche Standards, begrenzt wird7, keine für alle Staaten einheitlichen Aussagen mehr finden lassen. Vielmehr sind auch der Reichweite des eher formalen Prinzips der Rechtssicherheit von Staat zu Staat unterschiedliche Grenzen durch das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit gesetzt. Auch die Begründung und die Reichweite des erwähnten „Vorbehalt des Gesetzes“ können nicht einheitlich, sondern nur in Bezug auf das gesamte Verfassungsgefüge eines Staates beurteilt werden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, ob der Vorbehalt des Gesetzes vor dem Hintergrund einer Grundrechtsgewährleistung zu sehen ist, die nicht nur als Programmsatz verstanden wird, sondern unmittelbar sowohl den Gesetzgeber als auch die Exekutive verpflichtet8. Darüber hinaus wird der „Vorbehalt des Gesetzes“ unterschiedlich zu verstehen sein, je nachdem ob es sich um eine eher direkte Demokratie, eine strikt indirekte Demokratie oder aber ein nicht-demokratisches Gemeinwesen handelt, wobei selbstverständlich die unterschiedlichsten Varianten denkbar sind. Theoretisch gesehen ist es nämlich durchaus denkbar, dass auch ein nicht-demokratisches Gemeinwesen in Teilbereichen rechtsstaatliche Regeln – wie Rechtssicherheit und die Bindung exekutiver und gerichtlicher Entscheidungen an die Gesetze – gewährleistet. Umgekehrt schützt auch eine demokratische Mehrheit nicht davor, Unrecht zu beschließen. Rechtsstaat und Demokratie sind also nicht denknotwendig miteinander verbunden – nur wenn beide Prinzipien kumulativ und gleichzeitig realisiert sind, kann von einem demokratischen oder materiellen Rechtsstaat gesprochen werden. Ähnliches gilt für das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Denn ob eine staatliche Maßnahme angemessen und verhältnismäßig ist, lässt sich nur beurteilen, wenn man sie zu den von Verfassung wegen garantierten Freiheitsrechten, in die durch diese Maßnahme eingegriffen wird, und zur Intensität dieses Eingriffs in Beziehung setzt, um sie so gegen die Gewichtigkeiten der vom Staat verfolgten und der von ihm beeinträchtigten Belange abzuwägen9. Bekanntlich sind der Umfang und die Ausgestaltung der verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten von Staat zu Staat recht unterschiedlich ausgeprägt – man denke nur an die von Staat zu Staat recht unterschiedlichen Standards beim grundrechtlichen Datenschutz. Schließlich dürfte sich auch die Bestimmtheit, die von einer Norm zu verlangen ist, so formal dieser Ansatz auf den ersten Blick erscheinen mag, kaum ohne Rückgriff auf die in der jeweiligen Rechtsordnung geltenden materiell-rechtlichen Kriterien – wie vor allem die Grundrechte – bestimmen lassen. Denn es ist klar, dass in einer Rechtsordnung, in der eine staatliche Maßnahme ein verfassungsrechtlich garantier7 Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage (1984), § 20 IV 4; Helmuth Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 2. Auflage (2006), Art. 20, Rn. 146 – 150. 8 Vgl. bspw. Art. 1 Abs. 3 GG. 9 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1984, § 20 IV 7 d).

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tes Recht berührt, die Anforderungen an die Bestimmtheit höher sein dürften als in einer Rechtsordnung, in der dies nicht oder nicht in gleichem Umfang gewährleistet ist. Als Zwischenergebnis lässt sich also festhalten, dass sich schon der Begriff der Rechtsstaatlichkeit einer einheitlichen Definition entzieht. Dies hat vorentscheidende Bedeutung für die Rolle, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit in einem Staat spielen kann. Denn vom Umfang der rechtsstaatlichen Standards hängt letztendlich ab, worauf sich die verfassungsgerichtliche Prüfung überhaupt erstrecken kann. Freilich besteht eine erhebliche Wechselwirkung zwischen dem Inhalt der Verfassung und seiner Konkretisierung durch die verfassungsgerichtliche Judikatur. Doch ist auch verfassungsgerichtliche Auslegung wegen der juristisch-methodischen Grenzen gerichtlicher Gesetzesanwendung nur möglich im Rahmen der von der jeweiligen Verfassung vorgegebenen Begrifflichkeiten und Beurteilungsmaßstäbe. Es besteht also ein von Staat zu Staat differierender Rahmen verfassungsgerichtlich interpretierbarer Inhalte. 2. Die Bedeutung der Zuständigkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit Weitere Unterschiede beim verfassungsgerichtlichen Anteil an der Sicherung des Rechtsstaats ergeben sich aus den von Staat zu Staat unterschiedlichen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten. Denn selbstverständlich ist die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit eine andere, je nachdem welche verfassungsrechtlichen Fragen sie nach der jeweiligen Rechtsordnung zu klären berufen ist und wer sie anrufen kann10. Handelt es sich um einen reinen Staatsgerichtshof, der nur von Verfassungsorganen wegen möglicher Verletzung der diesen von Verfassung wegen zustehenden Organrechte angerufen werden kann, so erschöpft sich bereits rechtssoziologisch die verfassungsgerichtliche Wirkung auf derartige Fragen. Ist dem Verfassungsgericht auch die inhaltliche Überprüfung von Gesetzen zugewiesen, so macht es einen erheblichen Unterschied, wie eine solche Prüfung initiiert werden kann, sei es nur durch Anträge von Verfassungsorganen, sei es durch Vorlagen von Fachgerichten, für die die Norm streitentscheidend ist, oder durch Verfassungsbeschwerden einzelner Bürger. Für die praktische Wirksamkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit macht es einen entscheidenden Unterschied, ob sich das Verfassungsgericht nur mit den Rechten von Verfassungsorganen und der abstrakten Frage der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen befassen kann, oder ob ihm auch die ganze Fülle fachgerichtlicher Judikate und Exekutivmaßnahmen zur Prüfung offen steht.

10 Zu den Grundformen der Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. bspw. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2 (1980), § 44 I 2 m.w.N.

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3. Die Bedeutung absoluter Werte Die Rolle der Verfassungsgerichte hinsichtlich der Sicherung des Rechtsstaates wird über die genannten Aspekte hinaus noch ganz wesentlich dadurch bestimmt, ob und inwieweit die jeweilige Verfassung absolute Werte anerkennt, an die sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber selbst gebunden ist. Ein besonders deutliches Beispiel ist hier das deutsche Grundgesetz. Vor dem Hintergrund der katastrophalen Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Versagens der Weimarer Verfassung bei der Verhinderung dieses menschenverachtenden Systems hat das deutsche Grundgesetz im Jahr 1949 das – bereits in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945 hervorgehobene – Bekenntnis zu „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ in seinem Art. 1 Abs. 1 als ausdrückliches und unmittelbar geltendes Individualrecht und als staatliche Schutzpflicht für die Bundesrepublik Deutschland verankert und in Art. 79 Abs. 3 GG sogar dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen. Das erdrückende historische Versagen eines zu sehr auf Neutralität bedachten Staates sprach und spricht dafür, gerade auch für staatliche Mehrheitsentscheidungen, aber auch im Falle von menschenwürdewidrigen Verhaltensweisen innerhalb der Gesellschaft absolute Grenzen aufzustellen und die Einhaltung dieser Grenzen ggf. in einem unabhängigen verfassungsgerichtlichen Verfahren überprüfen zu lassen11. Indem eine Verfassung positivrechtlich anordnet, mit der Menschenwürde einen Wert zu achten, der selbst durch Verfassungsänderung nicht angetastet werden kann, wird etwas Überrechtliches auch formal zu bindendem Recht. Diese Positivierung kann, muss aber nicht große Bedeutung für das Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit und für ihre rechtsstaatsichernde Rolle haben. Wenn nämlich für die Überprüfung, ob die absoluten Werte vom Gesetzgeber verletzt worden sind, ein Verfassungsgericht für zuständig erklärt wird, wie es im deutschen Grundgesetz der Fall ist12, dann erhöhen sich selbstverständlich auch der Einfluss und die Verantwortung des Verfassungsgerichts bei der Wahrung dieser absoluten rechtsstaatlichen Schranken. Umgekehrt sind auch Verfassungen denkbar, die übergesetzliche Wertungen nicht anerkennen oder zumindest positivistisch dem Primat der jeweiligen demokratischen Mehrheit unterwerfen. Möglich sind auch Verfassungen, die solche Werte zwar der Sache nach voraussetzen, sie aber nicht justiziabel machen, sondern mehr als Leitmotiv der angemessenen Berücksichtigung des Gesetzgebers und der anderen Staatsgewalten anvertrauen. Je nachdem, wie die Verfassung diese „Verrechtlichung des Außerrechtlichen“ handhabt und welche Kompetenzen sie dabei der Verfassungsgerichtsbarkeit überträgt, wird auch die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Sicherung dieses elementaren rechtsstaatlichen Aspektes unterschiedlich bewertet werden müssen.

11 Vgl. auch Hans-Jürgen Papier / Wolfgang Durner, Streitbare Demokratie, AöR 2003 (Band 128), S. 340 ff. 12 Vgl. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 93 GG.

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4. Die Einbindung in Mehrebenensysteme Die bislang dargestellten Rahmenbedingungen haben den Staat als abgeschlossenen Bereich betrachtet. Durch die in der Realität festzustellenden Einbindungen in zwischenstaatliche Regelwerke kann sich allerdings auch die Bedeutung der nationalen Verfassungsgerichte bei der Sicherung des Rechtsstaats verschieben. Das ist ganz offensichtlich, wenn ein Nationalstaat Teile seiner Staatsgewalt auf einen Staatenverbund wie die Europäische Union überträgt. Denn dann verliert der abtretende Nationalstaat im Bereich der an die zwischenstaatliche Einrichtung abgetretenen Gesetzgebungs- oder Exekutivrechte regelmäßig auch seine Befugnis, eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der von jener Einrichtung ausgehenden Hoheitsakte vorzuschreiben. Häufig wird in solchen Fällen eine internationale Gerichtsbarkeit etabliert, die dann anhand eigener Prüfungsmaßstäbe über ihre zugewiesenen Streitgegenstände zu entscheiden hat. Die nationale verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich in solchen Fällen in der Regel darauf, ob die Abtretung der Hoheitsmacht ihrerseits verfassungsgemäß ist. Ob und inwieweit die nationale verfassungsgerichtliche Überprüfung sich auch auf die heikle Frage erstrecken kann, ob sich – nach der einmal vollzogenen Abtretung – der zwischenstaatliche Staatenverbund bei der Ausübung der abgetretenen Hoheitsmacht seinerseits in den Grenzen dieser Abtretung bewegt hat, dürfte sich wiederum nicht einheitlich beantworten lassen. Ganz entscheidendes Gewicht kommt nämlich auch insoweit der sachlichen Zuständigkeit des jeweiligen nationalen Verfassungsgerichts sowie der inhaltlichen Ausgestaltung und den Grenzen der Einschränkbarkeit des Grundrechtsschutzes im abtretenden Nationalstaat zu. Aber auch bei den weltweit gesehen wesentlich häufigeren klassischen völkerrechtlichen Verträgen, zu denen bspw. auch die Europäische Menschenrechtskonvention gehört, ergibt sich eine wichtige Wechselwirkung mit der jeweiligen nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit. Unterwirft sich nämlich ein Staat verbindlich einer völkerrechtlichen Norm, so kann dies Rückwirkungen auf die Auslegung der Verfassungsbestimmungen haben, die von Land zu Land unterschiedlich ausfallen können. Dabei ist ein völlig unbeeinflusstes Nebeneinander von Völkerrechtsordnung und Verfassungsordnung ebenso denkbar wie ein – innerstaatlich angeordneter – absoluter Vorrang der völkerrechtlichen Pflicht. Auch vermittelnde Modelle sind denkbar, wie etwa das vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Instrument der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des nationalen Rechts einschließlich des an sich vorrangigen nationalen Verfassungsrechts13. Aber auch über diese inhaltlichen (normhierarchischen) Wechselwirkungen hinaus gibt es verfassungsprozessrechtliche und rechtssoziologische Aspekte, die die Rechtsstaatssicherung durch nationale Verfassungsgerichte beeinflussen und die von Staat zu Staat unterschiedlich ausfallen können. Sieht nämlich die internationale Vereinbarung, wie beispielsweise bei der Europäischen Menschenrechtskonvention, 13

BVerfGE 111, 307.

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eine eigene Grundrechtsordnung vor und unterwerfen sich die Vertragsstaaten insoweit einer internationalen Gerichtsbarkeit, so wird dadurch mittelbar auch der Inhalt der jeweiligen rechtsstaatlichen Anforderungen geregelt, die in den Vertragsstaaten gelten (vgl. hierzu bereits unter 1.). Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist insoweit nicht vorgezeichnet, sondern hängt davon ab, inwieweit das nationale Verfassungsrecht vergleichbare inhaltliche Standards und verfassungsgerichtliche Zuständigkeiten kennt. Divergierende Maßstäbe und Zuständigkeiten können dabei unterschiedlichste Auswirkungen auf die Rolle des nationalen Verfassungsgerichts beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit haben. Ist beispielsweise der nationale verfassungsgerichtliche Prüfungsmaßstab strenger gefasst als der völkerrechtliche, so dürfte Letzterer kaum wirksam werden; die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit wird – rechtssoziologisch betrachtet – eine stark steuernde Funktion behalten. Ist umgekehrt der nationale verfassungsgerichtliche Prüfungsmaßstab weniger streng oder werden von den nationalen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten Streitgegenstände nicht erfasst, die von der internationalen Gerichtsbarkeit überprüft werden können, so wird die internationale Gerichtsbarkeit einen starken lenkenden Effekt entwickeln. Als Kehrseite dieses Effektes wird die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit entweder ihre eigenen Standards anpassen oder ihre Prüfung auf Bereiche beschränken, in denen sich keine Überschneidungen ergeben. III. Allgemeine Aspekte der Rechtsstaatssicherung durch Verfassungsgerichte Obwohl sich herausgestellt hat, dass die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Sicherung rechtsstaatlicher Standards vor dem Hintergrund der inhaltlichen und prozessualen Verfassungsvorgaben nur differenziert beurteilt werden kann, lassen sich doch auch systemübergreifende Themen und Problemstellungen beschreiben. 1. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung Die Gewaltenteilung wird zumeist als Bestandteil eines Rechtsstaates verstanden, auch wenn ihre Idee als „überzeitliches Phänomen“ auch unabhängig von ihm konstruierbar ist14. Der Grundgedanke wird durch die Formel der „Checks and Balances“ plastisch beschrieben – wobei die beabsichtigte gegenseitige Kontrolle nicht nur der formalen Teilung und Hemmung staatlicher Macht dienlich ist, sondern auch zu möglichst großer inhaltlicher Richtigkeit durch das jeweils „qualifizierteste“ Verfassungsorgan beitragen kann15. Die klassische Unterscheidung von Legislative, Exeku-

14 Bspw. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1984, § 20 III 3 b) und § 20 IV 3. 15 Vgl. BVerfGE 3, 225 (247); 9, 267 (279); 34, 52 (59); 68, 1 (86) und 98, 218 (251 f.).

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tive und Judikative ist dabei nach wie vor das Rückgrat auch der stark ausdifferenzierten modernen Konstruktionsansätze16. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der gewaltengeteilten Staatlichkeit – im Hinblick auf richterliche Unabhängigkeit, auf gesetzliche Zuständigkeits- und Verfahrensregelung sowie wegen des auf die Verfassung begrenzten Entscheidungsmaßstabs – recht eindeutig als „echte“ – wenn auch gegenüber der Fachgerichtsbarkeit mit Besonderheiten ausgestattete – Rechtsprechungstätigkeit beschreiben17. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit vor allem über die normativen Rahmenbedingungen entscheidet, unter denen die Politik – also die Legislative und die Spitzen der Exekutive – agieren und gestalten kann. Richtig ist auch, dass in der Summe aller Zuständigkeiten eines Verfassungsgerichts eine „Teilhabe an der politischen Staatsleitung“ des Landes liegen kann. Insbesondere die verfassungsgerichtliche Bestätigung und vor allem Verwerfung von Parlamentsgesetzen sind in funktional-politischer Hinsicht den Entscheidungen des Gesetzgebers durchaus vergleichbar, auch wenn das Gericht selbst nie Gesetzgebungsakte, sondern immer nur Rechtsprechungsakte setzen kann. Dieser – im Vergleich zur Fachgerichtsbarkeit – sehr starke Bezug der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den Domänen der anderen Gewalten, also insbesondere der Legislative, ist im Hinblick auf die Gewaltenteilung vielfach kritisch gesehen worden18. Doch gerade hier erscheint eine rein formale Betrachtungsweise nicht überzeugend, sondern es sollte der oben genannte doppelte Sinn der „Checks and Balances“ im Vordergrund stehen: Es geht weniger um eine „scharfe“ Trennung, sondern um gegenseitige Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten auch im Interesse möglichst richtiger Entscheidungen und optimierter sowie effizienter staatlicher Aufgabenerledigung. Aus diesem Grund stellen Überschneidungen, Verschränkungen und Balancierungen der Funktionen und Einflussnahmen der einen Gewalt auf die andere auch nicht per se die Gewaltenteilung in Frage, solange nur der „Kernbereich“19 der anderen Gewalten gewahrt bleibt. Das gilt für das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive ebenso wie für das Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu Legislative und Exekutive.

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Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II (Verfassungsstaat), 3. Auflage, 2004, § 26, Rn. 51 ff. 17 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage (1995), Rn. 565; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2 (1980), § 44 I 3 und § 44 I 4 m.w.N. 18 Vgl. bspw. die Nachweise bei Hans H. Klein, Gedanken zur Verfassungsgerichtsbarkeit (1997), in: Das Parlament im Verfassungsstaat – Ausgewählte Beiträge, 2006, S. 425 (427; 433). 19 BVerfGE 34, 52 (59).

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Dabei ist nicht davon auszugehen, dass der Kernbereich der exekutiven oder legislativen Gewaltsphären durch Verfassungsgerichtsbarkeit berührt wird, solange zwei Grenzen beachtet werden: Erstens sollte ein Verfassungsgericht als Teil der Judikative nie von sich aus in politisch-gesellschaftlich kontroversen Fragen tätig werden können. Als Organ der rechtsprechenden Gewalt darf es immer nur auf Antrag und in den normativ vorgegebenen Verfahren und Formen entscheiden. Auch für Verfassungsgerichte hat somit der Grundsatz zu gelten: „Wo kein (Verfassungs-) Kläger, da kein (Verfassungs-) Richter“. Umgekehrt hat freilich auch zu gelten, dass ein Verfassungsgericht entscheiden muss, wenn es angerufen wird. Zweitens findet ein Verfassungsgericht seinen Beurteilungsmaßstab immer nur im geltenden Verfassungsrecht, nicht in politischen, sozialen oder ökonomischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen. Gerade verfassungsrechtliche Normen mögen häufig relativ unbestimmt sein und große Auslegungsspielräume eröffnen. Mag insoweit die Grenze im Einzelfall auch schwer zu ziehen sein oder gewisse Unschärfen aufweisen, so gilt dennoch der Grundsatz, dass Verfassungsrechtsprechung nicht politische Gestaltung, sondern Rechtserkenntnis nach juristischen Methoden ist. Dabei kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass die Notwendigkeit einer wertenden Entscheidung und der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe oder der Bestimmung der Grenzen von gesetzlich eingeräumten Ermessensspielräumen keine Besonderheit der Verfassungsrechtsprechung ist. Vielmehr findet sich diese Notwendigkeit methodologisch genauso auch bei fachgerichtlichen Entscheidungszuständigkeiten20. Gerade im Fall einer Überprüfung von Gesetzen auf Antrag von Verfassungsorganen oder Teilen von diesen – in Deutschland „abstrakte Normenkontrolle“ genannt – hat Hans Kelsen den entscheidenden rechtspolitischen Vorteil einer derartig abgesteckten verfassungsgerichtlichen Zuständigkeit im Hinblick auf die Gewaltenteilung bereits im Jahr 1931 treffend beschrieben: „Da gerade in den wichtigsten Fällen von Verfassungsverletzung Parlament und Regierung Streitparteien sind, empfiehlt es sich zur Entscheidung des Streites eine dritte Instanz zu berufen, die außerhalb dieses Gegensatzes steht und selbst in keiner Weise an der Ausübung der Macht beteiligt ist, die die Verfassung im wesentlichen zwischen Parlament und Regierung aufteilt. Daß diese Instanz dadurch selbst eine gewisse Macht erhält, ist unvermeidlich. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man einem Organ keine andere als diese Macht verleiht, die in der Funktion der Verfassungskontrolle liegt, oder ob man die Macht eines der beiden Hauptmachtträger durch die Übertragung der Verfassungskontrolle noch verstärkt. Das bleibt der Hauptvorzug eines Verfassungsgerichts: daß es selbst, weil von vornherein an

20

Eine Parallele zum Strafrecht zieht bspw. BVerfGE 2, 79 (96 f.).

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Hans-Jürgen Papier der Machtausübung nicht beteiligt, in keinem notwendigen Gegensatz zu Parlament oder Regierung steht.“21

2. Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik Verfassungsgerichtsbarkeit stellt also im Ergebnis „echte“ Gerichtsbarkeit dar, deren Entscheidungsgegenstände allerdings häufig eine größere Nähe zur „Politik“ aufweisen als die Entscheidungsgegenstände der Fachgerichtsbarkeit; sie wird deshalb teilweise als „Rechtsprechung sui generis“ bezeichnet22. Aus diesem Grund ist ein Dauerthema der Verfassungsgerichtsbarkeit, das grundsätzlich in vielen Verfahren – unabhängig von seiner prozessrechtlichen Einkleidung – akut werden kann, die Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik. Von Belang ist dabei zunächst der bereits dargelegte, die Gewaltenteilung betreffende Umstand, dass Verfassungsgerichtsbarkeit über die rechtlichen Rahmenbedingungen entscheidet, in denen die Politik agieren kann. Ob einem Verfassungsgericht gerade die im politischen Diskurs besonders umstrittenen Fälle vorgelegt werden, hängt von der spezifischen Ausgestaltung seiner Entscheidungskompetenzen ab und lässt sich deshalb nur für jeden Staat gesondert beschreiben. So wird die in Deutschland sehr weitgehende politische Relevanz der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich beispielsweise mit der Strafbarkeit von Abtreibungen23, Auslandseinsätzen der Bundeswehr24, der Staatsverschuldung25, aber auch brisanten Sicherheitsgesetzen, insbesondere zur Abwehr von Gefahren des Terrorismus26, befassten, sich nicht ohne Weiteres auf andere Verfassungsgerichte übertragen lassen. Ebenso wird es von der jeweiligen Kompetenzausstattung und der Stellung des Verfassungsgerichts im verfassungsrechtlichen und -politischen Gefüge abhängen, inwieweit verfassungsgerichtliche Entscheidungen nach ihrem Ergehen ihrerseits Gegenstand des politischen Diskurses werden oder nicht. Unabhängig von diesen landesspezifischen Fragen kann aber allgemeiner gefragt werden, ob sich nicht ganz abstrakt Themen benennen lassen, die einem verfassungsgerichtlichen Zugriff von vornherein entzogen bleiben sollten. Mit dieser allgemeinen Frage befassen sich beispielsweise die Figuren der „political question“ im Recht der USA, des „acte de gouvernement“ im französischen Recht und der „Crown prerogative“ im britischen Recht, die alle auf eine Herausnahme bestimmter „politi-

21 Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Die Justiz VI, 1931, S. 5 – 56; abgedruckt in: Klecatsky u. a. (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Band 2 (1968), S. 1873 ff. (1905) – zitiert auch bei Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung (1998), S. 297. 22 Zuck, Political-Question-Doktrin, Judicial-self-restraint und das Bundesverfassungsgericht, JZ 1973, 361 (367). 23 Bspw. BVerfGE 88, 198 (Schwangerschaftsabbruch II). 24 Bspw. BVerfGE 90, 286 (AWACS Somalia). 25 Bspw. BVerfGE 119, 96 (Bundeshaushalt 2004). 26 Bspw. BVerfGE 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz).

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scher“ Maßnahmen aus der (verfassungs-)gerichtlichen Überprüfung hinauslaufen27. Aber auch in Staaten, die formal keine allgemein geltenden Ausnahmen von der verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit exekutiver und legislativer Akte kennen, wie beispielsweise in Deutschland, können der verfassungsgerichtlichen Überprüfung im Ergebnis Grenzen gesetzt sein, weil insbesondere dem Gesetzgeber zum Teil weitgehende Beurteilungsspielräume zuerkannt werden, besonders im Bereich der Außenpolitik. In solchen Fällen werden die Verfassungsgerichte nur noch die Einhaltung der Grenzen solcher Beurteilungs-, Prognose- und Ermessensspielräume überprüfen. In den allermeisten Fällen werden sich allerdings die Grenzlinien des politischen Beurteilungsspielraums nicht ausdrücklich im geschriebenen Recht feststellen lassen. Vielmehr wird es – so eine Verfassungsordnung grundsätzlich die Letztentscheidungskompetenz eines Verfassungsgerichts in Verfassungsrechtsfragen begründet hat – Sache eben dieses Verfassungsgerichts sein, insofern weise Zurückhaltung zu üben, insbesondere im Interesse des mit der Gewaltenteilung verbundenen Ziels einer möglichst sachgerechten Entscheidung. Diesen Weg geht beispielsweise das Bundesverfassungsgericht, das hierzu Folgendes ausführt: „Die Durchsetzung dieser Verfassungsordnung obliegt letztverbindlich dem Bundesverfassungsgericht. Der Grundsatz des judical self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht „Politik zu treiben“, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.“28

Der Vorteil dieser Konstruktion liegt vor allem darin, dass eine begriffspositivistische Diskussion darüber, was genau unter „Politik“ zu verstehen ist, vermieden wird29. Vielmehr erfolgt die Abgrenzung implizit aus den Grenzen der verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Der Raum freier politischer Gestaltung lässt sich gerade dadurch definieren, dass er im Rahmen verfassungsgerichtlicher Überprüfung zugestanden wird. Freilich liegt die Entscheidung, inwieweit den anderen Gewalten von Verfassung wegen ein Spielraum zugestanden wird, in einem solchen System beim Verfassungsgericht und nicht bei der Politik; und es lässt sich auch nicht bestreiten, dass die Grenzen des verfassungsgerichtlich noch überprüfbaren Bereichs sich nicht

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Vgl. hierzu Karl Doehring, Zur Erstreckung gerichtlicher Kontrolle des Gesetzgebers und der Regierung, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag (1997), S. 1059 ff. (1061 f.); s. auch Loukis G. Loucaides, The Right of Access to a Court an the Doctrine of Political Acts, in: ders., The European Convention on Human Rigths – Collected Essays, 2007, S. 225 ff.; kritisch Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2 (1980), § 44 II 3 e). 28 BVerfGE 36, 1 (14 / 15). 29 Im Ergebnis ebenso Karl Doehring, Zur Erstreckung gerichtlicher Kontrolle des Gesetzgebers und der Regierung, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag (1997), S. 1059 ff. (1066 f.).

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einfach und statisch bzw. abstrakt werden festlegen lassen30. Doch auch in den Rechtsordnungen, die in Teilbereichen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle im Sinne einer „political question“ komplett ausschließen, wird die Frage, ob verfassungsgerichtliche Kontrolle ausgeschlossen ist, eben vom Verfassungsgericht letztverbindlich beantwortet. Insoweit ist systemunabhängig festzustellen, dass die Entscheidungsmacht über die Abgrenzung von politischen Spielräumen und verfassungsgerichtlicher Kontrollmöglichkeit einer einmal eingerichteten Verfassungsgerichtszuständigkeit nicht entzogen werden kann, ohne diese gleichzeitig – jedenfalls der Sache nach – abzuschaffen. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht frühzeitig erkannt und im Zusammenhang mit einem seinerzeit politisch umstrittenen völkerrechtlichen Vertrag der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen: „Die Frage, ob die Vertragsgesetze ohne vorgängige Änderung des Grundgesetzes ratifiziert werden dürfen, ist eine Rechtsfrage und damit richterlicher Erkenntnis zugänglich. Wer diese Frage nicht der Beurteilung eines Gerichts unterstellen will, muß nicht nur die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung von Bundesgesetzen, sondern jegliches richterliches Prüfungsrecht abschaffen (…). Die Alternative zur richterlichen Prüfungszuständigkeit (…) kann also nur dahingehen, daß alle Gesetze oder Gesetze, die von der Mehrheit des Bundestages verabschiedet werden, für unbedingt verbindlich erklärt werden, gleichgültig, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind oder nicht.“31

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entscheidungsgegenstände der Verfassungsgerichtsbarkeit naturgegeben einen engen Bezug zum Bereich der Politik aufweisen, dass Verfassungsgerichtsbarkeit aber gleichwohl „echte“ Gerichtsbarkeit ist und dass der damit zwangsläufig verbundene Machtgewinn der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht dazu führt, dass der von Legislative und Regierung betriebenen Politik die maßgeblichen Initiativ- und Gestaltungsrechte abhanden kämen, die die Verfassung ihnen zuweist. 3. Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie „Demokratie allein ist noch nicht Rechtsstaat“32. Mit dieser Formel beschreibt Klaus Stern treffend die Erforderlichkeit, in einem demokratischen Rechtsstaat beide Prinzipien zu einer Synthese zu verbinden.33 Einerseits gewährleistet das demokratische Mehrheitsprinzip einen gleichberechtigten Anteil jedes Mitglieds der Bevölkerung an der staatlichen Machtverteilung und kann so eine Grundlage für die 30

Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage (1995), Rn. 570 („fließende Grenze“); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2 (1980), § 44 II 3. 31 BVerfGE 2, 79 (96 / 97). 32 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1984, § 18 II 6 b) a). 33 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1984, § 18 II 6 b) a) mit Hinweis auf W. Kägi, der die Synthese von Rechtsstaat und Demokratie als „Schicksalsfrage“ beider bezeichnet.

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Ausübung staatlicher Macht sein; andererseits lehrt die Geschichte, dass auch noch so große Mehrheiten nicht davor schützen, schrecklichstes Unrecht zu begehen, und dass es deshalb eines starken Schutzes von Minderheiten bedarf. Vor diesem Hintergrund ist für Staaten mit demokratisch-rechtsstaatlicher Verfassung die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Sicherung des Rechtsstaats auch im Hinblick auf die Demokratie zu beurteilen. Fraglich ist, ob und inwieweit ein System, das die politische Macht vom Volk als eigentlichem und einzigem Souverän ableitet, überhaupt mit einer richterlichen Kontrolle der parlamentarischen Vertreter des ganzen Volkes kompatibel sein kann, insbesondere wenn es um die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Gesetzen geht. Handelt es sich um eine parlamentarische Demokratie, ist das Verhältnis des Verfassungsgerichts zum parlamentarischen Gesetzgeber zu klären. Eine weitere Frage ist es, welche Anforderungen an die demokratische Legitimation der Richterernennung selbst zu stellen sind. Der Umstand, dass Verfassungsrichter ihre Funktion nicht in gleicher Weise wie ein Parlament auf eine unmittelbare Wahl durch das Volk zurückführen können, ist für sich genommen kein Argument gegen die verfassungsgerichtliche Möglichkeit, sowohl parlamentarische also auch plebiszitär zustande gekommene Gesetze am Maßstab der Verfassung zu messen. Denn zum einen ist die Verfassung selbst Ausdruck gerade des Willens des verfassungsgebenden Gesetzgebers und zum anderen beruht gerade dieser Prüfauftrag der Verfassungsgerichtsbarkeit seinerseits auf einer Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ausgeführt: „Aus dem Umstand, daß allein die Mitglieder des Parlaments unmittelbar vom Volk gewählt werden, folgt nicht, daß andere Institutionen und Funktionen der Staatsgewalt der demokratischen Legitimation entbehrten. Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation aus der in Art. 20 Abs. 2 GG getroffenen Entscheidung des Verfassungsgebers.“34

Auch die Aufhebung von Gesetzen durch ein Verfassungsgericht erscheint also im Hinblick auf das Demokratieprinzip nicht problematisch, solange die verfassungsgerichtliche Zuständigkeits- und Verfahrensordnung ihrerseits demokratisch-rechtsstaatlich zustande gekommen ist. Unverzichtbar erscheinen allerdings die Einhaltung richterlicher Auslegungs- und Rechtsanwendungstechniken35 und die Einräumung sachlicher und persönlicher richterlicher Unabhängigkeit bei der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsfindung auch im Hinblick auf das Demokratieprinzip, während sich für die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens zur Bestellung der Verfassungsrichterschaft viele Varianten denken lassen. Sie reichen von einer Wahl durch das 34

BVerfGE 49, 89 (125). Vgl. zum Zusammenhang von Verfassungsrecht und juristischer Methodenlehre allgemein Bernd Schünemann, Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staatsverfassung und juristischer Methodenlehre, in: G. Kohlmann (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag (1983), Band I (Rechtsphilosophie, Rechtstheorie), S. 169 ff. (176) mit Hinweis auf Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982), S. 179. 35

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Volk über eine Wahl durch das Parlament (mit oder ohne „Hearing“) bis hin zu einer Bestellung durch das Staatsoberhaupt oder die Regierung, solange das Verfahren seinerseits gesetzlich festgeschrieben ist. Jedenfalls dann, wenn eine Verfassungsgerichtsbarkeit auch über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen befinden können soll, erscheint allerdings eine Einbindung der Legislative bei der Richterbestellung nahe liegend. Denn andernfalls ergäbe sich das Problem, dass das Verfahren der Richterbestellung zwar auf einem demokratisch zustande gekommenen Gesetz basiert, dass dessen Sinn aber gerade darin bestünde, eine Richterschaft zu bestellen, die ihrerseits auch über demokratisch zustande gekommene Gesetze befinden könnte, ohne sich selbst zumindest auf eine legislatorische Billigung der Richterbestellung berufen zu können. Im Hinblick auf die demokratische Legitimation nicht unproblematisch erschiene jedenfalls eine Berufung der Verfassungsrichterschaft durch „unabhängige“ Selbstverwaltungsgremien, beispielsweise der Justiz, oder unter Mitentscheidung von Berufsverbänden wie der Anwaltschaft oder der Notare, selbst wenn dieses Verfahren in einem demokratisch legitimierten Gesetz geregelt ist. Schließlich ist für das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie noch von großem Belang, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz absoluter Werte berufen ist oder nicht (s. oben unter II.3.). Wenn eine Verfassung – wie bspw. das deutsche Grundgesetz in seinem Art. 1 Abs. 1 GG – absolute übergesetzliche Werte anerkennt, die auch dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind, dann liegt darin ein offenkundiges Spannungsverhältnis zum Gedanken der demokratischen Mehrheitsentscheidung. Noch im Jahr 1932 führte der berühmte Rechtsphilosoph und Rechtspolitiker Gustav Radbruch aus: „Der Relativismus ist die gedankliche Voraussetzung der Demokratie: sie lehnt es ab, sich mit einer bestimmten politischen Auffassung zu identifizieren, ist vielmehr bereit, jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Führung im Staate zu überlassen, weil sie ein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen nicht kennt, die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien nicht anerkennt.“36

Die kurz darauf folgende dunkelste Phase der deutschen Geschichte mit ihrer maßlosen Menschenverachtung und kaum beschreibbaren Intoleranz – in der die Mehrheit eben nicht bereit war, ihr eigenes Bekenntnis und ihren eigenen Machtanspruch zu relativieren, und in der Gustav Radbruch als einer der ersten sein Lehramt verlor – führte allerdings dazu, dass nach dem Zweiten Weltkrieg statt eines (theoretisch vielleicht begründbaren) Relativismus nach rechtlich verbindlichen Fundamentalwerten gesucht wurde (übrigens auch von Gustav Radbruch selbst37); nach absoluten Werten, die gerade auch demokratischen Mehrheiten bzw. den von ihr gewählten Repräsentanten einen legalen Zugriff auf Kernbereiche des menschlichen Achtungsanspruchs jedenfalls rechtlich unmöglich machen und damit Einhalt gebieten sollen. 36

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Auflage (1932), S. VIII. Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), abgedruckt in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch – Gesamtausgabe, Rechtsphilosophie III, 1990, S. 83 ff. (89). 37

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Es ist klar, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die berufen ist, gerade auch legislative Akte an solchen absoluten Werten zu messen, darauf bedacht sein muss, das Verfassungsprinzip der Demokratie nicht auszuhöhlen. Das kann freilich nur gelingen, wenn derartige absolute Schranken nicht „inflationär“ gebraucht werden, sondern auf enge Ausnahmefallgruppen beschränkt werden38. Auch insoweit muss die Letztentscheidung allerdings bei der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen, wenn man ihre Zuständigkeit nicht letztlich überflüssig machen will39. Dass die Grenzen der absolut geschützten Bereiche sich dabei nicht einfach abzirkeln lassen, ist unbestreitbar. Das ändert aber nichts daran, dass sie einer gerichtlichen Auslegung zugänglich sind. Ganz in diesem Sinne sei insoweit erneut Gustav Radbruch zitiert, der im Jahr 1946 angesichts der verheerenden Erfahrungen des „Dritten Reichs“ und vor Inkrafttreten des Grundgesetzes festgestellt hat: „Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen (…).“40

Dieser Aspekt erhöht noch einmal die bereits erwähnte Notwendigkeit der Einhaltung richterlicher Auslegungs- und Rechtsanwendungstechniken und die Einräumung sachlicher und persönlicher richterlicher Unabhängigkeit bei der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsfindung. Er ist aber auch ein Argument für die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit an sich. Denn gerade die leidvolle historische Erfahrung, dass auch überwältigende Mehrheiten überwältigendes Unrecht begehen können, spricht dafür, soweit es einer menschlichen Gesellschaft überhaupt möglich ist, weder Exekutive noch Legislative, sondern eine unabhängige verfassungsgerichtliche Instanz über derartige Kernbereiche des menschlichen Lebens letztverbindlich entscheiden zu lassen, die im Übrigen gerade kein eigenes Machtinteresse verfolgt und auch nicht verfolgen darf.

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Vgl. Hans-Jürgen Papier, Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: R. Grote u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit – Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag (2007), S. 371 ff. 39 Siehe das unter III.2. wiedergegebene Zitat aus BVerfGE 2, 79 (96 / 97). 40 Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), abgedruckt in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch – Gesamtausgabe, Rechtsphilosophie III, 1990, S. 83 ff. (89); vgl. auch den Rückgriff auf diesen Ansatz in BVerfGE 3, 225 (232 f., Gleichberechtigung von Ehefrau und Ehemann, 18. 12. 1953); BVerfGE 6, 132 I (198 f., Gestapo, 19. 02. 1957); BVerfGE 6, 389 I (414 f., Homosexuellenurteil, 10. 05. 1957) und BVerfGE 95, 96 II (134, Mauerschützen, 24. 10. 1996).

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IV. Schluss Es war im vorliegenden Kontext selbstverständlich nicht möglich, eine systematisch auch nur annähernd vollständige Beschreibung verfassungsgerichtlicher Funktionen und ihrer Einordnung in verfassungsstaatliche Kontexte zu geben. Schon eine Beschreibung des Verhältnisses der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Fachgerichtsbarkeit unter Berücksichtigung der Bedeutung des Verfassungsrechts gerade auch für die Fachgerichtsbarkeit würde eine eigene Abhandlung erfordern. Auch die Bedeutung der Möglichkeiten einer individuellen Verfassungsbeschwerde für die Arbeitsweise und die Rolle von Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Verfassungsorgane würde eine umfangreichere Darstellung verdienen. Wesentlich erscheint mir aber, dass eine rechtsstaatlich verankerte, unabhängige und juristisch-methodisch von der geschriebenen Verfassung ausgehende Verfassungsgerichtsbarkeit zu einer erheblichen Stärkung und unverzichtbaren Sicherung des verfassten Rechtsstaates beitragen kann, ohne dabei die demokratischen und politischen Grundlagen des Staates im Kern zu beeinträchtigen.

Europäische Union und Rechtsstaatlichkeitsgebot Von Dieter H. Scheuing I. Einleitung Dass für die europäische Integration, wie sie nunmehr im Rahmen der Europäischen Union vorangetrieben wird, das Gebot der Rechtsstaatlichkeit gelten muss, ist eine Erkenntnis, die sich erst im Laufe der Zeit durchzusetzen vermochte und die sich immer wieder neu zu bewähren hat. Im Folgenden soll diesen Entwicklungen genauer nachgegangen werden. Hierfür ist zunächst herauszuarbeiten, inwiefern die Rechtsstaatlichkeit auch für die Europäische Union eine Gestaltungsaufgabe darstellt. Anschließend soll nach der grundsätzlichen Gewährleistung des Rechtsstaatlichkeitsgebots im Unionsrecht gefragt werden. In zwei längeren Abschnitten sollen dann Tendenzen sowohl zur inhaltlichen Entfaltung als auch zur erweiterten Anwendung des unionsrechtlichen Rechtsstaatlichkeitsgebots beleuchtet werden. Eine Schlussbemerkung wird die Überlegungen abrunden. Vorweg sei noch die terminologische Umstellung auf das „Unionsrecht“ hervorgehoben, die mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags am 1. Dezember 2009 notwendig geworden ist. Bis dahin war es üblich gewesen, unter „Unionsrecht“ nur oder vor allem das zwischenstaatlich geprägte Kooperationsrecht des zweiten und dritten Pfeilers der EU zu verstehen und hiervon das „Gemeinschaftsrecht“ als supranational geprägtes Integrationsrecht des ersten Pfeilers zu unterscheiden. Der Lissabonner Vertrag kennt indessen nur noch eine einheitliche „Europäische Union“; daneben gibt es keine „Europäische Gemeinschaft“ mehr, der ein eigenes „Gemeinschaftsrecht“ zugeordnet werden könnte. Unter diesen Umständen erscheint es geboten, das Recht der EU jetzt insgesamt als „Unionsrecht“ zu bezeichnen und zur Wahrung textlicher Übersichtlichkeit bei durchgängigen Entwicklungen diese Bezeichnung regelmäßig auch rückblickend – und insofern unzeitgemäß – zu verwenden. Soweit deshalb nachstehend von „Unionsrecht“ die Rede ist, ist damit auch und vor allem jenes spezifische Integrationsrecht gemeint, das in den angeführten Belegstellen meist noch als „Gemeinschaftsrecht“ bezeichnet wird. Entsprechendes gilt etwa für die Ersetzung des Ausdrucks „Gemeinschaftsorgane“ durch den Ausdruck „Unionsorgane“.

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II. Rechtsstaatlichkeit als Gestaltungsaufgabe der Europäischen Union Für die Rechtsstaatlichkeit als Gestaltungsaufgabe der Europäischen Union sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung, und zwar einerseits die Notwendigkeit dieser Aufgabe und andererseits die Komplexität dieser Aufgabe. 1. Notwendigkeit der Aufgabe Auf den ersten Blick ist freilich die Notwendigkeit für die Europäische Union, sich der Rechtsstaatlichkeit als Gestaltungsaufgabe überhaupt zu stellen, nicht evident. Man könnte in der Tat argumentieren, dass – wie die Begrifflichkeit selbst zeige – der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (le principe de ltat de droit, il principio dello Stato di diritto, el principio del Estado de Derecho) erkennbar Anforderungen allein an Staaten stelle; ohnehin könnten nur Staaten Verfassungen mit solchen Verfassungsgrundsätzen haben; Staatscharakter komme jedoch der derzeitigen EU nicht zu. Eine solche Argumentation würde indessen entschieden zu kurz greifen. Auch wenn man nämlich die EU als nichtstaatlich ansieht, ändert das nichts daran, dass in Gestalt der Union deren Mitgliedstaaten auf überstaatlicher Ebene eine neue Instanz öffentlicher Gewalt mit weitreichenden Hoheitsbefugnissen geschaffen haben. Dann müssen aber auch jene fundamentalen rechtsstaatlichen Anforderungen, die in den Staaten im Laufe der Jahrhunderte zur Begründung und Begrenzung von Hoheitsgewalt entwickelt worden sind, auf diese neue Instanz übertragen werden. Insofern erweist sich die Redeweise von der Rechtsstaatlichkeit, wie sie in der deutschen Fassung des EU-Vertrags verwendet wird, der Sache nach als zu eng. Gemeint ist jedenfalls, wie es die englische Vertragsfassung mit der Wendung von der „rule of law“ besser zum Ausdruck bringt, dass auch für die EU jene Forderung gelten muss, die mit der Formel von der „Herrschaft des Rechts“ umschrieben werden kann. 2. Komplexität der Aufgabe Von großer Komplexität ist allerdings die Aufgabe, diese Rechtsstaatlichkeit der EU des Näheren zu gewährleisten. So zielt zwar die Forderung nach der „Herrschaft des Rechts“ ganz allgemein auf die Klarheit und Verlässlichkeit des Rechts sowie auf die Transparenz und Berechenbarkeit des Handelns öffentlicher Hoheitsträger. Das zentrale Anliegen dieser Forderung ist aber erkennbar Bürgerschutz. Das wird deutlich, wenn man ihre implizite negative Komponente ausformuliert. Danach dürfen die Bürger nicht willkürlichem Handeln der Hoheitsträger ausgeliefert sein. Was heißt es jedoch positiv, dass an die Stelle einer „Herrschaft der Willkür“ die „Herrschaft des Rechts“ treten soll? Dafür genügt eine bloße Bindung der Hoheitsträger „an das Recht“ nicht; erforderlich ist vielmehr – damit das Recht nicht seinerseits als Instrument hoheitlicher Willkür missbraucht werden kann – darüber hinaus eine Bindung „des Rechts selbst“ an

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grundlegende Gerechtigkeitsvorstellungen zum Schutze der Bürger. Zur formellen muss also die materielle Rechtsstaatlichkeit hinzutreten. Im vorliegenden Zusammenhang geht es somit darum, dass auch in dem politischen Gemeinwesen „Europäische Union“ Hoheitsgewalt nur aufgrund des Rechts und im Rahmen des Rechts ausgeübt werden darf und dass hierdurch auch in der Union ein Rechtszustand sichergestellt werden soll, der den Anforderungen der Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit gerecht wird. Angesichts dieser komplexen Zielsetzung bildet das unionsrechtliche Rechtsstaatlichkeitsgebot nicht etwa eine fertige und klare Rechtsregel, die schlicht zu befolgen wäre. Kennzeichnend für dieses Gebot sind vielmehr seine Offenheit für unterschiedliche Abwägungen zwischen widerstreitenden Anforderungen und seine auf Anpassungen und Weiterentwicklungen drängende Eigendynamik. In diesem Sinne enthält das unionsrechtliche Rechtsstaatlichkeitsgebot einen dauerhaften Gestaltungsauftrag an alle für das Primär- und das Sekundärrecht in der EU verantwortlichen Rechtsträger und Organe, in ihrem laufenden Zusammen- und Gegenspiel die Rechtsordnung der Europäischen Union rechtsstaatlich zu prägen und fortzubilden.1 III. Grundsätzliche Gewährleistung des Rechtsstaatlichkeitsgebots Die Frage, inwieweit das Unionsrecht das Rechtsstaatlichkeitsgebot als solches gewährleistet, hat erhebliches Gewicht, selbst wenn es immer wieder zur Herausbildung spezieller rechtsstaatlicher Anforderungen kommt. Dem allgemeinen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verbleiben nämlich auch im Verhältnis zu solchen Spezialausprägungen noch wichtige Funktionen als Leitprinzip und als Reservemaßstab in Gültigkeits- und Auslegungsfragen sowie als Quelle neuer Spezialausprägungen. Allerdings fand sich im Text der Gründungsverträge zur europäischen Integration aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch keine Rechtsstaatlichkeitsgewährleistung allgemeiner Art. Trotzdem hat der EuGH in seiner Rechtsprechung alsbald – über einzelne rechtsstaatliche Anforderungen hinaus – auch die Rechtsstaatlichkeit als solche zum ungeschriebenen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts erklärt,2 und er hat aus seiner dabei zugrunde gelegten Charakterisierung der EG als „Rechtsgemeinschaft“ wichtige Schlussfolgerungen etwa im Sinne der Eröffnung ungeschriebener neuer Rechtsschutzmöglichkeiten gezogen.3 1 Vgl. dazu allg. Scheuing, Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit im Recht der Europäischen Union, in: Schwarze (Hrsg.), Bestand und Perspektiven des Europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 45 ff.; ders., Rechtsstaatlichkeit, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 6. 2 Vgl. schon EuGH, 13. 2. 1979, Granaria, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 5. 3 Vgl. z. B. EuGH, 23. 4. 1986, Les Verts, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; EuGH, 13. 7. 1990, Zwartveld I, Rs. C-2/88 Imm., Slg. 1990, I-3365, Rn. 16 ff., 24; EuGH, 19. 11. 1991, Francovich, Rsn. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 31 ff.; EuGH, 23. 3. 1993, Weber, Rs. C-314/91, Slg. 1993, I-1093, Rn. 8. Vgl. ferner aus neuerer Zeit z. B. EuGH, 18. 1. 2007,

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In das geschriebene Primärrecht aufgenommen wurde das Rechtsstaatlichkeitsgebot als solches erst durch den Amsterdamer Vertrag mit Wirkung ab 1. Mai 1999.4 Diese Gewährleistung entpuppte sich indessen bei näherem Zusehen noch als höchst unvollkommen. Zwar sprach seither Art. 6 Abs. 1 EU volltönend die Verpflichtung der gesamten EU auf die Rechtsstaatlichkeit aus; nach dem damaligen Art. 46 EU erstreckte sich aber die Gerichtsbarkeit des EuGH und des EuG nicht auf die Verfassungsprinzipien dieses Art. 6 Abs. 1 EU.5 Praktisch erschöpfte sich deshalb die effektive Gewährleistung des Rechtsstaatlichkeitsgebots weiterhin in der richterrechtlichen Anerkennung seiner Geltung für den Bereich des Gemeinschaftsrechts. Eine wichtige Änderung hat dann jedoch der Vertrag von Lissabon gebracht. Der durch diesen Vertrag neugefasste Art. 2 EUV zählt die Rechtsstaatlichkeit ausdrücklich zu den Werten, auf die sich die Union gründet und die jetzt auch – anders als die Grundsätze des früheren Art. 6 Abs. 1 EU – für die Unionsgerichtsbarkeit rechtsverbindliche Prüfungsmaßstäbe darstellen.6 Der Vertrag von Lissabon hat somit endlich das Rechtsstaatlichkeitsgebot als solches zum justiziablen Bestandteil des geschriebenen Primärrechts gemacht, sodass sich nunmehr der Rückgriff auf seine richterrechtliche Anerkennung erübrigt. IV. Inhaltliche Entfaltung des Rechtsstaatlichkeitsgebots Ferner kam es – und kommt es weiterhin – im Zuge der Rechtsprechungsentwicklung und sukzessiver Vertragsänderungen zu jener vielgestaltigen inhaltlichen Entfaltung des unionsrechtlichen Rechtsstaatlichkeitsgebots, die nunmehr durch Art. 2 EUV gefordert und garantiert wird und die hier nur in Stichworten angedeutet werden kann. 1. Formelle und materielle Rechtsstaatlichkeit So finden sich mittlerweile im Recht der EU die formelle und die materielle Rechtsstaatlichkeit in markanter Weise widergespiegelt.

PKK, Rs C-229/05 P, Slg. 2007, I-439, Rn. 109; EuGH, 3. 9. 2008, Kadi, Rsn. C-402/05 P u. a., Slg. 2008, I-6351, Rn. 281. 4 Vgl. Art. 6 Abs. 1 HS 1 EU i. d. F. ab 1. 5. 1999; vgl. freilich auch schon das in der Präambel zum EU-Vertrag i. d. F. des Maastrichter Vertrags enthaltene Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit. 5 Vgl. dazu z. B. Krück in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., Bd. I, 2003, Art. 46, Rn. 21 f. 6 Vgl. die nunmehrige Nichtausblendung des Art. 2 EUV aus der Kontrollzuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit nach Art. 19 EUV und Art. 251 ff. AEUV.

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a) Formelle Rechtsstaatlichkeit Was die gebotene Rechtsförmlichkeit hoheitlichen Handelns und verlässliche Orientierung durch Recht angeht, so haben dank der Rechtsprechung des EuGH und des EuG Forderungen wie der Gesetzesvorbehalt und der Gesetzesvorrang7 sowie das Bestimmtheitsgebot,8 das Rückwirkungsverbot9 und der Grundsatz des Vertrauensschutzes10 schon bald als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze Eingang in das Unionsrecht gefunden und dort ihre je eigene Ausprägung erhalten.11 Vergleichbares gilt für das Rechtsstaatlichkeitserfordernis interner Strukturierung des Rechts, eingelöst im Unionsrecht durch die Konstruktion einer Normenhierarchie zwischen dem Primär- und Sekundärrecht.12 Darüber hinaus hat der EuGH in einer – juristisch gesehen – geradezu revolutionären Rechtsprechung eine zusätzliche hier-

7 Vgl. z. B. EuGH, 29. 3. 1979, NTN, Rs. 113/77, Slg. 1979, 1185, Rn. 21; EuGH, 21. 9. 1989, Hoechst, Rsn. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 19; EuGH, 12. 5. 1998, Großbritannien/Kommission (Aktionsprogramm gegen soziale Ausgrenzung), Rs. C-106/96, Slg. 1998, I-2729, Rn. 26; EuGH, 3. 5. 2007, Advocaten voor de Wereld, Rs. C-303/05, Slg. 2007, I- 3633, Rn. 46. 8 Vgl. z. B. EuGH, 18. 11. 1987, Maizena, Rs. 137/85, Slg. 1987, 4587, Rn. 15; EuG, 22. 1. 1997, Opel Austria, Rs. T-115/94, Slg. 1997, II-39, Rn. 124; EuGH, 16. 10. 1997, Banque Indosuez, Rs. C-177/96, Slg. 1997, I-5659, Rn. 27; EuGH, 13. 5. 2003, Kommission/Spanien (Goldene Aktien), Rs. C-463/00, Slg. 2003, I-4581, Rn. 74 f.; EuGH, 17. 7. 2008, ASM Brescia, Rs. C-347/06, Slg. 2008, I-5641, Rn. 69. 9 Vgl. z. B. EuGH, 25. 1. 1979, Racke, Rs. 98/78, Slg. 1979, 69, Rn. 20.; EuGH, 13. 11. 1990, Fedesa, Rs. C-331/88, Slg. 1990, I-4023, Rn. 44; EuG, 20. 11. 2002, Lagardre, Rs. T251/00, Slg. 2002, II-4825, Rn. 139 ff.; EuGH, 26. 4. 2005, „Goed Wonen“, Rs. C-376/02, Slg. 2005, I-3445, Rn. 33; EuGH, 28. 6. 2005, Dansk Rørindustri, Rsn. C-189/02 P u. a., Slg. 2005, I-5425, Rn. 202; EuGH, 8. 2. 2007, Groupe Danone, Rs. C-3/06 P, Slg. 2007, I-1331, Rn. 68; EuGH, 11. 12. 2008, Kommission/Freistaat Sachsen (KMU-Beihilfen), Rs. C-334/07 P, Slg. 2008, I-9465, Rn. 43. 10 Vgl. z. B. EuGH, 3. 3. 1982, Alpha Steel, Rs. 14/81, Slg. 1982, 749, Rn. 10; EuGH, 28. 4. 1988, von Deetzen, Rs. 170/86, Slg. 1988, 2355, Rn. 15 f.; EuGH, 10. 1. 1992, Kühn, Rs. C-177/ 90, Slg. 1992, I-35, Rn. 13 ff.; EuGH, 15. 4. 1997, Rs. C-22/94, Irish Farmers, Slg. 1997, I-1809, Rn. 25; EuGH, 22. 6. 2006, Belgien u. Forum 187 ASBL/Kommission, Rsn. C-182/03 u. C-217/ 03, Slg. 2006, I-5479, Rn. 148 f., 163 ff.; EuGH, 7. 9. 2006, Spanien/Rat (Baumwollbeihilfe), Rs. C-310/04, Slg. 2006, I-7285, Rn. 81 ff.; EuGH, 21. 6. 2007, Rs. C-158/06 Stichting ROMprojecten, Slg. 2007, I-5103, Rn. 23 ff. 11 Näher zu den Kernforderungen unionsrechtlicher Rechtsstaatlichkeit z. B. von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 346 ff.; Epiney, in: Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 8. Aufl. 2009, § 8 Rn. 10; Lenaerts, „In the Union we trust“: trust-enhancing principles of Community law, CML Rev 41 (2004), 317 ff.; Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 10 Rn. 33 ff.; Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Std. Juli 2010, nach Art. 6 EUV, Rn. 388 ff.; Scheuing, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Fn. 1), Rn. 35 ff.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. LVII ff., 219 ff., 911 ff. 12 Vgl. z. B. EuGH, 21. 10. 1975, Petroni, Rs. 24/75, Slg. 1975, 1149, Rn. 11; EuG, 10. 7. 1990, Tetra Pak, Rs. T-51/89 Slg. 1990, II-309, Rn. 25. Vgl. dazu allg. Wölker, Die Normenhierarchie im Unionsrecht in der Praxis, EuR 2007, 32 ff.

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archische Stufung durch den von ihm postulierten Vorrang des Unionsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht eingeführt.13 Zu bedauern ist freilich, dass im Lissabonner Vertrag zwei – durchaus wünschenswerte – Fortentwicklungen zum Ausbau der Normenhierarchie gerade nicht vorgenommen, sondern unterlassen wurden. Vorgeschlagen worden war nämlich zum einen im Rahmen der Vorarbeiten zu dem – schließlich gescheiterten – Vertrag über eine Verfassung für Europa die Schaffung einer Rangabstufung innerhalb des Primärrechts durch Unterscheidung zwischen einem auch künftig nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten zu ändernden Grundlagenteil und einem fortan leichter abänderbaren Durchführungsteil.14 Dass der Lissabonner Vertrag nichts dergleichen eingeführt hat, sondern weiterhin grundsätzlich jede Primärrechtsänderung von der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten abhängig macht,15 ist verständlich, aber enttäuschend. Verständlich deshalb, weil die einzelnen Mitgliedstaaten offenbar nicht auf ihre jeweilige Vetomöglichkeit bei der Fortschreibung des Primärrechts verzichten wollten. Enttäuschend aber deshalb, weil damit kein Ausweg aus dem Dilemma gewiesen wird, wie denn in einer Union mit siebenundzwanzig oder mehr Mitgliedstaaten das Primärrecht künftig in angemessener Weise weiterentwickelt werden kann, ohne dass Verweigerungshaltungen oder gar Erpressungsversuche einzelner Mitgliedstaaten zu Blockaden führen. Zwar ist in den EUV eine Brückenklausel eingefügt worden, die den Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip zu Mehrheitsentscheidungen im Rat und von besonderen Gesetzgebungsverfahren zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erleichtern soll; selbst dabei bleibt aber immer noch jedem mitgliedstaatlichen Parlament ein Vetorecht vorbehalten.16 Zum anderen hat der Lissabonner Vertrag auch auf die noch im Verfassungsvertrag vorgesehene17 ausdrückliche Festschreibung des Vorrangs des Unionsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht verzichtet. Diese Rücksichtnahme vor allem auf das Vereinigte Königreich soll allerdings ausweislich der Schlussakte zum Lissabonner Vertrag den richterrechtlich entwickelten Vorrang nicht in Frage stellen.18

13 Vgl. z. B. EuGH, 15. 7. 1964, Costa /E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251; EuGH, 9. 3. 1978, Simmenthal, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 14 ff.; EuGH, 22. 10. 1998, IN.CO.GE.90, Rsn. C-10 bis 22/97, Slg. 1998, I-6307, Rn. 20 f. 14 Vgl. aus den Arbeiten des Verfassungskonvents z. B. CONV 728/03 vom 26. 5. 2003, S. 10 f. 15 Vgl. Art. 48 Abs. 4 UAbs. 2 und Abs. 6 UAbs. 2 S. 3 EUV. 16 Vgl. Art. 48 Abs. 7 EUV. 17 Vgl. dazu Art. I-6 des – letztlich nicht zustande gekommenen – Vertrags über eine Verfassung für Europa vom 29. 10. 2004 (ABl. 2004 C 310 vom 16. 12. 2004). 18 Vgl. die Erklärung zum Vorrang, aufgeführt als Nr. 17 der Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat.

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b) Materielle Rechtsstaatlichkeit Neben der formellen Rechtsstaatlichkeit wurde auch die materielle Rechtsstaatlichkeit zusehends entfaltet. Entsprechende Garantien bieten vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Unionsgrundrechte. Im Vertragsrecht erscheint der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zunächst als bloßes Regulativ föderativer Kompetenzverteilung;19 insofern hat er, soweit ersichtlich, bisher wenig bewirkt. Darüber hinaus bildet er aber nach der Rechtsprechung seit langem auch – als ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz – einen selbstständigen rechtsstaatlichen Prüfungsmaßstab des Unionsrechts für belastende Maßnahmen gegenüber Bürgern und Unternehmen.20 Im Unionsrecht genügt eigentlich für den Schutz der Bürger und Unternehmen die objektiv-rechtliche Begünstigungswirkung dieses Rechtsgrundsatzes.21 Zunehmend hat der EuGH jedoch seine Verhältnismäßigkeitsüberlegungen in Grundfreiheitsprüfungen und Grundrechtsprüfungen eingebaut.22 Dementsprechend hat auch der Lissabonner Vertrag für eine weitere Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Primärrecht gesorgt: Die Grundrechtecharta lässt nunmehr Grundrechtseinschränkungen stets nur „unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ zu.23 Was die Grundrechte betrifft, so war aus rechtsstaatlicher Sicht der vom EuGH seit 1964 für das Gemeinschaftsrecht beanspruchte Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht auf Dauer nur haltbar, wenn das Gemeinschaftsrecht seinerseits – trotz des Fehlens von Grundrechtsnormierungen in den Verträgen – als grundrechtsunterworfen und grundrechtsschützend zu verstehen war.24 Dementsprechend hat der EuGH mit seiner 1969 begonnenen Rechtsprechung über die Geltung ungeschriebener Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeiner Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts25 eine rechtsstaatlich bedenkliche Grundrechtsschutzlücke geschlossen.26 Dieser richter19

Vgl. früher Art. 5 Abs. 3 EG, jetzt Art. 5 Abs. 4 EUV. Vgl. z. B. EuGH, 11. 7. 1989, Schräder, Rs. 265/87, Slg. 1989, 2237, Rn. 21; EuGH, 11. 11. 2004, Toeters, Rs. C-171/03, Slg. 2004, I-10945, Rn. 51; EuGH, 7. 9. 2006, Spanien/Rat (Baumwollbeihilfe), Rs. C-310/04, Slg. 2006, I-7285,Rn. 97. 21 Vgl. dazu Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, 3, 25 ff.; Mayer, in: Grabitz/Hilf /Nettesheim (Fn. 11), Rn. 388. 22 Vgl. dazu nur für die Grundfreiheiten seine „Gebhard-Formel“ (EuGH, 30. 11. 1995, Gebhard, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37) sowie für die Grundrechte seine Grundrechtsschrankenformel (EuGH, 8. 4. 1992, Kommission/Deutschland: Arzneimitteleinfuhren, Slg. 1992, I-2575, Rn. 23). 23 Vgl. Art. 52 Abs. 1 Grundrechtecharta. 24 Vgl. z. B. Coppel/ONeill, The European Court of Justice: Taking rights seriously, CML Rev. 29 (1992), S. 669; Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 107 f. 25 Vgl. EuGH, 12. 11. 1969, Stauder, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419. 26 Vgl. dazu allg. z. B. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, und die Beiträge über die Grundrechte der Europäischen Union in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009. 20

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rechtliche Grundrechtsschutz wurde durch den Maastrichter Vertrag mit Wirkung ab 1. November 1993 primärrechtlich abgesichert27 und bleibt selbst nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags weiterhin möglich.28 Mit dem letzteren Vertrag sind jedoch geschriebene unionsrechtliche Grundrechtsgewährleistungen in den Vordergrund des Interesses getreten. In der Tat hat nun die materielle Rechtsstaatlichkeit der Union dadurch eine nachhaltige Stärkung erfahren, dass der Lissabonner Vertrag die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum rechtsverbindlichen Bestandteil des Primärrechts erklärt hat.29 Infolgedessen kann sich der Grundrechtsschutz in der Union jetzt auf einen umfassenden und modernen Katalog geschriebener Unionsgrundrechte stützen, die zum Teil sogar deutlich über das bisherige Richterrecht im Grundrechtsbereich hinausgehen und Ansatzpunkte für neue Entwicklungen bieten. Das bedeutet einen großen rechtsstaatlichen Gewinn, der durch verbleibende Unklarheiten – etwa hinsichtlich der Grundrechtsschranken30 – nicht entscheidend gemindert wird. 2. Prozedurale und strukturelle Rechtsstaatlichkeit Zu Verdeutlichungszwecken besonders erwähnt zu werden verdienen prozedurale und strukturelle Rechtsstaatlichkeitsgarantien, auch wenn sie – ebenso wie die danach zu erörternden Schutzmechanismen – bloße Unterformen der formellen und materiellen Rechtsstaatlichkeit bilden. a) Prozedurale Rechtsstaatlichkeit Prozeduralen Schutz bieten rechtsstaatliche Garantien fairer Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, wie sie von der Rechtsprechung – zum Teil schon sehr früh – entwickelt wurden. Spezialausprägungen hiervon sind etwa der Anspruch auf rechtliches Gehör,31 das Gebot zur Respektierung der Verteidigungsrechte,32 der Grundsatz 27

Vgl. den damaligen Art. F Abs. 2 EUV (nach Änderung dann Art. 6 Abs. 2 EU). Vgl. jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV. 29 Art. 6 Abs. 1 EUV i.V.m. der Grundrechtecharta. Zu der Charta z. B. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010; Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 11), Rn. 30 ff.; Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006 (3. Aufl. in Vorbereitung); Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006. 30 Vgl. dazu insbesondere Art. 52 Grundrechtecharta. 31 Vgl. z. B. EuGH, 4. 7. 1963, Alvis, Rs. 32/62, Slg. 1963, 107, 123 f.; EuGH, 23. 10. 1974, Transocean Marine Paint, Rs. 17/74, Slg. 1974, 1063, Rn. 15; EuGH, 10. 7. 1986, Belgien/ Kommission (Kapitalbeteiligung), Rs. 40/85, Slg. 1986, 2321, Rn. 28; EuGH, 22. 11. 1991, TU München, Rs. C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14 und 23 ff.; EuGH, 19. 1. 2006, Comunit montana della Valnerina, Rs. C-240/03 P, Slg. 2006, I-731, Rn. 129; EuGH, 18. 12. 2008, Soprop, Rs. C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Rn. 37. 32 Vgl. z. B. EuGH, 18. 5. 1982, AM & S, Rs. 155/79, Slg. 1982, 1575, Rn. 18 ff.; EuGH, 21. 9. 1989, Hoechst, Rsn. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 16; EuGH, 28. 3. 2000, 28

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angemessener Dauer von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren33 und das Recht auf Akteneinsicht.34 Der Lissabonner Vertrag hat die prozedurale Rechtsstaatlichkeit weithin durch Normierung entsprechender Grundrechte bestätigt und abgesichert.35 Darüber hinaus hat dieser Vertrag einschlägige Neuerungen eingeführt wie die Öffentlichkeit der Ratssitzungen, soweit der Rat über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt,36 und im Rahmen der Grundrechtecharta etwa das entwicklungsfähige „Recht auf eine gute Verwaltung“.37 b) Strukturelle Rechtsstaatlichkeit Strukturelle Rechtsstaatlichkeit gebietet sich angesichts der Erkenntnis, dass Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenmonismus sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Gewaltenteilung ist daher ein auch dem Unionsrecht innewohnendes Grundpostulat der Rechtsstaatlichkeit; formuliert wird es vom EuGH als Forderung nach einem „institutionellen Gleichgewicht“ zwischen den Unionsorganen.38 Beispielsweise hat der Gerichtshof zur Sicherung des institutionellen Gleichgewichts einen ungeschriebenen Wesentlichkeitsvorbehalt entwickelt, wonach die vom Vertrag zur Rechtsetzung berufenen Unionsorgane alle wesentlichen Elemente der jeweiligen Materie in dem vertraglich dafür vorgesehenen Verfahren selbst zu regeln haben und nur Durchführungsregelungen den einzelnen Organen zur ergänzenden Normierung in abweichenden Verfahren überlassen können.39 Einen ausdrücklichen Wesentlich-

Krombach, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 38 ff.; EuGH, ARBED, Rs. C-176/99 P, Slg. 2003, I-10687, Rn. 19; EuGH, 9. 7. 2009, Archer Daniels Midland, Rs. C-511/06 P, Slg. 2009, I-5843, Rn. 84 f. ; EuGH, 3. 9. 2009, Koehler, Rsn. C-322/07 P u. a., Slg. 2009, I7191, Rn. 34 ff. 33 Vgl. z. B. EuGH, 17. 12. 1998, Baustahlgewebe, Rs. 185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 26 ff.; EuGH, 15. 10. 2002, Limburgse Vinyl, Rsn. C-238/99 P u. a., Slg. 2002, I-8375, 8685 Rn. 179 ff; EuGH, 16. 7. 2009, DSD, Rs C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Rn. 183 und 195. 34 Vgl. z. B. EuGH, 9. 11. 1983, Michelin, Rs 322/81, Slg. 1983, 3461, Rn. 5 ff.; EuGH, 15. 10. 2002, Limburgse Vinyl, Rsn. C-238/99 P u. a., Slg. 2002, I-8375, 8719, Rn. 315 ff.; EuGH, 7. 1. 2004, Aalborg, Rsn. C-204/00 P u. a., Slg. 2004, I-123, Rn. 68 ff. 35 Vgl. z. B. für das Recht auf Entscheidung binnen angemessener Frist in Verwaltungsverfahren Art. 41 Abs. 1 und in Gerichtsverfahren Art. 47 Abs. 1 Grundrechtecharta. 36 Vgl. Art. 16 Abs. 8 EUV und Art. 15 Abs. 2 AEUV. 37 Vgl. Art. 41 Grundrechtecharta. 38 Vgl. schon EuGH, 29. 10. 1980, Roquette, Rs. 138/79, Slg. 1980, 333, Rn. 37. 39 Vgl. z. B. EuGH, 10. 5. 1995, Parlament/Rat (Unterstützung der ehemaligen Staaten der Sowjetunion), Rs. C-417/93, Slg. 1995, I-1185, Rn. 30; EuGH, 13. 7. 1995, Parlament/Kommission (ökologischer Landbau), Rs. C-156/93, Slg. 1995, I-2019, Rn. 18; EuGH, 6. 12. 2005, Großbritannien/Parlament und Rat (Verordnung über Raucharomen), Rs. C-66/04, Slg. 2005, I10553, Rn. 48.

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keitsvorbehalt dieser Art enthält das Primärrecht nunmehr für delegierende Gesetzgebungsakte.40 3. Gerichtliche und außergerichtliche Schutzmechanismen Last, but not least verlangt eine angemessene Ausgestaltung der Rechtsstaatlichkeit auch wirksame Schutzmechanismen gerichtlicher und außergerichtlicher Art. a) Gerichtliche Schutzmechanismen Der Schwerpunkt liegt bei gerichtlichen Schutzmechanismen. Zu Recht betont der EuGH daher in seiner Rechtsprechung den „allgemeinen Grundsatz, dass der Einzelne … Anspruch auf einen umfassenden und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz hat“.41 Der Grundsatz ist jetzt auch in der Grundrechtecharta als Grundrecht ausgewiesen.42 Diesen unionsrechtlichen Rechtsschutzanspruch zu erfüllen, ist nicht allein Aufgabe der Unionsgerichte, sondern auch der mitgliedstaatlichen Gerichte; aus diesem Grunde verpflichtet das Primärrecht die Mitgliedstaaten ausdrücklich zur Schaffung der „erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“43 Was des Näheren die Unionsebene angeht, so hat der EuGH etwa aus dem Wesen der Rechtsgemeinschaft ungeschriebene Klagemöglichkeiten für und gegen das Europäische Parlament hergeleitet, die erst nachträglich im Vertragstext verankert wurden.44 Auch erkennt er Rechtshilfeersuchen als zulässig an, obwohl sie der Vertragstext bis heute nicht vorsieht.45 In merkwürdigem Gegensatz hierzu steht seine restriktive Auslegung des Zulässigkeitserfordernisses individueller Betroffenheit bei Nichtigkeitsklagen, die von natürlichen und juristischen Personen vor der Unionsgerichtsbarkeit gegen Unionsrechtsakte allgemeiner Geltung erhoben werden.46 Eine liberalere Handhabung 40

Vgl. Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV. EuGH, 3. 5. 1996, Deutschland/Kommission (Maxhütte), Rs. C-355/95 R, Slg. 1996, I2441, Rn. 46. 42 Vgl. Art. 47 Grundrechtecharta. 43 Vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. 44 Vgl. z. B. EuGH, 23. 4. 1986, Les Verts, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; EuGH, 4. 10. 1991, Parlament/Rat (Post-Tschernobyl I), Rs. C-70/88, Slg. 1990, I-2041, Rn. 22 ff.; EuGH, 23. 3. 1993, Weber, Rs. C-314/91, Slg. 1993, I-1093, Rn. 8. Erst der Maastrichter Vertrag hat – durch Änderung des damaligen Art. 173 EWGV – entsprechende Klagerechte mit Wirkung ab 1. 11. 1993 im Vertragstext normiert; vgl. jetzt Art. 263 AEUV. 45 Vgl. EuGH, 13. 7. 1990, Zwartveld I, Rs. C-2/88 Imm., Slg. 1990, I-3365; EuGH, 13. 7. 1990, Zwartveld II, Rs. C-2/88 Imm., Slg. 1990, I-4405. 46 Beginnend mit EuGH, 15. 7. 1963, Plaumann, Rs. 25/62, Slg. 1963, 211. 41

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wäre hier ohne weiteres schon vor dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags möglich gewesen.47 Dahingehende Forderungen sind jedoch seinerzeit am EuGH gescheitert, der in seinen Urteilen zu den Fällen „Unin de pequeÇos agricultores“ von 2002 und „Jgo-Qur“ von 2004 zu Unrecht die Notwendigkeit vorheriger Vertragsänderung geltend gemacht hat.48 Unterdessen hat der Lissabonner Vertrag für eine begrenzte, in ihrem Ausmaß freilich unklare Lockerung gesorgt. Danach hängt nun die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen natürlicher und juristischer Personen vor der Unionsgerichtsbarkeit gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, nicht mehr von der individuellen, sondern nur noch von der unmittelbaren Betroffenheit der Kläger ab.49 Folglich könnte man meinen, dass jetzt entsprechender Rechtsschutz gegen alle nicht durchführungsbedürftigen Unionsverordnungen zulässig sein müsste.50 Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der AEUV anderwärts Sekundärrechtsakte, die in einem vertraglich vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, als „Gesetzgebungsakte“ bezeichnet und davon „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“ unterscheidet.51 Von daher könnte man – im Zusammenhang mit der Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen – unter Rechtsakten „mit Verordnungscharakter“ auch lediglich Verordnungen ohne Gesetzescharakter verstehen.52 Dann wäre die im Fall „JgoQur“ sichtbar gewordene Rechtsschutzlücke53 allerdings durch den Lissabonner Vertrag nur unvollkommen geschlossen worden, und eine Öffnung auch für Verordnungen mit Gesetzescharakter bliebe weiterhin ein wichtiges rechtsstaatliches Anliegen. Überzeugender hat der EuGH reagiert, als sich neuartige Herausforderungen an die Rechtsstaatlichkeit der EU im Zeichen des Kampfes gegen den Terrorismus stellten. So hatte der Rat der EU zur Ausführung entsprechender UNO-Resolutionen gemeinsame Standpunkte beschlossen – und teilweise ergänzende Verordnungen erlassen – über das Einfrieren der Konten bestimmter, in diesen Rechtsakten namentlich aufgeführter Personen und Organisationen wegen Terrorismusverdachts. In seinem Urteil „Kadi“ von 2008 hat der EuGH – anders als zuvor das EuG in derselben An-

47 Vgl. dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 31. 3. 2002 zum Fall Unin de pequeÇos agricultores, Slg. 2002, I-6719, und das Urteil EuG, 3. 5. 2002, Jgo-Qur, Rs. T177/01, Slg. 2002, II-2365. 48 EuGH, 25. 7. 2002, Unin de pequeÇos agricultores, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 45; EuGH, 1. 4. 2004, Jgo-Qur, Rs. C-263/02 P, Slg. 2004, I-3425, Rn. 36 f. 49 Vgl. Art. 263 Abs. 4 AEUV. 50 In diesem Sinne z. B. Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 71, 74. 51 Vgl. Art. 289 Abs. 3 und 290 Abs. 1 AEUV. 52 In diesem Sinne z. B. Hatje/Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung? NJW 2008, 1761, 1767; Thiele, Das Rechtsschutzsystem nach dem Vertrag von Lissabon – (K)ein Schritt nach vorn?, EuR 2010, 30,44; Wegener, Rechtsstaatliche Vorzüge und Mängel der Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten, EuR 2008, Beiheft 3, 45, 53. 53 Vgl. dazu oben Fn. 47.

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gelegenheit54 – auch für den Fall, dass die betreffende UNO-Resolution die Aufnahme des Klägers in die Namensliste der Ratsverordnung zwingend vorgeschrieben hatte, keinen Anlass gesehen, seine Kontrolle über die Ratsverordnung einzuschränken oder gar ganz zu verneinen; vielmehr hat er die fragliche Ratsverordnung in vollem Umfang an den Unionsgrundrechten gemessen und sie, soweit sie den Kläger betraf, wegen Verletzung rechtsstaatlicher Grundrechtsgewährleistungen wie der Ansprüche auf rechtliches Gehör und auf effektiven Rechtsschutz sowie der Eigentumsgarantie für nichtig erklärt.55 Ungelöst geblieben ist hierbei allerdings der Konflikt mit der fortbestehenden gezielten Sanktionspflicht der EU kraft UNO-Rechts. Demgemäß hatte der EuGH übergangsweise das Fortbestehen der Listung des Klägers noch für drei Monate nach Urteilserlass angeordnet; innerhalb dieser Frist wurde der Kläger dann erneut in die Verordnungsliste aufgenommen, sodass er trotz seines Prozesserfolgs vor dem EuGH praktisch ohne Unterbrechung unionsrechtlich gelistet geblieben ist.56 Hieran zeigt sich, dass in solchen Fällen die eigentliche Lösung auf übergeordneter Ebene anzusetzen hat. Sie kann nur – und muss auch – in einer Reform des Rechts der UNO bestehen: Nachdem die UNO dazu übergegangen ist, restriktive Maßnahmen gegenüber Einzelpersonen und -organisationen zu beschließen, erscheint jetzt die Einführung geeigneten Individualrechtsschutzes für die Betroffenen auf der UNO-Ebene selbst aus rechtsstaatlichen Gründen unerlässlich. b) Außergerichtliche Schutzmechanismen Nicht jeder ist aber willens und imstande, den „Kampf ums Recht“ zu führen. Wichtig sind deshalb ergänzende außergerichtliche Schutzmechanismen auch auf Unionsebene, die nicht fristgebunden sind und dem Einzelnen keine Kostenlasten aufbürden. Das gilt etwa für die Petitionen zum Europäischen Parlament, deren Möglichkeit durch den Maastrichter Vertrag primärrechtlich abgesichert57 und durch den Amsterdamer Vertrag erweitert wurde.58 Ferner hat der Maastrichter Vertrag das Amt eines Europäischen Bügerbeauftragten geschaffen, an den sich die Bürger wenden

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EuG, 21. 9. 2005, Kadi, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649. EuGH, 3. 9. 2008, Kadi, Rsn. C 402/05 P u. a., Slg. 2008, I-6351. Vgl. dazu z. B. Ohler, Gemeinschaftsrechtlicher Rechtsschutz gegen personengerichtete Sanktionen des UN-Sicherheitsrats, EuZW 2008, 630 ff.; Kämmerer, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall „Kadi“: Ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit?, EuR 2009, 114 ff.; Schmalenbach, Bedingt kooperationsbereit: Der Kontrollanspruch des EuGH bei gezielten Sanktionen der Vereinten Nationen, JZ 2009, 35 ff. 56 Vgl. EuGH, 3. 9. 2008, Kadi, Rsn. C 402/05 P u. a., Slg. 2008, I-6351, Rn. 373 ff., und die VO (EG) Nr. 1190/2008 der Kommission, ABl.EU 2008 L 322, S. 25. 57 Durch Einführung der Art. 8d Abs. 1 und 138d EG-Vertrag (dann Art. 21 Abs. 1 und 194 EG); vgl. jetzt Art. 24 Abs. 2 und 227 AEUV. 58 Durch Einführung des Art. 21 Abs. 3 EG; vgl. jetzt Art. 24 Abs. 4 AEUV. 55

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können, damit er Missständen bei den Unionsinstitutionen nachgeht und auf ihre Behebung hinwirkt.59 V. Erweiterte Anwendung des Rechtsstaatlichkeitsgebots Das unionsrechtliche Rechtsstaatlichkeitsgebot erfährt aber nicht nur zunehmende inhaltliche Entfaltung; hinzu treten vielmehr auch bedeutsame Tendenzen zu erweiterter Anwendung dieses Gebots. 1. Tragweite des Rechtsstaatlichkeitsgebots auf Unionsebene Hervorzuheben sind zunächst einmal Ausdehnungen der effektiven Tragweite des Rechtsstaatlichkeitsgebots auf der Ebene der Europäischen Union. Zwar beanspruchte das Rechtsstaatlichkeitsgebot jedenfalls seit seiner ausdrücklichen Normierung durch den Amsterdamer Vertrag mit Wirkung ab 1. Mai 1999 Geltung für die gesamte damalige EU, also nicht nur für deren ersten Pfeiler (EG), sondern auch für den zweiten Pfeiler (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und für den dritten Pfeiler (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen). Dieser Geltungsanspruch war aber nicht nur dadurch gehemmt, dass es der Normierung als solcher bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags an Justiziabilität fehlte.60 Vielmehr war auch ein Ausgleich durch rechtsstaatlichkeitsfreundliches Richterrecht nur in den herkömmlichen Bereichen des ersten Pfeilers möglich. Hingegen war die Kontrolle durch Unionsgerichte in den Bereichen des zweiten und des dritten Pfeilers – sowie in Bereichen, die durch den Amsterdamer Vertrag aus dem früheren dritten Pfeiler (Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres) in den ersten Pfeiler integriert worden waren – zunächst entweder ausgeschlossen oder stark eingeschränkt.61 Schrittweise wurde jedoch die unionsgerichtliche Kontrollzuständigkeit vorangetrieben, wenngleich sie immer noch nicht in umfassender Weise gewährleistet ist. a) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik So blieb es zwar auch nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags den Unionsgerichten verwehrt, die primärrechtliche Ausblendung der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) aus ihrer Kontrollzuständigkeit als solche zu beseitigen.62 Dennoch erachtete sich der EuGH für zuständig, vom Rat der EU erlassene 59 Vgl. zunächst Art. 8d Abs. 2 und 138e EWGV (dann Art. 21 Abs. 2 und 195 EG); jetzt Art. 24 Abs. 3 und 228 AEUV. 60 Vgl. dazu oben bei Fn. 5. 61 Vgl. zu den damaligen Ausgrenzungen und Einschränkungen, die zugleich erhebliche Abstriche an der Rechtsstaatlichkeit der EU bedeuteten, Art. 35 und 46 EU sowie Art. 68 EG. 62 Vgl. dazu die frühere Nichterwähnung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Art. 46 EU.

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GASP-Maßnahmen daraufhin zu überprüfen, ob diese nicht richtigerweise im Rahmen des ersten Pfeilers (EG) hätten ergehen müssen.63 Dementsprechend hat jetzt der Lissabonner Vertrag die Kompetenz der Unionsgerichte für Fragen der Grenzziehung zwischen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und anderen Unionszuständigkeiten ausdrücklich bestätigt.64 Ebenso hat er, was rechtsstaatlich unverzichtbar war, die Kontrollzuständigkeit dieser Gerichte für einschlägige restriktive Maßnahmen gegenüber Einzelpersonen und -organisationen bejaht.65 Im Übrigen hat der Lissabonner Vertrag aber die bisherige Freistellung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik von unionsgerichtlicher Kontrolle beibehalten.66 Von der Sache her ist diese Freistellung nicht einzusehen, da nichts dafür spricht, dass die Unionsgerichte bei ihrer Kontrolle nicht die nötige außenpolitische Handlungsfreiheit der Union respektieren würden. Insofern bleibt hier eine erhebliche rechtsstaatliche Schutzlücke, die der Schließung bedarf. b) Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Ferner bestanden lange Zeit einschneidende Kontrolleinschränkungen für den nunmehrigen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.67 Dadurch hat sich aber der EuGH nicht von der Prüfung abhalten lassen, ob Maßnahmen, die in diesem Bereich getroffen worden waren, nicht stattdessen auf EG-Zuständigkeiten zu stützen gewesen wären.68 Indem der Gerichtshof mit derartiger Begründung etwa den Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht mit Urteil von 2005 für nichtig erklärt hat, hat er die Regelung des Umweltstrafrechts der damals rechtsstaatlich stärker umhegten Gemeinschaftsrechtsetzung vorbehalten.69 Darüber hinaus hat der EuGH seine – ihm nach dem Amsterdamer Vertrag immerhin bereits zukommende – begrenzte Kontrollzuständigkeit im dritten Pfeiler70 dazu genutzt, 63 Vgl. z. B. EuGH, 20. 5. 2008, Kommission/Rat (Bekämpfung der Verbreitung von Waffen), Rs. C-91/05, Slg. 2008, I-3651. 64 Vgl. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 6 HS 2 i.V.m. Art. 40 EUV. 65 Vgl. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 6 HS 2 i.V.m. Art. 275 Abs. 2 AEUV. 66 Vgl. die jetzigen ausdrücklichen Ausgrenzungen in Art. 24 Abs. 2 UABs. 1 Satz 6 HS 1 EUV und in Art. 275 Abs. 1 AEUV. 67 Vgl. zu den seinerzeitigen Einschränkungen Art. 35 EU und 68 EG. 68 Vgl. z. B. EuGH, 12. 5. 1998, Kommission/Rat (Flughafentransit), Rs. C-170/96, Slg. 1998, I-2763. 69 EuGH, 13. 9. 2005, Kommission/Rat (Rahmenbeschluss über Umweltstrafrecht), Rs. C176/03, Slg. 2005, I-7879; vgl. dazu die Kommissionsmitteilung COM(2005) 583 final vom 23. 11. 2005 und z. B. Chaltiel, Une nouvelle avance de lide de souverainet europenne: La souverainet pnale en devenir, Revue du March commun et de lUnion europenne 2006, 24 ff.; Douma, Nichtigkeit des Rahmenbeschlusses über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, Zeitschrift für europäisches Umwelt- und Planungsrecht 2005, 250 ff.; Weiß, EC competence for environmental criminal law – An analysis of the judgment of the ECJ of 13. 9. 2005 in case C-176/03, Commission/Council, ZeuS 2006, 381 ff. 70 Vgl. Art. 35 und 46 Buchst. b EU.

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rechtsstaatliche Elemente der Gemeinschaftsrechtsordnung auch im dritten Pfeiler zu verankern, und zwar etwa durch sein Urteil „Pupino“ von 200571 sowohl das Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts als auch das Gebot primärrechtskonformer Auslegung des Sekundärrechts sowie durch sein Urteil von 2007 zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl72 den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ und das Gleichbehandlungsgebot. Inzwischen wurde darüber hinaus ein großer rechtsstaatlicher Fortschritt erzielt. Der Lissabonner Vertrag hat nämlich die Pfeilerstruktur als solche aufgelöst und dadurch dem Rechtsstaatlichkeitsgebot eine größere effektive Tragweite im Unionsrecht verliehen. In der Tat wagt dieser Vertrag, was den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angeht, den mutigen Schritt, alle bisherigen spürbaren Einschränkungen des Rechtsschutzes abzuschaffen; das allgemeine Rechtsschutzsystem des Unionsrechts und das unionsrechtliche Rechtsstaatlichkeitsgebot sind damit jetzt auch in diesem rechtsstaatlich besonders sensiblen Raum grundsätzlich in vollem Umfang anwendbar.73 Ausgenommen von der unionsgerichtlichen Kontrollkompetenz bleiben – nur und immerhin – die Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit mitgliedstaatlichen Sicherheits-, Polizei- und Strafverfolgungshandelns;74 überdies sind hier nach Maßgabe entsprechender Protokollvorbehalte die Unionsgerichte nicht zuständig, soweit Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich betroffen sind.75 2. Rechtsstaatlichkeitsanforderungen an die Mitgliedstaaten Eine erweiterte Anwendung des Rechtsstaatlichkeitsgebots ist außerdem insofern festzustellen, als das EU-Recht mittlerweile Rechtsstaatlichkeit nicht nur auf Unionsebene, sondern auch auf mitgliedstaatlicher Ebene zu gewährleisten sucht.

71 EuGH, 16. 6. 2005, Pupino, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I- 5285, mit Anmerkung Hillgruber, JZ 2005, 841 ff.; vgl. dazu auch z. B. M. Fletcher, Extending „indirect effect“ to the third pillar: the significance of Pupino, E.L.Rev. 30 (2005), 862 ff.; Peers, Salvation outside the church: Judicial protection in the third pillar after the Pupino and Segi judgments, CML Rev. 44 (2007), 883 ff.; W. Schroeder, Neues vom Rahmenbeschluss – ein verbindlicher Rechtsakt der EU, EuR 2007, 349 ff.; von Unger, Pupino: Der EuGH vergemeinschaftet das intergouvernementale Recht, NVwZ 2006, 46 ff. 72 EuGH, 3. 5. 2007, Advocaten voor de Wereld, Rs. C-303/05, Slg. 2007, I-3633; vgl. dazu z. B. Michalke, Urteilsanmerkung, EuZW 2007, 377 ff. 73 Vgl. die Art. 19 EUV und Art. 251 ff. AEUV, welche die in Fn. 67 erwähnten Einschränkungen nicht mehr enthalten. 74 Vgl. Art. 72 und 276 AEUV. 75 Vgl. dazu das Protokoll Nr. 19 über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand, das Protokoll Nr. 20 über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland, das Protokoll Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und das Protokoll Nr. 22 über die Position Dänemarks.

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a) Mitgliedstaatliches Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts So ist der EuGH dazu übergegangen, die von ihm zur Bindung der Unionsinstitutionen entwickelten rechtsstaatlichen Handlungsgrundsätze und Unionsgrundrechte zwar nicht schlechthin, wohl aber dann auf die Mitgliedstaaten zu erstrecken, wenn diese im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. Ein solches mitgliedstaatliches Handeln hat der EuGH vor allem für Fälle bejaht, in denen die Mitgliedstaaten entweder Unionsrecht durchführen oder aber Grundfreiheiten des Binnenmarkts einschränken.76 Allerdings hat der Lissabonner Vertrag diese Tendenz nicht nur nicht vorangetrieben, sondern sie im Chartabereich sogar partiell zurückgenommen. Für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten ist hier von Bedeutung, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach ihrem Art. 51 „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gelten soll.77 Nach der bisherigen Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten aber, wie erwähnt, an Unionsgrundrechte auch dann gebunden, wenn sie Grundfreiheiten des Binnenmarkts einschränken.78 Sollte die Chartaregelung als Streichung der letzteren Bindungskonstellation auszulegen sein, so könnte man das zwar deshalb noch als hinnehmbar ansehen, weil bei mitgliedstaatlichen Einschränkungen der Grundfreiheiten auch unabhängig von Grundrechtsfragen stets Verhältnismäßigkeitsüberlegungen anzustellen sind.79 Doch schiene damit zugleich die Entwicklung weiterer Konstellationen mitgliedstaatlicher Bindung an Unionsgrundrechte, wie sie der EuGH im Fall Steffensen von 2003 begonnen hat,80 künftig abgeschnitten. Das wäre bedauerlich, ist aber nicht zwingend. Bei genauerer Untersuchung lässt sich nämlich die genannte Chartabestimmung auch so verstehen, dass sie derartige Fortentwicklungen nicht ausschließt.81 Eine unbestreitbare Ausgrenzung enthält hingegen das dem Lissabonner Vertrag beigefügte Protokoll über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte 76 Vgl. z. B. EuGH, 13. 7. 1989, Wachauf, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609; EuGH, 18. 6. 1991, ERT, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925. Vgl. dazu z. B. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, S. 36 ff., 49 ff.; Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162, 163 ff.; auch in: ders., Europäisches öffentliches Recht, 2006, S. 118, 120 ff. 77 Art. 6 Abs. 1 EUV i.V.m. Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta. 78 So die EuGH-Rechtsprechung zu den Einschränkungskonstellationen beginnend mit EuGH, 18. 6. 1991, ERT, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925. 79 Vgl. dazu schon die „Gebhard-Formel“ in: EuGH, Gebhard, 30. 11. 1995, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37, und jüngst z. B. EuGH, 16. 3. 2010, Olympique Lyonnais, Rs. C-325/ 08, noch nicht in Slg., Rn. 45 ff. 80 EuGH, 10. 4. 2003, Steffensen, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735. 81 Vgl. dazu Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, 162, 182 ff.; auch in: ders., Europäisches öffentliches Recht, 2006, S. 118, 136 ff.

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Königreich.82 Danach bewirkt die Charta vor allem keine Ausweitung der Befugnis der Unionsgerichtsbarkeit und der Gerichte dieser beiden Mitgliedstaaten zu der Feststellung, dass das Recht dieser Mitgliedstaaten nicht mit der Charta in Einklang stehe.83 Diese grundrechtliche Sonderregelung für zwei Mitgliedstaaten erscheint sachlich nicht begründet, ist aber politisch gewollt. Ihre Tragweite ist allerdings unklar. Die Regelung wird zwar teilweise so verstanden, dass damit Polen und das Vereinigte Königreich ganz aus der Bindung an die Unionsgrundrechte herausgenommen würden. Nimmt man jedoch die Redeweise vom bloßen Ausschluss einer Befugnisausweitung ernst, so bleiben die beiden Mitgliedstaaten an die bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags richterrechtlich entwickelten Unionsgrundrechte gebunden, soweit diese in die Charta übernommen wurden.84 Ferner ist zu beachten, dass der Lissabonner Vertrag neben den geschriebenen Chartagrundrechten weiterhin ungeschriebene richterrechtliche Unionsgrundrechte und die Möglichkeit zu ihrer Fortentwicklung kennt.85 Von daher ist es auch denkbar, die Freistellung Polens und des Vereinigten Königreichs von den Chartagrundrechten als durch die fortbestehende Bindung dieser Mitgliedstaaten an die richterrechtlichen Unionsgrundrechte relativiert anzusehen.86 b) Allgemeine innerstaatliche Rechtsstaatlichkeit Weitergehend ist im Zuge der Verhandlungen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur EU das Bewusstsein dafür gewachsen, dass die Union nur dann als Rechtsgemeinschaft zu funktionieren vermag, wenn sie auf insgesamt rechtsstaatlich verfassten und handelnden Mitgliedstaaten aufbauen kann. Daher wird seit dem Amsterdamer Vertrag im Primärrecht hervorgehoben, dass der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist.87 Folgerichtig bildet seither auch die allgemeine innerstaatliche Achtung der Rechtsstaatlichkeit eine förmliche Voraussetzung

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Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich. Dieses Protokoll soll, wie anlässlich der tschechischen Ratifikation des Lissabonner Vertrags vereinbart wurde, beim Abschluss des nächsten Beitrittsvertrags auf die Tschechische Republik erstreckt werden; vgl. Ziff. I 2 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Rates (Dok. 15265/1/09 REV 1 CONCL 3 vom 1. 12. 2009) mit dem beigefügten Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik. 83 Art. 1 Abs. 1 des in Fn. 82 genannten Protokolls Nr. 30. Vgl. dazu z. B. Barnard, The ,opt-out for the UK and Poland from the Charter of Fundamental Rights: triumph of rhetoric over reality?, in: Griller/Ziller (eds.), The Lisbon Treaty, 2008, S. 257 ff. 84 So z. B. Pache/Rösch, Europäischer Grundrechtsschutz nach Lissabon – die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, EuZW 2008, 519, 520. 85 Vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV. 86 Gegen eine solche Annahme Hatje/Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung? NJW 2008, 1761, 1767. 87 Vgl. zunächst Art. 6 Abs. 1 EU; jetzt Art. 2 S. 2 EUV.

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des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zur EU.88 Gleichzeitig wurde dem Rat eine Sanktionsbefugnis gegenüber Staaten zuerkannt, die bereits die Mitgliedschaft erworben haben; der Rat ist ermächtigt, bei schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen der allgemeinen innerstaatlichen Rechtsstaatlichkeit durch einen Mitgliedstaat bestimmte Rechte dieses Mitgliedstaats auszusetzen.89 3. Externe Rechtsstaatlichkeitsanforderungen Eine zusätzliche Ausweitung ist schließlich durch externe Rechtsstaatlichkeitsanforderungen erfolgt. Unter diesem Stichwort seien hier sowohl nach außen gewandte als auch von außen kommende Rechtsstaatlichkeitsanforderungen zusammengefasst. a) Rechtsstaatlichkeitsanforderungen der Europäischen Union an Drittstaaten Nach außen gewandte Rechtsstaatlichkeitsanforderungen sind solche der EU an Drittstaaten. In der Tat erklärt das Primärrecht schon seit geraumer Zeit die Entwicklung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Drittstaaten zu einem Ziel des auswärtigen Handelns der Union90 und macht bestimmte Formen der Zusammenarbeit mit Drittstaaten von der Fortentwicklung und Festigung der Rechtsstaatlichkeit in diesen Ländern abhängig.91 Deshalb achtet die EU beim Abschluss von Kooperationsverträgen mit Drittstaaten darauf, dass in diese Verträge auch allgemeine Menschenrechtsund Demokratieklauseln aufgenommen werden; solche Klauseln ermöglichen freilich der EU nicht die aktive Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in Drittstaaten, sondern nur die Suspendierung oder Beendigung von Kooperationsverträgen bei Abkehr der Drittstaaten von diesen Vertragsgrundlagen.92

88 Vgl. zunächst Art. 49 EU; jetzt Art. 49 EUV. Vgl. dazu schon z. B. Luchterhand, in: Bruha/Hesse/Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa?, 2001, S. 125, 138 ff.; MüllerGraff in: Classen/Heiss/Suprn-Heidel (Hrsg.), Polens Rechtsstaat am Vorabend des EU-Beitritts, 2004, S. 1 ff. 89 Vgl. zunächst Art. 7 EU; jetzt Art. 7 EUV. Vgl. dazu z. B. Hau, Sanktionen und Vorfeldmaßnahmen zur Absicherung der europäischen Grundwerte, 2002; Serini, Sanktionen der Europäischen Union bei Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip, 2009. 90 Vgl. zunächst Art. J.1 Abs. 2 EUV (nach Änderung dann Art. 11 Abs. 1 EU); jetzt Art. 21 EUV. 91 Vgl. zunächst Art. 130 u Abs. 2 EGV (nach Änderung dann Art. 177 Abs. 2 EG) und Art. 181 a Abs. 1 UAbs. 2 EG; jetzt Art. 21 EUV i.V.m. Art. 208, 212 und 214 AEUV. 92 Vgl. dazu EuGH, 3. 12. 1996, Portugal/Rat: Kooperationsabkommen mit Indien, Rs C268/94, Slg. 1996, I-6177, Rn. 27.

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b) EMRK-Anforderungen an die Europäische Union Die EU sieht sich aber auch ihrerseits, wenngleich einstweilen noch indirekt, rechtsstaatlichen Anforderungen ausgesetzt, die von außen an sie gestellt werden. Schon seit geraumer Zeit wirken nämlich rechtsstaatliche Anforderungen aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf das Unionsrecht ein.93 Das gilt nicht nur in inhaltlicher Hinsicht; vielmehr ist auch der EMRK-Kontrollmechanismus für das Unionsrecht relevant. Freilich ist die EU bisher nicht Vertragspartei dieser Konvention und deshalb selbst nicht der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unterworfen. Indessen erlaubt die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten für ihr unionsbezogenes Handeln dem EGMR schon jetzt eine indirekte Kontrolle über das Unionsrecht, wie er sie in Verfahren gegen einzelne EU-Mitgliedstaaten – etwa in den Fällen „Matthews“94, „Bosphorus“95 und „Cooperatieve Producentenorganisatie“96 – auch durchaus für sich in Anspruch genommen hat. Diese Unterwerfung der Union unter von außen kommende Rechtsstaatlichkeitsanforderungen wird künftig erheblich verstärkt und im Unionsrecht selbst festgeschrieben werden. So wurde einerseits in das EMRK-Recht eine Öffnungsklausel eingefügt, die von der konventionsrechtlichen Seite her einen förmlichen Beitritt der EU zur EMRK ermöglicht.97 Andererseits hat der Lissabonner Vertrag neu festgelegt, dass die Europäische Union, vom Unionsrecht her gesehen, nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet ist, der EMRK beizutreten.98 Zwar errichtet das Unionsrecht dafür – eigentlich inkonsequenterweise – hohe verfahrensrechtliche Hürden, da Einstimmigkeit im Rat vorgeschrieben ist und der Beitrittsbeschluss des Rates von allen

93 Vgl. dazu näher Callewaert, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union, EuR 2008, Beiheft 3, 177 ff. 94 EGMR, 18. 2. 1999, Matthews, EuGRZ 1999, 200. Vgl. dazu z. B. Ch. Lenz, EuZW 1999, 311 ff.; Busch, Die Bedeutung der EMRK für den Grundrechtsschutz in der EU, 2003, S. 54 ff. Vgl. dazu ferner EuGH, 12. 9. 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich: EP-Wahlrecht in Gibraltar, Rs C-145/04, Slg. 2006, I-7917. 95 EGMR, 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197. Vgl. dazu z. B. Callewaert, Les voies de recours communautaires sous langle de la Convention europenne des droits de lhomme; la porte procdurale de larrÞt Bosphorus, in: FS Wildhaber, 2007, S. 115 ff.; Daiber, Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch den EGMR?, EuR 2007, 406 ff.; Douglas-Scott, CML Rev. 43 (2006), 243 ff.; Heer-Reißmann, Straßburg oder Luxemburg? Der EGMR zum Grundrechtsschutz bei Verordnungen der EG in der Rechtssache Bosphorus, NJW 2006, 192 ff.; Hinarejos Parga, Bosphorus v Ireland and the protection of fundamental rights in Europe, E.L.Rev. 31 (2006), 251 ff. 96 EGMR, 20. 1. 2009, Cooperatieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij, Nr. 13645/05, ECHR 2009. 97 Vgl. Art. 17 des Protokolls Nr. 14 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention. 98 Vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV.

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EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss;99 das fällt aber letztlich wohl nicht ins Gewicht, weil aus konventionsrechtlicher Sicht zu gegebener Zeit wegen notwendiger Konventionsänderungen und -ergänzungen ohnehin alle Konventionsstaaten – einschließlich aller EU-Mitgliedstaaten – dem EMRK-Beitritt der EU zustimmen müssen. Mit einmal erfolgtem Beitritt wird auch die Union als solche einer direkten Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterstehen. Das ist sehr zu begrüßen. Die Union wird dann zwar nicht mehr einfach „Herrin im eigenen Hause“ sein. Damit wird aber lediglich auch für die Union jene überzeugende Einsicht der Konventionsstaaten nachvollzogen werden, wonach interne Grundrechts- und Rechtsstaatlichkeitskontrollen nicht genügen, sondern der Ergänzung durch externe Kontrollen bedürfen. VI. Schlussbemerkung Abschließend ist festzuhalten, dass die Europäische Union sich der Rechtsstaatlichkeit als einer notwendigen und komplexen Gestaltungsaufgabe durchaus angenommen hat. Der Lissabonner Vertrag hat die Rechtsstaatlichkeit der Union in verschiedenen Hinsichten fortentwickelt. Verbleibende Probleme lassen jedoch zusätzliche Reformen geboten erscheinen. Außerdem werden immer wieder neue Herausforderungen auftreten. In diesem Sinne ist und bleibt die Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union auch nach dem Vertrag von Lissabon zugleich Errungenschaft und Auftrag.

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Vgl. Art. 218 Abs. 8 AEUV.

Strafrecht und Strafprozess im Rechtsstaat Von Bernd Schünemann

I. Der Niedergang des rechtsstaatlichen Strafrechts am Ende des 2. Jahrtausends 1. Das Strafrecht und der Strafprozess befinden sich gegenwärtig weltweit in einer ebenso radikalen wie rasant ablaufenden Phase der Umwandlung, die noch weitaus tiefgreifender ist als jener Umsturz, der sich in Europa als Folge der französischen Revolution mit der Abschaffung des alten Inquisitionsverfahrens ereignete. Die damals Schritt für Schritt erfolgende Durchsetzung des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates hat für die nächsten 200 Jahre auch das Strafrecht und den Strafprozess geprägt. Der Einsatz des Strafrechts als der schärfsten und brutalsten Waffe des Staates wurde in doppelter Weise beschränkt, nämlich einerseits auf den Zweck der Verhinderung sozialschädlicher Handlungen und damit auf die ultima ratio zum Rechtsgüterschutz1; und andererseits durch den Schuldgrundsatz, wonach nur die dem Täter vorwerfbaren und also von ihm beherrschbaren Geschehnisse die Strafe und ihr Ausmaß begründen konnten2. Und die Verurteilung zu einer solchen Kriminalstrafe setzte nunmehr voraus, dass ein unabhängiges Gericht aufgrund einer öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung die feste Überzeugung von der Schuld 1 Vgl. Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003; v. Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, ibid. mein eigener Standpunkt S. 133 ff. bzw. S. 18 ff.; Roxin, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 135 ff.; Hefendehl, GA 2007, 1 ff.; sowie Schünemann, El derecho penal es la ultima ratio para la proteccin de bienes juridicos!, Bogot 2007; ders., in: Javier Llobet Rodrguez (Coordonador), Justicia penal y estado de derecho, Homenaje a Francisco Castillo Gonzles, San Jos, Costa Rica 2007, S. 21 ff.; ders., in: Plywaczewski (Hrsg.), Current Problems of the Penal Law and the Criminology – Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Bialystok 2009, S. 575 ff.; ferner zuletzt ders., in: v. Hirsch/ Neumann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht. Die Kriminalisierung von selbstschädigenden Verhalten, 2010, S. 221 ff. Auf die jüngste Entscheidung des BVerfG zur Strafbarkeit des Geschwisterinszests (BVerfGE 120, 224), die dem Gesetzgeber mit zum Teil selbstwidersprüchlichen Erwägungen einen größeren Spielraum einräumen will, kann im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen werden, vgl. zur Kritik vorerst Greco, ZIS 2008, 234 ff.; Roxin, StV 2009, S. 544 ff.; ders., FS Hassemer, 2010, 573 ff.; Androulakis, ebda., 271 ff.; Krauß, ebda., 423 ff.; Hörnle, NJW 2008, 285 ff. 2 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Auflage 2006, § 19 Rn. 1 ff.; ders., FS Mangakis, 237 ff., 244 ff.; Schünemann, in: Schünemann (Hrgs.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 153 ff., 175 ff.; ders., in: FS Lampe, 2003, 537 ff., 550 ff.; ders., in: Bausteine eines europäischen Strafrechts, 1995, 149 ff., 174 f.

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des Angeklagten gewonnen hatte, nachdem der Angeklagte als Prozesssubjekt mit eigenen Rechten eine faire Chance gehabt hatte, der Anklage der Staatsanwaltschaft entgegenzutreten. 2. Aber alle diese rechtsstaatlichen Errungenschaften, die von den großen Denkern der Aufklärung gefordert und als Ergebnis der Französischen Revolution von 1789 im 19. Jahrhundert in ganz Europa durchgesetzt wurden, drohen gegenwärtig innerhalb weniger Jahre weltweit verloren zu gehen. Die radikalste Attacke findet sich in der Theorie vom Feindstrafrecht, die die Feinde der Gesellschaft auf den rechtlosen Status wilder Tiere herabdrücken will, für deren Vernichtung der bloße Verdacht der Machthaber ausreichen soll, dass es sich bei einer Person um einen Feind der Gesellschaft handeln würde. Ich halte die ganze Theorie, die von Günther Jakobs entwickelt worden ist und eine weltweite Diskussion ausgelöst hat3, für schlechthin inakzeptabel4. Dass die USA in dem von ihnen erklärten „war on terrorism“ in vielfacher Hinsicht Feindstrafrecht praktiziert haben5, macht die Theorie nicht etwa besser, sondern beleuchtet das ganze Ausmaß des schon heute zu beobachtenden globalen Niederganges der Rechtskultur. Ich habe auch nicht den geringsten Zweifel daran, dass jede Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates die Etablierung eines Feindstrafrechts kategorisch verbietet. Denn das Wesen des Rechtsstaates besteht in der Ersetzung der bloßen Herrschaft der Gewalt durch die Herrschaft des Rechts, und das heißt: Gewaltmaßnahmen gegen einen Bürger dürfen nur im Rahmen der Notwendigkeit zur Verteidigung der Rechtsgüter und nur in einem rechtlich geordneten Verfahren ergriffen werden, in dem die Exekutive lediglich vorläufige Maßnahmen ergreifen darf, während die endgültige Maßnahme der Entscheidung durch ein unabhängiges Gericht vorbehalten bleibt. Hiervon kann nur in Fällen des äußeren Krieges oder des inneren Bürgerkrieges abgewichen werden, wenn aus zwingenden Gründen der Staatsnotstand verkündet worden ist. Im Hinblick auf den internationalen Terrorismus sind wir von einer solchen Situation heute aber noch weit entfernt – trotz einer Politik, die (ähnlich wie bei dem früher verkündeten „war on drugs“6) die Gefahren eher verschlimmert als verbessert hat. Weder die in der Welt anzutreffenden Ansätze für die praktische Etablierung eines Feindstrafrechts noch dessen ganze Theorie könnten 3

Ursprünglich krit. Jakobs, ZStW 97 (1985), 751; dann eher affirmativ aufgegriffen von dems., in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende (2000), 47 ff.; HRRS 2004, 88 ff.; ders. ZStW 117 (2005), 839 ff.; HRRS 2006, 289 ff.; ders., Rechtszwang und Personalität, 2008; zur weiteren Diskussion vgl. nur m.z.w.N. Aponte, Krieg und Feindstrafrecht (2002), 189 ff.; Hörnle, GA 2006, 80 ff.; Greco, GA 2006, 96 ff.; Cancio Meli, ZStW 117 (2005), 267 ff.; Cancio Meli / Gmez-Jara Diez (Hrsg.), Derecho penal del enemigo. El discurso penal de la exclusin (2006); Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009; Morguet, Feindstrafrecht – eine kritische Analyse, 2009. 4 Meinen eigenen Standpunkt habe ich erstmals in GA 2001, 210 ff. und zuletzt in FS für Nehm (2006), 219 ff. näher ausgeführt. 5 Schünemann, in: FS Nehm (Fn. 4), 221, 227; Donini, in: Cancio Meli / Gmez-Jara Diez (Fn. 3), 603, 645 ff. 6 Dazu Beke-Bramkamp, Die Drogenpolitik der USA 1969 – 1990 (1992), 88 ff., 111 ff.; Gebhardt, in: Kreuzer (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts (1998) § 9 Rn. 94.

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deshalb vor dem Urteil eines Verfassungsgerichts, das die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats zu verteidigen entschlossen ist, Bestand haben. 3. Auch wenn es sich hierbei um die für die für die Zukunft des Strafrechts schlechthin fundamentale Frage handelt, kann ich darauf dennoch in dem vorliegenden Beitrag nicht mehr im Detail eingehen und muss mich auf zwei zusätzliche Bemerkungen beschränken. a) Solange sich terroristische Kreise noch nicht im Besitz von Atombomben und zu deren Einsatz bereit finden, gehen die größten Gefahren für die Menschheit gegenwärtig von der bereits massiv ablaufenden Klimazerstörung aus, die aber gerade nicht von Terroristen, sondern von der globalisierten Volks- und Finanzwirtschaft und damit letztlich von der Politik der die Welt beherrschenden Regierungen am meisten befördert wird. Das ganze Gerede vom Feindstrafrecht lenkt deshalb letztlich nur von der eigentlichen Bedrohung der Menschheit im gegenwärtigen Zeitalter ab und führt nur noch tiefer in die Sackgasse der gegenwärtigen Weltpolitik7. b) Während die Strafrechtsentwicklung in den USA durch einen inhaltlichen Abbau des rechtsstaatlichen Profils gekennzeichnet ist, findet in der Europäischen Union Vergleichbares auf dem Gebiet der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung statt: Der Grundsatz, dass die Strafbarkeit eines Verhaltens nur durch ein Gesetz des Parlaments und nicht von der Exekutive festgelegt werden kann, weil nur auf diese Weise die größtmögliche demokratische Legitimation sichergestellt ist8, wird hier gegenwärtig immer mehr preisgegeben. Durch europäische Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, die maßgeblich auf dem Willen europäischer Exekutivorgane beruhen, werden die Parlamente der einzelnen Mitgliedsstaaten mehr und mehr zu Ausführungsorganen der Exekutive und damit zu bloßen Lakaien degradiert, womit das demokratische Fundament des Strafrechts untergraben wird9. Ob diese Entwicklung durch den Vertrag von Lissabon fortgesetzt oder korrigiert werden wird, bleibt abzuwarten; zumindest Skepsis erscheint geboten10. 7 Mein eigener Standpunkt hierzu findet sich in: ARSP-Beiheft Nr. 93 (2004), 133 ff.; GA 2003, 299 ff.; sowie in: Schünemann/Müller/Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte (2004), 3 ff. Zu den bittersten Pointen der gegenwärtigen weltpolitischen Entwicklung zählt, dass die von der Klimaveränderung bewirkte Abschmelzung des Nordpolareises einen zu einer weiteren Klimazerstörung beitragenden Verteilungswettlauf um die dadurch zusätzlich erschließbaren, fossilen Energiereserven geführt hat. 8 Lüderssen GA 2003, 71 ff.; Nachw. meiner eigenen Stellungnahmen in Fn. 9. Nunmehr, aber wohl zu spät im Grds. in der Lissabon-E des BVerfG zu Recht anerkannt (BVerfGE 123, 267 ff., insb. 359 f. u. 408 ff.), ohne dass allerdings die europatümelnde h. L. in Deutschland das begreifen will (exemplarisch etwa v. Bogdandy, NJW 2010, 1 ff.; s. ferner Classen, JZ 2009, 881 ff.; Halberstam/Möllers, German Law Journal 2009, 1241 ff.; Oppermann, EuZW 2009, 473 ff.). 9 Vgl. dazu Schünemann StV 2003, 531 ff.; ZRP 2003, 185 ff.; GA 2004, 193 ff.; KritV 2008, 9 ff.; FS Szwarc, 2009, 109 ff. 10 Denn einerseits wird durch die Überführung der Rahmenbeschlüsse in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren der EU die demokratische Basis gestärkt, andererseits kann das Europäische Parlament wegen der eingeschränkten Verwirklichung des Grundsatzes der Wahl-

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II. Paternalismus als Demonstrationsfeld für die rechtsstaatlichen Grenzen des Strafrechts 1. Schon ein flüchtiger Blick auf die gegenwärtige Entwicklung des Strafrechts – national wie international – zeigt, dass eine eindeutige Tendenz zur Ausdehnung der verschiedenen Formen des paternalistischen Strafrechts besteht. a) Auf der untersten Ebene nenne ich die Androhung eines Bußgelds für den Fall, dass der Insasse eines Kraftfahrzeuges bei der Teilnahme am Straßenverkehr keinen Sicherheitsgurt anlegt (§ 49 I Nr. 20a StVO). Es handelt sich hier zwar nur um eine Ordnungswidrigkeit, aber damit um Strafrecht in einem weiteren Sinne, dessen prinzipielle Bedeutung nicht von der Höhe der Sanktion abhängt. b) Eine Stufe darüber liegen die Strafvorschriften des Transplantationsgesetzes11, dessen § 18 mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren die Lebendspende nicht regenerierungsfähiger Organe außerhalb eines Verhältnisses offenkundiger besonderer persönlicher Verbundenheit bedroht, wobei der Organspender selbst einbezogen ist und lediglich durch eine nach dem Ermessen des Gerichts mögliche Strafmilderung bis hin zum Strafverzicht privilegiert wird. Die Wichtigkeit, die den Vorschriften des Transplantationsrechts sogar international beigemessen wird, kommt in dem Rahmenbeschluss des Rates der EU über den europäischen Haftbefehl zum Ausdruck12, der bei Straftaten nach dem Transplantationsgesetz in Art. 2 II sogar die Auslieferung eigener Staatsangehöriger ohne Rücksicht auf das Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit fordert, also auf die europaweite Exekutierbarkeit des jeweils punitivsten Transplantationsstrafrechts hinausläuft. c) Während es bei dieser Strafvorschrift um direkten Paternalismus geht, findet sich ein Beispiel für indirekten Paternalismus in § 228 StGB. Nach dieser Vorschrift, die sich seit 1933 im Gesetz befindet, bleibt die mit Einwilligung des Betroffenen erfolgende Körperverletzung strafbar, wenn die Tat gegen die guten Sitten verstößt. Weil diese in der Strafrechtsreform des deutschen Reiches immer wieder diskutierte und hinausgeschobene Vorschrift direkt nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Rahmen der autoritären Gesetzgebung ins Strafgesetzbuch eingefügt worden war13, um die Sterilisationspläne des Regimes zur sogenannten Verhinderung

rechtsgleichheit und wegen einer fehlenden einheitlichen europäischen Öffentlichkeit die demokratische Legitimationswirkung nationaler Parlamente nicht ersetzen, so dass die zukünftige europäische Strafgesetzgebung immer noch auf eine ergänzende Legitimation durch die Parlamente der Mitgliedstaaten angewiesen ist (näher Schünemann, KritV 2008, 9 ff.; BVerfGE 123, 267 ff., insb. 413 f., dazu Schorkopf, EuZW 2009, 718 ff.; Meyer, NStZ 2009, 657 ff.; Isensee, ZRP 2010, 33 ff., sowie die Beiträge von Schünemann, Ambos/Rackow, Heger, Braum u. Folz in ZIS 2009, 397 ff.). 11 Vom 4. September 2007, BGBl I S. 2206. 12 ABl. L 190 vom 13. Juli 2002. 13 Durch Art I Nr. 16 des Gesetzes zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. Mai 1993 (RGBl I S. 295), vgl. NK/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, § 228 Rdn. 1.

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erbkranken Nachwuchses ungehindert realisieren zu können14, haftete ihr ein lange sichtbarer Geburtsmakel an. Durch die Umnummerierung der ursprünglich als § 226 a StGB eingestellten Vorschrift in § 228, die das 6. Strafrechtsreformgesetz von 199815 vorgenommen hat, ist dieser Makel optisch beseitigt worden, ohne dass den gegen den Norminhalt im Schrifttum geäußerten rechtsstaatlichen Bedenken16 irgendeine Rechnung getragen worden wäre. Auch der einen indirekten Paternalismus verkörpernde Straftatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) ist bis heute unverändert geblieben. Anders als etwa in den Niederlanden oder der Schweiz ist damit in Deutschland bis heute die aktive Euthanasie auch in den Fällen strafbar, in denen der Träger eines qualvoll verendenden Lebens um Erlösung von seinen Leiden bittet17. d) In jeder Hinsicht die höchste und schärfste Ausprägung des Paternalismus bilden die Verbrechenstatbestände des Betäubungsmittelgesetzes (§§ 29 ff. BtMG18), die den Schutz jedes einzelnen Bürgers vor der Versuchung durch Drogen zum Ziel haben. e) Auch sonst scheinen sich immer mehr paternalistische Strömungen in die vordergründig durch andere Interessen legitimierte, zunehmende Einschränkung der individuellen Freiheit einzumischen. So ist etwa das in Bayern ursprünglich radikal durchgeführte Rauchverbot in der Öffentlichkeit19 offiziell durch den Schutz der Nichtraucher vor dem sogenannten Passivrauchen gerechtfertigt, aber weil dieses Verbot auch für Nebenräume in öffentlichen Gaststätten gilt, ist dieser Schutz offensichtlich unverhältnismäßig ins Vorfeld ausgedehnt worden, so dass sich der Verdacht eines insgeheim auf die Besserung der Raucher zielenden Paternalismus aufdrängt. 2. Weil die Freiheit des Staatsbürgers in der Bundesrepublik Deutschland durch das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG garantiert ist, bedarf jede paternalistische Strafrechtsnorm einer spezifischen verfassungsrecht14 Vgl. NK/Paeffgen, § 228 Rdn. 1; Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung und die guten Sitten, 1998, S. 1 ff. 15 BGBl I, 164 vom 26. 1. 1998. 16 Etwa NK/Paeffgen, § 228 Rdn. 53, 55 und Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 157 ff., 162, die die Vorschrift sogar für verfassungswidrig erklären. 17 Etwa Fischer, StGB 55. Aufl. 2008, vor § 211 Rdn. 17; Schönke/Schröder/Eser, StGB 27. Aufl. 2006, Vorbem §§ 211 ff. Rdn. 25; Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 3. Aufl., 2007, S. 313 ff. (347); zur Problematik eingehend Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998; Neumann/v. Hirsch, GA 2007, 671 ff. S. auch die mit großer Mehrheit gefassten Beschlüsse des 66. Deutschen Juristentages 2006, Band II/1, N 204 ff. 18 Vom 28. Juli 1981, i. d. F. v. 1. März 1994, BGBl I S. 358. 19 Gesetz zum Schutz der Gesundheit vom 20. Dezember 2007, GVBl. 2007 S. 919; zunächst stark abgemildert durch Gesetz vom 27. Juli 2009 (GVBl S. 384), dagegen wiederum das Volksbegehren Nichtraucherschutz, s. Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 18. August 2009 Az.: IA1 – 1365.1 – 75, und daraus resultierend das mit Volksentscheid vom 4. Juli 2010 angenommene GSG, GVBl. 2010 S. 314.

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lichen Legitimation. Dementsprechend haben der Gesetzgeber bzw. das apologetische Lager auch einen ganzen Strauß an möglichen Legitimationsgründen angeführt, unter denen der nächstliegende, nämlich dass der Täter gegen sich selbst geschützt werden solle, freilich am seltensten auftaucht – offensichtlich weil der Konflikt mit der grundrechtlich geschützten Autonomie der Person bei dieser Begründung augenfällig würde. Zwar könnte der Schutz vor Übereilung oder gegen Ausbeutung der eigenen Schwäche durch das Profitinteresse anderer als Legitimation für einen indirekten Paternalismus tauglich sein (dazu näher unten VI.). Doch trägt das nicht den direkten Paternalismus, also die Bestrafung des Rechtsgutsträgers selbst, zu dessen Legitimation drei Strategien anzutreffen sind: Zum ersten wird dem auf den ersten Blick paternalistisch wirkenden Straftatbestand als Zweck die legitime Abwehr schädlicher Auswirkungen auf andere Individuen zugeschrieben, in welchem Falle er nur „scheinpaternalistisch“ wäre, in Wahrheit aber ganz normal dem Rechtsgüterschutz dienen würde; damit wird gegenwärtig etwa das strikte Rauchverbot begründet. Als zweites kommt der Schutz der Sozialsysteme vor Überforderung in Betracht, was etwa für die Pflicht zur Anlegung von Sicherheitsgurten angeführt wird, die die im Falle eines Unfalls mit schweren Folgen für das Sozialsystem drohenden Belastungen minimieren solle. Als letzte und wohl sogar häufigste Legitimationsstrategie dient die Konstruktion überindividueller (kollektiver) Rechtsgüter, zu deren Schutz der betreffende, auf den ersten Blick paternalistische Straftatbestand eigentlich bestimmt sei. Hierbei geht es durchaus bei vielen („scheinpaternalistischen“) Straftatbeständen um ein lege artis gebildetes kollektives Rechtsgut, beispielsweise bei den Bestechungstatbeständen (§§ 331 ff. StGB) oder bei der Selbstverstümmelung von Soldaten (§ 17 WStG). Im ersten Fall soll nicht etwa der Beamte, der sich bestechen lässt, vor seiner eigenen Verführbarkeit geschützt werden. Vielmehr geht es um den Schutz der Rechtsstaatlichkeit der staatlichen Machtausübung, die ein durchaus legitimes kollektives Rechtsgut darstellt20. Entsprechend geht es bei der Selbstverstümmelung um die Kampfkraft der Streitkräfte, die in dem Umfange, wie sie zu verfassungsrechtlich legitimen Zwecken eingesetzt wird, ebenfalls ein legitimes kollektives Rechtsgut bildet21. Aber es gibt auch genügend Beispiele für das Gegenteil, also für „kollektive Scheinrechtsgüter“ zur vordergründigen Rechtfertigung eines illegitimen Strafrechtspaternalismus. Nicht ausreichend zur legitimen Konstruktion eines kollektiven Rechtsguts ist vor allem die bloß summenmäßige Zusammenfassung der individuellen Rechtsgüter zu einer Klasse. Diese Strategie wird im Schrifttum auch außerhalb des Paternalismus-Problems angewandt, um rechtsstaatlich unerträgliche Vorverlagerungen des individuellen Rechtsgüterschutzes scheinbar zu legitimieren. Beispiele bieten die namentlich von Tiedemann unternommenen und vom deutschen 20 LK/Sowada, 12. Aufl., 2009, vor § 331 Rdn. 16; Rudolphi/Stein SK-StGB, § 331 Rdn. 4; NK/Kuhlen, § 331 Rn. 9 ff.; Lackner/Kühl, StGB § 331 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Heine, StGB § 331 Rdn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 2, 9. Aufl. 2005, § 79 Rdn. 9; Fischer, Strafgesetzbuch 55. Aufl. 2008, § 331 Rdn. 3. 21 Dau, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Bd. IV, 152. Lfg., Feb. 2004, WStG § 17 Rn. 5; Bauer, Selbstverstümmelung und Dienstentziehung durch Täuschung im deutschen Strafrecht, 1995, S. 35 f.

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Gesetzgeber aufgegriffenen Versuche, die Straftatbestände des Subventions-, des Versicherungs- und des Kreditbetruges (§§ 264, 265 und 265b), durch die auch weniger gefährliche Handlungen im Vorfeld echter Betrugsdelikte selbständig bestraft werden und die als Gefährdungsdelikte gegen Individualrechtsgüter nicht legitimierbar wären, damit zu rechtfertigen, dass die kollektiven Rechtsgüter des gesunden Subventionswesens, der gesunden Versicherungswirtschaft oder der gesunden Kreditwirtschaft hypostasiert und den Tatbeständen als Schutzgüter subintelligiert werden22. Exakt dieselbe Strategie haben Legislative und Judikatur zur Rechtfertigung der paternalistischen Tatbestände des Betäubungsmittelstrafrechts eingeschlagen, bei denen es zum großen Teil um den Schutz der Bürger gegen sich selbst, also um harten direkten Paternalismus geht, der hinter dem angeblichen Kollektivrechtsgut der Volksgesundheit23 versteckt wird. In Wahrheit gibt es aber nicht die Gesundheit eines Volkes, sondern nur die Gesundheit jedes einzelnen Staatsbürgers, als dessen klassenlogische Zusammenfassung sich das angebliche Kollektivrechtsgut der Volksgesundheit darstellt24 – so dass nicht daran zu rütteln ist, dass das strafrechtliche Verbot des Umganges mit Drogen paternalistische Interessen verfolgt. Auf diesem Schleichweg lassen sich deshalb die Legitimationshürden für einen paternalistischen Straftatbestand nicht umgehen.

III. Kritik des direkten Strafrechtspaternalismus 1. Gegenüber Straftatbeständen, die mit direkten Strafdrohungen gegen den Rechtsgutsträger dessen Selbstschädigungen verhindern sollen, greifen in der Regel vier strafrechtsspezifische Einwände durch: Zum ersten fehlt es insoweit, wie nur die Interessen des Rechtsgutsträgers betroffen sind, an einer Beeinträchtigung der Gesellschaft im Sinne eines Sozialschadens bzw. einer Rechtsgüterverletzung bzw. eines „harm to others“ (strafrechtsfundamentaler Einwand). Zum zweiten ist der durch die Strafdrohung und erst recht durch deren Durchsetzung für die betreffende Person angerichtete Schaden meist größer als der Nutzen, der davon allenfalls erwartet werden kann (strafrechtsutilitaristischer Einwand). Dies gilt insbesondere für die kriminalrechtlichen Interventionen des Betäubungsmittelrechts zu Gunsten und zugleich zum Nachteil des Konsumenten, so dass auf diesem Feld nur insoweit legitime Straftatbestände übrigbleiben, wie es um den Schutz von Dritten geht, also etwa von schuldunfähigen Drogenabhängigen oder von Kindern und Jugendlichen. 22

Etwa LK/Tiedemann, 11. Aufl., 1996, § 264 Rdn. 11 ff., § 264a Rdn. 13 f., § 265 Rdn. 6; zur Kritik siehe Roxin (Fn. 2), § 2 Rn. 46 ff., 76 ff.; Schünemann, in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 15 ff. (26, 28); Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 139 ff. 23 Malek, Betäubungsmittelstrafrecht, 3. Aufl. 2008, Kap. 2 Rdn. 2; Körner, Betäubungsmittelgesetz Arzneimittelgesetz, 6. Aufl. 2007, § 29 Rdn. 237. 24 Siehe Hefendehl (Fn. 22), S. 142 f.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 88; Schünemann in: Wohlers/Hefendehl/v. Hirsch (Fn. 1), S. 146 ff.; ders., GA 2003, S. 299 ff. (307); Roxin (Fn. 2), § 2/34 ff., 46, 76.

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Zum dritten ist ein gegenüber dem Rechtsgut ausgesprochener strafrechtlicher Tadel in der Regel moralisch deplaziert, wie bereits im Einzelnen von Andrew v. Hirsch ausgeführt worden ist25 (strafrechtsethischer Einwand). Und zum vierten ist die Strafdrohung meist völlig wirkungslos, so dass der Einsatz des Strafrechts nicht einmal geeignet ist, irgendein vom Gesetzgeber angestrebtes Ziel zu erreichen (präventionsstrafrechtlicher Einwand). Dies lässt sich besonders leicht am Suizid demonstrieren, denn wer sein Leben beenden will, kann durch eine Strafdrohung nicht mehr zu irgendetwas motiviert werden. Neben diese vier strafrechtsspezifischen Einwände tritt die allgemeine rechtsphilosophische Kritik aus dem Konzept der Autonomie der Person (freiheitsphilosophischer Einwand). Weil dieses Argument nicht nur den Strafrechtspaternalismus, sondern auch den Einsatz des Rechts zu paternalistischen Zwecken überhaupt trifft, liefert es gegenüber Straftatbeständen sogar ein argumentum a fortiori. 2. Im Strafrecht eines Rechtsstaats kommt deshalb nur ein weicher Rechtspaternalismus in Betracht, und zwar sowohl ein direkter als auch ein indirekter. Er ist nämlich in der Idee der Autonomie der Person angelegt und findet sich bereits in der „Stiftungsschrift“ des utilitaristischen Anti-Paternalismus bei John Stuart Mill26. Selbstschädigungsentschlüsse einer Person, die infolge altersbedingter Unreife, seelischer Erkrankung, unsinniger Übereilung oder kurzfristiger emotionaler Überwältigung törichterweise ein irreversibles Ergebnis herbeiführen würden, dessentwegen die Person sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit hinterher selbst verfluchen würde, sollten gerade aus Achtung vor dieser Person nicht toleriert, sondern zunächst einmal blockiert werden, um der Person eine ernsthafte Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Hierzu gibt es in der Rechtsphilosophie eine ganze Reihe von Konzepten, etwa von Kleinig, G. Dworkin und Rawls, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann27. Auch bei unklaren Situationen, ob eine ernsthafte Entscheidung vorliegt, wird man dem Staat eine dilatorische Maßnahme zubilligen müssen, was etwa für die Situation des unvollendeten Suizids relevant wird: Weil hier in den meisten Fällen ein nicht ernst gemeinter sog. Appellselbstmord28 vorliegt, muss eine Rettung des Selbstmörders zulässig sein, es sei denn, dass genügend Indizien für einen wohlüberlegten sog. Bilanzselbstmord existieren.

25

v. Hirsch, in: Anderheiden u. a. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, 235, 241 ff. Mill, On Liberty, hrsg. von Himmelfarb, London, 1985 (zuerst 1859), Kap. 1 (S. 69). 27 Rawls, A Theory of Justice, Revised Edition, Oxford, 1999 (zuerst 1971), S. 218 ff.; Kleinig, Paternalism, New Jersey, 1983; G. Dworkin, in: The Monist 56 (1972), 64 ff. (= in: Sartorius [Hrsg.], Paternalism, Minneapolis, 1983, 19 ff.); ders., in: Sartorius, 105 ff. 28 Zu diesem Begriff wie auch zum Gegenbegriff des Bilanzselbstmords s. Horn, SK-StGB, § 212 Rdn. 12; Schönke/Schröder/Eser, StGB vor § 212 Rdn. 34; LK/Jähnke, 11. Aufl. 2005, vor § 211 Rdn. 27; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, 1992, S. 161. 26

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IV. Der Niedergang des rechtsstaatlichen Strafverfahrens am Ende des 2. Jahrtausends 1. Hiermit soll es für die Grundsatzfragen des rechtsstaatlichen Strafrechts sein Bewenden haben. Ich möchte mich jetzt dem seit Jahrzehnten stattfindenden Erosionsprozess zuwenden, der in der gesamten Welt die aus dem 19. Jahrhundert tradierte Struktur des Strafverfahrens auch in denjenigen Ländern zerstört hat, in denen (wie bis vor kurzem in Deutschland) die gesetzlichen Regeln selbst nahezu unverändert geblieben sind. Die These, die ich im folgenden ausführen und begründen werde, lautet, dass sich aus der Garantie des Rechtsstaates konkrete Anforderungen an die Fairness des Strafverfahrens und an dessen Tauglichkeit zur Wahrheitsfindung ableiten lassen, die durch die gegenwärtige weltweite Veränderung der Verfahrensstruktur in einer ganzen Reihe von Punkten verletzt werden. Und ich werde abschließend skizzieren, auf welchem vom Rechtsstaatsprinzip und damit von der Verfassung jedes Rechtsstaats verlangten Wege die verloren gegangene Balance und Fairness des Strafverfahrens wieder hergestellt werden kann. 2. Ausgangspunkt der rechtsstaatlichen Anforderungen sind die eigentlich selbstverständlichen Postulate, dass das Strafverfahren zur Erreichung seines Zieles geeignet und gegenüber dem hauptsächlich Betroffenen, also dem Beschuldigten legitimierbar sein muss. Insoweit lässt sich für alle Staaten westlicher Prägung, deren Rechtssystem auf die Prinzipien des demokratischen, liberalen und sozialen Rechtsstaats gegründet ist, folgende stringente Ableitungskette zusammenfügen: Weil das materielle Strafrecht die ultima ratio zum Rechtsgüterschutz durch die generalpräventive Wirkung der Verhaltensnormen ist29, muss eine Verletzung der Verhaltensnorm zur Durchsetzung der Sanktion im Strafprozess festgestellt und geahndet werden. Jeder Strafprozess muss also so konstruiert werden, dass er zur Ermittlung der materiellen Wahrheit führt, d. h. zu einer möglichst sicheren Feststellung über die vermutete Straftat. Die Tauglichkeit zur Auffindung der materiellen Wahrheit bildet folglich die zentrale rechtsstaatliche Anforderung für jede Konstruktion des Strafverfahrens30, neben die als weitere Anforderung die Fairness gegenüber dem Beschuldigten steht, dessen soziale Existenz im Strafverfahren auf dem Spiele steht: Bis man ihm seine Tat nachgewiesen hat, muss eine Vermutung für seine Unschuld bestehen31; und 29 Denn unabhängig von dem anhaltenden Streit um die Wirkungsweise und Vorzugswürdigkeit der positiven oder negativen Generalprävention (vgl. dazu Roxin [Fn. 2], § 3 Rn. 25 f., 30 m.z.w.N.) kann die Wirkung des Strafrechts zum Rechtsgüterschutz nur über die Motivation der Bürger und damit in einem generalpräventiven Paradigma erklärt werden, hierzu ausf. Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, 354 ff. 30 Zur Zurückweisung der in jüngster Zeit modischen Kritik an diesem Fundament des Strafverfahrens näher Schünemann, in: FS Fezer (2008), 507, 511 ff. 31 Dass die konkreten Folgerungen aus diesem mit Recht in Art. 6 Abs. 2 EMRK als fundamental statuierten Prinzip nicht leicht zu bestimmen sind, trifft zu, ändert aber nichts an dessen Bedeutung als regulatives Prinzip, wonach jede einzelne prozessuale Maßnahme nur dann legitimierbar ist, wenn sie auch einem möglicherweise Unschuldigen zugemutet werden kann – was beispielsweise die Etablierung eines „Feindstrafverfahrens“ verbietet, welches im

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er muss als Prozesssubjekt am Verfahren teilnehmen können und die Möglichkeit besitzen, auf die Beweisaufnahme mit dem Ziel einer Entkräftung der Anklage Einfluss zu nehmen32. 3. Seit dem 19. Jahrhundert haben alle demokratischen Rechtsstaaten im Kern dasselbe Basismodell benutzt, um eine faire und unparteiische Ermittlung der materiellen Wahrheit sicherzustellen: nämlich, wie ich schon erwähnt habe, indem die Beweisaufnahme in einer öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung durchzuführen ist, über deren Ergebnis ein unabhängiger Richter entscheidet. Die über viele Jahrzehnte im Zentrum der rechtspolitischen Auseinandersetzung stehende Rivalität zwischen dem angloamerikanischen, sogenannten adversatorischen Modell und dem kontinentaleuropäischen, sogenannten inquisitorischen Modell der Hauptverhandlung33 bedeutet angesichts dieser gemeinsamen Basis eine Kontroverse zweiten Ranges, die für die verfassungsrechtliche Beurteilung keine Rolle spielt. Denn obwohl ich das inquisitorische Modell insgesamt für besser geeignet zur Wahrheitsfindung halte34, gibt es doch unter dem Aspekt der Unparteilichkeit des Richters auch einen gewissen Vorzug des adversatorischen Modells35, weshalb man insgesamt beide Modelle als mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar qualifizieren muss. Die verfassungsrechtlich außerordentlich bedenklichen Entwicklungen haben denn auch gar nicht im Rahmen dieser Rivalität zwischen adversatorischer und inquisitorischer Hauptverhandlung stattgefunden, sondern in den USA in Gestalt der praktisch weitestgehenden Abschaffung der Hauptverhandlung überhaupt und in Europa in Gestalt Innersten auf die Schuldvermutung gegründet ist. Die Generalkritik von Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, 544 ff., schießt deshalb weit über das Ziel hinaus, dagegen zutreffend Schulz, GA 2001, 226 ff. 32 Genau darin bestand die Essenz der Überwindung des alten Inquisitionsverfahrens durch den reformierten Strafprozess, durch den, wesentlich vermittelt durch Frankreich, die im angloamerikanischen Parteiverfahren verkörperten rechtsstaatlichen Prinzipien nach Deutschland transportiert worden sind; grundlegend Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Oeffentlichkeit und das Geschwornengericht, 1845; ders., Die Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren nach ihrer Fortbildung, 1856; Zachariä, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846. 33 Zum adversatorischen Modell vgl. etwa Kamisar/LaFave/Israel, Modern Criminal Procedure, 7. Aufl., Minnesota, 1990, S. 1048 ff., 1288 ff.; Whitebread/Slobogin, Criminal Procedure, 3. Aufl., New York, 1990, S. 660 ff., 711 ff.; zum inquisitorischen Modell vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz Teil I (1964) 363 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Auflage 2009, § 16 Rn. 1 ff.; Kühne in: Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, 26. Aufl. 2006, Einl. I Rn. 30 ff. 34 Dazu näher mein Beitrag in der FS Fezer (2008), 507, 511 ff. 35 Denn im inquisitorischen Modell bleibt die Beeinflussung der richterlichen Informationsverarbeitung durch seine Kenntnis der Ermittlungsakten ein dauerndes Problem, siehe zu dem dadurch ausgelösten Perseveranzeffekt Schünemann, in: Bierbrauer/Gottwald/BirnbreierStahlberger (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit – Rechtspsychologische Forschungsbeiträge für die Justizpraxis, Köln 1995, S. 215 ff.; ders., in: Wegener/Lösel/Haisch (Hrsg.), Criminal Behavior and the Justice System. Psychological Perspectives, New York/Berlin/Heidelberg/ London/Paris/Tokyo 1989, S. 181 ff.; ders. StV 2000, 159 ff.; Barton, Einführung in die Strafverteidigung, 2007, § 12 Rdn. 35 ff.

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der weitgehenden Voraus-Determinierung des Urteils durch ein Ermittlungsverfahren, welches infolge immer geheimerer und mehr und mehr geheimdienstähnlicher Ermittlungsmethoden dem Beschuldigten keine faire Verteidigungschance lässt. Nachdem nun schließlich in Europa in allerjüngster Zeit das amerikanische Beispiel teils vom Gesetzgeber, teils von der Gerichtspraxis nachgeahmt und die klassische Hauptverhandlung als echtes Entscheidungszentrum weitgehend abgeschafft worden ist, ist gegenwärtig von der im 19. Jahrhundert erkämpfen rechtsstaatlichen Balance des Strafverfahrens weder auf der westlichen noch auf der östlichen Seite des Atlantischen Ozeans viel übrig geblieben. 4. Diese rechtsstaatliche Balance wurde nämlich in den USA nicht anders als in Europa dadurch garantiert, dass das Urteil nur auf die Beweisaufnahme in der öffentlichen Hauptverhandlung gestützt werden durfte, dass die Verteidigung hierbei nach dem Grundsatz der Waffengleichheit mit den gleichen Rechten wie die Staatsanwaltschaft ausgestattet war36 und dass das Gericht in völliger Unabhängigkeit von der Stellung der Staatsanwaltschaft entschied, insbesondere nicht durch eine Beteiligung am Ermittlungsverfahren bereits voreingenommen sein durfte. Der die internationale Reformdiskussion seit langem beherrschende Gegensatz zwischen dem anglo-amerikanischen und dem kontinental-europäischen Modell betrifft dagegen die durchaus sekundäre Frage, ob die Wahrheitsfindung besser von einer Jury geleistet werden kann, die die Akten des Ermittlungsverfahrens nicht kennt und der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung als stummer Zuhörer beiwohnt37, oder von einem Kollegium von Berufsrichtern, welches die Ermittlungsakten gelesen hat und die Hauptverhandlung damit tendenziell als eine Veranstaltung zur Kontrolle der Richtigkeit und Vollständigkeit des Akteninhalts organisiert. 5. Wegen dieser ausschlaggebenden Bedeutung der Hauptverhandlung war die Stellung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren in allen Ländern schwach ausgestaltet, eben weil der Gesetzgeber davon ausging, dass im Ermittlungsverfahren ja noch nichts endgültig entschieden wird und dass alle Irrtümer oder Einseitigkeiten, die hier etwa der Polizei oder der Staatsanwaltschaft unterlaufen, in der Hauptverhandlung noch korrigiert werden können38. Zwar hatte man in Europa, um Irrtümer oder Einseitigkeiten möglichst zurückzudrängen, eine zweite Phase des Ermittlungsverfahrens geschaffen, die unter der Herrschaft des von Polizei und Staatsanwaltschaft unabhängigen Untersuchungsrichters stand; aber auch in dieser Phase war die Stellung der Verteidigung noch schwach39.

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Dazu jüngst umfassend Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007. Immer noch grundlegend Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, 1971, insb. 160 f., 460 f. 38 Darauf beruhte auch die enge Begrenzung der schon im Ermittlungsverfahren notwendigen Verteidigung, dazu eingehend Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 2006, 40 ff.; ders., NJW 2007, 969, 972 ff. 39 Die sog. Parteiöffentlichkeit gab es nur ausnahmsweise, siehe §§ 190 und 191 RStPO. 37

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6. Von dieser rechtsstaatlichen Balance des 19. Jahrhunderts, die auf die Hauptverhandlung als Ort der die Entscheidung tragenden Beweisaufnahme angewiesen war, ist heute nichts mehr übrig geblieben aufgrund einer ganzen Reihe verschiedener, aber sämtlich in die gleiche Richtung weisender Entwicklungen, die man mit den Schlagworten der Verpolizeilichung des Ermittlungsverfahrens, der Vergeheimdienstlichung des Ermittlungsverfahrens, des Funktionsverlustes der Hauptverhandlung und zuletzt der faktischen Abschaffung der Hauptverhandlung kennzeichnen kann. V. Die Verpolizeilichung des Ermittlungsverfahrens Wie ich schon erwähnt habe, hat das Ermittlungsverfahren im kontinental-europäischen Modell dadurch schon immer einen gewissen Einfluss auf die Hauptverhandlung ausgeübt, dass die Berufsrichter die Ermittlungsakten gelesen und an dieser Kenntnis die Organisation der Hauptverhandlung ausgerichtet hatten. Zum Ausgleich bestand hier im Unterschied zum anglo-amerikanischen Verfahren aber von Anfang an eine gewisse Kautel für die Objektivität der Ermittlungshandlungen, weil das Ermittlungsverfahren nicht von der Polizei beherrscht wurde, sondern in der ersten Phase von der Staatsanwaltschaft und in der zweiten Phase sogar von dem unabhängigen Untersuchungsrichter. Diese Kautel ist jedoch durch gesetzliche Maßnahmen und die Entwicklung der Praxis enorm abgeschwächt worden, weil die Figur des Untersuchungsrichters in den meisten Ländern durch Gesetz abgeschafft wurde40 und weil die Polizei in der Praxis in den meisten Verfahren über die Führung der Ermittlungen selbst entscheidet und nur noch einer von Fall zu Fall unterschiedlich intensiven Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft untersteht41. Diese Entwicklung ist ferner dadurch außerordentlich verstärkt worden, dass in der heutigen Zeit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens zwischen der präventiven Tätigkeit der Polizei und ihren Aufgaben bei der Strafverfolgung keine scharfe Grenzlinie mehr gezogen werden kann42. Um ihrer Aufgabe zur Vorbeugung von Straftaten nachkommen zu können, macht die Polizei überdies von den modernen technischen Methoden zur Überwachung ganzer Lebensgebiete einen immer ex- und intensiveren Gebrauch, beispielsweise durch Installierung von Überwachungskameras in öffentlichen Räumen, durch die Observation von Personen aus einem bestimmten verdächtigen Milieu, durch die Zusammenfügung von personenbezogenen Daten aus den verschiedensten Registern oder durch das Abhören von Telefongesprächen. Die vorbeugende 40

In Deutschland durch das 1. StVRG vom 9. 12. 1974 (BGBl. I 3393, 3533). Diese in der Wissenschaft seit längerem konstatierte Entwicklung (Paeffgen in: Wolter [Hrsg.], Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts [1995], 13 ff.; Schünemann, Kriminalistik 1999, 74 ff., 176 ff.; Ambos, Jura 2003, 674 ff.) ist inzwischen vom Gesetzgeber terminologisch dadurch anerkannt worden, dass die früher als „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft“ bezeichneten Polizeiorgane im 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. 8. 2004 die Anerkennung als „Ermittlungsbeamte“ erfahren haben. 42 Dazu Paeffgen, GA 2003, 647, 652 ff.; Albrecht, KritV 2000, 277 ff.; Jahn, KritV 2004, 39 f.; Roggan/Bergemann, NJW 2007, 876 ff. 41

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Verhütung von Straftaten durch die Beobachtung krimineller und asozialer Milieus und die nachlaufende Aufklärung begangener Straftaten fließen dadurch in der täglichen operativen Tätigkeit der Polizei in eins zusammen. Die Polizei ist infolge dessen von der Justiz nicht mehr wirklich kontrollierbar, und zugleich besitzt die Polizei das entscheidende Monopol der Selektion: Nur sie bestimmt, welche Details ihrer operativen Tätigkeit in die einzelne Ermittlungsakte Eingang finden, und weil ohne die Kenntnis der aussortierten Details nicht beurteilt werden kann, ob die vorgenommene Selektion fair und objektiv ist, kann ein großer Teil der Ermittlungsergebnisse später in der Hauptverhandlung weder vom Gericht in seiner „Selektionsobjektivität“ überprüft noch von der Verteidigung in einer durch Fakten belegten Weise in Frage gestellt werden43. VI. Die Vergeheimdienstlichung des Ermittlungsverfahrens 1. Dieses Übergewicht der Polizei im Ermittlungsverfahren und das daraus resultierende Übergewicht der polizeilichen Verdachtshypothesen im gesamten Strafverfahren wird dadurch nochmals entscheidend verstärkt, dass die Polizei im Bereich der organisierten Kriminalität mehr und mehr zu geheimdienstlichen Ermittlungsmethoden übergegangen ist. Das wichtigste und zugleich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten problematischste Instrument wird hierbei nicht einmal vom sogenannten großen Lauschangriff gebildet, bei dem mit Hilfe von Abhörgeräten private Gespräche in der eigenen Wohnung abgehört werden und über dessen Zulassung in den letzten Jahren in Deutschland eine exemplarisch heftige und intensive Diskussion geführt worden ist44. Unter dem Aspekt der Fairness des Verfahrens und des Hauptziels der materiellen Wahrheitsfindung gefährlicher ist in meinen Augen die seit Jahrzehnten übliche Methode des Einsatzes von Vertrauensleuten, die selbst im kriminellen Milieu leben und ihr Wissen gegen Geld oder andere Vorteile heimlich an die Polizei weitergeben45. Denn es liegt geradezu in der Sachlogik dieser Strategie, dass die Vertrauenspersonen später nicht als Zeuge in der Hauptverhandlung präsentiert werden können, erstens, weil sie sonst die Rache des Milieus zu fürchten hätten, und zweitens, weil sie ja weiterhin im Milieu leben und der Polizei wichtige Informationen liefern sollen, wozu sie aber nach einer Enttarnung im Rahmen der Zeugenvernehmung nicht mehr in der Lage wären. Als Ausweg aus diesem Dilemma ist in der Praxis die bekannte Methode der mittelbaren Einführung des Wissens der Vertrauenspersonen 43 Dazu Schünemann, Kriminalistik 1999, 148 f.; ders., ZStW 120 (2008), 945, 948 f.; GA 2008, 314, 321 ff. 44 Vgl. dazu nur aus jüngster Zeit Zwiehoff (Hrsg.), Großer Lauschangriff, 2000; MeyerWieck, Rechtswirklichkeit und Effizienz der akustischen Wohnraumüberwachung, 2004; ders., Der große Lauschangriff, 2005. 45 Dazu Gössner, Geheime Informanten, 2003; Ellbogen, Die verdeckte Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden durch die Zusammenarbeit mit V-Personen und Informanten, 2004; Maluga, Tatprovokation Unverdächtiger durch V-Leute, 2006.

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in die Hauptverhandlung entwickelt worden, indem diese von einem Ermittlungsbeamten vernommen werden, der dann selbst als Zeuge vom Hörensagen dem Gericht in der Hauptverhandlung präsentiert wird und gem. § 56 StPO eine Aussagegenehmigung nur für solche Gesichtspunkte erhält, aus denen nicht auf die Identität der Vertrauensperson zu schließen, diese also auch nicht „verbrannt“ wäre. BGH und BVerfG haben diese Praxis für verfassungsmäßig erklärt und die Auffindung der materiellen Wahrheit sowie die Interessen der Verteidigung dadurch sicherzustellen versucht, dass das Gericht die Angaben der Vertrauensperson, die ja nur indirekt und hochgradig selektiert über die Aussage des Kriminalbeamten in die Hauptverhandlung eingeführt werden, sehr vorsichtig bewerten und auf seine Bestätigung durch andere Beweisergebnisse achten müsse46. Zwar enthält Art. 6 Absatz 3 lit. d EMRK die unbeschränkte Garantie, dass die Verteidigung in der Lage sein muss, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen. Und der EGMR hat ausdrücklich die Vertrauenspersonen selbst als Belastungszeugen qualifiziert und daraus ursprünglich die Konsequenz abgeleitet, dass die Verteidigung wenigstens zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens in der Lage sein müsse, an einer Vernehmung dieser Personen mitzuwirken47, was allerdings unter den Vorbehalt einer Prüfung der Fairness des Verfahrens insgesamt stand und durch andere Maßnahmen kompensiert werden konnte.48 Mittlerweile ist der EGMR jedoch cum grano salis49 auf die vom BGH praktizierte Beweiswürdigungslösung eingeschwenkt50, die der BGH wiederum durch hohe Anforderungen an das Gewicht der Bestärkungsbeweise mit stärkeren Kautelen versehen hat.51 Dennoch bleibt die Effektivität dieser Kautel unter verfahrensstrukturellen Aspekten unzulänglich, weil die Bestätigung durch anderweitige Beweisergebnisse ja wiederum von der erwähnten Selektion der polizeilichen Ermittlungen bei ihrer Einführung in das Hauptverfahren durch die Polizei selbst abhängt, so dass diese es in der Hand hat, durch eine doppelte Selektion derjenigen Fakten, die sie in die Akten des Strafverfahrens hineingelangen lässt, eine gegenüber den denkbaren Angriffen der Verteidigung immunisierte Tatversion aufzubauen, deren Übereinstimmung mit der materiellen Wahrheit vom Gericht nicht zuverlässig beurteilt werden kann. Das strukturelle Übergewicht der Polizei kann deshalb auf diesem Wege nicht abgebaut werden.

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BVerfGE 57, 250, 292 ff.; BVerfG NJW 92, 168; NStZ 95, 600; BGHSt 17, 382, 386; 32, 115, 122; 33, 178, 181; 36, 159, 166; 42, 15, 25. 47 EGMR StV 1990, 481; NStZ 1997, 239; NJW 2003, 2297, 2893. 48 Vgl. die bei BGHSt 46, 93, 95 ff. mitgeteilte Rechtsprechung des EGMR. 49 Zu den Unklarheiten näher Esser, NStZ 2007, 106 ff. vor dem Hintergrund eines „dreistufigen Rechtfertigungsmodells“; zu den (inzwischen weitgehend geschwundenen) Differenzen zwischen der Rechtsprechung von EGMR und BGH näher Widmaier, in: FS Nehm, 2006, 357 ff. 50 EGMR NStZ 2007, 103. 51 BGHSt 46, 93 ff.; BGH NJW 2007, 237 (in beiden Fällen ging es allerdings nicht um VLeute).

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2. Die Polizeipraxis ist statt dessen sogar in die umgekehrte Richtung marschiert, indem sie heute namentlich in Rauschgift-Strafverfahren über eine bloße heimliche Beobachtung hinausgegangen ist und die polizeiliche Provokation der Tat selbst durch einen Lockspitzel (agent provocateur) zu einer zentralen Strategie ausgebaut hat, auf der heute ein großer Teil der Strafverfahren wegen eines Rauschgiftdelikts aufbaut. Das läuft bekanntlich so ab, dass eine polizeiliche Vertrauensperson oder ein verdeckt ermittelnder Polizeibeamter einen Bürger dazu auffordert, entweder ihm Rauschgift abzukaufen oder ihm Rauschgift zu verkaufen, wofür sehr oft erforderlich ist, dass der Provozierte sich Rauschgift zu verschaffen versucht, um es dem verdeckt für die Polizei arbeitenden Provokateur weiter verkaufen zu können. Eine Tatprovokation im Rechtssinne soll freilich nach der Rechtsprechung erst dann vorliegen, wenn auf den Provozierten in Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung der Tatplanung stimulierend eingewirkt werde. Selbst das soll zulässig sein, wenn der Provozierte verdächtig ist, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt gewesen oder zu einer zukünftigen Straftat bereit zu sein. Und wenn das nicht der Fall ist, so liege zwar eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vor, die aber nicht etwa zur Straffreiheit des Provozierten führen, sondern nur eine genau zu bemessende Strafmilderung notwendig machen soll – sogenannte Strafzumessungslösung52.

VII. Der Funktionsverlust der Hauptverhandlung Wie ich schon angedeutet habe, birgt die europäische Struktur des Strafverfahrens die Gefahr, dass der Richter sich in der Hauptverhandlung in erster Linie von seiner Kenntnis der Ermittlungsakten leiten lässt und deshalb die Beweise in der Hauptverhandlung nicht mehr unvoreingenommen würdigen kann. Zu diesem Problem habe ich vor über 20 Jahren zahlreiche sozialpsychologische Experimente durchgeführt, die den eindeutigen Befund erbracht haben, dass diese Gefahr in der Tat sehr ernst zu nehmen ist, weil die deutschen Richter dazu tendieren, die mit den Ermittlungsakten übereinstimmenden Beweisergebnisse der Hauptverhandlung systematisch zu überschätzen und die in eine entgegen gesetzte Richtung weisenden Beweise zu unterschätzen, so dass man von einer einseitigen Verzerrung der Beweiswürdigung zu Gunsten der Position der Ermittlungsakten und damit letztlich der Hypothesen der Polizei sprechen muss53. Auch viele andere Autoren haben ohne tiefere Analyse der psychologischen Zusammenhänge, allein aufgrund der Anschauung der Praxis, die Feststellung getroffen, dass die Hauptverhandlungen in Deutschland mehr und mehr nur noch in einer schlichten Bestätigung der Ermittlungsergebnisse bestanden, und man spricht deshalb seit einiger Zeit von einem Funktionsverlust der Hauptverhandlung sowie vom Ermittlungsverfahren als dem eigentlichen Zentrum des Straf52

BGHSt 47, 44 und ständige Rechtsprechung, siehe bereits BGHSt 33, 283; 45, 321 sowie BGH StV 1999, 288; 2008, 21. Zur Kritik Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht 26. Aufl. 2009, § 38 Rdn. 8 und Greco, StraFo 2010, 52 ff. 53 Nachw. o. Fn. 35.

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verfahrens54. Es ist offensichtlich, dass diese Entwicklung das Konzept des 19. Jahrhunderts vollständig auf den Kopf stellt und die Polizei als faktische Herrin des Ermittlungsverfahrens zur faktischen Herrin des gesamten Strafverfahrens macht, womit aber die ursprünglich geschaffene Balance zerstört ist. VIII. Die faktische Abschaffung der Hauptverhandlung 1. In den USA ist dieses Ergebnis in noch viel radikalerer Form schon seit 100 Jahren durch die Etablierung des Plea bargaining herbeigeführt worden. Der Angeklagte konnte sich im Common Law immer schon zu Beginn des Verfahrens als schuldig bekennen und dadurch ohne weiteres die Verurteilung durch das Gericht auslösen, dem keine weitere Prüfung obliegt als dass das Schuldbekenntnis ohne Täuschung oder unzulässige Zwangsausübung herbeigeführt worden ist55. Dieses so genannte guilty plea unterscheidet sich von dem Geständnis des Angeklagten im europäischen Strafverfahren in ganz entscheidender Weise, weil es eine Verfügung über den Prozessgegenstand enthält, eben die direkt zur Verurteilung führende Anerkennung der Richtigkeit der Anklage. Das Geständnis ist dagegen nur ein Beweismittel unter anderen und entbindet das Gericht nicht von der Pflicht, seine Glaubwürdigkeit durch weitere Beweismittel zu überprüfen56. Aus dem eingangs skizzierten Verhältnis von Strafrecht und Strafverfahren57 geht jedoch unmittelbar hervor, dass der Angeklagte im Strafprozess nicht zur Verfügung über den Prozessgegenstand befugt sein darf, weil der Staat nur selbst zu entscheiden hat, ob Strafe verwirkt ist. Jemanden allein deshalb zu verurteilen, weil er dies wünscht, könnte dem Zweck der Strafe nicht entsprechen und wäre geradezu Unsinn. Die Institution des guilty plea zerschneidet also den Legitimationszusammenhang des Strafverfahrens mit dem materiellen Strafrecht und kann deshalb niemals die Basis einer gerechten Verurteilung zu einer Kriminalstrafe bilden. Sie zerstört aber nicht nur bei einer theoretischen Analyse die Gerechtigkeit des Strafverfahrens, sondern hat auch in der Prozesspraxis der USA zu einer radikalen Revolution geführt, indem die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht weitestgehend abgeschafft und durch ein guilty plea des Angeklagten ersetzt wurde, welches mit einer zumindest behaupteten Strafmilderung von ihm erkauft wurde. Die dafür entwickelte Methode des plea bargaining ist über einhundert Jahre alt, galt dann zwar über viele Jahrzehnte hinweg selbst in den USA als rechtlich sehr zweifelhaft, bis sie schließlich in den letzten 30 bis 40 Jahren vom Obersten Gerichtshof der USA mit dem dort in der Verfassung verankerten Prinzip des rechtsstaatlichen Verfahrens

54 Vgl. etwa Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1227; Rieß, in: FS Lackner (1987), 987; Weigend, ZStW 104 (1992), 486, 505; Schlothauer, StV 2001, 192; ders./Wieder, StV 2004, 504; Meier, GA 2004, 441; eindringlich Wolter, Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007 (1991), 35 m.z.w.N. 55 Kamisar/La Fave/Israel (Fn 33), 1268 ff.; Whitebread/Slobogin (Fn. 33), 646. 56 Dazu eingehend Hauer, Geständnis und Absprache, 2007, 188 ff. 57 Näher ausgeführt in meinem Beitrag zur FS Fezer (Fn. 30).

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(due process of law) für vereinbar erklärt wurde58. Seitdem werden weit über 90 % der amerikanischen Strafverfahren in der Weise abgewickelt, dass zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger ein guilty plea verabredet wird, für das der Beklagte als Gegenleistung eine (zumindest angeblich) mildere Strafe erhält. 2. Genau das ist nun auch in den letzten Jahren in Europa nachvollzogen worden, sei es durch die Gesetzgebung wie in Italien, Spanien, Polen und Frankreich59; oder sei es, wie ausgerechnet in Deutschland, zunächst durch eine die gesetzliche Regelung ignorierende Praxis60 und sodann – in Umkehrung des eigentlichen verfassungsrechtlichen Rangverhältnisses – in „gehorsamem“ Nachvollzug des Richterrechts durch den Gesetzgeber, dessen „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 3. 8. 200961 mit dem einzigen nennenswerten § 257c StPO, der die durch die Zertrümmerung der klassischen Verfahrensstruktur auftretenden immensen Pro58

Eingehende Darstellung bei Schumann, Handel mit Gerechtigkeit, 1977, 73 ff.; Trüg, Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen, 2003, 146 ff.; Whitebread/Slobogin (Fn. 33), 625 ff.; Kamisar/LaFave/Israel (Fn. 33), 1204 ff.; Haddad/Meyer/Zagel/Starkman/Bauer, Criminal Procedure, 5. Aufl., New York, 1998, 1059 ff. 59 Vgl. zum italienischen pattegiamento Codice di Procedura Penale eingehend Orlando ZStW 116 (2004), 120 ff. m. zahlr. weit. Nachw.; Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozessrecht, 1999, 232 ff.; Fachiotti, in: Archivum Juridicum Cracoviense 1998 – 99, Vol. XXXI – XXXII, S. 31 ff.; Montagni, Patteggiamento della pena, 2. Aufl. 2004; Bogner, Absprachen im deutschen und italienischen Strafprozessrecht, 2000, 135 ff.; Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen – Zugleich ein Beitrag zur Reformdiskussion unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Regelung einvernehmlicher Verfahrensbeendigung, 2006, 189 ff.; zu Spanien vgl. Art. 801, Abs. 2 spanischer LECrim; dazu Armenta Deu, Lecciones de Derecho Procesal Penal, Barcelona, 2. Aufl., 2004, 261 ff., insbes. 264 ff..; zu Polen vgl. die Art. 335, 343, 387 der polnischen Strafprozessordnung, dazu Kardas in: Szwarc (Hrsg.), Das dritte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, Poznn (2006), 131 ff.; für die (freilich auf die Kleinkriminalität beschränkte) Regelung in Frankreich vgl. das Gesetz Nr. 2004 – 204 vom 9. 3. 2004, dazu Cr, Composition pnale, 2004. 60 Vgl. nur BGHSt 43, 195; 49, 255; BGHSt GrS 50, 41; BGH NStZ 2004. 342; StV 2007, 230; w.N.b. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 51. Aufl. 2008, Einleitung Rdn. 119 ff. Zu meiner seit zwei Jahrzehnten daran geübten Kritik s. Schünemann, in: Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg (Hrsg.), Absprachen im Strafprozeß – ein Handel mit der Gerechtigkeit? 1987, S. 24 ff; ders., in: FS Pfeiffer, 1988, S. 461 ff.: ders., NJW 1989, 1895 ff; ders., JZ 1989, 984 ff.; ders., Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, 1990; ders., in: FS Baumann, 1992, S. 361 ff.; ders., StV 1993, 657 ff.; ders., ZStW 114 (2002), 1, 25 ff., 55 ff.; ders., FS Riess, 2002, 525 ff.; ders., GS Vogler, 2004, 81 ff.; ders., StraFo 2004, 293 ff.; ders., FS Heldrich, 2005, 1177 ff.; ders., Strafprozessuale Absprachen in Deutschland – Der Rechtsstaat auf dem Weg in die „Bananenrepublik“?, in: Schriften der Juristischen Gesellschaft Mittelfranken zu Nürnberg e.V. Heft 19, 2005; ders., Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur – Die Urteilsabsprachen als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, 2005; ders., ZRP 2006, 63 f.; ders./Hauer, AnwBl. 2006, 439 ff.; ders., ZStW 119 (2007), 945, 950 ff.; ders., Die Hauptverhandlung im Strafverfahren – Was sie leistet, wo sie versagt und in welcher Form sie bewahrt werden muss, StraFo 2010, 90 ff. 61 BGBl I 2353.

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bleme auf dem qualitativ niedrigsten und quantitativ kümmerlichsten Niveau einer bloßen Choreographie geregelt oder besser gesagt ungeregelt gelassen hat.62 IX. Die Unvereinbarkeit der heute global dominierenden Prozessstruktur mit dem Rechtsstaatprinzip 1. Dass der Strafprozess als Ziel die Auffindung der materiellen Wahrheit haben muss, dass er den Beschuldigten als Prozesssubjekt respektieren muss und dass er ihm deshalb eine faire Chance einräumen muss, den Beschuldigungen der Anklage erfolgreich entgegenzutreten, habe ich eingangs als die drei Säulen der Herausarbeitung des modernen rechtsstaatlichen Strafverfahrens beschrieben. Wer hinter diese drei Forderungen zurückgeht und sie preisgibt, gibt den Rechtsstaat selbst preis. Ein Staat, in dem diese Grundsätze nicht mehr anerkannt sind, kann nicht als Rechtsstaat bezeichnet werden. Die Folgerung, dass mit der Zerstörung der gesamten Prozessstruktur des 19. Jahrhunderts solange, wie für die rechtsstaatlichen Pfeiler dieses Modells keine Kompensation entwickelt worden ist, der rechtsstaatliche Strafprozess selbst zerstört wird, ist angesichts dieser Prämissen ein analytisches und damit unbezweifelbares Urteil. Es ist daher vom Rechtsstaatsprinzip unabweisbar geboten, für die traditionelle, aber mittlerweile preisgegebene Prozessstruktur „Wahrheitsfindung allein in der Hauptverhandlung in Zusammenarbeit mit der nach dem Prinzip der Waffengleichheit organisierten Verteidigung“ ein rechtsstaatliches Äquivalent zu finden. 2. Hierin lasse ich mich insbesondere auch nicht dadurch beirren, dass die deutsche Reformdiskussion im Strafprozess gegenwärtig in eine Sackgasse geraten ist, aus dem der Gesetzgeber einen Ausweg auf einem Niveau gesucht hat, das ich beim besten Willen nur als rechtsstaatlich unerträglich bezeichnen kann. Vor einiger Zeit hatte zwar das Justizministerium die Idee aufgegriffen, die erforderliche Kompensation mit Hilfe des sogenannten partizipatorischen Ermittlungsverfahrens zu suchen, also dadurch, dass die Verteidigung bereits im Ermittlungsverfahren Einfluss auf die Beweiserhebungen nehmen und dadurch deren Einseitigkeiten kontrollieren und korrigieren konnte63. Die hiermit verbundenen Erwartungen waren aber wohl von Anfang an illusionär, denn man wollte die Mitwirkungsbefugnisse der Verteidigung nicht auf die polizeilichen Zeugenvernehmungen ausdehnen, in denen nun aber nach meinen bisherigen Überlegungen die eigentliche Substanz des Ermittlungsverfahrens besteht, weil durch sie die endgültige Entscheidung weitestgehend determiniert wird. Erst recht war überhaupt nicht daran gedacht worden, wie die geheimdienstlichen Methoden, die das heutige Ermittlungsverfahren weithin beherrschen, wieder in eine Balance mit den Verteidigungsrechten gebracht werden könnten. Nachdem auf dem Deutschen Juristentag 2004 die Vorschläge für ein partizipatori62

Vgl. zur Kritik Fischer, StraFo 2009, 177 ff.; Schünemann, ZRP 2009, 104 ff.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 19 ff. 63 Siehe die Vorschläge bei Däubler-Gmelin, StV 2001, 359; dazu von Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445 ff.

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sches Ermittlungsverfahren von den dort stets in der Mehrheit antretenden Richtern und Staatsanwälten abgelehnt wurden64, hat man eine Lösung auf dem niedrigsten Niveau gesucht, nämlich indem die in Deutschland ursprünglich gegen das Gesetz praktizierten, von der Rechtsprechung als richterliche Rechtsfortbildung ausgegebenen Absprachen ohne große Änderungen in der Verfahrensstruktur schlichtweg legalisiert worden sind65. Ich selbst habe diese Pläne in Deutschland ohne Beschönigung als Wetterzeichen für einen Niedergang oder sogar Untergang der deutschen Rechtskultur qualifiziert66 und sehe bis heute keine Veranlassung, davon abzurücken.

X. Die Entwicklung einer rechtsstaatlichen Prozessstruktur für das 3. Jahrtausend: ein Viersäulenmodell 1. Freilich darf man angesichts dieses Befundes, dass der Strafprozess in den westlichen Ländern die rechtsstaatliche Balance eingebüßt hat, nicht in den Fehler verfallen, einfach eine Rückkehr zum Modell des 19. Jahrhunderts zu verlangen. Denn die eingetretene Entwicklung ist ja nicht dem Zufall oder einer explizit rechtsfeindlichen Einstellung der Justiz zu verdanken, sondern stellt eine modernisierende Anpassung an die Modernisierung der Kriminalität dar, die in der entwickelten, sich immer mehr globalisierenden Industriegesellschaft in Gestalt der organisierten ökonomischen und politischen Kriminalität viel gravierendere Herausforderungen für die Strafjustiz schafft als die Abenteurer- und Elendskriminalität des 19. Jahrhunderts. Es muss deshalb eine Prozessstruktur entwickelt werden, die diesen Herausforderungen gewachsen und zugleich rechtsstaatlich ist. 2. Was die heute in den westlichen Ländern verbreitete Ersetzung der Hauptverhandlung durch eine Urteilsabsprache anbetrifft, so lautet die entscheidende Frage: Wie kann man einen Strafprozess legitimieren, der im Grunde nur aus dem Ermittlungsverfahren besteht, an dessen Ende der Beschuldigte mit dem Angebot einer erheblichen Strafmilderung, welches ja die Androhung einer erheblichen Strafschärfung für den Fall der Hauptverhandlung zur Kehrseite hat, zum Verzicht auf eine echte Hauptverhandlung und zur Unterwerfung unter die vom Staatsanwalt oder 64

Siehe Verhandlungen des 65. DJT, 2004, Bd. II, O 89 ff. Zu den dem Verständigungsgesetz vorangegangenen Entwürfen offizieller Stellen s. Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen des Deutschen Bundestages und des Bundesministeriums der Justiz, StV 2004, 228 ff.; Bundesrechtsanwaltskammer, Vorschlag einer gesetzlichen Regelung der Urteilsabsprache im Strafverfahren, ZRP 2005, 235, 237; dazu meine Kritik in ZRP 2006, 63 f.; Referentenentwurf zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, zu finden unter http:// www.bmj.bund.de/media/archive/1234.pdf; Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Absprachen in Strafverfahren, BR-Drucks. 236/06; zuletzt der von der Bundesregierung Anfang 2009 beschlossene „Gesetzesentwurf zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ (BT-Dr 65/09, identisch der Entw. der Regierungsfraktionen, BT-Dr 16/11736). 66 s. o. Fn. 60 sowie Schünemann, FS Fezer (2008), 507 ff.; ähnlich Fischer NStZ 2007, 433 ff.; Hauer (Fn. 56), 47 ff. 65

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Richter für richtig gehaltene Strafe gebracht wird? Meiner Meinung nach kann und muss der Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Praxis und den vom materiellen Recht vorgegebenen Legitimationsbedingungen in folgender Weise gesucht werden: Wenn in vielen oder sogar den meisten Strafverfahren das Endergebnis ohne echte Hauptverhandlung direkt aus dem Ermittlungsverfahren abgeleitet wird, dann muss schon dieser Verfahrensabschnitt genügende Garantien enthalten, um als ein Instrument zur Findung der materiellen Wahrheit qualifiziert werden zu können. Das gegenwärtige Ermittlungsverfahren in den USA nicht anders als in Europa enthält diese Garantien nicht, weil es einseitig von der Polizei und allenfalls noch von der Staatsanwaltschaft geführt wird, während die Stellung der Verteidigung so schwach ist, dass man von einer Kontrolle der Richtigkeit der Ermittlungen und von einer Balance zwischen Belastungs- und Entlastungsversuchen nicht sprechen kann. Das Ermittlungsverfahren ist im Grunde identisch mit dem alten Inquisitionsprozess und leidet damit an allen seinen Einseitigkeiten und Gebrechen, die vor 200 Jahren zur Reform des Strafverfahrens in Europa geführt haben67. Man muss also die Kontrollmechanismen und Ausbalancierungen, die damals durch die Erfindung der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung geschaffen wurden, schon in das Ermittlungsverfahren einbauen. 3. Insoweit sehe ich drei Möglichkeiten, um schon im Ermittlungsverfahren eine wenigstens einigermaßen hinreichende Balance zwischen den Verfolgungsinteressen und der Kontrollierbarkeit durch die Verteidigung herzustellen. a) Als erstes muss für alle heimlichen Ermittlungsverfahren eine neue und zusätzliche Institution geschaffen werden, die nicht mit Staatsanwalt oder Strafjustiz identisch ist, sondern ausschließlich die Aufgabe eines Schutzes der Verteidigungsinteressen verfolgt. In meinen Vorschlägen für die Reform des europäischen Strafrechts habe ich sie „Proto-“, also „Voraus-Verteidigung“ genannt68. Sie wäre vom Staat zu finanzieren, würde anders als der Verteidiger selbst zur Verschwiegenheit gegenüber dem Beschuldigten verpflichtet sein, aber dessen Interessen bei allen heimlichen Ermittlungsmaßnahmen und in diesem Sinn eine Kontrollaufgabe wahrnehmen. Für alle Einzelheiten muss ich auf die für die transnationalen Ermittlungsverfahren vorgeschlagene Einrichtung eines „Eurodefensor“ verweisen.69

67 Dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Auflage (1968), S. 52 ff.; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. (1985) S. 67; von Kries, Lehrbuch des deutschen Strafprozessrechts, 1892, S. 60 ff.; Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens, 1857; Mittermaier, Die Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren nach ihrer Fortbildung, 1856; Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 6. Aufl. 1857, S. 525 ff.; Zachariä, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846. 68 Siehe dazu den Vorschlag der gleichnamigen Arbeitsgruppe in: Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, 2004, S. 19; dazu Schünemann, ZStW 116 (2004) S. 388 ff.; Nestler ZStW 116 (2004), 351 f. 69 Dazu die Beiträge von Nestler und Szwarc in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die Europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 166 ff., 181 ff., sowie die Vorschläge ibid. S. 49 – 56.

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b) Zum zweiten müssen sämtliche Zeugenvernehmungen von Anfang an per Video aufgezeichnet werden, weil nur auf diese Weise der Verteidiger später, wenn er volle Akteneinsicht bekommt, die Verlässlichkeit einer Zeugenaussage beurteilen kann. Denn die gegenwärtige Praxis, die Zeugenaussage nur schriftlich aufzuzeichnen, führt, wie zahlreiche empirische Untersuchungen bewiesen haben, zu einem künstlichen Produkt aus dem Wissen des Zeugen und den leitenden Hypothesen der Vernehmungsbeamten70. Und es ist später nicht mehr zuverlässig feststellbar, was als eigenes Wissen des Zeugen und was als Mutmaßung und Formulierung des Vernehmungsbeamten in das schriftliche Protokoll eingeflossen ist. Allein die komplette Videoaufzeichnung ermöglicht es deshalb später dem Verteidiger, etwa in der Aussage eines Belastungszeugen dessen wirkliches Wissen von den von der Polizei hineingetragenen Vermutungen zu unterscheiden und dadurch zuverlässig zu beurteilen, ob die Ermittlungen zur Auffindung der materiellen Wahrheit geführt haben und deshalb als Basis für die Abschlussentscheidung akzeptiert werden können. c) Drittens muss der Verteidiger, wie es heute unter gewissen Bedingungen nach dem Prozessrecht der USA schon möglich ist71, ein gesichertes Recht zur eigenen Zeugenvernehmung bekommen. Derartige eigene Beweiserhebungen des Verteidigers sind zwar heute auch schon im europäischen Strafprozess möglich und in der italienischen Strafprozessordnung sogar detailliert geregelt72. Es fehlt hier aber jede Pflicht des Zeugen, zur Vernehmung vor dem Verteidiger zu erscheinen, so dass es völlig vom guten Willen des Zeugen abhängt, ob er aussagt oder nicht. Nur durch ein gesichertes Vernehmungsrecht kann aber eine Waffengleichheit im Ermittlungsverfahren erreicht und dadurch eine als Basis der Abschlussentscheidung unverzichtbare Balance zwischen Verfolgungs- und Verteidigungsrechten hergestellt werden. Selbstverständlich müsste auch die Vernehmung durch den Verteidiger vollständig per Video aufgezeichnet werden, um etwaige Versuche des Verteidigers zur Zeugenbeeinflussung zu dokumentieren. d) Nachdem der Gesetzgeber in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht müde geworden ist, die moderne Observations- und Kommunikationstechnik für die polizeiliche Überwachung wie für die Strafverfolgung fruchtbar zu machen73, ist es höchste Zeit, sie zur Herstellung der Verfahrensbalance auch zu Gunsten des Beschul70 Dazu Schünemann, in: FS Pfeiffer (1988), 478; ders., ZStW 114 (2002) 1, 21; ders., StraFo 2004, 293 f.; ders., in: GS Vogler (2004), 86.; ders., ZStW 2007, 957; Park, Die Wahrheitsermittlung im Ermittlungsverfahren, 2003, 98 ff. 71 Dazu Kamisar/La Fave/Israel (Fn. 33), 1146 f.; Whitebread/Slobogin (Fn. 33), 590.; sowie Park (Fn. 70), 151 ff. m.w.N. 72 Vgl. den mit Gesetz vom 7. Dezember 2000 eingeführten Artikel 391 der italienischen Strafprozessordnung. 73 Neben der Telekommunikationsüberwachung nach § 100 a StPO und dem „Lauschangriff“ nach §§ 100 c, 100 d und 100 f StPO vgl. etwa § 100 g StPO (Erhebung von Verkehrsdaten bei der Telekommunikation); § 100 i StPO (Einsatz von „IMSI-Catchern“ zur Ermittlung des Standorts und zur Identifizierung von Handybenutzern) sowie die Befugnis zur OnlineDurchsuchung von Computern in § 20k des BKA-Gesetzes vom 25. Dezember 2008, BGBL I 3083.

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digten zu nutzen, beispielsweise indem die Untersuchungshaft weitestgehend durch die elektronische Fußfessel als mildere Maßnahme ersetzt wird74. 4. Nur wenn diese vierfache Reform des Ermittlungsverfahrens durchgeführt würde, ließe sich davon sprechen, dass die Verteidigung an dessen Ende zuverlässig beurteilen kann, ob dessen Ergebnisse die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage tragen und ob es deshalb zur Abkürzung des Verfahrens sinnvoll ist, das von der Staatsanwaltschaft oder von einem Richter vorgeschlagene Ergebnis ohne Hauptverhandlung zu akzeptieren. Damit das betreffende Angebot der Justiz nicht zu einem unzulässigen, praktisch die Entschlussfreiheit des Angeklagten zerstörenden Druck führt, muss freilich der Rabatt, der bei einem Verzicht auf die Hauptverhandlung möglich ist, eng begrenzt werden75. Dies würde auch allein mit dem Strafzumessungsrecht in Übereinstimmung sein, denn danach könnte man die Abkürzung des Verfahrens als eine kleine Wiedergutmachung gegenüber der Rechtsordnung qualifizieren und daraus einen freilich vom Umfang sehr beschränkten Strafrabatt legitimieren76. In der Praxis würde das etwa so ablaufen können, dass die Staatsanwaltschaft mit der Anklage zwei Strafmaßvorschläge unterbreitet, einen für den Fall nach Durchführung einer vollständigen Hauptverhandlung und einen für den Fall des Verzichts des Angeklagten auf die Hauptverhandlung, wobei die Differenz maximal 20 % ausmachen dürfte. Wenn sich der Angeklagte aufgrund der verbesserten Garantien im Ermittlungsverfahren davon überzeugt hat, dass er ohnehin kaum reelle Freispruchschancen besitzt, wird er auf die Hauptverhandlung verzichten und sich der ermäßigten Strafe unterwerfen. Legitimierend wirkt hier dann aber nicht sein Konsens als solcher, sondern seine Einsicht darin, dass die Ermittlungen bereits zur Auffindung der materiellen Wahrheit geführt haben. Wählt er die Hauptverhandlung, so ist er durch den zweiten Strafmaßvorschlag der Staatsanwaltschaft davor geschützt, zur „Strafe“ für seine prozessuale Hartnäckigkeit mit einer exorbitant höheren Strafe belegt zu werden. Es muss also die höhere Strafmaßbenennung der Staatsanwaltschaft mit einem Verbot der reformatio in peius verbunden werden, wovon man Ausnahmen zulassen kann, wenn die Hauptverhandlung ganz entscheidend schwerere Delikte zutage fördert, etwa dass statt einer unerlaubten Schießerei ein Mord gegeben war. XI. Ergebnis Mein Überblick über die globale Situation des rechtsstaatlichen Strafrechts und Strafverfahrens in der Gegenwart hat gezeigt, dass sich die Idee des liberalen Rechts74 Vgl. nur Jolin/Rogers, MschrKrim 1990, 201 ff.; Krahl, NStZ 1997, 457 ff. sowie die Stellungnahme von Roxin bei Julius in ZStW 111 (1999), 889, 906; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 30 Rn. 3. 75 Auch in diesem Punkt lässt die Rechtsprechung des BGH eine ausreichende Domestizierung der tatrichterlichen „Sanktionsschere“ vermissen, wenn beispielsweise in einem Verfahren wegen Raubes die Alternative „4 12 oder über 7 Jahre Freiheitsstrafe“ toleriert wird (BGH NStZ 2007, 655). 76 Dazu Schünemann/Hauer AnwBl. 2006, 439; Hauer (Fn. 56), 312.

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staats in der politischen Realität der postmodernen Gesellschaft in einer tiefen Krise befindet. Dass ihre heutige Verdunkelung in absehbarer Zeit überwindbar ist und sie in der Zukunft ihre Strahlkraft zurückgewinnen kann, muss als ebenso unwahrscheinlich angesehen werden wie die Wiederherstellung der sie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts tragenden gesellschaftlichen Zustände. Die das Strafverfahren beherrschende Mischung aus einem von geheimpolizeilichen Methoden dominierten Ermittlungsverfahren und einem von der Willkür der Urteilsabsprachen geprägten Hauptverfahren hat sich ebenso weit von dem Idealtypus des liberalen Rechtsstaats entfernt wie es der Staat, der die traditionelle Daseinsvorsorge aus Finanzknappheit herunterfährt, aber das aus Gewinn- und Spielsucht geborene Debakel der Finanzkonglomerate zu Lasten der Allgemeinheit saniert und dadurch vom Bankrottstrafrecht entkriminalisiert77, von dem Ideal sozialer Gerechtigkeit getan hat. Die von einer kontraproduktiven Politik mit wachsender Tendenz ausgelöste Virulenz des internationalen Terrorismus bietet unerschöpflichen Brennstoff für „governing through crime“78 und für die Dominanz einer spezifisch geheimpolizeilichen Dimension des Sicherheitsdenkens in dem von der EU verheißenen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 67 AEUV), die in dem Ende 2009 verabschiedeten Stockholmer Programm79 recht unverblümt zum Ausdruck kommt. „Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr“, hat Hölderlin in der Morgendämmerung der rechtsstaatlich-liberalen Epoche den Empedokles sagen lassen. Heute, rund 200 Jahre später, könnte auch die Zeit des liberalen Rechtsstaats vorbei sein, jedenfalls auf dem Gebiet der Strafrechtspflege.

77 Denn die Strafbarkeit des Bankrotts (§ 283 StGB) ist an die objektive Strafbarkeitsbedingung geknüpft, dass das Insolvenzverfahren eröffnet oder mangels Masse abgelehnt worden ist, so dass eine mit Steuergeldern (bzw. Kreditaufnahmen zu Lasten der Bürger) finanzierte Sanierung selbst den Milliardenbankrotteur vor Strafverfolgung schützt, s. Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, 2010, S. 71 ff., 100 f. 78 Dazu Simon, Governing through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, 2007; Sack, Governing through Crime, in: FriedrichEbert-Stiftung (Hrsg.), Sicherheit vor Freiheit? Terrorismusbekämpfung und die Sorge um den freiheitlichen Rechtsstaat, 2003, S. 59 ff.; ders., Wie die Kriminalpolitik dem Staat aufhilft. Governing through Crime als neue politische Strategie, in: Lautmann/Klimke/Sack (Hrsg.), Punitivität, 8. Beiheft KrimJ 2004, 30 ff.; Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 830 ff. 79 Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, Ratsdok. 17024/09.

Die geschichtliche Entwicklung des Rechtsstaatsprinzips Von Heinrich Scholler I. Einleitung Das Grundgesetz hat in den Artikeln 20 Abs. 1 und 28 das Rechtsstaatsprinzip verankert, indem es kraft Verfassungsrecht den Staat auf die Verwirklichung des „Sozialen Rechtsstaates“ festlegt. Um die geschichtliche Entwicklung dieses Begriffes aufzuzeigen, soll im Nachfolgenden nicht nur die rein innerdeutsche Entwicklung betrachtet werden, es muss vielmehr die Entstehung und Verbreitung dieses Grundsatzgedankens im Sinne einer europäischen Rechtsentwicklung interpretiert und dargestellt werden. Denn der engere Begriff des „Rechtsstaates“ taucht in Deutschland tatsächlich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, aber die Sache, die damit gemeint ist, ist als Gedanke und als Prinzip schon sehr viel früher diskutiert und auch schrittweise entwickelt und garantiert worden. Versteht man daher den Gedanken des Rechtsstaates als Rechtsstaatsgarantie im weiteren Sinne, dann umfasst diese Garantie nicht nur die Bindung der Verwaltung an das Gesetz im formellen und evtl. auch im materiellen Sinne (formeller und materieller Rechtsstaatsgedanke), sondern eben auch andere Prinzipien: die Garantie der Entscheidung durch unabhängige Gerichte oder unabhängige Richter, die Trennung der Staatsgewalten, die Entwicklung der Verwaltungsund Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die Entstehung des modernen Rechtsbegriffes. Nicht zu übersehen ist dabei, dass ein wichtiger erster Schritt darin bestand, den modernen Rechtsstaat im umfassenden Sinne dadurch herzustellen, dass die Abhängigkeit staatlicher Maßnahmen sowohl im Gesetzgebungs- wie auch im Verwaltungsund Rechtsprechungsbereich von kirchlicher Genehmigung und Anordnung aufgehoben und beseitigt wurde; und zwar insofern, weil die Trennung der weltlichen und geistlichen Gewalt und damit die Herstellung der Zivilgesellschaft der erste große Schritt zur Realisierung des Rechtsstaates war. Deshalb muss jede historische Untersuchung der Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens mit dem 16. Jahrhundert beginnen. Der Begriff Rechtsstaat wurde damals natürlich nicht verwendet, er wurde erst Anfang des 19. Jahrhunderts, nach der Französischen Revolution, unter dem System der konstitutionellen Monarchie auch in Deutschland eingeführt. Möglicherweise hat das englischrechtliche Prinzip des „Rule of Law“ hier eine wichtige Rolle gespielt, wie später gezeigt werden soll. Im weiteren Verlauf der Ausführungen wird auch die französische und englische Entwicklung zum Rechtsstaat (wie oben „Rule of Law“) bzw. zur französischen Form des Rechtsstaates kurz dargestellt werden. Die Entwicklung in England hat eine be-

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sondere Bedeutung gehabt für die Bemerkung der Unabhängigkeit des Richters und der Gerichte, diejenige in Frankreich hat sich vor allem auf die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland ausgewirkt, die lange Zeit als zentraler Baustein der deutschrechtlichen Rechtsstaatsgarantie angesehen wurde.

II. Die Beseitigung der geistlichen Gewalt und deren Bedeutung für die Entwicklung des religions- oder konfessionsunabhängigen Staates Die Religion war bis in die Neuzeit hinein für den Staat von großer Bedeutung und wurde durch den Kernsatz gut umschrieben: religio est vinculum societatis. Es war verständlich, dass die römische Kirche nach dem Zusammenbruch des oströmischen Reiches 1453 eine besondere Gefahr für den Fortbestand auch des weströmischen Reiches im Islam sah und deshalb allen religiösen Neuerungen entschieden entgegenzutreten versuchte. Anfang des 16. Jahrhunderts zeigten sich vor allem von Deutschland ausgehend wirtschaftliche und religiöse Veränderungen und Neuorientierungen. Nachdem der Seeweg nach Indien verschlossen worden war und sich Staat und Wirtschaft auf den neuen Seeweg nach Westen aufmachten, entwickelte sich auch ein neues oder vertieftes Verständnis der christlichen Botschaft. Dies führte zu einem Zustand, den die Rechtsurkunden als die Entstehung der „spaltigen Religion“ bezeichnen. Der Augsburger Religionsfriede von 15551 und der Westfälische Friede von 1649 (das instrumentum partis osnabrogense) sind staatsrechtliche und völkerrechtliche Urkunden zur Regelung der Beziehungen zwischen Bürger, Staat und Kirche. Die Bedeutung dieser „religiösen Spaltung“ lag aber vor allem auch darin, dass die gegenseitig gewährte Toleranz zur Entwicklung der so genannten Zivilgesellschaft führte, die eine weitere Sicherung eines rechtsstaatlichen Prozedere der beteiligten Mächte wurde. In Bezug auf den Augsburger Religionsfrieden hat Leopold von Ranke den dadurch hervorgerufenen religiösen und rechtsstaatlichen Schwebezustand wie folgt charakterisiert: „Noch bestanden aber die beiden Gewalten, von welchen man sich losriss. Noch lebte der Kaiser und war in der Nähe, der den Einrichtungen einen ganz anderen, einen dynastischen und religiösen Charakter zu geben gesucht hatte. Noch hielt das Papsttum alle seine Ansprüche fest und war mächtig genug, um sich nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wir haben zu betrachten, welches Verhältnis sich nach beiden Seiten hin in diesem Augenblick bildete.“2 1

Carl A. Hoffmann u. a. (Hrsg.), Als Frieden möglich war – 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Augsburg 2005; Martin Heckel, „Der Augsburger Religionsfriede“, in: JZ 2005, S. 961 ff.; Heinz Schilling, „Der Augsburger Religionsfrieden als deutsches und europäisches Ereignis“, Festvortrag in Augsburg vom 25. 09. 2005; Heinrich Scholler, „Von der Kirche der ,spaltigen Religion des Augsburger Religionsfriedens zur modernen Garantie des Pluralismus von Religionsgesellschaften“, in: Stoklosa/ Strübind (Hrsg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA, Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag, Göttingen 2007. 2 Leopold von Ranke, Weltgeschichte/ Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 5, Hamburg 1925, S. 341.

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Der westfälische Friede brachte einen Zustand der Parität zwischen den beiden Konfessionen und eine gestufte Glaubensfreiheit, deren unterste Ausprägung die Hausandachtsgarantie war, die seitdem für lange Zeit die Bezeichnung Gewissensfreiheit trug. Damit war auch der materielle Rechtsstaat und nicht nur der formelle in seinen Ansätzen entworfen.3 Unter dem formellen Rechtsstaat verstand man die Notwendigkeit der Legitimation der staatlichen Eingriffs- und Lenkungsmaßnahmen durch Akte der Gesetzgebung, während man vor allem später unter dem materiellen Rechtsstaat die Anreicherung der Rechtssphäre des Bürgers durch eine Erweiterung seiner Grundrechtssphäre verstand. Bis zum Ende des Kaiserreiches hatte sich trotz der Lockerung der Zentralgewalt eine Art staatliche Kontrolle des Reiches erhalten, die dem Bürger einen gewissen Schutz durch die Entwicklung des älteren Justizstaatssystems bot. Rüfner spricht von der Ausübung einer Reichsaufsicht als eine Art „Rechtsmäßigkeitsaufsicht“ zum Schutz der Bürger.4 III. Die Unabhängigkeit des Richters und der Gerichte 1. Häufig wird die Auffassung vertreten, dass die englischen Grundsätze des Rule of Law in ihrer Anerkennung durch den englischen Monarchen Grundlage der Entwicklung des modernen Rechtsstaates waren. Dabei zählt man auch den „Habeas Corpus“-Grundsatz der Magna Charta Libertatum, der seit 1215 jedem „free man“ garantierte, dass er nur aufgrund einer richterlichen Entscheidung inhaftiert werden durfte, zu einem elementaren Teil des Rule of Law-Prinzips. Dabei übersieht man, dass das englische Rechtsdenken von einem ganz verschiedenen Ausgangspunkt ausgeht, wenn es im Grundsatz des Rule of Law, d. h. im Prinzip der Herrschaft des Rechtes als eines eigentlich natürlich vorstaatlichen Regelungswerkes ausgeht, das nicht willkürlich von einem staatlichen Organ erlassen werden kann, sondern nur von einem ordentlichen Gericht „gefunden“ und damit anerkannt werden kann. Deswegen entwickelt sich auch das englische Recht als Case Law aus den Urteilssprüchen der höchsten richterlichen Gerichte, die dann auch entsprechend der beteiligten Partei zitiert werden. So entwickelte sich das englische Recht aufgrund der intensiven Auseinandersetzung zwischen den Richtern als „Rechtssucher“ gegenüber den Kompetenz- und Machtansprüchen der sich entwickelnden staatlichen Gewalt. Modernisierung, Rationalisierung und Zentralisierung des englischen Rechtes wurden von der spätmittelalterlichen englischen Monarchie vorangetrieben, während sich die Gerichte diesem Prozess mit der Berufung auf das gute alte Recht entgegen setzten. Die Grundsätze von Rule of Law entwickelten sich so aus dem Kampf von Parlament und Gerichten gegen die monarchische Gewalt. Später entstand jedoch auch eine 3 Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland, Leipzig 1891. 4 Diese Rechtsmäßigkeitsaufsicht muss durchaus als ein Element der Entwicklung zum System der Rechtsstaatlichkeit angesehen werden, in: W. Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, Bonn 1962, S. 26.

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wachsende Spannung zwischen den Gerichten und den Parlamenten, als die ersteren die Kontrolle der parlamentarischen Entscheidungen durch die höchste richterliche Gewalt postulierten. Deshalb ist für die Entwicklung des englischen Common Law die Bedeutung des Case Law, also des Urteilsspruchs, besonders hervorzuheben.5 Wichtige Entscheidungen auf diesem Gebiet waren folgende Urteile: Wentworth Case 1576, Sir Francis Goddwins Case und Thomas Shirleys Case 1613.6 In weiteren Fällen wurden Grundsätze bestätigt oder weiterentwickelt, die den modernen Rechtsstaat in Großbritannien prägen, so z. B. im Case of Writs of Prohibition. Hier wurde ein Grundsatz anerkannt, den man wie folgt ausdrückte: „rex non debet esse sub homine sed sub deo et lege“. Um die Bedeutung der Urteile in der Entwicklung des Common Law und der rechtsstaatlichen Organisation näher zu beschreiben, sollen noch zwei weitere Fälle hervorgehoben werden. So hat das Gericht im Sommersetts Case den „Habeas Corpus“-Grundsatz, der auf die Magna Charta zurückgeht, auch auf farbige Bürger angewandt und der wohl zur gleichen Zeit entschiedene Fall Ashley vs. White hat den Grundsatz „Due Process of Law“ anerkannt. Auch hierbei handelt es sich um ein Element des Rule of Law-Prinzips, das man heute vielleicht treffender mit der Garantie des angemessenen und fairen Verfahrens bezeichnen kann. Die spezielle Prägung, die das angelsächsische Rechtsprinzip „Rule of Law“ in der geschichtlichen Entwicklung hatte, wurde von Dicey unter den folgenden drei Gesichtspunkten prägnant zusammengefasst: a) Absolute supremacy or predominance of regular law – Absolute Vorrangigkeit des einfachen Gesetzes Hierunter versteht er den Ausschluss von Ermessensbefugnissen der Exekutivgewalt, insbesondere die Beseitigung der so genannten Prärogative der monarchischen Gewalt auf dem Gebiet der Rechtsetzung. b) Equality before the law – Gleichheit vor den Gesetzen Hierunter versteht Dicey mit der herrschenden angelsächsischen Auffassung die Alleinzuständigkeit des „ordinary law“ und der „ordinary law courts“, also der ordentlichen Zivilgerichte. Das angelsächsische Recht ist bis zur Gegenwart der Entwicklung von speziellem Verwaltungsrecht und von Verwaltungsgerichten feindselig gegenübergetreten. Man sah darin eine Gefahr der „Kabinettsjustiz“ und der ungleichen Behandlung vor Gericht. 5

R. Pound, Readings on the History and System of the Common Law, 2. Auflage, Boston 1913, v. a. S. 37 ff.; M. Weiss, Die Theorie der richterlichen Entscheidungstätigkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankfurt/ Main 1971, S. 37, 48 ff.; D. Blumenwitz, Einführung in das Anglo-Amerikanische Recht, München 1971, S. 5 ff. 6 Weitere häufig zitierte Entscheidungen waren: Case of Proclamation, Case of Protestation of Parliament, Five Knights Case 1628, Habeas Corpus Act 1679 und Seven Bishops Case 1689. Siehe hierzu: DEwes, „Journal of the Proceedings of Parliament“, in: Stephenson/Marcham (Hrsg.), Sources of English Constitutional History, 1937, sowie: R. B. Perry, Sources of Our Liberties, New York 1959.

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c) Constitution is the result of the ordinary law – Die Verfassung ist nur das Ergebnis des ordentlichen Gesetzes Auch dieses Verständnis des Begriffes „Rule of Law“ ist dem kontinentalen Recht entgegengesetzt. Die Verfassung ist in all den Staaten, die über kodifiziertes Recht, insbesondere geschriebenes Verfassungsrecht verfügen, die höchste Autorität und Quelle im Rahmen einer Hierarchie oder Stufung von Rechtsvorschriften. Das Problem von starken oder schwachen Normen, also Rechtshierarchien innerhalb der Verfassung, das auch mit dem Schlagwort „verfassungswidrige Verfassungsnormen“ gekennzeichnet wurde, sei hier nur angedeutet. Im angelsächsischen Recht, das primär vom Common Law als einem judge made law ausgeht, ist das Verfassungsrecht eine Emanation des vom Richter gefundenen und verwirklichten Rechtes. So ist Verfassungsrecht unter dem Prinzip „Rule of Law“ Konsequenz oder Produkt eines allgemeinen law making process der Gerichte. (Selbstverständlich gibt es auch im modernen anglo-amerikanischen Verfassungsrecht „statutary law“ und „parliamentary conventions“.) Dabei haben sich die englische Rechtswissenschaft und die englische Gerichtspraxis eindeutig gegen die Zulässigkeit der Einführung von Verwaltungsgerichten ausgesprochen und gerade unter dem Gesichtspunkt des Rule of Law nur die Richtung der ordentlichen zivilen Gerichtsbarkeit neben der Strafgerichtsbarkeit anerkannt.7 „Due Process of Law“ wurde gleichgesetzt mit dem weiteren Begriff „the Law of the Land“, aber von dem berühmten englischen Juristen Sir Edward Coke mit nachfolgender Definition doch wieder sehr konkret definiert: „by lawful proceeding of which he has full notice and in which he has full and fair hearing“. Die Definition von Daniel Webster zeigt, wie sehr in den Vereinigten Staaten diese Vorstellung übernommen wurde: „There must always be law which proceeds upon inquiry and renders judgment only after trial.“ 2. Es entwickelte sich im aufgeklärten Absolutismus die Unabhängigkeit des Richters als Teil des jus publicum universale. Die Garantie des unabhängigen Gerichtes entsprach aber eher einer Selbstbeschränkung oder Selbstverpflichtung eines an und für sich absoluten Monarchen. In § 79 der Einleitung des ALR (Allgemeines Preußisches Landrecht von 1794) wird beispielsweise die Unabhängigkeit der Gerichte als Teil einer Selbstverpflichtung des Monarchen garantiert.8 Quelle der Unabhängigkeit des Richters und damit der Justizgewalt ist also nicht das Volk oder die Idee einer vorstaatlichen Rechtsordnung, sondern die Selbstverpflichtung und Gewährleistung des Monarchen, wenn diese auch auf Druck der Stände vom Monarchen eingegangen worden war. Die späteren Verfassungsurkunden spiegeln diese Entwicklung nicht immer deutlich genug wieder. Allerdings lag noch die Idee der Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Recht-

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A. V. Dicey, The Law of the Constitution, London 1959, S. 202 f. U. Seif, Recht und Justizhoheit, Berlin 2003, S. 38.

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sprechung dieser Konzeption fern, wie man aus den sog. Kronprinzenvorträgen entnehmen kann. 3. Im 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert entstand ein vorläufig mehr oder weniger abgerundetes Bild eines liberalen Staates, der im Wesentlichen die Abwehr von Gefahren für Eigentum und Leben und die Sicherung der öffentlichen Ordnung im Allgemeinen sich zum Ziel gesetzt hatte. In Deutschland war dieser Zustand aber noch nicht mit der Verfassung der Paulskirche im Jahre 1848/49 erreicht9, und zwar nicht nur, weil sie sich nicht entfalten konnte, sondern auch, weil eine gewisse konservative und repressive Phase bis zum Erlass der Weimarer Verfassung im Jahre 1919 eintrat. Es wird zutreffend behauptet, dass sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts „zunächst nur eine liberale, nicht auch eine demokratische Institutionalisierung der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt“10 habe. Deutlich wird dies besonders durch das „Kreuzberg“-Urteil des Preußischen OVG vom 14. Juni 188211, das eine Bauvorschrift für ungültig erklärte, deren Zweck es war, den Ausblick von einem nationalen Denkmal auf die Stadt Berlin zu gewährleisten. Es wird wohl nicht ohne Recht behauptet, dass eine völlige Angleichung der deutschen rechtsstaatlich-demokratischen Verhältnisse an die Idee des Rechtsstaats erst mit dem Erlass der Weimarer Verfassung im Jahre 1919 erreicht werden konnte. In gewissem Sinne ist aber die grundgesetzliche Garantie des liberalen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates in den Artikeln 20 und 28 GG nicht ein Wiederaufgreifen der Weimarer Verfassungslage, sondern stellt sich vielmehr als Fortsetzung der stärkeren Impulse der Jahre 1848/ 49 dar. 4. In der Strömung des Liberalismus verlangte die bürgerliche Öffentlichkeit, mit einem modernen Ausdruck die „civil society“, die gesetzliche Regelung der Aufgaben und Befugnisse und damit auch der Unabhängigkeit der Gerichte und des Richters. Paul Anselm Feuerbach trat mit diesen Forderungen 1830 in einer anonymen Schrift als erster Wissenschaftler deutlich hervor und lehnte sich damit an die Realisierung der Forderungen Kants an mit der Schrift „Kann die Gerichtsverfassung eines konstitutionellen Staates durch bloße Verordnung rechtsgültig geändert werden?“12 Dort heißt es: „Juge naturel, natürlicher, ordentlicher Richter ist der gesetzliche, d. h. der vom Gesetz bezeichnete, mit anderen Worten, derjenige Richter, welcher jedem Unterthan vermöge des Gesetzes d.i. nach der gesetzlich angeordneten Gerichtsverfassung und in Kraft der Gesetze über Zuständigkeit (Competenz) der Ge-

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Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, Darmstadt 1973, S. 12 ff. Albrecht, in: Staatslexikon, III, 7. Auflage, Bd. 4, Freiburg 1988. 11 PrOVG 9, 353; auch abgedruckt bei v. Münch, Gerichtsentscheidungen zum Polizeirecht, 1971, S. 1 ff., siehe hierzu den kritischen Beitrag von Peter Krause, „Das Allgemeine Landrecht als Naturrechtssurrogat: Zur Behandlung des § 10 II 17 ALR in Rechtsprechung und Literatur im ausgehenden Konstitutionalismus“, in: Schünemann/Müller/Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, Berlin 2002, S. 233 ff. 12 Feuerbach, in: Kleine Schriften gemischten Inhalts, Nürnberg 1833, S. 178 ff. 10

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richte zukommt […].“13 Andere Rechtswissenschaftler folgten dieser Forderung wie z. B. Klüber14 und Mittermaier.15 Als subjektives Recht des Bürgers begreift sich die Garantie des gesetzlichen Richters erst in den Diskussionen, die im Vormärz des Jahres 1848 geführt werden und die dann in die Festlegung der Grundrechtsgarantien der Paulskirchenverfassung von 1848/49 münden.16 Doch wird in der Reichsverfassung von 1871 dieses Grundrecht nicht aufgenommen, da die Reichsverfassung überhaupt die Grundrechtsgarantien den Reichsländern und ihren Verfassungen überlässt, findet aber doch Eingang in die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919, Art. 105. Das Grundgesetz hat sich in Art. 101 Abs. 1 dieser Entwicklung angeschlossen. Eine Ausdehnung auf die gerichtsinterne Organisation, die durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erfolgt, ist eine Reaktion auf die Verletzung der Unabhängigkeit der Gerichte durch die nationalsozialistische Herrschaft von 1933 bis 1945. Damit wird die Zurückweisung der Errichtung von sog. Ausnahmegerichten durch das Grundgesetz selbst sanktioniert. In Frankreich fehlt in der Verfassung von 1852 die Garantie des gesetzlichen Richters, sie wird aber in der Verfassung der Dritten Republik von 1875 wieder zum Ausdruck gebracht. Auch die Französische Verfassung vom 13. Oktober 1946, die Verfassung der 4. Republik, enthält keine Garantie der Unabhängigkeit des Richters. In Großbritannien findet sich aber dennoch eine sehr klare Übereinstimmung mit der kontinentalen Rechtsentwicklung insofern, als es aufgrund des Prinzips „Rule of Law“ und der Parlamentssouveränität unzulässig ist, durch Akte der Krone einseitig in die Gerichtsorganisation einzugreifen oder Sondergerichte zu schaffen. Dagegen besteht ein Unterschied zwischen der britischen Entwicklung und der kontinentaleuropäischen insofern, als hinsichtlich der innerorganisatorischen Geschäftsverteilung die britischen Gerichte eine viel größere Unabhängigkeit und Selbständigkeit haben und hier nicht einer gesetzlichen Regelung bedürfen. In Großbritannien hat der Rechtssuchende kein subjektiv öffentliches Recht im Voraus auf die Zuständigkeit eines bestimmten Richters oder eines bestimmten voraus festgelegten Richters oder Gerichtes. Die Richterbänke sind keine festen Spruchkörper im Sinne des kontinentaleuropäischen Gerichtswesens. Damit sind die entscheidenden Richter austauschbar und gelten als pares in toto, weshalb ihre Mitwirkung nicht im Voraus generell geregelt werden muss oder auch geregelt werden kann. Die „allocation of cases“ ist Aufgabe der Gerichtsverwaltung und wird grundsätzlich nicht durch ein Gesetz geregelt.

13 Ebd. S. 178, 206; s. auch: U. Seif, Recht und Justizhoheit, Berlin 2003, S. 288 ff.; s. auch: Haney, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Heidelberg 1997, S. 233; zur Feuerbachforschung vgl. neuerdings Luis Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009. 14 1762 – 1837, Publizist, preußischer Legationsrat. 15 1787 – 1867, Präsident des Vorparlamentes und Professor an der Universität Heidelberg. 16 Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, Darmstadt 1973, 2. überarb. Auflage, Darmstadt 1982.

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Demgegenüber ist die französische Rechtsentwicklung im Ergebnis viel mehr mit dem deutschen Recht und der deutschen Rechtsentwicklung zu vergleichen. Diese Gleichheit liegt darin, dass auch im französischen Recht der handelnde Richter oder die handelnde Richterbank von vornherein durch Rechtsvorschrift generell abstrakt bestimmt ist. Der Unterschied liegt mehr in der rechtlichen Begründung dieser Garantie. Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter ist im französischen Recht eine Konkretisierung des Anspruches auf Gleichheit vor dem Gericht oder dem einzelnen Richter. Zum Teil wird auch das Argument benutzt, dass es zur Figur des „natürlichen Richters“ gehört, von vornherein generell und abstrakt für den zu entscheidenden Streitfall bestimmt worden zu sein.17 Im Unterschied zu § 547 Nr. 1 ZPO begründen Eingriffe in die innere Geschäftsverteilung nach französischem Recht keinen Anspruch auf gerichtlichen Schutz und gerichtliche Korrektur, es sei denn, dass diese Maßnahmen rein willkürlich erfolgt sind. Dass es sich um willkürliche Erwägungen handelt, muss zudem auch offenkundig erkennbar sein. In einem solchen Fall sieht man dann eine Verletzung von Art. 6 der generellen Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789 in Verbindung mit der Präambel der Verfassung von 1958 als gegeben an. Nach deutschem Recht besteht allerdings keine Freizeichnung für nicht offenkundig willkürliche Verletzungen der innerorganisatorischen Gerichtsentscheidungen, weil auch sie dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter unterliegen, was in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eindeutig herausgestellt wurde.18 IV. Die Gewaltenteilung Die Gewaltenteilung ist ein Produkt der so genannten „Gemischten Verfassung“, die zwischen der gesetzgebenden Gewalt des Volkes und der exekutiven Gewalt einer monarchischen Ordnung unterscheidet. Die Entwicklung unabhängiger Gerichtsbarkeit tritt dann zu diesen beiden Gewalten hinzu, so dass die klassische Gewaltenteilung über drei politische Organisationen oder Funktionen verfügt, die eine gegenseitige Kontrolle und Balance im Staat als dem politischen Gemeinwesen herstellen soll. In der Neuzeit haben Locke und Montesquieu diese bereits in der Antike entwickelten Gedanken wieder aufgegriffen und zu einem wichtigen Instrument moderner Rechtsstaatlichkeit gemacht. Das Organ, das vom Volk gewählt die Gesetze als generelle und abstrakte Anordnungen erlässt (der Gesetzgeber als Parlament oder Rat oder das Volk unmittelbar), soll nicht mit der vollziehenden und anordnenden Gewalt verbunden oder gar identisch sein. Diese anordnende Gewalt erlässt als Exekutive immer nur konkrete und individuelle Maßnahmen, d. h. Maßnahmen, die einen einzelnen Fall regeln (Konkretheit) und die gleichzeitig auch gegenüber einem bestimmten Perso17

Bei einer Reihe von Bestimmungen des französischen Code de lOrganisation Judiciaire besteht keine Sanktion bei ihrer Nichteinhaltung oder Verletzung, s. auch H. Dalle, „A la recherche du juge naturel franÅais“, in: Les ðpisodiques 7, 1992, S. 26. 18 Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. 4. 1997, BVerfGE 95, 322, 329.

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nenkreis (Spezialität) ergehen müssen. Der ältere Denker John Locke hat in seinen bekannten „Two Treatises“ von 1689 dem Parlament, in dem auch der Monarch seine Funktion hatte (King in Parliament), den Vorrang vor der Exekutivgewalt gegeben. Dennoch zeigt sich schon bei Locke deutlich die Idee, dass sich die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt gegenseitig kontrollieren und beschränken sollen, so dass in der Gewaltenkontrolle das wesentliche Element der modernen Rechtsstaatsgarantie zu sehen ist. Euchner spricht hier davon, dass durch die gegenseitige Hemmung der Gewalten eine schädliche Machtkonzentration vermieden werden soll.19 Kommt es zum Streit über die Frage, ob die Anordnung den gesetzgeberischen Willen zutreffend erfasst und umgesetzt hat, sollen persönlich und sachlich unabhängige Gerichte über hieraus resultierende Streitigkeiten entscheiden. Es geht nach Meinung von Kägi20 bei der Gewaltenteilung um die für die Freiheitssicherung effektive Verbindung von „Gewaltenteilung und Gewaltenverbindung“. Montesquieu21 ist der zweite wichtige moderne Autor, der sich neben Locke mit der Frage beschäftigt, auf welche Weise die Freiheitssicherung im Staat am besten gewährleistet werden kann, obschon beide sich dahingehend wohl irrten, dass in Großbritannien diese freiheitssichernde Gewaltenteilung schon beispielhaft verwirklicht worden war. Bei zutreffender Verteilung der ursprünglich einheitlich verstandenen Staatsgewalt auf die drei Teilgewalten (puissance lgislative, puissance excutrice und puissance de juger) erreicht der Staatsmann ein gemäßigtes Staatswesen mit weitgehender Freiheitssicherung, sodass die Garantie von Grundrechten im Wege von Grundrechtskatalogen als weniger wichtig erscheint als die Erreichung des gemäßigten Staates als Staatsziel. Dabei geht Montesquieu so weit, dass er in der gegenseitigen Behinderung „le pouvoir arrÞte le pouvoir“ nicht den Stillstand aktiver Staatlichkeit, sondern die größtmögliche Freiheit, die tranquillit desprit22, erblickt. Im 19. Jahrhundert ist es unzweifelhaft, dass die Idee Montesquieus von der Gewaltenteilung eine Vorwegnahme zentraler Elemente des Rechtsstaatsprinzips war. Wenn im Esprit des Lois (1748) die Gewaltenteilung noch nicht so deutlich diesen Charakter der Rechtsstaatsgewährleistung zeigt, so ist dies spätestens im 19. Jahrhundert im System der konstitutionellen Monarchie deutlich erkennbar geworden. Denn von diesem Zeitpunkt an benötigt der konstitutionelle Monarch für Eingriffe in die bürgerliche Freiheitssphäre die Legitimation durch ein Gesetz und muss die Kontrolle durch unabhängige Gerichte akzeptieren. Zwei verschiedene Staatsformen versuchen die Gewaltenteilung in klarer oder weniger eindeutiger Weise zu verwirklichen. Während in der nordameri19 Walter Euchner, „Locke“, in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 2. Bd., München 1968, S. 1 ff. 20 W. Kägi, „Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung“, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Festschrift für H. Huber, Bern 1961, S. 151 ff. 21 Berthold Falk, „Montesquieu“, in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 2. Bd., München 1968, S. 53 ff. 22 Der ganze Satz bei Montesquieu lautet wie folgt: „La libert politique, dans un citoyen, est cette tranquillit desprit qui provient de lopinion que chacun a de sa sret ; et, pour quon ait cette libert, il faut que le gouvernement soit tel quun citoyen ne puisse pas craindre un autre citoyen.“ Montesquieu, De lEsprit des Lois, 1. Auflage 1748, XI, 6, S. 170.

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kanischen Präsidialverfassung die Gewaltenteilung besonders stark hervortritt, ist dies in der parlamentarischen Demokratie weniger deutlich, weil die Parlamentsmehrheit, also die Mehrheit des Gesetzgebungsorganes, gleichzeitig die Exekutivgewalt darstellt. Aus diesem Grunde wird die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit von größerer Bedeutung sein, weil sie einer eventuellen rechtsstaatlichen Lücke entgegentritt. Im Anschluss an die Konzeption Montesquieues von der Gewaltenteilung hat Paul Anselm Feuerbach, der große bayrische Strafrechtslehrer, die rechtsstaatliche Bedeutung der Gewaltenteilung betont, welche der Gesetzgeber der genauen Beschreibung der strafrechtlichen Tatbestände beilegt. Radbruch hat sich hierzu in seiner Biographie Feuerbachs geäußert, womit er genau das Wesen der rechtsstaatlichen Garantien trifft: „Die scharfe Umreißung der Tatbestände, die enge, allzu enge, Begrenzung der Strafrahmen seines Gesetzbuches haben, wie der von ihm geprägte Wahlspruch „nulla poena sine lege“, wie seine, allein auf die vorherige gesetzliche Androhung gegründete Rechtfertigung der Strafe den Sinn, das Strafgesetzbuch nicht nur zur Quelle, sondern auch zur Schranke der Strafe zu machen, in ihm nicht nur den Schutz des Bürgers vor dem Rechtsbrecher, sondern auch den Schutz des Rechtsbrechers vor dem Staate, kurz den Rechtsstaat im Gebiete des Strafrechts durchzuführen.“23

Diese horizontale Gewaltenteilung wurde schon seit der französischen Revolution durch eine Forderung nach vertikaler Gewaltenteilung24 ergänzt. Sie besteht darin, dass man unter der Ebene des Zentralstaates und der Länder oder Regionen25 eine dritte Ebene organisiert oder vorfindet, die man als kommunale Gewalt (pouvoir municipal) bezeichnet. Allerdings ist die Grundidee dieser dritten vertikalen Ebene eigentlich wesentlich älter als die Phase der französischen Revolution, denn die Entstehung der Gemeinden basierte vor allem in Deutschland auf der Entwicklung von zwei Grundtypen, der Dorf- und der Stadtgemeinde. Diese Idee der Ursprünglichkeit der kommunalen Gewalt der Dorfgemeinschaft im Gegensatz zur abgeleiteten Gewalt der Stadtgemeinde wird auch von Art. 11 der bayerischen Verfassung von 1946 aufgegriffen, der von den Gemeinden als „ursprünglichen Gebietskörperschaften“26 spricht. Die Effektivität der kommunalen Freiheit zeigte sich in dem Rechts23 s. dazu: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch, Gesamtausgabe Band 6 Feuerbach, Heidelberg 1997, S. 123. 24 Zur vertikalen Gewaltenteilung siehe Scholler, „Ladministration communale autonome – repartition verticale des pouvoirs“, in: Problemas de la ciencia Juridica, Estudios en homenaje al Profesor Francisco Puy Munoz, Bd. 2, Santiago de Compostela 1991, S. 433 ff. 25 Zur Bedeutung der Regionen bzw. der Länder im Europa der Gegenwart siehe: Fritz Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, Baden-Baden 1990, sowie die dort besonders untersuchten rechtlichen Systeme in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz. 26 Das kommunale Recht wird in Deutschland als Landesrecht von den Ländern geregelt, in denen sich folgende Grundtypen der örtlichen Autonomie (der Gemeindehoheit) finden lassen: der norddeutsche und der süddeutsche Typus sowie verschiedene Formen der Magistratsverfassung. Zur Wiederbelebung der lokalen Selbstverwaltung in Entwicklungsländern, insbe-

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sprichwort „Stadtluft macht frei“27, das die Befreiung von der Stellung als Untertan bedeutete, wenn sich die Person mindestens ein Jahr lang in der Stadt ungestört aufhalten konnte. Das Grundgesetz hat in Art. 28 die kommunale Selbstverwaltung bundesverfassungsrechtlich garantiert, sodass diese regionale Ebene einen verfassungsrechtlichen Status hat mit der Wirkung, dass eine Beschränkung des kommunalen Selbstverwaltungsrechtes mit der kommunalen Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 4b GG vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden kann. Durch diese verfassungsgerichtliche Garantie ist die vertikale Gewaltenteilung ein Teil der rechtsstaatlichen Gewaltenverteilung geworden.28 Eine Mischverwaltung zwischen kommunalen und staatlichen Behörden, wie das für die gemeinsamen Jobcenter aufgrund gesetzlicher Neuregelungen 2005 ermöglicht worden war, wurde vom Bundesverfassungsgericht mit einem Appellurteil vom 20. 12. 2007 für unzulässig erklärt, da diese Änderung der vertikalen Gewaltenteilung verfassungswidrig sei.29 Der erstrebte Zweck der Mischverwaltung war eine Vereinfachung der Verwaltung durch Zusammenlegung des Arbeitslosengeldes mit der Sozialhilfe. Durch Einfügung des Art. 91 e in das Grundgesetz durch den Beschluss der Bundesregierung vom 24. 3. 2010 wurde diese Form der Mischverwaltung verfassungsmäßig legalisiert. Art. 91 e GG (1) Bei der Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende wirken Bund und Länder oder die nach Landesrecht zuständigen Gemeinden und Gemeindeverbände in der Regel in gemeinsamen Einrichtungen zusammen. (2) Der Bund kann zulassen, dass eine begrenzte Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden auf ihren Antrag und mit Zustimmung der obersten Landesbehörde die Aufgaben nach Absatz 1 allein wahrnimmt. Die notwendigen Ausgaben einschließlich der Verwaltungsausgaben trägt der Bund, soweit die Aufgaben bei einer Ausführung von Gesetzen nach Absatz 1 vom Bund wahrzunehmen sind. (3) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.

sondere in Afrika, siehe: Rösel/von Trotha (Hrsg.), Dezentralisierung, Demokratisierung und die lokale Repräsentation des Staates, Köln 1999. 27 Siehe dazu: Ruth Schmidt-Wiegand, Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 1996, S. 230 f. 28 Siehe dazu: Oscar Gabriel, „Die politische Stellung der Gemeinden im föderativen Verfassungssystem“, in: Kommunalpolitik im Wandel der Gesellschaft, 1979, S. 26 ff., sowie: Wolf-Rüdiger Schenke, „Föderalismus als Form der Gewaltenteilung“, in: JuS 1989, S. 698 ff. 29 „Die Arbeitsgemeinschaften sind als Jobcenter das organisatorische Herzstück der Reform, mit der im Jahr 2005 Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt worden waren. Bundesweit gibt es 353 Arbeitsgemeinschaften. Daneben gibt es 69 sogenannte Optionskommunen, die Hartz-IV-Empfänger in Alleinregie betreuen. In 21 Regionen nehmen Kommunen und Arbeitsagenturen die Aufgabe nach wie vor in getrennter Trägerschaft wahr.“, zitiert aus: „Jobcenter verstoßen gegen das Grundgesetz“, Süddeutsche Zeitung (Online-Ausgabe), 20. 12. 2007; BVerfG, 2 BvR 2433/04 vom 20. 12. 2007.

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V. Die Beseitigung der geistlichen Gewalt durch die Garantie der Religionsfreiheit30 1. Der subjektive Gehalt der Religionsfreiheit Die Religionsfreiheit gehört in ihren verschiedenen Ausgestaltungen zu den Abwehrrechten. Sie wehren vom einzelnen ein staatliches Handeln durch Gesetz, Verwaltung oder Gerichtsurteil ab (Art. 1 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 1 GG). Daneben aber haben sie auch einen objektiven Gehalt. Dieser objektive Gehalt nimmt sowohl in der Errichtung religiöser Bauwerke aber auch in öffentlichen Versammlungen, Prozessionen oder religiösen Kunstwerken Gestalt an.31 Der abwehrende Gehalt des subjektiven öffentlichen Rechts (Menschenrecht) hat eine positive und eine negative Ausgestaltungsform. In der positiven Ausgestaltungsform gibt diese Garantie dem einzelnen ein Recht auf Unterlassung von Gesetzen oder Verwaltungsmaßnahmen, die den Kernbereich von Glauben und Religion betreffen. In der negativen Gestaltungsform gewährt es dem Menschen das Recht, keinen Glauben oder kein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis äußern zu müssen. 2. Der objektive Gehalt Der dirigierende oder programmierende Teilinhalt von Art. 4 Abs. 1 GG ist im Hinblick auf die religiöse Freiheit von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch als „Ausstrahlungswirkung“ des Grundrechts in Art. 4 Abs. 1 GG angesprochen worden. Diese Ausstrahlungswirkung ist dogmatisch gesehen nichts anderes als die Einwirkung auf Verfassungsebene, die die Umsetzung der Grundsatznorm in Verfassung oder Gesetz verlangt. Die Ausstrahlungswirkung als Funktion dirigierender Verfassungsnormativität bedeutet nun dreierlei. Dem Gesetz gegenüber die Forderung der Schaffung von Handlungsalternativen dort, wo ein Gewissenskonflikt auftritt oder auftreten könnte, der mit der prinzipiellen Entscheidung zu Gunsten des Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Zweitens verlangt die Ausstrahlungswirkung, oder besser gesagt, bewirkt sie einen Dispens von staatlichen Pflichten, wenn eine Handlungsalternative vom Gesetzgeber nicht geschaffen wurde oder nicht geschaffen 30 Zum Minarettverbot als Ergebnis der Volksabstimmung am 29. November 2009 in der Schweiz siehe u. a.: Andreas Gross/Fredi Krebs/Martin Stohler (Hrsg.): Minarett-Initiative – Von der Provokation zum Irrtum, St. Ursanne 2009. Vielfach umstritten ist dagegen das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 3. November 2009 gegen die Zulässigkeit von Kruzifixen in Schulräumen in Italien. Siehe dazu den Focus-Online Artikel „Kruzifix-Urteil erzürnt Vatikan“ vom 4. 11. 2009. Demgegenüber ist das Urteil des BVerfG vom 1. Dezember 2009 zu begrüßen, das die Ladenöffnungsgenehmigung an allen vier Adventssonntagen für verfassungswidrig erklärt; dieses Urteil ist nicht nur ein Ausdruck der anerkannten „hinkenden“ Trennung von Staat und Kirche, sondern auch eine Garantie sozialstaatlich geforderter Anerkennung von Erholungspausen in der Hektik des modernen Lebens. 31 Als Beweise solcher traditioneller und moderner Objektivierung sollen einmal die Marterl (am Wegrand stehende Kreuzeshinweise) angegeben werden oder moderne Autobahnkapellen.

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werden kann und der Gewissenskonflikt schwer und untragbar ist. Schließlich wird gegenüber der Rechtsprechung und Verwaltung auf dem Wege der Ausstrahlungswirkung ein „Wohlwollensgebot“ von der Verfassung her statuiert. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies ausgesprochen, der Begriff des „Wohlwollensgebots“ geht auf seine Rechtsprechung zurück. In dieser dreifachen Gestalt: Handlungsalternativen, Dispens und Wohlwollensgebot wirkt Art. 4 Abs. 1 GG in seiner spezifischen Weise als Ausstrahlung oder dirigierende Verfassungsnorm auf Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung ein. So gesehen ist eben Art. 4 Abs. 1 GG bereits der erste Anwendungsfall des Gebotes zum Dispens bzw. zur Schaffung von Handlungsalternativen. Handlungsalternativen sind übrigens dem Recht, auch dem deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht, bekannt. So ist die Ableistung des Eides ohne die Hinzufügung der Anrufung Gottes ein Dispens vom religiösen Eid, während die Ersetzung des Wortes „schwören“ durch eine andere Verpflichtungserklärung sich als Handlungsalternative erweist. Im Rahmen des Zeugnisverweigerungsrechts hat der Gesetzgeber verschiedenen Formen des Gewissenskonflikts Rechnung getragen und hier in der Regel die Form der Dispensierung von der Verpflichtung gewählt. 3. Der objektive Gehalt: Das Wohlwollensgebot Das Bundesverfassungsgericht stützt sein Urteil auf die negative Ausgestaltungsform der „Glaubensfreiheit“. In dem Kruzifix-Beschluss spricht die Entscheidung zunächst von der Glaubensfreiheit, um später gegen Ende des Beschlusses dann von der Religionsfreiheit zu sprechen. Das Gericht lässt nicht erkennen, ob es in den verschiedenen Freiheitsformulierungen nur ein einziges Grundrecht erkennt, das es abwechslungsweise Glaubensfreiheit oder Religionsfreiheit nennt, oder ob es hier verschiedene Grundrechte annimmt.32 Hinsichtlich der Anerkennung eines „objektiven Gehaltes“ des Menschenrechtes erwähnt das Gericht einmal die staatliche „Neutralität“33 und zum anderen den auf Herbert Krüger (14.12.1905 – 25.04.1989) zurückgehenden Begriff der „Nicht-Identifikation“34. Beide Begriffe gehen nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz oder der Weimarer Verfassung hervor, sondern sind objektive Ableitungen aus Art. 4. Die Weimarer Verfassung sprach zwar in Art. 137 von der Trennung von Staat und Kirche, woraus man die Neutralität gegenüber den Konfessionen und den Religionen herleitete. Auch der Begriff der Nicht-Identifikation, d. h. 32 Im Kopftuchurteil (BVerfGE 108, 282) erklärt das Gericht, dass es sich in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG um ein einziges Grundrecht handelt, das es als Grundrecht der Glaubensfreiheit bezeichnet. 33 Sie wird hergeleitet aus dem Trennungsprinzip von Staat und Kirche gem. Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG; s. Martin Heckel, Handbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 5. Bd., 34. Auflage, Göttingen 1992, S. 309. 34 Die Lehre von der Nichtidentifikation geht auf die allgemeine Staatslehre von Herbert Krüger zurück und hat das Neutralitätsgebot weitgehend ersetzt, vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Auflage, Stuttgart 1966, S. 161, 808.

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das Sich-nicht-Verbinden mit einer Religion oder Konfession, wird aus diesem Trennungsgebot hergeleitet. Allerdings haben die vielfachen Verzahnungen zwischen Staat und Kirche (Kirchensteuer, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach, christliche Gemeinschaftsschule, Militär- und Gefängnisseelsorge) mit Recht schon unter der Herrschaft der Weimarer Verfassung dazu geführt, den Zustand als eine „hinkende Trennung“35 zu bezeichnen. VI. Rule of Law und Rechtsstaat Für den rezipierten Rechtsstaatsbegriff ist ein weiteres Prinzip des anglo-amerikanischen Rechts von Bedeutung geworden, das als „Due Process of Law Clause“ bezeichnet wird. Es hat ebenfalls seinen Ursprung in der englischen Rechtstradition, gelangte aber vor allem durch die US-Verfassung und die Rechtsprechung des Supreme Court zu einer zentralen Bedeutung. 1. Ausgangspunkt war Chapter 39 der Magna Charta von 1215, die folgenden Wortlaut hat: „No free man shall be taken or imprisoned or dispossessed, or outlawed, … except by the legal judgment of his peers or by the law of the land.“ 1642 interpretierte der berühmte englische Richter Edward Coke in seinem Kommentar zur Magna Charta diese Bestimmung „law of the land“ als „by lawful proceeding of which he has full notice and in which he has full and fair hearing“. 2. Diese Interpretation wurde vom Supreme Court in den USA übernommen. Daniel Webster hat diese Grundsätze dahingehend zusammengefasst: „There must always be law which proceeds upon inquiry and renders judgment only after trial.“ Wie schon erwähnt, ist die Due Process of Law Formel in die amerikanische Verfassungsurkunde aufgenommen worden, die im Amendment XIVausdrücklich dieses Prinzip zum Verfassungsgrundsatz erhebt. Als im Jahre 1803 in der Entscheidung Marbury v. Madison die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten anerkannt und die Zuständigkeit der Gerichte zur Nachprüfung von Gesetzen des Kongresses bejaht wurde, hat diese Entscheidung gleichzeitig auch die englische Vorstellung des Verhältnisses von Recht und Verfassung im Ergebnis aufgegeben; und zwar insofern, als die Verfassung als geschriebene Urkunde höheren Rang erhielt. Der Supreme Court bejaht seit dieser Entscheidung das Prinzip, dass die Verfassung „paramount law“ ist. Die Entscheidung bringt an einer der zentralen Stellen folgende Gedanken zum Ausdruck: „Thus, the particular phraseology of the Constitution of the United States confirms and strengthens the principle, supposed to be essential to all written constitutions that a law repugnant to the Constitution is void; and that courts as well as other departments, are bound by that instrument.“

35 Die zahlreichen Verbindungen zwischen Kirche und Staat, die auch die Weimarer Verfassung in ihren staatsrechtlichen Artikeln statuiert hat, führte zu dieser Bezeichnung, wonach anstelle einer völligen Trennung eine „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche eingetreten und verfassungsrechtlich verankert sei.

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Die Rezeption des angelsächsischen Begriffes „Rule of Law“ wurde vor allem von Robert v. Mohl36, dem Heidelberger Professor des Öffentlichen Rechts, der sich zu Beginn seiner akademischen Laufbahn mit englischem Parlamentsrecht beschäftigt hatte, beschleunigt, wenn nicht überhaupt begründet. Er schreibt 1840 über den Rechtsstaat Folgendes: „Das Wesen des Rechtsstaates, und namentlich also auch der Einherrschaft mit Volksvertretung, besteht darin, dass der Staatsbürger nicht bloß Mittel für die Zwecke des Staatsoberhauptes ist, nicht bloß Pflichten gegenüber diesem hat, sondern dass auch ihm nicht zu verletzende Rechte zustehen, dass auch er Selbstzweck ist. Die Verfassungsurkunde wird deshalb aufgezeichnet, um das gegenseitige Rechte- und Pflichten-Verhältnis zwischen Oberhaupt und Bürgern genau festzusetzen, so dass weder über den Inhalt noch über die Form desselben so leicht Streit entstehe, damit für Fordern und Nachgeben eine feste Landmarke wäre.“

Mit diesen Worten leitet Robert v. Mohl das Kapitel „Von dem allgemeinen Staatsbürgerrechte (Von den einzelnen darunter begriffenen Rechten)“ ein und befasst sich in diesem Zusammenhang mit dem Widerstandsrecht, dem Recht auf Gleichheit, Denkfreiheit, Gewissensfreiheit, Assoziationsrecht, Sicherstellung wohlerworbener Rechte u. a. Der einleitend zitierte Satz v. Mohls charakterisiert den Staatsmann und Denker: Vorangestellt wird die Selbstzwecklichkeit und die Rechtsträgerschaft des Menschen als Merkmal des Rechtsstaates. Hier steht Mohl unter dem weitreichenden Einfluss Kants. Naturrechtliche Nachwirkungen der Vertragstheorie lassen sich bei ihm gleichfalls noch feststellen, wenn er von einem gegenseitigen Rechte- und Pflichtenverhältnis spricht, doch leitet er die Epoche des positiv-rechtlichen Staatsrechtes in Deutschland ein. In einer neueren Untersuchung37 wird die Rechtsstaatsidee Robert v. Mohls mit den Entwürfen Behrs38, Stahls39 und Steins40 verglichen, so dass die Leistungen Mohls geistes- und dogmengeschichtlich überzeugend eingeordnet sind.41 Scheuner 36

E. Angermann, Robert v. Mohl – Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Politica, Bd. 8, Neuwied 1962. Scheuner hat auf Adam Müller hingewiesen: U. Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860 – 1960, Bd. II, Karlsruhe 1960, S. 229. Zum Spannungsverhältnis Sozialstaat und Rechtsstaat siehe: O. Bachoff, „Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates“, in: VVDStRL 12, 1954, S. 37, Wiederabdruck in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, S. 201. E. Forsthoff, „Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates“, in: VVDStRL 12, 1954, S. 8, Wiederabdruck ebd., S. 165. 37 E. Angermann, Robert v. Mohl – Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Politica, Bd. 8, Neuwied 1962. 38 Wilhelm Joseph Behr, System der angewandten allgemeinen Staats-Lehre oder der Staatskunst (Politik), 1810. 39 Julius Stahl, Die Revolution und die konstitutionelle Monarchie, 1848. 40 Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Nassauer Denkschrift, 1807. 41 Vgl. hierzu: Scheuner, „Die neuere Entwicklung des Rechtsstaates in Deutschland“, in: Juristentags-Festschrift, Bd. II, 1960, S. 229.

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weist darauf hin, dass der Begriff des Rechtsstaates durch Mohl Einführung in Politik und Wissenschaft gefunden hat. Zu betonen sind zwei weitere Verdienste Mohls: die Mitgestaltung des deutschen Parlamentarismus und die Mitbegründung der neuen Gesellschaftswissenschaft. In beiden Hinsichten wird Mohls Name, wie Angermann feststellte, kaum erwähnt oder nicht recht gewürdigt. Robert v. Mohl als Vorkämpfer des Rechtsstaatsgedankens hat sich immer für eine soziale Erfülltheit und repräsentative Mitgestaltung des Volkes ausgesprochen und dadurch den Rechtsstaat nicht formal als System technischer Kunstgriffe, sondern material als Gerechtigkeitsordnung verstanden. In der Paulskirche wurde der Rechtsstaat deutlich dem Polizeistaat gegenübergestellt und mit freiheitlich demokratischem Gedankengut angefüllt. Wenn auch der Rechtsstaatsbegriff somit vom Zeitgeist eine Belebung und Anpassung an die deutschen Verhältnisse erfuhr, so kann man doch noch deutlich die Spuren des angelsächsischen „Rule of Law“ in dem Verfassungswerk der Paulskirche erkennen. So wurde beispielsweise die Abschaffung aller Verwaltungsgerichtsbarkeit gefordert, weil dies der Idee des Rechtsstaates abträglich sei. Auch die Verbindung zwischen dem „Due Process of Law“-Gedanken und der Garantie des Rechtsstaates ist deutlich, weil in den Entwürfen und Beratungen übereinstimmend das Habeas-Corpus-Recht für jeden gefordert wurde. Dieses Recht ist seit der Interpretation der Magna Charta42 durch die englischen Gerichte des 17. Jahrhunderts Bestandteil der Due Process of Law-Garantie gewesen. Bezeichnend für die Verbindung von Freiheitsrechten und Rechtsstaatsgedanken ist vielleicht eine Äußerung des Abgeordneten Spatz in der Paulskirche: „… dass jeder befugt sei, alles zu tun, was durch die Gesetze nicht verboten wird … Dieser Zusatz ist deshalb nötig, weil wir bisher in einem Polizeistaat lebten. … Im Polizeistaat galt bisher der Grundsatz, dass nur das geschehen darf, was speziell erlaubt ist.“ Für die Rezeption des Rechtsstaatsbegriffes war aber noch die Idee der Legalität von Bedeutung, wie sie im französischen öffentlichen Recht entwickelt worden war. Otto Mayer43 hat diesen Grundsatz in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts in das deutsche öffentliche Recht eingeführt. Nach ihm bedeutet Rechtsstaatlichkeit Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die wiederum in drei Teilinhalte aufgeschlüsselt wird: a) Mehrwert des Gesetzes b) Vorbehalt des Gesetzes c) Vorrang des Gesetzes. In der heutigen Diskussion wird der Inhalt des formalen Rechtsstaates mit dem Vorrang oder dem Vorbehalt des Gesetzes gleichgesetzt. Unter dem Vorbehalt des Ge42 Zur Entwicklung des Common Law vgl. R. Pound, Readings on the History and System of the Common Law, 2. Aufl. Boston 1913, insbes. S. 37 ff; siehe dazu auch: D. Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht, München 1971, S. 5 ff. 43 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Aufl. Leipzig 1895/96; 2. Aufl. Leipzig, 1914/17; 3. Aufl. München/Leipzig 1924, I, S. 92/93.

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setzes versteht man den Grundsatz, dass jeder belastende Verwaltungsakt (partieller Vorbehalt) oder auch jeder begünstigende Verwaltungsakt (Total- oder Globalvorbehalt) von einem Gesetz im materiellen Sinne (Vorbehalt des materiellen Gesetzes) oder in besonderen Fällen von einem formellen Gesetz (Vorbehalt des formellen Gesetzes) abhängig ist. Der Grundsatz des Vorranges des Gesetzes bedeutet, dass kein Rechtssetzungsakt durch einen im Rang nachfolgenden Rechtssetzungsakt oder einen Verwaltungsakt geändert oder aufgehoben werden kann (eine Ausnahme hiervon bildet die Gesetzgebungsdelegation an die Verwaltung im Rahmen des Art. 80 Abs. 1 GG).44 Die Idee des Mehrwertes des Gesetzes und damit der demokratische Ansatzpunkt im Rechtsstaatsbegriff ist, wie Scheuner45 bemerkt hat, verloren gegangen und durch die Idee des Rechtsstaates als ein „System rechtstechnischer Kunstgriffe“46 ersetzt worden. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes hat man sich bemüht, an die Stelle des so erstarrten rechtstechnischen oder formalen Rechtsstaates den materiellen oder sozialen47 Rechtsstaat zu setzen. Das Grundgesetz bekennt sich selbst zum „sozialen Rechtsstaat“, eine Verfassungsleitidee, die im weitgehenden Maße der Konkretisierung durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft bedarf. Die Schaffung eines formellen Hauptgrundrechtes in Art. 19 Abs. 4 GG48 hat auch für das deutsche Recht den Rechtschutzgedanken mit dem Rechtsstaatsgedanken verbunden und in dieser Prozessgarantie die Krönung aller Rechtsstaatlichkeit gesehen.49 So hat sich neuerdings in weiterer Annäherung an das US-Recht der Rechtsstaat zum Primat50 des Rechtes und der Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt. Es ist hier nicht möglich, die verschiedenen Ausstrahlungen des Rechtsstaatsgedankens, z. B. in die Lehre von der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Gerichte 44 Th. Maunz/G. Dürig/R. Herzog, Rdn. 2 zu Art. 80 Abs. 1 GG, bezeichnen das Prinzip als Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Exekutive. 45 s. Anm. 42. 46 Der Rechtsstaat sei seinem Wesen nach nicht eine organisierte Gesinnungs- oder Erlebniseinheit, sondern ein institutionelles Gefüge oder, um es krass zu formulieren, ein System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit. Forsthoff, „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“, in: Festschrift für Carl Schmitt, Berlin 1959, S. 35. 47 Zum sozialen Rechtsstaat: I.W. Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, Frankfurt 1997, S.556 ff. Siehe auch: H. Zacher, „Der Sozialstaat“, in: HBdStR, Bd.I, München 1987, S. 1043 ff. 48 F. Klein, VVDStRL 8, 1950, S. 67 ff. (88, 123) im Anschluss an eine frühere Äußerung von R. Thoma zu Art. 107 WRV. 49 H. Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie – zur Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG, Berlin 1973. Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart – Länderberichte und Rechtsvergleichung, Köln 1962, S. 622 und passim sowie S. 947. 50 Während C. Schmitt, Verfassungslehre, Nachdruck Berlin 1954, S. 136, definiert: „Die rechtsstaatliche Zentralnorm ist die Herrschaft des Gesetzes“, hatte R. Thoma, HDStR II, 1. Aufl. Tübingen 1930, S. 233, auf den Rechtsschutz abgestellt.

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oder der Verfassungsgerichtsbarkeit darzustellen. Es ist aber noch erforderlich, die Bedeutung dieses fundamentalen Begriffes in der allgemeinen Staatslehre zu betonen. Die allgemeine Staatslehre untersucht den Rechtsstaatsgedanken unter dem Gesichtspunkt der Staatszwecke51 oder Rechtszwecke. Damit wird der Rechtsstaatsgedanke über seine Funktion als staatliches Strukturprinzip hinausgehoben und erhält eine den Staat transzendierende Bedeutung. Der Zweck der staatlichen Organisation wird aus dem Bereich des Seins in den des Normativen, der Werte und des Sollens52 verlegt. Die allgemeine Staatslehre, die rechts- und institutionsvergleichend arbeiten muss, hat bei der Übernahme und Auslegung solcher Begriffe wie „Rule of Law“ und „Rechtsstaat“ die Möglichkeiten und Grenzen solcher rechtlichen Transplantate zu erforschen. Die Tatsache, dass es sich beim Begriff „Rechtsstaat“ nicht um eine Anlehnung, sondern auch gerade sprachlich mehr um eine Eigenschöpfung des deutschen Rechtskreises gehandelt hat, ist für das Schicksal dieser Rechtseinrichtung bedeutend gewesen. Von daher mag die Bemerkung Taylors „They believed that they could have the rule of law without democracy“53 besser verstanden werden. VII. Die Civil Society 1. Ein wichtiger Aspekt des Rechtsstaats/„Lawful Government” ist neben dem materiellen Rechtsstaat gerade die Entwicklung der Civil Society. Mit Hilfe der Menschenrechte wird aus dem formellen Rechtsstaatsprinzip nicht nur ein materielles, in dem sich Menschenrechte und Staatsstrukturen verbinden, sondern die Gesellschaft wird modifiziert. Zwar entsteht keine klassenlose Gesellschaft, keine Auflösung des Rechts, kein Absterben des Staates, wie das der Marxismus lehrte, aber doch eine Veränderung der Gesellschaft, indem die gemeinschaftlichen Elemente zu Gunsten der gesellschaftlichen zurücktreten. Diese beiden Kategorien des Zusammenlebens wurden von Ferdinand Tönnies schon um 1900 herausgestellt. Den gesellschaftlichen Kategorien sind zuzuordnen der Vertrag, der Dialog und die öffentliche Meinung, während den gemeinschaftlichen Strukturen Status, Befehl und Glaube eigen sind. Die Civil Society ist durch eine Doppelbewegung gekennzeichnet, nämlich einmal in der Entstaatlichung bestimmter traditionell staatlicher Strukturen und durch die Gegenbewegung der Entstehung öffentlicher Aufgaben und Strukturen durch Übertragung ehemaliger öffentlich-rechtlicher Aufgaben auf private Träger. Es 51 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. München 1971, § 21, S. 138; R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a. Main 1971, S. 141, 152, 183, 228 ff., 363 ff. 52 Vgl. hierzu die rechtsontologischen und naturrechtlichen Beiträge in den Sammelbänden: A. Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, Darmstadt 1965, und W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus, Darmstadt 1962; W. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, Frankfurt a. Main 1968. 53 A. J. P. Taylor, Bismarck, Mensch und Staatsmann, Originalausgabe 1955, deutsche Ausgabe München 1962, S. 267; vgl. dazu auch U. Scheuner, a.a.O., S. 463, Anm. 7.

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entsteht so zwischen dem rein privaten und dem rein gemeinschaftlich Staatlichen eine Zwischenzone des Gesellschaftlichen, durch welche vor allem die Civil Society gekennzeichnet wird. Zur Erreichung dieses Zieles werden vor allem eingesetzt: Die Dezentralisierung, die Schaffung staatsferner Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechtes, die Ausstattung der Kommunikationsträger und der NGOs mit öffentlichen Aufgaben, die Deregulierung, die Privatisierung und die Einführung des Fairness- und Dialog-Prinzips in das öffentlich-rechtliche Verwaltungsverfahren. Schließlich ist die Entwicklung der Rechtskontrolle außerhalb der Gerichtsbarkeit zu erwähnen, die vornehmlich durch Ombudsmann-Einrichtungen oder Parlamentsbeauftragte erfolgt. 2. Im Einzelnen ist zu den oben genannten Erscheinungsformen der Civil Society Folgendes auszuführen: a) Die Dezentralisierung führt als vertikale Gewaltenteilung zu einer Aufgliederung des Hoheitsträgers, indem mittelbare Staatsverwaltung in Form von Gebietskörperschaften oder öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen neben dem Staat oder unterhalb des Staates in Erscheinung treten. Sie haben alle einen eigenen Wirkungskreis, der durch Autonomie und Selbstverwaltung gekennzeichnet ist. Von besonderer Bedeutung ist die Entwicklung eines ein- oder mehrgliedrigen kommunalen Selbstverwaltungssytems. In diesem Zusammenhang spricht man von administrativer Demokratie als Element der Civil Society. Neben den Gebietskörperschaften sind aber auch noch die Berufskammern, Handwerkskammern, Notariats- und Anwaltskammern oder Ärztekammern zu erwähnen, die ebenfalls als Bindeglied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ein wichtiges Element der Civil Society darstellen. b) Eine andere Erscheinungsform sind die sogenannten „staatsfernen“ Einrichtungen des öffentlichen Rechtes. Hierzu gehören vor allem Universitäten und Rundfunkund Fernsehanstalten, die zwar als mittelbare Staatsverwaltung organisiert sind, aber der Fachaufsicht des Staates entzogen sind. Die Kontrolle wird durch paritätisch besetzte Körperschaften ausgeübt. c) Die Non-Governmental-Organizations, also privatrechtliche Zusammenschlüsse, die sich um die Menschenrechte und ihre Einhaltung bemühen, sind an nächster Stelle zu erwähnen. Sie leisten vor allem dem einzelnen Bürger Hilfe bei der Realisierung seiner Grundrechte, indem sie die Tätigkeit des Staates überwachen, Prozesskostenhilfe oder Anwaltshilfe leisten und auch sonst die Öffentlichkeit informieren. Auf dem Gebiet des Umweltschutzes sind solche NGOs genauso bekannt geworden (Greenpeace) wie auf dem Gebiet der Gefangenenhilfe durch die Tätigkeit von Amnesty International. Zu erwähnen sind aber auch Presseeinrichtungen und sonstige Publikationsträger die nach anerkannter Rechtsprechung inzwischen als Organe öffentlicher Aufgaben gelten. d) Ein weiteres Gestaltungsmittel zur Schaffung der Zivilgesellschaft ist die sogenannte Deregulierung. Sie besteht in der Beseitigung öffentlich-rechtlicher Vorschriften, um der Gesellschaft mehr Spielraum zur autonomen vertraglichen Ausgestaltung

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zu verschaffen. Die Deregulierung zeigt sich vor allem zurzeit im Bauplanungs- und Bauordnungsrecht, im Recht des öffentlichen Dienstes, aber auch im Strafrecht und öffentlichen Ordnungsrecht. Die Überführung von Straftatbeständen in Ordnungswidrigkeitenrecht, was man als Entpoenalisierung des Strafrechtes bezeichnet hat, gehört auch dazu. Die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten als Ordnungswidrigkeiten bedeutet insofern eine Deregulierung, weil sie nicht mehr vor den Strafgerichten verfolgt werden. Eine ganz wichtige Erscheinungsform der Deregulierung ist die Privatisierung, die man allerdings auch als eigenständiges Phänomen der Civil Society ansehen kann. e) Schließlich ist daran zu erinnern, dass in den hoheitlichen Verwaltungsverfahren im modernen materiellen Rechtsstaat nicht mehr der Hoheitsträger dem Unterworfenen gegenübersteht, vielmehr hat die Behörde oder der Amtsträger in einem Dialog mit den Beteiligten ein Rechtsgespräch zu führen. Das deutsche Verwaltungsverfahrensgesetz ist geradezu ein Beispiel für die Überleitung der Kommando- und Ordnungsverwaltung alten Stils in ein modernes Dialogverfahren. 3. Die Civil Society erhöht den Grad der Interaktion innerhalb der Gesellschaft durch Deregulierung öffentlich-rechtlicher Ordnungssysteme durch Privatisierung, durch Einführung des Dialogprinzips zwischen Bürger und Verwaltung. In gewissem Sinne entsteht als Zwischengesellschaft zwischen Staat und rein Privatem eine Sphäre gleichgeordneter und gleichberechtigter Faktoren und Rechtsträger. Es ist keine klassenlose, aber doch eine staatlich entstaltete Sphäre, in welcher gleichberechtigte, natürliche und juristische Personen öffentliche Aufgaben erfüllen. Die Schaffung einer solchen zwischengesellschaftlichen Sphäre im Bereich der Kommunikation, des Verfahrens, der Menschenrechtsverwirklichung ist genauso wichtig wie die Schaffung eines freien sozialen Marktes im Bereich des Güteraustausches. Man kann die Civil Society auch als die Vorbereitung der Weiterentwicklung des klassischen Rechtsstaates zu einem modernen Sozialstaat interpretieren. VIII. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verfassungsgerichtsbarkeit54 in ihrer Bedeutung für die Weiterentwicklung des Rechtsstaatsprinzips Schon im 18. Jahrhundert war in Deutschland gegen die Verletzung eines subjektiven Rechtes, d. h. gegen ein Recht, das einem Privatmann zustehen kann, die Anrufung des Richters möglich. Dies galt jedoch nicht gegenüber dem Landesherrn, also dem Monarchen, denn seine hoheitlichen Akte, insbesondere die Akte der Gesetzge54 s. zur Geschichte von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit: F. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Auflage München 2008, insbes. S. 23 ff.; K. Jeserich, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 5 – Die BRD, Stuttgart 1987; P. Lerche, Ordentlicher Rechtsweg und Verwaltungsrechtsweg, Berlin 1953; H. Scholler, „Die Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland“, in: Reformen in der Mongolei und Weltpraxis, Hanns-Seidel-Stiftung, Ulan Bator 2004, S. 91 ff.

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bung, konnten nur vor dem Reichsgericht angegriffen werden.55 Eine solche Zuständigkeit galt vor allem auch bei Polizeisachen und so genannten Domänenstreitigkeiten. Hierbei gab es aber neben der ordentlichen Justiz auch eine so genannte Kammerjustiz. Allerdings entspricht die Abgrenzung zwischen beiden Justizfunktionen oder Justizeinrichtungen nicht der heutigen dogmatischen Grenzziehung. Insbesondere entsprach die Unterscheidung auch nicht der heutigen Grenzziehung zwischen privatem und öffentlichem Recht. In Frankreich wurde durch die Verfassung der französischen Revolution vom 3. September 1791 ein neuer Weg beschritten. Mit dieser Verfassung wurde völlige Unabhängigkeit der Verwaltung von der Justiz verkündet, wobei gleichzeitig Streitigkeiten verwaltungsrechtlicher Art neu geschaffenen Justiz- und Verwaltungsgerichten zugewiesen wurden. Bei diesem Zustand der Verweigerung des Rechtsschutzes gegenüber adligen bzw. fürstlichen Hoheitsakten konnte es auch in Deutschland nicht bleiben. Es musste also eine Lösung gefunden werden, welches Gericht für den Rechtsschutz gegenüber staatlichen Hoheitsakten zuständig sein sollte. Dabei ergab sich eine Lösung für Norddeutschland und eine andere für Süddeutschland, die nachfolgend getrennt dargestellt werden sollen. Somit folgte schließlich die herrschende Meinung der Neuschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, obwohl noch die Paulskirchenverfassung 1849 in § 182 das Ende der „Verwaltungsrechtspflege“ verfassungsrechtlich festlegen wollte. Aus dieser Formulierung entstand eine negative Schule, die sich gegen jede verwaltungsgerichtliche Sonderorganisation wandte und von Otto Bähr56 vertreten wurde, aber auch eine positive Schule, die sich für den Ausbau einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit aussprach. Einer ihrer Hauptvertreter war Rudolf von Gneist.57 1. Die norddeutsche Lösung In zunehmendem Maße wurden nun auch die Akte der nachgeordneten Behörden als staatliche Hoheitsakte angesehen. Hinzu kam, dass die stärkere und straffere Organisation der landesherrlichen Staatsgewalt es durchaus als zutreffend ansehen ließ, diese unteren Staatsakte der obersten Staatsgewalt zuzurechnen. So entwickelte sich auch die Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Steuererhebung als ein Recht gegen die Steuereinziehung im Einzelfalle. Da durch die Besetzung der sog. „Kammerjustiz“ in den mittleren und oberen Instanzen die Trennung von Justiz und Verwaltung aufgehoben worden war, bestand nur noch die Möglichkeit, die Anfechtung vor den Justizgerichten (Beschreitung des Rechtsweges) oder die Verwaltungsbeschwerde vor den höheren Verwaltungsbehörden zuzulassen. Die bekannte Verordnung in Preußen 55

Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen 1749 – 1842, Bonn 1962. Otto Bähr (1817 – 1895), maßgebend für seine Orientierung ist sein Werk „Rechtsstaat“ (1864). 57 Rudolf von Gneist (1816 – 1895), verfasste u. a. „Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland“, Berlin 1879. S. dazu auch: H. Ule, in VerwArch 87, 1996. 56

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von 1808 wurde „justizfeindlich“ ausgelegt und damit in wachsendem Maße der Rechtsweg zu den Gerichten ausgeschlossen. So wurde in Polizeisachen, einem anderen zentralen Gebiet des Verwaltungsrechtes, der Rechtsweg durch das Gesetz vom 11. Mai 1842 ausdrücklich ausgeschlossen, weil § 1 dieser Rechtsvorschrift bestimmte, dass in Polizeisachen nur der Weg zur nächst höheren Aufsichtsbehörde eingeräumt werde. Der Rechtsweg vor die Justizgerichte also sei bezüglich solcher Polizeiverfügungen nur dann zulässig, wenn die Verletzung eines zum Privateigentum gehörenden Rechtes behauptet wurde. So erscheint es, dass dem preußischen Recht die französische Trennung von Verwaltung und Justiz zugrunde gelegen haben könnte. 2. Die süddeutsche Lösung Um 1800 herrschte noch im Großherzogtum Hessen und im Herzogtum Baden die Neigung, den ordentlichen Gerichten ganz die Kontrolle über die Verwaltung zu übertragen. In Württemberg wurde bereits 1813 in Justizgerichten die Kontrolle der Verwaltungsentscheidungen verboten, so dass von diesem Zeitpunkt an die Trennung von Verwaltung und Justiz durchgeführt war. Dem geheimen Rat in Württemberg wurde dann die Kompetenz zur Rechtsprechung über Verwaltungssachen übertragen. Die Verfassung Bayerns aus dem Jahre 1808 (Titel 5, § 5) sowie die bayerische Verfassung von 1818 (VIII, § 5) enthielten nur die Bestimmungen, dass der königliche Staatsapparat in fiskalischen (privatrechtlichen) Angelegenheiten Recht nehmen wird, das heißt, vor den Gerichten klagen und verklagt werden konnte. Der bayerische Staatsrat, der die Verwaltungsangelegenheiten überprüfen sollte, verlor aber bis 1870 immer mehr an Kompetenzen und war daher viel weniger zuständig als der geheime Staatsrat Württembergs. Im Übrigen setzte sich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bald die Meinung durch, dass ein ordnungsgemäßer Rechtsschutz nur durch eigene Verwaltungsgerichte möglich sei. Den Anfang hierzu machte die neue Gesetzgebung in Baden. Dies geschah durch die Errichtung des badischen Verwaltungsgerichtshofes. 1872 bzw. 1875 folgte Preußen, während sich das Deutsche Reich auf die Errichtung besonderer Verwaltungsgerichte beschränkte. Es bildeten sich zwei Systeme heraus: das preußische oder auch norddeutsche System genannt und das süddeutsche System. 3. Der Zweck des norddeutschen Systems Im norddeutschen oder preußischen Modell diente der Rechtsschutz primär dem Schutz des objektiven Rechtes, also der Richtigkeit der Entscheidung und weniger dem Interesse des Bürgers. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit erfüllte somit mehr die Aufgabe einer Aufsicht.58 Nur das preußische Oberverwaltungsgericht war mit unabhängigen Richtern besetzt und von der Verwaltung getrennt, die erste Instanz dagegen, also die Verwaltungsgerichte, setzten sich aus Verwaltungsbeamten der unteren 58

von Sarvay, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, 1880, S. 73.

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Behörde und ehrenamtlichen Mitgliedern zusammen. Diese unteren Instanzen übten also gleichzeitig Recht sprechende Gewalt und aktive Verwaltungsgewalt aus. Es war bald der allgemeine Wunsch entstanden, ein Reichsverwaltungsgericht zu errichten. Im Jahre 1912 hat der Reichstag einen solchen Antrag auch angenommen, doch der erste Weltkrieg, der zwei Jahre später ausbrach, verhinderte die Realisierung dieses Antrages. Die Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahre 1919 sah dann im Art. 107 vor, dass zum Schutze der Rechte der Bürger im Reich und in den Ländern Verwaltungsgerichte vorgesehen werden müssen.59 Das Reichsgericht, das für Zivil- und Strafsachen zuständig war, hatte noch im Band 92, 310 zu einer Notlösung gegriffen und vom Begriff der „Zivilsachen kraft Überlieferung“ gesprochen. Damit meinte man die Zuständigkeit der Zivilgerichte zum Schutz des Bürgers gegenüber der Verwaltung begründen zu können und begründen zu müssen. Ein anderes Problem war die Frage, ob alle Verwaltungsakte vor den Verwaltungsgerichten angegriffen werden könnten (Generalklausel), oder ob der Gesetzgeber vielmehr nur eine bestimmte Zahl für anfechtbar und damit angreifbar aufzählen sollte (Enumerationsprinzip). Damit war die Frage aufgeworfen, ob eine lückenlose oder nur eine punktuelle Garantie des Rechtsstaates geschaffen werden sollte. In den einzelnen Ländern der amerikanischen Besatzungszone im Süden Deutschlands trat 1946 das VGG (Verwaltungsgerichtsgesetz) in Kraft, während in den Ländern der britischen Zone in Norddeutschland die Militärregierungsverordnung 165 ebenfalls eine Verwaltungsgerichtsbarkeit anordnete. Sie war zweistufig, so dass neben dem Verwaltungsgericht der ersten Instanz und über ihr jeweils in den einzelnen Ländern in Süddeutschland Verwaltungsgerichtshöfe (VGH) und Oberverwaltungsgerichte (OVG) in den norddeutschen Ländern entstanden. 4. Der Zweck des süddeutschen Systems Anders war dies im süddeutschen System. Es beschränkte den Schutz vor den Verwaltungsgerichten auf die Geltendmachung subjektiver Rechte, d. h. auf Rechte, die dem einzelnen Bürger durch die Rechtsordnung eingeräumt waren. Aus diesem Grunde wurde in den süddeutschen Ländern nur der Verwaltungsgerichtshof als einzige Instanz errichtet, zu dem Beschwerde eingelegt werden konnte und der von den Verwaltungsbehörden völlig getrennt war. Der geistige Vater dieser süddeutschen Lösung war Otto von Sarvay, der sich aber damit an das französische Vorbild des Conseil dtat anlehnte. Der Rechtsstaat bestand daher nach dem süddeutschen Modell in der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung. Die neueren Aspekte der Bedeutung des Rechtsstaates für die Organisation und Ausübung der Verwaltung werden im Aufsatz von Dr. Harbich im vorliegenden Band erläutert.

59 Grawert, Verwaltungsrechtsschutz in der Weimarer Republik, Festschrift für Menger, München 1985.

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IX. Der moderne Rechtsbegriff und die Nicht-Identifikation60 des Staates Schließlich ist für den Rechtsstaatsbegriff von Bedeutung geworden, welchen Inhalt der Rechtssatz gegenüber dem verpflichteten Bürger oder Menschen schlechthin hat. Meistens wird diese Frage unter dem Begriff der Geltung abgehandelt, so dass geradezu eine Geltungslehre des Rechtes entstanden ist. Diese Lehre fragt nach der Natur der Verpflichtung des staatlichen gesetzlichen Gebotes: Ist diese Natur nur ein Erzwingen einer äußeren Handlung, ohne dass es auf eine innere Zustimmung oder Akzeptanz ankommt? Dem gegenüber steht die Auffassung, dass das Recht, der Sitte verwandt, immer auch auf Akzeptanz und Zustimmung angelegt sein muss. Dabei erhebt sich die Frage, welche Bedeutung einer im weltlichen Raum gelegenen Gewissensfreiheit für die moderne Geltungslehre zukommt. Die Eigenständigkeit der Garantie der Gewissensfreiheit – gegenüber der Glaubensfreiheit – wirft die Frage auf, wie weit ethische Inhalte (fundamenta conscientiae) als Sittengesetz dem Rechtsstaat vorgegeben sind. Das naturrechtliche Sittengesetz würde somit über Art. 1 II i. V. m. Art. 4 I GG weit hineinragen in das Rechtsstaatsverständnis. Diese Frage nach der institutionellen Funktion des Art. 4 I GG (Gewissensfreiheit) teilt sich in zwei Problemstellungen: der Ausgrenzungsfunktion entspricht eine beschränkende institutionelle Garantie, der fundierenden Funktion eine naturrechtlich prägende. Die Antwort hängt somit davon ab, ob auch die Institution eine ausgrenzende und (/oder) fundierende Funktion ausübt und welche dieser Funktionen im konkreten Fall überwiegt. Die Formulierung „ltat, cest lhomme sans conscience“61 versucht die Rechtsimmanenz des Staates damit zu rechtfertigen, dass der Gemeinschaft kein Gewissen im Sinne des ethischen Bewusstseins zukomme. Dies geschieht aber als Fiktion, um den Übergriff auf das Individualgewissen des Bürgers durch die Konstruktion des Staates als radikal-immanentes Ordnungsgefüge zu verhindern. Der Rechtsstaat ist dies kraft gewillkürter Konstruktion. Ähnlich wie die Gewaltenteilung Montesquieus nicht einer vorgegebenen apriorischen Struktur des Gemeinwesens entspricht, sondern mit der Sicherung der „tranquillit desprit“ gerechtfertigt wurde, ist der Rechtsstaat als Gesamtheit rationaler Einrichtungen zur Eliminierung von religiösen, weltanschaulichen und ethischen Spannungen gegründet worden, nachdem der Versuch der absoluten Monarchie zur Neuintegration gescheitert war. Auch hier machen – jedenfalls für die späteren Generationen – Kleider Leute62, und aus dem Zufälligen wird das Notwendige, aus dem Akzidentellen das Essentielle. In der neuesten Rechtsprechung zeigt sich allerdings, dass ein Zustand des Ausgleichs und der Fairness zwi60 Siehe dazu: Scholler, „Toleranz und Fairness als objektiver Schutzgehalt der Religionsfreiheit“, in: Gerhard Besier/Erwin K. Scheuch (Hrsg.), Die neuen Inquisitoren – Religionsfreiheit und Glaubensneid Teil I, Zürich 1999, S. 156 ff. 61 s. dazu: Forsthoff, „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“, in: Festschrift für C. Schmitt, Berlin 1959; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961. 62 Siehe die Novelle „Kleider machen Leute“ (1784) von Gottfried Keller.

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schen den verschiedenen religiös interessierten Kräften einerseits und den Trägern und Wahrern der öffentlichen Ordnung andererseits noch nicht erreicht ist. Widersprüchliche Entscheidungen sind daher nicht die Ausnahme, sondern eher der Regelfall. X. Der Verfassungsstaat und die Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Die Entstehung der Verfassungsgerichtsbarkeit Entstanden sind die Verfassungsgerichte nach dem Ersten Weltkrieg auf den Vorschlag von Hans Kelsen hin, doch in Wirklichkeit hat es Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten bereits seit 1803 gegeben. Man darf aber noch weiter zurückgehen und zwar auf den französischen Richter und Rechtsdenker Montesquieu und sein berühmtes Werk „De lesprit des lois“ aus dem Jahre 1748. Sein System der Gewaltenhemmung (le pouvoir arrÞte le pouvoir) war ein eingebauter Mechanismus der Kontrolle, der Balance und der Korrektur, nur dass diese Funktionen nicht von einer Sondergerichtsbarkeit, sondern von den drei Gewalten und ihrer funktionellen Aufgliederung selbst vorgenommen wurden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit nach Montesquieu war gleichsam das Urwerk der Gewaltenteilung. In den föderativ aufgebauten Staaten wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika oder der Bundesrepublik Deutschland gab es natürlich immer einen weiteren Grund für eine verfassungsgerichtliche Kontrolle, nämlich die Notwendigkeit einer Streitschlichtungseinrichtung für Konflikte zwischen dem Zentralstaat und den Ländern bzw. zwischen den Ländern untereinander. So haben Gewaltenteilung und Föderalismus Pate an der Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit gestanden. Über die föderativen Streitigkeiten wurde schon in der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871 der damalige Bundesrat als Streitschlichter berufen. Streitschlichtung war damals unter der Herrschaft und der Federführung des Bundesrates der kaiserlichen Verfassung nicht ein juristischer, sondern ein politischer Prozess. Daher mag es auch kommen, dass gegen Hans Kelsen Carl Schmitt noch lange darauf beharrt hat, dass Verfassungsgerichtsbarkeit kein juridisches, sondern ein politisches Procedere sei. Die Juridifizierung der Verfassungsgerichtsbarkeit folgt einem Grundanliegen und Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit, nämlich der Umwandlung von Politik in Rechtsförmlichkeiten, soweit dies immer möglich ist. Wenn man mit Forsthoff den Rechtsstaat als System „rechtstechnischer Kunstgriffe“ ansieht, was von seinem Opponenten heftig bestritten wurde, dann ist eben die Verfassungsgerichtsbarkeit ein wesentliches Element in der Sammlung dieser „rechtstechnischen Kunstgriffe“ zur Herstellung eines geordneten staatlichen Lebens. Das Grundgesetz hat sich 1949 durch Artikel 92 an das Vorbild der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit angeschlossen. Damit ist sie der Lösung der Vereinigten Staaten wie auch der Schweiz nicht gefolgt, welche die Verfassungsgerichtsbarkeit als Sondergerichtsbarkeit aus der allgemeinen oder ordentlichen herausgelöst und zur besonderen Gerichtsbarkeit erhoben hat. Ein dritter Weg wurde von Frank-

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reich beschritten, das zwar für Deutschland vorbildlich in der Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit war, nicht aber dem österreichischen und deutschen Bespiel der besonderen Verfassungsgerichtsbarkeit folgen wollte. Von besonderer Bedeutung ist das Rechtsstaatsprinzip auch im Zusammenhang mit einer selbständigen europäischen Gerichtsbarkeit für die Sicherung des europäischen Rechts als abgesicherte und durchsetzbare eigenständige normative Ordnung. Der Europagedanke und seine Verwirklichung im europäischen Verfassungsverbund ist ohne die Verankerung und Realisierung des Rechtsstaatsprinzips nicht möglich, wie die Ausführungen von Prof. Scheuing in seiner Darstellung zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union (vor und nach dem Vertrag von Lissabon) zeigen. Wegen der europäischen Dimension des Gedankens und seiner Verwirklichung ist diesem Aspekt ein eigener Abschnitt gewidmet worden, was auch für das besondere Problem der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips im Bereich der Strafgewalt und der Strafrechtssprechung des Staates zu gelten hat. Prof. Schünemann hat sich in seinem Artikel besonders mit dieser Thematik befasst.63 Nach der Wende hat sich in Osteuropa die Verfassungsgerichtsbarkeit rasch durchgesetzt und eine beherrschende Rolle in der Entwicklung und Sicherung des Rechtsstaates gespielt.64 Bemerkenswert ist, dass die osteuropäischen Verfassungen die Garantie des Rechtsstaates besonders hervorheben und zu seinem Schutz ein System der Verfassungsgerichtsbarkeit statuieren, das sich am mitteleuropäischen Vorbild der Verfassungsgerichtsbarkeit orientiert. Es ist von Interesse, dass dabei nicht nur der formelle, sondern auch der materielle Rechtsstaat, d. h. der zum Schutze der sozialen und liberalen Menschenrechte garantierte Rechtsstaat, Schutzgut der Verfassung ist. So heißt es in einer führenden Analyse der Entwicklung der osteuropäischen Länder wie folgt: „Der Rechtsstaat ist neben den Prinzipien der Demokratie und der Marktwirtschaft einer der Schlüsselbegriffe des Übergangs von der kommunistischen Diktatur zu einer pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung in den Ländern Mittelund Osteuropas seit dem großen Umbruch von 1989/90.“65 Die Verbindung des freiheitlichen und damit liberalen Rechtsstaatsprinzips mit dem Sozialstaatsgedanken hat sich allerdings gerade in Deutschland als Neuordnung mit großer Anziehungskraft bewiesen. Die gewaltlose Wiedervereinigung mit der kollektiv-marxistisch orientierten Deutschen Demokratischen Republik war letzten 63 Bernd Schünemann, „Strafrecht und Strafprozess im Rechtsstaat“, in der vorliegenden Veröffentlichung. 64 Den Übergang vom Verfassungsrat in Ungarn zu Elementen einer echten Verfassungsgerichtsbarkeit im Jahre 1984 schildert der Aufsatz von Imre Takcs, „Die zentralen Organe des Justizwesens und die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit“ auf dem Budapester Symposium 1989, in: Adm/Scholler (Hrsg.), Die Verfassung als Katalysator, München 1990, S. 60 f.; zur allgemeinen Entwicklung s.: Frowein/ Marauhn, Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, Heidelberg 1998. 65 Rainer Grote, „Das Rechtsstaatsprinzip in der mittel- und osteuropäischen Verfassungspraxis“, in: Frowein/Marauhn, Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, Heidelberg 1998, S. 3.

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Endes ein Ergebnis der Anziehungskraft des demokratischen und liberalen Rechtsstaatsprinzips, das auch seine ausstrahlende Wirkung auf die osteuropäischen Nachbarstaaten sehr bald unter Beweis stellte. Als besonderes Beispiel soll hier die Entwicklungspartnerschaft mit den Vertretern eines liberalen Rechtsstaatsdenkens in Ungarn benannt werden, um zu beweisen, wie schnell sich nicht nur dort, sondern auch in ganz Osteuropa der moderne soziale Rechtsstaatsgedanke durchsetzen konnte.66 2. Aktuelle Rechtsprobleme Neben der Frage der Zulässigkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung bei gefährlichen Tätern nach Ablauf der vom Gericht verfügten Strafe67 wurden folgende Probleme im Bereich Ethik und Recht kontrovers diskutiert: Die Patientenverfügung, die inzwischen gesetzlich geregelt wurde, die passive Sterbehilfe und u. U. auch die aktive Sterbehilfe, die Präimplementationsdiagnostik, Babyklappe, Biobanken und Chimären- und Hybridforschung.68

XI. Die Entwicklung zum Justizstaat Eine weitere Entwicklung des Rechtsstaatsprinzips zeigt sich in der Stärkung des Richters und seines Amtes, die den Rechtsstaat zum „Justizstaate“ hat werden lassen. Das nach dem Erlass des deutschen Grundgesetzes, das der rechtsprechenden Gewalt eine besondere Stellung einräumt, erlassene Richtergesetz (1961) hat diese veränderte Stellung des Richters deutlich gemacht. Diese Stärkung des Richteramtes hat in gewisser Weise den klassischen Rechtsstaat durch das ersetzt, was man den Justizstaat nennt, wie er von Otto Bachof in seiner berühmten Rektoratsrede 195969 dargestellt wurde. Er geriet hier in einen Gegensatz zu Forsthoff, dessen Beitrag „zur Umbildung des Verfassungsgesetzes“70 annähernd zur gleichen Zeit erschienen ist und der in der Hinwendung zum Justizstaat eine gefährliche Bedrohung des Rechtsstaatsgedankens erblickt, der als System rechtstechnischer Kunstgriffe sein Schwergewicht in der Legislative habe71. Bachof zeigt auf, dass an die Stelle der Gesetzesgläubigkeit des Liberalismus und Konstitutionalismus, die dem Richter als Fürstendiener misstrauten, eine Richtergläubigkeit getreten sei. Mit anderen Worten: An die Stelle des 66

Scholler, „Über die zwanzigjährige Zusammenarbeit zwischen deutschen und ungarischen Vertretern des öffentlichen Rechts“, in: JURA, Pcs 2009. 67 Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. 01. 2011, Haidn v Germany. 68 BGH-Urteil vom 25. 06. 2010 sowie die Diskussion im Deutschen Ethikrat und insgesamt die Zusammenstellung bei: Scholler, „Verwaltung und Ethik“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 2010, S. 400 ff. 69 Otto Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, Tübingen 1959. 70 Festschrift für Carl Schmitt, Berlin 1959, S. 29. 71 Vgl. Hollerbach, „Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung“, in: AÖR, Band 85, 1960, S. 241 ff.

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„Gesetz-vor-Recht-Denkens“ soll ein „Grundrecht-vor-Gesetz-Denken“ getreten sein.72 In einem weiteren Punkt unterschied sich Bachofs Auffassung von der Richterstellung von der Forsthoffs, oder besser gesagt von der Carl Schmitts, indem er der öffentlichen Meinung und der öffentlichen Diskussion für den Staat allgemein und für den Richterstand im Besonderen erhebliche Bedeutung beimaß. Während gerade in diesem Punkt Forsthoff und besonders Carl Schmitt von Strukturelementen einer untergegangenen „classa discutidora“ sprachen, sah Bachof in dem Gespräch zwischen dem Richter und der Öffentlichkeit eine entscheidende Grundlage der heutigen Richtermacht.73 In einer Rezension der Bachofschen Rede habe ich damals Folgendes zustimmend ausgeführt: „Zieht man die für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Öffentlichkeitswirkung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Betracht, so wird man in der öffentlichen Diskussion nicht ein Residuum des bürgerlichen Bildungsund Besitzstandes erblicken, sondern ein notwendiges Korrelat zur gesteigerten Richtermacht des Grundgesetzes. Wohnt der richterlichen Gewalt, wie Tocqueville74 meint, von Natur aus ein antidemokratischer Zug inne, und droht die Gefahr der Verstärkung dieser Inklination durch Betonung der Richtermacht, dann besteht im Zeitalter der ,außengeleiteten Gesellschaft75 die Möglichkeit zur Kontrolle nicht in der Rückkehr zum klassisch-liberalen Rechtsstaat, sondern in der Intensivierung der Kommunikation zwischen der dritten Gewalt und den Trägern der öffentlichen Meinungsbildung.“76

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Jahreiß, Die Rechtspflege im Bonner Grundgesetz, 1950, S. 27, 45. Forsthoff, Rezension zu Carl Schmitt, „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus 1923“, in: Carl Schmitt, Politische Theologie, 1934, S. 79, in: DVBl 1958, S. 295. 74 1805 – 1859. Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart 1959. 75 David Riesman u. a., The Lonely Crowd – A Study of the Changing American Character, New Haven 1953 (dt.: Die einsame Masse, Hamburg 1961); Scholler, „Publizität und Persönlichkeit“, neu abgedruckt in: Grundrechte und Rechtskultur auf dem Weg nach Europa, Duncker und Humblot Verlag, Berlin 2010, S. 11 ff.; ders., „Rechtsstaat, Demokratie, Bundesstaat“, in: Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, Köln 1979, S. 734 ff. 76 Heinrich Scholler, Rezension zu Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, Tübingen 1959, in: BayVBl. 1962, S. 359; siehe auch Scholler, Rezension zu Hopt, Die dritte Gewalt als politischer Faktor, Berlin 1969, in: DÖV 1971, S. 108. 73

Rechtsstaatliche Prinzipien für das Verwaltungshandeln Eine Auswahl Von Jürgen Harbich I. Einleitung Die Bindung der gesamten staatlichen Gewalt an Gesetz und Recht charakterisiert den freiheitlichen Rechtsstaat. Jahrhunderte musste für dieses Prinzip gearbeitet und gekämpft werden. Aus dem Untertan früherer Zeiten in den absoluten Monarchien Europas des 17. und 18. Jahrhunderts sind im Rechtsstaat Bürger geworden – Bürger, die nicht mehr Objekte der Staatsgewalt sind, sondern mit eigenen Rechten der Staatsgewalt gegenübertreten. Im Rechtsstaat sollen die Bürger der Willkür staatlicher Gewalt nicht ausgeliefert sein. Im Rechtsstaat regiert nicht das Recht der Macht, sondern die Macht des Rechts (ein Ausdruck von Josef Isensee). In den Akten der Exekutiv-Behörden erlebt der Bürger den Staat unmittelbar; und die Erfahrung lehrt, dass eine ungehemmte Exekutive den Bürger erdrücken kann. Daher sind rechtliche Schranken für das Handeln der Verwaltungsbehörden notwendig. II. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Nach diesem Grundsatz sind die Verwaltungsbehörden an die Regelungen des Gesetzgebers gebunden. Eine notwendige rechtsstaatliche Konsequenz dieses Prinzips ist die Kontrolle durch Gerichte (= Verwaltungsgerichte), die darüber wachen, dass die Verwaltungsbehörden die Gesetze beachten. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist in Art. 20 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes (Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“) verankert und kann auch durch Verfassungsänderungsgesetze nicht angetastet werden; denn er ist durch die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt. Der Grundsatz fordert zweierlei: • den Vorrang des Gesetzes und • den Vorbehalt des Gesetzes.

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1. Vorrang des Gesetzes Dieser Grundsatz, der sich in Deutschland im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, anerkennt die Herrschaft des Gesetzes: Danach geht das Gesetz jeder anderen Willensäußerung seitens der Verwaltung vor. Kein Akt der Verwaltung darf sich zu den Gesetzen in Widerspruch setzen. Wenn die Gesetze ein Handeln der Verwaltungsbehörden anordnen – z. B. Steuern zu erheben, Baugenehmigungen zu erteilen, Bedürftigen Sozialhilfe zu gewähren und vieles andere mehr –, so ergibt sich aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Gebot für die Verwaltungsbehörden die zwingende Konsequenz, die Gesetze anzuwenden. Unter Gesetzen versteht man in diesem Zusammenhang die gesamte Rechtsordnung, d. h.: – die Verfassung, – die formellen Gesetze, also die vom parlamentarischen Gesetzgeber erlassenen Gesetze und – auch die von Exekutivbehörden erlassenen Rechtsverordnungen und Satzungen, soweit die Behörden zum Erlass von Rechtsvorschriften befugt sind. Für die Praxis der Verwaltungsbehörden spielen aus dem Bereich der Verfassungsrechtsnormen die Grundrechte, und von diesen vor allem das Gleichbehandlungsgebot, eine wichtige Rolle. Dort, wo die Behörden für ihre Entscheidung einen Ermessensspielraum haben, also eine Genehmigung erteilen können, aber nicht müssen (z. B. die Genehmigung für einen Gastwirt, Tische und Stühle für die Gäste auch auf dem Gehsteig oder auf einem öffentlichen Platz, also auf gemeindlichem Grund, aufzustellen), dürfen die Behörden nicht willkürlich entscheiden. Sie müssen ihre Entscheidung am Zweck der Ermächtigung (Beachtung des Aspekts der Sicherheit für Verkehrsteilnehmer, insbesondere die Fußgänger) orientieren und den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten, d. h. mehrere Gastwirte bei gleicher Situation gleich behandeln. Die Berücksichtigung von Freundschaftsbeziehungen zwischen dem Entscheidungsträger und einem Gastwirt wäre grob sachwidrig und damit rechtswidrig. Den Verwaltungsbehörden steht es auch nicht zu, die Anwendung von Gesetzen aus Gründen der Opportunität abzulehnen. Der Gesetzesbefehl ist strikt. Das Vorrangprinzip gilt uneingeschränkt und unbedingt für alle Exekutivbehörden. 2. Vorbehalt des Gesetzes Nach diesem Prinzip darf eine Verwaltungsbehörde nur tätig werden, wenn sie dazu durch ein Gesetz ermächtigt ist. Die Grundlage für dieses Prinzip wird vom Bundesverfassungsgericht1 auch in Art. 20 Abs. 3 GG gesehen, was in der Literatur nicht uneingeschränkte Zustimmung findet; denn Art. 20 Abs. 3 GG spreche von der „Bin1

E 40, S. 237 ff.

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dung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht“, und dieser Wortlaut deute eher darauf hin, dass sich dieser Artikel auf das Vorrangprinzip beschränke.2 Doch wird die Geltung des Vorbehaltprinzips von der Literatur nicht angezweifelt. Dieses Prinzip lasse sich überzeugender mit dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip begründen. Das Demokratieprinzip fordert, dass die grundlegenden Entscheidungen im Staat vom Parlament getroffen werden; das gilt jedenfalls für Regelungen, die für die Bürger bedeutsam sind. Dem Rechtsstaatsprinzip kann ergänzend entnommen werden, dass die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Bürger durch allgemeine Gesetze geregelt werden, die eindeutig und berechenbar sind.3 a) Eingriffsverwaltung Unzweifelhaft gilt das Vorbehaltsprinzip für die Verwaltung, die in Rechte des Bürgers eingreift. Die Auferlegung von Steuern, die Entziehung einer Fahrerlaubnis, die Auflösung einer Demonstration, die Verhaftung einer Person verlangen zwingend eine gesetzliche Grundlage. Die belastenden Akte der staatlichen Behörden müssen sich in den Grenzen der gesetzlichen Grundlagen halten; anderenfalls sind diese eingreifenden Akte rechtswidrig mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen (Aufhebung der belastenden Akte, evtl. Schadensersatzleistung durch die handelnde Behörde). b) Leistungsverwaltung Ob auch für Akte der Verwaltung, die die Bürger begünstigen, das Vorbehaltsprinzip gilt, ob also auch diese Akte einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, wird in Rechtsprechung und Lehre unterschiedlich beurteilt. Große praktische Bedeutung hat diese Frage heute nicht mehr, weil die meisten Bereiche gesetzlich geregelt sind. Für manche Fälle aber gibt es keine gesetzlichen Regelungen, wie folgendes Beispiel zeigen mag: Im staatlichen Haushaltsplan, Abschnitt Wirtschaftsförderung, sind für Unternehmen, die ohne Verschulden in Schwierigkeiten geraten sind, Subventionen vorgesehen. Die zuständige staatliche Behörde gewährt einem Unternehmer eine angemessene Subvention, ohne durch ein Gesetz zu dieser Leistung ermächtigt zu sein. Denn das Haushaltsgesetz, das den Haushaltsplan feststellt, bindet nur die Regierung und deren nachgeordnete Behörden. Rechte und Pflichten einzelner werden durch das Haushaltsgesetz nicht begründet (§ 3 Haushaltsgrundsätzegesetz). Nach Meinung des Bundesverwaltungsgerichts bedürfen Subventionen keiner – nach außen wirkenden – gesetzlichen Regelung. Es genügt „auch jede andere parlamentarische Willensäußerung, insbesondere die etatmäßige Bereitstellung der für Subventionen erforderlichen Mittel“.4 Die Literatur zu dieser Frage ist nicht einheitlich; z. T. wird der Recht2 3 4

So z. B. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 116. s. Maurer, a.a.O., S. 117. BVerwGE 6, S. 282 ff.; ständige Rechtsprechung.

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sprechung zugestimmt, z. T. werden auch für Subventionen gesetzliche Ermächtigungen gefordert.5 3. Bindung an verfassungswidriges Gesetz? Nun ist denkbar – und in der Praxis kommt das auch vor –, dass ein Gesetz, an das die Verwaltungsbehörden grundsätzlich gebunden sind, gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen die Verfassung (= Grundgesetz), verstößt. Da Art. 20 Abs. 3 GG den Gesetzgeber an die verfassungsmäßige Ordnung bindet, macht ein Verstoß des Gesetzes gegen das Grundgesetz dieses Gesetz verfassungswidrig und damit in der Regel nichtig. Das wirft die Frage auf, ob die Verwaltungsbehörden an ein nichtiges Gesetz gebunden sind. Einerseits könnte man sagen, dass die Verwaltungsbehörden an ein nichtiges Gesetz, also ein nullum im Rechtssinn, nicht gebunden sein können. Andererseits gebietet es der Respekt vor dem parlamentarischen Gesetzgeber, dem in Deutschland einzigen unmittelbar demokratisch gewählten Verfassungsorgan, Akte des Parlaments zu achten und in der Praxis umzusetzen, d. h. sich nicht über Akte des Parlaments hinwegzusetzen. Die ganz überwiegende Meinung in Deutschland sieht die Verwaltungsbehörden verpflichtet, die höhere, vorgesetzte Behörde zu informieren, wenn sie ein für ihre Praxis einschlägiges Gesetz für verfassungswidrig hält. Wenn sich die höhere Behörde der Auffassung von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes anschließt, muss sie ihrerseits wiederum die ihr vorgesetzte Behörde verständigen. Auf diese Weise kann die Frage, ob das konkrete Gesetz verfassungsmäßig oder verfassungswidrig ist, bis zur Bundesregierung gelangen, wenn Bundesbehörden mit dem Vollzug des fraglichen Gesetzes betraut sind, oder bis zu einer Landesregierung gelangen, wenn Landesbehörden mit dem Vollzug des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes befasst sind. Bundesregierung wie Landesregierungen sind gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG befugt, das fragliche Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen mit der Bitte um Prüfung, ob das Gesetz verfassungswidrig ist oder nicht. Die herrschende Meinung nimmt an, dass die Verwaltungsbehörden verpflichtet sind, das von ihnen für nichtig gehaltene Gesetz bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anzuwenden.6 III. Erlass von Rechtsnormen durch die Exekutive Die Lebenssachverhalte, die in der modernen Welt einer rechtlichen Regelung bedürfen, sind vielgestaltig und häufig auch raschem Wandel unterworfen. Der parlamentarische Gesetzgeber wäre überfordert, wenn er alle rechtlich notwendigen Vor5 Sehr kritisch gegenüber der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) HansJürgen Papier, Gewaltentrennung im Rechtsstaat, S. 95 ff., 100, 113/114; der Rechtsprechung zustimmend: z. B. Peter Badura, Staatsrecht, Abschnitt D, RN 57, S. 383; siehe auch Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Die Verfassungsgrundsätze des Art. 20 Abs. GG, RN 117 ff.; im Einzelnen dazu Fritz Ossenbühl, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 101. 6 Siehe z. B. Fritz Ossenbühl, a.a.O., § 101 RN 4 mit weiteren Nachweisen.

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schriften selbst erlassen müsste. Daher ist es allgemeine Praxis der Staatengemeinschaft, dass Rechtsvorschriften auch durch die Exekutive erlassen werden. Das Instrument der Rechtsverordnung, wie die von der Exekutive erlassenen Rechtsvorschriften genannt werden, ist im modernen Wirtschafts- und Sozialstaat unentbehrlich geworden. Der parlamentarische Gesetzgeber beschränkt sich auf die Regelung grundsätzlicher Fragen und überlässt die Details dem Verordnungsgeber. Vorteil dieser Lastenverteilung ist, dass nicht alle Details im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren behandelt werden müssen; auch können Änderungen auf Grund des technischen Fortschritts durch eine Ergänzung der einschlägigen Rechtsverordnungen rasch berücksichtigt werden. Da die Exekutive mit dem Erlass von Rechtsverordnungen an sich eine Aufgabe des Gesetzgebers übernimmt, müssen die Aufgaben des parlamentarischen Gesetzgebers und des Verordnungsgebers klar voneinander abgegrenzt sein. Das hat das Grundgesetz in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 geregelt. Danach kann der Gesetzgeber Regierungsorgane zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen. „Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden“ (so Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG). Eine Generalermächtigung ist also unzulässig; vielmehr muss die Verordnungsermächtigung inhaltlich so bestimmt sein, dass voraussehbar ist, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werden kann und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Rechtsverordnungen haben können.7 Diese Grundsätze gelten auch für Verordnungsermächtigungen in Gesetzen der 16 deutschen Gliedstaaten, weil das nach deutschem Rechtsverständnis als eine dem Rechtsstaatsprinzip innewohnende Forderung anzusehen ist. Diese strengen Anforderungen an die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen gelten nicht für Gesetze, durch die Selbstverwaltungskörperschaften (z. B. Gemeinden, Landkreise) die Autonomie zum Erlass von Satzungen in eigenen Angelegenheiten verliehen wird. Denn die Satzungsautonomie ist ein Charakteristikum der Selbstverwaltung, für die ein selbstverantwortlicher Gestaltungsspielraum wesentlich ist.8 Doch allein die Satzungsautonomie der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften verleiht diesen nicht das Recht, in Grundrechte einzugreifen; dazu bedarf es einer eigenen Ermächtigung durch den Gesetzgeber.

IV. Verhältnismäßigkeit der Mittel Es ist ein allgemein anerkannter rechtsstaatlicher Grundsatz, dass die Verwaltungsbehörden beim Erlass von belastenden Verwaltungsakten das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten haben. Dieses Prinzip stellt auf die Zweck-Mittel-Relation ab. Eine Maßnahme, die einen bestimmten Zweck verfolgt, 7 So die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, E 1, S. 14 ff.; E 91, S. 148 ff. und die Literatur; siehe z. B. Badura, Staatsrecht, a.a.O., RN. 58, S. 384. 8 Siehe BVerfGE 33, S. 125 ff., 157 ff.

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muss der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn entsprechen; das heißt, die Maßnahme muss – geeignet, – notwendig und – verhältnismäßig im engeren Sinn sein. Dieser Grundsatz findet sich z. B. niedergelegt im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG); siehe Art. 4 PAG. Er gilt aber als rechtsstaatlicher Grundsatz für jeden in die Rechte des Bürgers eingreifenden Verwaltungsakt. 1. Geeignetheit Eine Maßnahme ist nur dann geeignet, wenn sie den erstrebten Erfolg überhaupt erreichen kann. Beispiel: Aus einem gewerblich genutzten Gebäude strömen intensive Gerüche und Dämpfe aus, die für Personen in der Nachbarschaft Übelkeiten verursachen. Wenn die Behörde den Gewerbetreibenden verpflichtet, die Fenster auf der Ostseite zuzumauern, so ist diese Anordnung nicht geeignet, den erstrebten Erfolg (Schutz der Nachbarschaft) zu erreichen, wenn feststeht, dass aus diesen Fenstern keine Gerüche und Dämpfe austreten. 2. Erforderlichkeit Eine Maßnahme, die eine Verwaltungsbehörde anordnet, muss erforderlich (= notwendig) sein, um den erstrebten Erfolg zu erreichen. Das heißt: Von mehreren in Betracht kommenden Maßnahmen muss die Verwaltungsbehörde das mildeste Mittel wählen, also das Mittel, das den Betroffenen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt. Mit einer bekannten deutschen Redewendung könnte man auch sagen: Man soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Beispiel: In einem Gewerbebetrieb werden auch Auszubildende beschäftigt; das sind in der Regel Minderjährige, die in einer dreijährigen Ausbildung zu einer berufsqualifizierenden Prüfung geführt werden. Wenn die zuständige Behörde feststellt, dass der Inhaber des Gewerbebetriebs mehrere Jugendliche sexuell belästigt, muss die Behörde geeignete Maßnahmen zum Schutz der Jugendlichen ergreifen (wozu sie gesetzlich ermächtigt ist). Die Behörde ordnet gegenüber dem Gewerbebetreibenden die Schließung des Betriebes an. Ist diese Maßnahme rechtmäßig? Die Maßnahme ist durchaus geeignet, Jugendliche vor Übergriffen Gewerbeinhabers zu schützen. Doch es genügt nicht, dass die Maßnahme geeignet ist; sie muss auch notwendig sein. Notwendig ist sie nicht, wenn es ein milderes Mittel gibt, das den gleichen Erfolg (= Schutz der Jugendlichen) erreicht. Es wäre z. B. ein milderes Mittel, dem Gewerbebetreibenden aufzugeben, den Betrieb zu veräußern, also

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auf eine andere Person zu übertragen. Doch es stellt sich weiterhin die Frage, ob es gegenüber dieser Anordnung ein milderes Mittel gibt. Ein milderes Mittel gegenüber der Verkaufsanordnung wäre es, dem Gewerbetreibenden zu untersagen, Auszubildende und andere Minderjährige einzustellen. Für die noch im Betrieb Beschäftigten müsste eine Übergangsregelung getroffen werden, die die Auszubildenden schützt. Ergebnis: Der Verwaltungsakt, mit dem die Schließung des Betriebes angeordnet wird, ist nicht erforderlich und deshalb rechtswidrig (und muss aufgehoben werden). 3. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn Nach diesem Grundsatz darf die von der Behörde angeordnete Maßnahme nicht außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen. Das heißt: Der Eingriff in die Rechte des Bürgers wird mit dem von der Behörde verfolgten Ziel ins Verhältnis gesetzt. Wenn die Behörde im vorgenannten Beispiel anordnet, der Gewerbetreibende dürfe in Zukunft keine Auszubildenden einstellen, so ist dieser Eingriff verhältnismäßig; denn der Schutz der Jugendlichen ist gegenüber der Gewerbefreiheit des Betriebsinhabers ein mindestens gleichwertiges Rechtsgut. Diese Maßnahme der Behörde wäre verhältnismäßig. V. Anhörung vor dem Erlass eingreifender Akte 1. Prinzip der Anhörung Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Das rechtliche Gehör im Verwaltungsverfahren ist im deutschen Verfassungsrecht nicht ausdrücklich garantiert. Es ist aber allgemein anerkannt, dass der Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren auch kraft Verfassungsrechts gilt. In der Literatur finden sich dazu unterschiedliche Begründungen, nämlich das Rechtsstaatsprinzip, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und entsprechende Anwendung des Art. 103 Abs. 1 GG.9 Am wenigsten überzeugt das Argument der entsprechenden Anwendung des Art. 103 Abs. 1 GG, weil Verwaltungs- und Gerichtsverfahren doch wesentlich unterschiedliche Verfahren sind; sie dienen auch unterschiedlichen Zwecken. Die Anhörungspflicht der Verwaltungsbehörden lässt sich besser begründen mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Pflicht des Staates, die Würde des Menschen zu achten (Art. 1 Abs. 1 GG). Wenn die Behörde dem Bürger ohne dessen vorherige Anhörung Belastungen auferlegt, wird der Bürger nicht als Subjekt, sondern wie ein Objekt behandelt; dieses verbietet die Menschenwürde.10 Der Rechtsstaat kennt nicht den Untertan, mit dem die Obrigkeit in Diktaturen und

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Siehe dazu Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 490. Siehe dazu Matthias Herdegen, Der Begriff der Menschenwürde, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand Februar 2005, Art. 1 Abs. 1 RN 33 ff. 10

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früheren Epochen nach Belieben verfahren ist. Im Rechtsstaat ist der Bürger mit eigenen Rechten ausgestattet, über die die Obrigkeit nicht beliebig disponieren darf. Das deutsche Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) – entsprechende Regelungen finden sich in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der deutschen Länder – trifft daher in § 28 Abs.1 folgende Regelung: „Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.“

Denn nur auf solche Umstände, zu denen sich der Beteiligte vorher äußern konnte, darf die Behörde ihre Entscheidung stützen. Es genügt, dass der Beteiligte die Möglichkeit hatte, sich zu äußern. Äußert er sich nicht, kann die Behörde das Verwaltungsverfahren abschließen und den Verwaltungsakt erlassen. Wenn sich der Beteiligte äußert, dann ist die Behörde verpflichtet, seine Darlegungen in ihre Erwägungen einzubeziehen, was in der Begründung des Bescheides zum Ausdruck kommen muss. Die Pflicht der Behörde, sich mit der Äußerung des Beteiligten auseinanderzusetzen, gilt nicht nur für entscheidungserhebliche Tatsachen, sondern auch für wesentliche Rechtsfragen. Äußert sich der Beteiligte zu Rechtsfragen, so muss die Behörde im Bescheid erkennen lassen, dass sie sich mit den rechtlichen Darlegungen des Betroffenen befasst hat. Das gebietet die rechtsstaatliche Pflicht der Behörde, den Bürger als mit eigenen Rechten ausgestattete Person zu behandeln. Von dieser Anhörungspflicht kennt das Gesetz auch Ausnahmen, z. B. wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG), oder wenn von den tatsächlichen Angaben eines Beteiligten, die dieser in einem Antrag oder in einer Erklärung gemacht hat, nicht zu seinen Ungunsten abgewichen werden soll (§ 28 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG). Eine Anhörung in diesen und anderen im Gesetz genannten Fällen wäre Formalismus, der in einem Rechtsstaat nicht gepflegt wird. 2. Heilung der unterbliebenen Anhörung Wenn die Behörde einen belastenden Verwaltungsakt, z. B. die Untersagung der weiteren Ausübung eines Gewerbes, ohne Anhörung des Betroffenen erlässt, so macht dieser Verfahrensmangel den Verwaltungsakt rechtswidrig. Dieser Verfahrensfehler kann aber durch Nachholung der gebotenen Anhörung geheilt werden. Durch die „Heilung“ wird der Verfahrensmangel beseitigt mit der Folge, dass der Verwaltungsakt nunmehr als formell rechtmäßig anzusehen ist.11 Die Heilung ist auch im Widerspruchsverfahren möglich. Das ist ein Verwaltungsverfahren, das nach der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) der Klageerhebung in der Regel vorauszugehen hat. Es wird eingeleitet durch einen Widerspruch, den der belastete Bürger bei der Behörde erhebt, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Wenn 11

Siehe Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 RN 39, S. 269/270.

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nun der Bürger in diesem Widerspruchsverfahren Gelegenheit zur Äußerung erhält, so ist der Verfahrensmangel der Nichtanhörung geheilt. VI. Begründung von Verwaltungsakten 1. Belastende Verwaltungsakte Ein Rechtsstaat gewährt seinen Bürgern Rechtsschutz gegenüber Verwaltungsakten seiner Behörden. Vom Staat installierte Gerichte haben darüber zu wachen, dass sich die Verwaltungsbehörden den Bürgern gegenüber im Rahmen des Rechts bewegen. Gegen belastende Akte kann der Bürger, wie bereits erwähnt, Widerspruch (§§ 68 ff VwGO), und, wenn dieser erfolglos ist, Klage beim Verwaltungsgericht erheben (§§ 42 ff, 81 ff VwGO). Die Kontrollierbarkeit des Verwaltungsakts setzt voraus, dass der Bürger die Gründe kennt, die die Behörde zum Erlass des Verwaltungsakts bewogen haben. Ohne Kenntnis der Gründe bleibt der Bürger im Dunkeln und sieht sich nicht in der Lage, in sinnvoller Weise Widerspruch und Klage zu erheben. Die Pflicht der Behörden, Verwaltungsakte mit einer Begründung zu versehen, ist in Deutschland in § 39 VwVfG geregelt. Denn nur, wenn der Bürger die Gründe kennt, die die Behörde zum Handeln veranlasst haben, kann er entscheiden, ob die Behörde – nach seiner Meinung – von richtigen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen ausgegangen ist, ob also ein Rechtsbehelf überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Der Bürger braucht für seinen Entschluss, Widerspruch und nach dessen Erfolglosigkeit Klage zu erheben, Anhaltspunkte für die Begründung seiner Rechtsbehelfe. Diese Anhaltspunkte kann er nur der behördlichen Begründung der Verwaltungsentscheidung entnehmen. Diese Begründungspflicht ist Ausfluss der Rechtsschutzgarantie, die das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 ausspricht. § 39 VwVfG ist daher eine verfassungsrechtlich gebotene Gesetzesnorm. 2. Begünstigende Verwaltungsakte Wenn die Behörde einem Antrag des Bürgers oder einer von ihm abgegebenen Erklärung folgt und der Verwaltungsakt nicht in Rechte eines anderen eingreift, so bedarf es nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG keiner Begründung. Diese Konstellation ist typisch für begünstigende Verwaltungsakte. Doch in besonderen Fällen ist auch für begünstigende Verwaltungsakte, die der begünstigte Bürger keiner gerichtlichen Überprüfung zuführen kann, eine Begründung notwendig. Man denke an eine Subvention, die ein Wirtschaftsunternehmen erhalten hat. Die Firma wird ein Interesse daran haben, dass die Behörde den Subventionszweck detailliert darlegt. Denn bei Verfehlung des Zwecks wird die Firma mit einer Rückforderung der Subvention rechnen müssen.12

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s. Kischel, Die Begründung, S. 230.

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Auch einen Erlass von Steuerschulden sollte die Behörde, auch wenn keine Pflicht dazu besteht, begründen und damit aktenkundig machen. Das beugt Heimlichkeiten vor, die einem demokratischen Rechtsstaat fremd sind, fördert die Transparenz behördlichen Handelns und erleichtert auch staatsinterne Kontrollen, die gerade im Bereich der Staatsfinanzen notwendig sind. 3. Ermessensentscheidungen Auch Ermessensentscheidungen bedürfen grundsätzlich der Begründung. „In der Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben“ (so der Wortlaut von § 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG). Die Ausübung des Ermessens ist ein rationaler Vorgang, der einer Begründung ebenso zugänglich ist wie die sonstige Rechtsanwendung; gerade hier ist der Eindruck von Heimlichkeit zu vermeiden; gerade hier sind Transparenz und Offenheit wichtig. Ermessenserwägungen sind umso sorgfältiger und eingehender darzustellen, je weiter das der Verwaltung gewährte Ermessen ist.13 VII. Abschließende Bemerkungen Die Verwaltung, der der Bürger täglich begegnet, prägt wesentlich das Bild, das sich der Bürger von seinem Staat macht. Wenn die Verwaltung ihr Handeln nach rechtsstaatlichen Prinzipien ausrichtet, wenn der Bürger spürt, dass das Gesetz herrscht, also objektives, allgemeines Recht, nicht aber die Willkür der Menschen, gewinnt der Bürger Vertrauen zu „seinem“ Staat. Er wird eher geneigt sein, seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen, und auch bereit sein, Ehrenämter im Staat zu übernehmen. Er wird sich mit seinem Staat identifizieren, sich für diesen einsetzen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität des Gemeinwesens leisten. Verwendete Literatur Badura, Peter: Staatsrecht, Systematische des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, 2010 Gamper, Anna: Staat und Verfassung, 2007 Herdegen, Matthias: Der Begriff der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1, in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand Februar 2007 Isensee, Josef: Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 1997, § 202 Grzeszick, Bernd: Die Verfassungsgrundsätze des Art. 20 Abs. 3 GG, in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand Dezember 2007 Kischel, Uwe: Die Begründung, 2003 13

s. Kischel, Die Begründung, S. 223 ff.

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Maurer, Hartmut: Allg. Verwaltungsrecht, 17. Auflage, 2009 Ossenbühl, Fritz: Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Auflage 2007, § 101 Papier, Hans-Jürgen: Gewaltentrennung im Rechtsstaat, in: Detlef Merten (Hrsg.), Gewaltentrennung im Rechtsstaat – Zum 300. Geburtstag von Charles de Montesquieu, 2. Auflage 1997, S. 95 – 114 Schmitt Glaeser, Walter: Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 2008 Sobota, Katharina: Das Prinzip Rechtsstaat, 1997 Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage, 1984, § 20: Das rechtsstaatliche Prinzip Zippelius, Reinhold / Würtenberger, Thomas: Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage, 2008

Föderalismus und Rechtsstaat im gegenwärtigen Russland: am Vorabend einer Wandlung Von Andrej Matsnev Die oben dargestellten Beiträge des Sammelbandes, die einer Analyse des gegenwärtigen Zustandes des Rechtsstaates gewidmet sind, machen es unbedingt notwendig, das Problem unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten, indem man sich auf die Wege und Formen der Vervollkommnung des Föderalismus und seiner Rolle in der Behauptung des Rechtsstaates im heutigen Russland konzentriert. Das im Titel des Beitrages formulierte dialektische Paar setzt voraus, eine Analyse sowohl seiner ersten, als auch der zweiten Komponente als Prozess vorzunehmen, in dessen Verlauf ihr Wechselverhältnis und ihre Wechselwirkung sichtbar zu Tage treten. Eine solche Prämisse setzt voraus, dass im historischen Entwicklungsprozess Flut und Ebbe, unerwartete Wendungen und Rückentwicklungen ebenso wie Durchbruchbewegungen nach vorne unbedingt auftreten können. All das ist in vollem Maße sowohl dem Vervollkommnungsprozess der föderativen Beziehungen in Russland, als auch der andauernden Verankerung des Rechtsstaats eigen. Die Macht und die Breite der beiden Prozesse sind logischerweise unterschiedlich, wie auch die Geschwindigkeit ihrer Entwicklung. Doch ihr Wechselverhältnis, das nicht selten nur in Notstandssituationen immer spürbarer von sich sprechen lässt, ist eine greifbare Realität. Eben das ist der Beweggrund dafür, sich Gedanken über die Besonderheit des Zusammenhanges der beiden Elemente zu machen. I. Föderalismus in Russland als Prozess: Wechselverhältnis mit Prinzipien des Rechtsstaates Der sich in Russland laut seiner Verfassung behauptende Föderalismus zeichnet sich auf der gegenwärtigen Etappe dadurch aus, dass er eine sehr wichtige Phase in seiner Entwicklung durchmacht. Nach der qualvollen, mehrere Jahrhunderte dauernden konzeptuellen Suche, nach mehreren Jahrzehnten verbaler Anerkennung des Staatsaufbaues und dessen praktisch vollständiger Negation in der Praxis im multinationalen Land, nach dem Anfang eines schwierigen Überganges von einem Wertesystem zum anderen unter den Bedingungen der anschwellenden finanziellen Weltkrise und der schweren sozialen Lage der Übergangsperiode tritt heute der russländische Föderalismus in eine Etappe, in der vieles zu verändern, zu meistern und zu vervollkommnen ist.

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Das wäre eine Arbeitsformel, die konzeptionell den heute bei Weitem nicht einfachen Zustand umschreibt, den man nicht für abgeschlossen halten darf, obgleich eine feste und zuverlässige Grundlage für die Entwicklung der föderativen Beziehungen im Lande eindeutig vorhanden ist. Selbstverständlich ist der Rechtsstaat verfassungsmäßig und laut Gesetzen verankert und wird nach den weltweiten Maßstäben der Geschichte und der Theorie des Rechts aufgebaut. Er ist schon längst vom Reißbrett der Sozialingenieure weg, hat im Laufe der letzten 20 Jahre eine verzwickte Flugbahn in seiner Entwicklung gemacht und ist zu einem wichtigen Meilenstein im Aufbau eines wahren demokratischen Staates geworden. Das aber ist erst der Anfang des Weges, und allem Anschein nach steht eine unwahrscheinlich große Arbeit bevor, damit die Grundregeln des Rechtstaates, hinter denen eine jahrhundertelang währende Arbeit von Generationen verborgen ist, zur Lebens- und Denkweise von mehreren Millionen Menschen werden, die unter ganz anderen Lebensverhältnissen geformt worden sind. Das Geschriebene ist keine Klage eines bejahrten, ermüdeten Menschen. Es ist die Realität der heutigen Entwicklungsetappe, die der russländische Föderalismus durchmacht. Bis heute sind bei uns Diskussionen im Gange, ob Russland solch ein System des Staatsaufbaues braucht. Die Meinungen darüber sind gegensätzlich. Im Zusammenhang damit sind Fernsehdiskussionen am Vorabend der letzten Präsidentenwahlen nicht zu vergessen, wo diametral unterschiedliche Standpunkte vertreten wurden. Bis jetzt steht der Gesichtsausdruck vom Herrn W. Schirinowskij im Auge, der direkt in die Fernsehkamera geschleudert hat: „Keinerlei Föderalismus! Russland wird zu einem Einheitsstaat!“ Hier wurde nicht eine persönliche Stellungnahme des kleinen Mannes auf der Straße propagiert. Das hingegen war die Position einer politischen Massenpartei, deren Führer nur eine unwesentliche Figur unter denen ist, die die Bewegung der Gesetzgebung in Russland bestimmen. Selbstverständlich gibt es bei weitem mehr gemäßigte und sogar beinahe konformistische Ansichten, deren Vertreter einfach andeuten, dass sie „mit dem Föderalismus nicht besonders befreundet“ seien, obwohl sie von Amts wegen dazu berufen sind, zur Entwicklung der Verfassungsgrundlagen des Rechtsstaates beizutragen. Es ist daraus eindeutig ersichtlich, dass das Föderalismuskonzept und die Praxis der Vervollkommnung der föderativen Beziehungen sich nach wie vor im Brennpunkt der gesellschaftlich-politischen Diskussion und ergo des Kampfes in Russland befinden. Es ist grundsätzlich wichtig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum für das heutige Russland die föderative Grundordnung so wichtig ist, was Forderungen der weiteren Entwicklung und Vervollkommnung des Rechtstaates ins Leben rufen. An dieser Stelle sind wir wieder gezwungen, uns an die Geschichte zu wenden. Der historische Prozess auf unterschiedlichen Kontinenten und zu verschiedenen Zeiten lässt sich mit beneidenswerter Aufdringlichkeit eine universale Idee zu Eigen machen: Nur der Föderalismus ist im Stande, die Funktion eines unersetzbaren Gelenks

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beim Übergang von einer Produktionsweise zur anderen zu erfüllen. Das war in Amerika der Fall, als die jungen USA nach einem optimalen Weg für ihre künftige Entwicklung suchten und ihn dank Föderalismus fanden, als sie mutig von der industriellen Produktionsweise zur postindustriellen Produktionsweise schritten. Den selben Fall beobachten wir im vom Zweiten Weltkrieg zerstörten Westeuropa, wo die sich zum Föderalismus bekennenden Staaten, indem sie die schrecklichen Folgen des Nationalsozialismus überwanden, zur Avantgarde der Integration und Erneuerung wurden, einen Durchbruch in den Raum des Wirtschaftswunders vollbracht haben. Und nicht nur sie. Neben ihnen schritten auch mehrere Einheitsstaaten. Dabei darf man nicht vergessen: Sowohl die konstitutionelle Monarchie Großbritannien als auch der Einheitsstaat Frankreich verstanden es, gestützt auf das Fundament des Rechtsstaates weise, geschickt und weitsichtig jenes föderative Instrumentarium und Vorteile der Integration auszunutzen, die es ihnen ermöglichten, mit dem Welterneuerungsprozess Schritt zu halten. Auch Afrika lässt sich aus dieser globalen Entwicklung nicht ausklammern. Der Föderalismus ist auch dort fest verankert und trägt dazu bei, den Boden für die Entwicklung des Rechtsstaates vorzubereiten. Man kann nicht umhin, der Meinung der russischen Forscherin darüber Recht zu geben, dass „der Föderalismus eine gesetzmäßige Erscheinung darstellt, die allgemein ist und die Menschheit begleitet“. Daraus ergibt sich, dass er unentwegt in der gesellschaftspolitischen und sozialwirtschaftlichen Praxis des neuen Millenniums berücksichtigt werden muss. Es gibt noch einen grundsätzlichen Aspekt unseres Problems, den man ständig im Auge behalten muss, wenn man über den Föderalismus nachdenkt. Er ist nicht ein Zustand, sondern ein Prozess, der sich pausenlos entwickelt und unterschiedliche Phasen durchläuft. Er ist so alt wie die Zivilisation selbst. Und im historischen Sinne ist der Rechtsstaat auf seinem Weg vor noch nicht allzu langer Zeit entstanden. Für Russland hat diese These eine schicksalhafte Bedeutung, denn es verspürte einige Jahrhunderte später, verglichen mit den entwickelten Rechtsdemokratien des Westens, eine segensreiche Auswirkung der rechtsstaatlichen Anregungen. Diesen besonderen Schritt darf man auf keinen Fall vergessen, wenn man den Entwicklungsprozess des gegenwärtigen russländischen Föderalismus analysiert. Es kann sein, dass eben dadurch das nur Russland eigene Phänomen des Zurückbleibens der Ausbildung der Bürgergesellschaft in allen Etappen des Werdeganges und der Entwicklung des Staates in diesem Lande eigen ist. Eben dieses eigenartige dialektische Wechselverhältnis des Föderalismus und des Rechtsstaates in unserem Lande musste sein Gepräge auf alle Kanten des föderativen Systems auferlegen, das nach der Verkündung der Verfassung der Russländischen Föderation am 12. Dezember 1993 zustande gekommen ist. Dieses Wechselverhältnis lässt sich auch heute jedes Mal spüren, wenn sich die im Lande durchzuführenden tiefen sozialwirtschaftlichen Umwandlungen direkt am föderativen System auszuwirken beginnen.

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Der Übergang zu einem grundsätzlich anderen Wirtschaftssystem am Anfang des Gebrauchs der staatsrechtlichen Lenkungshebel in diesem Prozess brachte unerwartete Ergebnisse mit sich bei der Entwicklung der makrowirtschaftlichen Veränderungen, die der Föderalisierung Russlands zugrunde liegen. In erster Linie ließ er ein sonderbares Wechselverhältnis und eine recht bemerkbare Wechselwirkung der Prinzipien des Föderalismus und des Rechtstaates unter den Bedingungen erkennen, wenn auch die Verbindung vom einen mit dem anderen als absolut virtuell erscheint. Beispielweise wird es immer offenkundiger, dass beim mächtigen Aufschwung des Globalisierungsprozesses gerade und vor allem der Rechtsstaat zur natürlichen Grundlage des globalen (und des Öfteren für Russland sehr ungünstigen[!]) Einflusses auf die Vervollkommnung der föderativen Beziehungen in diesem Land wird; aber nicht als solcher an sich. Man kann nicht umhin festzustellen, dass er eine mächtige potentielle Ressource für die Steuerung des Föderalisierungsprozesses bildet, indem ihm eine Chance gewährt wird, sich zu einem Steuerinstrument der makrowirtschaftlichen Wandlungen zu verwandeln. Besonders sichtbar lässt es sich feststellen, wie eine Analyse zeigt, wenn man aufmerksam die Regionalisierung des Landes betrachtet, die immer mehr an Fahrt aufnimmt. Einer der Autoren der früheren gemeinsamen Forschungen hat darüber schon geschrieben. Es wurde festgestellt, dass die Tatsache der Herausbildung zweier Weltzivilisationen – der Euro-Atlantischen und der Asiatisch-Pazifischen – und vorläufig erst kaum bemerkbar eines dritten Weltzentrums der Erneuerung eine anschauliche Offenbarung des globalen Regionalisierungsprozesses darstellt. Er ist eine offensichtliche Realität, die sich aber absolut nicht im Interesse Russlands entwickelt. Der Rechtsstaat, der sich in unserem Lande erst herausbildet, bietet eine Möglichkeit, wie man diese Lage unter Etablierung des Föderalismus einigermaßen korrigieren könnte. Das oben erst angedeutete Problem ist zu kompliziert und wichtig und erwartet von einem Forscher ein gründliches und auf keinen Fall hastiges Herangehen. Man muss sich bemühen, das Problem konzeptionell zu gestalten. Man kann nicht umhin, festzustellen, dass die globalen Integrationsprozesse, die die Regionalisierung als ein Novum in der Welt ins Leben gerufen haben, in Russland zur Herausbildung von Regionen von zweierlei Typen führten: Erstens die Free Trade Regionen, die über gigantische Rohstoffvorkommen verfügen, die im Besitz von einer recht guten Produktionsgrundlage sind und die Erzeugnisse liefern, die auf dem Weltmarkt guten Ruf und Nachfrage genießen. Zweitens die Regionen, die eine solche wirtschaftliche Sicherheit nicht haben, bis jetzt für den Weltmarkt als uninteressante Subjekte auftreten und gezwungen sind, sich praktisch den Gesetzen der Autarkie zu unterwerfen. Eine merkwürdige Tatsache. Das Land, das sowohl die einen, als auch die anderen Regionen in sich birgt, wird, wie es scheint, in zwei Teile am Ural eingeteilt, wobei ein

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Teil die Tendenz aufweist, sich der Euroatlantischen Zivilisation anzuschließen, und der andere Teil offensichtlich zur Asiatisch-Pazifischen Zivilisation tendiert. Und das wird kein Spiel des Geistes und kein virtuelles Drehbuch. Das ist eine sich langsam, aber unentwegt entwickelnde Realität, der ernsthafte Politiker schon heute im großen Maßstab angelegte und bei weitem nicht gewöhnliche Maßnahmen gegenüberstellen. Ihre Effizienz kann sich deutlich vergrößern, wenn man es versteht, die Energie des Föderalismus im Lande richtig auszunutzen und arbeiten zu lassen. Der Föderalismus verfügt über die Macht, zum zuverlässigen Steuerungsinstrument der sozialwirtschaftlichen Prozesse zu werden, wenn man es versteht, sowohl in den vertikalen Machstrukturen, als auch in den horizontalen administrativen Leitungskörpern Hindernisse zu beseitigen, die es bislang nicht zulassen, den Umlauf von Ressourcen, Technologien, Vorteilen der Integration und anderen Möglichkeiten energisch zu verwirklichen. Solche Schritte der Macht, die im Rahmen von föderativen Programmen und intensiver Innovationsarbeit in Angriff genommen werden, sind im Stande, den ganzen Mechanismus des Staataufbaues des föderativen Russland effizienter arbeiten zu lassen und in vollem Maße alle Vorteile des Rechtsstaates zu offenbaren. Es stellt sich die Frage, ob nicht eben darin die Hauptressource für die Vorwärtsbewegung Russlands und eine für sie unentwegte Wandlung besteht. II. Rechtsstaat und Vervollkommnung föderativer Beziehungen Es scheint, dass in den Untertitel des Beitrages eine axiomatische Idee eingetragen ist, die überhaupt keiner Begründung bedarf. Der Alltag aber zeugt davon, dass das nicht der Fall ist. Das Wechselverhältnis vom einen und dem anderen wird eher nur in der Theorie anerkannt. In der Praxis steht noch eine immense Arbeit bevor, die geleistet werden muss, damit die Gesetze der Dialektik in dieser Hinsicht vollständig in Kraft treten. Das heutige Niveau des Zustandes und der Entwicklung föderativer Beziehungen in Russland lässt sie den Wissenschaftler in enger Abhängigkeit vom Niveau der Reife des Rechtsstaates in diesem Land betrachten. Fast zwei Jahrzehnte des Werdeganges des demokratischen Rechtsstaates geben einen schwerwiegenden Grund zu behaupten, dass das Maß seiner Reife oder Unreife praktisch in jedem Glied des Föderalisierungsprozesses sichtbar wird. Grundsätzlich ist das zur Genüge bei der Verwirklichung der Hauptprinzipien bei der Entwicklung des Föderalismus in Russland bemerkbar. Vor allem ist es wichtig, diesen Aspekt hervorzuheben, wenn die Realität der Verwirklichung des Grundsatzes der Subsidiarität analysiert wird. Der Rechtsstaat erfordert es, bedingungslos auf allen Niveaus des föderativen Aufbaues die Teilung der Gegenstände der Verantwortung zu verwirklichen, ohne die es einfach sinnlos

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wäre, ein neues System des Staatsaufbaues zu schaffen. Diese Schlussfolgerung kann aufgrund der Schwierigkeiten und Probleme bei der Realisierung dieses Grundsatzes nach der Annahme der Verfassung der Russländischen Föderation als überzeugend angesehen werden. Es hat sehr viel Mühe gekostet, diesen Grundsatz in allen Gebieten der Föderation auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dafür waren drei Etappen notwendig – die Teilung der Kompetenzen der Gebiete der Föderation (1992 – 1995), ihre lange und nicht einfache verfassungsverträgliche Tätigkeit (1995 – 2000) und die angestrengte Stabilisierung (seit 2000 bis in die Gegenwart).1 All das ist als wichtiges zusätzliches Argument dienlich. In den Werken russländischer Forscher kann man gleichzeitig eindeutig den Gedanken herauslesen, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, was allerdings die Folge der nicht abgeschlossenen Verwirklichung vom Schaffen des Rechtsstaates in Russland darstellt. So wird insbesondere festgestellt, dass die gegenwärtige Etappe der relativen Stabilisierung der Gesetzgebung für die Regelung der föderativen Beziehungen in Russland nicht in der Weise gesehen werden darf, dass sie „voll und ganz die Grundaufgaben gelöst hat, die in deren Verlauf aufgeworfen worden sind“.2 In erster Linie geht es um die Versorgung aller Bürger mit ihnen gebührenden Gesellschaftsgütern ebenso wie um die Schaffung der notwendigen Bedingungen für den weiteren Ausbau des Landes auf dem Wege der Schaffung des wahrhaftig demokratischen, rechtsstaatlichen, föderativen und sozialen Staatswesens. Mit anderen Worten ist es bis jetzt nicht gelungen, alles zu unternehmen, um in den Prozess der Föderalisierung Russlands die ganze Macht des Rechtsstaates einzuspannen, der selbst noch eine Phase der Entwicklung durchmacht und einer weiteren Vervollkommnung bedarf. Solche Gedanken sind in der Analyse nicht nur auf den gesamtstaatlichen, sondern auch auf den regionalen Maßstab der Gebiete der Föderation zu übertragen. Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten bei der Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes, die sich aus dem realen Gang der Dinge ergeben, sind auf diesem Niveau kaum zu übersehen. Sie kommen sogar noch ausgeprägter an die Oberfläche. Die vom Rechtsstaat gebotenen Möglichkeiten liegen hier nicht nur wegen objektiver sozialwirtschaftlicher, geografischer, historischer und anderer Gründe, sondern auch aus subjektiven Gründen brach: Machtambitionen, Parteiinteressen, Nepotismus usw. Es ist wichtig, das Wesentliche herauszuschälen. Der ganze Entwicklungsprozess in den Gebieten der Föderation kann sich wegen inadäquater Anwendung der Möglichkeiten des Rechtsstaates nicht in dem Fahrwasser entwickeln, das den Interessen des ganzen Landes entspricht. Das fällt beim eingehenden Studium der kommunalen Selbstverwaltung auf, wo das ungenügende Durchdringen der rechtstaatlichen Beziehungen geradezu ins Auge 1 Siehe Stoliarov, M. W., Theorie und Praxis des Föderalismus (Russ), Moskau RAGS 2008, S. 126 – 142. 2 Ebenda, S. 143.

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springt. Es offenbarte sich insbesondere bei der Realisierung des Bundesgesetzes N 131, das im Jahre 2003 von der Staatsduma beschlossen worden war, nämlich die kommunale Ebene, die laut der Verfassung der RF nicht einen Teil der senkrechten Machtkonstruktion darstellt. Über dieses Problem, seine Eigenart und Schärfe hat das internationale Kollektiv der deutsch-russischen Autoren im gemeinsamen Band schon ausführlich geschrieben.3 Als Verallgemeinerung ist es hier wichtig festzustellen, dass die kommunale Ebene der föderativen Beziehungen im Lande wirklich unaufschiebbar zusätzlicher staatsrechtlicher Impulse bedarf, um jene Entwicklungsenergie zu gewinnen, ohne die eine weitere Vorwärtsbewegung kaum möglich erscheint – sowohl in finanziellen, als auch in sozialwirtschaftlichen und organisatorischpolitischen Bereichen; ganz zu schweigen darüber, welche große Bedeutung das für eine weitere Entwicklung der föderativen Beziehungen in Russland gewinnt. Nicht weniger wichtig erscheint die Analyse der Einwirkung des inneren Energiepotenzials des Rechtsstaates in seiner jetzigen Form auf die Verwirklichung eines anderen Aufbaugrundsatzes des föderativen Staatswesens – des Kohärenzgrundsatzes, den jene nicht selten aus unverständlichen Gründen aus dem Auge verlieren, die solch eine Analyse wagen. Es geht für Russland um den wichtigsten Ausgleich der Entwicklung der Gebiete der Föderation, deren Unterschied nach weltweit anerkannten Normen nicht einen Faktor von 2,9 übersteigen darf. Es ist offensichtlich, dass dies unter den Verhältnissen unseres Landes ein sehr schwieriger Messwert ist. Bekannt ist auch, dass die Europäische Union dieses Problem auch heute noch nicht endgültig zu lösen im Stande war, indem sie anstrebte, Unterschiede bei der Entwicklung vom Norden und Süden Europas zu überwinden. Für unser Land aber gewinnt solche Arbeit einen besonderen Sinn, wenn man in Erinnerung ruft, was mit diesem Ziel verbunden ist. Die oben dargelegten Gedanken über zwei globale Zivilisationen und über die für Russland schicksalhafte Superaufgabe der Mitwirkung bei der Schaffung eines dritten Modernisierungsweltzentrums fußen eben in der Bewältigung der Kunst, die vom Föderalismus gebotenen Ressourcen bei diesem Vorhaben maximal auszunutzen. Es geht also nicht nur um ein akademisches Problem, sondern gleichzeitig um ein riesiges kreatives Projekt, mit dem die zukünftige Entwicklung des Landes verbunden ist. Den Kohärenzgrundsatz beim Aufbau des Föderalismus einzuhalten bedeutet in der Praxis vor allem, die heute unzumutbaren Unterschiede im Entwicklungsniveau der Gebiete der Föderation auf eine erträgliche Größe zurückzuführen. Jetzt wird im Rahmen der Ausführung der großen föderativen Vorhaben vieles unternommen, um den Fluss von verschwindenden Möglichkeiten mit einem zuverlässigen Damm zu stoppen, damit eine geschickte, pausenlose und weitsichtige Ausnutzung der Föderalismusenergie zum Ziel des kohärenten Ausbaus und für die Vervollkommnung zum einzigen Wegweiser werden könnte. Doch nach wie vor bleibt die Gefahr einer schmerzvollen Ruptur des Landes entlang am Ural bestehen. Der globale Me3 Siehe Dezentralisation der Staatsmacht und die kommunale Selbstverwaltung: Probleme der Realisation, Moskau RAGS 2007, S. 56 – 72.

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chanismus, der den historischen Gang der Dinge seinem Willen unterwirft, setzt seine Arbeit fort. Es steht aus, die Kräfte des Föderalismus anzuspannen, um im vollen Maße eine freie Bewegung von Investitionen, Technologien und Fachkräften – also allen Entwicklungsprodukten unter den Regionen – begünstigen zu können. Damit für diese Tätigkeit überhaupt eine freie Bewegung gesichert werden könnte, muss man die heute noch vorhandenen Thromben in den gesamten Kanälen der föderativen Struktur Russlands beseitigen. Und die Erfahrung von entwickelten föderativen Rechtsstaaten kann uns dabei sehr hilfreich sein. Es ist doch eine Tatsache, dass man es in der Bundesrepublik Deutschland vermochte, die Arbeit von so einem Mechanismus zu regeln, wenn auch die Streitigkeiten, die wegen dem Saarland beispielsweise beinahe zehn Jahre gedauert haben, doch letzten Endes mit einer weisen Entscheidung abgeschlossen worden sind. Der Föderalismus erschließt in Russland ebensolche Möglichkeiten für die Lösung von Problemen der horizontalen Entwicklung, indem er als eine gute Gewähr für die Korrektur der alten Fehler in seiner Entwicklung auftritt. Dabei gewährt die wiederhergestellte Kohärenz viele neue Möglichkeiten auf allen Ebenen der Macht. Im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung beispielsweise setzt sich schon heute, wenn auch mit immensen Schwierigkeiten, die Idee der grenzüberschreitenden administrativen Zusammenarbeit durch, wobei des Öfteren das zerrissene Gewebe der regionalen Integration wiederhergestellt wird. Im Bereich der zwischenregionalen Zusammenarbeit werden vom Föderalismus neue Chancen zur Verfügung gestellt, entschlossen in Richtung der wirtschaftlichen Clusterzusammenarbeit zu arbeiten. Dabei wird es ermöglicht, die in der Vergangenheit zugelassenen wirtschaftlichen Fehler zu mildern und zu korrigieren, die Versuchung der oft aufgeblasenen Vorzüge der Verbindungen auf dem Weltmarkt zu überwinden, auf die man wie auf Kinderkrankheiten nicht selten stößt. Und der Gewinn dabei ist unvorstellbar groß: Es wird doch auf die Erhaltung und die Festigung der wirtschaftlichen Integrität von Russland gesetzt – dabei unter neuen Bedingungen, mit neuen Mitteln, im Besitz der Kunst, auf die unwahrscheinlichsten Herausforderungen der Zeit eine gebührende Antwort zu geben. Nicht zu übersehen ist die neue Möglichkeit, im qualitativ neuen sozialen, wirtschaftlichen und intellektuellen Raum, eine absolut andere Positionierung von Russland zu erschließen. Wie man sieht, wird beim Versuch der Analyse der Einwirkung des Rechtsstaates auf die Entwicklung von föderativen Beziehungen die unaufschiebbare Notwendigkeit einer Wandlung aufgedeckt, deren Realität oder Fehlen zum Ergebnis der Tätigkeit von Menschenhand wird.

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III. Föderalismus als ein Instrument der Behauptung des Rechtsstaates im gegenwärtigen Russland Beinahe jeden Tag wird von Massenmedien über Ereignisse berichtet, die nicht selten undenkbar grausam, unsinnig und zufällig sind, die gleichzeitig eine schwere Wahrheit über ein rasantes Zurückbleiben der Entwicklung des Rechtsstaats, der sich in Russland erst im Anfang des Aufbaus befindet, bestätigen. Ohne tiefe strukturelle Veränderungen bei diesem Vorhaben kann sich der Übergang des Landes zu einer neuen Produktionsweise für eine recht lange Zeit in die Länge ziehen. Es ist ein neues Mittelinstrumentarium notwendig, es sind neue Ressourcen und neue Menschen erforderlich. Es ist bei weitem nach einem neuen Koordinatensystem der menschlichen Aktivität gefragt, eine sorgfältige Einhaltung der zuverlässigen und im Laufe der Jahrhunderte der russischen Geschichte bewährten Moralnormen, ohne die eine weitere Vorwärtsbewegung unmöglich erscheint. Vom Standpunkt der Theorie und der russischen Praxis bietet die Ressource des Föderalismus zweifellos ein wichtiges Mittel für eine Formung des Rechtsstaates. Darin besteht die Dialektik des Wechselverhältnisses vom einen und dem anderen, worüber oben im Beitrag schon die Rede war. Es steht uns aber bevor, uns darüber Gedanken zu machen, wie sich der Einfluss der zweiten Komponente dieses dialektischen Paares auf die erste auswirkt, was eigentlich das Rückgrat des angebotenen Beitrages bildet. Das historische Alter des Föderalismus selbst, das tief in der Vergangenheit wurzelt, lässt uns von vornherein ein Koordinatensystem für unsere Gedanken aufbauen. Der Föderalismus muss seine Wirkung auf den Zustand und die Entwicklung des Rechtsstaates für die ganze Dauer dieses Prozesses ausüben. Dieses Thema ist im allgemeinphilosophischen Sinne gewaltig und unwahrscheinlich wichtig. Für unsere Forschung gewinnt ein allgemeines methodologisches Herangehen erstrangige Bedeutung, das erlaubt, die Ergebnisse dieses Einflusses heute in Russland zu erkennen, wobei das Ziel die Beherrschung des Instrumentariums, also der Kompetenzen und Funktionen der neuen Ordnung darstellt. Auf der nationalen Ebene wird der Faktor des Einflusses auf die Vervollkommnung des Rechtsstaates darin sichtbar, dass keine einzige Maßnahme, die dazu berufen ist, dem Aufbau des Föderalismus zu dienen, außerhalb des Rechts beschlossen und verwirklicht werden darf. Mit anderen Worten öffnen der Perfektionismus in der Machtteilung und die Festsetzung der Vollmachten der föderalen Machtstrukturen und ihrer Kompetenzen im selben Maße die Schleuse für die Entwicklung des Rechtsstaates wie die Teilung der Bereiche zwischen dem föderalen Zentrum und den Gebieten der Föderation. Komplizierter ist die Sache mit den gemeinsamen Vollmachten, die in der Alltagspraxis noch lange Zeit als Stein des Anstoßes bleiben, solange der föderale Mechanismus eine notwendige Trägheit gewinnt, und der Gang der Generationen – bei dieser keineswegs leichten Sache – einen Automatismus bei der Ausnutzung der bei dieser schwierigen Sache gewonnenen Erfahrung sichert.

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Somit kann festgestellt werden, dass jetzt in der föderalen Ebene des Rechtsstaates erst sein Fundament gelegt wird und noch recht viel Zeit vergehen muss, bis seine Festigkeit und Qualität das ganze Gefüge sichert. Wichtig ist aber im Auge zu behalten, dass sich schlechte Arbeit und Fehler im föderalen Zentrum hinsichtlich des Funktionierens des Rechtsstaates auswirken. Eben über diese Seite des Prozesses denkt R. Abdulatipov nach, wenn er betont: „Die Hauptfrage des Föderalismus ist die konstitutionelle vertikale Teilung der Vollmachten, Kompetenzen und der Verantwortung zwischen den Machtebenen.“4 Man muss einsehen, dass für den Rechtsstaat in Russland nicht weniger wesentliche Bedeutung eine ununterbrochene Arbeit besitzt, die eine Vervollkommnung der föderativen Beziehungen auf der Ebene der Gebiete der Föderation vorsieht. Die Regelung der Rechtsmechanismen in diesem Bereich, die eine erforderliche sozialwirtschaftliche Politik sichert und überzeugend verwirklicht, ist eine Gewähr dafür, dass hier eine mächtige Schicht der föderativen Ideenträger des Rechtsstaates und jener Strukturen geschaffen wird, die in vollem Maße seine Vorteile zu verwirklichen erlauben. Es ist wohl ein Bereich, in dem sich der Zusammenhang eines tadellos geregelten föderativen Rechtsraums und föderativer Beziehungen besonders scharf äußert und erhebliche Folgen mit sich bringt. Unter die Lupe genommen sichert der Vervollkommnungsprozess des Rechtsstaates nur auf der Ebene der Gebiete der Föderation solch schnelle und greifbare Ergebnisse, wenn wir unterschiedliche Bereiche des Gesellschaftslebens betrachten. Nur ist zu betonen, dass wir vorläufig zu wenige Beispiele einer solch schnellen positiven Reaktion sehen und oft negative Beispiele feststellen müssen. Ein mächtiger Hebel für die föderative Einwirkung auf unterschiedlichen Seiten des Rechtsstaates liegt in einer Vervollkommnung, die die Struktur der kommunalen Selbstverwaltung erfahren kann. Man muss feststellen, dass die kommunale Selbstverwaltung an sich einen sehr wichtigen Bestandteil des Rechtsstaates darstellt. Dies ist eine bekannte Wahrheit, die unter unseren Verhältnissen erhebliche Bedeutung gewinnt, und zwar vor allem deswegen, weil eben in diesem Bereich die größte Massengrundlage des Rechtsstaates gebildet wird. Gemeinden, kommunale Kreise, ihre Vereinigungen und große Städte sind Räume, in denen die Hauptträger der Idee des Rechtsstaates zusammengefasst sind und in denen sich seine wichtigste Stütze befindet. Es ist der Mensch, dessen Interessen letzten Endes alles bestimmen und in erster Linie den Hauptvektor des Werdeganges und der Etablierung des Rechtsstaates festlegen. Eben aus diesem Grunde ist die Ebene der föderativen Beziehungen so wichtig, auf der die Lage der Dinge wie im kommunalen Bereich entscheidend mitbestimmt wird, und wo auch die rechtsstaatlichen Beziehungen mitgeformt werden. Das lässt sich besonders im sozialwirtschaftlichen Bereich, bei der Entwicklung der politischen

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Abdulatipov, R.G., Föderalogie (Russ.), Moskau 2004, S. 104.

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Aktivitäten und in der alltäglichen Umformung des kulturellen Antlitzes unserer Wirklichkeit bemerken, wenn sie wirklich vollzogen wird. Im sozialwirtschaftlichen Bereich wird von Einwohnern der Gemeinden durch ihre Arbeit das wirtschaftliche Fundament des Rechtsstaates ständig aufgebaut; weiterhin werden Bedingungen für eine allseitige Stärkung des Einflusses des sozialen Faktors in diesem Prozess geschaffen. Das Aussehen von Städten, Siedlungen und Dörfern, die Lebensqualität vor Ort, das Wohlergehen jeder einzelnen Familie – all das wird zur Quelle der Festigung oder umgekehrt der Widerlegung des Ideals vom Rechtsstaat. Keine geringe Rolle dabei spielen moralische und geistige Werte, die als Maß seiner Glaubwürdigkeit auftreten. Anders ausgedrückt: Auf der kommunalen Ebene wird das ganze Wurzelsystem des Rechtsstaates zur Welt gebracht und entwickelt, eine mächtige Schicht von Adern des Rechtsstaates geformt, die seine Selbstbewegung und Selbstentwicklung sichert. Es wird keine Übertreibung sein zu behaupten, dass gerade hier die Entwicklungsenergie von politischer Aktivität ihren Ursprung findet und jene Faktoren sichtbar werden, die die Vorwärtsbewegung von Demokratieidealen und politisch-konstitutionellem Pluralismus in der russländischen Gesellschaft sichern.5 Von solch einer Bindung in der Entwicklung von politischen Prozessen auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung wird das Auftauchen von maßgeblichen Wandlungen in der ganzen Vertikale der Machtstrukturen des Rechtsstaates hervorgerufen. Nicht in geringerem Maße wirkt die kommunale Ebene der föderativen Beziehungen auf die Gestaltung und Entwicklung der Kultur, der Moralwerte und Ideale, noch ohne Traditionen und Grundsätze des Lebens selbst zu erwähnen. Wenn man die Gedanken über die Rolle von der kommunalen Selbstverwaltung bei der Stärkung des Rechtsstaates sammelt, so kommt man zum Fazit, dass sich seine primäre Vorbedingung als Grundlage gerade hier herausbildet und von der Lage der Dinge hier sogar die prinzipielle Tatsache abhängt, ob der Rechtsstaat als solcher überhaupt existiert oder nicht, so schroff diese Schlussfolgerung auch klingen mag. Eine wesentliche Eigenart zeichnet die Einwirkung der föderativen Beziehungen auf den Prozess des Werdeganges und auf die Entwicklung des Rechtsstaates aus, was die Ebene der Gebiete der Föderation betrifft – vor allem durch die Größe und die Tiefe seiner Einwirkung. In erster Linie ist es wichtig festzustellen, dass eine ununterbrochene Machtteilung sich als eine grundsätzliche, äußerst wichtige Einwirkungslinie erweist, die von sich ständig reden lässt. Es kann der Anschein entstehen, dass diese Tatsache, wenn sie einmal festgestellt ist, a priori beständig und einheitlich für alle Zeiten wirkt. Die Lage verändert sich bis zur Unkenntlichkeit, wenn ein multinationaler Staat, der sich Föderalismus als ein Ziel setzt, in eine Übergangsperiode seiner Entwicklung 5 Siehe Starostenko, K.V., Konstitutionell-politische Vielfalt (Russ.), Sankt-Petersburg 2008, S. 5.

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eintritt. Die Formung von föderativen Strukturen und die Entstehung von neuen Machtorganen rufen eine ganze Kette von Verwandlungen der rechtsstaatlichen Prinzipien und Institute hervor. Im Laufe von fast zwanzig Jahren haben alle Gebiete der Föderation in Russland dies zu spüren bekommen, sowohl in den gesetzgebenden, als auch in den exekutiven und den gerichtlichen Machtsphären. Selbstverständlich handelte es sich in den meisten Fällen um Vervollkommnung, also um Prozesse, die ewig andauern werden. Doch war ein tiefer Eingriff des Föderalisierungsprozesses in die Substanz des Rechtsstaates selbst unter den Bedingungen der Gebiete der Föderation bei der Machtteilung eine nicht zu bestreitende Realität. In einem nicht geringeren Maße war dieser Effekt auch bei der Entwicklung der Föderalisierung zu beobachten, wenn die Aufgabe der Lösung der sehr prinzipiellen Frage über die Selbstbestimmung der Regionen auf der Tagesordnung stand. Die in den 90er Jahren beobachtete „Souveränitätsparade“ der russländischen Republiken, die zum größten Problem einer neuen Staatlichkeitsform geworden war, zeigte eine unaufschiebbare Notwendigkeit, ein weises Gleichgewicht bei der Verwirklichung eines leidenschaftlichen Ausbruchs der Regionen zu Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu suchen und zu erlangen. Eine optimale Lösung ist gefunden worden, doch die Grenze zwischen Souveränität und Ganzheit ist hauchdünn. Und der Rechtsstaat musste sogar auf dem Reißbrett der sozialstaatlichen Ingenieure Reserven ausfindig machen, um dieses Problem lösen zu können. Nebenbei bemerkt zeigte das rechtsstaatliche Instrumentarium ein gewisses Fehlen feiner „Lanzette“, Übergangsbegriffe und Prozeduren, als es sich zur Lösung der entstandenen Probleme „der begrenzten Souveränität“ als unvorbereitet erwies. Die föderativen Beziehungen erlaubten es, die Möglichkeiten eines neuen Problemfeldes zu bestimmen, einen Kompromiss zu erarbeiten und den Aufbau der russländischen Staatlichkeit fortzusetzen. Als interessante Bestätigung der in diesem Unterabschnitt dargelegten Hypothese erwies sich auf der regionalen Ebene eine Entwicklung von nationalen Beziehungen. Das Heranreifen und der später erfolgte Ausbruch einer ganzen Reihe von ethnischpolitischen Zusammenstößen hat aufgedeckt, dass diese Erscheinung über den Rahmen der ethnischen Sphäre hinausgegangen war und eine staatspolitische Dimension erlangt hatte. Mit großen Schwierigkeiten setzte sich die Idee durch, dass in einem multinationalen Staat eine rechtsstaatliche Entwicklung einen bei weitem vollkommeneren Mechanismus braucht, um die nationalen Beziehungen richtig zu berücksichtigen und entsprechend der Lage zu steuern. In diesem Falle ist auch das Ergebnis einer bemerkbaren Einwirkung der föderativen Maxima auf das Konzept eines föderativen Staates absolut greifbar. Zu guter Letzt hier noch einige Worte über den Platz des Prozesses in der allgemeinnationalen Ebene. Man wird den Gedanken nicht los, dass man in diesem Fall keine falschen Weisheiten aussprechen und sich nicht verstellen darf. Der wichtige Teil der Analyse wird schon in der Verfassung der Russländischen Föderation behandelt, deren dritter Abschnitt vollständig diesem Problem gewidmet ist. Russland ist ein föderativer, demokratischer und multinationaler Staat. Die rechtsstaatlichen

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Grundsätze sind für Russland ein Kriterium für alle Lebensbereiche. Daher besteht das Problem nicht im Zweifel über die Maximen der Verfassung, sondern in den Schwierigkeiten der Entwicklung und der Bewegung nach vorwärts, wenn die objektiven Prozesse uns manchmal zwingen, Akzente mit Berücksichtigung der Besonderheiten und der Eigenart unserer Entwicklung zu setzen. Handelt es sich um eine feine Justierung, bei der die Vertikale der Macht vervollkommnet wird, um eine unentwegte Notwendigkeit, Anstrengungen auf diese oder jene Seite der Gesellschaftsentwicklung zu konzentrieren, um historische Besonderheiten oder Anforderungen, die von Tagesaufgaben aufgezwungen werden, wird die Hauptrichtung der Entwicklung von grundsätzlichen Leitsätzen der Verfassung bestimmt. Und der Föderalismus erweist sich dabei als ein zuverlässiges Instrument der Behauptung des Rechtsstaates, während er gleichzeitig ein großes Potenzial der Eigenentwicklung demonstriert. IV. Endlichkeit der historischen Zeit und Prognostik Die den Hauch eines Alarmsignals in sich tragende Fragestellung des Problems erlaubt es gleichzeitig, sich Gedanken über einen sehr ernsthaften Aspekt zu machen. Es ist doch kaum zu bestreiten, dass die Endlichkeit der historischen Zeit des Öfteren als eine rein akademische Hyperbel aufgenommen wird. Es versteht aber ein jeder, dass jeder beliebige Prozess und jede beliebige Erscheinung endlich sind, wie das menschliche Leben selbst. Die Geschichte liefert zahlreiche Beispiele der Endlichkeit von grandiosen Ereignissen, Imperien, Staaten und Persönlichkeiten. Russland war und bleibt sehr reich an solchen Ereignissen. Es genügt, die mehrere Jahrhunderte lange Erfahrung von drei Monarchien auf seinem Territorium in Erinnerung zu rufen – der frühfeudalen, der Stände vertretenden und der absoluten Monarchien, die zu bemerkenswerten Meilensteinen in der Entwicklung des Staatswesens geworden sind. Doch gewinnt dieses Problem, über das Prisma unserer Gegenwart betrachtet, einen absolut besonderen Gesichtspunkt, weil es Ereignisse umfasst, die keine Ruhe zulassen. Es ist ja eine Sache, wenn es sich um Ereignisse handelt, die mit der grauen Decke der Zeit zugedeckt sind und manchmal Jahrhunderte lang herangereift sind. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, wenn überdimensionale Größen zusehends ohne für alle Zeitgenossen verständliche Gründe umfallen und damit das Schicksal von jedem Menschen umwerfen. Es ist an der Zeit, sich absolut bestimmt auszudrücken und zu sagen, was gemeint ist. Der Untergang der UdSSR hat nach nicht nur einen Berg von Fragen hinterlassen, sondern auch eine Überzeugung davon, dass in der heutigen Welt – einer schnellen, wenig steuerbaren und schrecklichen Gefahren unterworfenen Welt – eine Entwicklung möglich ist, die mit einem tödlichen Ausgang abgeschlossen werden kann, die keine Zeit und keine Chance hinterlässt, um rechtzeitig und fachkundig ihre Gründe zu begreifen. Doch ist das Empfinden der Endlichkeit der historischen Zeit, das früher mehrmals die Völker unseres Landes heimgesucht hat – es reicht dabei, den Großen Vaterländischen Krieg zu erwähnen – immer als Ausdruck einer tödlichen Gefahr ge-

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kommen, der man widerstehen und die man bekämpfen kann. Die Ereignisse, die sich aus dem Zerfall der UdSSR ergaben, haben augenscheinlich bestätigt, dass sich die Endlichkeit der historischen Zeit in ganz geringem Maße in der Macht von Völkern befindet und als „Schalter“ durch die Anstrengungen von ganz wenigen Personen eingeschaltet werden kann. Eben in diesem Kontext ist es wichtig – wenn auch schnell – jene Ereignisse zu betrachten, die auch heute eine Tragödie von schrecklichen Vernichtungsprozessen auszulösen imstande sind. Was das junge demokratische Russland betrifft, wurde es schon mehrmals im Laufe des ersten Jahrzehnts seiner Geschichte mit solchen Ereignissen konfrontiert. Es handelt sich nicht um die Fehler des jungen Staatswesens innerhalb des Landes. Gemeint sind vor allem zahlreiche Knoten von Widersprüchen im globalen Maßstab, die über nicht geringes Potenzial für eine schicksalhafte Einwirkung auf Russland verfügen. In diesem Beitrag war schon die Rede von Integrationsprozessen, die solche integrativen Weltzentren, wie Euro-Atlantische und Asiatisch-Pazifische Zivilisationen, entstehen ließen. Erläutert wurde auch die Bedrohung, die eine solche Entwicklung für Russland darstellt. Der Versuch, durch die Arbeit des globalen Mechanismus das Raumgewebe dieses Landes in zwei Teile zu teilen, ist nicht virtuell und weit von Fantastereien entfernt. Eine innere Gefahr für die Integrität des Landes stellten die oben erwähnten ethnisch-politischen Konflikte dar. Die Entwicklung dieses Prozesses wird schon heute verfolgt,6 wie auch beharrliche Anstrengungen, durch die Modernisierung, den technologischen Durchbruch und die Gewinnung einer neuen Qualität der Wirtschaft diesem Mechanismus nicht einfach zu widerstehen, sondern ihn zu bändigen. Um diese große und schwierige Aufgabe lösen zu können, ist eine neue Energieressource notwendig, die zu erschließen der Föderalismus berufen ist. Ein drittes Zentrum der Modernisierung, gestützt auf Nachbarn, Freunde und Verbündete, zu schaffen, das wäre eine historische Aufgabe Russlands, deren Lösung nicht nur die Aufgabe des Überlebens und der Festigung der Positionen in der globalen Dimension sichert, sondern auch das Zurückgewinnen einer würdigen Rolle in der globalen Entwicklung garantiert. Es ist schon heute bemerkbar, dass sich das Verständnis von der Notwendigkeit, diese Aufgabe zu lösen, immer wieder in der Tätigkeit auch anderer Staaten spüren lässt, die potenzielle Partner von Russland sind. Es wäre auch kurzsichtig, die Frage auszuklammern, wer sich im Zentrum dieses Modernisierungsgebildes der Zukunft befindet und wer an seinen marginalen Rändern verbleiben kann. Ein merkwürdiges Detail: Über die Gesamtheit dieser Probleme – wenn auch sehr verschwommen und unbestimmt, aber mit offensichtlicher Berücksichtigung der ausgeprägt positiven Tendenzen in der Reihe „der globalen Wandlungen“ – denken in6 Michailov, W. A. / Bujanov, W. S. (Hrsg.), Internationale Sicherheit Russlands bei der Globalisierung (Russ.), Moskau RAGS 2007, S. 90 – 95.

Föderalismus und Rechtsstaat im gegenwärtigen Russland

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ternationale Analytiker nach, die eine mögliche künftige Konstellation der bevorstehenden Weltentwicklung aufmerksam betrachten.7 Es wird von ihnen ein sehr wichtiger Trend festgestellt: „Zum Jahre 2025 erweisen sich die USA nur als eines der wichtigen Subjekte auf der globalen Ebene, wenn auch bis jetzt als das stärkste.“8 Es kann der Eindruck entstehen, dass der Autor, der das Thema behandelt, einigermaßen vom Problem abweicht, das im Beitrag behandelt wird. Dem ist nicht so. In Wirklichkeit ist es gelungen, den wahren Maßstab zu beleuchten. Es wird dabei verständlich, dass die Gedanken über eine Endlichkeit der historischen Zeit nicht nur Ideen über einen möglichen unerwarteten und sogar manchmal tragischen Abschluss des Prozesses enthalten, sondern auch zur Erschließung einer neuen Ressource für seine Fortsetzung und Entwicklung ermuntern. In vollem Maße ist das auch für die Deutung des Potentials des Föderalismus anwendbar, von dessen geschickter Erschließung und Anwendung man zweifellos reden kann. Es ist auch angebracht, über eine Endlichkeit der historischen Zeit zu sprechen, indem man nicht äußerliche makropolitische Prozesse im Auge behält. Sehr vieles zwingt darüber nachzudenken, wenn man sich vor allem die Aufgabe der Lösung der Knoten der Widersprüche bei der Entwicklung der föderativen Beziehungen innerhalb des Landes stellt. Solch eine beharrliche Arbeit erfordert in erster Linie eine ständige und effektive Säuberung des ganzen Systems des föderalen Organismus und seine Instandhaltung, was sowohl in der gesetzgebenden, als auch in den exekutiven und gerichtlichen Machtstrukturen ein großes und dringendes Vorhaben darstellt. Über diese Aktivität, ihre erstrangige Bedeutung und Notwendigkeit hat der Autor schon oben geschrieben. Doch das grundsätzlich Neue besteht eben darin, dass der Rechtsstaat bei seiner Vervollkommnung neue, mächtige Ressourcen gewinnt, wenn er sich in der Übergangsperiode auf seine föderative Struktur stützt. Hier liegt ein neues Potential, das geeignet ist, für eine für das Land notwendige Wandlung bei der Verwirklichung von staatsrechtlichen Neuerungen als mächtiges Instrument eingesetzt zu werden. Man könnte mit Recht annehmen, dass dieser Prozess neue, starke Impulse gewinnt, wenn eine praktische Lösung des großen Problemblocks zustande kommt, die es erlaubt, in vollem Maße zur unentwegten Entwicklung des Rechtsstaates in Russland als Grundlage der Vervollkommnung des Föderalismus beizutragen. In dieser Beziehung steht der Russischen Föderation noch vieles bevor, was geleistet werden müsste, damit man alle Gründe schaffen könnte, um feststellen zu dürfen, dass ein Rechtsstaat in Russland vollständig aufgebaut worden ist. Und das ist nicht nur eine Erfüllung von Maximen des Rechtsstaates, ohne die er kaum als solcher bezeichnet werden darf. Das sieht eine Schaffung von Lebensverhältnissen für jeden Bürger ohne Korruption und ohne das Eindringen der Kriminalität in praktisch alle Lebensbereiche des Landes vor. 7 Siehe 2025. Die Welt nach der Krise, Vortrag der Nationalen Aufklärungsrates der USA, Moskau „Europa-Verlag“ 2009, S. 23. 8 Ebenda, S. 21.

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Ein großer Problemblock, dessen Lösung noch zu meistern ist, besteht im dialektischen Wechselverhältnis vom Rechtsstaat und Gebieten der Föderation. Es hängt vom Können ab, rechtzeitig und weitsichtig noch existierende Unzulänglichkeiten auf diesem Abschnitt der Vertikale der föderativen Beziehungen zu beseitigen. Gemeint sind die Probleme, die von der Tagesordnung noch nicht verschwunden sind, darunter auf der Ebene der Beziehungen vom Rechtsstaat als einer Ganzheit zu den in ihm vereinigten Gebiete der Föderation, insbesondere der Republiken, aber auch anderer Subjekte. Auf diesem Feld sind die Diskussionen bis heute noch nicht ausgeschöpft, und es steht noch viel Arbeit bevor, damit gefundene Lösungen unentwegt zur Etablierung des Rechtsstaates führen. Eine große, immer steigende Aufmerksamkeit von Gelehrten, Gesellschaftspersönlichkeiten und natürlich den Organen der Rechtsordnung erhält das Problem, das als Verhältnis vom Rechtsstaat und der rechtsstaatlichen Gegenwirkung gegen den Extremismus im föderalen Raum bezeichnet wird. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass eine anwachsende Gefahr von Extremismus bei seinem Erscheinen in unterschiedlichen Lebensbereichen im multinationalen Staat zu einem Faktor wird, der viele seiner demokratischen Errungenschaften zunichte machen kann. Man könnte sogar das Problem noch schärfer formulieren: Die Besonderheiten der gegenwärtigen globalen Situation sind so ausgeprägt, dass die Flut des Extremismus imstande ist, die Etablierung des Rechtsstaates schroff zu bremsen, wenn nicht sogar eine Rückentwicklung ins Leben zu rufen und damit zum Hindernis der Entwicklung überhaupt geworden zu sein. Eben diese Gesamtheit von Problemen nimmt den zentralen Platz ein in der internationalen deutsch-russisch-mongolischen Monographie, die von einer Gruppe von bekannten Autoren im vergangenen Jahr in Russland mit organisatorisch-finanzieller Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung veröffentlicht wurde.9 In diesem Werk sind unterschiedliche Meinungen vertreten, Versuche unternommen, gemeinsam ein Problemfeld zu erörtern, auf dem sich auch die Entwicklungslinien von Rechtsstaat und föderativen Beziehungen treffen.

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Rechtsstaat und der Staatsaufbau: auf der Suche nach Optimum, Moskau 2010.

Autorenverzeichnis Dr. Dr. h. c. Jürgen Harbich Geboren 1936, juristische Ausbildung in München, Promotion 1963 an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Dissertation „Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit“; diese veröffentlicht als Band 20 der Schriften zum Öffentlichen Recht im Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1965; im Jahr 2005 Verleihung des Ehrendoktortitels „Dr. jur. h. c.“ durch die Juristische Fakultät der Mongolischen Staatsuniversität; Ehrenprofessor der Verwaltungshochschule Shandong; im Jahr 2000 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes; berufliche Stationen: Verwaltungsgericht München, Landratsamt Bad Aibling, Vorstand der Bayerischen Verwaltungsschule; Lehrauftrag für Verfassungsrecht an der Universität der Bundeswehr München 1987 – 1989; „visiting professor“ an mehreren europäischen Universitäten; umfangreiche Lehr- Vortrags- und Seminartätigkeit an ausländischen Universitäten und Institutionen in Afrika, Südamerika, Mittel- und Osteuropa (vor allem auch Russland, Sibirien), Mittelasien, Mongolei und China; über 100 Beiträge in Zeitschriften und Festschriften des In- und Auslandes. . Prof. Dr. Andrej Matsnev .Professor an der Akademie für den öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russländischen Föderation. Veröffentlichung: „Wenn man Überlebensformen der Menschheit entziffert/Internationale Politik der UdSSR und Friedensbewegung im Westen in den 80er Jahren“, Habilitationsschrift 1989, Mitherausgeber von zwei russischen Publikationen, einmal zur „Dezentralisation und kommunalen Selbstverwaltung“ und zur Garantie der Rechtstaatlichkeit in Russland und Deutschland in russischer Sprache und mit Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung. . Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier Geboren 1943 in Berlin, von 1974 bis 1991 Professor an der Universität Bielefeld, seit 1992 Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 1991 bis 1998 ehrenamtlicher Vorsitzender der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR. Ab Februar 1998 Richter und Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts; zunächst Vizepräsident, ab April 2002 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Nach Ende der Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2010 Fortsetzung der Lehrtätigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München. . Prof. Dr. Dieter H. Scheuing Geboren 1941 in Stuttgart. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, München, Tübingen, Freiburg im Breisgau und Paris. 1973 Promotion an der Universität Paris II zum Docteur en droit. Nach Assistententätigkeit an der Universität Tübingen dort 1978 Habilitation für öffentliches Recht. 1978 – 1983 Professor für öffentliches Recht an der Universität Köln. Ab 1983 Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Würzburg; ab 1995 zugleich Jean-Monnet-Professor für Eu-

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Autorenverzeichnis

roparecht. Entpflichtet 2006. Arbeitsschwerpunkte im Europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Umweltrecht. . Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Scholler Geboren 1929 in München, Studium der Rechtswissenschaft und Politologie, Tätigkeit am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zwischen 1959 und 1965, Habilitation und Verleihung der Lehrbefugnis durch die Juristische Fakultät der Universität München 1966 (Privatdozent), Professor an der Münchener Juristischen Fakultät 1971, Berufung an die Law Faculty in Addis Abeba (Äthiopien) 1972 – 75, ab 1975 Fortsetzung der Lehrtätigkeit in München, unterbrochen durch eine Gastprofessur an der Universität Paris II Sorbonne-Panthon 1977 – 78, Gastprofessuren in den USA, an der Michigan State University, East Lansing und an der University of Alabama, Tuscaloosa 1979 – 80, wiederholte Lehrtätigkeit und Experteneinsatz in Ost-Asien, Emeritierung 1994, 51 Monographien. . Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Bernd Schünemann Geboren 1944. Jurastudium 1963 – 1967 an den Universitäten Göttingen, Berlin und Hamburg. Promotion 1970 an der Universität Göttingen. Habilitation für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie 1975 an der Universität München. Wintersemester 1975/76 Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Bonn. Seit Sommersemester 1976 bis Sommersemester 1987 Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Mannheim. 1987 – 1990 Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Universität Freiburg im Breisgau. Seit 1990 Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie sowie Direktor des Instituts für Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik und des Instituts für die gesamten Strafrechtswissenschaften an der Universität München. Dr. honoris causa der Mongolischen Staatsuniversität (2005), der Universität Zaragoza/Spanien (2007), der Universität von Moquegua/Peru (2008) und der Georgischen Staatsuniversität sowie der Staatlichen Chingchi-Universität/Taiwan (2009). 45 Lehrbücher, Monographien und Sammelbände, umfangreiche Kommentierungen im Leipziger Kommentar zum StGB, 206 Aufsätze in deutscher Sprache und 160 ausländische Veröffentlichungen in 16 Sprachen.