"Semper ad fontes": Festschrift für Christian Lackner zum 60. Geburtstag [1 ed.] 9783205211648, 9783205211624


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"Semper ad fontes": Festschrift für Christian Lackner zum 60. Geburtstag [1 ed.]
 9783205211648, 9783205211624

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Semper ad fontes

Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Band 76

2020 Böhlau Verlag Wien

Semper ad fontes Festschrift für Christian Lackner zum 60. Geburtstag

Herausgegeben von Claudia Feller und Daniel Luger

2020 Böhlau Verlag Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion: Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl Umschlagabbildung: ÖNB, Cod. 2765 fol. 42r (Detail): Mittelmedaillon am unteren Blattrand. Um 1386/95 Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21164-8



Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Irmgard Christa Becker Pertinenzformeln mittelalterlicher Schenkungsurkunden und Unterlagenaufzählungen moderner Archivgesetze – Gemeinsamkeiten und Unterschiede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Petr Elbel Zum Einsatz von Schiedsgerichten in den Konflikten ­zwischen dem Landesherrn und seinen adeligen Untertanen. Die Streitigkeiten zwischen Peter von Krawarn zu Straßnitz und König Sigismund (1421) bzw. Herzog Albrecht V. von Österreich (1424).. . . . . . . . 21 Claudia Feller Auf großem Fuße? Zum Haushaltsumfang der Herren von Schlandersberg im Spätmittelalter unter besonderer Berücksichtigung des Frauenanteils . . . . . . . 61 Christoph Haidacher Lentz halben, als solt das nicht im Land ligen. Der Kampf der Kärntner Landstände um den Verbleib der Herrschaft Lienz. . . . 73 Paul-Joachim Heinig Hat Kaiser Friedrich III. die Errichtung der Judengasse zu Frankfurt am Main initiiert? oder: Zur Relevanz der Reskriptpraxis am Beispiel kanzleiformulierter „Adressatenvermerke“. . . . . . . . . . . . . . . 85 Julia Hörmann-Thurn und Taxis Kanzleivermerke und ihre Bedeutung als Kommunikationsinstrumente in spätmittelalterlichen Fürstenkanzleien am Beispiel der tirolisch-bayerischen Kanzlei Markgraf Ludwigs von Brandenburg (14. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Inhaltsverzeichnis

Daniel Luger Über Sonderformen und Fälschungen von Urkunden Kaiser Friedrichs III.. . .

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Werner Maleczek Rudolf IV. der Stifter und Bernabò Visconti. Zwei – fast – unbekannte Briefe des Herzogs von Österreich von 1360 . . . . . 149 Meta Niederkorn Das Ego im Konvent. Urkundenproduktion und Urkundenbenützung der Kartäuser vor dem Hintergrund der Statuta ordinis Carthusiensis. . . . . . . . . . . . . . .

161

Gustav Pfeifer daz die pharr Botzen der pessten phrüenden aine ist …. Zur Inkorporation der Bozner Marienpfarrei in den Georgs-Ritterorden zu Millstatt (1511). Mit einem Editionsanhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Daniela Rando Medicina, musica e politica fra Studia e corti. Hermann Poll, ca 1370–1401. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christine Reinle Überlegungen zum Begriff securitas/sicherheit im hohen und späten Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Josef Riedmann Ein heraldisches Zeugnis aus der frühen Habsburgerzeit in Oberitalien? Eine Annäherung – aber keine sichere Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Christian Rohr Urkunden aus dem hoch- und spätmittelalterlichen Österreich als Quellen für die Erforschung von Naturkatastrophen. Potenziale und Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 7

Juraj Šedivý Urkunden statt Bücher. Zum Kulturtransfer der Heiligenkreuzer Zisterzienser im mittelalterlichen Pressburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Johannes Seidl Erschließungsprojekte mittelalterlicher Quellen am Archiv der Universität Wien und die Bedeutung des Nachlasses von Paul Uiblein für prosopografische Studien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Stefan Seitschek Yo el rey. Karl VI. und das eigenhändige Schreiben. . . . . . . . . . . . . . . . 289 Winfried Stelzer Verschwundene Ablasswerbung des späten Mittelalters. Eine Spurensuche im Gebiet des heutigen Österreich. . . . . . . . . . . . . .

317

Peter Štih Über die Anfänge der Auersperger in Krain. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

341

Maximilian Alexander Trofaier Matthias Fink, ein verschwenderischer Abt des Wiener Schottenklosters (1467–1475) und ungarischer Sekretär der österreichischen Herzoge? Eine Neubetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Martin Wagendorfer Ein bisher unbekanntes Autograph Paul Sweikers von Bamberg in den Wiener Universitätsquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Marija Wakounig Von der Macht der Symbole im östlichen Europa oder „Und ewig wachen die Adler“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

8 Inhaltsverzeichnis

Andreas Zajic Exemplarisches zu Bestand und Bezahlung aus dem Amt als landesfürstliche Kapitalisierungsmodelle in Österreich im ausgehenden 15. Jahrhundert. Mit einem Editionsanhang zu zwei (oder drei) Autographen Kaiser Friedrichs III.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

401

Roman Zehetmayer Überregionale Versammlungen der Babenberger in der Mark Österreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Abkürzungen und Siglen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

Vorwort Am 12. März 2020, dem dies academicus, der an die Gründung der Universität Wien durch Herzog Rudolf IV. vor genau 655 Jahren erinnert, feierte Christian Lackner seinen 60. Geburtstag. Sein Geburtstag ist für die beiden Herausgeber sowie die Autorinnen und Autoren dieses Bandes ein willkommener Anlass, die Tradition der akademischen Festschrift aufzugreifen, um einen geschätzten Kollegen, Freund, Wegbegleiter und Lehrer zu ehren, dessen wissenschaftliches Werk für die österreichische Mediävistik unter zahlreichen Blickpunkten prägend ist. Geboren in Spittal an der Drau, besuchte Christian Lackner den neusprachlichen Zweig des Bundesgymnasiums seiner Heimatstadt, bevor er im Oktober 1978 das Lehramtsstudium für Geschichte und Französisch an der Universität Innsbruck inskribierte. Nach seiner Sponsion schrieb er ab 1982 bei Professor Johann Rainer an einer Dissertation zum Thema „Der Besitz des Hochstiftes Brixen in Kärnten und Steiermark“ und wurde im Jahr 1985 sub auspiciis praesidentis rei publicae promoviert. Parallel dazu absolvierte der Jubilar von 1983 bis 1986 den 57. Ausbildungskurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien, das ihm in weiterer Folge zur wissenschaftlichen Heimat werden sollte: Seit dem Jahr 1987 war Christian Lackner ebenda als wissenschaftlicher Beamter, ab dem Wintersemester 1989/90 zusätzlich als Lektor am Institut für Geschichte der Universität Wien tätig. An der Wiener Rudolphina erfolgte schließlich im Jahr 2001 auch seine Habilitation für Österreichische Geschichte und Historische Hilfswissenschaften. Nach einer Gastprofessur im Jahr 2004 an der Universität Innsbruck lehrt Christian Lackner seit dem Jahr 2010 als Professor für Historische Hilfswissenschaften mit Schwerpunkt Mittelalter am Institut für Geschichte der Universität Wien. Seit Beginn des Jahres 2020 ist Christian Lackner überdies Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Bereits in den frühen Jahren seiner Forschungstätigkeit zeigte sich die stets gründliche und quellenbezogene Arbeitsweise Christian Lackners, die auf ein fundiertes, methodisch vielfältiges Instrumentarium aufbaut. Neben seiner langjährigen Mitarbeit am Babenberger Urkundenbuch, das er 1997 gemeinsam mit Heide Dienst und Herta Hageneder zum Abschluss brachte, veröffentlichte er im Jahr 1996 die Edition und Analyse eines Rechnungsbuches Herzog Albrechts III. von Österreich. Die Geschichte der habsburgischen Länder im Spätmittelalter sollte in den folgenden Jahren – neben hilfswissenschaftlichen Fragestellungen sowie der mittelalterlichen Bildungs- und Universitätsgeschichte – zu einem der wesentlichen Forschungsschwerpunkte des Jubilars werden. In seiner im Jahr 2002 erschienenen fundamentalen Habilitationsschrift verknüpfte Christian Lackner unterschiedliche Ansätze der Diplomatik und der zeitgenössischen Hofforschung und konnte so ein detailreiches und anschauliches Bild von Hof und Kanzlei der österreichischen Herzoge von 1365 bis 1406 zeichnen. Mit der Wiederaufnahme der „Regesta Habsburgica“, Regesten der Herzoge von Österreich von 1365 bis 1395, nach einer Unterbrechung von sieben Jahrzehnten gelang es ihm überdies, eine mehrfach geäußerte

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Anregung und Forderung der österreichischen Mediävistik in die Tat umzusetzen und bisher drei Bände zum Druck zu bringen. Ein unmögliches Unterfangen wäre es, an dieser Stelle die zahlreichen, thematisch breit gestreuten Publikationen des Jubilars umfassend zu würdigen. Sie betreffen etwa die Entwicklung der landesfürstlichen Verwaltung, die vielfältigen Formen von spätmittelalterlichen Urkunden und Verwaltungsschriftgut, die Frühzeit der Wiener Universität, mittelalterliche Brief- und Büchersammlungen sowie nicht zuletzt die Entstehung und Entwicklung des habsburgischen Herrschaftskomplexes. Im Rahmen von akademischen Festschriften stehen üblicherweise die wissenschaftlichen Leistungen des Widmungsträgers im Vordergrund. Nicht vergessen wollen wir jedoch auch die zahlreichen weiteren universitären und außeruniversitären Wirkungsfelder und Interessen Christian Lackners. Viel Zeit und Mühe bringt unser Jubilar stets auch für die akademische Selbstverwaltung auf und wirkt in zahlreichen Kommissionen, Gremien und Ausschüssen mit. Seit 2013 leitet er den Forschungsschwerpunkt „Text und Edition – Editorik“ der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Besondere Verdienste erwirbt er sich darüber hinaus als langjähriges Mitglied der Arbeitsgruppe „Regesta Imperii“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber des interakademischen, höchst ertragreichen Forschungsprojekts „Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493)“. Die Studierenden an der Universität Wien können in Christian Lackner einen stets äußerst engagierten Lehrer erleben, der zahlreichen Nachwuchshistorikerinnen und -historikern umsichtiger Mentor und großzügiger Förderer war und ist, ihnen jedoch in fachlichen Gesprächen keineswegs mit der Autorität des Vorgesetzten, sondern stets mit der Neugier des Forschers begegnet. Damit schließt sich der Kreis zu den beiden Herausgebern dieser Festschrift, die Christian Lackner auf verschiedenen Ebenen besonders verbunden sind und die Initiative zu dieser Publikation ergriffen haben. Unserem Aufruf ist ein illustrer Kreis von Autorinnen und Autoren aus Österreich, Deutschland, Italien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und der Schweiz bereitwillig gefolgt, auch dies ein Zeichen für die breite Anerkennung und Wertschätzung, die Christian Lackner genießt. Unser Dank für das Zustandekommen dieser Festschrift gilt daher insbesondere allen Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft, an dieser Festschrift mitzuwirken. Außerdem danken wir der gewohnt umsichtigen Redaktion der MIÖG, Andrea Sommerlechner und Herwig Weigl, ohne deren Hilfe der Band nicht zustande gekommen wäre. Schließlich möchten wir auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Böhlau Verlags in Wien unseren Dank für die bewährt gute Zusammenarbeit aussprechen. Stellvertretend für seine zahlreichen Kollegen, Freunde, Wegbegleiter und Schüler danken wir Christian Lackner für sein stets offenes Ohr, seine verständnisvolle Unterstützung und die langjährige, fruchtbare Zusammenarbeit und gratulieren unserem Jubilar auch auf diesem Weg herzlich zum 60. Geburtstag. Mögen noch zahlreiche weitere Jahrzehnte wissenschaftlichen Forschens folgen! Wien, im Februar 2020

Die Herausgeber

Pertinenzformeln mittelalterlicher Schenkungsurkunden und Unterlagenaufzählungen moderner Archivgesetze – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Irmgard Christa Becker

Bei der Erarbeitung des Kapitels Bewertungshoheit – Bewertungskompetenz in „Archiv­ recht für die Praxis“ fiel mir auf, dass es zwischen den Unterlagendefinitionen in den deutschen Archivgesetzen und den Pertinenzformeln mittelalterlicher Schenkungsurkunden strukturelle Parallelen gibt1. Beide enthalten eine Aufzählung, im Fall der Pertinenzformeln von Immobilien, Mobilien und Besitzrechten, im Fall der Unterlagendefinitionen von Unterlagenarten oder anderen Gegenständen, die in Zusammenhang mit einer Verwaltungstätigkeit stehen. In beiden Fällen wird damit der Gegenstand der Rechtshandlung definiert und gegebenenfalls an die regionale oder fachliche Situation angepasst. Im Rahmen der oben genannten Publikation konnte diese Fragestellung nicht weiterverfolgt werden. Sie hat mich aber nicht mehr losgelassen. Pertinenzformeln und Unterlagendefinitionen liegen zeitlich weit auseinander. Vor diesem Hintergrund ist es reizvoll zu fragen, worauf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beruhen. Im vorliegenden Text sollen deshalb die folgenden Fragen untersucht und gegebenenfalls beantwortet werden: Welche strukturellen Übereinstimmungen sind vorhanden? Welche Unterschiede sind festzustellen? Führen strukturell ähnliche Aufgaben zu ähnlichen oder gleichen Ergebnissen? Lassen sich aus dem Befund Erkenntnisse über Jahrhunderte überdauernde Formelstrukturen ablesen? Da mich hauptsächlich die Unterlagendefinitionen in Archivgesetzen interessieren, greife ich für die Pertinenzformeln auf Literatur zurück. Ich beziehe mich überwiegend auf königliche Schenkungsurkunden des Früh- und Hochmittelalters. Die Erkenntnisse zu den Pertinenzformeln bilden die Folie, vor der ich meine Überlegungen zu den Unterlagendefinitionen entfalten möchte. Pertinenzformeln sind ein charakteristischer Bestandteil von Schenkungsurkunden2. Sie stehen in der Regel am Ende der Dispositio und umfassen eine Aufzählung der Teile, die zu dem Gut oder den Gütern gehören, die mit der Urkunde verschenkt werden. Ihren Ursprung haben Pertinenzformeln in der römischen Antike. In den folgenden Jahrhun1  Irmgard Christa Becker, Bewertungshoheit – Bewertungskompetenz, in: Archivrecht für die Praxis. Ein Handbuch, hg. von ders.–Clemens Rehm (München 2017) 58–67. 2   Die folgende Darstellung beruht im Wesentlichen auf Berent Schwineköper, Cum aquis aquarumve decursibus. Zu den Pertinenzformeln der Herrscherurkunden bis zur Zeit Ottos I., in: Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, hg. von Kurt-Ulrich Jäschke–Reinhard Wenskus (Sigmaringen 1977) 22–56.

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Irmgard Christa Becker

derten werden neue Begriffe aufgenommen. In der Karolingerzeit entsteht nach und nach eine Art Standardfassung, die später weiterverwendet wird3. Die Formeln enthalten einen Begriffsbestand, der auf den ersten Blick gleichförmig wirkt. Als Beispiel führe ich hier D. O.III. 232, 996 November 1, für den Bischof von Freising an: … id est cum eadem curte et in proximo confinio adiacentes triginta regales hobas cum terris cultis et incultis pratis pascuis silvis aedificiis aquis aquarumve decursibus venationibus zidalweidun piscationibus molendinis mobilibus et immobilibus viis et inviis exitibus et reditibus quesitis et inquirendis omnibusque iure legaliterque ad easdem hobas pertinentibus …4. Die Formel zeigt einen Kernbestand der Begrifflichkeit, nämlich das bebaute und unbebaute Land, Wiesen und Weiden, Wälder, Gebäude, stehende und fließende Gewässer, Jagden, Fischereien, Mühlen, bewegliche und unbewegliche Güter, Wege und unwegsames Land, Zufahrten und Ausfahrten, Gesuchtes und zu Suchendes und alle rechtmäßigen Besitztitel, die zu diesen Hufen gehören. Die Bienenweiden (zidalweidun) und die Hufen sind regionale Begriffe, die in diesem Fall in eine aus einer anderen Urkunde übernommene Formel integriert wurden5. Daran wird sichtbar, dass die Schreiber die Begriffe gezielt eingesetzt haben, um die Zubehörteile der verschenkten Güter präzise und rechtlich korrekt zu beschreiben. Auch die vielen scheinbaren Doppelungen sind ein Indiz dafür, beispielsweise beschreiben prata et pascua verschiedene Nutzungsarten für Wiesen. In diesem Fall, Wiesen zum Heu machen und Grasland zur Weide des Viehs. Die oben erwähnten Bienenweiden, aber z. B. auch vineae, die ausschließlich in Weinbauregionen genannt werden, tauchen nur regional auf. Die verschiedenen Begriffe zeigen regionale Unterschiede und unterschiedliche Entwicklungsstände in der Wirtschaftsweise6. Die Bedeutung der Formulierung quesitis et inquerendis ist bisher von der Forschung nicht geklärt worden. Als These könnte man formulieren, dass es sich hier um Güter und Rechtstitel handelt, die zum Zeitpunkt der Schenkung noch nicht bekannt waren. Die Vielfalt ist für die Erforschung der wirtschaftlichen Verhältnisse im frühen und hohen Mittelalter sicher sehr interessant. Ich halte für den Vergleich mit den Unterlagendefinitionen fest, dass für die Besitzbeschreibung in mittelalterlichen Schenkungsurkunden über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten eine breite und rechtlich präzise Begrifflichkeit entwickelt wurde, die je nach Verwendungsort an die lokalen Verhältnisse angepasst wurde und die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse zeigt. Darüber hinaus könnten die Formeln eine Auffangformulierung für ungeklärte Besitztümer enthalten. Unterlagendefinitionen enthalten ebenfalls eine Aufzählung mehr oder weniger gleichförmiger Begriffe. Ihr Ziel ist es, die in Verwaltungen entstandenen Unterlagen und in der Folge das daraus generierte Archivgut möglichst präzise zu beschreiben. Interes3 Angelika Lampen, Fischerei und Fischhandel im Mittelalter. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen nach urkundlichen und archäologischen Quellen des 6. bis 14. Jahrhunderts im Gebiet des Deutschen Reiches (Historische Studien 461, Husum 2000) 30–32, zeigt, dass z. B. die piscationes bis zum Ende der Karolingerzeit zum festen Bestandteil der Pertinenzformeln geworden sind. 4   Zur Ostarrîchi-Urkunde vgl. Heide Dienst, Paläographisch-diplomatische Bemerkungen zu D.O. III 232 (sogen. „Ostarrîchi-Urkunde“). MIÖG 104 (1996) 1–12, und Peter Urbanitsch, Die Ostarrîchi-Urkunde, in: Ostarrîchi, Österreich 996–1996. Menschen, Mythen, Meilensteine, hg. von Ernst Bruckmüller–Peter Urbanitsch (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums N. F. 388, Horn 1996) 41–46. 5   Dienst, Ostarrîchi-Urkunde (wie Anm. 4) 3. 6  Heinrich Koller, Die ältesten Wassermühlen im Salzburger Raum. Ein Beitrag zur Nutzung der Wasser­ energie im Mittelalter, in: Festschrift für Berent Schwineköper zum siebzigsten Geburtstag, hg. von Helmut Maurer–Hans Patze (Sigmaringen 1982) 105–115, bes. 113f., wo er wahrscheinlich macht, dass sich die Wasserrechte in Schenkungen im Salzburger und Freisinger Raum auf die Nutzung von Mühlen beziehen.



Pertinenzformeln mittelalterlicher Schenkungsurkunden 13

sant ist dabei vor allem, welche Unterlagengattungen erwähnt werden und wie sich die Begriffe im Zeitenlauf verändern. Quellengrundlage meiner Untersuchung sind die deutschen und österreichischen Archivgesetze. Die deutsche Archivgesetzgebung setzte 1987 mit dem Landesarchivgesetz für BadenWürttemberg ein, das Bundesarchivgesetz wurde rund ein halbes Jahr später – Anfang 1988 – verabschiedet7. Die zunächst zehn anderen Bundesländer und nach der Wiedervereinigung auch die fünf damals neuen Bundesländer erließen ebenfalls Archivgesetze. Mit dem Archivgesetz für Mecklenburg-Vorpommern von 1997 war die Archivgesetzgebung in Deutschland vorerst abgeschlossen8. Ähnlich wie in Deutschland hatte auch in Österreich ein Bundesland, nämlich Kärnten im Januar 1997, das erste Archivgesetz verabschiedet9. Das Bundesarchivgesetz folgte im August 199910. Bis 2015 hatten alle anderen Länder mit Ausnahme des Burgenlandes, in dem es bis heute keines gibt, ein Archivgesetz erlassen. In allen deutschen Archivgesetzen der ersten Generation sind Unterlagendefinitionen enthalten, die eine Aufzählung von Begriffen bieten. In allen Gesetzen bilden Akten, Karten, Pläne, Bilder, Filme und Töne den Kernbestand der Unterlagen. Bilder11, Filme und Töne werden mit verschiedenen ergänzenden Bezeichnungen versehen. Sie werden -material, -materialien, -dokumente und -aufzeichnungen genannt12. Der Bund und Sachsen verwenden in der ersten Gesetzesfassung jeweils den Begriff „Träger der Bilder, Filme und Töne“13. Im Hamburger Archivgesetz sind sowohl Träger als auch Aufzeichnungen in der Formulierung enthalten, ob Bilder, Filme und Töne zu den Trägern oder den Aufzeichnungen zu zählen sind, ist aus der Formulierung nicht eindeutig erkennbar14. Bilder, 7   Landesarchivgesetz Baden-Württemberg (im Folgenden LArchG BW) vom 27. 7. 1987 (BW GBl. S. 230), dazu ist eine Dokumentation erschienen: Archivrecht in Baden-Württemberg. Texte, Materialien, Erläuterungen, bearb. von Hermann Bannasch unter Mitwirkung von Andreas Maisch mit einer Einführung in das Landesarchivgesetz von Gregor Richter (Stuttgart 1990); Bundesarchivgesetz (im Folgenden BArchG) vom 6. 1. 1988 (BGBl. I 1988 S. 62); Siegfried Becker–Klaus Oldenhage, Bundesarchivgesetz. Handkommentar (Baden-Baden 2006). 8   Landesarchivgesetz Mecklenburg-Vorpommern (im Folgenden LArchivG M-V) vom 7. 7. 1997 (MV GVBl. Nr. 9, S. 282) und Marlies Carstensen, Modernes Archivgesetz für Mecklenburg-Vorpommern. Der Archivar 52 (1999) 124–129. 9   Kärntner Landesarchivgesetz (im Folgenden K-LAG) vom 30. 1. 1997 (LGBl. Nr. 40/1997). 10  Bundesarchivgesetz (im Folgenden Bundesarchivgesetz) vom 17. 8. 1999 (BGBl. 162/1999). 11   In der Regel sind Fotografien gemeint. 12  Hessisches Archivgesetz (im Folgenden HArchG) vom 18. 10. 1989 (He GVBl. I 21, S. 270-275) § 2; Niedersächsisches Archivgesetz (im Folgenden NArchG) vom 25. 5. 1993 (Nds. GVBl. 1993, S. 129) § 2; Archivgesetz Sachsen-Anhalt (im Folgenden ArchG LSA) vom 28. 6. 1995 (ST GVBl. 1995, S. 190) § 2 Abs. 3; Thüringer Archivgesetz (im Folgenden ThürArchivG) vom 23. 4. 1992 (TH GVBl. 1992 Nr. 10, S. 139) § 2 Abs. 3 (alle Aufzeichnungen); Brandenburgisches Archivgesetz (im Folgenden BbgArchivG) vom 7. 4. 1994 (GVBl. I/94, [Nr. 09] S. 94) § 2 Abs. 5; Bremisches Archivgesetz (im Folgenden BremArchivG) vom 7. 5. 1991 (Brem. GBl. 1991, S. 159) § 2 Abs. 1; Archivgesetz Nordrhein-Westfalen (im Folgenden ArchivG NRW) vom 16. 5. 1989 (GV. NW S. 302) § 2 Abs. 1 (alle Dokumente); LArchG M-V § 3 Abs. 2; Saarländisches Archivgesetz (im Folgenden SArchG) vom 23. 9. 1992 (ABl. 1094) § 2; Landesarchivgesetz Schleswig-Holstein (im Folgenden LArchG S-H) vom 11. 8. 1992 (SH GVOBl. 1992, S. 444) § 3 Abs. 2 (alle Materialien); LArchG BW § 2 Abs. 3; Bayerisches Archivgesetz (im Folgenden BayArchG) vom 22. 12. 1989 (GVBl. S. 710) Art. 1 Abs. 1; Archivgesetz des Landes Berlin (im Folgenden ArchGB) vom 29. 11. 1993 (GVBl. S. 576) § 3 Abs. 1; Archivgesetz Rheinland-Pfalz (im Folgenden LArchG Rl-P) vom 5. 10. 1990 (RP GVBl. S. 277) § 1 Abs. 2 (alle Materialien). 13   BArchG § 2 Abs. 8; Sächsisches Archivgesetz (im Folgenden SächsArchivG) vom 17. 5. 1993 (Sächs. GVBl. S. 449) § 2 Abs. 2. 14   Hamburgisches Archivgesetz (im Folgenden HmbArchG) vom 21. 1. 1991 (HmbGVBl. 1991, S. 7) §

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Irmgard Christa Becker

Filme und Töne sind in der Regel keine Unikate. Sie können sich auf unterschiedlichen Trägern befinden. Das versuchen die Autoren der Gesetze mit den verschiedenen Begriffen auszudrücken. Die Begriffsvielfalt in den Archivgesetzen und insbesondere die Hamburger Formulierung nehmen eine Problematik vorweg, die bei der Definition digitaler Unterlagen erst recht zu berücksichtigen ist, deshalb werde ich weiter unten darauf zurückkommen. Schriftstücke oder Einzelschriftstücke benennen alle Gesetze außer das saarländische Archivgesetz. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass in acht Gesetzestexten Urkunden nicht genannt werden. Bei den sieben Bundesländern, die auf die Nennung von Urkunden verzichtet haben, kann vermutet werden, dass der Begriff Urkunden auf die mittelalterlichen Urkundenbestände bezogen wurde, die es in den Staatsarchiven gibt15. Sie könnten moderne Urkunden unter den Schriftstücken subsumiert haben. Beim Bundesarchiv gibt es keine Urkundenbestände aus dem Mittelalter, deshalb leuchtet der Verzicht unmittelbar ein. Die Länder Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt haben die Urkunden später hinzugefügt16. Das Fehlen der Urkunden wurde dort also als defizitär empfunden. Denn auch heute entstehen im Verwaltungshandeln Urkunden, z. B. Staatsverträge, die mit der Aufnahme des Begriffs in die Unterlagendefinition unmittelbar der Anbietungspflicht unterworfen werden. Angesichts der großen Amtsbuchserien in deutschen Verwaltungen und Archiven ist es interessant, dass in der ersten Generation nur vier Archivgesetze die Amtsbücher nennen17. Ein Grund könnte sein, dass die historischen Amtsbuchserien, wie Lagerbücher und Urbare, wenig genutzt werden und deshalb bei der Formulierung der Archivgesetze nicht immer im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Moderne Amtsbuchserien, wie z. B. die Personenstandsregister und die Grundbücher, waren in der Zeit, als die Archivgesetze erstmals verabschiedet wurden, als Unterlagen sui generis noch in der Verwaltung dauerhaft aufzubewahren und deshalb nicht der Anbietungspflicht unterworfen. Für die Grundbücher ist das bis heute der Fall18. Die Personenstandsregister unterliegen seit Inkrafttreten des neuen Personenstandsgesetzes 2009 der Anbietungspflicht19. Sie werden häufig nachgefragt. Das könnte ein Grund sein, warum sie in fünf Gesetzen ab 2010 hinzugefügt wurden20. In den Begründungen für die Veränderung der Unterlagendefinition werden sie nicht erwähnt, deshalb kann hier nicht entschieden werden, ob die Aufnahme eine Folge der neuen Personenstandsgesetzgebung und der häufigen Nutzung war oder im Bemühen um eine möglichst vielfältige Aufzählung begründet ist. Insgesamt werden die Amtsbücher heute in rund der Hälfte der Archivgesetze genannt, das lässt darauf schließen, dass ihre Nennung als durchschnittlich wichtig erachtet wird. 2 Abs. 1. 15   BArchG § 2 Abs. 8; LArchG BW § 2 Abs. 3; BremArchivG § 2 Abs. 1; HmbArchG § 2 Abs. 1; HArchG § 2; ArchivG NRW § 2 Abs. 1; LArchG Rl-P § 1 Abs. 2; ArchG LSA § 3 Abs. 3. 16  BremArchivG i. d. F. vom 21. 5. 2013 (BremGBl. S. 166) § 2 Abs. 1; HArchG vom 26. 11. 2012 (He GVBl. S. 458) § 2; ArchivG NRW vom 16. 3. 2010 (GV. NW S. 188) § 2 Abs. 1; ArchG LSA vom 3. 7. 2015 (ST GVBl. S. 314) § 2 Abs. 3. 17   BbgArchivG § 2 Abs. 5; SArchG § 2; SächsArchivG § 2 Abs. 2; ArchG LSA § 2 Abs. 3. 18  Grundbuchordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. 5. 1994 (BGBl. I S. 1114), die zuletzt durch Artikel 11 Absatz 18 des Gesetzes vom 18. 7. 2017 (BGBl. I S. 2745) geändert worden ist, § 10 Abs. 1. 19  Personenstandsgesetz vom 19. 2. 2007 (BGBl. I S. 122), in Kraft getreten am 1. 1. 2009, § 7 Abs. 3. 20   ArchivG NRW (2010) § 2 Abs. 1; HArchG (2012) § 2; BremArchivG (2013) § 2 Abs. 1; ArchGB vom 14. 3. 2016 (GVBl. 2016, S. 96) § 4 Abs. 1; ThürArchivG vom 29. 6. 2018 (TH GVBl. 2018 S. 308) § 2 Abs. 3.



Pertinenzformeln mittelalterlicher Schenkungsurkunden 15

In neun Archivgesetzen werden Karteien als Archivgut genannt, die z. B. in der Form von Meldekarteien Archivgut sein können, oft aber auch verwaltungsinterne Findmittel sind und als solche für Archive große Bedeutung haben21. Mit Ausnahme des Gesetzes für Sachsen-Anhalt haben alle genannten die Karteien bis heute in der Unterlagendefinition gehalten22. Plakate werden in acht Archivgesetzen genannt23, Amtsdrucksachen in sechs24. Risse werden in drei Archivgesetzen der ersten Generation genannt und in Bremen und Nordrhein-Westfalen später hinzugefügt25. Zeichnungen kommen nur in einem Archivgesetz, nämlich in Niedersachsen, vor26. Siegel nennen acht Archivgesetze27. Da diese in der Regel fest mit Urkunden oder anderen anbietungspflichtigen Schriftstücken verbunden sind, besteht auch nicht unbedingt eine Notwendigkeit, sie explizit zu benennen. Vielleicht ist der Begriff Siegel hier auch ein Synonym für Siegelstempel. Siegelstempel oder Petschafte(n) werden mit dem ersten Begriff in Hamburg und mit dem zweiten in Brandenburg und in Thüringen genannt28. In Hamburg ist die Nennung der Siegelstempel sicher eine Reaktion auf den Rechtsstreit von 1987 bis 1993 um das am Ende des Zweiten Weltkriegs entfremdete IV. Hamburgische Stadtsiegel, das letztinstanzlich der Erwerberin zugesprochen worden war29. Die beiden anderen Archivgesetze sind nach dem hamburgischen Gesetz erlassen worden und könnten dieses als Vorbild genutzt haben. Stempel werden in fünf Archivgesetzen genannt. Siegelstempel und Stempel sind Arbeitsmittel der Verwaltung, die als Gegenstände streng genommen nicht zu den Unterlagen oder dem Schriftgut gehören. Sie haben rechtliche Bedeutung und sind eng mit der Entstehung der Unterlagen verbunden, deshalb werden sie in der Regel in Archiven aufbewahrt. Absolut exotisch sind die im sächsischen Archivgesetz von 2013 erstmals genannten Medaillen30. Als Zwischenfazit kann ich feststellen, dass es offenbar einen Kernbestand an Unterlagen gibt, der aus Akten, Karten, Plänen, Bildern, Filmen und Tönen besteht, die in allen Archivgesetzen genannt werden. Dabei ist zu beachten, dass die Unterlagendefinitionen immer exemplarisch und keineswegs abschließend sind. Die genannten Unterlagenformen waren offenbar allen Archivverwaltungen so wichtig, dass sie sie in ihre jeweilige Aufzählung aufgenommen haben. Das gilt auch für die anderen, nicht in allen Archivgesetzen genannten Unterlagengattungen. Es ließe sich nun trefflich spekulieren, warum bestimmte Unterlagenarten in welchem Archivgesetz vorkommen. Vermutlich 21  LArchG BW § 2 Abs. 3; ArchGB § 4 Abs. 1; BremArchivG § 2 Abs. 1; HmbArchG § 2 Abs. 1; HArchG § 2; LArchG M-V § 3 Abs. 2; NArchG § 2; ArchivG NRW § 2 Abs. 1; ArchG LSA § 2 Abs. 3. 22   ArchG LSA (2015) § 2 Abs. 3. 23   BbgArchivG § 2 Abs. 5; BremArchivG § 2 Abs. 1; HArchG § 2; NArchG § 2; ArchivG NRW § 2 Abs. 1; SArchG § 2; ArchG LSA § 2 Abs. 3; ThürArchivG § 2 Abs. 3. 24   BbgArchivG § 2 Abs. 5; BremArchivG § 2 Abs. 1; HmbArchG § 2 Abs. 1; ArchivG NRW § 2 Abs. 1; ArchG LSA § 2 Abs. 3; ThürArchivG § 2 Abs. 3. 25   NArchG § 2; SächsArchivG § 2 Abs. 2; ArchG LSA § 2 Abs. 3; ArchivG NRW (2010) § 2 Abs. 1; BremArchivG (2013) § 2 Abs. 1. 26  NArchG § 2. 27  BbgArchivG § 2 Abs. 5; BremArchivG § 2 Abs. 1; HArchG § 2, LArchG M-V § 3 Abs. 2; NArchG § 2; LArchG Rl-P § 1 Abs. 2; ArchG LSA § 2 Abs. 3; ThürArchivG § 2 Abs. 3. 28  HmbArchG § 2 Abs. 1; BbgArchivG § 2 Abs. 5; ThürArchivG § 2 Abs. 3. 29   Hans Wilhelm Eckardt, Stationen eines Stempels. Historische und archivarische Anmerkungen anlässlich des juristischen Streits um das IV. Hamburgische Stadtsiegel (Vorträge und Aufsätze des Vereins für Hamburgische Geschichte 31, Hamburg 1995), gibt S. 70 den Hinweis, dass das 1991 im Archivgesetz verschriftete hamburgische Archivrecht im Verfahren nicht berücksichtigt wurde. 30   SächsArchivG § 2 Abs. 2.

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werden regionale Debatten über die Anbietungspflicht für bestimmte Unterlagenarten die Aufzählungen beeinflusst haben. Im Fall des hamburgischen Archivgesetzes lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Nennung der Siegelstempel und dem Verlust des IV. Stadtsiegels herstellen. Richtig interessant werden die Unterlagendefinitionen, wenn man die Begriffe betrachtet, die für digitale Unterlagen verwendet werden. An diesen lässt sich eine Entwicklung und ein Lernprozess ablesen. Die Begrifflichkeit zu den digitalen Unterlagen weist in den Archivgesetzen die größte Variationsbreite auf. In der ersten Generation können drei Formulierungsgruppen unterschieden werden. Die erste Gruppe ist noch ganz den Informationsträgern verhaftet. Ausschließlich im Bundesarchivgesetz von 1989 werden „Träger von Daten-, Film-, Bild-, Ton- und sonstigen Aufzeichnungen“ ohne weitere Zusätze genannt31. Im brandenburgischen Archivgesetz zählen bis heute „maschinenlesbare sowie sonstige Informationsträger einschließlich der zu ihrer Auswertung, Sicherung und Nutzung erforderlichen Hilfsmittel und Programme“ zu den Unterlagen32. Die zweite Gruppe schließt in weiteren Archivgesetzen Daten oder Dateien, die auf den maschinenlesbaren oder sonstigen Informationsträgern gespeichert sind, und die Hilfsmittel zu ihrer Auswertung oder Nutzung ein33. Die dritte Gruppe löst sich noch nicht von den sonstigen Informations- oder Datenträgern, verwendet aber den abstrakten Begriff „Informationen“ für die gespeicherten Inhalte34. Dieser Definitionsgruppe schließt sich das Saarland 2009 an35. Das Wissen, dass digitale Daten Informationen sind, die nicht zwingend an einen Träger gebunden sind, ist vorhanden, in den Definitionen kann sich dieses Wissen aber noch nicht vollständig durchsetzen. Meistens werden in den Aufzählungen sonstige Informationsträger genannt, eine Auffangformulierung, an der sichtbar wird, dass zur Entstehungszeit der Aufzählungen Unsicherheit über Wesen und Ausprägungen der digitalen Unterlagen herrschte und auch nicht prognostiziert werden konnte, was zu erwarten war. Die Wende zu einer abstrakten Definition der Unterlagen wird ab 2010 vollzogen. Beginnend mit dem Archivgesetz Nordrhein-Westfalen und dem rheinland-pfälzischen Archivgesetz, beide von 2010, werden in bisher sechs weiteren Archivgesetzen Aufzeichnungen, Unterlagen, Informationen oder Informationsobjekte unabhängig von ihrer Speicherform als Unterlagen definiert36. Die in den abstrakten Definitionen verwendeten Begriffe zeugen von der Suche nach einem adäquaten Begriff für digitale Information, die von Verwaltungen erzeugt wird. Die meisten Archivgesetze verwenden „Unterlagen“ als Hauptbegriff und kombinieren diesen erläuternd mit „Aufzeichnungen“, meistens in der Form „Unterlagen sind (elektronische) Aufzeichnungen unabhängig von ihrer Speicherform“ oder in einer ähnlichen Formulierung. Der Begriff „Aufzeichnungen“ ist die wörtliche Übersetzung des englischen Begriffs „records“, der in der internationalen Li  BArchG § 2 Abs. 8.   BbgArchivG § 2 Abs. 5. 33   BayArchG Art. Abs. 1; SArchG § 2; SächsArchivG § 2 Abs. 2; LArchG M-V § 3 Abs. 2. 34   LArchG BW § 2 Abs. 3; ArchGB § 3 Abs. 1; BremArchivG § 2 Abs. 1; HmbArchG § 2 Abs. 1; HArchG § 2; ArchivG NRW § 2 Abs. 1; LArchG Rl-P § 1 Abs. 2; ArchG LSA § 2 Abs. 3; LArchG S-H § 3 Abs. 2; ThürArchivG § 2 Abs. 3. 35  SArchG § 2. 36   ArchivG NRW (2010) § 2 Abs. 1; LArchG Rl-P (2010) § 1 Abs. 2; HArchG (2012) § 2; BremArchivG (2013) § 2 Abs. 1; SächsArchivG (2013) § 2 Abs. 2; ArchG LSA (2015) § 2 Abs. 3; ArchGB (2016) § 4 Abs. 1; ThürArchivG (2018) § 2 Abs. 3. 31 32



Pertinenzformeln mittelalterlicher Schenkungsurkunden 17

teratur zur digitalen Archivierung als Standard verwendet wird und der in der deutschen Verwaltungstradition keine genaue Entsprechung hat. Im rheinland-pfälzischen Archivgesetz werden Unterlagen als „unabhängig von ihrer Speicherform … angefallene Informationen“ definiert37. Das ist bisher die weiteste Definition, die den Zugriff auf alles ermöglicht, was die Verwaltung produziert. Hessen verwendet nach einer Aufzählung konventioneller Unterlagenformen die Formulierung „alle anderen Informationsobjekte, auch digitale Aufzeichnungen, unabhängig von ihrer Speicherungsform“38. Damit kommt dieses Archivgesetz dem OAIS-Modell, dem Standard für die digitale Archivierung, aus dem der Begriff „Informationsobjekt“ stammt, am nächsten39. Die Formulierung zeigt, dass Informationsobjekte nicht zwingend digital sein müssen, z. B. ist auch eine Karte ein Informationsobjekt. Erkennbar wird an dieser Verwendung, dass das Nachdenken über digitale Archivierung den Umgang mit konventionellem Archivgut beeinflusst. Die abstrakten Definitionen können als Auffangformulierung verstanden werden mit dem Ziel, die nicht vorhersehbaren künftigen Formen der digitalen Information begrifflich zu fassen und für Archive und Verwaltung handhabbar zu machen. In der Begründung zum sächsischen Archivgesetz von 2013 wird dieses Bestreben deutlich: Die bis dahin verwendete Definition enthielt eine Aufzählung von Informationsträgern und Speichermedien, mit der nicht eindeutig sichtbar gemacht werden konnte, dass digitale Information unabhängig vom Träger anzubieten ist, und präzisierend wird deutlich gemacht, dass der Begriff „maschinell lesbare Datenträger“ den Ausschluss digitaler Information ermöglichte, die auf anderen Trägern gespeichert ist40. Die sächsische Begründung ist kein Einzelfall. In den Begründungen zu den anderen Archivgesetzen, die eine abstrakte Definition der Unterlagen enthalten, wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die bisherige Definition „digitale Information“, die in Verwaltungen produziert wird, nur unzureichend erfasst und deshalb die Definition angepasst wird41. Alle diese Archivgesetze enthalten trotz der abstrakten Definition noch eine exemplarische Aufzählung relevanter konventioneller Unterlagenformen. Die Begründung zum sächsischen Archivgesetz liefert dafür eine sehr einleuchtende Begründung: Für die anbietungspflichtigen Stellen soll durch diese beispielhafte Aufzählung anschaulich werden, welche Unterlagen anzubieten sind42. Relevante digitale Unterlagenformen werden nicht beispielhaft genannt. Sie sind offensichtlich nur in der abstrakten Definition enthalten. Wenn man vergleichend die Unterlagendefinitionen in den österreichischen Archivgesetzen heranzieht, ergibt sich ein anderes Bild. Wie oben dargestellt, setzte die Archivgesetzgebung in Österreich im Jahr 1997 ein. Zu dieser Zeit hatte die Bundesebene bereits   LArchG Rl-P § (2013) 1 Abs. 2.   HArchG (2012) § 2. 39   Referenzmodell für ein offenes Archiv-Informations-System. Deutsche Übersetzung Version 2.0, hg. von nestor – Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit Digitaler Ressourcen für Deutschland (Frankfurt 2013) bes. 19–21, und passim, urn:nbn:de:0008-2013082706 [26. 10. 2019]. 40  Begründung zum Sächsischen Archivgesetz Drucksache 5/9386, Begründung zu § 2 Abs. 2. 41   Drucksache 14/10028 vom 27. 10. 2009, Begründung zu ArchivG NRW (2010) § 2 Abs. 1; Drucksache 18/6067 vom 28. 8. 2012, Begründung zu HArchG (2012) § 2 Abs. 1; Drucksache 18/838 vom 26. 3. 2013, Begründung zu BremArchG (2013) § 2 Abs. 1; Drucksache 6/3482 vom 7. 10. 2014, Begründung zu ArchG LSA (2015) § 2 Abs. 3; Drucksache 17/2402 vom 28. 7. 2015, Begründung zu ArchGB (2018) § 4 Abs. 1; Drucksache 6/4942 vom 17. 1. 2018, Begründung zu ThürArchivG (2018) § 2 Abs. 3. In Rheinland-Pfalz wurde der Vorschlag des VdA, den Begriff „Information“ zu verwenden, übernommen. Stellungnahme des VdA zum Entwurf des rheinland-pfälzischen Archivgesetzes. Archivar 63 (2010) 326. 42  Wie Anm. 40. 37 38

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Konzepte für eine vollständig elektronische Verwaltung, die ab 2001 umgesetzt wurden43. In den ab 1999 erlassenen Archivgesetzen ist diese Entwicklung spürbar. Das Kärntner Archivgesetz von 1997 enthält eine klassische Unterlagendefinition, in der „sonstige Datenträger sowie Dateien einschließlich der Hilfsmittel für deren Erfassung, Ordnung, Verwaltung, Benützung, Nutzbarmachung und Auswertung“ genannt werden44. Diese Definition ist die einzige in Österreich, die von der Entwicklung zur abstrakten Definition unbeeinflusst ist und mit den deutschen Definitionen der ersten Generation gleichgesetzt werden kann. Die Vorreiterrolle des Landes Kärnten bei der Archivgesetzgebung sorgt bis heute für diese retardierende Definition. Auf der Bundesebene beginnt die Archivgesetzgebung im Jahr 1999. Sie erforderte eine Definition des Archivguts, die offensichtlich im Gesetzgebungsprozess für das Archivgesetz in das Denkmalschutzgesetz eingebracht wurde45. Als einziges österreichisches Gesetz enthält es den Begriff „Schriftgut“ statt „Unterlagen“. Schriftgut wird hier als „schriftlich geführte oder auf elektronischen Informationsträgern gespeicherte Aufzeichnungen aller Art“ definiert. In dieser Definition ist der Einfluss der Überlegungen zur digitalen Archivierung schon deutlich spürbar. Sie enthält auch eine relativ ausführliche Unterlagenaufzählung. In den folgenden Archivgesetzen findet sich in der Regel eine abstrakte Definition des Unterlagenbegriffs. In fünf Archivgesetzen ist eine knappe abstrakte Definition kombiniert mit einer ebenso kurzen Aufzählung von „Schrift-, Bild- und Tonaufzeichnungen“ enthalten46. Im niederösterreichischen Gesetz ist eine abstrakte Definition mit einer Unterlagenaufzählung kombiniert47. Festzuhalten ist also, dass die österreichischen Archivgesetze aufgrund ihrer späteren Entstehung eine abstrakte Definition der Unterlagen bevorzugen. Nur Kärnten hält an einer detaillierten Unterlagenaufzählung ohne abstrakte Definition fest48. Im Vergleich der beiden Aufzählungsformen komme ich auf meine eingangs gestellten Fragen zurück. Gemeinsam sind Pertinenzformeln und Unterlagendefinitionen die Aufzählung von Begriffen, die für die Rechtshandlung relevant sind, und die regionalen Unterschiede in der Nutzung der Begrifflichkeit. Für die Pertinenzformeln lässt sich feststellen, dass die Aufzählung eine genaue, begrifflich präzise und weitgehend abschließende Beschreibung der geschenkten Güter enthält. Der Kernbestand der Formel enthält eine stereotype Begrifflichkeit, die häufig in Begriffspaaren geordnet ist und oft in der gleichen Reihenfolge verwendet wird. Deshalb standen Pertinenzformeln lange im Verdacht, historisch wenig relevant zu sein. Die Autoren der Archivgesetze haben überall ähnlich stereotype Begriffe verwendet wie die Schreiber der Pertinenzformeln. Ihre Aufzählungen sind beispielhaft und nicht abschließend. Sie sollen der Verwaltung, die die Archivgesetze anwendet, zeigen, welches Spektrum von Unterlagen anbietungspflichtig ist. Die Reihenfolge der Begriffe variiert ziemlich stark. Meistens werden die Akten als größte und wichtigste Unterlagengruppe an den Anfang gestellt. In fünf Archivgesetzen lässt sich 43 Z. B. der elektronische Akt, https://www.digitales.oesterreich.gv.at/elektronischer-akt-elak- [26. 10. 2019]. 44   K-LAG § 3 b. 45   Denkmalschutzgesetz vom 25. 9. 1923 in der Fassung von 1999 (BGBl. I Nr. 170/1999) § 25 Abs. 2. 46  Oberösterreichisches Archivgesetz (LGBl. Nr. 83/2003 83. Stück) § 3 Nr. 10; Salzburger Archivgesetz (LGBl. Nr 53/2008) § 2 Nr. 10; Steiermärkisches Archivgesetz (LGBl. Nr. 59/2013 Stück 19) § 2 Nr. 4; Tiroler Archivgesetz (LGBl. Nr. 128/2017) § 3 Abs. 9; Vorarlberger Archivgesetz (LGBl. Nr. 1/2016) § 3 a; Wiener Archivgesetz (LGBl. Nr. 55/2000) § 3 Nr. 1. 47  Niederösterreichisches Archivgesetz 2011 (LGBl. 5400-0) § 3 Nr. 17. 48  K-LAG § 3 b.



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am Anfang der Aufzählung die Trias „Urkunden, Amtsbücher, Akten“ feststellen49. Nur Sachsen hatte diese Begriffsfolge schon in der ersten Version des Archivgesetzes 1993, alle anderen haben sie erst in die zweite Fassung des Archivgesetzes übernommen. Das sind die von Heinrich Otto Meisner in seiner frühesten Archivaliendefinition als „Archivalien im engeren Sinne“ bezeichneten Gattungen50. Später schließt er das gesamte „Schrift-, Bild- und Tongut“ der Behörden in die Archivalien im engeren Sinn ein51. Es lässt sich also feststellen, dass der Kernbestand der in den Unterlagendefinitionen in Deutschland und Österreich verwendeten Begriffe aus der Archivwissenschaft abgeleitet ist. In den Pertinenzformeln zeigen spezifische regionale Begriffe, die häufig in der Volkssprache formuliert sind, Unterschiede in der Wirtschaftsweise und in deren Entwicklungsstand. Bei den Unterlagendefinitionen sind die relativ geringen regionalen Unterschiede vermutlich auf Erfahrungen der Archivarinnen und Archivare, die die Definitionen formuliert haben, zurückzuführen. Sie enthalten übergreifende Begriffe wie „Urkunden“, unter denen spezifische Formen, die gegebenenfalls nur in bestimmten Regionen vorkommen, subsumiert sind und deshalb nicht extra erwähnt werden. In die Pertinenzformeln sind durch Übernahme aus anderen Urkunden im Lauf der Jahrhunderte immer wieder neue Begriffe aufgenommen worden52. In den Archivgesetzen ist zu beobachten, dass die Autoren der Archivgesetze Begriffe aus anderen, früher verabschiedeten Gesetzen übernehmen. Auch für die abstrakten Definitionen ist das anzunehmen. Die Pertinenzformeln enthalten ausschließlich konkrete Begriffe, die einen Besitztitel präzise bezeichnen und damit die Gefahr von Rechtsstreitigkeiten minimieren. In den Unterlagendefinitionen enthält die erste Generation der deutschen Archivgesetze ebenfalls konkrete Begriffe, die die Unterlagengattungen eindeutig bezeichnen. Bei Bildern, Filmen und Tönen, die auf verschiedenen Trägern gespeichert sein können, variieren die Autoren und Autorinnen der Archivgesetze die Begriffe und zeigen damit an, dass es für diese Unterlagengattungen in der Archivwissenschaft keine kanonisierte Begrifflichkeit gibt. Die größte Variationsbreite in der Begrifflichkeit zeigt sich bei digitaler Information. Diese ist nicht nur unabhängig vom Träger, ihre Entwicklung ist auch noch nicht abgeschlossen, und es ist fraglich, ob sie dies je sein wird. Deshalb ist sie begrifflich besonders schwer zu fassen. In dieser offenen Situation ist sicherlich auch die Vielfalt der verwendeten Begriffe zu sehen und als jüngstes Phänomen der Wechsel zu einer abstrakten Definition, die möglichst viele Entwicklungsmöglichkeiten offenlässt. Die abstrakten Definitionen sind zu einem Zeitpunkt entstanden, als es zumindest im deutschsprachigen Raum noch keine systematische Klassifikation für digitale Unterlagen gab. Das dürfte auch der Grund sein, warum in den Unterlagenaufzählungen, die die abstrakten Definitionen ergänzen, ausschließlich konventionelle Unterlagenformen genannt werden. Erst jüngst hat Christian Keitel einen Vorschlag für eine systematische Klassifikation für digitale Unterlagen gemacht. Er teilt diese mit einer sehr einleuchtenden Begründung in Dokumente, Informationseinheiten, Container und Computerprogramme 49   SächsArchivG (1993 und 2013) § 2 Abs. 2; ArchivG NRW (2010) § 2 Abs. 1; HArchG (2012) § 2; BremArchivG (2013) § 2 Abs. 1; ThürArchivG (2018) § 2 Abs. 3. 50  Heinrich Otto Meisner, Archivarische Berufssprache. Archivalische Zeitschrift 42–43 (1934) 260–280, bes. 263, zit. nach Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft (Stuttgart 2018) 203. 51  Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918 (Leipzig 1969) 21. 52  Schwineköper, Cum aquis (wie Anm. 2) passim.

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ein53. Die bisher in den Archivgesetzen verwendeten Begriffe „Informationen“, „Informationsobjekte“ und „Aufzeichnungen“ sind nicht darunter. Die Autoren der Archivgesetze mussten vor der Entwicklung einer systematischen Klassifikation und Begrifflichkeit für digitale Unterlagen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Begriffen eine handhabbare Definition für digitale Unterlagen finden. Keitel hat aufgrund seiner Forschungen zur digitalen Archivierung einen erst noch zu diskutierenden Vorschlag für eine sinnvolle Begrifflichkeit gemacht. Die von ihm verwendete Begrifflichkeit ist sehr abstrakt. Es ist fraglich, ob sie derzeit verwendet werden könnte, um für Verwaltungen anschaulich zu machen, welche Unterlagen sie anzubieten haben. Darüber hinaus, und das ist sicher der für die Praxis wichtigere Aspekt, hält eine abstrakte Definition viele Interpretationsmöglichkeiten offen, um neu entstehende Informationen und Daten in der Verwaltung unter die Unterlagendefinition zu subsumieren und sie damit der Anbietungspflicht zu unterwerfen. Pertinenzformeln sind in einem jahrhundertelangen Prozess bis zu ihrer vollen Ausprägung entwickelt worden. Unterlagendefinitionen sind eine relativ junge Erscheinung, die in den deutschen Archivgesetzen seit ca. 30 Jahren vorhanden und in Österreich rund zehn Jahre jünger sind. Die Intention der Aufzählungen ist in beiden Fällen vermutlich dieselbe: Sie soll durch die Verwendung präziser und anschaulicher Begriffe Rechtssicherheit schaffen. Das kann sie so lange leisten wie die Dinge, die beschrieben werden sollen, mit allgemein anerkannten Begriffen benannt werden können. An den Stellen, wo die Dinge nicht konkret benannt werden können, in Pertinenzformeln vermutlich in der Formulierung quesitis et inquerendis und in den Archivgesetzen sicher bei digitalen Unterlagen, greifen die Autoren auf Auffangformulierungen zurück, die Unbekanntes sichtbar machen oder im Fall der digitalen Information anzeigen, dass eine Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Die digitale Welt ist hier gleichzeitig Fluch und Segen. Sie verhindert dadurch, dass wir im Archivwesen erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen, eine präzise Definition der anzubietenden Unterlagen, schafft aber mit der Methode des Textmining eine Option, die Begriffsvielfalt der Pertinenzformeln großräumig zu erforschen.

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  Keitel, Zwölf Wege (wie Anm. 50) 208–212.

Zum Einsatz von Schiedsgerichten in den Konflikten ­zwischen dem Landesherrn und seinen adeligen Untertanen Die Streitigkeiten zwischen Peter von Krawarn zu Straßnitz und König Sigismund (1421) bzw. Herzog Albrecht V. von Österreich (1424) Petr Elbel

1. Einleitung Die außergerichtliche Schlichtung gehörte im Mittelalter zu den beliebten und bewährten Formen der Konfliktlösung1. Sie tauchte in unterschiedlichen Formen auf, deren Typologie und Genese durch Rechtshistoriker seit langem diskutiert werden2. Im frühen und besonders im hohen Mittelalter ging es neben der Verhandlung der Streitparteien vor allem um die informelle Vermittlung (mediatio), bei der ein Vermittler die Streitparteien auszusöhnen versuchte. Als Vermittler fungierten oft Bischöfe oder Äbte, aber auch Könige, Fürsten und angesehene Adelige3. 1   Dieser Beitrag entstand im Rahmen des durch Czech Science Foundation/Grantová agentura České republiky geförderten Forschungsprojektes EXPRO 19-28415X „From Performativity to Institutionalization. Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)”, in dessen Rahmen der Autor die Behandlung der Konflikte durch Kaiser Sigismund untersucht. Der Autor dankt Frau Mag. Sonja Lessacher für das sprachliche Lektorat und Herrn Dr. Daniel Luger für die freundliche Gewährung eines Aufsatzmanuskriptes und für wichtige Hinweise. – Abkürzungen: Reg. Imp. VIII = J. F. Böhmer, Regesta Imperii VIII. Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. 1346–1378, bearb. von Alfons Huber (Innsbruck 1877); Reg. Imp. XI/1–2 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Die Urkunden Kaiser Sigmunds (1410–1437), Bd. 1 (1410–1424), bearb. von Wilhelm Altmann (Innsbruck 1896); Bd. 2 (1425–1437), bearb. von dems. (Innsbruck 1900); Reg. Imp. XI NB/1–3 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Regesten Kaiser Sigismunds (1410–1437) nach Archiven und Bibliotheken geordnet, hg. von Karel Hruza, Bd. 1. Die Urkunden und Briefe aus den Archiven Mährens und Tschechisch-Schlesiens, bearb. von Petr Elbel (Wien–Köln–Weimar 2012); Bd. 2. Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken West-, Nord- und Ostböhmens, bearb. von Petr Elbel–Stanislav Bárta–Přemysl Bar–Lukáš Reitinger (Wien–Köln–Weimar 2015); Bd. 3. Die Urkunden aus den Archiven und Bibliotheken Südböhmens, bearb. von Petr Elbel–Přemysl Bar–Stanislav Bárta–Lukáš Reitinger (Wien–Köln–Weimar 2016); Reg. Imp. XII = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XII. Albrecht II. 1438–1439, bearb. von Günther Hödl (Wien–Köln–Graz 1975). 2  Zu den Formen der Konfliktbewältigung siehe übersichtlich Hermann Kamp, Art. Konfliktbewältigung. HRG2 3 (2016) 1–3. 3  Eine gründliche Monographie über die Vermittlung publizierte ders., Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, Darmstadt 2001).

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Im Zuge der Verbreitung des gelehrten Rechtes im Italien des 12. Jahrhunderts wurde schrittweise das römisch-rechtliche Institut des Schiedsverfahrens (arbitrium) rezipiert4. Im Unterschied zur früheren Vermittlung handelte es sich um ein stark formalisiertes Verfahren. Die Parteien konnten sich entweder auf einen Schiedsrichter einigen, zwei oder mehrere paritätisch gewählte Schiedsrichter bestimmen und gegebenenfalls auch einen obersten Schiedsrichter (Obmann) bestellen, der bei Unstimmigkeit der Schiedsrichter allein entscheiden sollte. Der bzw. die Schiedsrichter wurden in der sog. Kompromissurkunde mit der Schlichtung des Streites beauftragt. In derselben Urkunde wurden zugleich die Rahmenbedingungen des Schiedsverfahrens festgelegt und die Parteien oft unter Androhung einer Vertragsstrafe dazu verpflichtet, die Entscheidung der Schiedsrichter einzuhalten. Danach führten die Schiedsrichter einen vereinfachten, quasi-gerichtlichen Prozess und fällten einen Schiedsspruch, in dem sie festlegten, welche Partei den Streit gewonnen hat und was der Verlierer dem Gewinner leisten sollte. Auf den ersten Blick scheint der Schiedsspruch schlecht vollstreckbar gewesen zu sein, da die Schiedsleute im Vergleich zum ordentlichen Richter über keinen Zwangsapparat verfügten bzw. nicht dazu verpflichtet waren, einen solchen einzusetzen. Dennoch unterwarfen sich die Parteien dem Schiedsspruch aufgrund der erwähnten vertraglichen Verpflichtung in der Regel freiwillig. Das Schiedsgericht konnte prinzipiell zwei Rechtsformen einnehmen, indem der Schiedsrichter als arbiter oder arbitrator fungierte. Während der Erstere nach dem geltenden Recht vorgehen musste, sollte sich der Letztere nach der Gerechtigkeit richten5. Das Schiedsverfahren musste nicht unbedingt mit einem Schiedsspruch abgeschlossen werden; die Schiedsrichter konnten die Parteien auch zu einer gütlichen Einigung bringen, was manchmal wohl vorgesehen war. In solchen Fällen spielten die Schiedsleute eine 4   Für den ersten Einblick siehe Wolfgang Sellert, Art. Schiedsgericht. HRG 4 (1980) 1386–1393. Die ältere deutschsprachige Forschung suchte die Wurzeln der mittelalterlichen Schiedsgerichtsbarkeit im altgermanischen Recht; siehe etwa die monographische Studie von Hermann Krause, Die geschichtliche Entwicklung des Schiedsgerichtswesens in Deutschland (Berlin 1930), die lediglich eine Beeinflussung der einheimischen Schiedsgerichtsbarkeit durch das gelehrte Recht zulässt (ebd. 40–61). Die einheimischen Wurzeln der Schiedsgerichtsbarkeit in Bayern postulierte noch Michael Kobler, Das Schiedsgerichtswesen nach bayerischen Quellen des Mittelalters (Münchener Universitätsschriften, Reihe der juristischen Fakultät 1, München 1967). Die römisch-rechtlichen Wurzeln der mittelalterlichen Schiedsgerichtbarkeit betonten dagegen bereits die Arbeiten von Karl Siegfried Bader, Das Schiedsverfahren in Schwaben vom 12. bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert (Diss. Freiburg, Tübingen 1929); ders., Die Entwicklung und Verbreitung der mittelalterlichen Schiedsidee in Südwestdeutschland und in der Schweiz. Zeitschrift für schweizerisches Recht N. F. 54 (1935) 100–125; Nachdr. in: ders., Schriften zur Rechtsgeschichte 1, hg. von Clausdieter Schott (Sigmaringen 1984) 226–251; Karl Siegfried Bader, Arbiter, arbitrator seu amicabilis compositor. Zur Verbreitung einer kanonistischen Formel in Gebieten nördlich der Alpen. ZRG Kan. Abt. 46 (1960) 239–276. In ähnlichem Sinne für Norddeutschland siehe Wilhelm Janssen, Bemerkungen zum Aufkommen der Schiedsgerichtsbarkeit am Niederrhein im 13. Jahrhundert. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 43 (1971) 77–100. Zur Entwicklung in Oberitalien siehe Siegfried Frey, Das öffentlich-rechtliche Schiedsgericht in Oberitalien im 12. und 13. Jahrhundert (Luzern 1928); zur gesamteuropäischen Entwicklung mit dem Schwerpunkt auf dem gelehrten Recht und der mittelalterlichen, vornehmlich italienischen Rechtswissenschaft siehe die ausgezeichnete Monographie von Rafał Wojciechowski, Arbitraż w doktrynie prawnej średniowiecza [Schiedsgericht in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft] (Wrocław 2010). 5  Eine besonders instruktive Erklärung der Begriffe arbiter und arbitrator bzw. arbitrium und arbitramentum bietet Wojciechowski, Arbitraż (wie Anm. 4) 74–86, und an anderen Stellen. Allerdings wurden in den Kompromissurkunden die Schiedsrichter zumeist als arbitri, arbitratores seu amicabiles compositores litis bestellt, was ihnen freie Hand gab, die eine oder andere Form des Schiedsgerichts zu wählen oder gar eine gütliche Einigung der Parteien anzustreben.



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ähnliche Rolle wie (früher) die Vermittler. Im Unterschied zu ihnen waren sie jedoch formal bestellt und beauftragt, den Streit beizulegen, während die Parteien zur Einhaltung ihrer Entscheidung verpflichtet waren. Eine informelle Vermittlung gab es zwar im Spätmittelalter nach wie vor weiter, sie wurde jedoch durch das formalisierte Schiedswesen fast abgelöst6. Soweit in aller Kürze zum rechtlichen Rahmen. Das Phänomen des Schiedsgerichtswesens muss auch aus der Perspektive der politischen und sozialen Geschichte betrachtet werden, wobei sich vor allem die Fragen stellen, aus welchen Gründen und in welchen Personenkreisen dieses zur Austragung/Lösung von Streitigkeiten bevorzugt wurde. Es ist kein Wunder, dass es vor allem in den grenzübergreifenden Konflikten zur Anwendung kam, wo es keinen zuständigen Richter gab und das Schiedsverfahren oft den einzig sinnvollen Weg zur friedlichen Konfliktlösung darstellte, nachdem einfache Verhandlungen gescheitert waren. Im Rahmen des Heiligen Römischen Reiches und einzelner Reichsterritorien gab es bekanntermaßen ein dichtes Netz an Gerichten – von der personalen Gerichtsbarkeit des Königs bzw. Kaisers bis hin zu Stadt- und Amtsgerichten –, die im Prinzip über alle Rechtsstreitigkeiten entscheiden konnten. Trotzdem gewann das Schiedsverfahren auch im Reich schnell an Popularität, da es in der Regel schneller und billiger als ein Gerichtsprozess war. Solange die Parteien sich auf einen oder mehrere Schiedsrichter einigen konnten, war das Schiedsgericht eine klare Wahl. Dies galt besonders bei Konflikten innerhalb eines Standes oder einer sozialen Schicht, wo es einfacher war, sich auf einen standesgemäßen Schiedsrichter zu einigen. Auch in diversen regionalen und überregionalen Bünden, Einungen und Landfrieden, die im 14. Jahrhundert zum wichtigen Faktor der Reichspolitik wurden, entfaltete sich die Schiedsgerichtsbarkeit zur leitenden Form der Konfliktbewältigung. Wie verhielten sich nun die Könige bzw. Landesherren gegenüber dem Schiedsgerichtswesen? Als mögliche Konkurrenz zur königlichen oder landesherrlichen Gerichtsbarkeit konnte es den Herrscher bzw. Landesfürsten um eine wichtige Komponente seiner Herrschaftslegitimation bringen. Um ihre Richterrolle nicht aufgeben zu müssen, versuchten Könige und Landesherren, sich an die neue Entwicklung anzupassen und ihre Dienste als Schiedsrichter anzubieten. Dabei erwies sich das Schiedsverfahren für die Herrscher auch deswegen als attraktiv, weil sie damit die am Hofgericht beteiligten Fürsten ausschalten konnten. Besonders das Engagement der römisch-deutschen Kaiser und Könige als Schiedsrichter wurde schon mehrfach untersucht, wobei sich zeigte, dass es bereits im ausgehenden 13. Jahrhundert sehr beliebt und im 14. Jahrhundert derart verbreitet war, dass einige Herrscher sogar in der Mehrzahl der Streitfälle als Schiedsrichter urteilten7. 6  Den sukzessiven Verfall der Vermittlung zugunsten des Schiedswesens im Spätmittelalter beschrieb Kamp, Friedensstifter (wie Anm. 3) 236–260 (Kapitel „Vermitteln im Schatten der Schiedsgerichtsbarkeit“). 7 Siehe Krause, Entwicklung (wie Anm. 4) 23–26, und vor allem Kamp, Friedensstifter (wie Anm. 3) 241f., der behauptet: „Der Aufschwung der Schiedsgerichtsbarkeit spiegelte sich auch in dem rasanten Anstieg der Konflikte wider, die der König seit dem 13. Jahrhundert als Schiedsrichter beizulegen suchte. In dieser Funktion trat er zahlenmäßig sogar häufiger denn als Richter in Erscheinung.“ Eine gründliche Studie zu König Ruprecht lieferte Ute Rödel, König Ruprecht (1400–1410) als Richter und Schlichter, in: Mit Freundschaft oder mit Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.–19. Jahrhundert, hg. von Albrecht Cordes–Anika M. Auer (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 65, Köln–Weimar–Wien 2015) 41–83, hier 57–79. Siehe auch Hendrik Baumbach, Königliche Gerichtsbarkeit und Landfriedenssorge im deutschen Spätmittelalter. Eine Geschichte der Verfahren und Delegationsformen zur Konfliktbehandlung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichts-

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Eine andere Frage stellt jedoch die Bereitschaft der Könige und Landesfürsten dar, sich anstelle eines Prozesses vor dem Hofgericht in den Streitigkeiten mit ihren Untertanen einem Schiedsgericht zu unterwerfen – und damit sind wir beim Thema dieses Beitrags. Während die Herrscher des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts ihre Konflikte mit den Reichsfürsten und anderen Reichsuntertanen nicht selten den gewählten Schiedsrichtern überließen8, stand Kaiser Friedrich III. solchen Schiedsgerichten höchst reserviert gegenüber, da es der Habsburger für unangebracht hielt, sich als Herrscher dem Spruch seiner eigenen Untertanen fügen zu müssen. Streitigkeiten zwischen dem Kaiser und seinen Untertanen sollten vor dem Hof- bzw. Kammergericht behandelt werden, wobei sich letzteres aus der persönlichen Rechtsprechung des Kaisers im Kreis seiner Räte entwickelte und unter Friedrich III. das alte Hofgericht schrittweise ablöste9. Wie war jedoch die Entwicklung dazwischen – besonders unter den luxemburgischen Kaisern und Königen? Nach einer ersten Sichtung der gedruckten Quellen lässt sich vorläufig feststellen, dass die Bereitschaft Karls IV., seine Streitigkeiten mit Fürsten oder Adeligen den gewählten Schiedsrichtern anzuvertrauen, (noch) relativ hoch war10. Dagegen scheint sich die Lage unter Wenzel und Sigismund schrittweise geändert zu haben. Unter Wenzel könnte das Bild durch die schlechte Erschließung der königlichen Urkunden wohl etwas deformiert sein; unter Sigismund ist jedoch die Abnahme der Schiedsgerichte zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen schon ganz eindeutig. Wenn Wenzel und Sigismund die Streitigkeiten mit ihren Untertanen durch Schiedsrichter entscheiden ließen, wählten sie entweder einen Verwandten oder einen benachbarten König, was keine Autoritätsminderung des Herrschers zu verursachen drohte. So fungierten z. B. Markgraf Jost von Mähren 1389 als Schiedsrichter zwischen König Wenzel und Herzog ­Albrecht III. von Österreich11, 1396 König Sigismund von Ungarn sowie Markgraf Jost zwischen König Wenzel und der böhmischen Adelsunion12 und 1412 König ­Wladislaus II. Jagiełło von Polen zwischen König Sigismund und den Herzogen Ernst dem Eisernen und Friedrich IV. von Österreich13. Diese Feststellung könnte jedoch durch eine Gruppe von schiedsrichterlichen Entscheidungen teilweise relativiert werden, die zwischen König und Kaiser Sigismund und barkeit im Alten Reich 68, Köln–Weimar–Wien 2017). Ähnliche Forschungen für die Zeit der Luxemburger stehen noch aus. 8 So Kamp, Friedensstifter (wie Anm. 3) 242, der einige Beispiele aus der Regierungszeit Rudolfs I. und Albrechts I. kurz bespricht. 9 Siehe Daniel Luger, Zwischen kaiserlichem Befehl und Wunsch der Parteien. Zur Einsetzung von Schiedsgerichten unter Kaiser Friedrich III. (im Druck). Ich danke Kollegen Luger für die freundliche Überlassung des Manuskripts. 10   Die Schiedsgerichte sind nicht nur verhältnismäßig häufig, sondern auch ganz mannigfaltig. Neben den Verpflichtungen, im Fall eines Streites mit seinem Onkel, Erzbischof Balduin von Trier, und dessen Nachfolgern am Trierer Metropolitanstuhl Schiedsrichter zu bestellen, handelte es sich um tatsächlich zustande gekommene Schiedsgerichte zwischen Karl IV. und den Wittelsbachern, Herzog Rudolf IV. von Österreich, König Ludwig von Ungarn, dem Bischof von Bamberg, den Kreuzherren an der Prager Brücke usw. Vgl. vor allem Reg. Imp. VIII 21 Nr. 227, 22 Nr. 233, 28 Nr. 291, 35 Nr. 362, 121 Nr. 1526, 124f. Nr. 1562, 215 Nr. 2641a, 240 Nr. 2945, 254 Nr. 3102; 540f. Reichssachen Nr. 117, 541f. Reichssachen Nr. 124, 548 Reichssachen Nr. 177, 555 Reichssachen Nr. 246, 572 Reichssachen Nr. 395. 11  Codex diplomaticus et epistolaris Moraviae. Urkunden-Sammlung zur Geschichte Mährens, Bd. XI: Vom 13. November 1375 bis 1390, ed. Vincenz Brandl (Brünn 1885) 481–483 Nr. 567. 12  Ebd. Bd. XII: Vom Jahre 1391 bis 1399, ed. Vincenz Brandl (Brünn 1885) 283–285 Nr. 306 und 286–288 Nr. 309. 13  Reg. Imp. XI/1 18f. Nr. 288 und 21 Nr. 329.



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den böhmischen und mährischen Herren und Rittern während der hussitischen Revolution (1419–1436) sowie der kurzen faktischen Regierung Sigismunds in Böhmen (1436– 1437) getroffen wurden14. Zu diesen Fällen gehören noch einige Schiedsgerichte und gütliche Einigungen zwischen Herzog Albrecht V. von Österreich, ab 1422 Sigismunds Schwiegersohn und ab 1423/24 Markgraf von Mähren, und seinen adeligen Untertanen in diesem Land. Zu den Schiedsleuten wurden zumeist böhmische und mährische Adelige bestellt, in den Jahren 1436/37 auch Utraquisten15. Im Folgenden werde ich zwei interessante Fallbeispiele vorstellen und in diesen auf zwei schiedsgerichtliche Verfahren aus der ersten Hälfte der 1420er Jahre fokussieren, welche die diesbezügliche Praxis während der hussitischen Revolution gut illustrieren. Beide Fallbeispiele haben einen gemeinsamen Protagonisten: den mährischen Landherrn Peter von Krawarn/Kravaře zu Straßnitz/Strážnice. Auf der anderen Seite begegnet uns zunächst König Sigismund (1421) und dann Herzog Albrecht V. von Österreich (1424), beide in ihrer Eigenschaft als Markgraf von Mähren. Im ersten Fall sollten die Schiedsleute die Konditionen der militärisch erzwungenen Kapitulation Peters von Krawarn festlegen und den Frieden zwischen Peter und dem König herbeiführen. Das zweite Beispiel stellt ein klassisches Schiedsgericht dar, wobei die Schiedsrichter über mehrere Streitpunkte zwischen Peter von Krawarn, damals Landeshauptmann von Mähren, und Herzog ­Albrecht V. von Österreich entscheiden sollten.

2. Peter von Krawarn zu Straßnitz am Anfang der hussitischen Revolution Bevor ich zu den beiden Fallbeispielen kommen kann, muss ich die Persönlichkeit Peters von Krawarn und vor allem seine Tätigkeit in den ersten Jahren der hussitischen Revolution kurz vorstellen16. Peter gehörte zur Straßnitzer Linie der verzweigten mähri14   Zur hussitischen Revolution siehe vor allem František Šmahel, Husitská revoluce [Die hussitische Revolution] 1–4 (Praha 21996); deutsche Übersetzung ders., Die Hussitische Revolution 1–3 (MGH Schriften 43, Hannover 2002). In einigen Aspekten unterschiedliche Interpretationen des hussitischen Zeitalters bot Petr Čornej, Velké dějiny zemí Koruny české 5. 1402–1437 [Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone 5, 1402–1437] (Praha–Litomyšl 2000), an. Zur böhmischen Herrschaft Sigismunds von Luxemburg siehe František Kavka, Poslední Lucemburk na českém trůně. Králem uprostřed revoluce [Der letzte Luxemburger auf dem böhmischen Thron. Ein König inmitten der Revolution] (Praha 1998). 15  Siehe vor allem die erhaltenen Friedensverträge und die zusammenhängenden Schiedsurkunden zwischen Kaiser Sigismund und den Herren von Moravany – Reg. Imp. XI NB/1 216f. Nr. 163a, 281 Nr. 164., zwischen Sigismund und Vok von Eulenburg/Sovinec – ebd. 219f. Nr.165; zwischen Sigismund und Friedrich von Straßnitz/Strážnice sowie der Gemeinde Tabor – Reg. Imp. XI NB/3 263–266 Nr. 191a, oder zwischen Sigismund und Friedrich von Straßnitz die Stadt Kolin betreffend – ebd. 266f. Nr. 191b; Archiv český, čili Staré písemné památky české i morawské [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren] 6, ed. František Palacký (Praha 1872) 437f. Nr. 41. Weitere Schiedsverfahren sind in Chroniken oder durch alte Regesten belegt. 16   Zu Peter siehe Anton Rolleder, Die Herren von Krawarn. Zeitschrift des Vereines für Geschichte Mährens und Schlesiens 2 (1898) 199–215, 295–339; 3 (1899) 56–70, hier 57–62; Libor Jan, Strážnice od začátku husitství do konce 15. století [Straßnitz von den Anfängen des Hussitismus bis zum Ende des 15. Jahrhunderts], in: Strážnice. Kapitoly z dějin města [Straßnitz. Kapitel aus der Stadtgeschichte], hg. von Jiří Pajer (Strážnice 2002) 61–74, hier 61–68, und vor allem Tomáš Baletka, Páni z Kravař. Z Moravy až na konec světa [Die Herren von Krawarn. Von Mähren bis zum Kap Finisterre] (Praha 2003) 251–270. Alle Autoren kannten eine Episode aus dem Leben Peters nicht, die in unserem Kontext ziemlich wichtig erscheint: die Beteiligung Peters an der Schlacht gegen das ungarische Heer Sigismunds bei Ungarisch Brod/Uherský Brod am 19. Oktober 1421; siehe dazu Petr Elbel, Bitva u Uherského Brodu. Zapomenutá epizoda druhé křížové výpravy proti husitům

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schen Adelsfamilie, die in den letzten Jahrzehnten vor der hussitischen Revolution als die reichste und einflussreichste in Mähren galt und dementsprechend hohe Positionen in der Landesverwaltung, aber auch am Hof Markgraf Josts und König Wenzels bekleidete. Das bekannteste Familienmitglied in dieser Zeit war Lacek von Krawarn zu Helfenstein/ Helfštýn, der langjährige Hofmeister König Wenzels und mährische Landeshauptmann, der sich ganz offen zu Johannes Hus bekannte, die Proteste des böhmischen und mährischen Adels gegen Hus’ Gefangennahme und Verbrennung mitorganisierte und auf seinen Gütern die Kelchkommunion einführte17. Peter von Straßnitz folgte dem Vorbild seines Verwandten, und nach dessen Tod im Jahr 1416 übernahm er dessen Rolle als Haupt der prohussitischen Adelspartei in Mähren, wozu ihm auch die Ernennung zum mährischen Landeshauptmann durch König Wenzel verhalf. Ähnlich wie Lacek führte auch Peter die Kelchkommunion in seinen Patronatskirchen ein18, unterstützte die Verbreitung des Hussitismus im Land und förderte den königlichen Kandidaten Aleš von Březí gegen den Konzilskandidaten, Bischof Johann den Eisernen von Leitomischl/Litomyšl, im Olmützer Bistumsstreit19. Diese Politik führte zwangsläufig zu Peters Sturz, als nach dem Tod König Wenzels dessen Bruder Sigismund die Herrschaft in den böhmischen Ländern zu übernehmen begann. Die Absetzung Peters vom Amt des Landeshauptmanns dürfte während des Brünner Tags Ende Dezember 1419 erfolgt sein, wo Sigismund die Verhältnisse in Böhmen und Mähren energisch zu reorganisieren versuchte20. Angesichts der Bedeutung der [Die Schlacht bei Ungarisch Brod. Eine vergessene Episode des zweiten Hussitenkreuzzugs], in: Zrození mýtu. Dva životy husitské epochy [Die Geburt eines Mythos. Zwei Leben der hussitischen Epoche], hg. von Robert Novotný–Petr Šámal (Praha 2011) 73–89. 17  Zu Lacek siehe Rolleder, Die Herren von Krawarn (wie Anm. 16) 209–215; Václav Štěpán, Osobnost Lacka z Kravař I. Lackův politický vzestup [Die Persönlichkeit Laceks von Krawarn I. Laceks politischer Aufstieg]. Časopis Matice moravské 110 (1991) 217–238; ders., Osobnost Lacka z Kravař II. Na vrcholu politické dráhy [Die Persönlichkeit Laceks von Krawarn II. Auf dem Gipfel der politischen Laufbahn]. Časopis Matice moravské 112 (1993) 11–41; Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 180–224. 18   Zur eigenmächtigen Einführung utraquistischer Priester in die Pfarreien der Diözese Olmütz siehe Petr Elbel, Husitské fary na Moravě ve světle citační listiny Jana Železného z února 1418. Příspěvek k poznání role šlechty v počátcích husitství na Moravě [Die hussitischen Pfarreien in Mähren im Lichte einer Zitationsurkunde Johanns des Eisernen vom Februar 1418. Ein Beitrag zur Rolle des Adels in den Anfängen des Hussitismus in Mähren]. Časopis Matice moravské 124 (2005) 395–428. Hier werden auch etliche Beispiele aus den Herrschaften Peters von Krawarn besprochen. 19  Der Olmützer Bistumsstreit in den Jahren 1416–1420 wurde in der Literatur schon mehrmals behandelt. Während der Kandidat König Wenzels, Aleš von Březí, der Reformbewegung gegenüber sehr tolerant war und mit dieser vielleicht sogar sympathisierte, gehörte der Kandidat des Domkapitels, der die Unterstützung des Konstanzer Konzils und später Papst Martins V. erhielt, Bischof Johann IV. (der Eiserne) von Leitomischl, zu den entschiedensten Gegnern des Hussitismus in Böhmen und Mähren. Der prohussitische Adel in Mähren mit Lacek bzw. Peter von Krawarn an der Spitze unterstützte Bischof Aleš, der den Großteil der Diözese kontrollieren konnte. Von mehreren Titeln siehe die jüngsten Aufsätze über die beiden Bischöfe: Eduard Maur, Příspěvek k biografii biskupa Aleše z Březí [Ein Beitrag zur Biographie Bischof Aleš’ von Březí]. Táborský archiv 8 (1997–1998) 11–35; Petr Elbel, Olomoucký biskup Jan Železný a Zikmund Lucemburský. Příspěvek k poznání Zikmundovy spojenecké sítě v českých zemích a jeho dvorských struktur [Bischof Johann der Eiserne von Olmütz und Sigismund von Luxemburg. Ein Beitrag zur Erforschung der Anhängerschaft Sigismunds in den böhmischen Ländern und seiner Hofstrukturen]. Studia Mediaevalia Bohemica 6/1 (2014) 17–68. 20   Von den zeitgenössischen Chronisten widmete Laurentius von Březová dem Brünner Tag den meisten Raum. Sein Interesse galt jedoch hauptsächlich der Prager Gesandtschaft in Brünn und den Änderungen im Königreich Böhmen, die Sigismund von Brünn aus vorgenommen hat – Vavřince z Březové Husitská kronika, ed. Jaroslav Goll, in: Fontes Rerum Bohemicarum 5 (Praha 1893) 327–541, hier 353f. Dass parallel zu den böhmischen auch die mährischen Landes- und landesherrlichen Ämter in Brünn neu besetzt wurden, versteht



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Herren von Krawarn in dieser Zeit ist es kein Wunder, dass Sigismund die Landeshauptmannschaft wieder einem Mitglied derselben Familie anvertraute – allerdings seinem bewährten Parteigänger und Höfling Heinrich von Krawarn zu Plumenau/Plumlov. Neben dem ranghöchsten Landesamt bekleidete Heinrich auch das wichtige landesherrliche Amt des Unterkämmerers21. Es kann vermutet werden, dass Peter an dem erwähnten Brünner Tag persönlich teilnahm und hier gemeinsam mit anderen mährischen Landherren König Sigismund als dem legitimen Erben der böhmischen Krone huldigte. Seine Absetzung musste ihn wohl erbittert haben, was ihn sicherlich keineswegs zu einem überzeugten Parteigänger Sigismunds machte. Im Jahr 1420 wissen wir jedenfalls von keinen Kontakten zwischen Peter und dem König. Er dürfte an den Kriegsaktionen Sigismunds in Böhmen im Unterschied zu seinem Cousin, Heinrich von Krawarn zu Plumenau, welcher am 1. November 1420 in der Schlacht vor Wyschehrad/Vyšehrad den Tod fand, höchstwahrscheinlich nicht teilgenommen haben. Zwischen Sigismund und Peter von Krawarn scheint damals nach wie vor Misstrauen geherrscht zu haben. Jedenfalls ernannte der König nach Heinrichs Tod nicht Peter zum Landeshauptmann, sondern Wilhelm von Pernstein/Pernštejn; das Amt des mährischen Unterkämmerers wurde vorläufig dem böhmischen Unterkämmerer und wichtigen königlichen Rat, Wenzel von Duba zu Lischna/Leštno, anvertraut22. Als Sigismund nach den militärischen Niederlagen bei Prag in den Wintermonaten 1420/21 mit wenig Erfolg versuchte, zumindest die katholischen Positionen in Nordund Westböhmen zu verteidigen, verschlimmerte sich auch die Lage der königlichen Partei in Mähren ganz wesentlich. Einerseits entstanden im Land einige Zentren des radikalen Hussitismus, wie vor allem der „Neue Tabor“ auf einer Marchinsel bei Nedakonitz/ Nedakonice, andererseits wandte sich (erneut) ein Teil des hussitischen Adels offen von Sigismund und der Kirche ab23. Spätestens in dieser Zeit, um die Jahreswende 1420/21, ging auch Peter von Krawarn zur Gegenseite über. sich von selbst, zumal bereits im Jänner teilweise neue Personen in einzelnen Ämtern belegt sind. Zu dem Brünner Tag siehe Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1037–1039; Čornej, Velké dějiny 5 (wie Anm. 14) 225–227; aus der mährischen Perspektive Berthold Bretholz, Die Übergabe Mährens an Herzog Albrecht V. von Österreich im Jahre 1423. Beiträge zur Geschichte der Hussitenkriege in Mähren. AÖG 80 (1893) 249–349, hier 269–271; Josef Válka, Husitství na Moravě – náboženská snášenlivost – Jan Amos Komenský [Hussitismus in Mähren – Religiöse Toleranz – Johann Amos Comenius] (Brno 2005) 13f. 21  Zu diesem Herrn siehe Rolleder, Die Herren von Krawarn (wie Anm. 16) 336–339; Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 114–129; zu seinen Beziehungen zu König Sigismund siehe Petr Elbel, „Scio, quod vos Moravi estis timidi et michi non fideles“. Moravané ve strukturách dvora Zikmunda Lucemburského [„Scio, quod vos Moravi estis timidi et michi non fideles“. Personen aus Mähren in den Hofstrukturen Sigismunds von Luxemburg]. Mediaevalia Historica Bohemica 12/2 (2009) 43–132, hier 54f., 63. 22   Zu Wilhelm siehe František Hofmann, Vilém z Pernštejna. Pokus o portrét moravského pána husitské doby [Wilhelm von Pernstein. Versuch eines Porträts eines mährischen Landherrn der Hussitenzeit]. Časopis Matice moravské 87 (1968) 163–186. Zur vorläufigen Beauftragung Wenzels von Duba, u. a. das mährische Unterkämmereramt auszuüben, siehe Reg. Imp. XI NB/1 86f. Nr. 28. 23  Den einzigen chronikalischen Bericht über Nedakonitz bietet Laurentius von Březová; siehe Vavřince z Březové Husitská kronika, ed. Goll (wie Anm. 20) 473f. Darauf bezieht sich bereits umfangreiche Literatur, in der zum Teil die Meinung vertreten wurde, dass sich der „Neue Tabor“ nicht auf einer Marchinsel bei Nedakonitz, sondern in der Stadt Ungarisch Ostra/Uherský Ostroh etablierte. Einen Überblick zur älteren historischen und archäologischen Forschung und zugleich eine Analyse von neuen archäologischen Funden lieferte Petr Žákovský, Zhodnocení kovových artefaktů z Nedakonic. Příspěvek k lokalizaci husitského Nového Tábora [Auswertung von Eisenartefakten aus Nedakonice. Ein Beitrag zur Lokalisierung des hussitischen Neuen Tabors]. Archaeologia historica 36/2 (2011) 485–521, der wohl eindeutig die Lokalisierung des „Neuen Tabors“ bei Nedakonitz bewies.

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Über seinen Parteiwechsel wissen wir nichts Konkretes, aber als Sigismund Anfang März 1421 sein militärisches Engagement in Böhmen unterbrach und schnell nach Mähren eilte, hatte er offensichtlich zwei militärische Ziele: die Eroberung des „Neuen Tabor“ und die Unterdrückung der aufständischen Adeligen mit Peter von Krawarn an der Spitze. Der kurze, von Znaim/Znojmo aus geführte Kriegszug zum „Neuen Tabor“ lässt sich in die Woche um den 14.–18. März 1421 datieren24. Das ungarische Heer ­Sigismunds war jedoch nach Laurentius von Březová bei Nedakonitz genauso erfolg­ slos wie der frühere Kriegszug Bischof Johanns von Olmütz. Nach diesem Misserfolg kehrte Sigismund von Ostmähren zunächst nach Znaim zurück, wo er seinen zukünftigen Schwiegersohn, Herzog Albrecht V. von Österreich, treffen und ihn im Anschluss im nahen Seefeld mit dem Herzogtum Österreich belehnen sollte25. Bald nach dieser Belehnung zog Sigismund nach Brünn und von hier aus wieder nach Ostmähren, um die hussitischen Adeligen in dieser Gegend zum Gehorsam zu zwingen. Im Unterschied zur Belagerung vom „Neuen Tabor“ war Sigismund nun erfolgreich. Da er bereits am Nürnberger Reichstag sein sollte, den er selbst einberufen hatte und der u. a. den neuen Hussitenkreuzzug vorzubereiten hatte, versuchte Sigismund, seine Abwesenheit vom Reich mit seinen partiellen Erfolgen in Ostmähren zu entschuldigen. Aus dem Bericht der Straßburger Gesandten zum Nürnberger Reichstag erfahren wir zunächst, dass Sigismund sein Fernbleiben durch seinen Kanzler, Bischof Georg von ­Passau, vor allem eben mit der bevorstehenden Unterwerfung Peters von Straßnitz begründete, der trotz seines früheren Treueeids erneut von ihm und der Kirche abgefallen sei26. Die Gesandten erhielten diese Auskunft am 17. April 1421. Bereits am Vortag 24  In diesen Tagen stellte die ungarische Geheimkanzlei Sigismunds, die den Herrscher stets begleitete, zahlreiche Urkunden in Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště aus, während die Reichskanzlei und der Großteil der königlichen Höflinge in Znaim verblieben. Noch Jörg K. Hoensch–Thomas Kees–Ulrich Niess–Petra Roscheck, Itinerar König und Kaiser Sigismunds von Luxemburg 1368–1437 (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 6, Warendorf 1995) 103, kannten nur den Aufenthalt Sigismunds und seines Hofes in Znaim vom 9. März bis zum 1. April 1421. In den Stadtrechnungen von Znaim wird tatsächlich angeführt, dass Sigismund, Königin Barbara und Königinwitwe Sophie von Böhmen mit ihren Höfen am 9. März in Znaim anlangten und in der Stadt 23 Tage verblieben – Reg. Imp. XI/1 316 Nr. 4477a. Dies bezieht sich jedoch nur auf den königlichen Hof und auf die beiden Königinnen, während der König selbst mit seinen ungarischen Truppen nach Ostmähren aufbrach. Zu seinem Aufenthalt in Hradisch siehe Pál Engel–Norbert C. Tóth, Itineraria regum et reginarum (1382–1438). Itinerarium Sigismundi regis imperatorisque (1382–1437). Itineraria Mariae (1382–1395) et Barbarae reginarum (1405–1438) consortum Sigismundi regis imperatorisque, nec non Elisabeth reginae (1382–1386), relictae Ludovici I regis (Budapestini 2005) 107. Der Aufenthalt Sigismunds in bzw. bei Ungarisch Hradisch lässt sich sehr gut mit der erfolglosen Expedition des ungarischen Heeres nach ­Nedakonitz (das nur 8 km südlich von Ungarisch Hradisch liegt) verbinden, die in der oben zitierten Darstellung des Laurentius über den „Neuen Tabor“ erwähnt, aber in der Forschung kaum beachtet wurde (wenn, dann wurde sie mit den Ereignissen im Herbst 1421 verbunden). Ungarisch Hradisch war offensichtlich die Basis für die Belagerung von Nedakonitz, weswegen hier auch die Kanzlisten der Geheimkanzlei verblieben. 25  Ausführlich zu dieser Belehnung siehe Renate Spreitzer, Die Belehnungs- und Bestätigungsurkunden König Sigismunds von 1421 für Herzog Albrecht V. von Österreich. Eine historische und textkritische Einordnung (1282–1729). MIÖG 114 (2006) 289–328. 26   Und also ist min herre von Passow z den egenanten fúrsten und aller vorgenanten stett botten uf das rothus kummen, und het in geseit und gebetten nit fúr úbel von unserm allergnedigsten herren dem kúnige z habend, daz er uf den vorgeschriben benanten dag nit kummen sie, wanne imme sollich ernslich sach in Merhern-lant si den kristenglben antreffend; und were es, daz er nit darkummen were, do were sollicher brust in dem lande ufherstanden, daz gar mit grossen kumber und kosten z wenden were. Wanne do sie in sunder ein gar gewaltiger in dem lande, der vor ziten des glben gewesen ist und gewiset wart, daz er von dem glben ließ und denselben glben z gott und z den heiligen verswr; und úber sinen eit so ist er widerumb in den unglben getretten. Und also unser herre der kúnig in besant und z im sprach „Peter, warumb hestu den unglben wider an dich genummen, du hest in doch z



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schrieb jedoch Sigismund aus Ungarisch Brod seinem Kanzler, dass die Unterwerfung Peters bereits erfolgt sei, da dieser vor dem König erschienen sei und ihm erneut die Treue geschworen habe. Sigismund äußerte die Hoffnung, dass Peter sein letztes Gelübde besser erfüllen würde als das erste27. Der Grund für Peters Kapitulation lag wohl darin, dass er die Plünderung seiner Güter durch das königliche Heer zu vermeiden bzw. zu beenden suchte. Es sollte sich jedenfalls bald zeigen, dass seine Unterwerfung durch die königliche Übermacht erzwungen war und Sigismunds Befürchtungen nicht unbegründet waren. Ende Mai 1421 verließ Sigismund Mähren Richtung Ungarn, wo er zunächst die Verteidigung des Landes gegen die Türken gewährleisten musste. Bereits nach seinem Abmarsch aus Böhmen im März dieses Jahres kam es zu einer systematischen Offensive des Hussitismus, vor allem nach Ostmittel- und Ostböhmen, wo z. B. die Bergstadt Kuttenberg/Kutná Hora und die Bischofsstadt Leitomischl hussitisch wurden28. Der Rückzug Sigismunds nach Ungarn ermöglichte nun auch eine schnelle Aktivierung des hussitischen Adels in Mähren. Als im Juni 1421 der hussitische Landtag nach Tschaslau/Čáslav berufen wurde, kam neben zahlreichen Delegierten aus Böhmen auch eine hochrangige Gesandtschaft der mährischen Herren unter Leitung des Landeshauptmanns Wilhelm von Pernstein. Zu ihren Mitgliedern zählte auch Peter von Krawarn zu Straßnitz. Obwohl sich die mährische Gesandtschaft der in Tschaslau erfolgten Absetzung König Sigismunds vom böhmischen Thron nicht anschließen wollte, verpflichtete sie sich dazu, innerhalb von sechs Wochen in Mähren ebenfalls einen Landtag einzuberufen, bei dem der gesamte Landadel über eine mögliche Absetzung abstimmen sollte. Zu einem solchen Tag kam es dann unmittelbar nach dem Tschaslauer Tag in Brünn. Zwar scheint Sigismund auch hier nicht formal abgesetzt worden zu sein, doch wurden die Vier Prager Artikel auch in Mähren zum Landesgesetz erklärt und zwei Hauptleute zur Wahrung des Gottesgesetzes ernannt: Peter von Krawarn zu Straßnitz und Johann von Lomnitz/Lomnice29. Zwei Monate nach seiner Unterwerfung in Ungarisch Ostra/Uherský Ostroh wurde Peter also (wieder) zu einem der Anführer der hussitischen Opposition in Mähren. Es ist verständlich, dass der König den wiederholten Treuebruch nicht straflos lassen wollte. Sigismund wollte ursprünglich bereits Ende August 1421 in Mähren einfallen, gleichzeitig mit dem Angriff der Kurfürsten in Westböhmen sowie der Meißner, Lausitzer und schlesischen Truppen in Nord- und Ostböhmen. Vom Süden sollte sie Herzog Albrecht V. mit dem österreichischen Heer unterstützen. Der koordinierte Einfall sollte die hussitischen Kräfte aufteilen und dadurch schwächen – wäre es tatsächlich zu einem solchen gekommen30. Sigismund verspätete sich jedoch. Als die Kurfürsten bereits in Eger waren, gotte und den heiligen versworn“, do antwurtte er unserm herren dem kúnige, er hett es umb daz beste geton. Und also ist daz ganz Merhern-lant mit truwen und mit eide unserm herren dem kúnig von des glben wegen gehorsam zsinde, ußgenummen der egenant Peter. Deutsche Reichstagsakten VIII. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund 2. 1421–1426, ed. Dietrich Kerler (Gotha 1883) 38–41 Nr. 34, hier 39. 27   Auch ist der edel Peter von Straznitz hie bei uns gewest und hat sich gegen uns gedemtigt und uns vor vil fursten und herren von newes trew, ere und hulde gelobt und bei uns zu beleiben wider allermeniglich und wider uns niernermer zu tun. Und wir hoffen, er werde daz letzte gelubde bas halden denn daz erste. Ebd. 25f. Nr. 24. 28   Zu dieser Offensive vgl. Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1163–1171; Čornej, Velké dějiny 5 (wie Anm. 14) 282–289. 29  Zum Tschaslauer Tag siehe Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1171–1183; Čornej, Velké dějiny 5 (wie Anm. 14) 296–300; über die mährische Teilnahme in Tschaslau und den anschließenden Tag in Brünn folge ich der sehr überzeugenden Interpretation von Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 26–29. 30  Den Plan des zweiten Hussitenkreuzzugs kennen wir vor allem aus dem Brief des Breslauer Domherrn

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berief er am 25. August noch von Ofen/Buda aus das mährische Landesaufgebot für den 3. September nach Straßnitz31. Daraus ergibt sich klar, dass Sigismund den Kreuzzug mit der Unterdrückung Peters von Krawarn beginnen wollte. Der König sollte sich jedoch noch viel beträchtlicher verspäten. Während er unter dem Kommando des berühmten Kriegsführers Filippo Scolari (Pippo Spano) nur Vortruppen nach Mähren vorausschickte, wurde er selbst in langwierige und komplizierte Verhandlungen mit Herzog Albrecht V. über die Konditionen von dessen bevorstehender Hochzeit mit Sigismunds Tochter Elisabeth verwickelt32. Es scheint, als ob Albrecht den Abschluss des Heiratsvertrags und die kanonische Verlobung mit Elisabeth zur Bedingung für sein Engagement im Kreuzzug gemacht hätte. Weil sich jedoch beide Seiten über die finanziellen Bedingungen der Heirat nicht verständigen konnten, zogen sich die Verhandlungen einen Monat lang hin. Dies führte zu großer Konfusion im Reichsheer in Westböhmen, das die vereinbarte Unterstützung durch die Heere Sigismunds und Albrechts vergeblich erwartete33. Aber auch nach dem Abschluss der Heiratsverträge am 28. September gingen Sigismunds Vorbereitungen nicht so schnell vor sich, wie er es sich wünschte, weswegen er die Landesgrenze erst Mitte Oktober überquerte34. Offensichtlich aufgrund dieser Verspätung gab er die geplante Belagerung von Straßnitz lieber auf und entschied sich für den nördlichen Weg über den Wlarapass, der die Straßnitzer Herrschaft umging. Dieser Weg war etwas länger, theoretisch jedoch sicherer, da er von landesherrlichen Burgen und Städten oder von Besitzungen der Parteigänger Sigismunds umgeben war. Trotz der alarmierenden Nachricht über den Rückzug des in Nordwestböhmen weilenden Kreuzheeres vor Saaz, die der König am 18. Oktober in Brumow/Brumov erhielt, wollte er möglichst schnell nach Böhmen ziehen35. Schon in der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober sollte der König jedoch noch eine weitere unangenehme Überraschung erleben. Seine Truppen wurden im Feldlager bei Ungarisch Brod in der Nacht von einer hussitischen Abteilung unter Hašek von Waldstein/Valdštejn36 Thomas Mas an den Hochmeister des Deutschen Ordens vom 15. Juli 1421, der sich auf die Berichte einer Breslauer Gesandtschaft in Ungarn berief; siehe Deutsche Reichstagsakten VIII (wie Anm. 20) 82f. Nr. 70. 31   Reg. Imp. XI NB/1 131–133 Nr. 76. 32   Zu den Heiratsverhandlungen siehe detailliert Petr Elbel–Stanislav Bárta–Wolfram Ziegler, Die Heirat zwischen Elisabeth von Luxemburg und Herzog Albrecht V. von Österreich: rechtliche, finanzielle und machtpolitische Zusammenhänge (mit einem Quellenanhang), in: Manželství v pozdním středověku. Rituály a obyčeje [Die Ehe im Mittelalter. Rituale und Bräuche], hg. von Paweł Kras–Martin Nodl (Colloquia mediaevalia Pragensia 14, Praha 2014) 79–152, hier 99–123. 33   Dass die westliche Front des zweiten Kreuzzugs bei Saaz/Žatec nicht an der Angst vor dem sich nähernden hussitischen Heer, sondern vielmehr am vergeblichen Warten auf König Sigismund und der Absenz jeglicher Informationen über sein Itinerar scheiterte, zeigte jüngst Duncan Hardy, An Alsatian Nobleman’s Account of the Second Crusade against the Hussites in 1421: New Edition, Translation, and Interpretation. Crusades. The Journal of the Society for the Study of the Crusades and the Latin East 15 (2016) 199–221. 34  Im Folgenden gehe ich von meiner früheren Analyse der mährischen Ereignisse im Oktober 1421 aus; siehe Elbel, Bitva u Uherského Brodu (wie Anm. 16). 35  Dies ergibt sich aus dem Brief Sigismunds an den Stadtrat von Eger vom 18. Oktober 1421; siehe Reg. Imp. XI NB/2 90f. Nr. 46. 36  Zu diesem hussitischen Herrn, der im Jahr 1425 zur Partei König Sigismunds und Herzog Albrechts V. übergehen sollte, siehe jüngst Jiří Jurok, Hašek z Valdštejna: od straníka markraběte Prokopa k husitskému hejtmanovi, moravskému zemskému hejtmanovi a diplomatu stran habsburské, rožmberské a posléze poděbradské [Hašek von Waldstein: Vom Parteigänger Markgraf Prokops zum hussitischen Hauptmann, mährischen Landeshauptmann und Diplomaten der habsburgischen, rosenbergischen und danach Podiebrad-Partei]. Vlastivědný věstník moravský 68/1 (2016) 18–22; David Papajík, K osobnosti a charakteru Haška z Valdštejna [Zu Persönlichkeit und Charakter Hašeks von Waldstein]. Východočeské listy historické 40 (2018) 39–59.



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und „dem von Straßnitz“ – höchstwahrscheinlich also Peter37 – überfallen. Obwohl der hussitische Angriff mit wenigen Verlusten abgewendet werden konnte und Sigismund am 20. Oktober in seinem Brief an Herzog Albrecht immer noch einen schnellen Vormarsch nach Böhmen ankündigte, entschied er sich letztendlich doch, die Protagonisten der Schlacht bei Ungarisch Brod zu bestrafen38. Seine Truppen begannen, die Güter Hašeks und Peters zu plündern. Während Hašek von Waldstein sowie der älteste Sohn Peters, Wenzel von Krawarn, den Widerstand fortsetzten, beschloss Peter, sich dem König erneut zu beugen. Damit komme ich zum ersten Fallbeispiel.

3. Die durch die Schiedsrichter vereinbarte Kapitulation Peters von Krawarn im Herbst 1421 Die Chronik des Laurentius von Březová schildert die Unterwerfung Peters im Oktober und November 1421 offensichtlich etwas verstümmelt, indem sie die Entscheidung Peters, sich zu unterwerfen, bereits vor den nächtlichen Überfall auf das ungarische Heer datiert, den sie nur mit Hašek von Waldstein, evtl. auch mit Wenzel von Krawarn, jedoch nicht mehr mit Peter von Krawarn verbindet39. Dies ist allerdings unwahrscheinlich, da die erste hier zu besprechende schiedsrichterliche Urkunde vom 28. Oktober zeigt, dass die Verhandlungen über die Unterwerfung Peters offensichtlich erst am 22. Oktober begannen – also nach der Schlacht, deren Datum wir aus dem Brief Sigismunds kennen. Was erfahren wir aus der Urkunde40? 37  In Frage käme auch Peters Sohn Wenzel. Die genaue Identifizierung ist hier allerdings nicht so wichtig, denn selbst, wenn Peter an diesem Überfall nicht persönlich teilgenommen hätte, wird sein Sohn Wenzel bestimmt in seinem Sinne gehandelt haben. 38  Der Brief ist in Kopie im Ungarischen Nationalarchiv überliefert. Nach der Publikation des ungarischen Regestes in Zsigmondkori oklevéltár [Urkundenbuch zum Zeitalter König Sigismunds] VIII. 1421, ed. Iván Borsa–Norbert C. Tóth (Budapest 2003) 325f. Nr. 1070, wurde er zunächst durch Miroslav Lysý zitiert, der jedoch den Nachtüberfall auf das Heer Sigismunds mit einer aus anderen Quellen bekannten Kriegsepisode identifizierte und in die Nähe von Ungarisch Ostra lokalisierte; siehe Miroslav Lysý, Účasť Uhorska na protihusitských vojnách v Čechách a na Morave [Die Teilnahme Ungarns an den antihussitischen Kriegen in Böhmen und Mähren]. Vojenská história 11 (2007) 28–48, hier 36f.; ders., Husitská revolúcia a Uhorsko [Die hussitische Revolution und Ungarn] (Bratislava 2016). Hier folge ich meiner Analyse in der zitierten Studie Elbel, Bitva (wie Anm. 16), wo der Brief im Anhang ediert ist. Siehe auch Reg. Imp. XI NB/1 133f. Nr. 77. 39  Vavřince z Březové Husitská kronika, ed. Goll (wie Anm. 20) 526f., spricht zunächst über die Plünderung der Güter Peters durch die ungarischen Vortruppen unter Pippo Spano, dann über die Entscheidung Peters, sich dem König zu unterwerfen, dann über den nächtlichen Angriff auf bestimmte ungarische Truppen durch Hašek, der im Unterschied zu Peter dem wahren (hussitischen) Glauben treu blieb (... dominum Hasskonem ..., qui quamvis multa perpessus fuisset ab Ungaris dampna in bonis suis, tamen velut firma petra veritatis petre Christo constanter adhesit et noctis tempore cum suis in regis quendam exercitum irruit, quem aliquociens personaliter penetrando aliquot centena eorum prostravit, in rusticis tamen suis, qui spoliis vacabant, dampnum notabile est perpessus), ebenso wie Wenzel von Krawarn (iuvenis eciam dominus Petri de Straznicz filius, dominus Wenceslaus nuncupatus, a IV veritatis articulis nolens recedere pretacto domino Hasskoni se sociando coniunxit et secum mori pro veritate evangelica promisit; daraus folgt jedoch nicht, dass Wenzel auch am Überfall auf das ungarische Heer teilgenommen hat). Erst danach soll nach Laurentius der König selbst mit dem Großteil des ungarischen Heeres in Mähren eingetroffen sein (hiis sic peractis rex Sigismundus cum maiori Ungarorum Tartarorumque gente, licet plurimum inermi, Moraviam pertransiens, tam amicorum quam inimicorum bona comburendo devastans ...). Die Chronologie von Laurentius ist sicher nicht ganz korrekt, zumal der nächtliche Angriff auf das ungarische Heer erst nach der Ankunft Sigismunds in Mähren stattgefunden hat. 40  Siehe die neue Edition unten im Anhang Nr. 1. Der Vertrag wurde in zahlreichen Arbeiten bespro-

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Die Urkunde wurde am 28. Oktober 1421 in Ungarisch Hradisch durch Herzog Přemek von Troppau/Opava und Beneš von Krawarn zu Mährisch Kromau/Moravský Krumlov ausgestellt, die hier als Vermittler oder eher Schiedsrichter auftreten (ohne als solche explizit bezeichnet zu werden)41. Sie bekennen, dass sie zwischen König Sigismund und Peter von Krawarn mit deren Wissen und Willen ein Abkommen abgeschlossen hätten, dessen sechs Punkte hier zusammengefasst werden müssen. Fangen wir mit dem vierten Punkt an, der eigentlich keine Vereinbarung, sondern eher eine Erläuterung enthält, warum das Abkommen überhaupt zustande gekommen ist – somit lässt sich dieser Punkt vielmehr als eine eingeschobene Narratio betrachten: Peter von Krawarn habe den König um Vergebung für seine Taten gegen ihn gebeten. Dabei habe Peter gesagt, dass er den König weiterhin stets als seinen Herrn nach dem Landesrecht betrachten möchte. Aus diesem Punkt resultieren alle anderen, die die Versöhnung zwischen Peter von Krawarn und dessen Söhnen einerseits und König Sigismund andererseits herbeiführen sollen. Eine untrennbare Voraussetzung dafür war jedoch auch die Versöhnung mit der römischen Kirche, von welcher Peter und seine Söhne die Absolution erhalten sollten. Im ersten Punkt wird daher festgelegt, dass diese Absolution vier Wochen nach dem 22. Oktober (i. e. wahrscheinlich nach dem Datum der im Punkt vier erwähnten persönlichen Unterwerfung Peters vor dem König) erfolgen soll. Diese Zeitspanne sollte u. a. dazu dienen, dass Peter in der Zwischenzeit folgende vier namentlich erwähnte Adelige kontaktiert und versucht, sie ebenfalls zur Unterwerfung zu bewegen: Johann von Lomnitz42, Hašek von Waldstein, Milota von [Kwasitz/Kvasice zu] Trávník43 und Zbyněk Doubravka [von Doubrawitz/Doubravice]44. Während diese Herren eventuell die Unterwerfung ablehnen konnten, war jene von Peter und seinen Söhnen sowie deren Absolution bereits verbindlich. Im zweiten Punkt wird daher festgelegt, dass Herzog Přemek von Troppau die von Peter treuhändisch übernommene Burg Helfenstein/Helfštýn an den König weitergeben soll, falls Peter und seine Söhne am genannten Termin die Absolution nach dem Kirchenrecht nicht erhalten würden. Andernfalls soll Přemek die Burg Peter zurückerstatten. Im dritten Punkt werden konkrete Fristen für die Beschickung der genannten vier Adeligen genannt, die eigentlich sehr kurz waren. Hašek von Waldstein und Milota von chen, teilweise jedoch mit Ungenauigkeiten. Siehe bereits Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 291f. und 335f. Nr. 9, wo sich die Transliteration der Urkunde mit einigen Fehlern findet; Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1223; Martin Čapský, Vévoda Přemek Opavský (1366–1433). Ve službách posledních Lucemburků [Herzog Přemek von Troppau (1366–1433). In Diensten der letzten Luxemburger] (Brno–Opava 2005) 225; Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 32; Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 261f. 41  Zur Persönlichkeit Herzog Přemeks siehe Čapský, Vévoda Přemek Opavský (wie Anm. 40); zu Beneš von Krawarn Rolleder, Die Herren von Krawarn (wie Anm. 16) 300f.; Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 235–238. 42   Die Biographie dieses wichtigen Herrn stellt ein Desiderat dar. Siehe Petr Šťastný, Lomnice a její páni [Lomnitz und dessen Herren], in: Lomnice. Příroda – historie – osobnosti – památky [Lomnitz. Natur – Geschichte – Persönlichkeiten – Denkmäler], hg. von Michal Konečný (Tišnov 2006) 52–65, hier 58–60. 43  Milota von Kwasitz/Kvasice zu Trávník gehörte einer Familie an, die mit den Herren von Krawarn entfernt verwandt war. Siehe kurz Rolleder, Die Herren von Krawarn (wie Anm. 16) 317f. 44  Auch die Herren von Doubrawitz waren mit den Krawarn entfernt verwandt, bei Rolleder, Die Herren von Krawarn (wie Anm. 16), sind sie jedoch nicht behandelt. Nur ganz knapp zu dieser Familie siehe Ladislav Hosák, Příspěvek k dějinám Třebíčska a Hrotovicka: Osovští z Doubravice [Ein Beitrag zur Geschichte der Regionen von Trebitsch und Hrottowitz: Die Herren von Doubrawitz zu Ossowa]. Vlastivědný sborník Moravskobudějovicka 1 (2005) 412–416, zu Zbyněk 412f.



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Trávník sollten sofort beschickt und der König innerhalb von zwei Tagen über ihre Stellung informiert werden. Bei Johann von Lomnitz und Zbyněk Doubravka war die Frist etwas länger; der König sollte innerhalb von einer Woche das Ergebnis kennen. Erst der fünfte Punkt enthält die allgemeine Regelung, dass durch dieses Abkommen und die bevorstehende Absolution der gesamte Zwist zwischen Peter, seinen Dienern und gegebenenfalls auch weiteren Adeligen einerseits und König Sigismund, seinen Dienern sowie der römischen Kirche andererseits beendet werden soll. Im sechsten Punkt wird schließlich geregelt, dass eventuelle neue Streitigkeiten zwischen den Parteien vor dem König, den Landherren bzw. dem Landrecht beigelegt werden sollen. Die Corroboratio führt schließlich an, dass das Abkommen von König Sigismund und Peter von Krawarn akzeptiert wurde, weswegen sie von den Ausstellern je eine Ausfertigung erhielten. Angekündigt werden die Siegel der beiden Aussteller, die auf dem für Sigismund ausgestellten und heute noch im Böhmischen Kronarchiv vorhandenen Stück erhalten geblieben sind. Wie soll dieses Abkommen nun charakterisiert werden? Diese Frage hängt natürlich eng damit zusammen, wie die rechtliche Stellung der Aussteller war. Handelte es sich um informelle Vermittler, die durch ihre Mediation zur Aussöhnung der Parteien und zum Abschluss eines entsprechenden Abkommens beitrugen, oder eher um förmlich berufene Schiedsleute, die aufgrund einer Vollmacht das Abkommen zwischen den Parteien abschlossen? Alles spricht für die zweite Variante. Es ist zu beachten, dass das Abkommen durch die Vermittler/Schiedsrichter abgeschlossen wurde, die sie auch besiegelten. Zudem wurde durch die Aussteller auch eine Sicherungsklausel eingefügt und zwar die vorläufige Abtretung der Burg Helfenstein durch Peter an Herzog Přemek, welcher sie im Fall des Vertragsbruchs an den König als Pfand übergeben sollte. Bezeichnend ist auch die eindeutig paritätische Zusammensetzung der Parteien. Während König Sigismund offensichtlich seinen Höfling Přemek von Troppau nominierte, dürfte die Benennung Beneš’ von Krawarn von dessen Verwandten Peter ausgegangen sein. Wir können somit das Stück wohl am ehesten als einen durch Schiedsrichter abgeschlossenen Vertrag bezeichnen, der einen vorläufigen Friedensschluss zwischen König Sigismund und Peter von Krawarn sowie dessen Söhnen herbeiführte, wobei aber der zweite unentbehrliche Schritt, die Absolution von Peter und seinen Söhnen durch die römische Kirche, mithilfe einer eigenen Klausel im Vertrag zur Absicherung eingebaut wurde. Die Schiedsleute wurden offensichtlich mit der Aufgabe betraut, eine Aussöhnung zwischen Peter von Krawarn und dem König mit der von Sigismund verlangten Absolution in einem Vertrag zu verkoppeln; die Art und Weise, wie sie diese gelöst haben, war bereits ein Ergebnis ihrer Schiedstätigkeit. Die Bedingungen der neuerlichen Unterwerfung Peters waren für diesen keineswegs ungünstig. Abgesehen von der Pflicht, die kirchliche Absolution zu erhalten, die durch die Verpfändung der großen Burg erzwungen werden sollte, enthielt der Vertrag keine Strafen – Sigismund sollte Peter im Gegenteil großzügig vergeben. Die Situation entwickelte sich jedoch entgegen Peters Wünschen, da sein Sohn Wenzel die Kapitulation vor dem König eindeutig ablehnte und gemeinsam mit Hašek von Waldstein den Widerstand fortsetzte. Daraus folgte für Peter ungünstigerweise, dass die Burg Helfenstein am 19. November als Pfand an den König hätte übergeben werden müssen. Peter von Krawarn bemühte sich daher um eine für ihn günstigere Lösung, was zu weiteren Verhandlungen unter der Leitung jener Schiedsleute führte, die eigentlich in einem solchen Fall die Übergabe Helfensteins garantieren sollten. Diese dauerten bis zum

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13. November 1421, als Peter auf dem von Sigismund einberufenen Brünner Landtag erschien45. Hier sollte der gesamte Landadel der „Häresie“ abschwören, eine Absolution erhalten und mit dem König einen Landfrieden abschließen. Die Absolution Peters an jenem Tag wurde zum Vorbild für alle anderen hussitisch gesinnten Adeligen, die Peters Vorgehensweise einer nach dem anderen nachahmten46. Die Ausnahme bildeten Hašek von Waldstein und Wenzel von Krawarn, die gar nicht nach Brünn kamen, sondern rasch nach Böhmen zogen, um die Verteidigung dieses Landes gegen Sigismund zu stärken47. Am 17. November 1421 wurde in Brünn ein Landfrieden auf fünf Jahre abgeschlossen, der einerseits die Waffenruhe und die Erneuerung des Landrechts begründen, andererseits auch die flächendeckende Ausrottung der „hussitischen Häresie“ in Mähren herbeiführen sollte48. Die Landfriedenssignatare, einzelne mährische Landherren, sollten alle ihre Untertanen sowie die Stadtbürger dazu bewegen, der „Häresie“ abzuschwören, und ihre Absolution in vier dazu bestimmten Kirchen (in Olmütz, Brünn, Znaim und Troppau) erzwingen. Noch am 13. November 1421 – gleichzeitig mit der Ablegung seines Eides und dem Erhalt der Absolution – stellte Peter eine Urkunde aus, in welcher er die Neufassung bzw. die Ergänzung des früheren Abkommens zwischen ihm und König Sigismund publizierte49. In der Narratio führt er an, dass das neue Abkommen durch Herzog Přemek von Troppau und Beneš von Krawarn vereinbart wurde, die also nach wie vor als Schiedsleute fungierten. Der neue Vertrag löste das frühere Abkommen vom 28. Oktober nicht völlig ab; es wurde stillschweigend davon ausgegangen, dass die damals vereinbarte Versöhnung zwischen König Sigismund und Peter von Krawarn auch weiterhin galt, zumal Letzterer mit der Erreichung seiner kirchlichen Absolution die vereinbarte Bedingung auch erfüllt hatte. Alle Punkte des neuen Abkommens reagierten eigentlich nur auf die Tatsache, dass Peters Sohn Wenzel die Versöhnung mit dem König und der Kirche dezidiert abgelehnt hatte. Die ursprünglich für einen solchen Fall vorgesehene Übergabe Helfensteins an den König wird nun nicht mehr erwähnt. Dafür musste Peter von Krawarn seinen ältesten Sohn allerdings enterben. 45   Zu diesem Landtag siehe Vavřince z Březové Husitská kronika, ed. Goll (wie Anm. 20) 527f. Aus der Literatur siehe besonders Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 44f.; Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1224f.; Čornej, Velké dějiny 5 (wie Anm. 14) 306f.; Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 33f. 46   Vavřince z Březové Husitská kronika, ed. Goll (wie Anm. 20) 527f., zitiert sowohl den Eid Peters, den katholischen Glauben zu bekennen und die „hussitischen Ketzer“ zu bekämpfen und zu töten, als auch den Text der Absolutionsformel des päpstlichen Legaten. 47  Die Tätigkeit Wenzels und Hašeks in Böhmen lässt sich ab Jänner 1422 verfolgen; siehe Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 270f.; Jurok, Hašek z Valdštejna (wie Anm. 36) 19; Papajík, K osobnosti (wie Anm. 36) 41. 48   Zur Edition des Landfriedens vgl. Archiv český, čili Staré písemné památky české i moravské, sebrané z archivů domácích i cizích [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren, in einheimischen sowie ausländischen Archiven gesammelt] 10, ed. Josef Kalousek (Praha 1890) 246–250 Nr. 5; deutsches Vollregest in Reg. Imp. XI NB/1 135–139 Nr. 79. 49  Siehe unten die neue Edition in Anhang Nr. 2; eine ältere, jedoch zuverlässige und immer noch brauchbare Edition publizierte Franz Palacký in Archiv český 6 (wie Anm. 15) 400–402 Nr. 6. Die Neuedition nach den aktuellen Usancen für Editionen alttschechischer diplomatischer Quellen wird unten vor allem deswegen geliefert, damit der Leser alle besprochenen Quellen an einem Ort beisammen findet. Auch dieser Vertrag wurde in der Forschung mehrmals besprochen. Siehe bereits Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 292; Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1224; Čapský, Vévoda Přemek Opavský (wie Anm. 40) 225; Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 33; Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 262f.



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Im ersten Punkt führt Peter an, dass er (laut Entscheidung der Schiedsleute) für alle seine Kinder mit Ausnahme von Wenzel Vormünder wählen soll. Er benennt daraufhin Beneš von Krawarn, Zbyněk von Doubrawitz und Johann Kužel von Zerawitz/Žeravice. Es wird zudem festgelegt, dass Peter die Vormünder nicht ohne königliche Erlaubnis austauschen darf. Sollte sich jedoch Zbyněk dem Wyclifismus wieder anschließen, würde er als Vormund sofort abgesetzt50. Im zweiten Punkt wird das Vorgehen im Falle von Peters Ableben geregelt. Sollten seine jüngeren Kinder noch unmündig sein, so würden die gewählten Vormünder diese bis zur Erreichung ihrer Mündigkeit beschützen. Sollte Peter seine jüngeren Kinder überleben, so darf er seine Güter an beliebige Personen übergeben oder vermachen51, jedoch nicht an Wyclifiten oder seinen Sohn Wenzel. Letzterer könnte die Enterbung nur dadurch vermeiden, indem er sich innerhalb von zwei Wochen dem Beispiel seines Vaters folgend dem König und der Kirche unterwirft. Der anschließende Punkt präzisiert noch die rechtliche Stellung der Vormünder. Peter gebietet den Burggrafen seiner Burgen, den Vormündern einen Eid zu leisten. Solange die Vormundschaft nicht in die Landtafeln eingetragen wird, darf er zudem keine Burggrafen auswechseln. Danach ist es ihm nur mit Wissen und Willen der Vormünder erlaubt. Schließlich verpflichtet sich Peter unter einer Pön von 12.000 Schock Prager Groschen, diesen Vertrag bei der nächsten oder übernächsten Landgerichtssitzung in die Landtafeln einzulegen. Zwanzig vornehme mährische Landherren bürgen für die Bezahlung derselben, falls Peter der Forderung nicht nachkommt, oder aber für die Haltung des Einlagers. In der Forschung wurde der Vertrag oft als die tiefste Erniedrigung Peters dargestellt52. Tomáš Baletka hat jedoch zu Recht bemerkt, dass das Ergebnis für Peter gar nicht so schlecht war und dass Peter an seinen Gütern und seiner Ehre nichts verloren hat53. Bereits vor Ablauf der Frist zur Unterwerfung Wenzels vor dem König am 19. November war die Nichterfüllung des ersten Abkommens vom 28. Oktober absehbar. Nichtsdestotrotz musste Peter die Burg Helfenstein nicht an Sigismund abgeben und verlor auch sonst keine Besitzungen. Stattdessen gab es weitere Verhandlungen mit dem logischen Ergebnis der Enterbung Wenzels. Der Rest der Familie war jedoch nur wenig betroffen. Auch die Ernennung der Vormünder war nicht so demütigend wie in der Forschung angenommen. Obwohl diese bereits zu Peters Lebzeiten großen Einfluss ausüben sollten, konnte er die Vormünder selbst auswählen und mit Beneš von Krawarn sowie Zbyněk von Doubrawitz Verwandte bzw. mit Johann Kužel von Zerawitz eine ihm nahestehende Person ernennen. 50  Zbyněk gehörte zu jenen Adeligen, die Peter von Krawarn infolge des Abkommens vom 28. Oktober erfolgreich für die katholische Seite gewinnen konnte, doch war man sich offenbar unsicher, ob dieser dem katholischen Glauben auch treu bleiben würde. 51  Diese Vereinbarung bedeutet eigentlich ein Privileg, da böhmische und mährische Adelige bei Erblosigkeit auch ihre Allodialgüter nicht frei vermachen durften, da diese dem König heimfallen sollten. Nur einzelne Adelige erwarben die persönliche Erlaubnis, alle ihre Güter frei vermachen zu dürfen, wozu in der Regel eine eigene Urkunde ausgestellt wurde – vgl. z. B. Reg. Imp. XI/1 Nr. 3879 (1419 Mai 31, Kaschau; König Sigismund für Johann von Neuhaus/Hradec); Reg. Imp. XI NB/1 73f. Nr. 11 (1419 Dezember 30, Brünn; König Sigismund für Peter Gewser von Mohelno); Státní oblastní archiv Třeboň [Staatliches Gebietsarchiv Wittingau], Bestand Cizí rody Třeboň [Fremde Familien Wittingau], Inv. Nr. 120, Kart. 96, Sign. z Žeravic 1 (1427 Juni 30, Wien; Herzog Albrecht V. für Johann Kužel von Zerawitz). 52  So noch Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1224; Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 33. 53   Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 262.

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Es lässt sich annehmen, dass Peter die nicht völlig ungünstige Form seiner Kapitulation den Schiedsleuten zu verdanken hatte; besonders seinem Verwandten Beneš von Krawarn, der auch zu einem der Vormünder werden sollte. Hätte König Sigismund die Bedingungen für Peters Unterwerfung selbst festgelegt, wären sie höchstwahrscheinlich weniger günstig ausgefallen. Der König hätte Peter ja auch exemplarisch und mit einer umfangreichen Güterkonfiskation bestrafen können. Das Engagement der Schiedsleute und die Bevorzugung einer nicht allzu drastischen Unterwerfung, die durch Vertragssicherungen und Bürgen garantiert wurde, erhöhten jedoch die Chance, dass Peter wohl langfristig an der königlichen Seite bleiben und seine Güter sowie seinen politischen Einfluss in den königlichen Dienst stellen würde.

4. Das Wirken Peters von Krawarn als Landeshauptmann König Sigismunds und Herzog Albrechts V. von Österreich (November 1421 bis Dezember 1424) Die Entscheidung Sigismunds, im Herbst 1421 eine relativ milde schiedsrichterliche Versöhnung mit Peter von Krawarn zu erreichen, diese aber vertraglich genügend abzusichern, erwies sich bald als sehr umsichtig, denn im Unterschied zum Jahresende 1419/20 und zum Frühling 1421 war die neuerliche Unterwerfung Peters wesentlich dauerhafter. Nachdem Sigismund im Jänner 1422 die bitteren Niederlagen bei Kuttenberg und Deutschbrod/Havlíčkův Brod erlitten hatte, nutzten viele mährische Adelige die Schwächung des Königs, um die Landtagsbeschlüsse vom November 1421 zu ignorieren und zum Hussitismus zurückzukehren. So kam es im Jahr 1422 zum sukzessiven Wiederaufbau der hussitischen Adelspartei in Mähren, wobei König Sigismund bis zu seinem Rückzug nach Ungarn Ende April 1422 und danach seine Parteigänger mit Bischof Johann dem Eisernen an der Spitze versuchten, die abtrünnigen Adeligen im täglichen Kampf zu schlagen54. Die Kriegsaktionen in Mähren im Laufe des Jahres 1422 sind – abgesehen vom Überfall auf die Stadt Jamnitz/Jemnice, der Eroberung von Mährisch Neustadt/ Uničov durch die hussitische Partei sowie von der Belagerung von Ungarisch Ostra durch Sigismund – nur in der Barockhistoriographie überliefert, die zwar heute verschollene mährische Chroniken und Annalen zitiert, gleichzeitig aber unzählige Ungenauigkeiten, Fehler und unbegründete Konstruktionen enthält. Nach Tomáš Pešina von Čechorod seien vor allem die Herren von Kunstadt/Kunštát und die Herren von Boskowitz/Boskovice auf die hussitische Seite übergangen, weswegen ihre Burgen nördlich von Brünn durch die bischöflichen Truppen belagert worden seien55. Pešina berichtet auch von der Belagerung der Burg Ratschitz/Račice zu diesem Zeitpunkt. Da sich diese damals aber im Besitz Peters von Krawarn befand, kann die Angabe kaum stimmen56. Peter von Krawarn blieb in dieser Zeit treu an der Seite Sigismunds. Es mag überraschen, dass Sigismund ihn bereits im Mai 1422 für so ergeben hielt, dass er ihn – trotz der 54  Zur Lage in Mähren im Jahr 1422 siehe Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 296–302; Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 36–54. 55  Thomas Joannes Pessina de Czechorod, Mars Moravicus (Pragae 1677) 480–492. 56  Zu Ratschitz siehe Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 155. Baletka bezweifelt die Angabe Pešinas nicht. Aus dem im Abschnitt 5 besprochenen und im Anhang Nr. 5 edierten Vernehmungsprotokoll vom Dezember 1424 ergibt sich jedoch, dass diese Burg auch im Jahr 1424 Peter von Krawarn gehörte. Ein Angriff Bischof Johanns auf ein Gut Peters von Krawarn ist im Frühling 1422 kaum vorstellbar, da Peter zu dieser Zeit zur katholischen Partei gehörte.



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früheren Treubrüche – statt Wilhelm von Pernstein zum mährischen Landeshauptmann bestellte. Der Historiker Josef Válka begründete diese Maßnahme damit, dass der König den Einfluss Peters auf viele andere Adelige und Adelsfamilien in Mähren, die außergewöhnliche Ausdehnung seiner Güter sowie den Umfang seiner niederadeligen Klientel ausnützen wollte. Vielleicht spielte dabei auch die Motivation eine Rolle, Peter durch das prestigeträchtige Amt noch fester an den König zu binden57. Die Entscheidung Sigismunds kann allerdings auch dadurch beschleunigt worden sein, dass Peter noch kurz vor seiner Bestellung die königlichen Interessen in Mähren vorbildlich verteidigte. Als in der zweiten Aprilhälfte 1422 König Sigismund die erfolglose Belagerung der Burg und Stadt Ungarisch Ostra in Südostmähren beendete, brach in Nordostmähren ein polnisch-litauisches Heer unter dem litauischen Prinzen Sigismund Korybut ein, der von seinem Verwandten, Großfürst Witold von Litauen, welchem die Hussiten die böhmische Krone angeboten hatten, nach Böhmen ausgesandt worden war58. Ob König Sigismund den mährischen Kriegsschauplatz verließ, um den Zusammenprall mit Korybuts Heer zu vermeiden59, oder aber, weil er zur Wiener Hochzeit seiner Tochter Elisabeth eilte, bleibt unklar60. Auf jeden Fall versuchte Korybut energisch, die Landesherrschaft in Mähren zu übernehmen. Ende April soll er sogar versucht haben, die Stadt Olmütz zu erobern, was ihm aber nicht gelang. Allerdings nahm er zumindest das in der Nähe gelegene Mährisch Neustadt ein, wo eine hussitische Besatzung installiert wurde61. Im Tiroler Landesarchiv ist jedoch eine hoch interessante Quelle überliefert, die im Zusammenhang mit dem Einzug Korybuts nach Mähren entstanden war und in der Forschung noch nicht berücksichtigt wurde: ein lediglich mit Tagesdatum datierter Bericht über ein Treffen zwischen Korybut und den Vertretern der königstreuen Partei in Böhmen und Mähren vor der Stadtmauer von Olmütz62. Seinem Inhalt nach kann das Stück nur 57   Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 50–52, betonte zu Recht, dass nicht die Unterwerfung im November 1421, sondern erst die Ernennung Peters zum Landeshauptmann seine endgültige Anbindung an Sigismund bedeutete. 58  Zu dem Einzug Korybuts siehe Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1252f.; detailliert Jerzy Grygiel, Zygmunt Korybutowicz. Litewski książę w husyckich Czechach (ok. 1395 – wrzesień 1435) [Sigismund Korybut. Ein litauischer Fürst im hussitischen Böhmen (ca. 1395–Herbst 1435)] (Kraków 2016) 66–70. 59   Fast in der gesamten Forschung wird seit dem 19. Jahrhundert irrtümlich angegeben, dass König Sigismund zunächst Sigismund Korybut entgegen reiste, um seinen Einmarsch aufzuhalten. So wurde sein mutmaßlicher Aufenthalt am 26. April 1422 in Nordostmähren interpretiert. Der Ausstellungsort Alba Ecclesia heißt hier jedoch nicht Mährisch Weißkirchen/Hranice, sondern Weißkirchen in Ungarn, i. e. Holitsch/Holíč. Das bedeutet, dass Sigismund nach Beendigung der Belagerung von Ungarisch Ostra Mähren eilends verließ. Zur Identifizierung des Ausstellungsortes Alba Ecclesia siehe Reg. Imp. XI NB/1 153–155 Nr. 95, hier 154. 60  Die Hochzeit sollte ursprünglich am 26. April 1422 stattfinden, wurde jedoch auf den 3. Mai verschoben; siehe Daniela Dvořáková, Alžbeta Luxemburská, Žigmundova dcéra, v rokoch 1438–1442 [Elisabeth von Luxemburg, die Tochter Sigismunds, in den Jahren 1438–1442]. Historie – otázky – problémy 3/2 (2011) 143–159, hier 144; Elbel–Bárta–Ziegler, Die Heirat (wie Anm. 32) 128. 61   Zum Versuch Sigismund Korybuts Olmütz zu erobern, siehe jüngst Bohdan Kaňák, Město a husitství [Die Stadt und der Hussitismus], in: Dějiny Olomouce 1 [Geschichte von Olmütz 1], hg. von Jindřich Schulz (Olomouc 2009) 187–193, hier 189; zur Eroberung von Mährisch Neustadt siehe Bohdan Kaňák, Za války markrabat a pod vlivem husitství i utrakvismu (1375–1479) [Während des Markgrafenkriegs und unter dem Einfluss von Hussitismus und Utraquismus (1374–1479)], in: Uničov: historie moravského města [Mährisch Neustadt: Geschichte einer mährischen Stadt] hg. von Jana Burešová et al. (Uničov 2013) 75–99, hier 84f. 62   Siehe TLA, Fridericiana 37/8. Das Tagesdatum lautet proxima feria quarta ante Philippi et Iacobi, ein Archivar hat das Datum mit Bleistift als (1437) Apr. 24 aufgelöst. Unter diesem Datum ist nun das Stück im Bestand Fridericiana eingeordnet.

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ins Jahr 1422 gehören und somit auf den 29. April dieses Jahres datiert werden. Als Vertreter des königstreuen Adels aus Westböhmen tritt hier Wilhelm von Luditz/Žlutice auf, während Peter von Krawarn für die königliche Partei in Mähren spricht. Laut diesem Bericht wurden die katholischen Herren von Sigismund Korybut nach Olmütz eingeladen. Dass sie dieser Einladung Folge leisteten, konnte durch König Sigismund natürlich als ein (erneuter) Treubruch gedeutet werden. Allerdings führt der Bericht an, dass beide Adelige Korybut als einen Verweser von Böhmen und Mähren dezidiert abgelehnt und dessen Bestreben, den Frieden in den böhmischen Ländern wiederherzustellen, mit den Worten abgewiesen hätten, er sollte am besten gleich heimkehren63. Es ist unklar, inwieweit der Bericht objektiv ist und ob Wilhelm und Peter tatsächlich so entschlossen die königlichen Interessen verteidigten. Wahrscheinlich handelte es sich um einen „offiziellen“, für den König bestimmten Bericht bzw. um die Abschrift eines solchen für die Habsburger64, wodurch die starke Betonung der Treue und Entschlossenheit der königlichen Parteigänger erklärbar ist, auch wenn sie tatsächlich nicht so entschlossen gewesen sein mochten. Die Berichterstatter mussten sich ja schließlich verteidigen, überhaupt mit Korybut verhandelt zu haben. Der Bericht klingt jedoch überzeugend, und vermutlich hat die Haltung Peters von Krawarn während des Treffens mit Sigismund Korybut die Entscheidung des Königs beschleunigt, Peter (wieder) zum Landeshauptmann von Mähren zu ernennen. Am 6. Mai 1422 beauftragte Sigismund in Pressburg jedenfalls zwei seiner böhmischen Räte, Wenzel von Duba zu Lischna und Johann von Riesenburg zu Skály, nach Mähren zu reisen und Peter zum Landeshauptmann zu bestellen65. Die Ernennung dürfte dann problemlos erfolgt sein. Am 4. Juli 1422 sandte Sigismund seinem Landeshauptmann ein Mandat, dass dieser allen gegen den König und die Kirche auftretenden Personen das Landesrecht verweigern soll66. Über Peters Tätigkeit als Landeshauptmann sind wir aus den Quellen kaum informiert. Eine vereinzelte Urkunde vom Mai 1423 beweist jedoch, dass Peter sich am täglichen Krieg gegen die hussitische Adelspartei beteiligte: während der Belagerung der Burg Namiescht/Náměšť [na Hané] durch Peter von Krawarn, Wenzel von Duba und Bischof Johann den Eisernen erschien Ctibor von Zinnburg/Cimburk zu Drahotusch/Dra­hotuše in ihrem Lager, der hier unter ihrer Vermittlung mit dem König Frieden schloss und dem Landfrieden vom November 1421 beitrat67. 63   Siehe die angebliche Antwort Peters von Krawarn ebd.: Super isto dominus Petrus sibi respondit, quod semper fuit contra tales enormitates et stetit pro bono terre et hodierna die stat et anhelat. Et aliter vos, dux Sigismunde, nobis pacem in terra nullomodo procurare poteritis, nisi de terra illa recedatis et dominum nostrum hereditarium [PE: König Sigismund], nos et terram illam sine culpa non dampnificetis, quia nos circa graciam dicti domini nostri sicut dominum nostrum naturalem manere et sibi assistere volumus. 64   Die Überlieferung im TLA deutet darauf hin, dass es sich vielleicht um eine Kopie des Berichtes für Herzog Albrecht V. von Österreich oder evtl. für Friedrich IV. von Österreich-Tirol handeln könnte. Aus inhaltlichen Gründen wäre Albrecht V. als Empfänger viel naheliegender, da er als Sigismunds Schwiegersohn und Statthalter in Mähren die Entwicklung in diesem Land aufmerksam beobachten musste. Innsbruck als Überlieferungsort würde jedoch eher für Friedrich IV. sprechen (allerdings ist zu beachten, dass ein Teil des habsburgischen Hausarchivs unter Kaiser Maximilian I. von Wien nach Innsbruck gebracht wurde). 65   Siehe Archiv český, čili Staré písemné památky české i morawské [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren] 3, ed. František Palacký (Praha 1844) 494f. Nr. 224; vgl. Reg. Imp. XI NB/3 112f. Nr. 53. 66  Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 344 Nr. 14; vgl. Reg. Imp. XI NB/3 113f. Nr. 54. 67   Archiv český 3 (wie Anm. 65) 282 Nr. 16 (der erhaltene Reversbrief Ctibors); Reg. Imp. XI NB/3 137 Nr. 77a (das rekonstruierte Deperditum Bischof Johanns, Peters von Krawarn und Wenzels von Duba).



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Trotz dieses Ereignisses erlitt die Partei Sigismunds im Sommer 1423 in Mähren große Verluste. Im Juni verloren die Königstreuen unter der Leitung Bischof Johanns die Schlacht gegen das vereinigte Prager-ostböhmische Heer bei Kremsier/Kroměříž, wo­ raufhin die Hussiten die Residenzstadt der Bischöfe von Olmütz einnahmen68. Der Name Peters von Krawarn wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, seine Teilnahme an der Schlacht ist trotzdem nicht auszuschließen69. In den späten Sommer und Herbst 1423 fällt dann der mährische Kriegszug Jan Žižkas, der zumindest in der Gegend von Iglau/ Jihlava und Teltsch/Telč, vielleicht sogar tiefer im Land operierte70. Der Bischof und der Landeshauptmann mit der ausgedünnten königlichen Partei waren nicht imstande, das Land gegen die Übermacht der böhmischen Hussiten zu verteidigen. Diese Entwicklung beschleunigte die seit dem Herbst 1421 laufenden Verhandlungen zwischen König Sigismund und Herzog Albrecht V. von Österreich, der offensichtlich mit den finanziellen Bedingungen seiner Heirat mit Elisabeth von Luxemburg unzufrieden war71. Albrecht hatte die ungünstigen Konditionen der Heirat nur deswegen akzeptiert, um das für ihn strategisch wichtige Heiratsprojekt nicht zu bedrohen. Bereits im Frühjahr 1422 schien er jedoch eine Revision der Heiratsverträge verlangt zu haben, wobei er als Absicherung der Heimsteuer und anderer Schulden Sigismunds ihm gegenüber die Markgrafschaft Mähren forderte. Sigismund hatte ihm im März 1422 in Nikolsburg das Statthalteramt in Mähren verliehen, was aber Albrecht nicht genügte, sodass er die Statthalterschaft gar nicht antrat72. Im Februar 1423 schenkte Sigismund schließlich Albrecht und Elisabeth die Markgrafschaft Mähren, wobei er sich jedoch etwa ein Viertel bis ein 68  Von den zeitgenössischen Chronisten bietet lediglich Chronicon veteris Collegiati Pragensis, ed. Markéta Klosová, in: Staré letopisy české. 2. Východočeská větev a některé související texty [Die Alten böhmischen Annalen. 2. Der ostböhmische Zweig und einige zusammenhängende Texte], ed. Alena M. Černá–Petr Čornej–Markéta Klosová (Fontes rerum Bohemicarum. Series nova 3, Praha 2018) 77–126, hier 98, eine Nachricht über die Schlacht. Aus der Literatur siehe vor allem Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 304; Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1293; Čornej, Velké dějiny (wie Anm. 14) 326f., 463; Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 56. Die Darstellung der Ereignisse bei den einzelnen Autoren variiert hinsichtlich der aus der Barockhistoriographie übernommenen Details. 69  Chronicon veteris Collegiati Pragensis, ed. Klosová (wie Anm. 68) 98, nennt neben Bischof Johann und Herzog Přemek von Troppau nur jene katholischen Adeligen aus Mähren, die bei Kremsier gefangen genommen wurden: Johann von Lichtenburg zu Vöttau/Bítov und Georg von Sternberg zu Lukau/Lukov. 70   Der Kriegszug Žižkas nach Mähren wird in einer späten Textvariante der Alten böhmischen Annalen (Handschrift M; hier jedoch zum Frühjahr 1422) und dann vor allem in der Barockhistoriographie (hier bereits zum Spätsommer und Herbst 1423) detailliert dargestellt. In beiden Fällen ist jedoch der historische Kern durch die hussitischen Feldzüge der späten 1420er und der frühen 1430er Jahre kontaminiert. In den zeitgenössischen Quellen ist lediglich ein Scharmützel mit der Besatzung Iglaus vor der Stadtmauer und die Belagerung von Teltsch belegt. Siehe dazu Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1299f.; Čornej, Velké dějiny (wie Anm. 14) 229–231, und Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 66–69; jüngst detailliert Petr Čornej, Jan Žižka. Život a doba husitského válečníka [Jan Žižka. Leben und Zeitalter eines hussitischen Heerführers] (Praha 2019) 533–541. 71   Der folgende Absatz folgt der Studie Elbel–Bárta–Ziegler, Die Heirat (wie Anm. 32) 123–133, wo die Übergabe Mährens an Herzog Albrecht als eine Revision der für Albrecht ungünstigen Heiratsverträge dargestellt wird. Die ältere Forschung wertete die Übergabe Mährens an Albrecht vielmehr als ein Ergebnis der Bemühung König Sigismunds, seinen Schwiegersohn in den Hussitenkrieg stärker einzubeziehen. 72  Die Edition des Nikolsburger Vertrags zwischen Sigismund und Albrecht vom 23. März 1422 lieferte Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 341f. Nr. 12. Siehe dazu ebd. 298f.; Ferdinand Stöller, Österreich im Kriege gegen die Hussiten (1420–1436). JbLkNÖ N. F. 22 (1929) 1–87, hier 19; Válka, Husitství na Moravě (wie Anm. 20) 46f. Ansätze zu einer Neubetrachtung bot Karl Rudolf, Die Markgrafschaft Mähren und Herzog Albrecht V. von Österreich (Diss. Salzburg 1973) 111, an; weiter in diese Richtung gingen Elbel– Bárta–Ziegler, Die Heirat (wie Anm. 32) 125–127.

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Drittel des Landes entlang der ungarischen Grenze vorbehielt, um dieses weiterhin an das Königreich Ungarn zu binden73. Auch dieser Lösung war kein Erfolg beschieden, sei es wegen der Unzufriedenheit Albrechts oder wegen des zu erwartenden Widerstandes des mährischen und böhmischen Adels. Nach den großen Erfolgen der hussitischen Heere im Sommer 1423 in Mähren musste Sigismund jedoch nachgeben und Albrecht am 1. Oktober 1423 das ganze Land abtreten; dem König blieben lediglich zwei ostmährische Burgen mit verhältnismäßig großen Herrschaften vorbehalten74. Mit dieser Lösung war Albrecht offensichtlich zufrieden. Am 4. Februar 1424 übernahm er in Brünn die Regierung, indem er sich vom katholischen bzw. königstreuen Teil des Landadels huldigen ließ75. Unter diesen Adeligen dürfte sich auch Peter von Krawarn befunden haben, da Albrecht ihn im Amt beließ und zunächst mit ihm offensichtlich gut auskam. Herzog Albrecht begann als Markgraf von Mähren, die hussitische Partei im Land energisch zu bekämpfen. Nach dem ersten Aufenthalt in Brünn, der höchstwahrscheinlich auch in einen Kriegszug gegen die mährischen Hussiten mündete, leitete er im Sommer und im Spätherbst 1424 zwei große Feldzüge nach Mähren76. Die Chronologie von Albrechts Kriegszügen im Jahr 1424 muss hier etwas ausführlicher besprochen werden, weil gerade während dieser Kriegszüge ein Streit zwischen Peter von Krawarn und dem Herzog ausbrechen sollte, der uns im folgenden Abschnitt beschäftigen wird. Nach dem ersten Aufenthalt Albrechts in Brünn am 4. Februar gibt es im herzoglichen Itinerar eine Lücke; der Herzog urkundete erst wieder am 10.–16. März in Brünn 73   Edition bei Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 345f. Nr. 15. Vgl. dazu ebd. 302f.; Rudolf, Markgrafschaft (wie Anm. 72) 124–134; Válka, Husitství (wie Anm. 20) 60; Elbel–Bárta–Ziegler, Die Heirat (wie Anm. 32) 131. 74  Edition bei Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 346–349 Nr. 16. Vgl. ebd. 305f.; Rudolf, Markgrafschaft (wie Anm. 72) 137–148; Válka, Husitství (wie Anm. 20) 59–61; Elbel–Bárta–Ziegler, Die Heirat (wie Anm. 32) 132f. 75  Die einzige Quelle für Albrechts Regierungsübernahme ist die Trebitscher Fortsetzung der Chronik des Kosmas von Prag, die früher ungenau als Trübauer Chronik bezeichnet wurde; siehe Johann Georg Meinert, Die Tribauer Handschrift. Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 10 (1819) 65f., 90–92, 100–103, hier 92: Anno domini MCCCCXXIIII Albertus, dux Austriae, ex donacione Sigismundi, Romanorum, Hungariae et Boemiae regis, intromisit se de marchionatu Moraviae et venit Brunam personaliter feria VI post purificationem S. Mariae, hoc est in crastino s. Blasii martiris et pontificis. Die Huldigung eines Teils des Adels ist nicht erwähnt, kann aber logisch angenommen werden. Der Termin der Huldigungsreise Albrechts nach Mähren wurde offensichtlich im Anschluss an das geplante Treffen zwischen den katholischen und hussitischen Theologen gewählt, das in Brünn unter dem Patronat von König Sigismund am 2. Februar stattfinden sollte. Deswegen begleitete auch eine Gesandtschaft der Wiener Universität Albrecht nach Brünn, die aber dort keine Gesprächspartner fand, weil die hussitische Seite ihre Vorstellung einer Disputation nicht durchsetzen konnte und somit das Treffen boykottierte. Nach einem ungedruckten Bericht des ebenfalls anwesenden Thomas Ebendorfer kamen von der hussitischen Seite nur etliche clientes rustici (wohl niederadelige Hussiten?). Siehe Dušan Coufal, Polemika o kalich mezi teologií a politikou 1414–1431. Předpoklady basilejské disputace o prvním z pražských artikulů [Die Diskussion um den Laienkelch zwischen Theologie und Politik 1414–1431. Die Voraussetzungen der Basler Disputation über den ersten der Prager Artikel] (Praha 2012) 183f., der den Bericht Ebendorfers in die Literatur einführte. 76  Siehe Godfrid Edmund Friess, Herzog Albrecht V. von Österreich und die Husiten. Programm des k. k. Ober-Gymnasiums der Benedictiner zu Seitenstetten 17 (1883) 1–77, hier 29–34; Stöller, Österreich (wie Anm. 72) 25–29; Válka, Husitství (wie Anm. 20) 72–77; Petr Elbel, Brno mezi katolickými pevnostmi husitské Moravy [Brünn unter den katholischen Festungen des hussitischen Mähren], in: Dějiny Brna 2. Středověké město [Geschichte von Brünn 2. Die mittelalterliche Stadt], hg. von Libor Jan (Brno 2013) 119–185, hier 145f.; Petr Elbel, Morava [Mähren], in: Husitské století [Das hussitische Jahrhundert], hg. von Pavlína Cermanová–Robert Novotný–Pavel Soukup (Praha 2014) 189–223, hier 203f.



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bzw. auf der Burg Spielberg oberhalb von Brünn77. Es ist naheliegend, dass Albrecht die Zeit dazwischen mit Kriegsaktionen gegen die mährischen Hussiten verbrachte, über die wir jedoch nichts Näheres erfahren. Nach dem 16. März kehrte Albrecht nach Wien zurück, wo er gleich damit begann, einen großen Kriegszug nach Mähren vorzubereiten, der in den Sommermonaten stattfinden sollte. Er besuchte sogar seinen Schwiegervater in Ungarn, der ihm für sein Kriegsunternehmen ungarische Hilfstruppen zusagte. Anfang Juli versammelte sich das stattliche österreichische Heer mit ungarischen Truppen bei Laa an der Thaya. Der Verlauf des Kriegszugs lässt sich nicht ganz genau rekonstruieren. Das Ziel war hauptsächlich Mittel- und Nordmähren, wo Albrecht Ende Juli die Burg Ottaslawitz/Otaslavice belagerte78, in der zweiten Augusthälfte in Olmütz weilte79 und Anfang September die ab 1422 hussitische Stadt Mährisch Neustadt belagerte80. Nach der österreichischen Chronistik war der Zug sehr erfolgreich, und die meisten hussitischen Landherren unterwarfen sich dem Herzog und der katholischen Kirche, in die sie durch den anwesenden Kardinal Branda Castiglione wieder aufgenommen wurden81. In mancher Hinsicht wiederholte sich das Szenario vom Herbst 1421, 77 Gerda Koller, Princeps in ecclesia. Untersuchungen zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich (AÖG 124, Wien–Graz 1964) 187f. Nr. 4 (10. März 1424, zu Brünn); Melk, Stiftsarchiv, sub dato (16. März 1424, auf dem Spilberg ob Brunn). 78  Listář a listinář Oldřicha z Rožmberka 1. 1418–1437 [Urkundenbuch und Epistolar Ulrichs von Rosenberg 1. 1418–1437], ed. Blažena Rynešová (Praha 1929) 62f. Nr. 88 (26. Juli 1424, in campo iuxta Ottasslawicz). 79  Regesta listin z lichtenštejnského archivu ve Vaduzu z let 1173–1526 [Regesten der Urkunden des Liechtensteinschen Archivs in Vaduz aus den Jahren 1173–1526], bearb. von Metoděj Zemek–Adolf Turek. Sborník archivních prací 33 (1983) 149–296, 483–527, hier 254 Nr. 316 (20. August 1424, Olmütz); Eduard Maria Fürst von Lichnowsky–Ernst Birk, Geschichte des Hauses Habsburg 5. Vom Regierungsantritt Herzog Albrecht IV. bis zum Tode König Albrecht II. (Wien 1841) CIC Nr. 2221 (21. August 1424, Olmütz). 80  Dass Albrecht Mährisch Neustadt belagerte, belegt vor allem das unten besprochene Vernehmungsprotokoll Peters von Krawarn vom Dezember 1424; siehe Anhang Nr. 5 sowie die Analyse weiter unten im Abschnitt 5. Dazu kommt aber noch eine andere Quelle: die Kammeramtsrechnungen der Stadt Wien, die auszugsweise bei Johann Evangelist Schlager, Wiener-Skizzen aus dem Mittelalter 1 (Wien 1835), abgedruckt wurden. Ebd. 92 ist zum Jahr 1424 „der erste Feldzug nach [Mährisch-]Neustadt“ belegt, an welchem die Wiener Truppen ursprünglich teilnehmen sollten, in der Tat jedoch nur Laa erreichten und wieder heimkehrten: Ausgaben auf den zug zu den hussen und zerung mit dem purgermeister gen Laa zu meine Herren. Item vor erst. So hat der purgermaister und andere Herren der stat, dy zu meine herren gen Laa geritten sind, und haben gehabt 27 pferd facit … 26tt. So pringt die erste raizz, dy der purgermaister getan wolt haben zu meine Herren für das Neustetl und kam unzt gen Laa … 29tt. Bei der Belagerung von Mährisch Neustadt war auch Bischof Johann von Olmütz mit seinen Vasallen anwesend, wie seine Urkunde für den bischöflichen Lehensmann Laurenz von Kreschitz/Křešice zu Hermersdorf/Kamenná Horka belegt, die am 6. September 1424 im Feld vor Mährisch Neustadt ausgestellt wurde; siehe Opava, Zemský archiv – pobočka Olomouc [Troppau, Landesarchiv – Zweigstelle Olmütz], Bestand Arcibiskupství Olomouc [Erzbistum Olmütz], Kopialbuch G, pag. 75. Diese Urkunde ist die einzige Stütze zur genauen Datierung der Belagerung von Mährisch Neustadt. 81  Siehe vor allem die detaillierte Darstellung in der Kleinen Klosterneuburger Chronik – Hartmann Josef Zeibig, Die kleine Klosterneuburger Chronik (1322 bis 1428). Zugleich Nr. I der „Monumenta Claustroneoburgensia“. AÖG 7 (1851) 227–268, hier 248. Etwas kürzer berichtet uns Continuatio Claustroneoburgensis quinta, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 9 (Hannover 1851) 735–742, hier 739. In den historiographischen Werken Thomas Ebendorfers sind die Angaben zu diesem Kriegszug an mehreren Orten verstreut und meistens inkorrekt datiert. Nach dem Barockhistoriker Pessina de Czechorod, Mars Moravicus (wie Anm. 55) 502f., soll Albrecht im Sommer 1424 auch in Südwestmähren gekämpft haben, wo er sukzessive Jaispitz/ Jevišovice, Mährisch Kromau, Eibenschütz/Ivančice, [Ober-]Kaunitz/[Horní] Kounice, Valeč und einige andere Orte erobert haben soll. Das ist im Rahmen des Sommerkriegszugs eher unrealistisch. Es ist jedoch möglich, dass Albrecht in dieser Gegend im Februar und Anfang März gekämpft haben kann, obwohl einige Orte damals wahrscheinlich noch nicht hussitisch waren.

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obwohl der aktuelle Erfolg Albrechts noch kürzer andauern sollte als zuvor jener Sigismunds. Schon während der Belagerung von Mährisch Neustadt erhielt Albrecht nämlich Informationen über einen bevorstehenden großen Feldzug der Hussiten nach Mähren, an dem alle hussitischen Fraktionen teilnehmen sollten. Diese Mitteilung brachte ihn dazu, die Belagerung zu beenden und über Brünn nach Österreich zurückzukehren82. Der hussitische Kriegszug begann Ende September, wurde am 11. Oktober jedoch durch den Tod Jan Žižkas bei Primislau/Přibyslav kurz unterbrochen. Dennoch setzte sich dieser bald nach Mähren fort, wo die Hussiten via dem im Besitz von Peter von Krawarn befindlichen Groß Meseritsch/Velké Meziříčí nach Eibenschütz zogen und diese markgräfliche Stadt eroberten. Von dort zogen sie an Brünn vorbei nach Lettowitz/Letovice und Boskowitz/Boskovice und eroberten beide Städte. Der Feldzug wurde mit der Eroberung der bischöflichen Stadt Müglitz/Mohelnice in Nordmähren erfolgreich abgeschlossen, wo die männliche Bevölkerung massakriert wurde83. Obwohl Albrecht vor dem hussitischen Einfall das Land verlassen hatte, schrieb er bereits am 9. Oktober von Wien aus dem Stadtrat von Znaim, dass er mit einem großen Heer nach Mähren zurückkommen werde, falls die Hussiten tatsächlich das Land angreifen sollten84. Der letzte Kriegszug des Jahres 1424 wurde jedoch erst in der zweiten Novemberhälfte realisiert. Während dieser Expedition urkundete Albrecht nur in Brünn, und zwar am 20. und 23. November85, am 3. und 4. Dezember86 und schließlich am 13. und 16. Dezember87. In der Zeit dazwischen müssen die eigentlichen Kriegsaktionen verlaufen sein, von denen die Kleine Klosterneuburger Chronik lediglich den Zug nach Hohenstadt/Zábřeh in Nordmähren kennt, die erfolgreich eingenommen worden sei. Danach sei der Kriegszug wegen der starken Kälte beendet worden88. 82  Die Quelle dafür ist wiederum das Vernehmungsprotokoll Peters von Krawarn; siehe Anhang Nr. 5 bzw. die Analyse im Abschnitt 5. Der Aufenthalt Albrechts in Brünn ist zum 27. September belegt, als er den neuen Stadtrat installierte; siehe Pamětní kniha města Brna z let 1391–1515 [Gedenkbuch der Stadt Brünn aus den Jahren 1391–1515], ed. Miroslav Flodr (Prameny dějin moravských 19, Brno 2010) 184 Nr. 488. Am selben Tag war auch Peter von Krawarn in Brünn, hier als Landeshauptmann; siehe Archivy zrušených klášterů moravských a slezských 1. Inventář pergamenů z let 1078–1471 [Die Archive der aufgehobenen Klöster in Mähren und Schlesien 1. Inventar der Pergamenturkunden aus den Jahren 1078–1471], ed. Jindřich Šebánek (Brno 1932) 260 Nr. 1247. 83  Der Verlauf des Kriegszugs wird in Chronicon veteris Collegiati Pragensis, ed. Klosová (wie Anm. 68) 100f., ziemlich ausführlich beschrieben. Die Klosterneuburger Chronistik widmet dem hussitischen Kriegszug nicht so viel Platz, führt jedoch an, dass viele mährische Adelige, die durch Albrecht zum Gehorsam gezwungen worden waren, nun wieder zum Hussitismus zurückkehrten; siehe Zeibig, Kleine Klosterneuburger Chronik (wie Anm. 81) 248; Continuatio Claustroneoburgensis quinta, ed. Wattenbach (wie Anm. 81) 739. Vgl. zu diesem Kriegszug Šmahel, Hussitische Revolution 2 (wie Anm. 14) 1334–1338; mit dem Schwerpunkt auf dem Tod Žižkas: Čornej, Jan Žižka (wie Anm. 70) 572–579. 84  Brno, Moravský zemský archiv [Brünn, Mährisches Landesarchiv], Bestand E 6 – Benediktini Rajhrad [Benediktiner Raigern], Inv. Nr. 125, Sign. A g 97. 85  Brno, Archiv města [Brünn, Stadtarchiv], Bestand A1/1 – Město Brno, Sbírka listin, mandátů a listů [Stadt Brünn, Sammlung von Urkunden, Mandaten und Briefen], sub dato (20. November 1424, Burg Spielberg); České Budějovice, Státní okresní archiv [Budweis, Staatliches Bezirksarchiv], Bestand Archiv města Českých Budějovic [Stadtarchiv Budweis], Chronologische Reihe, Sign. 1424/2 (23. November 1424). 86   Brno, Moravský zemský archiv, Bestand G 2 – Nová sbírka [Neue Sammlung], Sign. 662/14 (3. Dezember 1424, Brünn); Anhang Nr. 4 (1424 Dezember 4, Brünn). 87  Ebd. Bestand E 6 – Benediktini Rajhrad, Sign. D G 17 (13. Dezember 1424, Brünn); Olomouc, Státní okresní archiv [Olmütz, Staatliches Bezirksarchiv], Bestand Archiv města Olomouce [Stadtarchiv Olmütz], Urkunde Nr. 108 (16. Dezember 1424, Brünn; im Archivinventar unter dem falsch aufgelösten Datum 21. Oktober 1424). 88  Zeibig, Kleine Klosterneuburger Chronik (wie Anm. 81) 248. Die Eroberung von Hohenstadt durch



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Früher vertrat ich die Meinung, dass die Einnahme von Hohenstadt bereits während des Sommerfeldzugs – wohl Ende August oder Anfang September vor der Belagerung von Mährisch Neustadt – stattgefunden haben dürfte89. Die Datierung in der Kleinen Klosterneuburger Chronik ist jedoch sicherlich korrekt90. Obwohl diese Quelle angibt, dass Hohenstadt einer gewissen Witwe gehört hätte, lässt sich aus anderen Quellen eher ableiten, dass diese Burg und Stadt im Dezember 1420, nach dem Tod Heinrichs von Krawarn zu Plumenau in der Schlacht bei Wyschehrad, durch seine Mutter Katharina, Witwe nach Peter von Krawarn zu Plumenau († 1411), mit allen anderen Gütern Heinrichs an dessen Cousin Peter von Krawarn zu Straßnitz übergeben wurde91. Ein Angriff Herzog Albrechts auf die Stadt Hohenstadt wäre also ein Angriff auf ein Gut Peters von Krawarn gewesen. Das ist im Sommer 1424 kaum vorstellbar, da Peter damals offensichtlich (noch) keine großen Streitigkeiten mit Herzog Albrecht hatte. Dies änderte sich jedoch im Herbst, wie das weiter unten analysierte Schiedsgericht vom 4. Dezember beweist92. Die Einnahme von Hohenstadt durch Albrecht vor diesem Schiedsgericht ist schon deswegen unwahrscheinlich, da sie in einem solchen Fall im erhaltenen Vernehmungsprotokoll Peters von Krawarn erwähnt worden wäre93. Deswegen dürfte ein schneller Kriegszug Albrechts zu Hohenstadt wohl erst in das Intervall zwischen dem 4. und 13. Albrecht kennt auch Thomas Ebendorfer, Chronica Austriae, ed. Alphons Lhotsky (MGH SS rer. Germ. N. S. 13, Berlin–Zürich 1967) 365, der aber kein Datum anführt. Er erwähnt dieses Ereignis bei der kurzen Vorstellung von Kardinallegat Branda Castiglione, der unter anderem an einem Kriegszug gegen die Hussiten fast bis zur polnischen Grenze teilgenommen habe, wo der Herzog die Stadt Hohenstadt und einige Städte des Bischofs von Olmütz erobert habe. Damit lässt sich diese Erwähnung mit den Kriegszügen des Jahres 1424 verbinden; es ist aber unklar, ob mit dem Sommer- oder dem Herbstfeldzug. 89   Elbel, Brno mezi pevnostmi (wie Anm. 76) 145f.; ders., Morava (wie Anm. 76) 203f. Dieser Meinung war auch Ladislav Hosák, Šumpersko za válek husitských [Die Region von Mährisch Schönberg in der Hussitenzeit]. Severní Morava 15 (1967) 40–47, hier 42, der aber den Herbstfeldzug gar nicht erwähnt. Hosák meinte zudem, dass das Heer Albrechts gar nicht die Stadt Hohenstadt, sondern nur die Burg Hohenstein/ Hoštejn erobert haben dürfte. 90 Dies beweisen schon die bereits oben zitierten Kammeramtsrechnungen der Stadt Wien, die einen „zweiten Feldzug [des Jahres 1424] nach Brünn, Olmütz und Hochstadt“ kennen. Siehe Schlager, WienerSkizzen 1 (wie Anm. 80) 92: So pringt die zerrung der anderen raizz, dy der purgermaister und andere herren getan habent gen Brünn, gen Olmüz für die Hochstät … 209tt. Als der „zweite Feldzug“ des Jahres 1424 ist hier offensichtlich der Herbstfeldzug gemeint, denn als „der erste Feldzug“ wird in dieser Quelle eindeutig der Sommerfeldzug zu Mährisch Neustadt bezeichnet; siehe oben Anm. 80. 91  So bereits Leopold Falz, Geschichte der Stadt Hohenstadt von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1900 (Hohenstadt 1920) 12; jüngst Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 128f., 151. Katharina behielt sich ausdrücklich nur das Gut Urtschitz/Určice (bei Proßnitz) als Witwengut vor. Theoretisch wäre es möglich, dass Hohenstadt zum Heiratsgut einer der Schwestern Heinrichs von Krawarn gehört haben könnte: entweder Elisabeth († 1444), die mit Heinrich III. von Rosenberg († 1412) verheiratet war und mit ihm Ulrich II. von Rosenberg zeugte, oder Perchta († 1447), die Gattin Peters von Sternberg († 1420); siehe ebd. 114, 129, 153, 273. Elisabeths Heimsteuer war die mährische Herrschaft Sternberg/Šternberk. Perchtas Heimsteuer ist dagegen nicht bekannt; könnte es vielleicht doch Hohenstadt gewesen sein? Hosák, Šumpersko (wie Anm. 89) 42, meinte, dass in der Kleinen Klosterneuburger Chronik eben Perchta gemeint sein dürfte, korrigierte jedoch im selben Atemzug die Chronik mit der Aussage, dass Perchta keine Rechte über Hohenstadt besessen hätte. In einer Urkunde Perchtas von 1421, durch welche sie sich nach ihrem Übertritt zum Hussitismus mit ihren Gütern unter den Schutz des Prager Bundes stellte, wird Hohenstadt jedenfalls nicht angeführt; siehe Archiv český, čili Staré písemné památky české i morawské [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren] 1, ed. František Palacký (Praha 1840) 149f. Nr. 13. Im Jahr 1434, also noch zu Perchtas Lebzeiten, ist dann schon eindeutig Peter von Krawarn zu Straßnitz als Besitzer von Hohenstadt belegt – Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 269. 92  Siehe unten Abschnitt 5 sowie Anhang Nr. 3–5. 93  Siehe Abschnitt 5 und Anhang Nr. 5.

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Dezember zu datieren sein94. Mit dem Herbstkriegszug Herzog Albrechts erreichen wir jedenfalls die Zeit, in die unser zweites Fallbeispiel fällt.

5. Das Schiedsverfahren zwischen Peter von Krawarn und Herzog Albrecht V. von Österreich im Dezember 1424 Während die schiedsgerichtliche Versöhnung zwischen Peter von Krawarn und Sigismund im Oktober 1421 auch in der zeitgenössischen Chronistik einen Nachhall fand, sind wir nun auf drei diplomatische Quellen angewiesen: zwei Kompromissurkunden der beiden Streitparteien, die die Entscheidung ihres Streites an die gewählten Schiedsrichter übertrugen, und ein während des Schiedsgerichts entstandenes Protokoll über die Vernehmung Peters durch die Schiedsrichter95. Während die beiden Kompromissurkunden am 4. Dezember 1424 ausgestellt wurden, ist das Protokoll undatiert; es dürfte jedoch entweder gleich am selben Tag oder kurz danach entstanden sein. Da kein Schiedsspruch überliefert ist, Peter bald darauf von dem Amt des Landeshauptmanns suspendiert wurde, daraufhin endgültig zur hussitischen Seite überging und bis zu seinem Tod als Hussit auftrat96, ist anzunehmen, dass das Schiedsgericht wohl noch vor seinem Abschluss scheiterte. Im unwahrscheinlichen Fall, dass vielleicht doch ein Schiedsspruch gefällt wurde, muss Peter diesen völlig missachtet haben. Die Kompromissurkunden lassen uns diesmal nicht im Zweifel, dass im Streit zwischen Peter und Herzog Albrecht paritätisch gewählte Schiedsrichter (hier als spruchlet bezeichnet) engagiert wurden: an der Seite Peters waren es Johann von Krawarn zu Titschein/Jičín97 und Emmeram von Doubrawitz98, an der Seite Herzog Albrechts Graf

94   Der kürzeste Weg von Brünn nach Hohenstadt über Boskowitz ist etwa 100 km lang, der Weg über Proßnitz und Olmütz um etwa 20 km länger. Solche Strecken konnte ein Heer in 3–4 Tagen zurücklegen. Da die Einnahme von Hohenstadt nach der Kleinen Klosterneuburger Chronik schnell verlaufen sein soll, konnte der ganze Zug innerhalb von 8–10 Tagen erledigt werden. Es ist auch möglich, dass Herzog Albrecht sein Heer irgendwo in Mittelmähren verließ, um schnell nach Brünn zurückzukehren, und nach dem 4. Dezember den Feldzug fortsetzte. 95   Alle drei Schriftstücke sind in HHStA, AUR 1424 XII 04 als eine archivalische Einheit überliefert. Siehe die Edition unten im Anhang, Nr. 3–5. Vgl. auch zwei Kurzregesten bei Lichnowsky–Birk, Geschichte 5 (wie Anm. 79) CCI Nr. 2248f. In der Literatur wurden immer wieder nur diese Regesten zitiert und interpretiert, weswegen ich auf die Literaturangaben verzichte. Lediglich Stöller, Österreich (wie Anm. 72) 29, scheint das Original gesehen zu haben; auch er bespricht die Quelle jedoch nur sehr kurz. 96  Zu dieser Lebensperiode Peters siehe Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 266–270. Der letzte Auftritt Peters ist die Besiegelung des Landfriedens des mährisch-hussitischen bzw. katholischen Adels mit Herzog Albrecht am 9. September 1434, wodurch Albrecht durch die ganze Landesgemeinde als Markgraf von Mähren anerkannt wurde. Kurz danach dürfte Peter gestorben sein. 97  Zu diesem Mitglied der weitverzweigten Familie, das bis zum Jahr 1429 ständig zur katholischen Seite gehörte, siehe Rolleder, Die Herren von Krawarn (wie Anm. 16) 307–311; Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 238–250. 98  Zu Emmeram, Bruder des uns bereits bekannten Zbyněk, vgl. Hosák, Osovští z Doubravice (wie Anm. 44) 413.



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Johann von Schaunberg, Landmarschall in Österreich99, und Hans von Winden100. Als Obmann, der im Fall der Unstimmigkeit entscheiden sollte, wurde Herzog Přemek von Troppau bestellt, dem wir bereits bei der Versöhnung im Herbst 1421 begegnet sind. Die Schiedsrichter bzw. der Obmann sollten den Schiedsspruch spätestens am 2. Februar 1425 fällen; die Parteien verpflichteten sich zu dessen Annahme. Bis zum Schiedsspruch sollten sie die Gefangenen und die zurückbehaltenen Güter der Gegenpartei vorläufig an die Schiedsleute übergeben. Die Kompromissurkunden regelten noch die Möglichkeit, dass beide Parteien ihre Schiedsrichter nicht nur im Ablebensfall, sondern auch, wenn sie mit ihnen unzufrieden waren, durch neue Schiedsrichter ersetzen durften. Obwohl die Kompromissurkunden somit die Rahmenbedingungen des Schiedsgerichts festsetzen, ergibt sich aus ihnen nicht, ob die Schiedsrichter als arbitri, arbitratores oder amicabiles compositores litis fungieren und somit den Streit nach dem Recht oder der Gerechtigkeit entscheiden bzw. eine friedliche Einigung erzielen sollten. Offensichtlich blieb es dem Ermessen der Schiedsrichter vorbehalten. In der Urkunde Peters von Krawarn sind zusätzlich Zeugen aufgelistet: Peter von Konitz/Konice zu Teinitz/Týnec, Ctibor von Zinnburg zu Křídlo und Georg von Sternberg zu Lukau. Alle drei waren offensichtlich Parteigänger Herzog Albrechts und höchstwahrscheinlich ebenfalls Katholiken. Wie üblich, informieren uns die Kompromissurkunden gar nicht, worum es im Streit zwischen Albrecht und Peter überhaupt ging. Diese Information entnehmen wir dem Vernehmungsprotokoll Peters, das im Folgenden näher betrachtet und im historischem Kontext interpretiert werden soll. Das Protokoll beginnt mit einem umfangreichen Punkt (1)101, in dem die Position Peters von Krawarn und seine Vorwürfe Herzog Albrecht gegenüber ausführlich beleuchtet werden. Peters Aussage zufolge habe er Albrecht während dessen Belagerung von Mährisch Neustadt über die Vereinigung aller hussitischen Fraktionen in Böhmen und die Pläne eines großen Feldzugs nach Mähren informiert, woraufhin sich Albrecht nach Brünn zurückgezogen und dort angekündigt habe, Mähren verlassen zu wollen. Peter und 99   Zu diesem wichtigen Rat Herzog Albrechts siehe Jodok Stülz, Zur Geschichte der Herren und Grafen von Schaunberg (mit Regesten). Denkschriften der phil.-hist. Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 12 (1862) 147–368, hier 202–209. Im Jahr 1424 nahm Johann als herzoglicher Befehlshaber bereits am Sommerfeldzug Albrechts nach Mähren teil. Dies belegen die herzoglichen Schadlosbriefe für Johann von Schaunberg, Reinprecht von Wallsee und Georg von Liechtenstein zu Nikolsburg vom 20. August 1424, Olmütz, in welchen sich Albrecht verpflichtete, den angeführten Adeligen und ihren Truppen alle Schäden zu ersetzen, die ihnen während des Kriegszugs unter dem Befehl Graf Johanns von Schaunberg, seines derzeitigen Hauptmanns, entstünden. Siehe Linz, Oberösterreichisches Landesarchiv, Starhemberger Urkunden, Sign. 958; HHStA, AUR 1424 VIII 20; Sammlungen des Fürsten von und zu Liechtenstein, Hausarchiv, Urkunden 1424 VIII 20; vgl. Regesten bei Stülz, Zur Geschichte 313f. Nr. 798f.; Zemek–Turek, Regesta (wie Anm. 79) 254 Nr. 316. 100   Die wohl aus Westungarn (Winden am See im heutigen Burgenland) stammenden Herren von Winden hatten im 14. und 15. Jahrhundert einen niederösterreichischen und einen steirischen Zweig; ihre Genealogie ist jedoch nicht klar. Mit Wolfgang von Winden als Hofmeister Herzog Albrechts III. diente bereits in den 1360er Jahren kurz ein Mitglied dieser sonst eher wenig bekannten Familie in einer höheren Position am habsburgischen Hof; siehe Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien–München 2002) 51, 59, 224, 343. Der 1424 als Schiedsrichter tätige und im Vernehmungsprotokoll als Rat Albrechts V. bezeichnete Hans könnte wohl dem steirischen Zweig angehört haben und mit dem gleichnamigen steirischen Landeshauptmann identisch gewesen sein, welcher auch in Niederösterreich begütert war. Siehe Helga Schuller, Der steirische Landeshauptmann Hans von Winden (geb. ca. 1350; gest. 2. Juli 1431). Genealogische Notizen. Blätter für Heimatkunde 51 (1977) 65–69, die aber Hans’ Zugehörigkeit zum Rat Herzog Albrechts V. nicht erwähnt. 101  Die in Klammern angeführte Nummerierung einzelner Punkte bezieht sich auf die Edition im Anhang Nr. 5, wo sie durch den Verfasser erfolgte.

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andere mährische Landherren hätten ihn gebeten, im Land zu bleiben oder zumindest starke Truppen in Mähren zu hinterlassen, damit die Hussiten keinen schnellen Einfall ins Land wagen würden. Nichtsdestotrotz sei der Herzog abgezogen. Peter habe Albrecht begleitet und erneut darum gebeten, nicht auf das Land, ihn und seine anderen mährischen Diener zu vergessen. Der Landeshauptmann habe ihn zudem auch an die große Spaltung im mährischen Adel erinnert, die auch Albrecht aufgefallen sein musste, da ihm zahlreiche Herren nicht zu Hilfe gekommen seien. Diese würden Peter noch weniger gehorchen, sobald der Herzog das Land verlassen habe. Albrecht habe daraufhin auf ein mit dem Bischof und einigen Landherren ausgemachtes Treffen in Brünn verwiesen und Peter dazu aufgefordert, die fehlenden Adeligen zu kontaktieren und dorthin zu berufen, was dieser auch getan habe. Leider wird im Protokoll nicht angeführt, ob es sich um einen Landtag oder um die Versammlung des Landesaufgebots handelte und ob diese Versammlung bereits mit dem künftigen Kriegszug Albrechts nach Mähren in Zusammenhang stand, den Albrecht noch im Herbst 1424 veranstalten wollte. Die Aussage Peters setzt mit der Angabe fort, dass das starke hussitische Heer noch vor dieser Versammlung in Mähren eintraf, worüber er den Herzog durch seine Boten einschließlich Emmerams von Doubrawitz laufend informiert habe. Aus dem ersten Punkt ergibt sich das Bild Peters als eines sorgsamen Landeshauptmanns, der die Bedrohung des Landes durch den großen hussitischen Kriegszug minimieren und den Herzog überzeugen wollte, sein militärisches Engagement in Mähren fortzusetzen. Dieses Bild ist natürlich einseitig; es handelt sich um die Perspektive Peters, der die im Protokoll anschließenden Vorwürfe Herzog Albrechts entkräften wollte. Das schnelle Verlassen des Landes durch Albrecht angesichts des erwarteten hussitischen Kriegszugs nach Mähren ist jedoch auch in anderen Quellen belegt, und es lässt sich annehmen, dass seine mährischen Parteigänger seine Abreise sehr erbittert wahrgenommen haben. In weiteren neun Punkten (2–10) stellt das Protokoll im Folgenden die Vorwürfe Herzog Albrechts den Antworten Peters auf die jeweiligen Anklagepunkte gegenüber. Punkt (2) knüpft zeitlich an Punkt (1) an. Der Herzog wirft Peter darin vor, dass er sich von ihm entfremdet habe und bei seiner jüngsten Ankunft in Brünn nicht anwesend gewesen sei, trotz seiner ausdrücklichen Aufforderung und Peters den herzoglichen Räten gegebenen Versprechens. Die Vorwürfe Albrechts beziehen sich auf die Zeit ab dem 20. November 1424, in der er urkundlich in Brünn belegt ist102. In seiner Antwort entgegnet Peter, dass er sich keineswegs vom Herzog entfremdet habe, sondern nach dem Einfall der Hussiten in Mähren noch 14 Tage oder länger in Brünn verblieben sei, um die mährischen Herren zu erwarten und nach den noch fehlenden zu schicken (zum geplanten Treffen in Brünn siehe bereits Punkt 1). Dann seien auch die Räte Herzog Albrechts, Hans von Winden und N. von Hohenberg103, eingetroffen, woraufhin Peter diese und den Bischof darüber informiert habe, dass er zu seinen Gütern reisen wolle, um deren Verteidigung gegen die von Brünn weichenden und dorthin ziehenden Hussiten zu organisieren, aber bei der Ankunft Herzog Albrechts wieder zurück   Siehe oben Anm. 85.   Es dürfte sich höchstwahrscheinlich um den niederösterreichischen Herrn und langjährigen Rat Herzog und König Albrechts V. (II.), Stefan von Hohenberg, gehandelt haben, der bereits 1418 als dessen Rat belegt ist (siehe Reg. Imp. XI/1 197 Nr. 2772) und als solcher bis zum Tod König Albrechts fungierte (Reg. Imp. XII 82 Nr. 340; 211 Nr. 913; 275f. Nr. 1178). 102 103



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sein wolle. Danach sei Peter auch in Straßnitz gewesen, wo er unter anderem Vorräte für seine Reise nach Brünn besorgen habe wollen. Aufgrund einer Beinerkrankung, die ihn dort ereilt habe, habe er schließlich nicht rechtzeitig zum Einzug Albrechts zurück sein können. Der nächste Punkt (3) bezieht sich offensichtlich ebenfalls auf die Abwesenheit Peters in Brünn um den 20. November, wobei Herzog Albrecht dem Landeshauptmann vorwirft, dass dieser von ihm ein Geleit verlangt habe. Peter bestreitet dies auch nicht und begründet diese Forderung mit den schweren Angriffen auf ihn, seine Diener, Dörfer, Güter und Festen. Er meint dabei offensichtlich nicht die Angriffe der Hussiten während des großen Kriegszugs nach Mähren (ein herzoglicher Geleitbrief wäre bei den Hussiten nutzlos gewesen), sondern wohl jene durch Parteigänger Albrechts. Durch seine Beschwerde legt Peter die genannten Angriffe indirekt auch dem Herzog zur Last. Im folgenden Punkt (4) beklagt Herzog Albrecht hingegen unrechtmäßige Übergriffe durch Peters Anhänger: Als herzogliche Boten einen Brief in Peters Burg Ratschitz aushändigen hätten wollen, seien sie überfallen und der Brief beschlagnahmt worden. Peter meint, dass sein Burggraf auf Ratschitz ihm versichert habe, damit nichts zu tun zu haben, und auch bereit sei, sich vor dem Markgrafen und den mährischen Landherren zu verteidigen. Falls dieser sich aber nicht rehabilitieren könne, sei Peter bereit, ihn zu bestrafen. Punkt (5) betrifft die Überfälle von Peters Untertanen auf Kaufleute und ihre Waren. Die Kaufleute seien gefangen genommen und zusammen mit ihren geraubten Wägen und Gütern in Peters Stadt Proßnitz/Prostějov gebracht worden. Der Landeshauptmann führt zu seiner Verteidigung an, dass er darüber nichts wisse und er den Untertanen verboten habe, jemandem Schaden zuzufügen. Noch wesentlich schwerwiegendere Klagen finden sich in den folgenden drei Punkten, in denen Peter und seine Leute der Angriffe gegen Herzog Albrechts Truppen beschuldigt werden; sei es bei Ratschitz, wo dem Heer Albrechts einige Wagen gestohlen (Punkt 9), oder bei Proßnitz, wo einige Fußsoldaten Albrechts ermordet worden seien (7). Zusätzlich wird Peter vorgeworfen, dass er beim letzten hussitischen Angriff auf Mähren keine Truppen zu stellen vermochte, jetzt aber großes Kriegsvolk gegen Albrecht versammle (8). Peters Antworten sind ähnlich: er versammle kein Kriegsvolk gegen den Herzog und sei nicht über die Angriffe bei Ratschitz oder Proßnitz informiert; sie hätten jedenfalls seinem Willen nicht entsprochen. Ein Anklagepunkt (6) bezieht sich auf Peters Sohn sowie Herrn Zbyněk von Doubrawitz, die es (wieder) mit den Hussiten hielten. Es lässt sich nicht eindeutig sagen, ob Peters Sohn Wenzel oder Georg von Krawarn gemeint ist. Bei Ersterem wissen wir zwar nichts über eine zwischen 1422 und 1424 erfolgte Rückkehr zum katholischen Glauben und zu der Partei König Sigismunds und Herzog Albrechts104, doch dürfte Georg im Jahr 1424 noch zu jung gewesen sein105, sodass hier vermutlich Wenzel gemeint sein muss. Peter negiert auch diesen Vorwurf und erläutert, dass sowohl sein Sohn als auch Zbyněk von Doubrawitz in dieser Angelegenheit dem Herzog bereits geschrieben und sich bereit erklärt hätten, sich vor dem Herzog und den Landherren zu rehabilitieren. Allerdings hätten sie vom Herzog noch keine Antwort bekommen. 104  Baletka, Páni z Kravař (wie Anm. 16) 271, ging – ebenso wie die ältere Forschung – von der kontinuierlichen Zugehörigkeit Wenzels zur hussitischen Seite aus. 105  Ebd. 272 wird angeführt, dass Georg erst um 1415 geboren sein dürfte. Sein erster politischer Auftritt (auf der hussitischen Seite) ist bei Baletka erst 1431 erwähnt.

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Der letzte Punkt (10) bezieht sich auf die angeblichen Beschwerden, die Peter gegen Herzog Albrecht vor etlichen Fürsten und Herren geführt hätte. Peter erklärt hingegen, dass er sich bei Herzog Přemek von Troppau und etlichen Landherren nicht über den Markgrafen beklagt, sondern dieselben gebeten habe, sich für ihn bei Albrecht einzusetzen, damit ihm die Verteidigung gegen eventuelle Beschuldigungen vor dem Herzog persönlich ermöglicht werde. Wie lässt sich das ganze Protokoll zusammenfassend interpretieren? Nach der Aussage Peters war es im September 1424 zunächst er, der Herzog Albrecht seine Abreise aus Mähren vor dem geplanten hussitischen Kriegszug erbittert vorwarf. Als jedoch Peter während des Vordringens der Hussiten Brünn verließ, sich auf die eigenen Güter begab und anschließend auch bei Albrechts Rückkehr in Brünn fehlte, rief er umgekehrt den Zorn Herzog Albrechts gegen sich selbst hervor. Es ist natürlich fraglich, ob Peters Abwesenheit nur durch die Krankheit verursacht wurde oder evtl. doch andere Gründe hatte (es wäre denkbar, dass Peter während des massiven hussitischen Feldzugs mit den Hussiten verhandelte und ihnen für die Schonung eigener Güter eine vorübergehende Neutralität versprach). Den offenen Übertritt zum Hussitismus warf Albrecht jedenfalls nur dem Sohn Peters und Zbyněk von Doubrawitz direkt vor. Bei Peter erklingt dieser Vorwurf nur indirekt, zwischen den Zeilen. Er verbirgt sich hinter den schweren Klagen, dass Peter ein Heer gegen Albrecht versammle und seine Leute in Ratschitz und in Proßnitz Albrechts Diener und Soldaten angegriffen hätten. Im Unterschied zum ersteren Vorwurf leugnete Peter die Angriffe bei Ratschitz und Proßnitz nicht, sondern behauptete lediglich, dass sie ohne sein Wissen und Zutun verlaufen seien. Dagegen beschwerte er sich jedoch über die Angriffe auf seine Güter, hinter denen offensichtlich Herzog Albrechts Anhänger gestanden haben sollen. Es ist schwierig, die gegenseitigen Vorwürfe zu bewerten, zumal kein Schiedsspruch überliefert ist. Die erste mögliche Erklärung ist, dass die unbeabsichtigte Abwesenheit Peters von Krawarn beim Einzug Albrechts in Brünn zur Zuspitzung der gegenseitigen Beziehungen und deswegen zu bestimmten militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Heer Albrechts und den Untertanen Peters in der Gegend von Wischau/Vyškov und Proßnitz geführt haben könnte. Die zweite mögliche Erklärung ist, dass Peter oder zumindest sein Sohn Wenzel und ein Teil der Krawarn’schen Klientel tatsächlich bereits im November 1424 zum Hussitismus zurückkehrten, weswegen die Besatzungen von Ratschitz und Proßnitz Albrechts Heer gezielt angegriffen haben könnten. In diesem Fall könnte Herzog Albrecht die Abwesenheit Peters in Brünn erst im Nachhinein als Ausdruck von dessen Hochverrat gedeutet haben. Dessen ungeachtet, wer und warum mit den militärischen Angriffen angefangen hat, spielten sich zwischen dem 23. November und dem 3. Dezember auf den Krawarn’schen Gütern nordwestlich von Brünn kleinere Scharmützel zwischen den Truppen Albrechts und den Leuten Peters von Krawarn ab, die Peter zu einem Treffen mit dem Herzog zwangen. Dieses Treffen sollte in Brünn stattfinden, weswegen Albrecht vorübergehend sein Heer verlassen haben könnte. Peter wollte offensichtlich seine Beziehungen mit Herzog Albrecht wiederherstellen, was eher dafür spricht, dass zumindest er noch kein offener Hussit war und dass die Angriffe seiner Leute auf Albrechts Untertanen wohl tatsächlich ohne sein Wissen stattgefunden haben dürften. Auch Albrecht wollte jedoch den einflussreichen Landeshauptmann noch nicht verlieren. Obwohl seine Vorwürfe Peter gegenüber sehr gewichtig waren und eigentlich einem Hochverrat entsprachen, wollte Albrecht Peter



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nicht exemplarisch bestrafen, sondern die Sache den paritätisch gewählten Schiedsrichtern und einem allgemein respektierten Obmann überantworten, die über die gegenseitigen Vorwürfe entscheiden sollten. Albrecht handelte also ähnlich wie Sigismund im November 1421, obwohl die Lage nun etwas unklarer war. Während damals der Hochverrat Peters ganz eindeutig war und die Schiedsrichter nur die Bedingungen von Peters Kapitulation und die Versöhnung mit Sigismund ausverhandeln sollten, war das Ergebnis des Schiedsgerichts diesmal eher offen, und Peter konnte eventuell auch rehabilitiert werden. Alles Weitere kann nur noch Spekulation sein, da uns weitere Quellen fehlen. Wie oben angedeutet, lässt sich annehmen, dass das Schiedsgericht entweder zu Peters Ungunsten ausgefallen oder eher noch vor seinem Abschluss gescheitert sein dürfte. Peter könnte z. B. den Schiedsvertrag vom 4. Dezember einseitig gekündigt haben und offen zur hussitischen Seite übergegangen sein. Beides könnte zeitlich und kausal mit dem angeblichen Kriegszug Albrechts nach Hohenstadt zusammenhängen, den ich oben in den Zeitraum vom 4. bis 13. Dezember zu datieren versuchte106. Das eigentliche Ziel dieses Kriegszugs könnte möglicherweise die Rückeroberung der jüngst verlorenen bischöflichen Stadt Müglitz in der Nähe von Hohenstadt gewesen sein, worüber uns die Chroniken nicht direkt berichten, was aber den Zug in die abgelegene Ecke Nordmährens erklären würde107. Hier könnte letztendlich (auch?) der Krawarn’sche Markt Hohenstadt eingenommen worden sein, was ebenso eine Art Bestrafung Peters wie auch ein Grund für seinen endgültigen Übergang zum Hussitismus gewesen sein könnte. Leider lassen sich diese Vermutungen nicht verifizieren, da der Bericht über die Einnahme von Hohenstadt während des Herbstkriegszugs Albrechts in den Quellen nicht genau datiert ist108.

6. Conclusio Verlassen wir nun die landesgeschichtlichen Zusammenhänge des zweiten Fallbeispiels, wo wir ohnehin auf unsicheren Boden geraten sind, und versuchen nun beide Exempel eher allgemein auszuwerten. Wie in der Einleitung gezeigt, war der Einsatz von Schiedsgerichten in den Konflikten zwischen den Herrschern oder Landesherren und ihren Untertanen im 15. Jahrhundert eher ungewöhnlich. Im Unterschied zu Friedrich III., der solchen Schiedsgerichten reserviert gegenüberstand und Konflikte mit seinen Untertanen bevorzugt vor dem kaiserlichen Hof- bzw. Kammergericht entscheiden ließ, setzten Sigismund und Albrecht V. (II.) in solchen Konflikten noch gelegentlich Schiedsrichter ein. Die bekannten Fälle sind eher selten und betrafen hauptsächlich die Konflikte mit Fürsten. Eine Ausnahme bildeten Streitigkeiten zwischen dem Herrscher und den böhmischen sowie mährischen Herren während bzw. kurz nach dem Abschluss des Hussitenkriegs. Warum in dieser spezifischen Lage öfters ein Schiedsgericht oder eine durch Schiedsrichter vereinbarte gütliche Einigung bevorzugt wurde, lässt sich mithilfe der oben angebotenen Fallbeispiele in ihrem historischen Kontext gut illustrieren. Die hussitische Revolution verursachte den Zusammenbruch der königlichen bzw. der markgräflichen   Siehe oben im Abschnitt 4.   Der oben zitierte undatierte Eintrag Thomas Ebendorfers über den Zug Herzog Albrechts nach Hohenstadt berichtet auch von der Eroberung weiterer Städte des Bischofs von Olmütz, wozu auch Müglitz gehört haben könnte. Siehe Thomas Ebendorfer, Chronica Austriae, ed. Lhotsky (wie Anm. 88) 365. 108  Siehe oben im Abschnitt 4. 106 107

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Macht in Böhmen und Mähren. In Böhmen wurde König Sigismund im Juni 1421 durch den hussitischen Landtag in Tschaslau abgesetzt, in Mähren huldigte 1424 nur ein Teil des Landadels Albrecht als Markgrafen. Der Adel in beiden Ländern spaltete sich in die königliche bzw. katholische und die hussitische Partei (diese dann noch weiter in einzelne hussitische Strömungen). Die Zusammensetzung der Parteien änderte sich von Tag zu Tag, da die Adeligen stets mehrere, oft gegensätzliche Loyalitäten in Betracht ziehen mussten. König Sigismund bzw. Herzog Albrecht in Mähren mussten große Mühe und Kosten aufwenden, um die eigene Partei zu erhalten, geschweige denn zu erweitern. Wenn es ihnen gelang, militärisch oder durch Verhandlungen einen hussitischen Adeligen zur Unterwerfung zu zwingen, war ein paritätisch besetztes Schiedsgericht wohl die beste Lösung, um die Konditionen der Kapitulation festzulegen und diese als eine gegenseitige Versöhnung zu gestalten. Dies sieht man besonders gut an der Behandlung Peters von Krawarn im Jahr 1421. Eine mit Güterkonfiskation verbundene, exemplarische Bestrafung dieses Herrn, der den Herrscher schon zweimal verraten hatte, wäre eine vollkommen angemessene Maßnahme gewesen, sie hätte jedoch die Loyalität Peters wahrscheinlich nur kurzfristig und oberflächlich herbeiführen können. Eine durch die Schiedsrichter beigebrachte und durch Vertragssicherungen gewährleistete gütliche Einigung konnte dagegen viel effizienter sein, was sich in den Jahren 1421–1424 bestätigen sollte. Als sich 1424 die Beziehungen zwischen Peter von Krawarn und dem Landesherrn, diesmal schon Herzog Albrecht V., wieder zugespitzt hatten, wurde das bewährte Instrument des Schiedsgerichts aus denselben Gründen erneut eingesetzt. Warum es diesmal fehlschlug, bleibt leider unbekannt. Wie schon in der Einleitung angedeutet, begegnen uns ähnliche Konfliktlösungen besonders oft am Ende des Hussitenkriegs oder unmittelbar nach dessen Abschluss. Solange die Position König Sigismunds und Herzog Albrechts in Böhmen und Mähren noch nicht zu fest war, wurden Schiedsgerichte sowie die durch Schiedsrichter abgeschlossenen Einigungen und Friedensverträge als optimale Mittel der Friedensstiftung betrachtet. Auf die widerspenstigen Adeligen, die die Kompaktaten bzw. den Landfrieden nicht akzeptieren wollten, wurde natürlich auch militärischer Druck ausgeübt; im bestimmten Moment wurde jedoch oft ein Schiedsgericht angeboten, das den Rebellen ermöglichte, sich ohne Demütigung und Ehrverlust zu beugen. Erst als König/Kaiser Sigismund im Frühjahr 1437 seine Position in Böhmen als fest genug betrachtete, entschloss er sich zur exemplarischen Bestrafung der letzten bedeutsamen Rebellen – der Stadt Königgrätz/Hradec Králové und des radikalen Hauptmanns Johann Roháč von Duba. Während Königgrätz sich im März unterworfen hatte, setzte Johann Roháč auf der Burg Sion den Widerstand fort. Durch den Landtag als Landesschädling bezeichnet, wurde er nach der Eroberung Sions im September mit seinen 53 Gefolgsleuten zum Tod verurteilt und am Galgen vor dem Kuttenberger Tor der Prager Neustadt gehängt109. Die exemplarische Bestrafung der Rebellen, die Sigismund gelegentlich in allen seinen Reichen anwandte, erwies sich diesmal als völlig kontraproduktiv. Während Sigismund seine Autorität zu stärken beabsichtigte und ein klares Signal aussenden wollte, dass er in Böhmen keine Opposition mehr duldete, mobilisierte der Tod von 109  Zum Fall von Johann Roháč siehe Petr Čornej–Bohdan Zilynskyj, Jan Roháč z Dubé a Praha. Konec Jana Roháče – pověst a skutečnost [Johann Roháč von Duba und Prag. Das Ende des Johann Roháč – Fama und Wirklichkeit]. Pražský sborník historický 20 (1987) 35–61; Kavka, Poslední Lucemburk (wie Anm. 14) 248f.; Šmahel, Hussitische Revolution 3 (wie Anm. 14) 1686–1689.



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Roháč die Überbleibsel der radikalen Hussiten besonders in Ostböhmen und verschlechterte auch die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen Sigismund und dem gemäßigten utraquistischen Adel, was letztendlich zur Flucht Sigismunds aus Böhmen beitrug110. Bei Herzog Albrecht V. lässt sich auch zumindest ein Beispiel nennen, wo der Herzog anstelle eines Schiedsgerichts zu einem strengen Strafprozess griff: die exemplarische Bestrafung des obersten Marschalls und Schenken, Ottos von Maissau, der im Mai 1430 durch das herzogliche Hofgericht zur weitgehenden Güterkonfiskation verurteilt wurde111. Dem Maissauer wurde einerseits der Abschluss eines gegen Herzog Albrecht gerichteten Bundes mit anderen österreichischen Landesgenossen, vor allem aber die geheime Zusammenarbeit mit den hussitischen Feldheeren vorgeworfen, die seine Güter in Österreich verschonen sollten. Nach der überlieferten Anklageschrift soll Otto von Maissau den Frieden mit den Hussiten sogar durch Spionage in Österreich gesichert haben. Natürlich ist es fraglich, inwieweit die erhobenen Klagen in allen ihren Details berechtigt und inwieweit sie gezielt übertrieben oder ausgeklügelt waren. Wie bekannt, duldete Herzog Albrecht in Mähren diverse lokale Waffenstillstände und partielle Abkommen zwischen seinen Parteigängern und den hussitischen Gruppierungen ziemlich großzügig112. Entweder überschritt Otto von Maissau das zulässige Maß, oder Herzog Albrecht war in Österreich wesentlich strenger als in Mähren, worauf auch die gewählte Form der Konfliktlösung hindeuten würde113. Wenn man die oben untersuchten Fallbeispiele mit den beiden letztgenannten Fällen vergleicht, lässt sich wohl eine vorläufige, etwas banal klingende These formulieren, die den höheren Einsatz von Schiedsverfahren im hussitischen Böhmen und Mähren erklären könnte: die Art und Weise, wie Herrscher und Landesherren Konflikte mit eigenen Untertanen bewältigten, musste immer die aktuellen Machtverhältnisse beachten. Dort, wo die Position des Herrschers eher schwach war – wie z. B. in Böhmen und Mähren während des Hussitenkriegs –, bildete das Schiedsgericht oder die durch Schiedsrichter herbeigeführte gütliche Einigung ein willkommenes Mittel der Konfliktlösung. Dort, wo der Herrscher seine Stellung als stark genug betrachtete, konnte er die Konflikte gegebenenfalls autoritativ lösen und seine Opponenten in begründeten Fällen exemplarisch bestrafen. Bei einer schwachen Herrschaft konnte jedoch eine exemplarische Strafe vielmehr gegenteilig wirken und die Stellung des Herrschers noch weiter bedrohen.

  Čornej–Zilynskyj, Jan Roháč (wie Anm. 109) 57.   Siehe vor allem das Porträt Ottos bei Silvia Petrin, Der österreichische Hussitenkrieg 1420–1434 (Militärhistorische Schriftenreihe 44, Wien 21994) 33–35. 112  Siehe dazu Petr Elbel, Pravé, věrné a křesťanské příměřie ... Dohody o příměří mezi husity a stranou markraběte Albrechta na jižní Moravě [Der wahre, treue und christliche Waffenstillstand. Die Waffenstillstandsverträge zwischen den Hussiten und der Partei Markgraf Albrechts in Südmähren] (Opera Facultatis philosophicae Universitatis Masarykianae 452, Brno 2016). 113  Es ist auch nicht auszuschließen, dass der gesamte Prozess gegen Otto von Maissau hauptsächlich finanzielle und machtpolitische Gründe hatte und die erhobenen Klagen größtenteils ausgeklügelt worden sind. Man muss an den in mancher Hinsicht ähnlichen Fall des Hofmeisters Herzog Albrechts III., Johann von Liechtenstein zu Nikolsburg, denken, der auch vor allem machtpolitisch motiviert war. Siehe dazu Christian Lackner, Aufstieg und Fall des Hans von Liechtenstein zu Nikolsburg im 14. Jahrhundert, in: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert, hg. von Jan Hirschbiegel–Werner Paravicini (Residenzenforschung 17, Ostfildern 2004) 251–262. 110 111

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Anhang – Edition Die alttschechischen Urkunden (1 und 2) werden nach dem heutigen Usus transkribiert, wobei die Personen- und Ortsnamen transliteriert und kursiv gesetzt werden. Die frühneuhochdeutschen Stücke (3–5) werden dagegen fast buchstabengetreu widergegeben, wobei nur u/v und i/j normalisiert werden. Nr. 1 Herzog Přemek von Troppau und Beneš von Krawarn zu Mährisch Kromau schließen einen Vertrag zwischen König Sigismund und Peter von Krawarn zu Straßnitz, welcher den König um Vergebung gebeten hat, ab. Die Parteien sollen weiterhin miteinander Frieden halten, Peter muss jedoch bis zum 19. November mit seinen Söhnen die kirchliche Absolution erhalten. Er muss auch innerhalb von einer Woche mit vier genannten mährischen Landherren Kontakt aufnehmen, sie zur Unterwerfung unter den König und die römische Kirche auffordern und den König über die Ergebnisse dieser Verhandlungen unterrichten. Als Absicherung für die Erfüllung seiner angeführten Verpflichtungen übergibt Peter Herzog Přemek pfandweise die Burg Helfenstein, die am 19. November im Fall der Nichterfüllung an König Sigismund verfallen soll. 28. Oktober 1421, Ungarisch Hradisch My Przemek, z Božie milosti knieže a pán Opawski, a Beness z Crawarz odjinad z Krumpnowa vyznáváme tiemto listem před každým, že jsme pro pokoj a pro zemské a obecné dobré mezi najjasnějším kniežetem a pánem panem Zigmundem, rzimskim králem, rozmnožitelem po vše časy říše, a vherskim a czeskim etc. králem, pánem našim milostivým, s jedné a s urozeným panem Petrem z Crawarz odjinad z Straznicze z druhé strany s jich obú dobrú vólí a pravým vědomím takovúto úmluvu učinili a činíme mocí tohoto listu: 1. Najprve, jakož pan Petr požádal, aby měl rok čtyři neděle od této středy první po jedenácti tisíc děvic ku přijetí pokání a v těch čtyřech nedělích proto aby jiný počátek nebyl, aby sě mohl sjieti s těmito pány, se panem Janem z Lompnicze, se panem Hasskem, se panem Milotu z Trawnyka a se panem Zbynkem Dubrawku a má to na ně vznézti, a chtie-li oni k témuž přistúpiti, mají při témž ostati jako pan Peter. Pak-li by oni nechtěli, ale pan Peter chce i s syny pokání přijíti. [2.] Pak-li by sě pan Peter i s syny rozpačil a pokání přijíti nechtěl podle řádu kostelnieho, tehdy já, kněz Przemek, mám s tiem hradem Helfstenem, kteréhož mi jest pan Petr k věrné ruce postúpil, na svrchupsaného krále Sigmunda hleděti. Než což by tam na hradě bylo páně Petrowi věci, ty má pan Petr svobodně odstěhovati na své jiné tvrze bese vší závady a my, kněz Przemek, máme jemu ty věci vydati. Pak-li pan Petr svrchupsané úmluvy v tom času dokoná, tehdy jemu jeho hrad svrchupsaný má zasě vrácen býti beze všeho zmatku. [3.] Item pan Petr má obeslati ty pány svrchupsané bez meškánie, chtie-li pokoj od králově milosti a jeho moci mieti, aby oni také králově milosti i jeho moci pokoj dali. Najprve spěšně pan Hassek a pan Milota mají obesláni býti, a což odpovědi dadí, to má pan Petr bez meškání ve dvú dní zajtra a pozajtří králově milosti věděti dáti. Pak o panu Janowi z Lompnicze a o Zbynkowi Dubrawcze, o ty má pan Petr v tém dni odpověď dáti.



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[4.] Item k tomu sme tu smlúvu zvedli, že pan Petr prosil královy milosti, aby jemu ráčil svój hněv odpustiti, což by proti jeho milosti učinil, a řekl, že nemiení ani mienil proti jeho milosti jinak učiniti, než jako proti svému přirozenému pánu podle řádu zemského. [5.] Item také ty všechny věci a nechuti a nepřiezni, které jsú zašly mezi svatým římským kostelem, mezi královú milostí a jeho služebníky a pomocníky s jedné a panem Petrem a jeho služebníky a pomocníky strany druhé, ty mají všechny pominúti, buďto mezi světskými nebo duchovními, kteří rozříšenie a pokání přijmú jako pan Peter svrchupsaný podle řádu kostelnieho. [6.] Item ktožby kolivěk s strann svrchupsaných měli spolu co jiného činiti, ti mají s sebú mluviti před královú milostí, před pány morawskimi anebo před právem, každý podle svého práva zasazenie. A že sě svrchupsaná úmluva tak stala a od svrchupsaných krále Zigmunda a pana Petra přijata a dopuštěna, protož na potvrzenie a na svědomie dali jsme každé straně tento náš list pod našimi visutými pečetmi zapečetěný. Jenž jest dán v Hradyssczi léta po Božím narozením tisícého čtyrstého a potom v jedenmescietmém létě den svatých apoštolóv Symonysse a Judy. Originalurkunde auf Pergament mit runden Siegeln der beiden Aussteller an Pergamentstreifen (1. rotes Kleinsiegel Herzog Přemeks von Troppau; 2. schwarzes Siegel Beneš’ von Krawarn) in Praha, Národní archiv [Prag, Nationalarchiv], Bestand Archiv České koruny [Archiv der böhmischen Krone], Sign. 1490. Druck: Bretholz, Die Übergabe (wie Anm. 20) 335f. Nr. 9 (Transliteration mit einigen Fehlern). – Regesten: Archiv Koruny české 5. Katalog listin z let 1378–1437 [Archiv der Böhmischen Krone 5. Katalog der Urkunden aus den Jahren 1378–1437], ed. Antonín Haas (Český zemský archiv. Katalogy, soupisy, regestáře a rozbory 1, Praha 1947) 181f. Nr. 295; Soupis česky psaných listin a listů do roku 1526. 1. Originály listin 1–2. 1378–1471 [Verzeichnis der tschechischen Urkunden und Briefe bis zum Jahr 1526. Abteilung I. Original­ urkunden. Bd. 1–2. 1378–1471], ed. František Beneš–Karel Beránek (Praha 1974) 131 Nr. 494. Nr. 2 Peter von Krawarn zu Straßnitz beurkundet das durch Herzog Přemek von Troppau und Beneš von Krawarn zu Mährisch Kromau abgeschlossene Abkommen zwischen ihm und König Sigismund. Er enterbt seinen Sohn, Wenzel von Krawarn, und ernennt drei Vormunde für seine jüngeren Kinder, die ohne Wissen und Willen des Königs nicht getauscht werden dürfen. Wenzel kann die Enterbung dadurch vermeiden, dass er sich innerhalb von zwei Wochen dem Beispiel seines Vaters folgend dem König und der Kirche unterwirft. Peter verpflichtet sich bei einer Pön von 12.000 Schock Groschen, dieses Abkommen bei der nächsten oder übernächsten Landgerichtssitzung in die Landtafeln einzulegen, wofür sich 20 mährische Landherren verbürgen. 13. November 1421, Brünn Já Petr z Crawarz odjinud z Straznicze vyznávám tiemto listem přede všemi, ktož jej uzřie anebo čtúce uslyšie, že přejasný knieže, kněz Przemek, knieže a pán Oppawsky, s

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urozeným panem Benessem z Crawarz odjinud z Crumpnowa, strýcem mým milým, najjasnějšie knieže a pána Sigmunda, rzimskeho krále, po vše časy rozmnožitele říše, a uherskeho, czeskeho etc. krále, pána mého milostivého, a mě takově smluvili, jakož dole psáno stojí: 1. Najprve já mám poručníky své činiti, kohož chci, svým dětem mladčím všeho svého zbožie i panstvie kromě syna mého staršieho Waczlawa. Protož ty jisté své nápadníky a poručníky, zejména urozené pana Benesse z Crawarz odjinud z Crumpnowa, pana Sbinka Dubrawku z Dubrawicze a pana Jana Kuzele z Zerawicz, sobě voluji a postavuji mocí tohoto listu. Pak-li by sě pan Sbyniek zasě navrátil v viklefstvie, tehdy inhed nemá žádného práva mieti ani k mému nápadu ani ku poručenstvie. A těch poručníkóv nemám ssazovati kromě svrchupsaného krále vuole. [2.] Item neuchoval-li by mne pan Buoh, tehdy ti poručníci mají ty mladčí děti až do let chovati. Pak-li by pán Buoh těch mých mladších dětí neuchoval, tehdy komuž bych já své zboží dal kromě viklefóv a kromě Waczlawa, syna mého svrchupsaného, to má mocno býti. A ten starší syn mój, Waczlaw, nemá žádného dielu mieti zbožie mého ani dědičstvie ani nápadu mého, avšak takovú výmluvú, jestliže by ten syn mój, Waczlaw, ve dvú nedělí mne poslušen byl a k témuž přistúpil jako já, tehdy ten jistý Waczlaw, syn mój starší, nemá svého dědičstvie odlúčen býti a tento list má mně zasě vrácen býti a žádnej moci nemá mieti. [3.] Také mám svým poručníkóm nebo nápadníkóm kázati mým úředníkóm s mými hrady slíbiti, aby na ně s těmi hrady hleděli, a těch nemám zsazovati až do desk vloženie. A po vloženie ve dcky mají ti úředníci mým poručníkóm v tom slibu státi. A jestliže bych kterého svého úředníka chtěl proměniti nebo který umřel, to mám s mých poručníkóv a nápadníkóv vuolí a vědomím učiniti a jinak ničs. A ti moji poručníci nemají sě mého poručstvie zbaviti ani zbaveni býti bez královy vuole. [4.] A to vše, což svrchu psáno stojí, já Petr napředpsaný mám tak ve dcky vložiti, když dcky najprv otevříny budú o prvniem nebo o druhém sněmu ostatní a konečně. A to aby tak ve dcky došlo a zdržáno bylo, zaručil sem králově milosti svrchupsanému podepsanými mými rukojmiemi pod pokutú dvanádct tisíc kop grošiev. Ač bych toho králově milosti nezdržal, jenž toho pán Buoh nedaj, tehdy abych propadl svrchupsaný základ králově milosti zaplatiti od dne propadenie v roce šest tisíc kop grošiev v pólu roci a druhých šest tisíc kop grošiev v druhém poluletie. A my Wylem z Pernstayna, margrabstvie morawskeho hauptman, Jan z Lompnicze, Smil z Lichtemburka odjinud z Bietowa, Sulik z Conicze, Gindrzich z Lippe odjinud z Templstayna, Aless z Cunstata, Jan z Bozcowicz odjinud z Brandisa, Jan z Czimburka odjinud z Towaczowa, Girzik z Stermberka odjinud z Lukowa, Gindrzich z Walsteyna odjinud z Sadku, Girzik z Lichtemburka odjinud z Bietowa, Jan z Lichtemburka odjinud z Czorstayna, Steffan z Lichtemburku odjinud z Czorstayna, Jan mladší z Bozkowicz, Jan z Czimburka odjinud z Sehradicz, Artleb z Drahotuss odjinud z Deblina, Janek z Sowincze, Hennik z Walsteyna, Hlawacz z Ronowa a Josst Hecht z Rosicz, rukojmie pana Petra svrchupsaného, slibujem svú dobrú vierú beze lsti, že to vše králově milosti, králi Sigmundovi, pánu našemu milostivému, pan Petr zdrží a splní, več sě jest podvolil, jakož svrchu psáno stojí. Pak-li by toho neučinil, tehdy my i s ním slibujem svrchupsaný základ králově milosti, totižto dvanádct tisíc kop grošiev prazskeho rázu na ty roky svrchupsané splniti. Pak-li bychom toho neučinili, tehdy inhed my, rukojmie svrchupsaní, kteříž od královy milosti listem nebo poslem napomenuti budem, jeden druhého nečekaje ani sě druhého nebytím vymlúvaje, každý z nás s jedním pacholkem a se dvěma koňoma do města v morawskey zemi královú milostí menovaného do hospody ctného hospodáře, kteráž nám od jeho



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milosti listem nebo poslem ukázána bude, mámy i slibujem vléci v pravé a v obyčejné ležení, aneb miesto sebe panoše řádu rytieřského poslati, kteříž jsú k svým erbóm přirozeni, a z toho jistého ležení na nižádné právo nevyjezditi ani vyjíti, doniž bychom jeho milosti svrchupsaný základ dvanádct tisíc kop grošiev na ty roky svrchupsané úplně nezaplatili penězi hotovými. A kdyžby po napomenutí čtrnádcte dní minulo a my jeho milosti svrchupsaného základu na ty roky nesplnili, tehdy ležmy neb neležmy, dáváme jeho milosti tiemto listem plnú moc i plné právo svrchupsaných dvanádct tisíc kop grošiev základu dobýti a vzíti v křesťanech i v židech na naši na všech škodu. A my vždy z toho leženie nemáme vyjeti ani vyníti, leč bychom prvé jeho milosti těch jistých dvanádc tisíc kop grošiev základu i se všemi škodami, kteréž by jeho milost pro našě neplnie vzal, a ty škody dobrým svědomím ukázal, plně zaplatili penězi hotovými. A neuchoval-li by Buoh kterého rukojmie z nás svrchupsaných, tehdy my živí zostalí slibujem tak dobrého a tak movitého miesto toho umrlého k sobě přistaviti v měsíci. A list tento v táž slova obnoviti pod takúžtu pokutú leženie svrchupsaného. Také ktožby tento list měl s královy milosti dobrú vuolí, ten má též právo a moc k těm penězóm svrchupsaným jako králova milost svrchupsaný. A toho na potvrzenie a jistost já Petr i my rukojmie jeho svrchupsaní z dobrým rozmyslem své sme vlastní pečeti přivěsili k tomuto listu. Jenž jest dán v Brnie ve čtvrtek den svatého Briccie léta od narození syna Božieho tisíc čtyřstého a dvadcátého prvnieho. Originalurkunde auf Pergament mit runden Siegeln des Ausstellers und der 20 Bürgen an Pergamentstreifen (1. schwarzes Siegel Peters von Krawarn; 2. rotes Siegel Wilhelms von Pernstein, Landeshauptmanns von Mähren; 3. rotes Siegel Johanns von Lomnitz; 4. rotes Siegel Smils von Lichtenburg zu Vöttau; 5. schwarzes Siegel Sulíks von Konitz; 6. rotes Siegel Heinrichs von Lipa zu Tempelstein/Templštejn; 7. schwarzes Siegel Aleš’ von Kunstadt; 8. schwarzes Siegel Johanns von Boskowitz zu Brandeis/Brandýs n. O.; 9. schwarzes Siegel Johanns von Zinnburg zu Tobitschau/Tovačov; 10. schwarzes Siegel Georgs von Sternberg zu Lukau; 11. schwarzes Siegel Heinrichs von Waldstein zu Sádek; 12. rotes Siegel Georgs von Lichtenburg zu Vöttau; 13. rotes Siegel Johanns von Lichtenburg zu Zornstein/Cornštejn; 14. rotes Siegel Stefans von Lichtenburg zu Zornstein; 15. schwarzes Siegel Johanns d. J. von Boskowitz; 16. schwarzes Siegel Johanns von Zinnburg zu Sehradice; 17. schwarzes Siegel Hartliebs/Arklebs von Drahotusch zu Deblin; 18. schwarzes Siegel Janeks von Eulenburg; 19. schwarzes Siegel Heníks von Waldstein; 20. schwarzes Siegel Hlaváčs von Rohnau/Ronov; 21. schwarzes Siegel Jost Hechts von Rossitz/Rosice) in Praha, Národní archiv [Prag, Nationalarchiv], Bestand Archiv České koruny [Archiv der böhmischen Krone], Sign. 1491. Druck: Archiv český 6 (wie Anm. 15) 400–402 Nr. 6. – Regesten: Urkundliche Beiträge zur Geschichte der Hussitenkriege in Böhmen 1, ed. Franz Palacký (Prag 1873) 166 Nr. 155; Archiv Koruny české 5 (wie Nr. 1) 182f. Nr. 296; Soupis česky psaných listin 1/1 (wie Nr. 1) 132 Nr. 495. Nr. 3 Peter von Krawarn zu Straßnitz verpflichtet sich, in seinem Streit mit Herzog Albrecht [V.] von Österreich den Spruch der gewählten Schiedsrichter anzunehmen, der bis zum 2. Februar 1425 gefällt werden soll. 4. Dezember 1424, Brünn

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Petr Elbel

Ich Peter von Crawaren anders von Strznicz bekenn und tn kund offenleich mit dem brief von der czsprch wegen, die der hochgeporen frst, mein lieber gnediger herr, e herczog Albrecht, herczog cze Osterreich und marggraf cze Merhern etc., czu mir hat und ich auch cze seinen gnaden, wie sich das uncz her czwischen uns vergangen hat, daz ich der meins tails gnczleich gangen bin und gen auch wissentleich mit dem brief hinder die edelen Janen von Crawarn anders von Ticzin und Gymramen den Dubrawken, mein liebe vettern, in slicher weis, daz dieselben czwen mein spruchlet mitsampt den wolgeporen herren graf Johannsen von Schawnberg, lantmarschalchen in Osterreich, und herrn Hannsen von Winden, die der egenante mein gnediger herr seins tails darcz geben hat, die egemelten zspruch und antwrt aigenleich gen einander sullen verhoren, und was si denn nach slicher verhorung ainhellicleich czwischen uns darumb sprechent, dabei wil ich meins tails gnczleich beleiben. Wr aber, daz si in dem auspruch nicht ainhellig wurden in ainem oder menigen stukchen, so sol der hochgeporen frst herczog Przemk von Troppaw derselben stukch, darumb si nicht aynig werdent, ain obman sein, und was der denne darumb spricht, das wil ich stt halten und gnczleich dabei beleiben und der auspruch von den vieren und dem obman, ob die sach an in kumbt, sol volfrt und geendet werden czwischen hynnen und Unserr Frawn tag cze liechtmess schirist knfftig ungevrleich. Auch gelob ich, was ich oder die meinen gevangen haben, die an des egenanten meins herren herczog Albrechts tail gevangen sind, und auch was gter und hab ich oder die meinen uns auf seinem tail underwunden haben, was der ungevrleich noch unverkummert da ist, daz ich die den egenanten vier spruchluten auf den obgenanten ausspruch, den dieselben vier spruchlut oder der obman, ob die sach an in kumbt, tn werdent, czu iren handen inantwurten sol und wil an gevr. Ob auch geschch, daz meiner spruchlut der ain oder si baid in der czeit, ee denn der ausspruch volfrt wurd, mit dem tod abgingen, oder daz ich ir sust von gntiger sachen wegen nicht gehaben mcht, so mag und sol ich ander an ir stat geben, die vollen gewalt haben, den vorgenanten ausspruch cze enden und auszesprechen in aller mass, als vorgeschriben steet, ungevrleich. Das gelob ich also stt ze halten und czu volfren bei meinen eren und trewn, alle gevr und arglist gnczleich ausgeschaiden. Und des czu urchund gab ich den brief versigelt mit meinem angehangen insigel und hab auch gebeten die edlen Petern von Conicz anders von Tyncz, Stiboren von Czinnburg anders von Krzidlo und Jrgen von Sternberg anders von der Lucaw, daz si ir insigel czu zeugnuss gehengt haben an disen brief, der geben ist czu Brunn nach Crists geprd vierczehenhundrt jar darnach in dem vierundczwainczigisten jar des montags auf sant Barbare tag. Originalurkunde auf Pergament mit runden Siegeln des Ausstellers und der drei Zeugen an Pergamentstreifen (1. rotes Siegel Peters von Krawarn zu Straßnitz; 2. schwarzes Siegel Peters von Konitz zu Teinitz; 3. schwarzes Siegel Ctibors von Zinnburg zu Křídlo; 4. schwarzes Siegel Georgs von Sternberg zu Lukau) in HHStA, AUR 1424 XII 04. Regest: Lichnowsky–Birk, Geschichte 5 (wie Anm. 80) CCI Nr. 2249. Nr. 4 Herzog Albrecht [V.] von Österreich verpflichtet sich, in seinem Streit mit Peter von Krawarn zu Straßnitz den Spruch der gewählten Schiedsrichter anzunehmen, der bis zum 2. Februar 1425 gefällt werden soll.



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1424 Dezember 4, Brünn Wir Albrecht von Gotes gnaden herczog ze Osterreich, ze Steir, ze Krnden un ze Krain, margraf ze Mrhern und grave czu Tirol etc., bekennen und tn kun offenleich mit dem brieve von der zspruch wegen, die wir gehabt haben zu dem edeln unserm lieben getrewn Petern von Crawarn anders von Strznicz, unserm haubmann in Merhern, und die er czu uns hat, wie sich das uncz her zwischen unser vergangen hat, daz wir der unsers tails genczleich gegangen sein un geen auch wissentleich mit dem brief hinder den edeln unsern lieben ohem und getrewn graf Johannsen von Schawnberg, unsern lantmarschalch in Osterreich, und Hannsen von Winden, unser rte, in solicher weis, daz dieselben unser zwen sprchleut mitsambt den edeln unsern liben getrewn Jann von Crawarn anders von Titschin und Gymramen dem Dubrawken, die der egenante unser haubtman seins tails darczu geben hat, die egemelten zspruch und antwrt aigenleich geneinander sullen verhren, und was si denn nach solicher verhrung ainhellicleich zwischen unser darumb sprechent, dabey sllen wr unsers tails gnczleich beleiben. Wr aber, daz si in dem auzspruch nicht aynhellig wrden in aim ader menigern stukhen, so sol der hochgeboren frst unser liber ohem herczog Przemk von Troppaw derselben stukh, darumb si nicht aynig werdent, ain obman sein, und was der denn darumb spricht, das wellen wir stt halten und genczleich dabey beleiben. Und der auzspruch von den viern und dem obmann, ob die sach an in kumbt, sol volfrt und geendet werden zwischen hynnen und Unserr Frawn tag zu liechtmess scherist knftig ungverleich. Auch geloben wir, was wir oder die unsern gefangen haben, die an des egenanten von Streznicz tail gevangen sind, und auch was gter und hab wir oder die unsern uns auf seim tail underwunden haben, was der ungevrleich noch unverkumet da ist, daz wir die den egenanten vier spruchleuten auf den obgenanten auzspruch, den dieselben vier spruchleut oder der obman, ob die sach an in gelangt, tn werdent, zu ren handen inantwrtten sullen und vellen an gevr. Ob auch geschhe, daz unser spruchlut, der ain oder si baid in der czeit, ee denn der auzspruch volfrt wrd, mit dem tod abgiengen, oder daz wir ir sust von gentiger sachen wegen nicht gehaben mchten, so mgen und sullen wir ander an ir stat geben, die vollen gewalt haben, de vorgemelten auzspruch zu enden und auszusprechen in aller mass, als vor geschriben steet, ungevrleich. Das geloben wir alzo stt ze halten und ze volfren bey unsern frstleichen wirdikaiten, alle gevr und argelist gnczleich ausgeschaiden. Und des zu urkunt geben wir den brief, versigelt mit unserm angehangen insigel, der geben ist zu Brunn an sant Barbaren tag nach Kristi geprde vierczehenhundert jar darnach in dem vierundzwainczigisten jare. Einfache Abschrift auf Papier in HHStA, AUR 1424 XII 04. Regest: Lichnowsky–Birk, Geschichte 5 (wie Anm. 80) CCI Nr. 2248. Nr. 5 Peter von Krawarn zu Straßnitz klagt über den Rückzug Herzog Albrechts [V.] von Österreich aus Mähren am Vorabend des letzten hussitischen Feldzugs ins Land und beantwortet einzelne Klageartikel, die Herzog Albrecht gegen ihn erhebt. sine dato Hern Peters antwrtt.

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Petr Elbel

1. Des ersten als meins herren des marggrafen gnad gelegen ist vor der Newnstat Vniczaw, da gab ich seinem gnaden cze wissen, daz sich die veind in Behem gnczleich verrichtt und geaint habent und sich stark sammen und her gen M rhern cziehen wellen, daz das sein gnad gerucht czu betrachten. Darnach, als sein gnad von dann her gen Brnn kome und sich von hynn gen Wienn fúgen wolt, da hab ich mit mrherischen herren mit seinem gnaden vor seinen rten geredt und haben sein gnad gebeten, das sein gnad geruch hie czu beleiben oder sein volk hie auf seinen geslossen cze lassen, daz sich die veind nicht also schir her in das land versuchen werden. Underdes sein gnad desa nicht betracht hat und ist wegk geczogen und ich sein gnad ausbelaitt hab sein gnad gebeten, das sein gnad sein selbs des lands und mein und auch anderr seiner diener nicht vergsse. Da hab ich seinen gnaden frgelegt, wie gross ungehorsamkeit und ain unainung czwischen herren und lantluten ist, als das sein gnad wol erkant hat, wenn si czu seinen gnaden nicht kmen sind, als sein gnad selber hie vordes gelegen ist, daz si dann czumal an seiner gegenwúrttikait mir gehorsam nicht werdent. Darauf hat mir sein gnad verantwrtt, das sein gnad mit dem pischofen und mit den herren, die alhie gewesen sind, daran beliben ist, daz si hie czu Brnn auf ainem genanten tag sein sllen, und welich herren dieczeit nicht gewesen sein, daz ich si besenden und durch der lantlut willen rffen lassen slle, daz si all czu derselben czeit hie sein sllen. Das also hab ich alles getan und vor demselben tag warn die veind stark in das land geczogen, das tet ich czu steten seinen gnaden bei meiner potschafft und auch bey meim vettern, Gymramen Dubrawken, aigenleich czu wissen. Davon als sein gnad auf mich frgibt mit disen warten: [2.] Des ersten von der frómdnússe wegen, als er sich von meim herrn emphrmdt hat und als ein haubtman nicht czu meim herren kommen ist, da er her kom, des er sich doch gen meins herren reten vervangen hat. Antwurtt her Peter: Das wais Got, ich hab mich nicht emphrmdet und emphrmde nicht von seinen gnaden, sunder ich bin hie auf seim gesloss vierczehen tag und lenger gewesen durch der egenanten veind willen, besendunt und wartund der herren und lantlut, und da die veinde fuder entwichen und von hynnen geczogen habent. Underdes sind meins herren rt kommen, her Hanns vonn Winden und N. der von Hohemberg, und als si die botschafft gewarben habent, hab ich an si bracht und beczeugt vor N. dem pischofen und vor den herren und vor andern erbern luten, wie sich die veind von hynnen gerrt und czu meinen geslossen gefúgt haben, das ich das besehen mst, damit das seinen gnaden und disem land nicht schedleich wr, und wenn sein gnad herkmbt, das ich denn czu seinen gnaden kommen wil als czu meim herrn. Und durch der vorgenanten sachen willen und auch darumb, daz ich mir die notdurft und czerung schiken wolt, czu seinen gnaden czu kmen, rait ich gen Strznicz, da ward ich an arg krankh an meinem pain und das hab ich ob Got wil in kainer andern psen maynug [!] nicht getan. Ist aber, daz yemand anders redt, meinen herren ausgenommen, der tt mir daran ungtleich. [3.] Item von des gelaits wegen, des er begert hat. Antwrtt: Das wais Got, daz ich nicht bedorfft hiet kains gelaits von seinen gnaden als von meim herren, wenn ich kainer der schuld czu mir nicht wais. Aber da ich die gross ungnad sach, daz man mich und die meinen also swrleich und ungtleich beschedigt und verderbt, vest, drffer und gter abgeprennt, unser diener vahen und hewts tags dieselben



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in ainer unerleichen vnknúss haben und auch hewts tags die vesten meiner diener innhaben, darumb hab ich gelaits begert. [4.] Item von der poten wegen, die meins herrn brief gen Rtzicz bracht heten, die geslagen sind und der brief genommen ist. Antwurtt her Peter: Darumb hab ich mit demselben meinem burggrafen geredt, der spricht, daz er des nicht schuldig sey, und welle sich des ausweisen vor meins herrn des marggrafen gnaden und vor den mrhrischen herren. Ist, das er sich denn nicht ausweisen mag, so wil ich in darumb pessern nach der herren rat. [5.] Item von der kaufleut, wgen und hab wegen, die die seinen genommen und gevangen habent und die darnach gen dem Probstans sind gefrt warden. Antwrtt her Peter: Got wais wol, daz ich davon nicht wais, wan ich des an in noch nicht erfaren hab, warumb si das getan haben, wan ich in das verboten hab, daz si nyemant schaden súllen. [6.] Item von seins suns und des Swinka Dubrawka wegen, die sich mit den hussen gehalten habent mit irn geslossen. Antwurtt her Peter: Also bin ich underweiset, daz mein sun und veter Swinkob verschriben haben seinen gnaden, wie si hren, daz si swrleich hincz seinen gnaden verklagt wrn und habent sein gnad gepeten, daz er si geruch czu der ausweisung lassen kmmen, daz si sich wellen vor seinen gnaden und vor den herren ausweisen, wer in kain schuld geben wúrd, darauf ist in kain antwurtt worden. Und hetten si dann ichts getan, darczu ist mein will nicht gewesen und noch nicht ist. [7.] Item von des wegen, daz die seinn gen den meins herren bey dem Brobstans geczogen habent und habent vordes ettleich der meins herren fůsgengel ermordet. Antwurtt her Peter: Das wais Got, daz ich davon nichts wais und mein will darczu nicht ist. Und ist es geschehen, ich wil mich darinn beweisen nach rat der mrhrischen herren. [8.] Item von des wegen, daz er snell ein michel summ volks wider meinen herren hat aufpracht, und da man das land wider die veind retten solt, da hat er nyemant aufpracht. Antwurtt her Peter: Got wais, das ich kain volk nicht gesammet noch aufpracht hab und gen seinen gnaden czumal, und wer das auf mich seinen gnaden sagtc, der beklagt mich unschuldikleich czu seinen gnaden. Und sein gnad das ervaren wirt, daz ich ob Got wil nicht schuldig bin. [9.] Item so habent die seinen von Rtzicz den meins herren ettleich wgen und ir haben genommen an dem ersten tag, da meins herren volk von hynn geczogen ist. Antwurtt her Peter: Darnach wil ich fleissicleich fragen, und ist, das also wirt, so wil ich mich darinn beweisen nach der herren rat von Mrhern, das mein will darczu nicht ist. [10.] Item von des verklagen wegen, daz her Peter über meinen herren ettleichen fúrsten und herren getan hat. Antwurtt her Peter: Ich hab mich nicht beklagt, sunder ich hab herczog Prsenken und mein frewnt gebeten, daz si sein gnad pitten sullen, daz mich sein gnad so ungndicleich nicht liesse verderben und daz mir sein gnad well ain ausweisung geben und gibt mir sein gnad indert ein schuld, das ich mich des verantwrtten und ausweisen wil, als und ich darauf her komen

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Petr Elbel

bin. Das dann ich geklagt het, so het ich was cze klagen, wenn ich mit den meinen an schuld swrleich und gar ser verderbt bin. Nicht besiegeltes Original oder einfache Abschrift eines Vernehmungsprotokolls auf einem Papierdoppelblatt in HHStA, AUR 1424 XII 04. Regest: Lichnowsky–Birk, Geschichte 5 (wie Anm. 80) CCI Nr. 2249. a b c

Nachträglich über der Zeile eingefügt. Davor durchgestrichen Dub(rawka). Danach durchgestrichen und.

Auf großem Fuße? Zum Haushaltsumfang der Herren von Schlandersberg im Spätmittel­ alter unter besonderer Berücksichtigung des Frauenanteils Claudia Feller

Zu einem spätmittelalterlichen adeligen Haushalt zählte neben der Familie im engeren Sinn auch das Gesinde, das – je nach gesellschaftlicher Stellung und finanziellen Rahmenbedingungen des betreffenden Adelsgeschlechtes – aus einer mehr oder weniger großen Anzahl von Personen bestehen konnte. Die Haushaltung und Wirtschaftsführung von Adeligen und hoher Geistlichkeit stellt ein Forschungsfeld dar, das insbesondere in jüngerer Zeit zunehmend Aufmerksamkeit erfährt. Vermehrt werden dabei ökonomische Aspekte untersucht, während Umfang und Zusammensetzung des jeweiligen Haushalts eher selten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen1. In Bezug auf die Herren von Schlandersberg hat Emil von Ottenthal schon 1881 in seiner Untersuchung über die Rechnungsbücher dieses Geschlechts auf die in den Rechnungsaufzeichnungen von 1394 und 1395 enthaltenen Listen der zu bestimmten Festtagen an die Angehörigen des Haushalts ausgegebenen Opferpfennige verwiesen und daraus Rückschlüsse auf die Haushaltsgröße gezogen2. Diese Listen werden im folgenden Beitrag näher vorgestellt und 1   Zum Haushalt vgl. z. B. Gerhard Fouquet, Haushalt und Hof, Stift und Adel. Bischof und Domkapitel zu Speyer um 1400, in: Fürstenhöfe und ihre Außenwelt. Aspekte gesellschaftlicher und kultureller Identität im deutschen Spätmittelalter, hg. von Thomas Zotz (Identitäten und Alteritäten 16, Würzburg 2004) 217–246; Julia Hörmann, Curia domine – Der Hof der Margarethe Maultasch als Beispiel weiblicher Hofhaltung im Spätmittelalter. RHM 46 (2004) 77–124; Julia Hörmann-Thurn und Taxis, Margarethe von Tirol und ihre Familie. Einblicke in den Alltag der Tiroler Landesfürstin, in: Margarete „Maultasch“. Zur Lebenswelt einer Landesfürstin und anderer Tiroler Frauen des Mittelalters. Vorträge der wissenschaftlichen Tagung im Südtiroler Landesmuseum für Kultur- und Landesgeschichte Schloss Tirol. Schloss Tirol, 3. bis 4. November 2006, hg. von ders. (Schlern-Schriften 339, Innsbruck 2007) 13–32; Cordula Nolte, Die Familie im Adel. Haushaltsstrukturen und Wohnverhältnisse im Spätmittelalter, in: Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von Karl-Heinz Spiess (VuF 71, Ostfildern 2009) 77–105; Adlige Lebenswelten im Rheinland. Kommentierte Quellen der Frühen Neuzeit, ed. Gudrun Gersmann–Hans-Werner Langbrandtner (Vereinigte Adelsarchive im Rheinland. Schriften 3, Köln 2009); Julia Hörmann-Thurn und Taxis, Familie und Hof Herzog Friedrichs IV., in: Herzog Friedrich IV. von Österreich, Graf von Tirol (1406–1439). Akten der Internationalen Tagung, Landesmuseum Schloss Tirol, 19./20. Oktober 2017, hg. von Gustav Pfeifer (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesmuseums Schloss Tirol 2, Bozen 2018) 185–208. 2 Vgl. Emil v. Ottenthal, Die ältesten Rechnungsbücher der Herren von Schlandersberg. MIÖG 2 (1881) 551–614. Zum Haushalt der Schlandersberger vgl. auch Cordula Nolte, Arbeiten, Wohnen, Repräsentieren. Burgen als Aufenthaltsorte von Frauen im Spätmittelalter, in: Margarete „Maultasch“, hg. von Hörmann-Thurn und Taxis (wie Anm. 1) 219–246, hier 230, 233–235.

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analysiert. Die Rechnungsbücher der Herren von Schlandersberg enthalten aber noch weitere Auflistungen, die Ottenthal in seiner Studie zwar teilweise erwähnt, aber nicht berücksichtigt hat, und die ebenfalls Aussagen über den Umfang und die Zusammensetzung der Hausgemeinschaft gestatten. Diese sollen ausgewertet werden, um die Kenntnisse über den Haushalt zu vertiefen bzw. die Schwierigkeiten, die sich im Umgang mit derlei Eintragungen ergeben, aufzuzeigen. Die Schlandersberger3 entstammten einem bis ins 12. Jahrhundert zurückreichenden Ministerialengeschlecht, das seinen Namen von Schloss Montalban ableitete. Ab dem 13. Jahrhundert benannte sich eine Linie dieses Geschlechts um und führte fortan den Namen der im mittleren Vinschgau gelegenen Burg Schlandersberg4. Im ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert zählten die Herren von Schlandersberg zwar nicht zum Spitzenfeld des Tiroler Adels, reihten sich jedoch hinsichtlich ihres sozialen Ranges und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zumindest im mittleren Bereich ein. Hans der Jüngere von Schlandersberg, der bereits zu Lebzeiten Albrechts III. an den Wiener Hof gekommen sein dürfte, ist 1397 und 1398 als Kammermeister Herzog Wilhelms nachweisbar, dürfte dieses Amt aber bis zu seinem Tod Anfang 1399 innegehabt haben5. Bei seinem Ableben hinterließ er die Söhne Kaspar, Sigmund, Heinrich und Oswald sowie die Töchter Dorothea und Barbara. 1413 erscheint Dorothea als Hofmeisterin der Herzogin von Bayern, während Barbara, 1402 noch unverheiratet, 1420 als Gattin des Burggrafen auf Tirol Hans von Künigsberg dokumentiert ist. Noch zu Lebzeiten des Vaters hatten die beiden ältesten Brüder Kaspar und Sigmund während dessen Aufenthalt in Wien die Geschäfte des Hauses geleitet, doch schon sechs Jahre nach dem Tod des Vaters verstarb der zweitgeborene Sohn Sigmund 1405 im Kampf gegen die Appenzeller. Als schließlich auch Kaspar 1419 verschied, rückte der dritte Bruder Heinrich als Familienoberhaupt nach6. Der Besitz des Adelsgeschlechts, der in sich als sehr geschlossen anzusehen ist, konzentrierte sich insbesondere im Gebiet des mittleren Vintschgaus um Schlanders, wo die namensgebende Burg gelegen ist, sowie zu Galsaun, wo sich der Hauptzweig des Geschlechts bald niederließ7. Die vermutlich kurz vor 1260 erbaute Burg Schlandersberg bestand im Kern aus dem heute noch erhaltenen und ins 13. Jahrhundert zu datierenden Bergfried, ohne die Wohn- und Wirtschaftsgebäude, von denen der Bau erst im 16. Jahrhundert im Viereck eingesäumt wurde. Da für das Mittelalter keine Spuren weiterer Wohngebäude nachzuweisen sind, muss die Burg in ihren Ausmaßen bescheiden und in ihrer baulichen Gestaltung vergleichsweise unkomfortabel gewesen sein. Zunächst Eigengut, trugen die Schlandersberger die Burg im Jahr 1329 Herzog Heinrich von Kärnten auf und erhielten sie von ihm wiederum als Lehen zurück8. Einige Kilometer flussabwärts 3   Zu den Herren von Schlandersberg vgl. insbesondere Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2); Ute Monika Schwob, Die Herren von Schlandersberg im Rahmen der Selbstzeugnisse Oswalds von Wolkenstein, in: Tirol zwischen Zeiten und Völkern. Festschrift für Helmut Gritsch zum 60. Geburtstag am 20. Juni 2002, hg. von Eugen Thurnher (Schlern-Schriften 318, Innsbruck 2002) 175–186; Gustav Pfeifer, Herzog Friedrich IV. und der Tiroler Landesadel, in: Herzog Friedrich IV. von Österreich, Graf von Tirol (1406–1439), hg. von dems. (wie Anm. 1) 151–164, hier 157–162. 4  Vgl. Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 553. 5   Vgl. Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien–München 2002) 101, 344. 6  Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 556–558. 7 Ebd. 553. 8  Zur Burg Schlandersberg vgl. Tiroler Burgenbuch 1, hg. von Oswald Trapp unter Mitarbeit von Magdalena Hörmann-Weingartner (Bozen–Wien–München 1972) 145–149; Martin Bitschnau, Burg und Adel



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lag, auf einem Felsen oberhalb des gleichnamigen, in der Gemeinde Tschars befindlichen Weilers, die erstmals 1262 genannte Burg Galsaun9. Die eher kleine Anlage wurde 1296 auf Initiative des Landesfürsten belagert und zerstört, und erst 1329 erhielten die Schlandersberger die Erlaubnis, an dieser Stelle eine neue Burg zu erbauen. Freilich mussten sie für diese neue Burg die Lehenshoheit des Landesfürsten anerkennen. Von der Burg Galsaun, die 1418 und 1423 vom Landesfürsten erobert und geschleift wurde, sind heute nur noch spärliche Reste vorhanden10. Unterhalb der Burg befindet sich der Burgstall Kasten, ein dreistöckiger Wohnturm, weiters die für die Wirtschaftsführung notwendigen Gebäude, Pferdeställe und Keller sowie ein Kornkasten, auf den sich vermutlich der Name des Burgstalls zurückführt11. Seit 1347 hatte die Familie außerdem die auf einem Felsblock in der Gemeinde Tschars gelegene und 1238 erstmals genannte Burg Kastelbell pfandweise inne, welche in dieser Zeit im Wesentlichen aus dem ansehnlichen Palas mit Zwinger und Vorburg sowie möglicherweise einem Bergfried bestanden haben dürfte12. Die auf einem steil abfallenden Hügel im Münstertal auf 1.517 Metern Seehöhe gelegene Burg Rotund besaß die Familie als Afterlehen. Um die Burg, deren Name sich von dem bereits im Mittelalter bestehenden runden Bergfried (rotonda) ableitet, gruppierten sich in östlicher und westlicher Richtung die Wohnbauten, die mittlerweile zerfallen sind. Eine umlaufende Zwingeranlage, welche später den mittelalterlichen Bau verstärkte, wurde erst im 16. Jahrhundert errichtet13. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erwarb die Familie zudem die im Südtiroler Burggrafenamt gelegene Feste Katzenzungen, welche sich heute als eindrucksvoller dreigeschossiger Bau mit annähernd rechteckigem Grundriss präsentiert14. Im Verlauf des 14. Jahrhunderts verlegte die Hauptlinie der Schlandersberger ihren Wohnsitz von der Burg Galsaun in den bequemer zu erreichenden und komfortableren Ansitz Kasten. Hier lebten im ausgehenden 14. Jahrhundert die zwei verheirateten Brüder Kaspar und Sigmund mit ihren Ehefrauen, ihren Kindern, den zwei jüngeren Brüdern Heinrich und Oswald und den unverheirateten Schwestern Dorothea und Barbara15. Ob das hier vorliegende Zusammenleben von mehreren Familienmitgliedern und ihren Familien unter Adeligen verbreitet war oder Seltenheitswert besaß, kann mangels großanin Tirol zwischen 1050 und 1300. Grundlagen zu ihrer Erforschung (SB der ÖAW, phil.-hist. Kl. 403; Mitteilungen der Kommission für Burgenforschung und Mittelalter-Archäologie, Sonderbd. 1, Wien 1983) 443 Nr. 523; Gustav Pfeifer, Herzog Friedrich und der Adel. Am Fallbeispiel der Schlandersberger, in: Fridericus Dux Austriae. Der Herzog mit der leeren Tasche. Ausstellungskatalog des Südtiroler Landesmuseums Schloss Tirol, hg. von Leo Andergassen (Schloss Tirol 2018) 88–91, hier 88; ders., Herzog Friedrich IV. und der Tiroler Landesadel (wie Anm. 3) 157. 9  Vgl. Bitschnau, Burg und Adel (wie Anm. 8) 237 Nr. 225. 10   Vgl. Tiroler Burgenbuch 1, hg. von Trapp–Hörmann-Weingartner (wie Anm. 8) 192–196. 11  Vgl. Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 562. 12  Zur Burg Kastelbell vgl. Tiroler Burgenbuch 1, hg. von Trapp–Hörmann-Weingartner (wie Anm. 8) 182–192; Bitschnau, Burg und Adel (wie Anm. 8) 287 Nr. 312; Pfeifer, Herzog Friedrich und der Adel (wie Anm. 8) 88; ders., Herzog Friedrich IV. und der Tiroler Landesadel (wie Anm. 3) 157. 13  Vgl. Albuin Thaler, Die Burgruinen Rotund, Reichenberg und Helfmirgott im Vinschgau. Der Schlern 2 (1921) 33–35, hier 35; Tiroler Burgenbuch 1, hg. von Trapp–Hörmann-Weingartner (wie Anm. 8) 64–69; Bitschnau, Burg und Adel (wie Anm. 8) 417f. Nr. 486; Pfeifer, Herzog Friedrich und der Adel (wie Anm. 8) 88; ders., Herzog Friedrich IV. und der Tiroler Landesadel (wie Anm. 3) 158. 14  Vgl. Tiroler Burgenbuch 2, hg. von Oswald Trapp unter Mitarbeit von Magdalena Hörmann-Weingartner (Bozen–Wien–München 1973) 286–292; Bitschnau, Burg und Adel (wie Anm. 8) 290 Nr. 315. 15  Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 562 in Verbindung mit 556f. Vgl. Cordula Nolte, Arbeiten, Wohnen, Repräsentieren (wie Anm. 2) 233f.; dies., Familie im Adel (wie Anm. 1) 92.

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gelegter Untersuchungen zur Wohnsituation des nichtfürstlichen Adels nicht eindeutig beantwortet werden. Cordula Nolte vermutet, dass diese Art von Großhaushalt „eher eine Ausnahme“ dargestellt haben dürfte16. Nur temporär zog sich diese Großfamilie in Kriegszeiten, wie die Rechnungsbücher des Geschlechts belegen, in die besser geschützte Höhenburg zurück17. Die im Rechnungsbuch des Jahres 1410 enthaltene Formulierung Nota was van dem Chasten herauf chomen ist an choren und an sweinein fleisch18 lässt darauf schließen, dass ein Gutteil des umfangreichen Haushalts zu dieser Zeit in die weit oberhalb von Kasten gelegene und schwer einnehmbare Burg Galsaun geflüchtet war. Diese Maßnahme ist vor dem Hintergrund der Ereignisse des Jahres 1410 zu verstehen, als sich ein Angehöriger der Familie, Heinrich von Schlandersberg, an der in diesem Jahr eskalierenden Auseinandersetzung des ehemaligen Hauptmannes an der Etsch Heinrich von Rottenburg mit Herzog Friedrich IV. aktiv auf Seiten des Rottenburgers beteiligte 19. Dem Einnahmen- und Ausgabenverzeichnis für Schloss Katzenzungen kann wiederum entnommen werden, dass sich der Hausherr, zu dieser Zeit Heinrich von Schlandersberg, und damit wohl auch seine Familie 1423/24 auf der Burg Rotund im Münstertal befand20. Der Grund dafür dürfte darin zu suchen sein, dass Herzog Friedrich in den weiteren Auseinandersetzungen mit Teilen des Tiroler Adels 1423 die Burg Galsaun gebrochen und geschleift hatte, was erneut einen Wohnsitzwechsel notwendig machte21. Im Südtiroler Landesarchiv sind aus dem Spätmittelalter zahlreiche Rechnungen der Herren von Schlandersberg überliefert. Sie dokumentieren nicht nur deren finanzielle Situation, sondern gewähren darüber hinaus Einblicke in die konkrete Lebenswelt des Geschlechts und seines Gefolges. Unter anderem enthalten diese Rechnungsaufzeichnungen diverse Auflistungen von Schuhen, die für Angehörige des Schlandersberger Haushalts angeschafft wurden. Generell ist für das Mittelalter ein überraschend hoher Schuhverbrauch zu konstatieren, da das Schuhwerk aufgrund seiner einfachen Fertigungsmethode zumeist nur eine geringe Haltbarkeit aufwies22. Von Lutz Gessler und Heinz Wyer, Gesellen der Ravensburger Handelsgesellschaft und daher viel auf Reisen, ist in den 1470er Jahren ein großer Schuhverbrauch belegt. Heinz Wyer benötigte in weniger als drei Jahren 22 Paar Schuhe, zwei Paar starke Schuhe, vier Paar Winterschuhe, ein Paar Wanderschuhe, ein Paar Stiefel, ein altes Paar Stiefel sowie 14 Paar Holdschuhe, Lutz Gessler in zwei Jahren 46 Paar Schuhe, zwei Paar Stiefel sowie ein Paar Sagelin23. Hermann von   Nolte, Familie im Adel (wie Anm. 1) 92.  Vgl. Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 561. 18   SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 3, Libellus 4, fol. 24r. 19   Zur Auseinandersetzung Heinrichs von Rottenburg mit Herzog Friedrich IV. von Österreich vgl. Claudia Feller, Das Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg. Ein Zeugnis adeliger Herrschaft und Wirtschaftsführung im spätmittelalterlichen Tirol. Edition und Kommentar (QIÖG 4, Wien–München 2010) 44–74. 20  SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 5 (unfoliiert). 21 Vgl. Pfeifer, Herzog Friedrich und der Adel (wie Anm. 8) 90; ders., Herzog Friedrich IV. und der Tiroler Landesadel (wie Anm. 3) 161. 22  Vgl. Christiane Schnack, Mittelalterliche Lederfunde aus Konstanz (Grabung Fischmarkt) (Material­ hefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 26, Stuttgart 1994) 9; dies., Die mittelalterlichen Schuhe aus Schleswig. Ausgrabung Schild 1971–1975 (Ausgrabungen in Schleswig. Berichte und Studien 10, Neumünster 1992) 12f. Zum mittelalterlichen Schuhwerk vgl. u. a. auch Willy Groenman-van Waateringe–L. M. Velt, Schuhmode im späten Mittelalter. Funde und Abbildungen. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 3 (1975) 95–119. Speziell für Österreich vgl. Sabine Felgenhauser-Schmiedt, Ein Brunnenfund mit Schuhen aus Klosterneuburg. Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 6 (1990) 65–87. 23  Vgl. Aloys Schulte, Geschichte der großen Ravensburger Handelsgesellschaft. 1380–1530 1 (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit 1, Stuttgart–Berlin 1923) 75. 16 17



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Goch, erzbischöflicher Siegler und einer der reichsten Finanzmänner Kölns, kaufte 1391 für seine Söhne sieben bzw. neun Paar Schuhe. Insgesamt erwarb er für seine Söhne Johann und Heinrich, seine Töchter Agnes, Irmgard und Stine sowie für sieben Angehörige des Gesindes in diesem Jahr 62 Paar Schuhe24. Auch die Listen, die in den Rechnungsbüchern der Herren von Schlandersberg enthalten sind und den Bedarf an Schuhen innerhalb des adeligen Haushalts dokumentieren, bieten Indizien zu dessen Größe und Zusammensetzung. Die Begriffe, die für das Schuhwerk begegnen, sind dabei äußerst vielfältig und lassen auf entsprechend differenzierte Fußbekleidung schließen. So wird zwischen Schuhen, „gesohlten“ Schuhen, Sohlen, Stiefeln, Knieschuhen sowie spezielleren Bezeichnungen, wie petschuch, zikkschuch, pristschuch und wochtschuch, unterschieden25. Die Bedeutung dieser Begriffe ist in vielen Fällen unklar und erlaubt nicht immer eine genaue Zuordnung zu archäologischem Fundmaterial. Das Rechnungsbuch der Herren von Schlandersberger für das Jahr 1410 enthält eine Auflistung von Schuhen, die der Kellner Wernher seit dem Beginn seiner Kellnertätigkeit am Tag der Heiligen Ursula, dem 21. Oktober 1410, an die Angehörigen des Schlandersberger Haushalts ausgegeben hat26. Aus einer kurzen Einleitung ist zu erfahren, dass dem Kellner zu diesem Zeitpunkt 48 Paar kleine und große, alte und neu gesohlte Schuhe vom Schulmeister, der neben seiner Lehrtätigkeit offenbar auch Verwaltungsaufgaben im adeligen Haushalt innehatte, übergeben wurden. Zu Weihnachten und auch danach hätte Wernher vom Schuster weitere 30 Paar große und kleine Schuhe und in der Fastenzeit erneut 112 Paar entgegengenommen. Demnach wären seit dem 21. Oktober 1410 – abgesehen von den durch den Schulmeister übergebenen 48 Paar, die sich bereits im Haus befunden hätten – insgesamt 142 Paar Schuhe angefertigt worden. An Material hätte der Schuster am ersten iii snde chalbfel und ii weisse schaffvel und ain ochsenhawt zw soln und vii stir und chalbel und chwhat von jungem viech und ain altew chwhat benötigt. Etliches davon wäre nach Ausweis des Kellners übriggeblieben und würde in einem Schrein, in welchem zudem noch zwei weitere Kuhhäute und eine Ochsenhaut lägen, aufbewahrt werden. Die in ihren Ausführungen außerordentlich detaillierte Quellenstelle macht deutlich, dass in diesem Fall das Leder und die Felle für die Arbeit des Schusters seitens der Auftraggeber bereitgestellt wurden. Zudem lässt die Formulierung vermuten, dass die Anfertigung der Schuhe vor Ort erfolgte27. Von den insgesamt in seiner Verwahrung befindlichen 190 Paar Schuhen, hat Wernher nach ei24   Vgl. Franz Irsigler, Ein großbürgerlicher Kölner Haushalt am Ende des 14. Jahrhunderts, in: Miscellanea Franz Irsigler. Festgabe zum 65. Geburtstag, hg. von Volker Henn–Rudolf Holbach–Michel Pauly– Wolfgang Schmid (Trier 2006) 69–106, hier 95; ders., Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beih. 65, Wiesbaden 1979) 226f. 25  Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 602. Zu den wochtschuch, Filzschuhen bzw. Schuhen mit Pelzfütterung, welche die Burgwächter „über die gewöhnliche Fussbekleidung“ anzogen, vgl. Inventare aus Tirol und Vorarlberg. Mit Sacherklärungen, hg von Oswald von Zingerle (Innsbruck 1909) 379. 26   SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 3, Libellus 4, fol. 26v–29r. Ein knapper Hinweis auf diese Kellnerrechnung findet sich bei Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 569. 27  Vgl. auch ebd. 569. Dass Schuster ihre Tätigkeit häufig vor Ort verrichteten, legen neben den Rechnungsaufzeichnungen der Schlandersberger beispielsweise jene der Künigl von Ehrenburg nahe und ist auch rechtsrelevanten Quellen, wie den alten Statuten der Stadt Bozen aus dem Jahr 1437, die den Schustern einen eigenen Abschnitt widmen und die Preise für deren Erzeugnisse festlegen, zu entnehmen. SLA Archiv KüniglEhrenburg 3.2.5.1. Libellus 3, nicht foliiert; Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Dip. 1303, Lage III („Abschrift einer Abschrift von den alten Statuten der Stadt Bozen“), pag. 70f. Nr. 42.

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gener Angabe 103 Paar an verschiedenste Personen ausgegeben. Anschließend enthält das Rechnungsbuch eine Aufstellung der Schuhempfänger, insgesamt etwa 45 Personen. Die Liste der 1410 ausgegebenen Schuhe ermöglicht neben Hinweisen zur Größe des Haushalts auch Aufschlüsse über dessen Zusammensetzung. Genannt werden neben dem Herrn [Kaspar] unter anderem junkchfraw Barbara, Sigmund, Jörglin, zwei Bauknechte, ein Eseltreiber, zwei Marstaller, ein Stallknecht (renner), ein Kürschner, zwei Köche und ein Küchenjunge, ein Schultheiß, ein Pförtner, ein Büchsenmeister, zwei Wächter, der Jäger von Pfunds, ein Schütze und ein Schulmeister. Auffällig ist, dass von den genannten Personen nur vier eindeutig als Frauen zu identifizieren sind, nämlich junkchfraw Barbara, die Tochter des Hauptmanns (haubtmans tochterlin), Agnes und Magdalena (8,9 Prozent)28. Die Zahl der ausgegebenen Schuhe orientierte sich nicht, wie man vermuten könnte, am sozialen Rang, sondern vielmehr am persönlichen Bedarf. Die einzelnen Haushaltsangehörigen erhielten jeweils zwischen einem und neun Paar Schuhen, wobei insbesondere den in der Landwirtschaft tätigen Bauknechten Michel (neun Paar) und Oswald (acht Paar) sowie dem Eseltreiber (sechs Paar) besonders viele Schuhe zuteilwurden, während etwa Kaspar von Schlandersberg nur fünf Paar für sich beanspruchte und junkchfraw Barbara drei Paar Schuhe zugutekamen. Ob die verschiedenen Angehörigen der Burgbesatzung bzw. des Gesindes permanent im Sold der Schlandersberger standen oder nur gelegentlich zu Diensten herangezogen wurden, muss dabei ebenso offenbleiben wie die Frage, wie viele von ihnen auf dem herrschaftlichen Ansitz bzw. den Wirtschaftsgebäuden wohnten oder im Dorf lebten. Ein Rechnungsbuch der Herren von Schlandersberg für das Jahr enthält 1420 unter der Überschrift Nota die schch anno etc. xx o ebenfalls eine Auflistung von Schuhen, die für Angehörige des Haushalts angeschafft bzw. an diese ausgegeben wurde. Anders als die Rechnung für das Jahr 1410, die von nur einer Hand abgefasst wurde, enthält die Rechnungsaufzeichnung für das Jahr 1420 zahlreiche Neuansätze und rührt möglicherweise von mehreren unterschiedlichen Schreibern her. Die einzelnen Personen sind immer wieder genannt, was bedeutet, dass die einzelnen Nennungen, die angesichts unterschiedlicher Schreibweisen und leicht abweichender Nennungen einigen Interpretationsspielraum erlauben, erst zusammengefasst werden müssen. Der Haushalt bestand demnach aus etwa 65 Personen, von denen nur fünf eindeutig als Frauen zu identifizieren sind, nämlich die Hausherrin (meiner frawn), die Ornerin, Magdalena, Regina und Margret (Gredein) (7,7 Prozent). Die Angehörigen des Haushalts erhielten insgesamt 129 Paar Schuhe, 26 Paar „gesohlte“ Schuhe (gesolter schuch), ein Paar geflickte Schuhe, sechs Paar Sohlen und vier Flicken (plecz). Wiederum dürfte sich die Anzahl der Schuhe vorrangig am Bedarf orientiert haben. An der Spitze der Schuhempfänger stehen der Bauknecht Hänsel sowie Pawlein (Pawle), die jeweils neun Paar erhielten; dahinter folgt Hänsel Wais mit acht Paar Schuhen, zwei Paar „gesohlten“ Schuhen und vier Flicken. Unter den weiblichen Mitgliedern des Haushalts erhält die Ornerin die meisten Schuhe, nämlich insgesamt fünf Paar. Von der herrschaftlichen Familie sind neben dem Hausherrn und seiner Frau noch Sohn Georg sowie Junker Hans genannt. Zum Gesinde zählten neben den vielen nur namentlich angeführten Personen unter anderem der klaine Miniglein hirtlein, Kunz marstaller, Chrabat marstaller, ein Wächter, mehrere Bauknechte, die Köche Merkel und Laurenz sowie der Küchenjunge Tonig, ein Schulmeister, der Kellner Martin, der 28

  SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 3, Libellus 4, fol. 26v–29r.



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Stallknecht (renner) Laurenz, ein Schreiber, Thomas pogner, der Amtmann Minig, der Schmied Luch sowie ein Pförtner29. Aussagen zur Haushaltsgröße ermöglichen auch die ebenfalls in Rechnungsbüchern der Familie überlieferten Verzeichnisse über an einzelne Haushaltsangehörige ausgeteilte Summen von Opfer- und Beichtgeld in den Jahren 1394, 1395 und 139630. Wie bereits oben erwähnt, hat Emil von Ottenthal in seiner Untersuchung über die Rechnungsbücher der Herren von Schlandersberg insbesondere auf die in den Rechnungsaufzeichnungen der Jahre 1394 und 1395 enthaltenen Listen verwiesen und diese im Anhang zu seinem Beitrag abgedruckt31. Dieses Geld, das den Adressaten je nach ihrem Rang in der gesellschaftlichen Hierarchie in individueller Höhe zugewiesen wurde, war offenbar zur Spende an hohen kirchlichen Feiertagen oder zur Beichte gedacht. Aus den Listen lassen sich nicht nur Informationen über den Umfang, sondern – anhand der Höhe des Opfergeldes – auch über den sozialen Rang der einzelnen Haushaltsmitglieder ziehen. So zeigt eine Auflistung der ausgegebenen Opferpfennige zu Weihnachten 1394 eine Anzahl von 46 Personen, nämlich zehn Frauen (21,7 Prozent) und 36 Männern, die Opfergeld erhalten haben. Zu Weihnachten des Folgejahres waren es 37 Personen, nämlich neun Frauen (24,3 Prozent) und 28 Männer, an die Opfergeld ausbezahlt wurde. Die einzelnen Listen überschneiden sich nur teilweise. Die Schnittmenge aus beiden Listen beträgt etwa 16 Personen, ist aufgrund unterschiedlicher Bezeichnungen jedoch möglicherweise höher. Zu jenen Personen, die das höchste Opfergeld erhielten, zählten im Jahr 1394 neben Sigmund von Schlandersberg (mir selber) (3 lb.) seine Frau (3 lb.), seine Schwester (2 lb.), sein Bruder Heinrich (1 lb.) und sein Vetter Peter (1 lb.). Im Jahr 1395 zählten neben Sigmund (3 lb.) wiederum seine Frau (4 lb.), seine Schwester (3 lb.), Agnes (1 lb.), sein Bruder Heinrich (1 lb.), der Jäger (1 lb.), Hertenstein (1 lb.), Gesint (1 lb.) und Spet (1 lb.) zu den Empfängern der höchsten Summen an Opfergeld. Alle anderen Haushaltsangehörigen erhielten jeweils Beträge zwischen einem und acht Groschen. Am unteren Ende der Skala rangieren dabei die Narren: 1394 kamen payden narren – wohl gemeinsam – zwei Groschen zugute, 1395 erhielt der Narr Heinrich einen Groschen32. Das Rechnungsbuch enthält darüber hinaus weitere Listen, die Ottenthal nicht abgedruckt hat – wohl deshalb, weil sie weit weniger umfassend sind. Aus dem Jahr 1395 ist eine Auflistung jener Personen überliefert, die Beichtgeld erhalten haben: Diesmal sind nur 24 Personen genannt, darunter acht Frauen (33,3 Prozent) und 16 Männer. Genannt sind Sigmunds Frau (mein weip), seine Schwester, Agnes, die Mallerin, Aͤ ndel von Phuns, Agnes’ Tochter, eine Amme, die mait Anne, Sigmund von Schlandersberg (mir selber), Sigmunds Bruder (meim prder), der Ramusser, Konrad ab Gulsan, der Hppeler, die Bauknechte Peter und Jakob, der Fischer Hänsel, ein Schmied, ein Schuster, meins vater knecht Griglin, Tersleder, Leutel von Phuns, ein Schulmeister, der Schmied Chlasen sowie   SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 4; Papier, Schmalfolio, 1 Lage.   SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 1 [Libellus 2] (1394–1396), fol. 15v–16r (Weihnachten 1394), fol. 27rv (Weihnachten 1395), fol. 29r (Annunciacio Marie und Palmtag 1396). 31  Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 564f. und 613. Vgl. auch Josef Weingartner, Auf tirolischen Burgen. Bilder aus dem Leben ihrer mittelalterlichen Bewohner, in: Volkskundliches aus Österreich und Südtirol. Hermann Wopfner zum 70. Geburtstag dargebracht, hg. von Anton Dörrer–Leopold Schmidt (Österreichische Volkskultur. Forschungen zur Volkskunde 1, Wien 1947) 269–304, hier bes. 288f. 32  SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 1 [Libellus 2] (1394–1396), fol. 15v–16r (Opherphennig ze Weihennchten lxxxxiiii), fol. 27rv (Ophergelt ze Weihennchten dem hauzgesinnt gmainklichen). 29 30

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der alte Wächter. Die Höhe der Beträge, die die einzelnen Personen an Beichtgeld empfingen, war wesentlich geringer. An der Spitze stand diesmal Agnes mit vier Groschen, Sigmund, seine Frau und seine Schwester erhielten jeweils zwei Groschen und alle anderen nur einen Groschen. Einzelne Personen empfingen Beichtgeld, die zu Weihnachten 1394 kein Opfergeld erhalten hatten; es handelt sich um den Fischer Hänsel, den Schmied, den Schuster, Jörglein (meins vater knecht Griglin) sowie den Schmied Chlasen33. Im Jahr 1396 erhielten 26 Personen Beicht- und Opfergeld, nämlich acht Frauen (30,8 Prozent) und 18 Männer. Zu den acht Empfängerinnen von Beicht- und Opfergeld zählten Sigmunds Ehefrau (meim weip), seine Schwester, Agnes, die Slemplin, Ursel meiner swester junchfrawe, eine Amme, Aͤ ndlin von Phuns und die Magd Grete. An männlichen Empfängern werden Sigmund, sein Bruder Heinrich, ein Kellner, Dietlin Schneider, ein Schulmeister, Dietlins Vetter Wilhelm, der Jäger Ulrich, ein Schultheiß, Gesint, zwei Marstaller, zwei Stallknechte (renner), ein Schuster, ein Pfister, ein Koch und zwei Bauknechte angeführt34. Die höchsten Beträge kamen wiederum Sigmunds Ehefrau (1 lb.), seiner Schwester (8 g) sowie Agnes (2 g) zugute. Die unterschiedlichen Listen weisen unter den genannten Personen große Schnittmengen auf, zeigen aber gleichzeitig Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl der jeweiligen Empfängerinnen und Empfänger von Opfer- bzw. Beichtgeld auf. Dabei kann einerseits, wie auch hinsichtlich anderer Burgen und ihrer Bewohner festzustellen35, eine relativ starke Fluktuation der Bediensteten vermutet werden. Plausibel erscheint zudem, dass manche der Listen nicht den gesamten Haushalt erfassten und einzelne Haushaltsangehörige bei der Ausgabe von Geldzuwendungen leer ausgingen (Beichtgeld 1394 und 1395). Speziell im Falle der Schuhe besteht außerdem die Möglichkeit, dass es sich bei einigen Schuhempfängern um Personen handelt, die nicht zum ständig auf der Burg lebenden Gesinde zählten und nur temporär gewisse Tätigkeiten für die Familie ausübten. Bisher wurde lediglich die Zahl des Hausgesindes im jeweiligen Herrschaftszentrum angesprochen. Die Schlandersberger Rechnungen enthalten jedoch zusätzlich weitere gleichgeartete Auflistungen von Personen, die auf jenen Burgen beschäftigt waren, auf denen sich die herrschaftliche Familie gerade nicht aufhielt. Diese sollen zu Vergleichszwecken herangezogen werden: Aus einer Beichtgeldliste von 1396 für Galsaun ist zu ersehen, dass die Burg zu dieser Zeit nur über eine Besatzung von insgesamt fünf Personen männlichen Geschlechts, darunter einem Büchsenmeister und zwei Wächtern, verfügte36. Ein Einnahmen- und Ausgabenverzeichnis der Schlandersberger für die Burg Katzenzungen von 1423/24 enthält eine Auflistung der vom Amtmann Friedrich 1424 ausgegebenen Schuhe. Dieser ist zu entnehmen, dass sich das Gesinde der Burg – je nach Zählweise – lediglich aus ca. acht Personen zusammensetzte und neben Friedrich einen Bauknecht, einen Marstaller, zwei (max. drei) Mägde (25 Prozent) und weitere Personen, die in ihrer Funktion nicht genau zugeordnet werden können, umfasste. Insgesamt werden diesmal nur 21 Paar Schuhe, ein Paar, das neu besohlt wurde, fünf Paar Sohlen, zwölf Flicken (jeweils vier) und zwei   SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 1 [Libellus 2] (1394–1396), fol. 19v.   Ebd. fol. 29r. 35   Vgl. Mark Mersiowsky, Spätmittelalterliche Rechnungen als Quellen zur südwestdeutschen Burgengeschichte, in: Burgen im Spiegel mittelalterlicher Überlieferung, hg. von Hermann Ehmer (Oberrheinische Studien 13, Sigmaringen 1998) 149; ders., Spätmittelalterliches Leben auf einer westfälischen Wasserburg: Burg Lüdinghausen 1450/51. Geschichtsblätter des Kreises Coesfeld 18 (1998) 25–63, hier 42. 36  Ebd. fol. 29r. 33 34



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Schnallen angeführt37. Die Quellen demonstrieren, dass von der Herrschaft nicht bewohnte Burgen zwar mit einer weit geringeren Besatzung versehen, aber gleichwohl von mehreren Personen versorgt wurden. Einen Sonderfall stellt schließlich jene Aufstellung dar, die der Opfergeldliste für Weihnachten 1395 angeschlossen ist. Es handelt sich um eine Auflistung des Opfergeldes für die Burgbesatzung auf der Burg Tirol. Die Burg zählte nicht zum Besitz der Schlandersberger, doch stand ihr Hans von Schlandersberg, der zu dieser Zeit im Gefolge Herzog Wilhelms in Wien weilte, um die Jahreswende 1395/96 in seiner Funktion als Burggraf von Tirol – ein Amt, das er nur kurzzeitig ausübte – vor38. Auf Tirol erhielten immerhin 21 Personen Opfergeld, darunter vier Wächter, ein Holzknecht, ein Küster, der Knecht des Pförtners, der Knecht des Kammermeisters, ein Pfister, der Koch Purchkel, Dietel Schneider, ein Kellner und ein Fußsoldat (pregader). Als Empfänger von Opfergeld scheinen nur Männer auf, Frauen sind hier nicht genannt39. Rechnungsjahr

Referenzrahmen

bezugnehmende Auflistung

Personenanz.

Frauenanteil

1394

herrschaftl. Haushalt Opfergeld Weihnachten

46

21,7%

1395

herrschaftl. Haushalt Opfergeld Weihnachten

37

24,3%

1395

herrschaftl. Haushalt Beichtgeld

24

30,3%

1396

herrschaftl. Haushalt Beichtgeld

26

30,8%

1410

herrschaftl. Haushalt Schuhe

45

8,9%

1420

herrschaftl. Haushalt Schuhe

65

7,7%

1396

Galsaun

Beichtgeld

5

0%

1423/24

Katzenzungen

Schuhe

ca. 8

25%

1395

Tirol (Sonderfall)

Opfergeld Weihnachten

21

0%

Exkurs: Werfen wir nun zum Vergleich einen Blick auf die Herren von Puchheim, von denen ebenfalls mittelalterliche Rechnungsaufzeichnungen erhalten sind. Die Puchheim sind von ihrer Stellung her weit höher einzustufen als die Schlandersberger, handelt es sich bei ihnen doch um eines der bedeutendsten Herrengeschlechter der Länder ob und unter der Enns40. Ursprünglich wahrscheinlich freier Herkunft, zählten sie zur Spitze des 37  SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 5 (in einer Abschrift aus dem 16. Jahrhundert überliefert [1561]). 38  Ottenthal, Rechnungsbücher (wie Anm. 2) 555f. Anm. 9; Lackner, Hof und Herrschaft (wie Anm. 5) 101. Zum Aufgabenbereich eines Burggrafen vgl. Dušan Kos, In Burg und Stadt. Spätmittelalterlicher Adel in Krain und Untersteiermark (VIÖG 45, Wien–München 2006) 116–118. 39  SLA, Archiv Kasten-Schlandersberg, Rechnungen Nr. 1 [Libellus 2] (1394–1396), fol. 27v. 40  Vgl. dazu Roman Zehetmayer, Niederösterreich: Politische Entwicklung, Herrschaftsmittelpunkte und Hofpersonal des niederösterreichischen Adels vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges.

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Herrenstandes41. Schon im Laufe des 14. Jahrhunderts spaltete sich die Familie in mehrere Linien auf. Herbert Knittler hat die Rechnungsbücher der Herren von Puchheim aus der Linie zu Horn und Göllersdorf ediert42, und auch diese Aufzeichnungen enthalten Listen, die Aussagen über den Umfang des adeligen Haushalts ermöglichen. Es handelt sich zum einen um Auflistungen jener Ausgaben, die Thomas, der Hausschaffer von Horn, zwischen dem 14. September 1444 und dem 29. September 1445 für den Erwerb von Schuhen tätigte. Die Aufzeichnungen entstanden zum Zweck der Abrechnung mit Mathias dem Schuster und führen, im Gegensatz zu den Schlandersberger Rechnungen, den Preis der einzelnen Schuhe an. Neben der verwitweten Herrin Dorothea (geb. Dorothea von Pottendorf, Witwe Johanns [VI.] von Puchheim), ihren Söhnen Hartneid (Hertl  ) und Christoph sowie ihrer Tochter Wilburg (Wilbl ) und außerdem der Schwester ihres verstorbenen Mannes, junkfraw Ehrentraut, die 1445 in zweiter Ehe Georg von Eckartsau heiratete, enthält die Auflistung auch das Gesinde. Insgesamt werden etwa 45 Personen (davon 40 Bedienstete) angeführt, die 176 Paar Schuhe, acht Stiefel, drei gmecht, vier Knieschuhe sowie zwei kuntt zu dem zug gen Alantsteig erhielten. Wiederum fällt der geringe Frauenanteil ins Auge; von den 45 Personen sind nur zwölf weiblichen Geschlechts (26,7 Prozent). Die verzeichneten Personen empfingen im festgesetzten Zeitraum zwischen einem und zehn Paar Schuhen sowie zwei Stiefel. Der Preis eines Paares belief sich häufig auf 16 d (Pfennige), aber auch Schuhe um 18 oder 20 d sind keine Seltenheit, der gross Wenczl erhielt gar ein Paar um 21 d. Daneben finden sich günstigere Schuhe um 7, 8 oder 12 d, von denen angesichts des geringeren Preises anzunehmen ist, dass sie Kindern vorbehalten gewesen sein dürften. Tendenziell empfingen Männer eher teurere Schuhe als Frauen, deren Schuhe häufig 16 d, seltener 18 d kosteten. Allerdings erhielt auch die Amme Schuhe um 20 d. Die Preisgestaltung legt in Verbindung mit den jeweils genannten Personen nahe, dass sich die Beträge an der Fertigungsgröße und dem Materialbedarf orientierten. Zahlreiche Personen sind nur unter ihrem Namen genannt, einigen ist auch eine Funktionsbezeichnung beigegeben: So finden sich unter den genannten der Schaffer selbst, ein Küchenknecht, ein Jägerknecht, zwei Narren, ein halter, ein Wagenjunge (wagnpueb), ein Kellner, ein Wächter, eine Amme und ein Kürschner. Darüber hinaus erhielt Peter haffner dafür, das er zu der hochzeit geholffen hat, für zwei Schuhe 40 d43. Zum anderen weist das Rechnungsbuch unter der Überschrift Vermerkt das ausgeben den dienern und dinstvolkch am sold erfreulicherweise auch eine Besoldungsliste der Her1. Vom 13. Jahrhundert bis zum Tode Kaiser Friedrichs III., in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren. Teilbd. 2, hg. von Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel–Anna Paulina Orlowska–Jörg Wettlaufer (Residenzenforschung 15/IV/1, Ostfildern 2012) 65–72, hier 70f.; Georg Heilingsetzer, Oberösterreich: Adel und Adelsresidenzen im Land ob der Enns von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich Teilbd. 2 (wie zuvor) 83–96. 41   Zur Stellung der Herren von Puchheim vgl. Peter Feldbauer, Der Herrenstand in Oberösterreich. Ursprünge, Anfänge, Frühformen (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, München 1972) 169–172; zusammenfassend vgl. Gustav Reingrabner, Die Stadt Horn und ihre Herren, in: Eine Stadt und ihre Herren. Puchheim, Kurz, Hoyos. Ausstellung der Stadt Horn im Höbarthmuseum. 9. Mai bis 29. September 1991 (Horn 1991) 13–48, hier bes. 17–22. 42 Herbert Knittler, Vom Leben auf dem Lande. Die Rechnungen der Herren von Puchheim zu Horn und Göllersdorf 1444–1468. Edition und Kommentar (Studien und Forschungen aus dem niederösterreichischen Institut für Landeskunde 41, St. Pölten 2005). Wenngleich sich die Horner Puchheim über einen größeren Teil des Jahres in ihrem Wiener Stadthaus aufhielten, kann doch Horn als ihre Residenzherrschaft angesehen werden. Herbert Knittler, Grundherrschaftliche Etats um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Das Beispiel der Dominien der Familie Puchheim zu Horn-Göllersdorf. UH 63 (1992) 5–22, hier 14 Anm. 40. 43  Ediert bei Knittler, Leben auf dem Lande (wie Anm. 42) 73–77.



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ren von Puchheim für die Dauer eines Jahres, vom 29. September 1452 bis zum 29. September 1453, auf. Die Auflistung weist für den genannten Zeitraum insgesamt 36 Personen aus, die besoldet wurden. Bemerkenswerterweise finden sich auf dieser Liste nur zwei Frauen (5,6 Prozent), die übrigen genannten Personen sind männlichen Geschlechts44. Beide Listen aus den Rechnungsaufzeichnungen der Herren von Puchheim reihen sich bezüglich der Anzahl der Bediensteten mit 40 bzw. 36 Personen innerhalb desselben Größenbereichs ein wie die Schlandersberger. Hier wie dort sticht neben der großen Schwankungsbreite in der Personenanzahl insbesondere der niedrige Frauenanteil ins Auge. Bei den Herren von Puchheim liegt ihr Anteil 1444/45 bei 26,7 Prozent, während die Besoldungsliste von 1452/53 unter den Soldempfängern lediglich zwei Frauen aufweist, ohne dass deren Funktion im Haushalt bekannt wäre (5,6 Prozent). Dieser überraschende Befund hinsichtlich der Geschlechterverteilung auf Burgen deckt sich mit Beobachtungen aus anderen Gebieten des Reiches, die neben Inventaren vor allem auf Rechnungen basieren und die sowohl den fürstlichen, als auch den nichtfürstlichen Adel sowie den hohen Klerus betreffen. Ein im Jahr 2000 erschienener Tagungsband der Residenzen-Kommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften beschäftigt sich unter dem Titel „Das Frauenzimmer“ mit der Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Verschiedene Beiträge, wie jener von Anna-Manis Münster, der sich den Funktionen der dames et damoiselles d’honneur im Gefolge französischer Königinnen und Herzoginnen, besonders im 14. und 15. Jahrhundert, widmet, basieren auf Hofordnungen, Rechnungen und Hofstaatslisten, die geschlechterspezifisch ausgewertet wurden. Obwohl die ebenda präsentierten Beispiele eine höherstehende gesellschaftliche Ebene betreffen, erweist sich der Frauenanteil im 14. Jahrhundert selbst im Frauenhofstaat, der tendenziell eher mehr Personen weiblichen Geschlechts umfasst als sein Pendant auf männlicher Seite und sich aus Damen, damoiselles und weiblichen Bediensteten zusammensetzt, mit etwa 10 bis 14 Prozent als erstaunlich gering, und erst ab der Mitte des 15. Jahrhunderts ist ein Ansteigen auf etwa 20 bis 25 Prozent, fallweise auch mehr, zu konstatieren. Beispiele für den geringen Frauenanteil auf Burgen liefern auch Eva-Maria Butz45 und Cordula Nolte. Besonders letztere führt zahlreiche Beispiele aus dem hohen und niederen Adel an und kommt zum Ergebnis, dass „Frauen regelmäßig zur Besatzung gehörten, wenngleich vielerorts in geringerer Anzahl gegenüber den Männern“ 46. Resümee: Anders als im Hinblick auf den fürstlichen Adel, für den häufig genaue Verzeichnisse der bei Hof lebenden und beschäftigten Personen vorliegen, sind vergleichbare Aufstellungen für nichtfürstliche Adelsfamilien nur selten überliefert. Zur Untersuchung der Haushaltsgröße sind wir daher auf Alternativen angewiesen. Zentraler Untersuchungsgegenstand waren im Fall der Herren von Schlandersberg Auflistungen von Zuwendungen, die den jeweiligen Angehörigen des Haushalts zugutekamen, konkret Listen von ausgegebenen Schuhen sowie von Opfer- und Beichtgeld. In den Genuss dieser Zuwendungen kamen im herrschaftlichen Haushalt zwischen 24 und 65 Personen. Lässt man jene Auflistungen außer Acht, die offenbar nur einen Ausschnitt des gesamten   Ebd. 90f.  Eva-Maria Butz, Warten auf den Prinz? Die Erforschung weiblicher Lebenswelten auf der mittelalterlichen Burg, in: Alltag auf Burgen im Mittelalter. Wissenschaftliches Kolloquium des Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Burgenvereinigung Passau 2005, hg. von Joachim Zeune (Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung e. V., Reihe B: Schriften 10, Braubach 2006) 60–64, hier 62. 46  Nolte, Arbeiten, Wohnen, Repräsentieren (wie Anm. 2) 232. 44 45

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Haushalts abbilden, nämlich die Beichtgeldlisten der Jahre 1394 und 1395, so dürfte der Haushaltsumfang der Schlandersberger je nach Untersuchungsjahr sehr unterschiedlich gewesen sein und bei etwa 37 bis 65 Personen liegen. Auffällig ist, wiederum unter Ausklammerung der bereits genannten Beichtgeldlisten, der geringe Anteil weiblicher Personen (Familienangehörige und weibliche Angehörige des Gesindes), der im Haushalt der Herren von Schlandersberg bei acht bis 24 Prozent lag. Speziell auf jenen Burgen, die von der Herrschaft nicht bzw. nur temporär bewohnt wurden, waren häufig auch gar keine weiblichen Bediensteten beschäftigt.

Lentz halben, als solt das nicht im Land ligen Der Kampf der Kärntner Landstände um den Verbleib der Herrschaft Lienz Christoph Haidacher

Im Jahr 1939 veröffentlichte der Kärntner Historiker und Archivar Martin Wutte 1 (1876–1948) einen Artikel in der Zeitschrift Carinthia2, in dem er die mit 1. Oktober 1938 von Adolf Hitler per Gesetz angeordnete Vereinigung des bis dahin zum Bundesland Tirol gehörigen politischen Bezirks Lienz (Osttirol) mit dem Land Kärnten3 mit historischen, geografischen und wirtschaftlichen Argumenten untermauerte. Er schloss seine Ausführungen mit den pathetischen Worten: Nun ist Osttirol nach dem Willen des Führers doch zum Gaue Kärnten gekommen und das Lienzer Gebiet mit seinem alten Mutterlande wieder vereint worden. Möge ihm der Anschluß an Kärnten, mit dem es ja doch durch Natur, Geschichte und Wirtschaft vielfach verbunden ist, zum Segen gereichen! 4 Dieser Rückgriff auf historische Zugehörigkeiten stellt kein Spezifikum bzw. Unikum des Jahres 1938 dar, mehrfach zog man die Geschichte heran, wenn es um die politische Zugehörigkeit des Lienzer Beckens und seiner umliegenden Täler ging. Genauso wenig blieb die Ablehnung 1  Zur Person Martin Wuttes vgl. Fritz Fellner–Doris A. Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 99, Wien–Köln–Weimar 2006) 465f., und Nadja Danglmaier–Werner Koroschitz, Nationalsozialismus in Kärnten. Opfer, Täter, Gegner (Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern 7, Innsbruck–Wien–Bozen 2015) 114–116. – Das Titelzitat: Landshandvest des löblichen Erzherzog­ thumbs Khärndten (Leipzig 1610, Nachdr. Klagenfurt 1981) 76f. – Abkürzungen: Reg. Imp. XIV/3/1 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XIV. Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493–1519, Bd. 3., Tl. 1: Maximilian I. 1499–1501, bearb. von Hermann Wiesflecker unter Mitwirkung von Christa Beer–Theresia Geiger–Manfred Hollegger–Kurt Riedl–Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Wien–Köln–Weimar 1996); Reg. Imp. XIV/3/2 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XIV. Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493–1519, Bd. 3., Tl. 2: Österreich, Reich und Europa 1499–1501, bearb. von Hermann Wiesflecker unter Mitwirkung von Christa Beer–Theresia Geiger–Manfred Hollegger–Kurt Riedl–Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Wien–Köln–Weimar 1998); Reg. Imp. XIV/4/1 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XIV. Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493–1519, Bd. 4, Tl. 1: Maximilian I. 1502–1504, bearb. von Hermann Wiesflecker–Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber–Manfred Hollegger unter Mitwirkung von Christa Beer (Wien–Köln–Weimar 2002). 2  Martin Wutte, Zur Vereinigung Osttirols mit Kärnten. Carinthia I 129 (1939) 239–261. 3  Gesetzblatt für das Land Österreich Nr. 443/1938; die Angliederung galt bereits mit dem 27. Juli 1938 aufgrund der einstweiligen Anordnung des Reichsstatthalters für Österreich als vollzogen – Gesetzblatt für das Land Österreich Nr. 286/1938. 4  Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 257.

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dieser Maßnahme bzw. dieses „Anschlusses“ an Kärnten von Seiten der Bevölkerung5 singulär und nur auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt. Der „Anschluss“ an Kärnten war bereits am Ende des Ersten Weltkriegs ein Thema. Die aufgrund des damaligen Kurienwahlrechts in der Stadt Lienz dominierenden Deutschfreiheitlichen erwirkten unter Führung von Vizebürgermeister Josef Anton Rohracher bereits Ende Oktober 1918 eine Entschließung des Gemeinderats, der die Angliederung Osttirols an Kärnten vorsah. Man verwies in diesem Zusammenhang auf den vor 400 Jahren tobenden Streit zwischen den Kärntner Landständen und den Vertretern der Grafschaft Tirol um die staatsrechtliche Zugehörigkeit der Herrschaft Lienz, man betrachtete entgegen der alten Zugehörigkeit zu Tirol die Quellen der nach Kärnten entwässernden Flüsse Drau und Isel als die natürlichen Grenzen Osttirols, man betonte die wirtschaftliche Ausrichtung des Bezirks Lienz auf Oberkärnten und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass die gegenwärtigen Bemühungen erfolgreicher sein würden als jene zur Zeit Kaiser Maximilians I. Am 4. März 1919 fasste der Lienzer Gemeinderat einen dahingehenden Beschluss, der allerdings von der mehrheitlich katholisch-konservativ geprägten Bevölkerung des Bezirks, aber auch von Teilen des nationalen Lagers (der deutschfreiheitliche Bürgermeister Johann Oberhuber trat zurück und kehrte in der Folge auch seiner Partei den Rücken) nicht mitgetragen wurde und der den Deutschfreiheitlichen bei den nächsten Wahlen herbe Verluste bescherte. Nach der endgültigen Abtretung Südtirols vertrat keine politische Richtung in Osttirol mehr einen Anschluss an Kärnten6. In der napoleonischen Epoche hingegen argumentierte man bei der territorialen Neugestaltung Tirols nicht mit Rückgriffen auf die Geschichte und ehemalige historische Zugehörigkeiten. Als der französische Kaiser am 28. Februar 1810 das bisher zu Bayern gehörende Tirol dreiteilte (der Süden mit Bozen kam zum Königreich Italien, der Norden verblieb bei Bayern, während das Pustertal den sogenannten „Illyrischen Provinzen“ angegliedert wurde), ging es zum einen darum, seine Unzufriedenheit mit der bisherigen bayerischen Herrschaft zu artikulieren, zum anderen, das aufständische Land im Gebirge endgültig zu befrieden. Fortan bildete die Wasserscheide am Toblacher Feld an den Quellen der Drau die Grenze zwischen Bayern und den direkt Frankreich unterstehenden Illyrischen Provinzen mit der Hauptstadt Laibach. Das östliche Tirol mit seinen drei Kantonen Lienz, Sillian und Windisch-Matrei bildete einen Teil der Provinz Villach. Die alte Zugehörigkeit dieses Raumes zu Kärnten ins Treffen zu führen, wäre ja auch deswegen schon unsinnig gewesen, weil dieses Land ebenfalls geteilt (Unterkärnten verblieb bei Österreich) und Oberkärnten mit neuen administrativen Grenzen in die Illyrischen Provinzen integriert wurde7. Dagegen spielten historische Argumente vor rund einem halben Jahrtausend, als König Maximilian die Herrschaft Lienz und die angrenzenden Talschaften der Grafschaft 5  Martin Kofler, Osttirol im Dritten Reich 1938–1945 (Innsbruck 22003) 92–100. Die Abtrennung des Bezirks Lienz und dessen Anschluss an Kärnten erfolgten auch gegen den Willen des Tiroler Gauleiters Franz Hofer. 6  Vgl. Michael Forcher, Vor fünfzig Jahren. Wollten die Osttiroler wirklich zu Kärnten oder Salzburg? Osttiroler Heimatblätter 37 (1969) H. 2 1–3, H. 4 1–4, sowie Martin Kofler, Osttirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart (Innsbruck–Wien–Bozen 2005) 33f. Die Bezeichnung „Osttirol“ kommt übrigens erst Ende des 19. Jahrhunderts auf; nach dem Ersten Weltkrieg stellt „Osttirol“ die übliche Benennung für diese Region dar, wobei die administrative Einheit amtlich als „Politischer Bezirk Lienz“ bezeichnet wird. Otto Stolz, Politisch-historische Landesbeschreibung von Südtirol (Schlern-Schriften 40, Innsbruck 1937) 492f. 7 Meinrad Pizzinini, Lienz. Das große Stadtbuch (Lienz 1982) 291–296.



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Tirol angliederte, im Streit zwischen den Kärntner Landständen und den Behörden in Innsbruck eine zentrale Rolle; mit geschichtlichen Rückgriffen bis in das Frühmittelalter versuchte man von Kärntner Seite, den politischen Plänen Maximilians, dem Drängen der Tiroler Landstände, aber auch dem Wunsch der Bevölkerung Widerstand zu leisten. Die Grenze zwischen Bayern und Karantanien verlief im Früh- und Hochmittelalter bei Abfaltersbach im Pustertal. Der in der Gründungsurkunde Herzog Tassilos III. für Innichen aus dem Jahr 7698 genannte Bach vom Anraserberg (usque ad terminos Sclavorum, id est ad rivolum montis Anarasi) wird meist mit dem Erl- oder Abfaltersbach identifiziert9. In jenem Diplom, mit dem Kaiser Heinrich IV. im Jahr 1091 die Grafschaft Pustertal an Bischof Altwin von Brixen übertrug, finden sich hinsichtlich der Grenzen gegenüber der östlich angrenzenden Grafschaft Lurn und damit dem Herzogtum Kärnten keine Angaben10. Mit Verweis auf den Umfang der späteren Landgerichte, die ja Untereinheiten der alten Grafschaften waren, spricht sich Otto Stolz für den Kristen- oder St. Justeinbach bei Mittewald als Ostgrenze der Grafschaft Pustertal bzw. Westgrenze der Grafschaft Lurn und damit des Herzogtums Kärnten aus. Denn dieser trennt das Landgericht Heinfels vom Landgericht Lienz, und zugleich bildet er auch die Pfarr- (Anras und Assling) und Diözesangrenze (Brixen und Salzburg)11. Die Lienzer Klause, etwa 10 Kilometer östlich vom Kristenbach in der Gemeinde Leisach gelegen, wurde ab dem 13. Jahrhundert als Grenze zwischen der Grafschaft Pustertal und dem Herzogtum Kärnten betrachtet und behielt diese Eigenschaft bis zum Ende des 15. Jahrhunderts bei12. Ob tatsächlich eine Verschiebung der Grenze im Hochmittelalter stattgefunden hat oder ob die in der Gründungsurkunde genannten Marken nur eine ungefähre Bestimmung im Sinne eines Grenzsaums gewesen sind, kann nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden13. Dass diese am Kristenbach bzw. bei der Lienzer Klause verlaufende Grenze im Spätmittelalter zwar nicht vergessen wurde, aber doch an Wahrnehmbarkeit verlor, lag an den Grafen von Görz und deren machtpolitischen Ambitionen in diesem Raum. Während es Graf Meinhard II. (ca. 1239–1295) – basierend auf dem Werk seines Großvaters Graf Albert III. – gelang, aus einem Konglomerat von Herrschaften mit der Grafschaft Tirol ein Land zu formen, erlebte das 976 geschaffene und den Zeitgenossen als Land geltende Herzogtum Kärnten zur gleichen Zeit eine Fragmentierung bzw. Erodierung der landesfürstlichen Macht. Grafengeschlechter wie die Görzer, die Ortenburger oder die Heunburger, aber auch geistliche Herren wie der Erzbischof von Salzburg oder die Bischöfe von Bamberg und Freising, und weitere Gewalten verhinderten erfolgreich die Ausbildung eines geschlossenen, der herzoglichen Macht unterstehenden Territoriums14. 8   Tiroler Urkundenbuch. Abteilung II: Die Urkunden zur Geschichte des Inn-, Eisack- und Pustertals. Band 1: Bis zum Jahr 1140, ed. Martin Bitschnau–Hannes Obermair (Innsbruck 2009) Nr. 50. 9  Vgl. Stolz, Landesbeschreibung (wie Anm. 6) 600f., sowie Egon Kühebacher, Das Benediktinerkloster Innichen. Der Schlern 64 (1990) 142–165, hier 145 Anm. 21. 10  Tiroler Urkundenbuch, ed. Bitschnau–Obermair (wie Anm. 8) Nr. 268. 11  Stolz, Landesbeschreibung (wie Anm. 6) 474, 643, 674. 12   In einer im Friedensvertrag vom 29. November 1482 zwischen der Kärntner Landschaft und König Mathias von Ungarn enthaltenen Grenzbeschreibung wird die Lienzer Klause als Westgrenze Kärntens bezeichnet. Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 247. 13   Stolz, Landesbeschreibung (wie Anm. 6) 474, 674. 14   Vgl. dazu Heinz Dopsch, Die Länder und das Reich. Der Ostalpenraum im Hochmittelalter (Österreichische Geschichte 1122–1278, Wien 1999) 308–343; Alois Niederstätter, Die Herrschaft Österreich. Fürst und Land im Spätmittelalter (Österreichische Geschichte 1278–1411, Wien 2001) 292f., sowie Christian Lackner, Die Länder und das Reich (907–1278), in: Geschichte Österreichs, hg. von Thomas Winkelbauer

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Die von den Grafen von Andechs-Dießen abstammenden Görzer15 verfügten – neben ihren Besitzungen am Isonzo, in Istrien, in Krain und im Patriarchat Aquileia – über ein umfangreiches und weitgehend geschlossenes Herrschaftsgebiet in Oberkärnten, das vom Pustertal im Westen bis in den Raum Spittal, dem Heimatort unseres Jubilars, im Osten reichte. Obwohl sie in diesem Gebiet über Grafschaftsrechte verfügten und wohl schon vor 1286 die Würde eines Pfalzgrafen von Kärnten mit den damit verbundenen Rechten bekleideten, gelang es ihnen nicht, eine Landesherrschaft im klassischen Sinn in Einheit mit einem geschlossenen Territorium, vergleichbar mit jener Graf Meinhards II. in Tirol, auszubilden; mehrere Erbteilungen und innerfamiliäre Streitigkeiten mögen das Übrige dazu beigetragen haben16. Die görzische Herrschaftsbildung in diesem Raum bewirkte aber, dass die alte Grenze zwischen den Herzogtümern Bayern und Kärnten bzw. den Grafschaften Lurn und Pustertal nicht mehr als solche wahrgenommen wurde; die vordere Grafschaft Görz – der Name ist nicht zeitgenössisch, sondern eine spätere Schöpfung17 – überspannte grenzüberschreitend diese alten räumlichen Einheiten. Die albertinische Linie der Grafen von Görz – die meinhardinische war 1363 mit Meinhard III. ausgestorben, und ihre „Tiroler“ Herrschaften waren an das Haus Habsburg gefallen – erlebte ihre Blütezeit um 1300; in den nachfolgenden Jahrzehnten erlitt sie, bedingt durch die Expansion der Markusrepublik auf dem Festland (auch die Beziehungen zu den Richtung Adria drängenden Habsburgern waren mehr als angespannt) und die bereits erwähnten Erbteilungen und hausinternen Zwiste, beträchtliche territoriale Verluste, sodass sich der Besitz in Ober­ kärnten und im Pustertal mit dem Zentrum Lienz und der Residenz Schloss Bruck immer mehr als ihre verbliebene Herrschaftsbasis herauskristallisierte18. Eine Zuspitzung erfuhr die Situation im 15. Jahrhundert, als Herzog Ernst der Eiserne und sein Sohn, der spätere Kaiser Friedrich III., begannen – trotz gegenteiliger Bemühungen des luxemburgischen Königtums –, der habsburgischen Landesherrschaft im Herzogtum Kärnten durch eine konsequente Territorialpolitik zum Durchbruch zu verhelfen. Eine entscheidende Wendung zugunsten der Habsburger erfuhr dieser Prozess mit dem Aussterben der Grafen von Cilli im Jahr 1456, denen es in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gelungen war, umfangreichen Besitz in Innerösterreich und in Ungarn in ihren Besitz zu bringen sowie in den Reichsfürstenstand aufzusteigen. Neben anderen erhoben sowohl Kaiser Friedrich III. als auch die Görzer Grafenbrüder Johann und Leonhard Ansprüche auf das Erbe der Cilli. Bei der darauf folgenden militärischen Konfrontation unterlagen die Grafen von Görz der kaiserlichen Übermacht und mussten im Frieden (Stuttgart 32018) 63–109, hier bes. 88–92. Vgl. dazu auch die sehr anschauliche Karte bei Alois Niederstätter, Das Jahrhundert der Mitte. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Österreichische Geschichte 1400–1522, Wien 1996) 153. 15   Vgl. dazu Heinz Dopsch–Therese Meyer, Von Bayern nach Friaul: zur Herkunft der Grafen von Görz und ihren Anfängen in Kärnten und Friaul, Krain und Istrien. ZBLG 65 (2002) 293–370, hier 301. 16  Dopsch, Länder und Reich (wie Anm. 14) 330, sowie Meinrad Pizzinini, Das letzte Jahrhundert der Grafschaft Görz, in: circa 1500. Landesausstellung 2000 Mostra storica. Leonhard und Paola. Ein ungleiches Paar – De ludo globi. Vom Spiel der Welt – An der Grenze des Reiches (Genève–Milano 2000) 3–12, hier 3. 17  Pizzinini, Grafschaft Görz (wie Anm. 16) 3. Erstmals begegnet dieser Begriff in einer Urkunde vom 10. Juli 1501. Vgl. ders,, La contea anteriore di Gorizia: Sviluppo e separazione dalla Carinzia, in: La contea dei Goriziani nel medioevo (Pordenone 2002) 105–119, hier 105. 18  Vgl. zusammenfassend Niederstätter, Herrschaft Österreich (wie Anm. 14) 247–252, Pizzinini, Grafschaft Görz (wie Anm. 16) 3–5, und Christian Lackner, Vom Herzogtum Österreich zum Haus Österreich (1278–1519), in: Geschichte Österreichs, hg. von Winkelbauer (wie Anm. 14) 110–158, hier 117–119.



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von Pusarnitz (1460)19 nicht nur auf die Oberkärntner Grafschaft Ortenburg, sondern auf alle Besitzungen östlich der Lienzer Klause einschließlich ihrer Residenz Schloss Bruck verzichten. Obwohl im Vertrag nicht ausdrücklich von Kärntner Territorien gesprochen wird, geht jedoch indirekt hervor, dass die Gebiete östlich der Lienzer Klause als Teil des Herzogtums betrachtet wurden20. Wäre die Herrschaft Lienz zusammen mit den Oberkärntner Besitzungen in der Folgezeit in den Händen Friedrichs III. bzw. seines Parteigängers Jan Wittowetz geblieben, dann hätte sich – so mutmaßt Wilfried Beimrohr – die Frage einer Einverleibung „Osttirols“ in die Grafschaft Tirol beim Tod Graf Leonhards von Görz im Jahr 1500 vermutlich gar nicht gestellt21. Allerdings gelang es dem Görzer nur zwei Jahre später – den Konflikt zwischen Kaiser Friedrich III. und seinem Bruder Erzherzog Albrecht VI. nutzend – mithilfe einer Truppe von Söldnern, die sich „Holzknechte“ nannten, aber auch Erzknappen gewesen sein dürften, Andreas von Weißpriach, der die Herrschaft Lienz im März 1462 von Wittowetz gekauft hatte, zu vertreiben und damit das Zentrum seiner Herrschaft wieder in Besitz zu nehmen22. In den folgenden Jahren lehnte sich Graf Leonhard von Görz immer stärker an Herzog Sigmund von Österreich, den Tiroler Landesherrn, an, mit dem er 1462/63 einen ersten wechselseitigen Erbvertrag abschloss. Damit deutete sich für den Fall eines erbenlosen Todes des Görzers zum einen der Übergang seiner Herrschaften an die Habsburger, zum anderen aber auch die Eingliederung der Herrschaft Lienz in die Grafschaft Tirol und damit die endgültige Lösung einer wohl nur mehr historisch begründeten Zugehörigkeit zum Herzogtum Kärnten an. Die Bindungen der vorderen Grafschaft Görz an die innerösterreichische Ländergruppe hingegen – wohl auch begünstigt durch den Verlust der Besitzungen in Kärnten – sanken in den Jahren nach dem Frieden von Pusarnitz zur Bedeutungslosigkeit herab23. Im Gegensatz zu Kaiser Friedrich III. entwickelte sich zwischen dessen Sohn Maximilian und Graf Leonhard von Görz durchaus ein Verhältnis des Vertrauens, das eine Umsetzung der maximilianeischen Erbpläne realistisch erscheinen ließ. Die sich abzeichnende Kinderlosigkeit des letzten Görzers erleichterte es dem Kaisersohn, dessen Wünschen nach Restitution der im Frieden von Pusarnitz abgetretenen Gebiete entgegenzukommen. Unmittelbar nach dem Tod Kaiser Friedrichs III. verpfändete Maximilian I. im Jahr 1494 die Grafschaft Ortenburg an Leonhard von Görz, nur drei Jahre später (1497) erhielt Letzterer im Tauschwege für Innergörzer Besitzungen wieder die Pfalzgrafschaft in Kärnten zurück, gleichzeitig wurde dessen Erbzusage zugunsten der Habsburger mündlich erneuert24. Dass Maximilian, der zu diesem Zeitpunkt schon fix mit dem Erbfall zu sei  Regesten Friedrichs III. 18 Nr. 174.   Vgl. zusammenfassend Niederstätter, Jahrhundert der Mitte (wie Anm. 14) 152–154, sowie Wilhelm Baum, Die Grafen von Görz in der europäischen Politik des Mittelalters (Klagenfurt 2000) 241–256. 21  Wilfried Beimrohr, Graf Leonhard von Görz und die Wiedergewinnung der Herrschaft Lienz im Jahr 1462. Tiroler Heimat 59 (1995) 121–130, hier 121. Ähnlich Claudia Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens 2: Die Ständische Epoche (Klagenfurt 1994) 122, wobei sie aufgrund mancher Äußerungen von Friedrich III. und Maximilian I. eine mögliche Separatentwicklung Oberkärntens abseits der beiden Länder Tirol und Kärnten zu erkennen glaubt. 22   Details dazu bei Beimrohr, Wiedergewinnung (wie Anm. 21), und Hermann Wiesflecker, Die politische Entwicklung der Grafschaft Görz und ihr Erbfall an Österreich. MIÖG 56 (1948) 329–384, hier 364–367. 23   Wiesflecker, Politische Entwicklung der Grafschaft Görz (wie Anm. 22) 367f.; Stolz, Landesbeschreibung (wie Anm. 6) 485. 24   Wiesflecker, Politische Entwicklung der Grafschaft Görz (wie Anm. 22) 376–378, sowie aktualisiert 19 20

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nen Gunsten rechnen konnte, gewillt war, die Herrschaft Lienz der Grafschaft Tirol und nicht dem Herzogtum Kärnten anzugliedern, geht aus einer am 1. Oktober 1498 in Metz ausgestellten Anordnung25 hervor: Darin befiehlt er allen Untertanen in der phalltzgranfschafft [sic] in obern Kerennden unnd grafschafft Görtcs im Fall des Todes Graf Leonhards, dem Innsbrucker Regiment in seiner und seines Sohnes Philipp Vertretung den Treueid zu leisten. Bemerkenswert an diesem Schriftstück ist die Tatsache, dass auch die Untertanen in Oberkärnten den Treueid gegenüber den Innsbrucker Behörden zu leisten hätten. Zwei Jahre später trat der Erbfall dann tatsächlich ein. Graf Leonhard von Görz war am 12. April 1500 auf Schloss Bruck bei Lienz verschieden. Aufgrund der wohl in den letzten Wochen vor dem Tod des Grafen zwischen diesem und Unterhändlern des Königs getroffenen Vereinbarungen schickte König Maximilian sogleich Abgesandte samt starker militärischer Begleitung aus, um die Huldigung der Untertanen entgegenzunehmen und der Republik Venedig eindeutig zu vermitteln, dass er mit Entschiedenheit den Görzer Besitz, insbesondere die Herrschaften in Friaul, gegen die Ansprüche der Serenissima verteidigen wolle26. Die dafür nötigen Maßnahmen leitete Maximilian ohne Verzögerung ein. Die von ihm schon länger geplante Integration der Herrschaft Lienz in die Grafschaft Tirol – es sei an die diesbezügliche und bereits erwähnte Anordnung vom 1. Oktober 1498 erinnert – wurde sogleich umgesetzt, und die Kärntner Landstände wurden damit nicht nur überrumpelt, sondern auch vor vollendete Tatsachen gestellt. Bereits am 5. Mai 1500 erging eine königliche Instruktion aus Augsburg, wonach Maximilians Innsbrucker Räte in Lienz ihm nur wichtige Angelegenheiten vorzulegen hatten, kleinere Fälle jedoch selbst entscheiden konnten27. In einem Schreiben vom 20. Mai 1500 spricht Graf Heinrich von Hardegg von der Grafschaft Ortenburg samt Lienz und den anderen Herrschaften, die in das Fürstentum Kärnten gehörten, während Maximilian in seiner Antwort Lienz und das Pustertal ohne einen Bezug zum Herzogtum Kärnten erwähnte28. Am 29. Mai 1500 ordnete Maximilian an, das Fischereiwesen und die Forstagenden in der Herrschaft Lienz den oberösterreichischen Behörden in Innsbruck zuzuweisen29. Die Stadt Lienz bat König Maximilian um die Bestätigung ihrer bisherigen, von den Grafen von Görz herrührenden Privilegien und Rechte; diese wurde vom Innsbrucker Regiment im Namen Maximilians am 17. September 1500 in Innsbruck erteilt30. Am 4. November 1500 befahl Maximilian Paul von Liechtenstein, dafür zu sorgen, dass alle Urkunden, Urbare und Register, die Graf Leon­hard von Görz hinterlassen hat, nach Innsbruck gebracht würden31; aus einer weiteren Anordnung des Königs vom 24. Juli 1503 geht hervor, dass dieser Befehl bereits umgesetzt war und sich das Görzer Archiv in Innsbruck befand32. Hermann Wiesflecker, Die Grafschaft Görz und die Herrschaft Lienz, ihre Entwicklung und ihr Erbfall an Österreich (1500). Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum 78 (1998) 131–149, hier 138f. 25  TLA, Maximiliana 4b.16, fol. 115; bei Wiesflecker, Politische Entwicklung der Grafschaft Görz (wie Anm. 22) 379, unter falscher Signatur (Sigmundiana IVb.26) und unter falschem Datum (29. 9. 1498) zitiert. 26  Wiesflecker, Politische Entwicklung der Grafschaft Görz (wie Anm. 22) 381–384, bzw. ders., Görz und Lienz (wie Anm. 25) 141–143. 27  Reg. Imp. XIV/3/1 Nr . 10207. Dieses Stück scheint jedoch laut Bearbeiter nicht oder nicht in dieser Form ausgegangen zu sein. 28  Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 10283. 29  Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 10297. 30  TLA, Maximiliana 4b.16, fol. 104 und 106 bzw. Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 10893. 31  Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 11143. 32  Reg. Imp. XIV/4/1 Nr. 17443; zum Archiv der Grafen von Görz vgl. Christoph Haidacher, Auf den



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Während die bisherigen Anordnungen Maximilians die künftige Stellung der Herrschaft Lienz andeuteten bzw. erahnen ließen, wurde mit dem königlichen Befehl an die Innsbrucker Raitkammer vom 1. März 1501 die Eingliederung der Görzer Herrschaften in die Grafschaft Tirol konkret umgesetzt: Maximilian ordnete an, die von Graf Leonhard geerbten Ämter zu Lienz und im Pustertal bis hin zur Mühlbacher Klause der genannten Behörde in Innsbruck zu unterstellen33, worauf Virgil von Graben bereits am 18. März 1501 der Innsbrucker Raitkammer sämtliche übernommene Ämter samt deren Amtleuten sowie den zu leistenden Abgaben meldete34. Und nur zwei Monate später, am 24. Mai 1501, erließ König Maximilian eine detaillierte Ordnung, wie die ehemaligen görzischen Ämter in Lienz und im Pustertal, die nun der Innsbrucker Raitkammer unterstellt waren, in finanziellen Angelegenheiten vorzugehen hatten35. Am 31. März 1501 wurden der Mautner und Zöllner von Lienz sowie dessen Gegenschreiber angewiesen, die eingenommenen Gelder an die Innsbrucker Raitkammer abzuliefern36. Auch die Verpfändung der Herrschaft Lienz mit Kals, Virgen und Defereggen um den Betrag von 22.000 Gulden im Jahr 1501 an Maximilians Tiroler Vertrauensmann Michael von Wolkenstein fügt sich nahtlos in diese Entwicklung ein37. Andererseits wurde bei der Übertragung von Hauptmannschaft und Schloss Ortenburg an (den Tiroler) Nikolaus von Firmian festgehalten, dass er den Kärntner Viztum bei bestimmten Aufgaben zu unterstützen hatte und dass damit die Grafschaft Ortenburg aus dem Görzer Erbe im Unterschied zur Herrschaft Lienz einen Bestandteil des Herzogtums Kärnten bildete38. Während Maximilian bereits im ersten Jahr nach dem Tod des letzten Görzers Fakten hinsichtlich der Zugehörigkeit der Herrschaft Lienz zur Grafschaft Tirol schuf und die Tiroler Landschaft 1506 auf dem Landtag zu Sterzing die Forderung aufstellte, der König möge neben den drei Unterinntaler Gerichten Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg auch die Herrschaft Lienz und die Pustertaler Gerichte mit der Grafschaft Tirol vereinigen39, brachten die Kärntner Landstände diesbezügliche Beschwerden erst 1509 und 1510 vor. Insbesondere auf dem Augsburger Reichstag 151040 protestierte man gegen die Absonderung der Herrschaft Lienz und argumentierte mit der historischen Zugehörigkeit dieser Region zum Herzogtum Kärnten, mit dem Verlauf der Landesgrenze an der Lienzer Klause sowie der Verpflichtung der Grafen von Görz (auch noch zu Lebzeiten Leonhards), bei Klagen, die ihre Herrschaft Lienz betrafen, vor dem herzoglichen Hofgericht Spuren des Archivs der Grafen von Görz, in: Tirol in seinen alten Grenzen. Festschrift für Meinrad Pizzinini zum 65. Geburtstag, hg. von Claudia Sporer-Heis (Schlern-Schriften 341, Innsbruck 2008) 123–138. 33   TLA, Kammerkopialbuch Entbieten und Befehl 5 (1501) fol. 44v–45r, bzw. Reg. Imp. XIV/3/2 Nr. 14989. 34   Reg. Imp. XIV/3/2 Nr. 15051. 35   TLA, Kammerkopialbuch Entbieten und Befehl 5 (1501) fol. 101r–102r bzw. Reg. Imp. XIV/3/2 Nr. 15388. 36   TLA, Kammerkopialbuch Bekennen 3 (1499–1501) fol. 193v–194r bzw. Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 12022 und Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 12023. 37   Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens (wie Anm. 21) 122; Stolz, Landesbeschreibung (wie Anm. 6) 487; TLA, Haller Damenstift Akten VIII 4 (sub dato 1501 VIII 10). 38   Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 11633. In den Regesta Imperii der Jahre 1500 bis 1504 finden sich zahlreiche weitere Belege für die unbestrittene Zugehörigkeit der Grafschaft Ortenburg zum Herzogtum Kärnten. 39   Stolz, Landesbeschreibung (wie Anm. 6) 488; TLA, Landesfürstliche Landtagsakten, Landtag zu Sterzing 1506, fol 2f. In den Akten des Landtags zu Bozen von 1508 werden Lienz und das Pustertal ebenso wie die drei Unterinntaler Gerichte Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg als integraler Bestandteil der Grafschaft Tirol angeführt. TLA, Landesfürstliche Landtagsakten, Landtag zu Bozen 1508. 40   Landshandvest (wie Anm. 1) 76f.

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in St. Veit zu erscheinen sowie zur Huldigung des Kärntner Herzogs auf das Zollfeld zu kommen. Man versprach, entsprechende Dokumente vorzulegen, was jedoch nie geschah, da das ständische Archiv in St. Veit mit den Akten des dortigen Schrannengerichts 1497 verbrannt war41. Aber bereits 1509 hatte Kaiser Maximilian durch einen Gesandten am Kärntner Landtag erklären lassen, dass die Herrschaft Lienz weder zum Herzogtum Kärnten noch zur Grafschaft Tirol gehöre, sondern vom Reich zu Lehen rühre. Damit hoffte er wohl, sich ein wenig Luft zu verschaffen und Zeit in dieser heiklen Frage zu gewinnen, was allerdings nicht gelang, wie die Entgegnungen der Kärntner Landschaft sowie die im darauffolgenden Jahr am Augsburger Reichstag vorgetragenen Beschwerden bzw. die Forderung nach Rücknahme der de facto Angliederung der Herrschaft Lienz an die Grafschaft Tirol unter Hinweis auf den Verlauf der alten Grenze bei der Lienzer Klause beweisen42. Aus historischer Sicht waren die Forderungen der Kärntner Landstände ohne Zweifel begründet und daher ihre davon abgeleiteten Forderungen, die Herrschaft Lienz beim Herzogtum Kärnten zu belassen, gerechtfertigt. Abgesehen von den Konzeptionen Maximilians bezüglich „Osttirol“ und seinen bereits gesetzten Maßnahmen standen sowohl die eingetretenen politischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte sowie die emotionale Entfremdung der Menschen von Kärnten bzw. die Bindung an Tirol diesem Ansinnen der Landstände entgegen. Den Grafen von Görz war es ab dem späten 13. Jahrhundert gelungen, Zug um Zug ihre Herrschaften in Oberkärnten und insbesondere das Gebiet um Lienz gegenüber dem Herzogtum Kärnten zu verselbständigen, wobei ihnen die Erhebung in den Reichsfürstenstand, die ihnen Kaiser Karl IV. 1365 ausdrücklich bestätigte (eine neuerliche Bestätigung erfolgte 1415 unter König Sigismund), dabei sicherlich hilfreich war. Letztlich gelang es ihnen, in diesem Raum eine eigenständige Herrschaft zu errichten, die alle Eigenschaften eines Landes aufwies: Landstände, Landtage43, Landrecht, Münzregal, Zollregal, Bergregal etc. Der Friede von Pusarnitz, der diese Sonderentwicklung verhindern hätte können, wurde mit der bereits erwähnten Wiedergewinnung der Herrschaft Lienz durch die Görzer 1462 und die Zugeständnisse Maximilians in den 1490er-Jahren konterkariert. Die Zugehörigkeit de jure zu Kärnten spielte im politischen Alltag keine Rolle mehr und war auch im Bewusstsein der Bevölkerung nicht mehr präsent44. Dies wird deutlich in der bereits erwähnten Eingabe der Lienzer Bürger und der Vertreter der umgebenden Gerichtsherrschaft an König Maximilian vom 18. August 1500, in der sie den Wunsch bekundeten, keiner fremden Herrschaft, sondern dem Haus Österreich und der Grafschaft Tirol unterstellt zu werden; sie baten um Bestätigung der alten, von den Grafen von Görz verliehenen Privilegien und Freiheiten und gelobten, ihm den Treueid zu schwören. Die gewünschte 41  Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 242f., 248f., und Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens (wie Anm. 21) 121–126. 42  Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 248f. Bezüglich der Grafschaft Ortenburg entschied der Kaiser 1510 in Augsburg, dass es beim alten Herkommen (d. h. bei der Zugehörigkeit zu Kärnten) bleiben solle. Vgl. FrässEhrfeld, Geschichte Kärntens (wie Anm. 21) 124. 43  Obwohl die Integration der Herrschaft Lienz und des görzischen Pustertals in die Grafschaft Tirol rasche Fortschritte machte, behielten die Landstände der vorderen Grafschaft Görz noch eine gewisse Eigenständigkeit und hielten bis in die 1520er Jahre eigene Landtage ab, besuchten aber gleichzeitig auch jene der Grafschaft Tirol. Wiesflecker, Görz und Lienz (wie Anm. 24) 143. 44  Ausführlich bei Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 242–247, sowie Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens (wie Anm. 21) 124f.



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Konfirmation von Seiten des Königs erfolgte bereits am 17. September desselben Jahres und die bereits beschriebenen Schritte Maximilians zur Integration der Herrschaft Lienz in die Grafschaft Tirol deckten sich mit den Absichten der „Osttiroler“45. Die sich in der administrativen Praxis und in der politischen Realität seit dem Tod Graf Leonhards von Görz abzeichnende Angliederung der Herrschaft Lienz an die Grafschaft Tirol erhielt während des Venezianerkrieges eine neue rechtliche Qualität. In der am 23. Juni 1511 erlassenen Zuzugsordnung für die Grafschaft Tirol, für die sich in der Geschichtsschreibung der Name „Landlibell“ eingebürgert hat, werden sowohl die unnderthanen und lewte[.] in der herrschafft Lenntz, auch dem Pustertal als auch den dreyen stetten und lanndtgerichten Ratemberg, Kuefstain und Kitzpchl mehrfach als integrierender Bestandteil dieser neuen Verteidigungs- und Steuerordnung angeführt46. Die Tatsache, dass diese 1500 bzw. 1504/05 von Maximilian neu hinzugewonnenen Territorien in diesem zentralen Dokument zur Militärverfassung Tirols explizit genannt werden, deutet auf keine Sonderstellung derselben innerhalb oder abseits der Grafschaft Tirol hin, sondern will angesichts der erst kurz zurückliegenden Erwerbung klarstellen und festhalten, dass diese beiden Sprengel unzweifelhaft Bestandteil Tirols sind47. Mit diesem Rechtsakt ist die Eingliederung der Herrschaft Lienz (ebenso wie jene der drei Unterinntaler Gerichte) de facto vollzogen und „der entscheidende Schritt“ getan, wie es Hermann Wiesflecker ausdrückt48. Der Erwerb der Herrschaft Lienz zusammen mit den anderen Görzer Territorien bedeutete zum einen für Maximilian einen schönen Erfolg zu einem Zeitpunkt, zu dem seine Stellung und sein Ansehen im Reich (Augsburger Reichstag von 1500) einen Tiefpunkt erreicht hatten, zum anderen konnte er endlich die Verkehrsverbindung zwischen seinen innerösterreichischen Landen und der Grafschaft Tirol unter seine Kontrolle bringen49. Wutte betont zudem noch militärische Überlegungen, die den König bewogen haben, die Herrschaft Lienz der Grafschaft Tirol anzugliedern, galt es doch, die Grenzpässe gegen Venedig, insbesondere den Kreuzberg und die Verbindung durch das Höhlensteintal, zu sichern und zu verteidigen, wofür die Herrschaft Lienz und die Landgerichte im Pustertal herangezogen werden konnten50. Am Ende der Regierungszeit Kaiser Maximilians I. bzw. nach seinem Tod (1519) unternahmen die Kärntner Landstände einen neuerlichen Versuch, die mittlerweile abge45   Pizzinini, Lienz (wie Anm. 7) 123f.; TLA, Schatzarchivakten IV/193 (Eingaben der Stadt und Herrschaft Lienz vom 18. 8. 1500); Original der Privilegienbestätigung im Stadtarchiv Lienz Urk. 111 (kopiale Überlieferung in TLA, Hs. 41/2, fol. 558). 46  Zum Tiroler Landlibell vgl. Martin P. Schennach, Das Tiroler Landlibell von 1511. Zur Geschichte einer Urkunde (Schlern-Schriften 356, Innsbruck 2011) 148. Das Original befindet sich als landschaftliche Urkunde Nr. 32 im TLA. Bereits im Jänner 1509 fasste ein Tiroler Landtag in Bozen Beschlüsse zum Landesverteidigungswesen, in die die Herrschaft Lienz sowie die anderen neu hinzugekommenen Territorien bereits miteinbezogen waren. Vgl. Martin P. Schennach, Ritter, Landsknecht, Aufgebot. Quellen zum Tiroler Kriegswesen 14.–17. Jahrhundert (Tiroler Geschichtsquellen 49, Innsbruck 2004) 156 (Nr. 20). 47   Wutte interpretiert diese Separatnennung – meiner Meinung nach unzutreffend – als Ausdruck einer Sonderstellung gegenüber der Grafschaft Tirol. Vgl. Martin Wutte, Die Kärntner Landesgrenze und ihre geschichtliche Entwicklung. Carinthia I 109 (1919) 26-41, hier 32. 48  Wiesflecker, Görz und Lienz (wie Anm. 24) 143. Die Einbeziehung des Lienzer Gebiets in die von Kaiser Maximilian am 29. Oktober 1511 erlassene Aufgebotsordnung für Kärnten scheint keine realpolitische Wirkung zur Folge gehabt zu haben. Vgl. Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens (wie Anm. 21) 125. 49 Hermann Wiesflecker, Maximilian I. Die Fundamente des habsburgischen Weltreiches (Wien–München 1991) 123–125. 50  Wutte, Kärntner Landesgrenze (wie Anm. 47) 31f.

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schlossene Integration der Herrschaft Lienz in die Grafschaft Tirol rückgängig zu machen. Aufgrund der Kärntner Interventionen in dieser Causa forderte der Kaiser die Tiroler Stände am 14. Juli 1518 auf, einen Vertreter auf den Reichstag nach Augsburg zu schicken, da dort die Ansprüche Kärntens auf die Herrschaft Lienz geprüft werden sollten; anscheinend kam es dort zu keinem Ergebnis, da die Kärntner Bemühungen um Restitution nach dem Tod des Kaisers in den folgenden Jahren eine Fortsetzung fanden51. Mit dem Erbteilungsvertrag von Worms zwischen Maximilians Enkeln Karl und Ferdinand vom 28. April 1521 fielen die vorder- und oberösterreichischen Lande, die Grafschaften Görz und Ortenburg, das Pustertal, Möttling in Krain, Triest sowie die Besitzungen auf dem Karst, in Istrien und Friaul an ersteren, während Ferdinand die Herzogtümer Österreich, Steiermark, Kärnten (ohne Lienz und Ortenburg) und Krain erhielt52, worüber sich die Kärntner Landstände umgehend beschwerten und deswegen Erzherzog Ferdinand 1522 die Erbhuldigung sowie 1523 die geforderte Türkenhilfe verweigerten53. In den zunächst geheim gehaltenen Verträgen von Brüssel (30. Jänner und 7. Feber 1522) erhielt Ferdinand letztlich zusätzlich noch die ober- und vorderösterreichischen Territorien (Tirol und die Vorlande)54. Am 16. März 1522 teilte Karl V. den Kärntner Ständen mit, dass die vom Herzogtum abgetrennten Gebiete, darunter die Grafschaft Ortenburg und die Herrschaft Lienz, wieder diesem einverleibt werden sollten, was er auch am 29. März 1522 mittels Urkunde ausdrücklich kundtat, ohne allerdings die Herrschaft Lienz beim Namen zu nennen; er sprach lediglich von den Gebieten, die von seinem Großvater Maximilian von Kärnten (und von Krain) abgetrennt worden waren55. Es verwundert, dass sich trotz dieser kaiserlichen Entscheidung, die ja auch den Kärntner Landständen mitgeteilt wurde, nichts am Verbleib der Herrschaft Lienz bei der Grafschaft Tirol geändert hat. Neben der eindeutigen Haltung der Bevölkerung scheint auch Erzherzog Ferdinand keinerlei Interesse gehabt zu haben, die Entscheidung seines kaiserlichen Bruders umzusetzen. Im Gegenteil: Er ordnete am 10. Juni 1523 an, dass alle Berufungen aus dem Pustertal und der Herrschaft Lienz wie bisher vom oberösterreichischen Regiment in Innsbruck zu behandeln und zu entscheiden waren56. Am Generallandtag der österreichischen Erbländer in Augsburg, der von Dezember 1525 bis März 1526 tagte, erhoben die Kärntner Landstände neuerlich Beschwerde gegen die Entziehung der Herrschaften Lienz und Windisch-Matrei. Obwohl in der politischen Realität kein Zweifel an der Zugehörigkeit zur Grafschaft Tirol bestand, vertröstete Ferdinand die Stände: Er könne im Moment noch keine endgültige Entscheidung treffen, eine solche werde jedoch so ausfallen, dass man sich darüber nicht beschweren müsse. Vermutlich ist diese ausweichende Antwort der schwierigen Situation des Landesfürsten 51   Ders., Vereinigung (wie Anm. 2) 251. In den landesfürstlichen Landtagsakten findet sich ein Schreiben Michaels von Wolkenstein, der 1501 die Herrschaft Lienz pfandweise erworben hatte, vom 6. August 1518 an Kaiser Maximilian, worin er die bekannten Tiroler Positionen aufzählt und den Kaiser bittet, es beim bisherigen Status zu belassen. TLA, Landesfürstliche Landtagsakten, Landtag 1518, fol. 8–11. 52   Druck in Landshandvest (wie Anm. 1) 169–172. 53  Wutte, Kärntner Landesgrenze (wie Anm. 47) 32. 54 Thomas Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter. Teil I (Österreichische Geschichte 1522–1699, Wien 2003) 30–36. 55  Die beiden Urkunden befinden sich im Kärntner Landesarchiv (Ständisches Archiv, Urkunde 76 F) bzw. im HHStA Wien (AUR 1522 III 29), Druck bei Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 257–261. 56  Ebd. 254.



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geschuldet, da dieser zu eben jener Zeit mit der Erhebung der Tiroler Bauern unter Michael Gaismair konfrontiert war57. Im Februar 1526 wiederum protestierten die Kärntner Landstände in Salzburg bei Erzbischof Matthäus Lang, da sie das Gerücht vernommen hätten, er habe das Gericht Matrei an die Grafschaft Tirol abgetreten; dies sei ihrer Ansicht nach unzulässig, da diese Herrschaft ja im Herzogtum Kärnten, dessen Grenze sie damals anscheinend noch an der Lienzer Klause sahen, liege58. Weitere diesbezügliche Bemühungen der Kärntner Landstände verliefen im Sand, selbst eine von ihnen am 29. Juli 1530 erlangte kaiserliche Bestätigung der am 16. März 1522 ausgestellten Anordnung der Rückgabe der entfremdeten Gebiete scheint keine Wirkung gezeitigt zu haben59. Als auf eine neuerliche Eingabe von Seite Kärntens im Jahr 1536 König Ferdinand beiden Parteien auftrug, ihre jeweiligen Ansprüche bzw. die dazugehörigen Rechtstitel vorzulegen, damit er darüber entscheiden könnte, erklärten die Tiroler Vertreter, dass sie nicht bereit wären, darüber zu verhandeln60. Während von Tiroler Seite die Zugehörigkeit der Herrschaft Lienz in den Landesordnungen von 1526 und 153261 sowie in der Zuzugsordnung von 152662 festgeschrieben wurde, scheint für die Kärntner Landstände die Causa erst mit der Hausordnung König Ferdinands von 1554, in der die Grafschaft Tirol samt dem Pustertal und der Herrschaft Lienz Erzherzog Ferdinand zugewiesen wurde, erledigt gewesen zu sein63. Letztlich zeigte sich, dass weder zu Maximilians Zeiten noch in der Napoleonischen Epoche noch zur Zeit des Nationalsozialismus bei der Festlegung von territorialen Zugehörigkeiten historische Argumente, auch wenn sie noch so begründet waren, den Ausschlag gaben, sondern die realen machtpolitischen Verhältnisse und der Wille der Herrscher, fallweise auch der Wunsch der betroffenen Bevölkerung.

57  Michael Mayr, Der Generallandtag der österreichischen Erbländer zu Augsburg (Dezember 1525 bis März 1526). Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg III/38 (1894) 1–154, hier 117f. Weiters erwähnt Mayr, dass die Kärntner sogar einen Überfall auf die Bergwerke in den beiden Herrschaften geplant hätten, wohl um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Vgl. TLA, Regierungskopialbuch Von der fürstlichen Durchlaucht Nr. 2 (1523–26), fol. 264v. 58 Wilfried Beimrohr, Weißenstein (Matrei), in: Tiroler Burgenbuch 9: Pustertal (Bozen 2003) 495–516, hier 503, mit Verweis auf das diesbezügliche Dokument im Salzburger Landesarchiv (SLA, Geheimes Archiv XI/93). Vgl. die Klage der Kärntner Landstände am Generallandtag zu Augsburg 1525/26. 59  Landshandvest (wie Anm. 1) 182–187. 60   Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 255. 61  Die Tiroler Landesordnungen von 1526, 1532 und 1573. Historische Einführung und Edition, ed. Josef Pauser–Martin P. Schennach (FRA III/26, Wien–Weimar–Köln 2018) 1.4.7, 1.4.13, 1.4.14, 1.4.16 (1526), 2.58 (1532). 62  Schennach, Ritter, Landsknecht, Aufgebot (wie Anm. 46) 180 (Nr. 24). 63  Zu den Rückgewinnungsversuchen von Seiten der Kärntner Landstände in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. vor allem Wutte, Vereinigung (wie Anm. 2) 247–255.

Hat Kaiser Friedrich III. die Errichtung der Judengasse zu Frankfurt am Main initiiert? oder: Zur Relevanz der Reskriptpraxis am Beispiel kanzleiformulierter „Adressatenvermerke“ Paul-Joachim Heinig

Ungeachtet der Tatsache, dass etliche Wiener ihn anfangs seiner Regierung als rex Iudaeorum schmähen zu sollen glaubten und Kaiser Friedrich III. bis zu seinem Tod tatsächlich eine Nähe zu Juden pflegte, die sich sogar in Leibärzten personifiziert1, wird der Name des Habsburgers in der Literatur stets auch mit der seit dem Baseler Konzil2 zunehmenden Judenfeindschaft im römisch-deutschen Reich und im besonderen mit der Einrichtung des gleichsam ersten „Ghettos“ auf deutschem Boden verbunden3: Längst, 1   Zu Jakob ben Jechiel Loans, bei welchem Johann Reuchlin seine Hebräischkenntnisse vertiefte, schon Ludwig Geiger, Johann Reuchlin. Sein Leben und seine Werke (Leipzig 1871) 36f., und Paul-Joachim Heinig, Musik und Medizin am Hof Kaiser Friedrichs III. (1440–1493). Studien zum Personal der deutschen Herrscher im 15. Jahrhundert. ZHF 16 (1989) 151–181, hier 175. Einschlägig auch Markus J. Wenninger, Zur Promotion jüdischer Ärzte durch Kaiser Friedrich III. ASCHKENAS. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 5 (1995) 413–424. Zu Reuchlin zuletzt die Sammelbände: Ein Vater neuer Zeit. Reuchlin, die Juden und die Reformation, hg. von Jörg Robert et al. (Tübinger Kataloge 104, Tübingen 2017); Johannes Reuchlin und der „Judenbücherstreit“, hg. von Sönke Lorenz et al. (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 22, Ostfildern 2013), sowie grundlegend Gerald Dörner, Art. Reuchlin (Rochlin, Roechlin, Capnion), Johannes, in: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, hg. von Franz Josef Worstbrock (3 Tle., Berlin u. a. 2006–2015), hier Tl. 2 (2011) 579–633. 2  Johannes Heil, Die propagandistische Vorbereitung des Ghettos − Diskussionen um Judenquartiere, in: Frühneuzeitliche Ghettos in Europa im Vergleich, hg. von Fritz Backhaus (Frankfurter kulturwissenschaftliche Beiträge 15, Berlin 2012) 149–170, hier 145f., hat die Wiederbegründung der Forderung nach Ausgrenzung und Separierung der Juden gegenüber der christlichen Mehrheitsgesellschaft durch die spezifischen Kanones des Basler Konzils von 1434 und deren Wirkung ausgeführt. 3 Die anfängliche Judengasse wurde in nachfolgenden Jahren zum abgeschlossenen Ghetto. Eine umfassende Untersuchung der Judenpolitik Friedrichs III. ist noch ein Desiderat. Viele Teilaspekte bietet PaulJoachim Heinig, Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik, 3 Teile (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 17/1–3, Köln–Weimar–Wien 1997). Neuere Teilvoten in dem (freilich regional fokussierenden) Sammelband: Zu Gast bei Juden. Leben in der mittelalterlichen Stadt, hg. von Mareike Hartmann–Dorothea Weltecke (Konstanz 2017), u. a. Christian Jörg, Christen und Juden im Europa der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Zur Ausgrenzung von Juden im Umfeld der großen Reformkonzilien, ebd. 79–86, und bei Jörg R. Müller, Maximilian und die Juden – Schlaglichter, in: „Vor Halbtausend Jahren ...“ – Festschrift zur Erinnerung an den Besuch des Kaisers Maximilian I. in St. Wendel (St. Wendel 2012) 83–106.

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bevor die Venezianer 1516 diesen Begriff „erfanden“, waren in Frankfurt am Main 1462 alle Juden, deren Lebens-, Arbeits- und Gemeindezentrum direkt neben der Bartholomäus-Pfarrkirche inmitten ihrer christlichen Mitbürger lag, in eine am östlichen Stadtrand separierte „Judengasse“ umgesiedelt worden4. „Wiederholt“ habe Kaiser Friedrich „auf Drängen der Kirche ihre Versetzung befohlen, aber erst 1460 entschloss sich der Rat dazu“, exkulpierte sich die christliche Bürgerschaft längst vor und seit dem verdienten Isidor Kracauer5 zu Lasten des Kaisers, dessen Befehl man habe gehorchen müssen. Dem auch aktuell erweckten Eindruck, den aktiv handelnden Elementen „Kaiser“ und „Juden“ habe ein eher passiver Rat gegenübergestanden6, wo dieser und die Geistlichkeit (von der nun gar keine Rede ist) doch Handlungsträger waren, hatte Fritz Backhaus schon vor dreißig Jahren bezüglich Friedrichs III. erster Intervention (von 1442) entgegengehalten: „Sein Befehl … bot die rechtliche Grundlage für die Umsiedlung … . Die Idee … stammte jedoch offensichtlich nicht von Friedrich III. selbst“, sondern wurde „vorgetragen … vermutlich von den Stiftsherren des Bartholomäusstiftes“7. Diese Vermutung wird über den Wortlaut des Mandats von 1442 hinaus auch von weiteren Indizien und methodischen Überlegungen gestützt, welche auch zusätzliche Antworten auf die schon von Backhaus aufgeworfene Frage ermöglichen, warum sich der König „diesem Vorschlag anschloss“, wenn er schon „nicht unbedingt aus eigener Initiative handelte“8. Als Gewissheit erweisen lässt sich die Initiative der Stiftsherren nicht für das (erste)9 Mandat von 1442, sondern erst für das (zweite) von 1458 – dies soll im folgenden geschehen. Damit wird die anderslautende Angabe korrigiert, die Fritz Backhaus unlängst aufgrund verwechselter Angaben der im Zuge des Akademienprojekts „Regesta Imperii“ regestierten Friedrich-

4   Dies war der alte, durch Palisaden befestigte Wallgraben. Schon Isidor Kracauer, Die Geschichte der Judengasse in Frankfurt am Main (Frankfurt a. M. 1906) 310, bezeichnet ungeachtet seines Titels das neue Quartier gelegentlich auch schon beim Bezug als „Ghetto“, worin ihm die Literatur vielfach umstandslos folgt. 5  Ebd. 307. Lapidar auf das Verlangen von König/Kaiser rekurriert Konrad Bund, Frankfurt am Main im Spätmittelalter 1311–1519, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, hg. von der Frankfurter Historischen Kommission (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission 17, Sigmaringen 1991) 53–149, hier 134f.; siehe ebd. 101f. zu Stadt und Klerus, 131–136 zu Juden. 6  Fritz Backhaus, Die Frankfurter Judengasse, in: Die Frankfurter Judengasse. Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. Geschichte, Politik, Kultur, hg. von Fritz Backhaus et al. (München 2016) 15–39, hier 20: „Kaiser Friedrich III. intervenierte 1442 nach seiner Wahl in Frankfurt und verlangte die Entfernung der Juden aus der unmittelbaren Umgebung des Domes ... . Die Juden nahmen jedoch die Anordnung des Kaisers nicht hin. Sie verfassten eine Petition an den Rat und verhinderten so die Umsetzung des kaiserlichen Befehls. 18 Jahre später wiederholte Friedrich III. diesen jedoch. Es vergingen zwar wieder fast zwei Jahre, aber dann fasste der Rat den Beschluss, die Juden aus dem Zentrum der Stadt zu entfernen und in neue Wohnsitze im Randbereich der Stadt umzusiedeln. Wieder wehrten sich die Juden mit einer noch umfangreicheren Denkschrift.“ 7  Fritz Backhaus, Die Einrichtung eines Ghettos für die Frankfurter Juden im Jahre 1482. Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 39 (1989) 59–86, hier 70 und 72. Modernanalytisch ersetzt ist seitdem die von Kracauer, Geschichte der Judengasse (wie Anm. 4) 308 Anm. 1, angekündigte und von dems., Geschichte der Juden in Frankfurt am Main (1150–1824), 2 Bde. (Frankfurt a. M. 1925), hier 1 184–208 (in der Marburger online-Ausgabe https://doi.org/10.17192/eb2010.0186, 201–225 [11. 1. 2020]), erfüllte Absicht einer ausführlichen Darlegung der „Verhältnisse und der Gründe, die zur Vertreibung der Juden aus der für ihren Handel so günstigen Lage unweit des Mains geführt haben“. 8  Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 72. 9  Die Zählung ist in Klammern gesetzt, um dem Eindruck entgegenzutreten, im späteren Mandat werde darauf Bezug genommen; statt dessen ist eine Befehlsfolge Historikerkonstrukt.



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Urkunden10 getroffen hat11. Das (erste) Mandat (Abb. 1 und 2) wurde am 19. August 1442 in Mainz datiert12, wo die mit dem König aus Frankfurt kommende Kanzlei an zwei Tagen nur sehr wenige Urkunden ausfertigte, ehe sie ihrem Herrn rheinaufwärts nachfolgte. Aus dem zwischen Freier Stadt und Residenz des Erzbischofs als des geistlichen Oberhirten und Chefs des St. Bartholomäusstifts changierenden Mainz selbst waren die Juden vier Jahre zuvor vertrieben worden. Dass der als Stadtherr übergangene Erzbischof dagegen klagte, ändert nichts an dem vergifteten Klima, dem das königliche Umsiedlungsmandat erwuchs13. Es gebot dem Frankfurter Stadtrat, die der Pfarrkirche benachbarte Synagoge zu zerstören und den Juden binnen Jahresfrist ein anderes Wohngebiet zuzuweisen, wo sie aus königlicher Gnade eine neue Synagoge bauen dürfen sollten. Sowohl textlich als auch formal weist es auf seine Betreiber (Impetranten) und Nutznießer hin. Textlich, indem es wie üblich auf das rekurriert, was von interessierter Seite vorgebracht worden war und worüber man schon in Frankfurt beraten habe. Nur ausnahmsweise ist des Königs persönliche Erfahrung eingeflossen, insofern er die ihm vorgebrachten Beschwerden über die Störung des christlichen Gottesdienstes durch die Nähe des jüdischen Viertels zur Pfarrkirche aufgrund seiner Teilnahme an der Fronleichnamsprozession vom 31. Mai bestätigen konnte14. Auf die judenfeindlichen Teile in Geistlichkeit und Stadtrat als die eigentlichen Urheber15 weist das Mandat formal dadurch hin, dass von ihm ungewöhnlicherweise zwei Ausfertigungen hergestellt wurden, deren eine der Rat und deren andere das Bartholomäusstift erhielt, welches im Text ja nur als Lokalität aufscheint16. Die Verfügung des Königs atmet also primär die antijüdischen Ressentiments derjenigen, die seinen Besuch genutzt haben, ihm ihre seit Beginn der 1430er Jahre virulent 10   Zu diesem Projekt der drei Wissenschaftsakademien in Berlin, Mainz und Wien siehe http://www. regesta-imperii.de/unternehmen/abteilungen/xiii-friedrich-iii.html [11. 1. 2020]; http://www.bbaw.de/forschung/regestaimperii/uebersicht [11. 1. 2020]; https://www.oeaw.ac.at/imafo/forschung/editionsunternehmen-quellenforschungmir/regesta-imperii-wien/projekte/friedrich-iii. [11. 1. 2020]. 11 Fritz Backhaus, Die Frankfurter Judengasse, in: Von der Steinzeit bis in die Gegenwart. 8000 Jahre städtebauliche Entwicklung in Frankfurt am Main, hg. von Evelyn Brockhoff (Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 76, Frankfurt a. M. 2016) 63–79, hier 66 mit Anm. 17, resümiert auf der Grundlage eines ihm übersandten ersten Entwurfs knapp das Ergebnis meiner im vorliegenden Aufsatz folgenden Beweisführung für das kaiserliche Mandat von 1458, bezieht es aber irrtümlich auf dasjenige von 1442. 12  Faksimiliert, transkribiert und regestiert als Beilage I. Für die überaus bereitwillige Bereitstellung der Reproduktionen und deren Abdruckgenehmigung sei Dr. Michael Matthäus, dem Leiter der „Alten Abteilung − Städtische Überlieferung bis 1868“ des Instituts für Stadtgeschichte im Karmeliterkloster Frankfurt am Main, herzlichst gedankt. Das ausführliche Regest bieten Regg.F.III. H. 4: Die Urkunden und Briefe aus dem Stadtarchiv Frankfurt am Main, bearb. von Paul-Joachim Heinig (Wien–Köln–Graz 1986) Nr. 42; Dietrich Andernacht, Regesten zur Geschichte der Juden in der Reichsstadt Frankfurt am Main von 1401–1519, Bd. 1, Tl. 1 und 2 (Forschungen zur Geschichte der Juden B/1, Hannover 1996) Nr. 700. Ein älterer Druck bei Achilles Augustus von Lersner, Der Weit-berühmten Freyen Reichs-Wahl-und Handels-Stadt Franckfurt am Mayn Chronica 2 (Frankfurt am Main 1734) 809. 13  Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 42; Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 700. 14  Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 72; Johannes Heil, „Gottesfeinde“ − „Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert) (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen 3, Essen 2006) 266, betont überzeugend die Sorge um die Unversehrtheit des Sakraments als Handlungsmotiv, nennt aber weitere in: ders., Die propagandistische Vorbereitung des Ghettos (wie Anm. 2) 137 passim. 15  Dass die königliche Intervention von Gleichgesinnten beider Institutionen initiiert wurde, wird durch den Beschluss des Stadtrats vom 22. Januar 1443 unterstrichen, eine Anfrage des Klerus wegen der Juden zu beantworten, Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 712–714. 16  Diese zweite Ausfertigung des Mandats belegt Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 700, siehe die Überlieferungsnachweise unter unserer Beilage I.

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gehaltenen Beschwerden17 nahezubringen und eine Umsiedlung legitimieren zu lassen18. Die damalige judenfeindliche öffentliche Meinung und deren Druck auf den Rat bezeugt das am 1. Januar 1439 aufgrund eines anonymen, bei Unterlassung mit Gottes Strafe drohenden Zettelanschlags erlassene Gebot an die Juden, ihre Häuser sonntags nicht zu verlassen und keine Geschäfte zu treiben19. Obwohl dies kontrolliert wurde20, mochten sich die Juden mit verständlichen Gründen nicht daran halten21, wogegen wiederum die Geistlichkeit des dem jüdischen Lebensquartier auf das Dichteste benachbarten Bartholomäusstifts protestierte und die öffentliche Meinung in ihrem Sinne beeinflusste. Ende Mai 1440 hat der Rat die rigide Verbotsforderung von Propst und Offizial nur halbherzig erfüllt, insofern er den Juden sonntags bestimmte Geschäftskontakte mit ihren christlichen Kunden gestattete, wenn dies in aller Heimlichkeit erfolge22. Diese Widersprüche blieben bestehen, weil sich bei der praktischen Planung einer Umsiedlung offenbar massive Probleme und Nachteile ergaben, von denen sich einige an dem späteren Vorgehen ablesen lassen. Dass im Prinzip „alles beim Alten“ blieb, lag abgesehen vom Widerstand der jüdischen Gemeinde gegen die Umsiedlung und der Tatsache, dass deren innerstädtische Betreiber augenscheinlich (noch) keine Mehrheit hatten, an der Besitzstruktur der von den Juden bewohnten und genutzten Immobilien, an deren Zinserträgen bzw. -belastung, den Kosten der alternativen Liegenschaften, den Umzugskosten usw. Realistisch wurde die Umsiedlung erst, als der radikal-erneuerte Impetus des Antijudaismus auf eine einbußenwillige Geistlichkeit und vor allem die Bereitschaft einer Stadtratsmehrheit traf, die Kosten kommunal zu tragen. Als man am Wollgraben längst baute, musste man vor allem mit den Zinseignern immer noch über die Transferierung der Ewigzinsen übereinkommen und etliche andere Begleitfragen klären23. 17  Mit den turnusmäßigen Stättigkeitsberatungen wurden seit Beginn der 1430er Jahre regelmäßig auch die Erwägungen des Frankfurter Rats aufgeworfen, die Juden ganz zu vertreiben oder doch aus ihrem ökonomisch höchst günstig südlich der Bartholomäus-Pfarr- und Königswahlkirche gelegenen Wohnviertel in einen anderen Bezirk der Stadt „umzusetzen“. 18  Noch vier Wochen vor Eintreffen des Königs stand Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 683, 685f. passim, zufolge die Frage, wie man sich der Juden entledigen könne, wieder auf der Tagesordnung des Rats, dessen mit dem Führen des Bürgermeisterbuchs Beauftragter zwischen 1441 und 1446 durch hypergehässige Bemerkungen die Haltung der Judenfeinde artikulierte. Für diesen hält Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 74, den Ratsschreiber Nikolaus Uff(en)steiner, welcher zugleich Spezereihändler und 1439 Mitglied der Patriziergesellschaft Frauenstein war. Eine Zusammenstellung der im Frankfurter Material des gesamten 15. Jahrhunderts singulären Ausfälle bietet Gundula Grebner, Haltungen zum Judeneid. Texte und Kontexte der Frankfurter Eidesformeln im 14. und 15. Jahrhundert, in: „… Ihrer Bürger Freiheit“ – Frankfurt am Main im Mittelalter. Gedenkschrift für Elsbet Orth, hg. von Heribert Müller (Frankfurt a. M. 2004) 141–173, hier 179 Anm. 103, weitere Analysen Johannes Heil, Die Zeichnung eines Frankfurter Ratsschreibers (~1450) und die Vorstellung von „jüdischer Verschwörung“ im Mittelalter, ebd. 175–195. 19  Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 530f. 20  Ebd. Nr. 550. 21  Ebd. Nr. 586. 22  Ebd. Nr. 587. 23  Ebd. Nr. 1463, 1508 passim verzeichnet die bis in die 1470er Jahre hinein nachfolgenden Verhandlungen des Rats mit den Besitzern von Zinsen (auf der alten Synagoge, dem jüdischen Friedhof und Zubehör) über die Übertragung der Zinsen; Verzeichnisse der Zinsinhaber, Höhe der Zinsen und Fälligkeitstermine; Entwürfe der auszutauschenden Verschreibungen. Ebd. Nr. 1726 eine von mehreren konkreten Regelungen: 1473 beurkundete der Rat einem seiner Mitglieder, dass dessen Ewigzins auf der wüst gewordenen Judenschule an der Bartholomäuskirche sowie dem dortigen Schulhof und dem Friedhof mit den jeweils zugehörigen Häusern künftig auf den in der Judengasse neuerbauten Äquivalenten lasten solle.



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Für die Frage nach der Initiative Friedrichs III. ist nicht nur faktographisch, sondern methodisch wichtig, dass sein Mandat von 1442 zwar eine Intensivierung der innerstädtischen Ambitionen, Beratungen und Planungen veranlasst hat24. Aber der Befehl wurde weder ausgeführt, und schon gar nicht binnen Jahresfrist, noch verlautet in den nicht wenigen Beziehungsquellen von Stadt und Herrscher irgendetwas über einschlägige Verhandlungen. Der baldige Kaiser Friedrich hat die Stadt wegen der Nichtbefolgung „seines“ Mandats jedenfalls weder gemahnt noch zur Rechenschaft gezogen, gemaßregelt oder gar bestraft. Mit seinem (zweiten)25 Umsiedlungsmandat vom 2. September 145826 griff er seinen von ihm und seinen Höflingen vielleicht gar nicht mehr erinnerten Befehl auch textlich nicht wieder auf, erneuerte ihn nicht, sondern willfahrte wie üblich dem Antrag eines äußeren Impetranten, dessen Initiative einige Höflinge gleichwohl unterstützenswert finden mochten. Aus Frankfurter Sicht erging der Befehl in einer äußerlich durch zwei Konflikte bestimmten Phase27, die den Rat, die Geistlichkeit und die Judenschaft in Anspruch genommen und sicherlich auch die öffentliche Stimmung beeinflusst hatten28: Gerade mühselig beigelegt worden war ein jahrelanger Konflikt mit dem Erzbischof von Mainz, der die Juden bezichtigt hatte, gegen das Wucherverbot und die Kennzeichnungspflicht zu verstoßen, welche die vom päpstlichen Legaten Nikolaus von Kues geleitete Mainzer Provinzialsynode von 1452 verfügt hatte29. Stärker noch als 24  Die Einträge des von antijüdischen Hasstiraden durchsetzten Bürgermeisterbuchs belegen die Ernsthaftigkeit der Umsiedlungsplanung. Im Mai 1443 zog der Stadtrat einen Juristen sowie zur Begutachtung der am Weckmarkt neben dem Leinwandhaus gelegenen Synagoge (Judenschule) den Baumeister hinzu. Im Juni 1443 entschied man, den Umsiedlungsplan bezüglich der auf Synagoge, Judenfriedhof usw. liegenden Zinse mit den Juden zu erörtern und anschließend mit den bereits unterrichteten Zinseignern zu vereinbaren. Dieser Plan scheint sich als ungenau erwiesen zu haben, als man drei Wochen später die Juden zusammengerufen hatte. Jedenfalls musste man beschließen, die Verlegung der Synagoge so lange anstehen zu lassen, bis die Juden ein Verzeichnis der darauf und auf dem Friedhof liegenden Zinse eingereicht hätten. Der Hauptanteilseigner dürfte das – in sich auch noch ämter- und damit einkunftsstrukturierte – Kapitel von St. Bartholomäus gewesen sein, dem auch die meisten Grundstücke der jüdischen Wohnbebauung gehörten, so dass es neben den Juden zum maßgeblichen Partner mehrerer Verhandlungsrunden bis Ende Oktober 1443 avancierte. Die Belege bei Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 718–720, 722, 725, 726, 728, 732. 25   Zur Zählung in Klammern s. Anm. 9. 26   Faksimiliert, transkribiert und regestiert als Beilage II. 27  Geschürt wurden diese Ventilierungen grundsätzlich dadurch, dass die Juden ein „Einfallstor“ für unliebsame Einflussnahmen auswärtiger Kräfte auf städtische Belange waren, allen voran für die Mainzer Erzbischöfe und für die Kaiser. Damit, dass die Juden Kaiser und Reich als „Kammerknechte“ angehörten und immer wieder zu namhaften Leistungen verpflichtet würden, argumentierte der Frankfurter Rat 1462 an der päpstlichen Kurie, als er um die Bewilligung zur Verlegung der Synagoge in die neue Judengasse ersuchte, siehe Anm. 81. Vgl. Karel Hruza, König Sigismund und seine jüdischen Kammerknechte, oder: Wer bezahlte „des Königs neue Kleider“?, in: Kaiser Sigismund (1368−1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen, hg. von Karel Hruza–Alexandra Kaar (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 31, Wien u. a. 2012) 75–136. 28  Gleichwohl war in den jetzigen Beratungen des Stadtrats im Unterschied zu den Jahren 1442ff. nicht mehr die Rede von einer Vertreibung; auch 1459 wurde den Juden erneute Stättigkeit gewährt, Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1159 passim. 29   Die vom Rat recht lax gehandhabte Kennzeichnungspflicht wurde immer mal wieder (so z. B. 1461) aufgeworfen, siehe Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 973, 977, 981, 1108, 1111, 1113, 1119, 1233, 1241 passim. Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 78 mit Anm. 119, sieht auch darin ein zunehmendes Reglementierungsmotiv des Rates. Auch auf geistliche Vorhaltungen oder Prozesse wegen Haltens jüdischer Wucherer musste der Rat sich immer mal wieder rechtfertigen. Im Zuge seiner radikalen Pläne zur rigorosen Ausplünderung der Juden im Reich, mit denen er dem Kaiser einen umfassenden antizollerschen Paradigmenwechsel schmackhaft machen wollte, prozessierte 1464–65 namens des Bischofs von Freising der herzoglichniederbayerische Kanzler Dr. Martin Mair wegen Zinseszinsnahme gegen alle jüdischen Gemeinden, auch

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dieses andauernde Skandalon, welches im Bewusstsein der Kanoniker des Bartholomäusstifts zweifellos täglich präsent war und durch die Frankfurter Auftritte des judenfeindlichen Franziskaners Johannes Capistran während der dortigen Reichsversammlung im Oktober/November 1454 angeheizt wurde30, erhielten auch die fraglos vorhandenen Ressentiments des Kaisers und seiner Bediensteten Auftrieb dadurch, dass der ebenfalls seit Jahren schwelende Konflikt um eine sog. „Krönungssteuer“ die Juden der herrscherlichen Ungnade preisgegeben hatte: Mit Rückendeckung des Frankfurter Stadtrats, der die Verhandlungen führte und die ihm verpfändeten Juden für nicht zahlungspflichtig erachtete, war die dortige Judengemeinde der ihr schon 1453/54 durch den kaiserlichen Gesandten und Fiskal Hartung Molitoris von Kappel (Cappel) übermittelten Forderung nach dem mehr als gewohnheitsrechtlich beanspruchten Ehrengeschenk anlässlich der Kaiserkrönung immer noch nicht nachgekommen31. Bei einem persönlichen Aufenthalt in Frankfurt hatte sich der Fiskal, der zur selben Zeit auch gegen andere Städte vorging und insbesondere die Vertreibung der Juden aus dem erzbischöflich-mainzischen Erfurt ahndete32, Anfang 1458 nach eigenem Dafürhalten mit dem Rat und den Juden auf eine Summe geeinigt und fühlte sich komplett desavouiert, als die Gegenseite sich über deren Höhe beim Kaiser beschwerte und um Minderung bat. Am 18. März 1458 teilte er dem Rat daraufhin mit, gegen die Juden – und nur gegen diese, nicht gegen den Rat – am Kammergericht Klage erhoben zu haben. In diesem Klima, welches durch die im Oktober 1450 ins Werk gesetzte rigide Enteignung und Vertreibung sämtlicher Juden aus dem Herzogtum Niederbayern33 (Obergegen die Frankfurter, siehe Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1409, 1412, 1415, 1418, 1438f., 1443–1450 passim. Im Jahr 1477 erwarb der Frankfurter Rat nach Einholung entsprechender Privilegien und Gutachten von Siena päpstliche Indulte, siehe ebd. Nr. 668. 30   Kommentierte Belege zu Anwesenheit und Predigten Capistrans in Frankfurt bieten die Deutsche(n) Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 19/2: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. 5, 2: Reichsversammlung zu Frankfurt 1454, bearb. von Johannes Helmrath–Gabriele Annas (München 2013) 426–460; siehe auch Gabriele Annas, Schätze im Verborgenen. Neue Quellenfunde zur Frankfurter Reichsversammlung im Herbst 1454, in: Eleganz und Performanz. Von Rednern, Humanisten und Konzilsvätern. Johannes Helmrath zum 65. Geburtstag, hg. von Harald Müller et al. (Köln 2018) 269–298. 31   Schon zur Königskrönung 1442 war eine „Verehrung“ (von 4.000 fl.) gefordert und ebenfalls stark verzögert entrichtet worden, siehe ergänzend zu Paul-Joachim Heinig, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389–1450. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungs­geschichte (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 108 = Beiträge zur Sozial- u. Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 3, Wiesbaden 1983) 81–101, die Belege bei Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 878, 885, 903, 908, 917f., 920, 922, 927, 934, 936, 940, 944. Belege zur sog. Krönungssteuer anlässlich der Kaiserkrönung ebd. Nr. 1005, 1010, 1018f., 1022–1024, 1029 (Hilfsersuchen an Niclas [Muffel?]), 1045f. (Verhandlungen mit Hartung von Kappel/Cappel), 1049, 1052, 1054f., 1134, 1138–1140, 1141, 1155, 1158 passim. Eine knappe, aber konzise Darstellung dieser Vorgänge, die sich 1461ff. fortsetzten, bietet Eberhard Isenmann, Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert (1. Teil). ZHF 7 (1980) 1–76, hier 30–32; zu Molitoris von Kappel (Cappel) siehe Heinig, Kaiser Friedrich III. (wie Anm. 3) 1720f. (Register). 32   Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 71 Anm. 81, erwähnt namentlich nur Halle an der Saale, doch etliche weitere Belege finden sich bei Isenmann, Reichsfinanzen (wie Anm. 31), sowie in der Gesamturkundendatenbank Friedrichs III. in den Regesta Imperii Online, URI: http://www.regesta-imperii.de. Zu Erfurt siehe Adolph Jaraczewsky, Die Geschichte der Juden in Erfurt nebst Noten, Urkunden und Inschriften aufgefundener Leichensteine (Erfurt 1868) 58f.; Eberhard Holtz, Erfurt und Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Berührungspunkte einer Territorialstadt zur Zentralgewalt des späten Mittelalters, in: Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, hg. von Ulman Weiss (Weimar 1992) 185–201, hier 188f. 33   Dazu und zu der mit dem Reichskrieg von 1461ff. verwobenen strafrechtlich-politischen Ahndung durch den Kaiser siehe Eberhard Isenmann, Kaiserliche Obrigkeit, Reichsgewalt und ständischer Untertanenverband. Untersuchungen zu Reichsdienst und Reichspoli­tik der Stände und Städte in der zweiten Hälfte



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bayern war 1442 vorangegangen) weiter verschärft wurde, erhielten diejenigen Teile in Gesellschaft, Rat und Geistlichkeit Frankfurts Auftrieb, welche die Lösung der religiösen wie der vermeintlich durch die Juden verursachten kommunalen Probleme schon immer durch deren Umsiedlung, wenn nicht Vertreibung für geboten hielten. Sie bildeten den gesellschaftlichen Nährboden einer vielleicht sogar vom Fiskal vermittelten Intervention bei den kaiserlichen Hofinstanzen zwecks Erlangung eines neuerlichen Mandats (Abb. 3 und 4), welches die tatsächlichen Umsiedlungsvorgänge säkular legitimierte und anstieß. Im Unterschied zu demjenigen von 1442, dessen zweite Ausfertigung ja dem St. Bartolomäusstift übergeben worden war, wurde nur ein einziges Exemplar ausgefertigt, welches ausschließlich an den Frankfurter Stadtrat ging und in dessen Archiv bis heute überliefert ist34. Es nimmt keinerlei Bezug auf das mittlerweile 16 Jahre zurückliegende (erste) Mandat35 und unterscheidet sich von diesem auch dadurch markant, dass keine Frist gesetzt und vor allem die Zerstörung der Synagoge nicht gefordert, diese gegenüber dem Wohnquartier überhaupt nicht gesondert angesprochen wird 36. Demgegenüber wird das „Ziel“ der Umsiedlung (ein annder zimlich ennde in der stattmawr) etwas genauer, fast analog den innerstädtischen Überlegungen vorgegeben. Formal und textlich ist da eine kaiserliche Handlungslegitimation erwirkt worden, die der aktuellen Stimmung in Frankfurt entsprach und nun auch im Rat „mehrheitsfähig“ war37. Und endlich kommen wir bei diesem Mandat im Unterschied zu 1442 über die bloße Vermutung der Initiative hinaus und können denjenigen namhaft machen, der als Beschwerdeführer diese Genehmigung impetriert hat. Zwar gibt auch deren Text ihn wieder nicht zu erkennen – statt einer Namensangabe heißt es lediglich vns ist angelangt. Aber eine leicht übersehene formale Kleinigkeit gibt den entscheidenden Hinweis: Am oberen Blattrand der Rückseite findet sich das Wort Sculteti, welches vom Regest als rückseitiger Kanzleivermerk identifiziert wird. Was bedeutet dies? Seitdem im Zuge der Regestierung aller Urkunden und Briefe Friedrichs III. auch die Praktiken seiner Kanzlei(en) hervorgetreten sind, ist evident, dass es sich um einen Abholer- oder Adress-, manchmal auch des 15. Jahrhunderts (masch. Habilitationsschrift Tübingen 1982) (Volltext unter https://kups.ub.uni-koeln. de/2321/[11. 1. 2020]), hier Teil I 172 (mit Anm. 594) passim. Neuerdings die Einleitung zu den Regg.F.III. H. 32: Die Urkunden und Briefe aus dem Staatsarchiv Bamberg und den Archiven und Bibliotheken des Regierungsbezirks Oberfranken sowie aus dem Bestand Rep. 106a (Fehdeakten) des Staatsarchivs Nürnberg, bearb. von Elfie-Marita Eibl (Wien–Köln–Weimar 2018) 31–33. 34   Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 285. 35   Zur Vorsicht bei der Zählung siehe oben Anm. 25. Auch die Aussage von Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 65, der Kaiser „erneuerte … seine Anordnung“, ist insofern unzutreffend. 36  Wie mit dieser zu verfahren sei, hielten der oder die, welche dieses Mandat impetrierten, offenbar nicht (mehr) für eine eigens oder eine vom Kaiser zu regelnde Sache; im Einvernehmen von Stadtrat und St. Bartholomäus holte man dann die Legitimation des Papstes ein. Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 67, vermutet begründet, der Rat habe „seine mittlerweile doch recht kostspielige Investition vor kirchenrechtlich begründeten Einsprüchen zu schützen“ getrachtet, im Lichte der Reskripttheorie vielleicht sogar vor Wankelmut des Kaisers und seines Hofes. Die von Johannes Heil, „Gottesfeinde“ (wie Anm. 14) 384 Anm. 55, referierte päpstliche Begründung entspricht einem klerikal-kurialen Reskript, denn Frankfurt hatte die Erlangung inklusive des Textes ja an Rudolf von Rüdesheim delegiert: „Nicht weil die Juden den Gottesdienst stören könnten (wie andernorts oft vorgebracht), sondern weil sie an ihren bisherigen Wohnorten ,die religiösen Zeremonien der Christen, Bestattung der Toten wie auch die Erhebung des Altarsakraments sehen und auch weiterhin sehen können‘.“ 37  Bis dahin war der Rat in der Frage, wie mit den Juden zu verfahren sei, tief gespalten gewesen: Während ein Teil die Juden sogar unterstützt zu haben scheint, hatte ein anderer bei passenden Gelegenheiten die Umsiedlung oder auch die Ausweisung ins Spiel gebracht, war aber bis 1460 auf die „Ablehnung der Majorität“ gestoßen, Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 74.

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Betreffsvermerk handelt, der von den am kaiserlichen Hof mit der Expedition resp. Distribution Befassten in der Regel hilfsweise angebracht wurde, um die offenbar mit den Rückseiten nach oben gestapelten Ausfertigungen bei der Aushändigung leichter auffinden zu können38. Ist man erst einmal auf diese Bedeutung fokussiert, hat die Suche nach einem Namen rasch Erfolg: Gemeint ist zweifelsfrei ein gewisser Heinrich/Henricus Sculteti, denn dieser war Kustos des Frankfurter Bartholomäusstifts und befleißigte sich noch in den 1480er Jahren einer auffallenden Rigidität, die der Frankfurter Stadtrat mittels des Kaisers abzuweisen trachtete39. Über Herkunft, Lebensweg und Persönlichkeit dieses Heinrich Sculteti lassen sich ohne intensive Archivforschung nur wenige gesicherte Aussagen treffen40. Erste Pfründennachrichten de anno 1455 verweisen auf die Diözese Speyer41, doch verortet ihn die neuerliche Anwartschaft auf eine Vikarie an der Mainzer Kathedrale als – möglicherweise im hessisch-thüringischen Grenzgebiet beheimateten – clericus der Diözese Mainz42. Ihn mit einem Gleichnamigen zu identifizieren, der 1399 als Angehöriger der sächsischen Nation an der Prager Juristenuniversität immatrikuliert wurde43, zögert man, weil er erst fünfzig Jahre später in den Quellen erscheint44. Jedenfalls verzeichnet die kuriale Überlieferung für ihn Ende November 1455 die Verleihung von einem Kanonikat und Präbende an St. Bartholomäus in Frankfurt sowie einem Kanonikat an St. Marien in Erfurt, welches sein Bruder Konrad prozessual erstritten und nun resigniert hatte. Knapp drei Jahre später hatte er Frankfurter Quellen zufolge mittels einer kaiserlichen Ersten Bitte und aus „Furcht vor Strafe“45 das dortige Kanonikat tatsächlich erlangt und war sogar Kustos 38  Zu solchen, speziell aber zu Gebühren-Vermerken und den detaillierten Urkundenkosten siehe ausführlich Paul-Joachim Heinig, Der Preis der Gnade. Sporteln, Kanzleitaxen und urkundliche Gebührenvermerke im europäischen Mittelalter, in: Regionen Europas – Europa der Regionen. Festschrift für Kurt-Ulrich Jäschke, hg. von Peter Thorau et al. (Köln–Weimar–Wien 2003) 143–165. 39   Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 837f. 40   Im Weiteren wird er Heinrich Sculteti genannt. Vor- und Familienname Heinrich (Henricus, Heinoder Heynricus) Sculteti (Schulteti, Schultheis, Schultheissen u. ä.) sind variantenreich und nicht eben selten. Ein Abbild bietet z. B. das RG Online ab Bd. 5 (Eugen IV.) mit den Varianten: Henricus Schulte, Henricus Schultheis Schulteys al. Ribi Rabi, Henricus Sculten, Henricus Schulteti Schulten I, Henricus Sculteti II, Henricus [S]culteti III, Henricus Sculteti IV, Henricus Sculteti de Fritzlaria. Für uns lassen sich einige Alternativen aufgrund des Wirkungsortes ausscheiden, so z. B. in den Bereichen Regensburg und Konstanz/Straßburg, aber auch ein vielgenannter aus Fritzlar. 41   RG Online (wie Anm. 40), RG VII 0099 und 00993, http://rg-online.dhi-roma.it/RG/7/0099 und /RG/7/993 [11. 1. 2020]. Auf eine dortige Pfründe resignierte laut RG VIII 01972 1458 ein gleichzeitig belegter Namensvetter aus Fritzlar zugunsten des Abbreviators Heinrich Ruwe, eines Familiaren des Kardinaldiakons und Vizekanzlers Rodrigo Borgia. 42  RG Online, RG VII 0099 und 00993, http://rg-online.dhi-roma.it/RG/7/0099 und /RG/7/993 [11. 1. 2020]. 43  RAG-ID: ngTJ3K274SB0dipLnT4i5Rfq), https://resource.database.rag-online.org/ngTJ3K274SB0dipLnT4i5Rfq [11. 1. 2020]. 44   Außerdem hätte er dann sehr spät Karriere gemacht und wäre überdies weit über achtzig Jahre alt geworden. Auch Gerhardt Powitz, Privater Buchbesitz in Frankfurt am Main während des späten Mittelalters. Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 66 (2000) 161–199, hier 175–178, dem etliche der hier angeführten Daten verdankt werden, belegt ihn als Frankfurter Kanoniker und Kustos von 1457–1483. 45  Diese Angabe mit der Inbesitznahme um 12. Juni 1457 herum bei Wolf-Erich Kellner, Das Reichsstift St. Bartholomäus zu Frankfurt am Main im Spätmittelalter (Studien zur Frankfurter Geschichte 1, Frankfurt a. M. 1962) 103. Die mit der von ihm initiierten Inventarisierung des Kirchenschatzes verbundene Angabe von Markus Maisel, Sepulchrum domini. Studien zur Ikonographie und Funktion großplastischer Grablegungsgruppen am Mittelrhein und im Rheinland (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 99, Mainz 2002) 220, er habe die Kustodie erst 1460 erlangt, ist sicher irrig.



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geworden, als welcher er offenbar (Amts- oder Kanonikats-) Einkünfte aus dem stiftischen Pfründen-Haus „zum (großen) Appenheimer“ auf dem Römerberg bezog46 und bis zu seinem Tod 1483 belegt ist. Demgegenüber machte die Beerbung seines mittlerweile verstorbenen Bruders47 in Erfurt, wo die Verleihungstradition ebenfalls kaiserlichen Einfluss aufweist, Schwierigkeiten. Sie war ebensowenig erfolgreich wie die 1458 erlangte Providierung auf ein Kanonikat an St. Victor in Mainz und weitere in der heimischen Diözese48. Trotz dieser relativen Erfolglosigkeit spricht die Anzahl seiner in den Jahren 1455 bis 1458 zentrierten Verleihungen und Anwartschaften49 dafür, dass er Kontakte sowohl zum kaiserlichen Hof als vor allem auch zur römischen Kurie besaß. Mit Papst Pius’ II. Fami­ liaren Heinrich Steinhoff lässt sich einer seiner kurialen Förderer sogar namhaft machen50, doch musste er andererseits 1463 gegen den dortigen Prokurator Nicolaus Sack prozessieren51. Auch von den Angehörigen des kaiserlichen Hofes dürften ihm zumindest die zu Verhandlungen in Frankfurt weilenden „Diplomaten“, nicht zuletzt die Fiskale bekannt gewesen sein, so dass er persönliche oder vermittelte Kontakte zum Kaiser und dessen Kammergericht nicht zu scheuen brauchte. Natürlich hatte er mannigfache positive wie negative Berührungspunkte mit der Frankfurter Stadtverwaltung. So bezeugte er am 13. Juli 1469 gemeinsam mit einem Kanoniker des Liebfrauenstifts, dass Bürgermeister Walter d. J. Schwarzenberg einem geschworenen (Frankfurter) Boten den Auftrag erteilte, einem von der Stadt am kaiserlichen Kammergericht Verklagten eine Vorladung zu insinuieren52. Weil er das Kustodenamt erkennbar ernst nahm und seine eher geringen Einkünfte offenbar rigide eintrieb, um unter anderem seiner Bücherliebe frönen zu können, konfligierte er 1481 mit dem Stadtrat, welcher sogar mittels kaiserlicher Intervention gegen ihn vorging53. Seine Bibliothek umfasste mindestens elf Titel in vierzehn Bänden, die nach seinem und seines Verwandten und Amtsnachfolgers Johannes Leys Tod († 1484)

46   Johann Georg Batton, Oertliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main, a. d. Nachlass hg. von Ludwig Heinrich Euler, 3. H.: Altstadt (Frankfurt a. M. 1864) 223f., zufolge nahm das Kapitel 1460 vom Pfarrer 40 fl. zum Bau dieses Hauses auf, wofür er jährlich an Martini 2 fl. Zins erhalten sollte. „Das Haus wurde ihm zum Unterpfande verschrieben und Henricus Sculteti Canon. als damaliger Besitzer gab seine Einwilligung dazu.“ Traditionell erhielt der Kustos zudem jährlich ein Pfund Heller zum Ausgleich für das städtische Verbot, auf dem Pfarreisen vor dem Friedhof Waren zu verkaufen, ebd. 245. 47   Glaubwürdigen Angaben zufolge starb Konrad in den 1450er Jahren. Er muss in RG Online (wie Anm. 40): RG VIII Nr. 764 zum 2. Dezember 1458 mit seinem gerade damals in Frankfurt etablierten Bruder, unserem Heinrich, verwechselt worden sein, wenn es heißt: „Conradus Scultetus presb. Magunt. dioc. de can. et preb. colleg. eccl. s. Bartholomei Francfford. d. dioc. (6 m. arg. ) vac. p. o. Johannis Ytzsten, fiat motu pr. pro Henrico Steinhoff fam. pape 2. decb. 1458 S 515 213r.“ 48   Laut RG Online: RG VII 0099 und RG VII 01116, resignierte er Erfurt zugunsten des Kurienprokurators Lic. iur. utr. Hugo Forster, der auch an St. Victor in Mainz von einer Resignation profitierte, diesmal des früheren kaiserlichen Protonotars Heinrich Leubing. Sollte es sich um unseren Probanden handeln, dann bringen ihn seine Anwartschaften auf kleinere Präbenden in der Diözese Mainz in einen Zusammenhang mit Johannes Rule von Idstein († vor 1458), der auch in Kontakten zu Frankfurt belegt ist. 49   Siehe auch z. B. RG Online (wie Anm. 40): RG VIII 01994. 50   Zu Heinrich Steinhoff und seinem Halbbruder Johann siehe Heinig, Friedrich III. (wie Anm. 3) 744, 803. 51   Powitz, Privater Buchbesitz (wie Anm. 44) 177. 52  Regg.F.III. H. 8: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven der Regierungsbezirke Darmstadt und Gießen, bearb. von Dieter Rübsamen (Wien–Weimar–Köln 1993) Nr. 282. 53  Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 837f.; Kellner, Das Reichsstift St. Bartholomäus (wie Anm. 45) 35, 54.

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testamentarisch an die communis libraria des Stifts gingen54. Aus dieser hatte er noch am 1. Januar 1482 gegen Vorauszahlung von 10 fl. für ebenso viele Jahre Bücher entliehen, so dass ihn der Tod zweifellos überrascht hat. Sollte es dessen bedürfen, wird die Bedeutung des Vermerks Sculteti durch zahllose Vergleichsfälle aus der gesamten Regierungszeit Friedrichs III. bewiesen. Einer davon aus dem hier allein berücksichtigten Frankfurter Material steht sogar inhaltlich in unserem Zusammenhang: Entsprechend allgemeinem Usus55 wurde der zu Verhandlungen über die den Juden abverlangte Krönungssteuer nach Frankfurt abgeordnete Fiskalprokurator am 14. Oktober 1457 mit einer „Kredenz“ beglaubigt56, auf deren Rückseite sich außer der Adresse in der Blattmitte57 auch der kanzleiinterne Vermerk M(eister) Hart(ung) am Blattrand befindet. Auch hier markierte die kaiserliche Kanzlei damit zur leichteren Unterscheidung innerhalb täglich zahlreicher Urkunden und Briefe denjenigen, der das Schriftstück in Auftrag gegeben hatte, dem sie es ggf. gegen Bezahlung aushändigte und der es – wie hier konkret der „Staatsanwalt“ im kaiserlichen Dienst – mit sich führte und in Frankfurt persönlich übergab58. Derselbe Usus lässt bei dem zwei Monate später ausgefertigten Mandat an Frankfurt, die jährliche Stadtsteuer zu entrichten, den Markgrafen Albrecht „Achilles“ von Brandenburg als Impetranten (und Begünstigten) erkennen59. Genauso wurden natürlich auch Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt als Impetranten gekennzeichnet60. Markiert wurden so i. ü. außer Impetranten auch Betreffe61, was gelegentlich nicht unterscheidbar ist62. Die zu Jahresbeginn 1454 ausgefertigte Ladung von Bürgermeistern und Rat der Stadt Nürnberg zum Regensburger Türkenreichstag im April trägt rückseitig außer der Adresse auch noch die Namen der beiden städtischen Gesandten Niklas (III.) Muffel und Hans Pirckheimer63, 54   Dies und das folgende Zitat nach Powitz, Privater Buchbesitz (wie Anm. 44) 175–178: „Mehrere Bände tragen Inskriptionen, aus denen ihre Zugehörigkeit zu dem Legat von Schultheissen hervorgeht. Als Einbandmakulatur sind hauptsächlich Reste lateinischer Pergamenturkunden (1455–1465) verwendet, die Schultheissen betreffen und aus seinem Besitz stammen dürften. Die Bücher blieben in ihrer Mehrzahl bis zur Säkularisation im Stift erhalten und befinden sich heute in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.“ Ebd. 176. 55  Paul-Joachim Heinig, Der König im Brief. Herrscher und Hof als Thema aktiver und passiver Korres­ pondenz im Spätmittelalter, in: Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, hg. von Heinz-Dieter Heimann–Ivan Hlaváček (Paderborn u. a. 1998) 31–49; ders., Römischdeutscher Herrscherhof und Reichstag im europäischen Gesandtschaftssystem an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, hg. von Rainer Ch. Schwinges–Klaus Wriedt (VuF 60, Ostfildern 2003) 225–263. 56   Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 270; Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1134. 57   Den ersamen unsern und des reichs lieben getrewen burgermeister und rate der statt zu Frankfort (Adresse, Blattmitte). 58  Dort wurde es gemeinhin archiviert. Dasselbe Verfahren belegt die Bitte des Kaisers um Unterstützung seines Dieners Friedrich Mayr bei dessen Gütertransport zu Erzherzog Maximilian in die Niederlande in den Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 789. 59  Ebd. Nr. 271 mit dem rückseitigen Vermerk Marggraf. Ein weiteres Beispiel ist ebd. Nr. 249 Münsmeister zugunsten des kaiserlichen Münzmeisters Konrad von Steeg in Frankfurt. 60  Siehe z. B. ebd. Nr. 31. Besonders instruktiv auf der Rückseite der mit Regg.F.III. H. 8 (wie Anm. 52) Nr. 382f. regestierten Mandate an Bornheim bzw. einige Ritter jeweils: Franckfurt bzw. Franckfort (oberer Blattrand), wobei letzteres die Erlangung durch die Stadt selbst zusätzlich durch eine zettelgeschriebene Insinuationsnotiz erkennen lässt. 61   Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 299, 476, 799. 62  Ebd. Nr. 477. 63   Regg.F.III. H. 19: Die Urkunden und Briefe aus den Nürnberger Archiven und Bibliotheken, 2. Fasz.: 1450–55, bearb. von Dieter Rübsamen (Wien–Weimar–Köln 2004) Nr. 420: Muff(el), Birkhaim(er) (oberer Blattrand).



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welche die Ladung aus der Kanzlei in Wiener Neustadt erhielten und mit sich nach Hause führten. Im Lichte dieser diplomatisch-hilfswissenschaftlichen Indizien und der Erkenntnisse moderner Verfassungsgeschichte erfährt die vor dreißig Jahren von Fritz Backhaus begonnene Relativierung der alleinigen Verantwortung Kaiser Friedrichs III. für die Errichtung des Frankfurter Ghettos einen weiteren Schub. Denn die Regierung des Reiches funktionierte wie die der Papstkirche in einem traditionellen „Wechselspiel von Supplik (Petition) und herrscherlichem Reskript … überwiegend geschäftsmäßig“64. Diesem „Reskriptsystem“ eignete urkundentechnisch nicht nur das klassische Gratialwesen der Di­plome, sondern auch ein großer Teil der Mandate65, ja, die Einsicht, dass „die große Masse der Mandate … gleichfalls von ‚privaten‘ Impetranten erbeten und bezahlt worden“ ist66, ist zur angemessenen Deutung des „Zeitalter[s] der Reskripttechnik“ unabdingbar67. Dies gilt es bei der Beurteilung der vermeintlich wankelmütigen Judenpolitik des Kaisers wie auch der Päpste zu berücksichtigen. „Diese Widersprüchlichkeit zeigt, dass die einzelnen Inhalte wohl weniger von der Person des Ausstellers, als vielmehr von den Umständen und auch den Vorgaben der Bittsteller abhingen.“68 Nominell stammen somit die Anordnungen zur Umsiedlung der Frankfurter Juden zwar vom Kaiser, faktisch aber wurden sie initiiert von Interessenten vor Ort, was sich für das entscheidende Mandat von 1458 nun beweisen und namhaft machen lässt. Und Heinrich Sculteti handelte fraglos nicht individuell, sondern namens des Bartholomäus­ stifts, als dessen Kustos er gleichsam amtlich zuständig war für die Prozessionen und sonstigen Zeremonien, aber auch für die Verwaltung der stiftseigenen Immobilien und Güter 64 Eberhard Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in den Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.– 17. Jahrhundert), in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. von Roman Schnur (Berlin 1986) 545–628, hier 563, 578, 591, 597, hat dieses System mit seinen gravierenden Schwächen und deren tendenzielle „Heilung“ durch römisch-rechtliche Einflussnahmen der Impetranten und Betroffenen skizziert. 65   Diese Erkenntnis zuletzt ausgeführt und abgegrenzt gegen die nicht durch Impetrantenwünsche urgierten, sondern von den Herrschern aus eigenem Willen und Bedürfnis erlassenen Mandate (die nicht einfach identisch sind mit den motu proprio ergangenen) hat Paul-Joachim Heinig, Monarchismus und Monarchisten am Hof Friedrichs III., in: König und Kanzlist, Kaiser und Papst. Friedrich III. und Enea Silvio Piccolomini in Wiener Neustadt, hg. von Franz Fuchs–Paul-Joachim Heinig–Martin Wagendorfer (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 32, Wien–Weimar–Köln 2013) 151–179, hier 174. 66   Heinig, Kaiser Friedrich III. (wie Anm. 3) 849 Anm. 8, der Hinweis auf Ernst Pitz, Die römische Kurie als Thema der vergleichenden Sozialgeschichte. QFIAB 58 (1978) 216–345, welcher 226f. den Kern der von ihm 1971/72 für das Wirken der Päpste wie der Kaiser grundgelegten „Reskripttheorie“ verteidigte, derzufolge es „die Petenten waren ... , welche die Arbeit der Kurie in Gang setzten und in Gang hielten. Die Päpste haben ihre Entscheidungsmacht nicht einer widerstrebenden Welt aufgedrängt; die Petenten riefen sie freiwillig an, weil sie ... darauf vertrauten, beim Apostolischen Stuhle die lauterste Quelle des Rechtes zu finden und damit auch den größten eigenen Vorteil ... . Auch für das Verständnis der Kaiserurkunden gilt, dass man Widersprüche in den Texten zum größten Teil auf Interessenkonflikte unter den Petenten zurückführen kann“. 67   Heinig, Kaiser Friedrich III. (wie Anm. 3) 849f., klassifiziert die unterschiedlichen Mandate und parallelisiert die Struktur des sog. Taxregisters, dessen „Einträge textlich auf den zahlenden Impetranten hin fixiert wurden“, siehe Das Taxregister der römischen Kanzlei 1471–1475 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Hss. „weiss 529“ und „weiss 920“), 2 Teile, bearb. von Paul-Joachim Heinig–Ines Grund (Regg.F.III. Sonderbd. 2, Wien–Weimar–Köln 2001) XI mit Anm. 12. 68   Heil, Vorbereitung (wie Anm. 2) 151, hat auf die Parallele Papst Sixtus’ IV. hingewiesen, dessen Verhalten gegenüber den Juden in Europa ebenfalls eine schwer zu begreifende Ambivalenz zwischen Ausgrenzung und Beschränkung sowie Duldung, Beschützung und Förderung aufweist.

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einschließlich der benachbarten Judenhäuser69. Unterstellt man wegen der Relevanz des Falles, dass die von Sculteti erwirkte Intervention dem Kaiser persönlich bekannt war – was nach den höfischen Gepflogenheiten keineswegs sicher ist –, hat er gleichwohl primär dem Wunsch eines – 1458 namentlich bekannten – Impetranten stattgegeben. Eine sachliche Prüfung derartiger Wünsche fand üblicherweise nicht statt, d. h., dass erst die Publikation der Verordnung selbst durch den Impetranten Widersprüche zu evozieren vermochte und diese dann geltend gemacht werden konnten. Die Realisierung kaiserlicher wie päpstlicher Verfügungen erfolgte in einer Art langwierigen „trial and error“Verfahrens. In einem solchen Reskript-System wurde dem oder den Bittstellern auch die Nutzung der von ihnen selbst erwirkten Diplome oder Mandate überlassen. Weil z. B. deren Nichtdurchführung keineswegs oder nur ausnahmsweise geahndet wurde (ja, am kaiserlichen Hof wusste man schon bald nach der Gewährung derartiger Urkunden gar nichts mehr von ihnen), hätte der zweite kaiserliche Befehl von 1458 ebenso lang oder überhaupt nicht ausgeführt werden müssen wie derjenige von 1442. Diesmal aber schritten die Frankfurter zur Tat. Am 6. Mai 1460 unterrichtete der Rat die Judenschaft darüber, dass in den seit 15. April intensivierten Beratungen über das kaiserliche Mandat von einem Sechserausschuss vorgeschlagen worden sei, sie auf den außerhalb der Stadtmauer gelegenen Wollgraben umzusiedeln und ihre Synagoge an den Rat zu nehmen; zur Absicherung des Vorgehens vergegenwärtigte man sich die Urkunden über die Judenpfandschaft70. Der jüdischen Gemeinde war sehr wohl bewusst, dass die neue Bedrohung nicht vom Kaiser persönlich initiiert war. In ihrer supplikatorischen Stellungnahme vom 13. Mai 146071 beschwerte sie sich über die erneuten Beschwerunge und Vorbrengonge, durch die sie Arme, die nächst Gott niemand anderen als den Stadtrat über sich hätten, beim Kaiser unfreuntlich dargeben, also zu Unrecht verleumdet worden seien. Trotzig warnten sie, sollten wir unß verantwertten an den Enden, wir versaget sin worden, wir wollten dy Woreheyt bestoen. Die ähnlichen Vorhaltungen des herrscherlichen Mandats von 1442 hätten sich bei einer Überprüfung durch eine Ratsdeputation jedenfalls als nicht stichhaltig erwiesen, so dass alles beim Alten geblieben sei. Auch diesmal mögen die behaupteten Missstände geprüft und ggf. mit ihrer Mitwirkung abgestellt werden, wobei man es aber bitte bei (weiteren) Abmauerungsmaßnahmen belassen möge. Wenn der Rat darauf bestehe, möge ihre Gasse auch verschlossen werden, doch bat man inständig und mit einer ganzen Reihe praktischer Gründe darum, von einer Umsiedlung auf den ihnen vollkommen ungelegenen Wollgraben abzusehen. Dem wurde nach kurzzeitigem Entgegenkommen nicht entsprochen, sondern am 10. Juli 1460 die Umsiedlung vor die Staufermauer und die ersten Bau-, Zuständigkeitsund Organisationsmaßnahmen zum Bau der dortigen Judenhäuser und der Synagoge 69  Matthias Theodor Kloft, Ideal und Wirklichkeit. Probleme der Umsetzung bei Regel- und Ausnahmegottesdiensten in der Königswahlkirche Frankfurt, in: Ritualmacher hinter den Kulissen. Zur Rolle von Experten in historischer Ritualpraxis, hg. von Jörg Gengnagel–Gerald Schwedler (Performanzen 17, Berlin u. a. 2013) 91–120, hier 98, hat die im Rahmen der Karls- und Bartholomäustags-Feiern besondere Funktion des Kustos für das ganze Zeremoniell hervorgehoben. Außer der Verwaltung der Gebäude und Güter war er auch zuständig für die Versorgung Armer und Kranker. Seine Nachfolger waren Johannes Leys (1483/84) und ab 1485 Georg Schwarzenberg, dem wir einen Bericht über den Frankfurter Auftritt der Kapelle König Maximilians I. zu Ostern 1486 verdanken. 70   Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1209, 1212. 71   Die Bittschrift der Juden referiert Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 65f., doch ebenso wie das Regest von Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1213 ohne die für die Zuschreibung der Initiative aufschlussreichen Zitate, hier nach dem Druck von Lersner, Chronica 2 (wie Anm. 12) 809–812.



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beschlossen72. Zufolge dem damals begonnenen und mit der Aufschrift Nuy Egypten73 versehenen „Baubuch der Judengasse“ wurden bis Ende 1463 bei planerischer und finanzieller Beteiligung der Juden Mietwohnhäuser und einige infrastrukturelle Gebäude für (städtische) Gesamtkosten von rund 6300 fl. errichtet, ausgestattet und bezugsfertig74. Bei der Hausvergabe wollte der Rat auf sein Bestes bedacht sein, doch erhob er einen so „mäßigen Hauszins“, dass sich der befürchtete Abzug von Juden in Grenzen gehalten zu haben scheint75, ja das neue Quartier zog im Gegenteil Niederlassungswillige an. Die Synagoge warf noch ganz eigene Probleme auf, bei deren Lösung der Stadtrat wieder mit Heinrich Sculteti zusammenarbeitete, dem die ganze Aktion durch Erwirkung der kaiserlichen Intervention ja maßgeblich initiierenden Kustos des Bartholomäusstifts. Darin drücken sich erneut die übereinstimmenden Veränderungsmotive von Rat und Klerus in Frankfurt sowie des Rats hohes Legitimationsbedürfnis aus. Ehe man mit dem Abriss der alten und dem Bau einer neuen Synagoge begann, der dann zwischen Mai 1461 und Mai 1462 erfolgte76, fragte man beim Kustos an, ob und von wem man eine kirchenrechtliche Genehmigung zu deren Verlegung einholen solle77. Der Initiator der Umsiedlung musste zusammen mit den Prälaten und dem ganzen Kapitel „seines“ Stifts schon deshalb in die Realisierung eingebunden werden, weil das Stift als Eigentümer etlicher der von den Juden „freigesetzten“ Grundstücke oder Häuser, auf denen i. ü. auch Zinsgülten christlicher Mitbürger lagen, über deren weitere Verwendung befinden oder als bloße Nachbarn daran interessiert sein mussten. Wegen der anhaltenden Mainzer Stiftsfehde, deret- und des Reichskriegs gegen die Wittelsbacher wegen kaiserliche Hauptleute die ihnen zur Finanzierung überlassenen Juden mit teils ungeheuerlichen Begründungen auszuplündern trachteten78, entschied man sich dafür, die Genehmigung direkt vom Papst   Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1221.   Ein Faksmile in Felicitas Schmieder–Kerstin Schulmeyer (und Lisbeth Ehlers), Art. Bürgerstadt, in: FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt, hg. von Lothar Gall (Sigmaringen 1994) 43–68, hier 60; siehe auch Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1253; Kracauer, Geschichte der Judengasse (wie Anm. 4) 308 mit Anm. 2, beschreibt die beiden „Bau-“, richtiger „Rechenbücher“. 74  Weitere Belege für diese Bauzeit erschließt Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1244, 1268– 1270, 1272, 1275, 1292 passim, 1327, 1333f., 1343, 1346, 1348, 1376. Zu den Kosten ebd. sowie Kracauer, Geschichte der Judengasse (wie Anm. 4) 308. 75  Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1224, 1226, 1287; die Bewertung der „Mietkosten“ nahm Kracauer, Geschichte der Judengasse (wie Anm. 4) 309, vor, siehe auch ebd. 310f. 76  Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1253. 77 Ebd. Nr. 1245, siehe dazu auch das folgende sowie ebd. Nr. 1283, 1306f., 1310, 1315, 1318. 78  Siehe zu diesen Vorgängen insgesamt ebd. Nr. 1252–1255, 1256, 1299, 1302, 1308f., 1311–1314, 1316, 1335f., 1342, 1345, 1350, 1351, 1355, 1359f. (9 Stättigkeitszinsen zahlende Familien), 1364 passim (!), 1374–1376, 1380f. (Vereinbarung), 1393–1395 passim (neue, zusätzliche kaiserliche Besteuerungsverfügung, diesmal für Markgraf Karl von Baden). Ebd. Nr. 1351 begründete am 14. Juni 1463 Markgraf Albrecht „Achilles“ von Brandenburg-Ansbach seine Forderung nach 4000 fl. von den Juden zu Frankfurt (und anderswo) mit dem völlig neuartigen Argument, dem König/Kaiser stünde beim Regierungsantritt ein Drittel aller jüdischen Vermögen zu, damit er auf sein altes Recht verzichte, alle Juden töten zu lassen bis auf wenige, die er zu ewigem Zeugnis ihrer Schuld leben lassen könne. Diese Begründung fand weder Niederschlag in den Unterstützungsbullen, die er von Papst Pius II. erlangte, siehe RG Online (wie Anm. 40): RG VIII 00076 − Albertus marchio dux Brandenburg. 6. mart. 1464 S 572 97rss und 14. apr. 1464 V 511 27vs (http://rg-online. dhi-roma.it/RG/8/76 [2. 3. 2020]), noch vor allem die Zustimmung des Kaisers selbst. Ausführlich und im großen Zusammenhang analysierte dies 2018 in einigen öffentlichen Vorträgen Jörg Feuchter unter Titeln wie „Tötungsrecht und Tötungsverbot. Die ‚Judenpolitik‘ von Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg und Kaiser Friedrich III. im Lichte ihres Geheimplans zur Ausplünderung der Gemeinde von Nürnberg (1463/64)“. Die Basis boten die Regg.F.III. H. 32: Die Urkunden und Briefe Kaiser Friedrichs III. aus dem Staatsarchiv Bamberg und den Archiven und Bibliotheken des Regierungsbezirks Oberfranken sowie aus dem Bestand Rep. 72 73

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einzuholen. Vermitteln sollte dies der Legat, Domdekan zu Worms sowie Propst von St. Viktor in Mainz Rudolf von Rüdesheim, den man in Worms wähnte79. Am 26. August 1462 informierte man diesen durch einen eigenen Boten über den abschriftlich beigefügten Befehl des Kaisers zur Umsiedlung der Juden und die Erlaubnis zum Neubau von deren Synagoge und ersuchte ihn, dafür auch die Zustimmung des Papstes zu erwirken80. Dafür wolle man 20 bis 30 fl. aufwenden, die aber ausreichen müssten, weil sie aus der Kasse der Stadt, nicht der Juden kämen. Und um von vornherein auch ein weiteres Hindernis zu beseitigen: Einfach „abtun“, also loswerden, vertreiben, könne man die Juden auch nicht, weil Frankfurt des Reichs Kammer sei und die Juden als Kammerknechte darein gehörten81. Rudolf antwortete am 11. September überaus zuvorkommend82, weil er persönlich nicht so bald nach Rom komme – er erlangte gerade damals das Bistum Lavant und weitere kaisernahe Pfründen −, habe er den Frankfurter Boten sogleich nach Rom abgefertigt und mit persönlich von ihm vorgestreckten Geldanweisungen sowie Empfehlungsschreiben an Kardinal Nikolaus von Kues und andere Förderer versehen. Die Genehmigungsbulle Papst Pius’ II. trägt das Datum vom 7. Oktober 146283. Sie war ebensowenig „motu proprio“ wie das Mandat des Kaisers, sondern von Frankfurter Impetranten interessengesteuert. Vier Wochen später beriet der Frankfurter Rat erneut über die Verlegung und beschloss am 18. November, mit den Inhabern von Ewiggülten auf der alten Synagoge Verhandlungen aufzunehmen84. Am 11. Januar und 2. Februar 1463 hieß es, die Juden sollten die alte Synagoge bis zum 22. Februar räumen sowie die neue ausstatten und beziehen85. Dies war nicht nur deshalb unsinnig, weil es Probleme mit den „Rentnern“ gab, sondern weil vor allem der Neubau der Synagoge noch gar nicht fertiggestellt war, zu deren Einwölbung die Juden noch Anfang Juni 1463 – vergeblich – einen Zuschuss erbaten. Einer der Gründe, warum die Befürworter einer Umsiedlung in Bürgerschaft, Rat und Geistlichkeit sich vor 1460 nicht durchzusetzen vermochten oder auch selbst zurücksteckten, dürfte die Problematik der Zinslasten auf den jüdischen Wohnhäusern und Einrichtungen wie speziell auf der Synagoge gewesen sein. Nicht zuletzt das Bartholomäusstift als (Grund-) Eigentümer hatte entschädigungslose Einkommensverluste zu gewärtigen86. 106a (Fehdeakten) des Staatsarchives Nürnberg, bearb. von Elfie-Marita Eibl (Wien–Weimar–Köln 2018), z. B. Einleitung 31–33. 79  Zu Rudolf Hecker von Rüdesheim siehe Heinig, Kaiser Friedrich III. (wie Anm. 3) 473 und 1689 (Register). 80   Das Schreiben druckt Lersner, Chronica 2 (wie Anm. 12) 812f.; Regest bei Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1306, 1307. 81  Dieses Argument zitiert auch Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 72; siehe auch ders, „unsir juden gemeinlichen zu Frankenfurt, unsir camerknechte“: Kaiser und Juden in Frankfurt am Main, in: Die Kaisermacher. Frankfurt am Main und die Goldene Bulle 1356–1806. Aufsätze, hg. von Evelyn Brockhoff–Michael Matthäus (Frankfurt a. M. 2006) 216–229; Gundula Grebner, Die Kammer des Reiches und die verschworenen Juden. Perspektiven auf Kaiser, Stadt und Juden im spätmittelalterlichen Frankfurt, in: ebd. 230–239. 82  Auch dieses Schreiben druckt Lersner, Chronica 2 (wie Anm. 12) 813; Regest bei Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1310. 83  Ebd. Nr. 1315. Kracauer, Geschichte der Judengasse (wie Anm. 4) 307 Anm. 3, referiert und zitiert die Bulle mit Verweis auf Lersner, Chronica 2 (wie Anm. 12) 812. Ein Faksimile in Schmieder–Schulmeyer– Ehlers, Art. Bürgerstadt (wie Anm. 73) 59. 84  Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1318. 85  Dies und das folgende bei ebd. Nr. 1327, 1334, 1343, 1348, 1376. 86  Das Bartholomäusstift war auch deshalb stets in die Überlegungen über eine Umsiedlung oder gar Vertreibung der Juden involviert, weil ihm resp. seinen Angehörigen etliche der um die Kirche gelegenen und



Hat Kaiser Friedrich III. die Errichtung der Judengasse zu Frankfurt am Main initiiert? 99

Mithin: Die an den Rat der Stadt Frankfurt gerichtete Verfügung Kaiser Friedrichs III. von 1458, die dortige Judenschaft umzusiedeln, war durch einflussreiche, auch im Stadtrat seit langem judenfeindliche Positionen vertretende Kreise der geistlichen und bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft veranlasst worden, welche im Zuge des auch in Frankfurt zunehmenden Antijudaismus die Gelegenheit eines vom Stadtrat gedeckten jüdischen Leistungskonflikts mit dem Kaiserhof ausnutzten, eine höchstobrigkeitliche Legitimation für ihre im Stadtrat bis dahin nicht mehrheitsfähigen Forderungen zu erlangen. Aufgrund des konkret von dem Kustos des Bartholomäusstifts erworbenen Mandats war die Ghettoisierung gleichwohl keineswegs zwingend, sondern eine Möglichkeit. Vielmehr erwuchs auch die tatsächliche Nutzung dieser Legitimation dem Willen derjenigen, die den Kaiser eingeschaltet hatten. Dies waren sowohl 1442 wie 1458 einflussreiche Sachwalter und Wortführer der bürgerlichen und geistlichen öffentlichen Meinung der Reichsstadt, die alle möglichen „öffentlichen“ und „privaten“ Argumente vorbrachten und mit der Krönungsordnung geschickterweise den sensiblen Monarchismus des Kaisers ansprachen. Die stadtinterne Mehrheit, die ihnen 1442 noch nicht zugefallen war, erlangten sie, nachdem das Bartholomäusstift die Frage 1458 wieder aufgeworfen hatte und ihnen regionale Konflikte sowie der zunehmende Antijudaismus in ganz Europa in die Hände spielten. Wenig später hieß die Alternative allerorten: Isolation oder Vertreibung – wie nach kurzfristiger Wiederaufnahme 1471 in Mainz87. In diesem Licht war die Frankfurter Entscheidung eine gewiss harmlosere Variante.

teils von Juden bewohnten oder genutzten Grundstücke und Mietshäuser gehörten, siehe z. B. Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 712–714, auch Nr. 726 passim. Auch Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7) 69, verweist auf die von Klerus und Patriziern gehaltenen Ewigzinsen auf der Synagoge. 87  Zu Mainz siehe Werner Marzi, Die Judenpolitik der Mainzer Erzbischöfe und Kurfürsten von Adolf II. von Nassau bis Anselm Franz von Ingelheim 1461–1695 (Beiträge zur Geschichte der Juden in RheinlandPfalz 2, Mainz 2018). Heil, Vorbereitung (wie Anm. 2) 149f., hat die zentralen Momente zum Verständnis der Ghettobildung in Spätmittelalter und Frühneuzeit zusammengestellt. Dass die Ghettoisierung in Frankfurt eine der Beziehung zum Kaiser geschuldete Alternative zu den zahlreichen Vertreibungen im Reich und Europa war, welche der lokalen Judengemeinde ein Überleben ermöglichte, betont Backhaus, Einrichtung (wie Anm. 7), bes. 61, 76 und zusammenfassend 86.

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Beilagen I: 1442 August 19, Mainz Transkription (vereinfacht zu gemäßigter Kleinschreibung, heutige Interpunktion): Wir Friderich, von gots gnaden Romischer kunig, …, embieten den ersamen burgermeistern und rate der stat zu Franckfurt ... unser gnad und alles gut. Ersamen lieben getruwen, uns ist furbracht, so haben wir auch das einteyl selbs eigentlichen gemercket, als wir ytzund by euch zu Franckfurd sein gewesen, das die juden daselbs bey euch in solcher nehend bey der pharkyrchen ir wonunge und ubunge haben, dadurch gotsdienst by der ytzgenanten pfarkyrchen manichfeltichen betrubet und gesmehet werdet, das sich dann in keynem wege zymet und uns auch nicht fuget zcu gestaden, das kristenliche ordnunge und besunder, was gote unserem herren zu lobe und zu eren volbracht werden, durch solliche ungleubige an ychte unteret werden solle. Darumb so haben wir mit ettlichen uwers rats frunden zulest ernstlich daruß geredt und ist gentzlich unsere meynunge, beuelhen und gebietten euch auch ernstlich und vesticlich von Romischer kuniglicher macht mit diesem brieue, das ir ane seumen und so ir erst mugent bestellent, ordnent und endlich darann seyt, damit die egen(anten) juden bey euch an anderen enden ire gesesse und wonunge haben, das auch ire synagog und schule, so ytzund bey der egen(anten) pfarkirchen ist, zerstoret werde und solichs, als vor geschreben steet, uff das lengest ynner jaresfrist nu schierest folendet und folfuret werde. So wollen wir den obgen(anten) juden von besundern gnaden vergonnen, das sye an den enden, da sie ire wonunge bey euch kunftlichen haben werden, eyne nuwe synagog und schule pauwen und machen mugen. Davon, so seyt mit ernste und fleysse darob, das solichen vorgeschriben unseren geboten furderlich und ane widersprechen nachgegangen werde, das ist unsere ernstige meynunge und wille. Geben zu Maentz am sontag nechst nach unser lieben Frauwen tage assumpcionis. Kanzleivermerk recto: Ad mandatum domini regis Wilhelmus Tatz Original (Ausfertigung) im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (Sign. Juden Urkunden 47 [alt: Ugb. E 43 M 1]), Papier (teilweise geklebt), rotes Siegel rückseitig aufgedrückt (ab und verloren). − Kopie: Abschrift ebd. (Sign. Bartholomäus-Stift, Urkunden Nr. 4550 [alt: Akten und Urkunden Ib Nr. 20]). Druck: Lersner, Chronica (wie Anm. 12) 809. Regest: König Friedrich teilt Bürgermeistern und Rat der Stadt Frankfurt aufgrund der von ihm bei seinem letzten Besuch gemachten persönlichen Erfahrung und wegen einiger entsprechender Beschwerden mit, dass der christliche Gottesdienst in Frankfurt durch die Nähe des jüdischen Viertels zur Pfarrkirche unziemlich und unstatthaft an ychte unteret wird. Er befiehlt ihnen deshalb nach Absprache mit einigen Ratsmitgliedern, die Juden binnen Jahresfrist an einer anderen Stelle der Stadt anzusiedeln und die bisherige Sy­ nagoge und Schule abreißen zu lassen, und verspricht, den Juden aus besonderer Gnade den Neubau dieser Einrichtungen an anderer Stelle gestatten zu wollen. Siehe auch Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 42, in: Regesta Imperii Online, URI: http://www.regesta-imperii.de/id/1442-08-19_1_0_13_4_0_9612_42 [11. 1. 2020]; Andernacht, Regesten (wie Anm. 12) Nr. 700. Lit.: Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt am Main I (wie Anm. 7) 198; Markus



Hat Kaiser Friedrich III. die Errichtung der Judengasse zu Frankfurt am Main initiiert? 101

J. Wenninger, Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert (AfK, Beih. 14, Wien–Köln– Graz 1981) 188–190.

II: 1458 September 2, Wiener Neustadt Transkription (vereinfacht zu gemäßigter Kleinschreibung, heutige Interpunktion): Wir Friderich, von gottes gnaden Römischer Keyser …, embietten den ersamen N burgermeis­ ter und ratte der statt zu Franckfurtt ... unser gnad und alles gutt. Ersamen lieben getrewen, vns ist angelangt, wie daz die Jüdischeit mitsampt irer synagog bey ew in der statt der kirchen des stifftes sannd Bartholomee daselbs ettwas zu nahend gelegen sein, dardurch der gotzdinst in demselben gotzhause durch das geschray der Jüdischeit in irer synagog und in annder wege meniguelticlichen verhindert, verspott und geirret werde. Und wan nu solchs von der benanten Judischeit ze dulden nicht zimlich ist, darumb so empfelhen wir ew mit disem brief ernstlich gepiettende, ir wellet dieselb synagog mitsampt der Judischeit von dem obgenant(e)n gotzhause an ein annder zimlich ennde in der stattmawr setzen und ordnen, damit der gottlich dinste, auch lobe und ere des allmechtigen Gottes, unsers schepfers, durch sy deßhalben nicht mer geirret oder v(er)hindert werde. Daran tutt ir uns sonnder gutt wolgefallen und uns(er) ernstlich meynung. Geben zur Newenstatt am sambstag nach sannd Egidien tage. Kanzleivermerk recto: Ad mandatum domini imperatoris in consilio Vlricus Weltzli vicecan-­ c[ellarius]. – Kanzleivermerk verso: Sculteti (i. d. Mitte des oberen Blattrandes). Original (Ausfertigung) im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (Sign. Juden Urkunden 48 [alt Ugb E 43 M 2, sub dat.]), Papier, das rote ksl. Siegel Posse 18 rückseitig aufgedrückt unter Papieroblate. Druck: Lersner, Chronica (wie Anm. 12) 809. Regest: Kaiser Friedrich befiehlt Bürgermeistern und Rat der Stadt Frankfurt, die Sy­ nagoge und die gesamte Judenschaft an ein annder zimlich ennde in der statmawr zu versetzen und umzusiedeln, da sie derzeit zu nahe an der Stiftskirche St. Bartholomäus gelegen sind und mit dem geschray ... in irer synagog den christlichen Gottesdienst unziemlich beeinträchtigen. Siehe auch Regg.F.III. H. 4 (wie Anm. 12) Nr. 285, in: Regesta Imperii Online, URI: http://www.regesta-imperii.de/id/1458-09-02_1_0_13_4_0_9855_285 [11.1. 2020]; Andernacht Regesten (wie Anm. 12) Nr. 1158.

Abb. 1: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Sign. Juden Urkunden 47 (1442 August 19, Mainz) recto.

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Abb. 2: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Sign. Juden Urkunden 47 (1442 August 19, Mainz) verso.

Hat Kaiser Friedrich III. die Errichtung der Judengasse zu Frankfurt am Main initiiert? 103

Abb. 3: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Sign. Juden Urkunden 48 (1458 September 2, Wiener Neustadt) recto.

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Abb. 4: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Sign. Juden Urkunden 48 (1458 September 2, Wiener Neustadt) verso.

Hat Kaiser Friedrich III. die Errichtung der Judengasse zu Frankfurt am Main initiiert? 105

Kanzleivermerke und ihre Bedeutung als Kommunikations­ instrumente in spätmittelalterlichen Fürstenkanzleien am Beispiel der tirolisch-bayerischen Kanzlei Markgraf Ludwigs von Brandenburg (14. Jahrhundert) Julia Hörmann-Thurn und Taxis

Für die Erforschung der frühen landesfürstlichen Kanzleistrukturen sind die im deutschsprachigen Raum um die Mitte des 14. Jahrhunderts aufkommenden Kanzleivermerke schon seit langem als wichtige Quellen erkannt1. Nirgends spiegelt sich der Zusammenhang mittelalterlicher Kanzleiarbeit mit den allgemeinen Abläufen der landesfürstlichen Administrationen so deutlich wider wie in den Kanzleivermerken. Zu ihnen zählen in erster Linie jene Vermerke, die auf den Prozess der Urkundenherstellung referieren. Sie finden sich in der Regel auf Originalurkunden rechts oberhalb der Plica, seltener auf oder unter der Plica. Es gibt sie aber auch in den Registern und in den Kopiaren, wo sie den Urkundenabschriften bzw. Urkundenkonzepten beigegeben sind. Weiter gehören nach der üblichen Definition zu den Kanzleivermerken die Registratur- und Taxvermerke, die sowohl auf den Urkunden als auch in den entsprechenden Amtsbüchern angebracht sein können. Nicht dazu zählen hingegen gemeinhin jene Notizen, die in erster Linie als Erinnerungsbehelfe oder interne Informationsnotizen für die Kanzlei gedient haben. Als solche sind diese aber genau genommen auch als Kanzleivermerke einzustufen. Ihre geringe Verbreitung in den Registern und allgemeinen Amtsbüchern sowie wohl auch ihre heterogene, schwer systematisierbare Struktur hat sie aber von der Definition ausgeschlossen, und auch sonst ist ihre Beachtung in der Kanzleiforschung gering geblieben2. Hier sollen sie aber, soweit sie in den Registern aus der Regierungszeit Ludwigs von Brandenburg auftreten, wegen ihrer hohen Bedeutung für die Führung 1  Allgemein: Oswald Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte IV/3, München–Berlin 1911, Neudr. München 1967) 167–170; Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 2 (Berlin–Leipzig 21931) 99–104; Hans Spangenberg, Die Kanzleivermerke als Quelle verwaltungsgeschichtlicher Forschung. AUF 10 (1928) 468–525. 2   Eine Ausnahme ist sicherlich die Zusammenstellung im Katalog zur Ausstellung über die bayerischen Kanzleien des Mittelalters: Karl-Ernst Lupprian–Joachim Wild, Urkundenfertigung und Registerführung in Ober- und Niederbayern vom Tode Ludwigs des Bayern bis zur Landesteilung 1392, und Die Kanzlei des Herzogtums Bayern-München unter den Herzögen Ernst und Wilhelm III, in: Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern, hg. von Joachim Wild (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 16, München 1983) 50–56, 62–67. S. weiters auch Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien–München 2002) 263–267.

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dieser administrativen Bücher und die damit verbundenen Arbeitsabläufe eine ausführlichere Berücksichtigung finden. Jene Vermerke, die sich auf die Urkundenherstellung beziehen, habe ich an anderer Stelle bereits eingehender untersucht (s. Anm. 12), weshalb ich mich hier auf eine Zusammenfassung des Wesentlichen beschränken kann. Eine intensive und kontroversiell geführte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen hat Anfang des 20. Jahrhunderts stattgefunden und betraf vor allem die Vermerke der österreichischen Kanzlei und deren Deutung3. Auf sie wird noch näher einzugehen sein. Im Rahmen der Arbeiten zum bayerischen Kanzlei- und Urkundenwesen wurden die Kanzleivermerke nur behandelt, wenn sie auch tatsächlich in Verwendung standen, was in Bayern im 14. Jahrhundert lediglich in der oberbayerischen Kanzlei unter Ludwig von Brandenburg und Ludwig dem Römer üblich gewesen zu sein scheint. In den Kanzleien seiner Nachfolger, der Herzöge Stephan II. und Stephan III., treten sie nur selten auf4, in der pfälzischen Kanzlei nicht vor 14005. Außerdem sind diese Vermerke, wie es überhaupt die üblichere Praxis war, vor allem auf den Originalurkunden angebracht6. Im 15. Jahrhundert werden sie dann auch in den bedingt durch die häufigen Teilungen unterschiedlichen Kanzleien der Wittelsbacher allgemeiner Usus und als wichtige Quelle zur Rekonstruktion des Beurkundungsvorganges auch in den Untersuchungen dieser Kanzleien herangezogen oder zumindest vorgestellt7. Am instruktivsten erweisen sich die 3 Otto Stowasser, Die österreichischen Kanzleibücher vornehmlich des 14. Jahrhunderts und das Aufkommen der Kanzleivermerke. MIÖG 35 (1914) 688–724; ders., Die Kanzleivermerke auf den Urkunden der österreichischen Landesfürsten von ihrem Aufkommen bis zum Jahre 1437. MIÖG 38 (1920) 64–92; ders., Beiträge zu den Habsburger Regesten. MIÖG Ergbd. 10 (1928) 1–80, hier 1–19 (I. Die Kanzleivermerke auf den Urkunden der Herzoge von Österreich während des 15. Jahrhunderts). Vgl. dazu Franz Wilhelm, Die Kanzleivermerke der österreichischen Herzogsurkunden. Deutung und Wertung der Kanzleivermerke auf den älteren Urkunden der österreichischen Landesfürsten. MIÖG 38 (1920) 39–63. Mit den Kanzleivermerken beschäftigten sich weiters für Österreich: Franz Kürschner, Die Urkunden Herzog Rudolfs IV. von Österreich (1358–1365). AÖG 49 (1872) 1–88, hier 63 (Urkunden Herzog Rudolfs IV.); Alfred Wretschko, Das österreichische Marschallamt im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Verwaltung in den Territorien des deutschen Reiches (Wien 1897) 162–172. 4 Wilhelm Volkert, Kanzlei und Rat in Bayern unter Herzog Stephan II. 1331–1375. Studien zur Verfassungsgeschichte Bayerns im 14. Jahrhundert (Diss. München 1952) 209; Turtur-Rahn, Regierungsform und Kanzlei Herzog Stephans III. von Bayern 1375–1413 (Diss. München 1952) 93. Vgl. auch Lupprian–Wild, Urkundenfertigung (wie Anm. 2) 50–56, und dies., Kanzlei des Herzogtums Bayern-München (wie Anm. 2) 62–67. 5  Peter Moraw, Kanzlei und Kanzleipersonal König Ruprechts. AfD 15 (1969) 428–531, hier 448. Sprinkart, der das Urkundenwesen der bayerischen Herzöge Rudolf I. und Ludwig IV. bis 1314 untersuchte, kann den Gebrauch von Kanzleivermerken an Urkunden (Register haben sich keine überliefert) nicht erkennen, P. Alfons Sprinkart OFMCap., Kanzlei, Rat und Urkundenwesen der Pfalzgrafen bei Rhein und Herzöge von Bayern 1294 bis 1314 (1317). Forschungen zum Regierungssystem Rudolfs I. und Ludwigs IV. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 4, Köln–Wien 1986) 413f. Die Vermerke der Kanzlei Pfalzgraf Ruprechts I. sind marginal und für das Urkundenwesen nicht aufschlussreich. Vgl. Joachim Spiegel, Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem Ruprechts I. (1309–1390), Bd. 1 (Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B: Abhandlungen zur Geschichte der Pfalz 1/1–2, Neustadt 1996–1998) 182–198. 6  Das liegt auch daran, dass die Registerüberlieferung sehr dünn ist. 7  Klaus Freiherr von Andrian-Werburg, Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem der Herzöge Johann II., Ernst und Wilhelm III. (1392–1438) (Münchener Historische Studien, Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften 10, Kallmünz/Oberpfalz 1971) 64–77; Gerda Maria Lucha, Kanzleischriftgut, Kanzlei und Regierungssystem unter Herzog Albrecht III. von Bayern-München 1438–1460 (Europäische Hochschulschriften III/545, Frankfurt am Main u. a. 1993) 175–200. In der Arbeit von Beatrix Ettelt-Schönewald,



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Ausführungen in dem von Joachim Wild herausgegebenen Katalog zur Ausstellung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, in dem Kanzleipraxis und Registerführung der mittelalterlichen Kanzleien der bayerischen Herzöge anhand ausgewählter Beispiele behandelt werden und auch den Vermerken – in den Registern und in den Urkunden – Aufmerksamkeit zuteil wird8. Kanzleivermerke waren auch in den spätmittelalterlichen Kanzleien der römisch-deutschen Könige seit Ludwig dem Bayern nicht unbekannt9. Für Tirol existiert der Aufsatz Richard Heubergers, der sich mit dem Aufkommen der Kanzleivermerke auf tirolischen Urkunden (1314) und in den Registern beschäftigt10. Die spätere Entwicklung (nach 1335) spricht Heuberger jedoch nur in einer Fußnote an. Ich habe sie in Zusammenhang mit meiner Dissertation zum Registerwesen des Tiroler Landesfürsten Ludwig von Brandenburg eingehend untersucht11. 2013 waren Kanzleivermerke im internationalen Vergleich Thema einer Tagung der École des chartes in Paris. In dem dazu erschienenen Tagungsband habe ich einen Beitrag zu den Kanzleivermerken der Kanzleien Ludwigs verfasst12. Auf diesen bauen die folgenden Ausführungen auf, die ich Christian Lackner als dem besten Kenner der Kanzleien der österreichischen Herzöge und ihrer Arbeitsweise widmen möchte. Zunächst seien aber einige historische Rahmeninformationen vorangestellt: Ludwig von Brandenburg (1316–1361) war der älteste Sohn Kaiser Ludwigs des Bayern und hatte schon als Siebenjähriger 1323 – zunächst nur mündlich – die Markgrafschaft BrandenKanzlei, Rat und Regierung Herzog Ludwigs des Reichen von Bayern-Landshut (1450–1479) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 97/1, München 1996), werden die Kanzleivermerke nicht thematisiert. Beispiele für Kanzleivermerke aus der Kanzlei der Herzöge Ernst und Wilhelm III. von Bayern-München bringt der Katalog zur Ausstellung Die Fürstenkanzlei des Mittelalters im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Vgl. Lupprian–Wild, Kanzlei des Herzogtums Bayern-München (wie Anm. 2) 62–64. 8  Fürstenkanzlei, hg. von Wild (wie Anm. 2) 50–72. 9  Zu den Kanzleivermerken unter Kaiser Ludwig dem Bayern ausführlich Helmut Bansa, Studien zur Kanzlei Kaiser Ludwigs des Bayern vom Tag der Wahl bis zur Rückkehr aus Italien (1314–1329) (Münchener Historische Studien, Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften 5, Kallmünz/Oberpfalz 1968) 15–30; Theodor Lindner, Das Urkundenwesen Karls IV. und seiner Nachfolger (1346–1437) (Stuttgart 1882), widmet den unter Karl IV. auf Reichsebene ab der Mitte des 14. Jahrhunderts vermehrt zu beobachtenden Kanzleivermerken ein umfangreiches Kapitel. Allgemein zu den Kanzleivermerken auf Urkunden und in den Registern der römisch-deutschen Könige Gerhard Seeliger, Die Registerführung am deutschen Königshof bis 1493. MIÖG Ergbd. 3 (1891) 223–304, hier 311–338. Weitere Literatur bei Spangenberg, Kanzleivermerke (wie Anm. 1) 480 Anm. 4 und 491 Anm. 3. 10  Richard Heuberger, Die ältesten Kanzleivermerke auf den Urkunden der Tiroler Landesfürsten. MIÖG 33 (1912) 432–467. 11 Julia Hörmann, Das Registerwesen unter Markgraf Ludwig von Brandenburg in Tirol und Bayern in den Jahren 1342 bis 1352 (phil. Diss. Innsbruck 1998) 286–296; vgl. auch Doris Bulach, Neuerungen im Kanzleiwesen zur Zeit Kaiser Ludwigs IV. (1314–1347). Der Beginn der Registerführung im Reich, in Oberbayern sowie den Marken Brandenburg und Meißen. DA 64 (2018) 279–304. Ebenso thematisiert Helmut Schmidbauer in seiner ungedruckten Arbeit die Kanzleivermerke. Helmut Schmidbauer, Urkundenwesen, Kanzlei und Regierungssystem unter Markgraf Ludwig dem Brandenburger (1324–1361). Beiträge und Vorarbeiten. Zulassungsarbeit zur wissenschaftlichen Prüfung für das Lehramt an den Gymnasien (München 1970) 97–100. 12 Julia Hörmann-Thurn und Taxis, The role of chancery notes in chancery administrations. The case of the Bavarian and Tyrolean chanceries during the reign of Louis of Brandenburg (1342–1361), in: Le discret langage du pouvoir. Les mentions de chancellerie du Moyen Âge au XVIIe siècle, hg. von Olivier Canteaut (Études et rencontres de l’École des chartes 55, Paris 2019) 369–386. In diesem Sammelband findet sich auch die neueste, über den deutschen Sprachraum hinausgehende Zusammenstellung des Forschungstandes von Olivier Canteaut, Introduction. Aux marges de l’acte, au cœur du pouvoir, in: ebd. 7–38.

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burg übertragen bekommen13. Bis 1333 stand er unter Vormundschaft und übernahm dann die Regierung14. Seit 1324 war er mit Margarete von Dänemark verheiratet, die 1340 starb und mit der er eine Tochter hatte15. Seine zweite Frau war Margarete, die Erbtochter des Landes Tirol, die er im Februar 1342 unter Protest der Kirche ehelichte. Denn Margarete hatte sich erst im November 1341 von ihrem ersten Mann Johann Heinrich, dem Sohn des Königs von Böhmen, auf ungewöhnliche Weise getrennt – sie hatte ihm den Zutritt in die Residenz Burg Tirol verweigert und ihn des Landes verwiesen16, was ihr nur mit Hilfe des Kaisers und zukünftigen Schwiegervaters gelungen war. Durch diese Ehe bestand Aussicht, dass Tirol dauerhaft in den wittelsbachischen Länderkomplex eingegliedert werden würde17. Zunächst war Ludwig nicht nur Tiroler Landesfürst, sondern auch weiterhin Markgraf von Brandenburg und nach dem Tod seines Vaters 1347 Herzog von (Ober-)Bayern. Die ersten Jahre der Regierung Ludwigs in Tirol waren nicht einfach. Er hatte bis 1348 mit dem Widerstand des heimischen Adels und mit seinem mächtigsten Widersacher Karl von Mähren, Bruder des vertriebenen Johann Heinrich und seit 1346 Gegenkönig zu Ludwig dem Bayern, zu kämpfen und musste die angespannte finanzielle Situation in Griff bekommen. Es gelang ihm erst allmählich als neuer Landesherr akzeptiert zu werden und seine Herrschaft zu konsolidieren18. Diese Aufgabe war umso 13   Z. B. Michael Menzel, Die Wittelsbacher Hausmachterweiterungen in Brandenburg, Tirol und Holland. DA 61 (2005) 103–159, hier 114f.; ders., Die Belehnungsurkunde Ludwigs IV. von 1324, in: 100 Schlüsselquellen von Berlin, Brandenburg und Preußen (2018), http://www.hiko-berlin.de/Belehnung-1324 [7. Jänner 2020]. 14  Zur wittelsbachischen Zeit in Brandenburg vgl. nur Helmut Assing, Die Landesherrschaft der Askanier, Wittelsbacher und Luxemburger (Mitte des 12. bis Anfang des 15. Jahrhunderts), in: Brandenburgische Geschichte, hg. von Ingo Materna–Wolfgang Ribbe (Berlin 1995) 85–168, hier 136–145; Jan Winkelmann, Die Mark Brandenburg des 14. Jahrhunderts. Markgräfliche Herrschaft zwischen räumlicher „Ferne“ und politischer „Krise“ (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 5, Berlin 2011) 35–50 (zur Forschungssituation), 59–75; Menzel, Wittelsbacher Hausmachterweiterungen (wie Anm. 13) 104f., 107–127. Aus der älteren Forschung vgl. Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg 2: Die Mark unter der Herrschaft der Wittelsbacher und Luxemburger (1319–1415) (Berlin 1961) 9–160. 15  Der Vollzug der Ehe fand erst 1333 statt. Damals wurde auch die längst fällige und von Kaiser Ludwig oftmals eingeforderte Mitgift für Margarete bezahlt. Als Gegenleistung für die versprochenen 12.000 Mark Silber bekam das Paar Stadt und Land Reval. Julia Hörmann, Herzog Meinhard III. und seine Geschwister. Überlegungen zur Nachkommenschaft Markgraf Ludwigs von Brandenburg und der Margarethe „Maultasch“. ZBLG 64 (2001) 309–356, hier 314f.; Helmut Schmidbauer, Herzog Ludwig V. von Bayern (1315–1361). Anmerkungen zu seiner Biographie. ZBLG 55 (1992) 77–87, hier 81; Niels Bracke, Die Regierung Waldemars IV. Eine Untersuchung zum Wandel von Herrschaftsstrukturen im spätmittelalterlichen Dänemark (Kieler Werkstücke Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 21, Frankfurt a. M. u. a. 1999) 27. 16   Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Ereignis vgl. nur den Sammelband Margarete „Maultasch“. Zur Lebenswelt einer Landesfürstin und anderer Tiroler Frauen des Mittelalters, hg. von Julia HörmannThurn und Taxis (Schlern-Schriften 339, Innsbruck 2007), und den Ausstellungskatalog Margarete Gräfin von Tirol/Margareta contessa del Tirolo. Ausstellung Südtiroler Landesmuseum für Kultur- und Landesgeschichte Schloss Tirol, hg. von Julia Hörmann-Thurn und Taxis (Schloss Tirol 2007); zur Regierung Johann Heinrichs vgl. dies., Der fremde Fürst im Land. Zur Regierung Johann Heinrichs von Böhmen in Tirol, in: Die Erbtochter, der fremde Fürst und das Land. Die Ehe Johanns des Blinden und Elisabeths von Böhmen in vergleichender europäischer Perspektive / Jean et Elisabeth. L’héritière, le prince étranger et le pays. Le mariage de Jean l’Aveugle et d’Elisabeth de Bohême dans une perspective comparative européenne, hg. von Michel Pauly (CLUDEM 37, Luxembourg 2013) 135–181. 17   Eine alternative Sicht auf die strategischen Überlegungen Kaiser Ludwigs des Bayern bietet Menzel, Wittelsbacher Hausmachterweiterungen (wie Anm. 13) 127–147. 18  Dazu immer noch am ausführlichsten Flamin Heinrich Haug, Ludwigs V. des Brandenburgers Regierung in Tirol (1342–1361). Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 3 (1906) 257–308 und 4 (1907) 1–53.



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schwerer, als Ludwig in Brandenburg in den 1340er-Jahren ebenfalls mit oppositionellen Kräften zu tun hatte19. Daher war auch seine Anwesenheit in der Mark dringend notwendig, was zu einer regen Reisetätigkeit führte, die erst in den 1350er-Jahren zurückging20. Die Mobilität des Landesfürsten bedeutete eine spezielle Herausforderung für die Administration. In diesen Anfangsjahren bis 1348 gab es weder in Tirol noch in Brandenburg eigene Kanzleien, sondern eine gemeinsame Hofkanzlei, die Ludwig auf seinen Reisen zwischen seinen Herrschaftsgebieten begleitete21. Diese Struktur war aber auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten, zumal 1347 nach dem Tod seines Vaters mit Bayern noch ein Territorium hinzugekommen war22, was die Situation zusätzlich erschwerte. So kam es zur Delegierung der Herrschaftspflichten an bevollmächtigte Landeshauptleute und zur Dreiteilung der bis dahin einheitlich geführten Kanzlei23. Nun arbeiteten nebeneinander die Hofkanzlei, eine brandenburgische Kanzlei24 und schließlich eine tirolische Kanzlei, die unter der Leitung des schwäbischen Notars Rabno von Mauren stand und vor allem für die Stellvertreterregierung des Tiroler Landeshauptmannes Herzog Konrad von Teck25 arbeitete. Nur bei Anwesenheit des Landesfürsten wurde daneben auch die Hofkanzlei tätig, bei der vorläufig auch die bayerischen Agenden geblieben waren. Das änderte sich, als Konrad von Teck 1349 zusätzlich die Verwaltung für das oberbayerische Herrschaftsgebiet übertragen bekam26. Die Kompetenzen der Tiroler Kanzlei wurden nun erweitert. Sie erledigte zusätzlich den anfallenden Geschäftsverkehr für die bayerischen Belange. Auch nach dem gewaltsamen Tod Konrads von Teck 1352 blieb diese enge administrative 19  Winkelmann, Mark Brandenburg (wie Anm. 14) 71–75; Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 14) 74–98; Friedrich Battenberg, Herrschaft und Verfahren. Politische Prozesse im mittelalterlichen römischdeutschen Reich (Darmstadt 1995) 68–85. 20   Zum Itinerar Ludwigs vgl. Hermann Bier, Märkische Siegel, 1. Abt.: Die Siegel der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg, Teil 2: Die Siegel der Markgrafen von Brandenburg aus dem Hause Wittelsbach 1323–1373 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin VI, Berlin 1933) 174–183 (Itinerar von 1342–1345), 186–287 (Itinerar von 1346–1351); Fl[amin] H[einrich] Haug, Beiträge zum Itinerar Ludwigs V. des Brandenburgers. Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 5 (1908) 133–144. 21   Protonotar der für alle Territorien gemeinsamen Hofkanzlei war der Henneberger Eberwin von Rotha, der in den 1330er-Jahren die Kanzlei Ludwigs in Brandenburg geleitet hatte. Er blieb auch Leiter der Hofkanzlei nach der Teilung der Kanzleien, starb allerdings schon 1349. Ihm folgte der Brandenburger Johannes Kothebus nach. Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 43–45, 303–305. 22   Zunächst wurde das Erbe des Vaters von den Söhnen gemeinsam regiert, erst 1349 kam es dann zu der für die weitere Geschichte Bayern nachhaltigen Erbteilung, z. B. Theodor Straub, Bayern im Zeichen der Teilungen und Teilherzogtümer (1347–1450), in: Handbuch der bayerischen Geschichte 2: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, hg. von Andreas Kraus (München 21988) 196–287, hier 207f. 23  Julia Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei und Registerwesen der Tiroler Landesfürsten bis 1361. Ein Überblick, in: Grafschaft Tirol – Terra Venusta. Studien zur Geschichte Tirols, insbesondere des Vinschgaus in Würdigung der Kulturarbeit von Marjan Cescutti, hg. von Georg Mühlberger–Mercedes Blaas (SchlernSchriften 337, Innsbruck 2007) 207–218, hier 214f. 24   Sie stand unter der Leitung Dietrich Mörners. Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 44. 25   Er war bereits Ende 1347 zum Landeshauptmann von Tirol bestellt worden. Dazu ausführlicher und zu den schwäbischen Herzögen von Teck Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei (wie Anm. 23) 215–218 und Anm. 44 (zu den Herzögen von Teck); weiter zur Familie Irene Gründer, Studien zur Geschichte der Herrschaft Teck (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 1, Stuttgart 1963). 26  In der Erbteilung von 1349 war Ludwig von Brandenburg zusammen mit seinen jüngeren Halbbrüdern Ludwig dem Römer und dem minderjährigen Otto das Herzogtum Oberbayern endgültig zugesprochen worden. Niederbayern mit den niederländischen Besitzungen fiel an Stephan und die Stiefbrüder Wilhelm und Albrecht. Straub, Bayern (wie Anm. 22) 200f., 209.

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Verzahnung der beiden Herrschaftsgebiete aufrecht. Allerdings dürfte die gemeinschaftlich arbeitende Kanzlei an zwei Standorten lokalisiert gewesen sein – in München und in Burg Tirol. Leiter war nun Johannes Kothebus, Protonotar der Hofkanzlei, die nun mit der tirolisch-bayerischen Kanzlei verschmolz27. Die Kanzlei Ludwigs in Brandenburg gab es hingegen seit 1351 nicht mehr, da er die Mark an seinen Halbbruder Ludwig den Römer abgetreten hatte28. Während des gesamten Zeitraums der Regierung Ludwigs von Brandenburg wurden in jedem seiner Territorien Register geführt, in die die laufende Urkundenproduktion im Volltext oder als Notiz eingetragen wurde29. Speziell die tirolischen und bayerischen Register30 enthalten nun zahlreiche Vermerke. An diesen ist die eben skizzierte Entwicklung der Kanzleiorganisation unter der Regierung Ludwigs von Brandenburg ablesbar. Sie informieren außerdem über interne Arbeitsabläufe bei der Urkundenherstellung und geben Einblick in die diversen Kommunikationsmechanismen innerhalb des Kanzleiapparates. Auch die Beziehungen zwischen den Notaren und dem Landesfürsten sowie den landesfürstlichen Räten lassen sich in den Kanzleivermerken erkennen. Eine Besonderheit der tirolischen und auch bayerischen Kanzleipraxis dieser Jahre ist, dass die Vermerke sich auf die Register beschränken und kaum auf den expedierten Urkunden selbst zu finden sind, wie es beispielsweise bei den Urkunden der Herzöge von Österreich der Regelfall war. In den österreichischen, wie auch in anderen diesbezüglich untersuchten Kanzleien haben die Kanzleivermerke einen klaren inhaltlichen Schwerpunkt. Sie enthalten zum Großteil Informationen zum Prozess der Urkundenherstellung und nennen den oder die Überbringer des Beurkundungsbefehls zur Abfassung des Konzeptes und/oder die Anordnung zur Anfertigung der Reinschrift sowie fallweise auch den Besiegelungsbefehl. Sie spiegeln damit die drei Stadien des Beurkundungsvorganges wider: Die im Rat beschlossene Urkunde wurde mittels landesfürstlichen Mandats oder vom Landesfürsten persönlich in der Kanzlei in Auftrag gegeben (Beurkundungsbefehl). Das daraufhin angefertigte Konzept wurde im Rat verlesen, approbiert und für die Anfertigung der Reinschrift freigegeben (Fertigungsbefehl). Die mundierte Urkunde wurde noch einmal überprüft und der Siegelungsbefehl zur Anbringung des Siegels erteilt31.   Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei (wie Anm. 23) 217.   Bereits bei der Landsberger Teilung zeichnete sich ab, dass sich Ludwig aus der Mark Brandenburg zurückzuziehen beabsichtigte, um sich mehr auf seine südlichen Territorien Bayern und Tirol konzentrieren zu können. Es galt nur noch, die Landesherrschaft in Brandenburg vollends zurückzuerobern. So zog Ludwig im Herbst 1350 zum letzten Mal in die Mark. Eine provisorische Regelung vom 10. November 1350, nach der Ludwig in den kommenden sechs Jahren in Oberbayern, seine jüngeren Halbbrüder aber in Brandenburg regieren sollten, bewährte sich nicht. Schon im folgenden Jahr kam es im Luckauer Vertrag (24. Dezember 1351) zur endgültigen Teilung. Straub, Bayern (wie Anm. 22) 200f., und für die Mark ausführlich Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 14) 95–114. 29  Die Register sind bis 1352 in meiner Dissertation beschrieben und in ihrer Bedeutung für das Kanzleiwesen erfasst. Die nachfolgende Entwicklung, die von einem Anstieg der bayerischen Register charakterisiert ist und auch einen Wechsel in Aufbau und Struktur bringt, ist nur kursorisch nachgezeichnet. Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 45–52, und Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei (wie Anm. 23) 217f. 30  Die ebenfalls in beachtlicher Zahl erhaltenen brandenburgischen Register werden hier nicht einbezogen, da sie in Form und Aufbau abweichen und auch nur in geringer Anzahl Kanzleivermerke enthalten. Zu ihnen vgl. Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11), und darauf aufbauend Bulach, Neuerungen (wie Anm. 11) 289–291. 31  Stowasser, Kanzleibücher (wie Anm. 3) 709. Für den Entstehungsprozess der Urkunden sei auf die immer noch grundlegenden Forschungen von Julius von Ficker verwiesen. Julius von Ficker, Beiträge zur Urkundenlehre 2 (Innsbruck 1877). 27 28



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Nicht immer ist allerdings klar, auf welches Stadium der Urkundenherstellung sich der Vermerk bezieht, was zur eingangs erwähnten Kontroverse in Zusammenhang mit der richtigen Interpretation der Vermerke der österreichischen Kanzlei geführt hat. Generell ist zu beobachten, dass diese kurzen Notizen durchwegs lateinisch verfasst, gewöhnlich stark gekürzt und häufig prädikatlos sind. Die Kontroverse wurde zwischen Otto Stowasser und Franz Wilhelm ausgetragen. In erster Linie ging es um die Frage, ob prädikatlose Vermerke je nach Formulierung ein anderes Stadium des Urkundenvorgangs meinen oder ob damit generell nur eine „Etappe“, nämlich die Überbringung des Befehls zur Herstellung einer Urkunde, verstanden werden soll. Nach Stowasser sei die Variante dominus dux per N. N. stets mit mandavit oder nunciavit zu ergänzen und bedeute den Beurkundungsbefehl, den eine genannte Person im Auftrag des Landesfürsten der Kanzlei überbringt. Die Formulierung dominus dux oder dominus dux per se sei hingegen mit audivit zu ergänzen und meine die Approbation des Konzeptes durch den Herzog bzw. den Rat. Letztere Vermerke informierten demnach über den nach der Approbation erteilten Befehl zur Anfertigung der Reinschrift (Fertigungsbefehl)32. Demgegenüber vertritt Franz Wilhelm die Auffassung, dass die Vermerke generell nur über den Beurkundungsbefehl informierten, da wegen der geringfügigen Unterschiede in der – gekürzten und ergänzungsbedürftigen – Formulierung mehrere Bedeutungsinhalte selbst für den kundigen Kanzleibeamten zu verwirrend gewesen wären33. Auch wenn die Frage grundsätzlich noch offen ist, hat sich der Großteil der späteren diesbezüglichen Studien der Ansicht Stowassers angeschlossen34. Für die Administration Ludwigs von Brandenburg ist die Interpretation einfacher. Hier beziehen sich die vergleichbaren Kanzleivermerke mit wenigen Ausnahmen auf den Beurkundungsbefehl und damit auf den gesamten Vorgang der Urkundenherstellung. Der Usus, den oder die Überbringer des Beurkundungsbefehls zu nennen, gehörte schon zu den Gewohnheiten der Kanzlei des Tiroler Landesfürsten Heinrich, des Schwiegervaters Ludwigs von Brandenburg. Der erste Beleg datiert von 1314 und nennt den nuncius, der stets aus dem Kreis der landesfürstlichen Räte stammte und im Auftrag des Landesfürsten den Beurkundungsauftrag an die Kanzlei weiterleitete35. Die namentliche Nennung des Befehlsüberbringers, der sich vor allem in den Registern findet36, diente der Kanzlei als Legitimierung und Absicherung für die korrekte Befehlsannahme. Er hebt gleichzeitig die Bedeutung des nuncius hervor, der mit seinem Namen für die Urkunden indirekt verantwortlich zeichnete. Dennoch ist anzunehmen, dass der Auftrag dazu vom Landesfürsten als zentrales und allein entscheidendes Organ der Verwaltung ausgegangen war37. Diese nur in geringer Zahl belegten nuncius-Vermerke werden in den 1340er-Jah Dazu Stowasser, Kanzleivermerke (wie Anm. 3) 71.   Wilhelm, Kanzleivermerke (wie Anm. 3) 43f. Einen Überblick über die österreichische Praxis gibt auch Redlich, Privaturkunden (wie Anm. 1) 167–169. Er vertritt wiederum eine andere Auffassung, indem er die Kanzleivermerke grundsätzlich als Fertigungsbefehle interpretiert und sie daher auch als Revisionsvermerke bezeichnet. Als Sonderform sieht er die so genannten Relatorenvermerke an, die den Auftrag des Landesfürsten an bevollmächtigte Vertreter zur Urkundenherstellung enthalten. Oft reduzieren sich diese Angaben auf die Nennung des Namens des Relators. S. zum Relatorenvermerk auch Karl-Ernst Lupprian, Kat. Nr. 54, in: Fürstenkanzlei, hg. von Wild (wie Anm. 2) 63. 34   Z. B. Lackner, Hof und Herrschaft (wie Anm. 2) 263–267. 35  Heuberger, Kanzleivermerke (wie Anm. 10) 432–467. 36   Z. B. im HHStA, Cod. R. 51, fol. 12, Nr. 31: Nuncius dominus Albertus de Camyano (1316 November 27, Tirol), und fol. 13, Nr. 33: Nuncius dominus Hilprandus Perhtinger (1316 November 30, Tirol). Heuberger, Kanzleivermerke (wie Anm. 10) 456f. Nr. 3 und Nr. 4. 37 Die nuncius-Vermerke entsprechen somit in der Bedeutung den mit dominus dux per N. N. formulierten Vermerken der österreichischen Kanzlei. 32 33

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ren durch die commissor-Vermerke38 ersetzt, allerdings mit einem entscheidenden Bedeutungswandel. Denn der Sinn dieser Vermerke geht in der tirolisch-bayerischen Verwaltungsstruktur über den bloßen Beurkundungsbefehl hinaus. Aus den Schwierigkeiten, die sich durch die ungünstige geographische Konstellation seiner zwei, seit 1347 drei Herrschaftsgebiete Brandenburg (bis 1351), Tirol und Bayern für die Verwaltung und Regierungsausübung ergaben, erwuchs für Ludwig von Brandenburg die Notwendigkeit einer mit Vollmachten ausgestatteten Administration. Die Verselbständigung des zentralen Verwaltungsapparates, der auch ohne die unmittelbare Zustimmung des Landesfürsten tätig werden konnte, spiegelt sich am besten in den commissor-Vermerken wider. Denn sie allein geben uns Kenntnis darüber, dass ein hoher Anteil der im Namen Ludwigs ausgestellten Urkunden nicht von ihm selbst, sondern von bevollmächtigten Vertrauensleuten in Auftrag gegeben wurde39. Das Auftreten dieser commissor-Vermerke40 erfolgt in etwa zeitgleich mit der Einrichtung einer dauerhaft in Tirol stationierten Kanzlei. Sie stehen weiters in engem Zusammenhang mit der Ernennung von Landeshauptleuten für Tirol und Brandenburg41, die als Stellvertreter mit weitreichenden Regierungsvollmachten ausgestattet waren. Der Landeshauptmann von Tirol wurde Ende 1347 Herzog Konrad von Teck42. Er hatte den Vorsitz im Rat, war Leiter der Finanzverwaltung und besaß die Gerichtsgewalt43. Aber erst nach38   Nach Stowasser dürften damit sowohl der Beurkundungs- als auch der Fertigungsbefehl gemeint sein. Stowasser, Beiträge (wie Anm. 3) 12–15. Der commissor-Vermerk ist mit dem Relatorenvermerk der österreichischen Kanzlei vergleichbar. S. Redlich, Privaturkunden (wie Anm. 1) 168f. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts ist der commissio-Vermerk in Ungarn bezeugt (die Formulierung mit commissor ist dort unüblich). Imre Szentpétery, Beiträge zur Geschichte des ungarischen Urkundenwesens. AUF 16 (1939) 157–183, hier 168, 176, Nr. 43. Unter Herzog Albrecht V. (II.) († 1439) wird er von der österreichischen Kanzlei übernommen. Eine Vorbildwirkung der Kanzleien Ludwigs von Brandenburg ist hingegen auszuschließen, da in Tirol und in Bayern der commissor-Vermerk nach dem Tod von Ludwigs einzigem Sohn Meinhard III. und dem Übergang Tirols an die habsburgischen Herzöge von Österreich außer Gebrauch kommt. Auch die Registerproduktion geht in beiden Territorien merklich zurück und erreicht erst wieder im 15. Jahrhundert einen neuen und bedingt durch die differenzierteren Verwaltungsabläufe professionelleren Standard. 39  Die Praxis der Stellvertreter-Urkunden ist auch für die Kanzlei Karls des Kühnen untersucht. Sonja Dünnebeil, Wo befand sich der Herzog von Burgund? Zur Präsenz Karls des Kühnen bei der Ausstellung seiner Urkunden und Briefe, in: Wege zur Urkunde. Wege der Urkunde. Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, hg. von Karel Hruza–Paul Herold (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 24, Wien–Köln–Weimar 2005) 181–203. 40  Die frühesten commissor-Vermerke in der Form commissor N. N. oder commissio N. N. lassen sich schon vor der Dreiteilung der Kanzleien belegen und finden sich in den Registern HHStA, Cod. R. 55/2, Nr. 89v/8: Commissor Pet(er)man(us) de Schennan, und TLA, Hs. 129, Nr. 341: Commissor Saczenhov(er) zu 1346 Februar 13, s. l. bzw. Februar 24, Bozen. Mit anderer Formulierung gibt es sie noch früher. So steht beispielsweise im Cod. R. 55/2 unter der Notiz Nr. 96r/1 von 1344 Dezember 8, Bozen: Frid(ericus) Mautn(er) comisit post recessum domini. Weitere Beispiele s. Hörmann-Thurn und Taxis, Role of chancery notes (wie Anm. 12) 376 Anm. 19. Den ältesten commissor-Vermerk aus der Zeit Ludwigs von Brandenburg trug aber nach Richard Heuberger eine verlorengegangene und heute als Abschrift in einem Codex des 16. Jahrhunderts erhaltene Urkunde von 1342 September 25, Innsbruck (hanc litteram dominus marchio per se comisit). Heuberger, Kanzleivermerke (wie Anm. 10) 444 Anm. 1. In diesen Vermerken ist jedoch noch der übliche Beurkundungsbefehl, ähnlich wie in den nuncius-Vermerken, zu sehen. S. auch Anm. 46. 41  1347–1365 der Schwabe Friedrich Lochen für Brandenburg. Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 14) 65; Winkelmann, Mark Brandenburg (wie Anm. 14) 80, 123, 136, 223. 42  Vgl. Anm. 25. 43  Über Aufgaben und Machtbefugnis des Landeshauptmannes wissen wir nur indirekt Bescheid. In der Ernennungsurkunde zum Hauptmann in Oberbayern (1349 September 19, München) ist besonders hervorgehoben, dass Konrad von Teck das Recht hat, Ämter und Gerichte mit Personen seiner Wahl zu besetzen und diese auch wieder abzusetzen. Nr. 91 im HHStA, Cod. Bl. 129, bzw. Nr. 65r/1 im BayHStA, KÄA 40, Cod.



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dem er im Herbst 1348 von Ludwig von Brandenburg das neu angefertigte (kleine) tirolische Siegel44 übertragen bekommen hatte45, war Konrad von Teck in der Lage, während der Abwesenheit des Landesfürsten in dessen Namen Urkunden ausfertigen und siegeln zu lassen. Diese Kompetenz konnte er außerdem an andere Ratsmitglieder delegieren. Zu dieser Praxis gab es neben den älteren nuncius-Vermerken weitere Vorstufen, bis es zur einheitlichen Formulierung kam. So notierte ein Schreiber im HHStA, Cod. Bl. 127, unter den Urkundenabschriften Nr. 82 und Nr. 83 von 1344 November 30 etwas umständlich: ex ordinacione domini Frid(erici), magistri curie domini, ipso domino absente46. Das heißt, im Gegensatz zu den älteren nennen die späteren commissor-Vermerke seit 1348 nicht mehr nur den oder die Überbringer des Beurkundungsbefehls. Sie informieren vielmehr darüber, dass nicht Ludwig selbst die Urkunden initiiert hatte, sondern sie im Auftrag anderer in seinem Namen zur Ausfertigung kamen47. In Zusammenhang mit den Kanzleivermerken bedeuten daher commissor oder commissarius Auftraggeber, commit-

4841; Regest Schmidbauer, Urkundenwesen (wie Anm. 11) Nr. 343. Genauere Angaben enthält die Urkunde über die Bestellung Marquard Lotterbecks zum Viztum in Tirol und Stellvertreter des Landesfürsten und des Landeshauptmannes. Als solcher hat er (im Rat) alle sach und handlung úberal in derselben unserer herreschaft Tyrol zu verhren und iedem manne zů seinem rechten zu verhelfen. Er ist weiter verantwortlich für die Einnahmen aus Ämtern, Gerichten, Propsteien und Pflegschaften, die er für Ludwig einzufordern hat. HHStA, Cod. Bl. 129, Nr. 47 (1350 März 27, Tirol), und Original im BayHStA, Urk. Grafschaft Tirol Nr. 122. Regest: Innsbrucker Schatzarchiv-Urkunden in München von 1222 bis 1400 (1451), bearb. von Sebastian Hölzl– Peter Moser (Tiroler Geschichtsquellen 10, Innsbruck 1981) Nr. 122; auszugsweise abgedruckt bei Werner Köfler, Land – Landschaft – Landtag. Geschichte der Tiroler Landtage von den Anfängen bis zur Aufhebung der landständischen Verfassung 1808 (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 3, Innsbruck 1985) 491 (mit moderner Schreibweise), nach Justinian Ladurner, Die Landeshauptleute von Tirol. Archiv für Geschichte und Alterthumskunde Tirols 2 (1865) 1–40, hier 4; weiters BayHStA, Urk. Grafschaft Tirol Nr. 121. Regest Schatzarchiv-Urkunden, bearb. von Hölzl–Moser, Nr. 121: Benachrichtigung Konrads von Teck und aller Amtleute über die Ernennung Marquard Lotterbecks. Vgl. auch Schmidbauer, ebd. 107f.; Hörmann-Thurn und Taxis, Role of chancery notes (wie Anm. 12) 377 Anm 21. Zur Funktion des „obersten Landeshauptmannes“ in der Mark Brandenburg vgl. Winkelmann, Mark Brandenburg (wie Anm. 14) 122–126. 44  Seit Mai 1346 ist ein eigenes tirolisches Siegel belegt. Es „verdrängte“ das vorher – nur von der Hofkanzlei gebrauchte – brandenburgische Sekretsiegel. Das damals ebenfalls für Tirol angefertigte große Adlersiegel mit zweireihiger Umschrift ersetzte das brandenburgische Standbildsiegel, war aber kaum in Verwendung. Ein eigenes bayerisches Siegel hat Ludwig hingegen nie besessen. Er verwendete ab 1347 auch in Bayern seine tirolischen und brandenburgischen Siegel. Zur Siegelführung Ludwigs in seinen süddeutschen Herrschaftsgebieten Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 34–48; Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei (wie Anm. 23) 214 Anm. 39. Dass später noch fallweise und wohl als Ausnahme das brandenburgische Siegel in Tirol verwendet wurde, zeigt der Vermerk unter den Abschriften Nr. 38v/3 und Nr. 41r/1 im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4841 (beide 1349 April 24, Bozen): Illa littera data est sub sigillo Marchie. Commissio Joh(annis). Wenn Ludwig und mit ihm die Hofkanzlei in Tirol war, wurde wahrscheinlich auch mit dem brandenburgischen Siegel, das weiterhin die Hofkanzlei führte, gesiegelt. So wurde eigens vermerkt, wenn der Protonotar Johannes Kothebus – in Vertretung Ludwigs – Urkunden schrieb und siegelte. Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 201 (während Kothebus in Bozen diese Urkunde ausstellte, waren der Landesfürst und Konrad von Teck in Trient). Weitere Belege aus dem HHStA, Cod. Bl. 129 S. 119. 45  Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 12. Zur Siegelführung der Landeshauptleute ebd. 134f. und Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei (wie Anm. 23) 215f. 46  Nach dem Itinerar (Bier, ebd. 182) war Ludwig im November 1344 noch in Tirol, aber offenbar nicht in Meran, wo diese beiden Urkunden ausgestellt wurden. Der Hofmeister dürfte daher nur ausnahmsweise und wohl mit Wissen des Landesfürsten die Urkundenausstellung übernommen haben. Vgl. ähnlich zu verstehende Vermerke in Anm. 40. 47  S. dazu das Beispiel in Anm. 53.

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tere dementsprechend beauftragen und commissio Auftrag48. Die Formulierungen lauten mit einigen Abweichungen in der Regel: Commissor(es) N. N.; commissor(es) N. N. presente N. N.; oder commisit N. N. presente N.N.49. Die commissor-Vermerke sind als Errungenschaft der Verwaltung unter Konrad von Teck und seinem Kanzleileiter Rabno von Mauren50 zu sehen. Sie treten gehäuft in dem von Rabno angelegten Kanzleiregister HHStA, Cod. Bl. 129 auf51. In diesem in zwei Teile – chronologisch von 1348–1350 und von 1351–1352 – gegliederten „Tätigkeitsbericht“ des obersten „Kanzleibeamten“ kann man außerdem eine Dokumentation der landesfürstlichen Urkundenproduktion unter dem und für den Landeshauptmann sehen52. Denn in erster Linie ist Konrad von Teck selbst als commissor genannt, weiters mit ihm gemeinsam, aber auch ohne ihn, Mitglieder des landesfürstlichen Rates53, und zwar bevorzugt jene, die einflussreiche Ämter im Regierungsapparat innehatten. Dazu gehörten etwa der Hofmeister, der Jägermeister oder der Kämmerer. Seltener übernahmen Kanzleinotare diese Aufgabe54. 48   Commissio und committere werden auch in der Bedeutung von „Verleihung“ bzw. „verleihen“ oder „Verpachtung“ bzw. „verpachten“ verwendet. Z. B. HHStA, Cod. Bl. 129, Nr. 7: Commissio castri Salrn duci Chnr(adi) de Deck, commiss(a) per Berchtoldu(m) de Eb(e)nhaus(e)n, magistrum coquine. 49  Häufig, vor allem in den Registern nach 1352, sind Kürzungen wie con. oder nur c. 50  Rabno von Mauren stammte möglicherweise aus einem Ministerialengeschlecht der Grafen von Lechsgemünd-Graisbach zu Murn bei Donauwörth und leitete unter der Hauptmannschaft des Herzogs von Teck die tirolische Kanzlei. Seit 1349 war er auch für die bayerischen Angelegenheiten zuständig. Bis 1358, also auch noch nach dem Tod Konrads von Teck, war er in der tirolisch-bayerischen Kanzlei tätig – wenn auch nicht mehr als deren Leiter – und wechselte dann als Protonotar in die Kanzlei Herzog Alberts von Bayern-Straubing, für den er in dessen Herrschaftsterritorien Holland und im Hennegau arbeitete. Er gehörte dem geistlichen Stand an und erreichte in späteren Jahren die Würde eines Domherrn von Brixen (ab 1358 belegt) und eines Domherrn zu Regensburg (1356). 1351 verschaffte ihm Herzog Konrad von Teck die Pfarrei Naturns. Als weitere Versorgungspfarre erhielt er die vereinigte Pfarrei Hall/Absam. Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 145f. Anm. 23; Karl-Ernst Lupprian–Joachim Wild, Schreiber, Protonotar, Kanzler, in: Fürstenkanzlei, hg. von Wild (wie Anm. 2) 73–77; Julia Hörmann, Das Spezialkanzleibuch Ludwigs von Brandenburg. HHStA, Codex blau 128. MIÖG 105 (1997) 74–103, hier 76, 88 mit Anm. 65, 92; Leo Santifaller, Das Brixner Domkapitel in seiner persönlichen Zusammensetzung im Mittelalter (Schlern-Schriften 7, Innsbruck 1924/25) 383 Nr. 204. 51   Aus der Zeit der Teck’schen Verwaltung haben sich neben dem Cod. Bl. 129 weitere Register und Registerhefte erhalten: BayHStA, KÄA 40, Cod. 4841; HHStA, Cod. W. 210; HHStA, Cod. Bl. 128 (Kopialbuch); BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/2. Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei (wie Anm. 23) 216; dies., Role of chancery notes (wie Anm. 12) 379 Anm. 27, und ausführlicher mit Beschreibung der Handschriften Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 188–268. 52   Hörmann, ebd. 206–229; Hörmann-Thurn und Taxis, Kanzlei (wie Anm. 23) 216f. 53   Die Räte agierten auch explizit in Vertretung des Landeshauptmannes, wie Vermerke dokumentieren: Commiss(ores) Engelinus, iudex in Bozano et Sifr(idus), magister coquine ex parte ducis. (Nr. 53a im HHStA, Cod. Bl. 129; 1352 März 21, Bozen). Empfänger dieser Urkunde ist interessanterweise jener Engelin, Richter in Bozen (und Gries), selbst. Es geht in dem Mandat um Bestimmungen zur Beseitigung der durch die Talferüberschwemmung in Bozen entstandenen Schäden. Herzog Konrad wird beauftragt, Engelin diesbezüglich zu unterstützen. Ursprünglich hätte wahrscheinlich der Landeshauptmann diese Urkunde als Bevollmächtigter Ludwigs in Auftrag geben sollen, er überließ dies aber dann dem Betroffenen selbst. 54   Sie saßen im Rat und hatten daher wohl auch die Kompetenz, ein Urkundengeschäft zu verantworten. Zu belegen ist diese für den ehemaligen kaiserlichen Notar Wernher, der vor allem in der bayerischen Kanzlei Ludwigs tätig war (Hörmann, Registerwesen [wie Anm. 11] 315f.), und für Johannes Kothebus, der 1349 Nachfolger Eberwins von Rotha als Protonotar der Hofkanzlei wurde und seit 1352 Leiter der gemeinsamen tirolisch-bayerischen Kanzlei war (s. Anm. 27 und 77). Er ist zweimal als commissor genannt (BayHStA, KÄA 40, Cod. 4841, Nr. 38v/2 [1349 April 25, Bozen] und Nr. 38v/3 [1349 April 24, Bozen]). Die Schreiber Albert von Aichach und Wernher sind in commissor-Vermerken nur als Anwesende bei der Beschlussfassung genannt (presente …). BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/2, Nr. 14r/1 (1352 Mai 22), und Nr. 20r/1 (1352 Juni



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Die Praxis der Stellvertreter-Urkunde, die ohne Zutun des Landesfürsten auskam, änderte sich während der Anwesenheit des Landesfürsten. Die Rolle des commissor wurde dann auch von Ludwig selbst übernommen, wie etliche Vermerke belegen55. Dennoch hat es das Stellvertreter-System weiterhin gegeben. So ist einer Reihe von Urkunden im besagten Cod. Bl. 129 der Vermerk beigegeben (fol. 72v oben): Item nota litteras registratas in adventu domini marchionis venientis ad terram Tirolis. Diese Urkunden datieren in die erste Hälfte des Jahres 135256, als Ludwig sich tatsächlich in Tirol aufhielt. Dennoch nennen nur zehn der nach dem Vermerk von fol. 72v eingetragenen Texte Ludwig als commissor (auch gemeinsam mit Konrad von Teck und anderen)57. Daraus ist zu schließen, dass, auch wenn der Landesfürst im Lande anwesend war, die Urkundenproduktion weiterhin und zwar überwiegend von seinen Vertrauensleuten, in erster Linie von Konrad von Teck58, beauftragt wurde. Andererseits zeigen Formulierungen wie commissor N. N. presente domino, dass Ludwig der Ratssitzung beigewohnt hatte und in den Entscheidungsprozess eingebunden war. In diesen Fällen muss im commissor-Vermerk wieder der Beurkundungsbefehl gesehen werden, der im Auftrag Ludwigs von einem Ratsmitglied der Kanzlei überbracht wurde59. Der Beschluss zur Ausfertigung eines Urkundengeschäftes wurde in der Regel im Rat getroffen60. Nur so lässt sich erklären, warum Empfänger von Urkunden gleichzeitig auch als commissores fungieren konnten61 und warum die Vermerke häufig mehrere commissores 15); HHStA, Cod. Bl. 129, Nr. 10a (1351 Jänner 26, Bozen). Die Behauptung Schmidbauers, wonach die Kanzleibeamten in den commissor-Vermerken überhaupt nicht präsent sind, lässt sich daher nicht bestätigen. Schmidbauer, Urkundenwesen (wie Anm. 11) 97. 55  S. dazu auch die Zusammenstellung der commissor-Vermerke im HHStA, Cod. Bl. 129 bei Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 226–228. Z. B. Nr. 92 (1350 Mai 1, Tirol): commisit dominus per se; Nr. 93 (1350 Juli 3, Innsbruck): commisit dominus marchio; Nr. 6 (1349 April 30, Bozen): Obligacio castri et iudicii in Castelrud facta Ch(onrado) duci de Deck, commiss(or) dominus marchio presente duce; Nr. 52a (1352 März 13, Clusa districtus Verone): ... commisit dominus marchio, dux de Tegg in presencia Wolfhardi Saczenhov(er), Val­th(er)o [sic] Hochschlitz. 56  Ludwig hatte zu Weihnachten 1351 die Mark Brandenburg in Luckau seinen Brüdern Otto und Ludwig dem Römer überlassen. Anfang 1352 ist der Wittelsbacher in seine südlichen Herrschaftsgebiete zurückgekehrt, um fortan nur mehr in Oberbayern und Tirol die Regierung auszuüben. Haug, Regierung 4 (wie Anm. 18) 27. 57  Insgesamt sind 39 Urkundenabschriften und Notizen für die erste Jahreshälfte 1352 eingetragen, darunter findet sich eine Urkunde von einem anderen Aussteller. 22 nennen andere commissores, sechs sind ohne diesbezügliche Angaben. 58  Vgl. dazu auch die Beschreibung des BayHSTA, KÄA 40, Cod. 4841, bei Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 200–203. 59   Dass auch Konzepte im Rat verlesen und nach Approbation der Fertigungsbefehl (vgl. die Praxis in der österreichischen Herzogskanzlei) erteilt wurde, zeigt der Vermerk bei Nr. 49 (1356 September 7) im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4843, einem Konzeptregister der Jahre 1355 bis 1360: Commissores Frawnberg(er), jeg(ermeister), kuch(enmeister). Notulam audivit dominus per se et consentientes. 60  Dass die commissores bei der Beschlussfassung des Urkundeninhaltes anwesend waren, zeigt die Formulierung des Kanzleivermerkes unter Nr. 13r/1 im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4841: Predictis placitis interfuerunt dux Chúnr(adus) de Teke, Gebhard(us) Hornbeck et Diepoldus Chaczenstain(er) (gilt für Nr. 12v/1, 12v/2 und 13r/1). Dieselben Personen sind in den Parallelüberlieferungen, die im HHStA, Cod. Bl. 129, enthalten sind, als commissores angeführt (dort Nr. 10, 11 und 12). Die Praxis, zunächst das Konzept zu präsentieren, gab es auch in den Kanzleien Ludwigs, wie sich anhand eines Vermerks auf fol. 10v im TLA, Hs. 20, belegen lässt: Littera est data post recessum domini marchionis. Heinr(icus) notar(ius) Frid(erici) Mautn(er), magistri curie, notulam presentavit, que de verbo ad verbum posita. Diese Präsentation (die Abschrift der Urkunde findet sich im HHStA, Cod. Bl. 127 [1346 November 21]), erfolgte also nach der Abreise Ludwigs (recessum). Dazu auch Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 182. 61  Das lässt sich für den Landeshauptmann mehrfach belegen, aber auch für andere Ratsmitglieder. Z. B. HHStA, Cod. Bl. 129, Nr. 5 (Konrad von Teck bekommt auf zwei Jahre die Verwaltung Tirols übertragen, 1349 April 30, Bozen): Commissores Ch(onradus) Frib(er)ch, dux Ch(onradus) de Deck presente domino; Cod.

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nennen. Wie bereits oben angesprochen, beschränken sich die Kanzleivermerke weitestgehend auf die Register. Sie stehen zum überwiegenden Teil oberhalb der betreffenden Abschrift, selten an deren Ende und nur in Einzelfällen im Text selbst. Sie sind in der Regel stark gekürzt. Auf den tirolischen und bayerischen Urkunden Ludwigs von Brandenburg fehlen sie hingegen bis auf wenige Ausnahmen62. Das ist auffällig, als es üblicher war, Vermerke zum Beurkundungsvorgang fast ausschließlich an Originalen zu notieren. Das mag an ihrer unterschiedlichen Bedeutung liegen. Die commissor-Vermerke der Kanzleien Ludwigs nennen ja nicht nur den Überbringer des Urkunden- oder Fertigungsbefehls63, sondern den Auftraggeber des gesamten Beurkundungsgeschäftes. Dieser veranlasste in Vertretung, aber im Namen des abwesenden Landesfürsten die Urkunde und ließ sie ausfertigen. Den Empfänger der Urkunde wollte man über die Tatsache, dass es sich um eine Stellvertreterurkunde handelte, nicht unbedingt informieren64. Kanzleiintern war das aber ein wichtiger Hinweis. Die commissor-Vermerke in den Registern dienten den Kanzleinotaren als Gedächtnisstütze und wohl auch als Absicherung gegenüber allfälligen Reklamationen. Außerdem kommunizierte man dadurch Hintergrundinformationen an die Kanzleikollegen. Dass sie für den Geschäftsbetrieb wichtig waren, zeigt ihre hohe Zahl vor allem in den Registern aus der Zeit der Verwaltung Herzog Konrads von Teck in Tirol und Bayern, die von 1348 bis 1352 dauerte. In diesen vier Jahren erreichten die Kanzleien ihren höchsten Standard, wofür die Dichte an commissor-Vermerken nur ein Hinweis ist. Die Anbringung erfolgte nicht willkürlich und nicht zufällig. Das einheitliche Schriftbild bedeutet, dass sich die Vermerke offenbar bereits auf den Konzepten befanden, die in der Regel die Vorlage für die Register waren65. Die Schreiber der Register, die nicht mit den Konzeptschreibern identisch sein mussten, übertrugen diese Hinweise mit ins Register. Die weitgehende Konsequenz und die Einheitlichkeit der Formulierung lassen dahinter eine Anordnung der Kanzleileitung vermuten, die bestimmten Regeln unterworfen war. Durch die ungewöhnliche Praxis, landesfürstliche Urkunden in Abwesenheit des Landesfürsten auszustellen und zu siegeln, war es als notwendige administrative Maßnahme empfunden worden, diese Information schriftlich zu kommunizieren. Während also die maßgeblichen Personen in der Kanzlei über die Verantwortlichen für die landesfürstliche Urkundenproduktion, über die Empfänger und die Urkundeninhalte dank der differenzierten Dokumentation in den Registern Bescheid wussten und Rechenschaft geben konnten, dürfte der Landesfürst selbst, in dessen Name die UrkunBl. 129, Nr. 91 (Ernennung Konrads von Teck zum Hauptmann in Oberbayern, 1349 September 19, München): Commissores Otto Zeng(er) de Gerolvinge(n), Berch(toldus) de Ebenhawsen, Chonr(adus) de Freiberg et dux Chonr(adus) de Deck. In Nr. 53a desselben Registers, eine an Engelin, den Richter von Bozen (und Gries), gerichtete Urkunde, fungierte dieser auch als commissor: Commiss(ores) Engelinus, iudex in Bozano, et Sifr(idus), magister coquine ex parte ducis. Dazu s. auch Anm. 53. 62  Ein commissor-Vermerk findet sich z. B. auf einer Urkunde Herzog Stephans II. für das Kloster Altenhohenau (1350 Dezember 10, Landshut). Karl-Ernst Lupprian, Kat. Nr. 42, in: Fürstenkanzlei, hg. von Wild (wie Anm. 2) 54. 63  S. Anm. 58. 64   Allerdings wird der Empfänger ohnehin darüber Bescheid gewusst haben, wenn er – wie meistens und besonders bei Bestätigungen der Fall – die Urkunde selbst impetriert hatte und mit dem Hof bzw. der Kanzlei in Kontakt getreten war. Dazu z. B. Ludwig Schnurrer, Urkundenwesen, Kanzlei und Regierungssystem der Herzöge von Niederbayern 1255–1340 (Münchener Historische Studien, Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften 8, Kallmünz/Oberpfalz 1972) 240–245. S. dazu auch das Beispiel auf S. 119. 65   Insgesamt gibt es drei Varianten: Original, Konzept, Eintrag aus einem anderen Register. Möglich ist auch die Direktkonzeption des Textes im Register ohne Vorlagen. Der größte Teil dürfte nach Konzept regis­ triert worden sein. Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 282–284.



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den in absencia ausgestellt waren, diesen Überblick nicht immer gehabt haben. Das lässt sich gut anhand eines Beispiels veranschaulichen: In der Urkundenabschrift Nr. 24 (1348 November 10) im HHStA, Cod. Bl. 12966, verpfändet Ludwig von Brandenburg (respektive Konrad von Teck) Gebhard von Kamer und dessen Sohn Arnold für ihre Dienste und den Schaden, den sie dabei erlitten haben, das Gericht Mölten bis auf Widerruf bzw. bis zur Begleichung der Schulden. Die nachfolgende Notiz (Nr. 24b) informiert, dass dazu von den Pfandnehmern ein Revers ausgestellt wurde, den sie Herzog Konrad von Teck gegeben haben und worin sie versprechen, die Urkunde auf Wunsch des Landesfürsten sofort zurückzustellen und diese chein chraft noch macht mehr haben soll. Diese Urkunde hat sich nun im Original erhalten67 mit der interessanten Formulierung, dass Gebhard von Kamer und sein Sohn Arnold das verpfändete Gericht Mölten Ludwig von Brandenburg (d. i. laut Notiz eigentlich wieder Konrad von Teck), sollte es nicht sein Wille gewesen sein oder er etwas ändern wollen (ob daz wer, daz daz mins herren .. dez marggraven wille nicht wer oder, ob daz der marggrave endern wlt), auf dessen Wunsch sofort zurückstellen werden. Abgesehen davon, dass Ludwig demnach offenbar nicht über die Ausgabe der Urkunde informiert war, zeigt sich an diesem Beispiel, dass Gebhard von Kamer wusste, dass seine Pfandurkunde über das Gericht in Wirklichkeit von Konrad von Teck ausgestellt worden war und nicht vom Landesfürsten68. Siegelungsvermerke: In engem Zusammenhang mit dem Prozess der Urkundenherstellung stehen auch die Siegelungsvermerke, die sich in geringerer Zahl in den Registern finden und vor allem in die frühe Periode der Regierung Ludwigs in Tirol fallen. Im Notizenregister HHStA, Cod. R. 55/2, tragen die in den Februar 1346 datierten Nr. 96r/2 bis Nr. 96r/5 und Nr. 96v/1 (April 1346) als Überschrift jeweils den Hinweis Saczenhov(er) sigillavit, ebenso Nr. 26 im TLA, Hs. 2069. Ludwig hat sich zwar sowohl im Februar als auch im April 1346 in Tirol aufgehalten, gesiegelt hat aber – wohl ausnahmsweise – Wolfhard Satzenhofer70, weshalb das eigens vermerkt wurde. Im schon häufig erwähnten HHStA, Cod. Bl. 129, tragen Nr. 38 (1349 Mai 5, Landeck) und Nr. 109 (1350 Mai 16, Bozen) den Vermerk scripta et sigillata per Joh(an)nem notarium bzw. conscripta et sigillata per dominum Joh(anne)m. Der Protonotar der Hofkanzlei hat demnach die entsprechende Urkunde geschrieben und – wohl mit dem brandenburgischen Siegel der Hofkanzlei 71 – gesiegelt, was während der Rabno’schen Kanzleileitung sicher ungewöhnlich war, zumal damals die Tiroler Kanzlei ohnehin bereits über das landesfürstliche Siegel verfügen   S. Anhang 1 (dort auch die Parallelüberlieferung).   Original BayHStA, Urk. Grafschaft Tirol, Nr. 112; Regest Schatzarchiv-Urkunden, bearb. von Hölzl– Moser (wie Anm 43) Nr. 112; weiters auch als Abschrift im HHStA, Cod. Bl. 128, Nr. 10. S. Anhang 2 und 3. 68  Die Texte sind für das bessere Verständnis im Anhang im Wortlaut wiedergegeben. 69  Nach der Formulierung Hanc notulam preconceptam per Ottonem de Awer, Saczenhofer sigillavit zeichnete Otto von Auer für das Konzept verantwortlich. 70  Die Abwesenheit des Landesfürsten im gesamten Jahr 1345 spiegelt sich im Cod. R. 55/2 wider, da kein einziger Eintrag in dieses Jahr datiert. Erst im Februar 1346 ist er wieder nach Tirol zurückgekehrt. Bis zur Delegierung der Urkundenherstellung an seine Vertreter lässt sich das Itinerar noch anhand der Urkundenproduktion rekonstruieren. Sie stoppte bei Abwesenheit des Landesfürsten und der gemeinsamen Hofkanzlei. Vgl. Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 180–182 und 186–196. 71  S. dazu weiter den Vermerk auf fol. 52v, der für die Nr. 92, 93 (beide 1350 Mai 1, Tirol: conmisit dominus per se bzw. conmisit dominus marchio) und Nr. 94 (1350 Juli 3, Innsbruck) gilt: Item nota litteras infrascriptas datas a Joh(ann)e et singnatas [sic] sigillo Marchie absente duce. Zusätzlich ist neben Nr. 38, 92, 93 und 94 noch das Kürzel Joh. (für Johannes Kothebus) zu lesen. In Abwesenheit Herzog Konrads von Teck und des von ihm geführten kleinen tirolischen Siegels wurden diese Urkunden also ausnahmsweise vom Protonotar verfasst und mit dem markgräflichen Siegel gesiegelt. S. dazu auch S. 115. 66 67

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konnte72. Oberhalb von Nr. 14 und Nr. 15 (beide 1345 Mai 23, Berlin) im HHStA, Cod. Bl. 127, informiert der Vermerk: Ista notula prescripta quadruplicata est, due sub sigillo maiori73 et due sub minori bzw. bei Nr. 15 Illa notula duplicata est ambe sub sigillo minori über die Siegelungsmodalität74 und über die mehrfache Ausfertigung von Urkunden auf Basis des Konzeptes (notula). Auch Besiegelungen in fremder Sache kamen vor. Denn auf einem undatierten Revers des Burkhard von Seckendorff (Seggendorf), das sich als fehlerfreies Konzept auf einem eingeklebten Papierzettel im Cod. Bl. 129 findet (fol. 49), steht unterhalb des Texts: Huius litteram sigillatam habet dux (d. i. Konrad von Teck). Wahrscheinlich hat aber der Herzog nicht nur die einlaufende Urkunde gesiegelt, sondern diese wurde zur Gänze in der Kanzlei konzipiert und ausgestellt75. Bl a n k e t t e 76: Unter den Kanzleivermerken gibt es noch eine dritte Variante, die ebenfalls in direktem Zusammenhang mit dem Urkundenprocedere steht. Sie betreffen die unter Ludwig von Brandenburg seit 1344 belegte Praxis, besiegelte Blankette (membrane) bevollmächtigten Amtsträgern mitzugeben. Die Ausstellung erfolgte dann von der potentiellen Empfängerseite. Diese Vermerke informieren nun über die Ausgabe von Blanketten, weiters wird darin auch der Verwendungszweck, die Zahl der Blankette, das Datum und der Name des für die Ausgabe Bevollmächtigten verzeichnet. Von diesem verlangte die Kanzlei auch den Verwendungsnachweis des Blanketts durch Vorlegung einer Gegenurkunde des Empfängers bzw. des angefertigten Konzepts. Nach diesem wurde registriert77. Auch diese Vermerke stehen in den Registern, selten auch auf den Originalen78, womit diese dann offiziell belegt waren. Dazu einige Beispiele: Nach dem Vermerk auf fol. 1v im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4842, übergab der (Proto)notar Johannes Kothebus dem Diepold von Katzenstein am 28. Jänner 1354 ein Blankett mit dem kleinen Hängesiegel und zwei Blankette mit rückwärts aufgedrücktem Papiersiegel: Nota, quod feria V ante purificacionem sancte M(arie) presentata est ut Diepoldo de Kaczenstein una membrana sub minori sigillo pendente et due membrane in papiro trigotenus sigillate. Datum in Bozano anno LIIII … Johannes de Kothebus notarius (mit Notarssignet) anno 1354 feria Va ante purificacionem in Bozanum79. Im BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/3a, ist auf fol. 63 vermerkt, dass Albert von Wolfstein ein Blankett mit dem großen Siegel des Markgrafen übergeben worden sei, um mit dem Bischof von Chur in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung Ludwigs mit dem König von Böhmen (d. i. Karl IV.) einen Vertrag abschließen zu können: Anno prescripto   S. oben Anm. 44.   D. h. das große brandenburgische Siegel. Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 27–30. 74  D. h. das kleine brandenburgische Sekretsiegel. Tirolische Siegel verwendete Ludwig erst ab Mai 1346. S. Anm. 44. Zu den brandenburgischen Siegeln Bier, ebd. 75  Das würde auch erklären, warum das Konzept in einem landesfürstlichen Register aufscheint. Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 216. 76  Vgl. dazu auch meine Ausführungen in Hörmann-Thurn und Taxis, Role of chancery notes (wie Anm. 12) 380f. (mit weiteren Beispielen); Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 13f. 77   In den späteren Registern beglaubigte meist Johannes Kothebus, der seit 1352 die gemeinsame oberbayerisch-tirolische Kanzlei leitete, mit seinem Namen und Handzeichen die rechtmäßige Ausgabe. Sämtliche Belege dazu listet Bier, ebd. 135f. Anm. 4, auf. Fallweise findet sich sein Vermerk auch auf den Originalen, die als Blankette ausgegeben wurden und als solche vom Protonotar zu kennzeichnen waren. Karl-Ernst Lupprian, Kat. Nr. 37, in: Fürstenkanzlei, hg. von Wild (wie Anm. 2) 52. 78  Ausführlich dazu Bier, ebd. 13f., und Schmidbauer, Urkundenwesen (wie Anm. 11) 101f. 79  Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 136 Nr. 3 (falsch datiert). 72 73



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in die Corporis Christi presentata est membrana una sub maiori sigillo domini marchionis Brand(enburgensis) d(omino) Alberto de Wolfstein super placitis episcopo Curien(si) in rege Bohemie commissis pertractanda si terminabuntur sigillanda. Datum Nurnb(er)g. Die Urkunde datiert 1348 Juni 19, Nürnberg80. Hinweise auf Empfängerausfertigungen geben auch Vermerke wie Datum non per manum curie81 oder Hec littera non erat de manu curie82. Die Professionalität der Registerführung der Tiroler und bayerischen Verwaltung zeigt sich auch in den Vermerken, die nicht unmittelbar mit dem Prozess der Urkundenherstellung verbunden sind. Im Gegensatz zu den commissor-Vermerken, die sicher auch der rechtlichen Absicherung der zuständigen Kanzleibeamten nach außen und der Dokumentation sonst nicht zugänglicher Hintergrundinformation dienten, sind jene Vermerke in vielen Fällen nur für die Registerführung relevant. Inhaltlich sind sie sehr heterogen, aber allen gemeinsam ist der Versuch, Inhalte und Vorgangsweisen transparenter und verständlicher zu machen; und zwar nicht nur für den einzelnen ausführenden Schreiber, sondern für alle, die mit der Registerführung und Urkundenproduktion zu tun hatten. Registratur vermerke: Sie lassen sich genauso wie die commissor-Vermerke anhand spezifischer Wortwahl und Bedeutung einheitlich zusammenfassen. Auch wenn diese Vermerke im Allgemeinen auf Urkunden83 und Konzepten – die demnach die Vorlage für die Registereintragung bildeten84 – angebracht wurden, finden sie sich in geringer Zahl auch in den Registern. Es handelt sich dabei um Hinweise auf Doppelregistrierungen in derselben Handschrift, häufiger aber auf Parallelüberlieferungen in anderen Registern. Das waren offenbar für die mit den Registern arbeitenden Notare wichtige Informationen. Besonders deutlich wird dieser Kommunikationswert in einigen der späteren bayerischen Konzeptregister (ab 1352) Ludwigs von Brandenburg85. Zwei Registerhefte der Jahre 1353 bis 135686 mit gemischten tirolischen und bayerischen Betreffen besitzen stark korrigierte und häufig gestrichene Eintragungen, die später in so genannte Hauptregister (Reinschriftregister)87 übertragen wurden. Diese Übertragung wurde bei den Texten, bzw.   Ebd. 135 Anm. 4.   BayHSTA, KÄA 25, Cod. 1155/3a, fol. 64v. Ein weiteres Beispiel Karl-Ernst Lupprian, Kat. Nr. 38, in: Fürstenkanzlei, hg. von Wild (wie Anm. 2) 52. 82  BayHStA, KÄA 25, Cod. 1180, Nr. 52r/1. Darauf haben bereits Schmidbauer, Urkundenwesen (wie Anm. 11) 98, und Bier, Märkische Siegel (wie Anm. 20) 138 Anm. 8, hingewiesen. 83  Meist mit R., Re. oder Rta. für registrata abgekürzt. Z. B. an den Originalen zu den Abschriften Nr. 31, 32 und 41 im Kopialbuch HHStA, Cod. Bl. 128. Dazu auch Lindner, Urkundenwesen (wie Anm. 9) 108–115, und Hörmann, Spezialkanzleibuch (wie Anm. 50) 101–103 (zur Überlieferung); Hörmann-Thurn und Taxis, Role of chancery notes (wie Anm. 12) 381 Anm. 34. Zu den Registratasiglen auf Originalen Ludwigs des Bayern vgl. Die Register der Kanzlei Ludwigs des Bayern. Darstellung und Edition, bearb. von Helmut Bansa (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N. F. XXIV/1 und 2, München 1971) 19*–29*, und ders., Studien (wie Anm. 9) 15–20. 84   So steht z. B. auf einem eingebundenen Urkundenkonzept (Nr. 65) im HHStA, Cod. Bl. 126: Videatur in registro si registratum sit vel notatur, und auf den Konzeptnotizen des eingeklebten Zettels (fol. 20r): registretur (Nr. 62) bzw. que debent eciam registrari (Nr. 63). Ebenso wurde auf einem eingeklebten Zettel im BayHStA, Cod. 1155/3a (Nr. 71/1), unterhalb eines offensichtlichen Urkundenkonzeptes vermerkt: registretur de verbo ad verbum. 85  Hörmann-Thurn und Taxis, Role of chancery notes (wie Anm. 12) 382f. 86  BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/4 (1353 bis 1356), und KÄA 40, Cod. 4843 (1356). 87  Dazu zählt der großformatige HHStA, Cod. W. 209, in den ausgewählte Eintragungen aus den Registerheften übertragen wurden, z. B. ein Eintrag im BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/3 auf fol. 395 mit dem Vermerk Registrata est ista littera, der sich im Cod. W. 209 auf fol. 90 wiederfindet. Es muss noch mehr derartige Hauptregister gegeben haben, da lange nicht alle Eintragungen mit Registraturvermerken auch im Cod. W. 209 verzeichnet sind. Hörmann-Thurn und Taxis, Role of chancery notes (wie Anm. 12) 383. 80 81

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selten auch bei den jeweiligen Kapiteln (quaterni), vermerkt. So findet sich zum Beispiel im BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/4, auf fol. 374r der Hinweis: Placita ducis Aust(ri)e registrata est, oder im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4843, zu Nr. 15 und Nr. 15a: Registrata in libro placitorum. Die Verweise auf ein solches Register, die sich vermehren ließen88, meinen wohl Sonderregister, die zur Eintragung von Verträgen angelegt worden waren89. Registraturvermerke finden sich auch in den älteren Registerserien, wie im HHStA, Cod. Bl. 127 (1343–1347). Den Einträgen Nr. 59 und Nr. 60 ist dort der Vermerk beigegeben: Nota, hec due notule subsequentes eciam registrate sunt in quaterno de communibus. Ähnlich ist es im Notizenregister TLA, Hs. 129 (1344–1348), formuliert. Dort steht bei Nr. 310: ... ut patet in registro iudicii Glurns. In derselben Handschrift findet sich außerdem unter Nr. 111 der Hinweis: Que XX marce alibi in locis debitis sunt registrate. Im HHStA, Cod. R. 55/2 (1344 und 1346), informiert bei Nr. 100r/3: ... ut patet in registro, was wohl bedeutet, dass diese Notiz oder vielleicht auch die dazugehörende Urkunde bereits anderweitig registriert wurden. Nr. 98v/3 besitzt einen ähnlichen Hinweis: ut patet notula registri de revocacione. Das Konzept dazu befindet sich demnach in einem Register, das auf Urkunden mit begrenzter Gültigkeit spezialisiert ist. Dieses Kanzleibuch ist nicht erhalten. Hingegen lässt sich bei Nr. 101r/3, einer Notiz mit dem Vermerk sicut in libro prediorum continetur, der Hinweis bestätigen. Denn die Urkundenabschrift Nr. 31 im HHStA, Cod. Bl. 127, stimmt nach Datum, Empfänger und Inhalt mit der genannten Notiz überein90. Taxvermerke: Zu den Vermerken gehören auch die Angaben zu den Kanzleitaxen, die sich allerdings fast nur im ältesten Register aus der Anfangszeit der Regierung Ludwigs von Brandenburg in Tirol (z. B. HHStA, Cod. R. 55/1, fol. 5r: libre XL) feststellen lassen91. Am Rand der Eintragungen wurde dort jeweils stark gekürzt die Summe der für die Ausfertigung verlangten Gebühr festgehalten. Allerdings war der weitaus größte Teil der Texte durch den Vermerk nihil oder gratis per omnia92 von dieser Gebühr befreit. Sonstige: Der Großteil der Register bzw. Registerhefte der späteren Regierungsjahre nach 1352 in Tirol und Bayern diente den Notaren nur zur momentanen Dokumentation ihrer Urkundennotizen, häufig waren es wohl Konzepte. Sie sind deutlich weniger systematisch und ordentlich geführt als die älteren Registerserien93. Für die kurzzeitige Verwendung der Eintragung sprechen nun auch die häufig angebrachten Vermerke. Mit 88   So finden sie sich z. B auch im BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/2 (1352), Nr. 101/1: … registretur ad librum placitorum. 89  Keines dieser Sonderregister hat sich erhalten. Ein in BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/6, eingebundenes Inhaltsverzeichnis (fol. 434 bis fol. 436) dürfte aber zu einem – heute verlorenen und nicht vor 1354 angelegten – „Verträgeregister“ gehört haben. Denn nach den kurzen lateinischen Inhaltsangaben des Verzeichnisses zu schließen, wurden dort häufig placita eingetragen. Die zum Teil hochpolitischen Inhalte haben keine territoriale Fokussierung. Daher kann es sich bei diesem Register nicht um jenes handeln, dass in Nr. 111 des BayHStA, KÄA 40, Cod. 4842, erwähnt ist: Registrata est in placitis [registro übergeschrieben] Bavar(ie). 90  1344 August 15 für Tegen von Vilanders. Alfons Huber, Geschichte der Vereinigung Tirols mit Österreich und der vorbereitenden Ereignisse (Innsbruck 1864) Nr. 92. Orig. TLA, Urk. I 2882. 91  Weiters z. B. im TLA, Hs. 20 (Nr. 3: dedit XV lb). 92  BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/3a (gratis per omnia unter der gestrichenen Nr. 31/3 für das Kloster Niederschönenfeld). 93 Vgl. die kurze Zusammenfassung bei Lupprian–Wild, Urkundenfertigung (wie Anm. 2) 50–54; Schmidbauer, Urkundenwesen (wie Anm. 11) 77f., 81; Alois Schütz, Zu den Anfängen der Akten- und Registerführung am bayerischen Herzogshof, in: Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter. Referate zum VI. Internationalen Kongreß für Diplomatik 1, hg. von Gabriel Silagi (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 35, München 1984) 127–138, hier 136f.



Kanzleivermerke und ihre Bedeutung als Kommunikations­instrumente 123

vacat, das hier mit „ungültig“ zu übersetzen ist, wird kommuniziert, dass der eingetragene Text seine Gültigkeit verloren hat. Eine Expedierung der Originale kann in diesen Fällen ausgeschlossen werden. Noch deutlicher wird das in den non est recepta- oder non est dataVermerken94, die explizit darüber informieren, dass es zu keiner Ausfertigung gekommen ist95. Die übrigen kanzleiinternen Informationen in den Registern Ludwigs von Brandenburg lassen sich schwer in ein System bringen. Die Mehrzahl betrifft interne Bemerkungen und Hinweise zur Registergestaltung. Dazu gehören zum Beispiel die Ausgabe mehrerer Ausfertigungen desselben Inhalts an mehrere Empfänger96, Registrierungen am falschen Platz (z. B. Nr. 29 im HHStA, Cod. R. 55/1: Nota quadam littera ante posita debet hic locari), oder Ergänzungen zu Konzeptabschriften, die später nachgetragen wurden97. In Nr. 88v/8 (1344 November 5, Meran) wurde Engelmar von Vilanders eine Urkunde ausgestellt, nach der er der Landesfürstin Margarete 600 Gulden auszufolgen hatte. Allerdings wird in der Notiz im gleichen Atemzug bezweifelt, ob er die Summe auch tatsächlich ausbezahlt hat: Item missa est sibi (d. i. Engelmar von Vilanders) litteram pro DC florenis dandis domine marchionisse. Dubium est si dedit. Als Kontrollvermerk ist auch die Anweisung unter einer Notiz (Nr. 8; 1343 April 17 Nürnberg) im HHStA, Cod. Bl. 126, zu verstehen. Demnach soll Konrad von Schenna dem Türhüter Ullin 60 Mark auszahlen, wovon 20 Mark als Schuldbegleichung bestimmt sind98. Unter der Notiz vermerkte derselbe Schreiber: Videatur si Ullinus predictus de ipsis XX marcis supra­ scriptis sit expeditus. Diese Beispiele, die sich vermehren ließen, zeigen, dass die Eintragungen von den Registratoren evident zu halten waren und im Zweifelsfall auch kon­ trolliert wurde. Im weitesten Sinn sind die Kapitelüberschriften99 zu den Vermerken zu zählen, ebenso 94   Z. B. trägt die 1348 Februar 5, Augsburg, datierte Abschrift Nr. 33/1 im BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/3a, einen non est data-Vermerk. Die Urkunde wurde für denselben Empfänger einige Monate später mit etwas geändertem Inhalt noch einmal ausgefertigt und offenbar expediert, denn sie findet sich abschriftlich im Reinschriftregister HHStA, Cod. Bl. 129 (und parallel dazu im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4841), zum Datum 1348 September 20, München (Nr. 8 bzw. Nr. 9r/2). Vacat- und non est recepta-Vermerke stehen im Registerheft BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/3a, seltener auch im BayHStA, KÄA 25, Cod. 1180. Häufiger sind sie in den späteren Registerheften des Cod. 1155/3 sowie in einigen des BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/4; weiter gibt es sie im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4842 (vor allem vacat), und im TLA, Hs. 109. Unter einem undatierten, unvollständigen und gestrichenen Konzepteintrag im BayHStA, KÄA 40, Cod. 4842, fol. 19v, steht frustra. 95  Weitere Varianten mit gleicher Bedeutung, die in den von Seeliger bearbeiteten Registerbänden der römisch-deutschen Könige auftreten, sind non processit, non transivit, non habet oder wart nit empfangen, non emanavit oder non exivit. Seeliger, Registerführung (wie Anm. 9) 315. 96  Z. B. wurden entsprechende Vermerke unter einigen Urkunden im HHStA, Cod. R. 55/1 ergänzend angefügt: Nr. 26: Item similem litteram habet Sumer venator, und darunter: Consimilem litteram habet Eberlinus in camera domini; Nr 35: Item Ottlinus fistulator domini habet consimilem litteram verbo ad verbum. Datum in eodem loco et die. 97  Wie beispielsweise in Nr. 56 im HHStA, Cod. Bl. 127, wo sich der Inhalt der Originalausfertigung offenbar gegenüber der Konzeptfassung geändert hatte und man diese Änderung lateinisch dem deutschen Text nachträglich hinzufügte (Nota de addicione, que est, si una municionum predictarum amitteretur, quod dominus in bonis aliis debet ipsis facere reconposicionem). Das ist gleichzeitig ein deutlicher Hinweis, dass die Registrierung vor der Mundierung erfolgen konnte. S. die Beschreibung der Handschrift bei Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 116. 98   Pro expensis equitanti in negociis domini ad dominum Alb(er)tu(m) de V(er)ona. 99  Die Registerhefte (quaterni) tragen häufig solche „Titel“: z. B. BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/3 (Teil 6, pag. 219): Item nota iste quaternus inchoatus est feria quinta ante Math(e)i anno L°III° (1353 September 19). BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/4 (Teil 4; fol. 324r): Quaternus domini Chůnr(adi) de Frawnberg, und darunter: Anno M°CCC°LIIII°.

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die den Eintragungen übergeschriebenen „Kopfregesten“100. Diese kurzen Inhaltsangaben erleichterten die Verwendbarkeit der Register. Auch sie gehören zu den Eigenheiten der tirolischen und bayerischen Registerführung, die auf strukturierte und vor allem teamfähige Arbeitsprozesse hinweisen. Abschließend seien noch jene Vermerke erwähnt, die etwas zur Rekonstruktion der landesfürstlichen Archivorganisation beitragen können und die sich ebenfalls ausschließlich in den Registern finden. So ist im HHStA, Cod. Bl. 129, auf fol. 19v ein litteratorium erwähnt (Nota in duobus litteratoriis rotundis sunt privilegia infra scripta), womit ein Behältnis zur Aufbewahrung von Urkunden gemeint sein dürfte. Derselbe Ausdruck begegnet auch in einem Register aus der Zeit König Heinrichs101 und wird von Richard Heuberger als andere Bezeichnung für Register interpretiert102. Nach der Formulierung Nota invenies in hoc litteratorio könnte litteratorium aber auch in diesem Fall mit „Behältnis“ übersetzt werden. Darüber hinaus scheinen Urkunden in Schachteln (scatule) mit einer Art Archivsignatur aufbewahrt worden zu sein. Der Hinweis findet sich im BayHStA, KÄA 25, Cod. 1155/4, unter der Notiz Nr. 347v/2, nach der Johann Ligsalz in München 17 Urkunden des Landesfürsten dem Rat präsentierte, et sunt littere predicte reservate in scatula signata signo superiori. Für ein differenzierteres Ordnungssystem spricht außerdem der Vermerk bei der Notiz zu einem Revers des Schweiker von Gundelfingen (Nr. 45) im HHStA, Cod. Bl. 127, wo es heißt: … et est reservata apud alias litteras. Daraus lässt sich schließen, dass einlaufende Urkunden gesondert aufbewahrt wurden103. Zusammenfassend kann als Ergebnis dieses Überblicks festgehalten werden, dass Kanzleivermerke in Registern in erster Linie als kanzleiinterne Informationen zu verstehen sind. Damit unterscheiden sie sich von jenen Vermerken, die auf den expedierten Urkunden notiert wurden und daher auch für Personen außerhalb der Kanzlei zugänglich waren. Sie sind deutliche Zeichen einer reglementierten und arbeitsteilig organisierten Verwaltung, die sich interner schriftlicher Kommunikationsmittel bediente. Die Kanzleivermerke in den Registern ermöglichten allen mit der Registerführung betrauten Notaren den gleichen Informationsstand. Die damit gewonnene Transparenz administrativer Vorgänge bedeutet einen wesentlichen Schritt hin zu einer modernen, entpersonalisierten Administration mit behördenähnlicher Struktur. Freilich dauerte es auch in der tirolischen und bayerischen Kanzlei noch recht lange, bis dieser Standard tatsächlich erreicht war.

100 Sie finden sich besonders häufig und konsequent angewendet in den Registern aus der Zeit der Teck’schen Verwaltung, insbesondere im HHStA, Cod. Bl. 129, und ebd., Cod. Bl. 128. Diese „Kopfregesten“ stimmen mit dem vorangebundenen Index weitgehend überein. Zusätzlich sind die Eintragungen durchnummeriert. 101  TLA, Hs. 106, fol. 76v. 102 Richard Heuberger, Das Urkunden- und Kanzleiwesen der Grafen von Tirol, Herzöge von Kärnten aus dem Hause Görz (MIÖG Ergbd. 9, Wien 1915) 269 Anm. 8. 103  Hörmann, Registerwesen (wie Anm. 11) 54 Anm. 223.



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Anhang Die Auflösung von Kürzungen ist nur bei Eigennamen gekennzeichnet, große Anfangsbuchstaben werden nur bei Eigennamen verwendet, i und u werden vokalisch, j und v konsonantisch wiedergegeben. Die Satzzeichen sind nach modernen Richtlinien gesetzt. 1. Ludwig von Brandenburg verpfändet Gebhard von Kamer das Gericht Mölten auf Widerruf. 1348 November 10, Burg Tirol B1: HHStA, Cod. Bl. 129, fol. 30r, Nr. 24; B2: BayHStA, KÄA 40, Cod. 4841, Nr. 18r/1; Regest: Justinian Ladurner, Regesten aus tirolischen Urkunden. Archiv für Geschichte und Alterthumskunde Tirols III (1866) 369–412, hier 389 Nr. 686. [nach B1] Wira Lud(wig) etc., das wir dem vesten manne Gebhard(e)n von Kamer, unserm lieben getrewen, yngeantwrt haben das gericht uf Melten und was darzů gehrt umb den dienst, den er und Arnold sein sun uns getan hant und noch tůn sullent uncz Ostern, die schierst choment, und auch umb redlichen schaden, den er in unserm dienst genomen hat und den er redlichen und chuntlich beweisen mag, mit der bescheidenheit, das der vorgenannte Gebhard von Kam(er) und .. sein erben dasselb gericht mit allen rechten, núczen, vaellen und diensten, die darzů gehrnt, innehaben und niezzen sllent uncz an unser widerffen und uncz wir und .. der vorgenannte von Kamer oder .. sein erben umb denselben dienst und den schaden, den er uns redlichen beweisen mag, uns miteinander richten und berain chomen. Datum Tyrol(is), in vigilia sancti Martini anno domini MoCCCXLoVIII. 2.

1348 November 10, Burg Tirol

B1: HHStA, Cod. Bl. 129, fol. 30v, Nr. 24b (Notiz); B2: BayHStA, KÄA 40, Cod. 4841, Nr. 18r/2 (o. D., s. l.) [nach B1] Item .. der von Kam(er) hat fr sich und .. sein erben herczog Chůnr(ad) von Tegg etc. seinen brief geben, ob wir das niht staet halten und widerrffen wolten, das er danne disen brief uns oder herczog Chůnr(ad) widergeben sol und das er auch frbas chein chraft noch macht haben sol. Datum ut supra. 3. Gebhard von Kamer und sein Sohn Arnold reversieren über die bedingte Verleihung des Gerichtes Mölten für ihre Dienste. 1348 November 10, Tirol A: BayHStA, Urk. Grafschaft Tirol, Nr. 112; B: HHStA, Cod. Bl. 128, Nr. 10; Regest: Schatzarchiv-Urkunden, bearb. von Hölzl–Moser (wie Anm. 43) Nr. 112; Hörmann, Spezialkanzleibuch (wie Anm. 50) 97, Nr. 10.

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[nach A]: Ich Gebhart von Chamer vergich und tůn chunt offenlichen mit disem brief fr mich, Arnold(en), minen sun, und .. ander min erben umb den brief, den mir der edel herre herczog Chůnr(ad) von Teck, hauptman der herreschaft ze Tyrol, under mins herren dez marggraven insygel geben hat umb daz gericht uf Melten, daz er mir umb minen dienst und umb den schaden, den ich redlich bewisen mag, yngeantwrt hat, ob daz wer, daz daz mins herren .. dez marggraven wille nicht wer oder, ob daz der marggrave endern wlt, so gehaizze ich im bei minen trewen, daz ich denselben mines herren .. dez marggraven brief widergeben sol minem herren .. dem marggraven oder .. dem vorgenannten herczog Chůnr(ad) von Teck, wanne sie den an mich vordernt, und sol deme der vorgenannte brief dheinerlay chraft noch macht nicht haben, und ich Arnold(en) von Chamer, wan ich dhein aigen insygel niht han, verbind ich mich under mins vatters insygel, waz vorgeschriben stat alles steit [sic] ze halten mit urchnd diss briefs, der geben ist uf Tyrol an sand Martinsabend, do man zalt von Christs geburt driuzehenhundert jare und darnach in dem achtundvierzigsten jare. a

Überschrift: Littera Gebhardi de Kamer. Und am linken Rand der Vermerk: XXIIIIor.

Über Sonderformen und Fälschungen von Urkunden Kaiser Friedrichs III. Daniel Luger

In seiner anregenden Studie zur formalen und inhaltlichen Vielfalt der römischdeutschen Herrscherurkunde im 14. und 15. Jahrhundert hat der Widmungsträger dieser Festschrift die zentralen Problemfelder, Aufgaben und Perspektiven der SpätmittelalterDiplomatik in eindrucksvoller Weise skizziert1. Im Rahmen des folgenden Beitrages sollen einige darin enthaltene Ausführungen Christian Lackners insbesondere zu den Sonderformen spätmittelalterlichen Kanzleischriftgutes – einem zentralen Forschungsdesiderat der Diplomatik – sowie zum klassischen Thema der Urkundenfälschungen um eigene Beobachtungen aus dem Umfeld der Kanzleien König bzw. Kaiser Friedrichs III. ergänzt werden2. Dem Urkundenwesen dieses Herrschers ist der Jubilar seit vielen Jahren nicht zuletzt durch seine verdienstvolle Tätigkeit als Mitherausgeber der XIII. Abteilung der „Regesta Imperii – Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493)“ verbunden3. 1  Christian Lackner, Die Vielgestaltigkeit der spätmittelalterlichen Herrscherurkunde, in: Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich Appelt, hg. von Werner Maleczek (VIÖG 62, Wien 2014) 93–107. 2   Zum Kanzleiwesen Friedrichs III. siehe allgemein Paul-Joachim Heinig, Zur Kanzleipraxis unter Kaiser Friedrich III. (1440–1493). AfD 31 (1985) 383–442; Elfie-Marita Eibl, Der schriftlich regierende Kaiser. Kanzlei und Urkundenproduktion zur Zeit Kaiser Friedrichs III. (1440–1493), in: Belliculum diplomaticum II Thorunense: kancelarie władców na ziemiach polskich w średniowieczu i czasach nowożytnych na tle porównawczym [Die Kanzleien der Herrscher in den polnischen Gebieten in Mittelalter und Neuzeit aus vergleichender Perspektive], hg. von Waldemar Chorążyczewski–Janusz Tandecki (Torún 2007) 11–22; dies., Zwischen Entwurf, Original und Kopie. Bemerkungen zu Formen von Urkunden und Briefen aus den Kanzleien Kaiser Friedrich III. AfD 44 (1998) 19–41. 3   Bereits vor seiner Aufnahme in das Herausgebergremium hat Christian Lackner dankenswerterweise den Fortschritt dieses Projekts stets mit Interesse und offenem Ohr für die Anliegen und Probleme der Bearbeiter begleitet. Unter seiner Mitherausgeberschaft sind bislang folgende Bände erschienen: Regg.F.III. H. 28: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken der Stadt Nürnberg. Teil 3: 1456–1463, bearb. von Dieter Rübsamen (Wien–Köln–Weimar 2013); H. 29: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken der Republik Slowenien. Teil 1: Die staatlichen, kommunalen und kirchlichen Archive in der Stadt Laibach/Ljubljana, bearb. von Joachim Kemper–Jure Volčjak–Martin Armgart (Wien–Köln–Weimar 2014); H. 30: Die Urkunden und Briefe des Österreichischen Staatsarchivs in Wien, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv: Allgemeine Urkundenreihe, Familienurkunden und Abschriftensammlungen (1483–1488), bearb. von Peter Gretzel (Wien–Köln–Weimar 2014); H. 31: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken der deutschen Bundesländer Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein sowie der skandinavischen Länder, bearb. von Eberhardt Holtz (Wien–Köln–Weimar 2016); H. 32: Die Urkunden und Briefe aus dem Staatsarchiv Bamberg und den Archiven und Bibliotheken des Regierungsbezirks Oberfranken sowie aus dem Bestand Rep. 106a (Fehdeakten) des Staatsarchivs Nürnberg, bearb. von Elfie-Marita Eibl (Wien–Köln–Weimar 2018); H. 33: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken Niedersachsens (mit Ausnahme der

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In den letzten Jahren richtete sich der Fokus der diplomatischen Forschung verstärkt auf die Medialität von Urkunden, wobei insbesondere im Bereich der „individuellsten Form der Kommunikation“4, der eigenhändigen herrscherlichen Schriftzeugnisse, einige wichtige neue Beiträge erschienen sind5. Den Autographen Kaiser Friedrichs III., insbesondere dessen eigenhändigen Urkunden und Briefen wurden bislang zwei eingehende Untersuchungen gewidmet6. Von diesen zeitgenössisch als handgeschrift bezeichneten, vollständig autographen Schreiben Friedrichs III. sind gegenwärtig etwa zwei Dutzend im Original, als Kopie oder Deperditum bekannt7, wobei sich spätestens ab den 1460er Jahren bestimmte äußere und innere Formen für diese Schriftstücke durchgesetzt zu haben scheinen. Sie sind – soweit im Original erhalten – stets auf kleinformatigem, querrechteckigem Papier geschrieben und nicht mit dem kaiserlichen Majestätssiegel, sondern dem Sekretsiegel Friedrichs III. beglaubigt, wobei dieses entweder rückseitig als Verschluss oder vorderseitig unterhalb des Textes aufgedrückt wurde. Neben diesen äußeren Kennzeichen weisen handgeschrift aber auch im Bereich des Formulars wesentliche Unterschiede zu kanzleimäßigen Urkunden und Briefen Friedrichs III. auf. Die Intitulatio wird in eigenhändigen Schreiben dieses Herrschers durch ein einfaches F über dem Schriftspiegel ersetzt, darauf folgen zuweilen eine knappe Anrede sowie das jeweilige Anliegen, welches völlig konträr zum zeitgenössischen Kanzleigebrauch frei und in kaum zu überbietender Kürze formuliert wird. Abgeschlossen werden diese Schriftstücke in den meisten Fällen durch eine Datierung, rechts unterhalb des Textblockes befindet sich stets der charakteristische, die Eigenhändigkeit dieser Schriftstücke anzeigende Vermerk p(er) m(anum) p(ropriam). Inhaltlich betreffen diese autographen Schreiben häufig Finanzangelegenheiten, aber auch private Mitteilungen, Befehle oder Bitten. Wie bereits Martin Wagendorfer im Rahmen einer Analyse der eigenhändigen Unter­ fertigungen Friedrichs III. auf ansonsten kanzleigemäß ausgefertigten Schriftstücken überzeugend dargelegt hat, lag die Intention der kaiserlichen Eigenhändigkeit in manchen Fällen sicherlich darin, den in diesen Schreiben enthaltenen Anliegen größeren Nachdruck zu verleihen8. Dass diese Funktion gerade auch im Falle gänzlich autographer Bittschriften des Kaisers gegeben war, belegt ein in diesem Zusammenhang bislang unbeHAB Wolfenbüttel), bearb. von Paul-Joachim Heinig (Wien–Köln–Weimar 2018); H. 34: Die Urkunden und Briefe des Österreichischen Staatsarchivs in Wien, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv: Allgemeine Urkundenreihe, Familienurkunden und Abschriftensammlungen (1476–1479), bearb. von Kornelia Holzner-Tobisch nach Vorarbeiten von Anne-Katrin Kunde (Wien–Köln–Weimar 2019); H. 35: Die Urkunden und Briefe des Österreichischen Staatsarchivs in Wien, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv: Allgemeine Urkundenreihe, Familienurkunden und Abschriftensammlungen (1483–1488), bearb. von Petra Heinicker–Anne-Katrin Kunde (Wien–Köln–Weimar 2019). 4  Lackner, Vielgestaltigkeit (wie Anm. 1) 99. 5 Siehe insbesondere Manu propria. Vom eigenhändigen Schreiben der Mächtigen (13.–15. Jahrhundert), hg. von Claudia Feller–Christian Lackner (VIÖG 67, Wien 2016). 6 Heinrich Koller, Zur Bedeutung der eigenhändigen Briefe Kaiser Friedrichs III., in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, hg. von Friedrich Battenberg–Filippo Ranieri (Weimar–Köln–Wien 1994) 119–129; Martin Wagendorfer, Eigenhändige Unterfertigungen Kaiser Friedrichs III. auf seinen Urkunden und Briefen, in: König und Kanzlist, Kaiser und Papst. Friedrich III. und Enea Silvio Piccolomini in Wiener Neustadt, hg. von Franz Fuchs–Paul-Joachim Heinig–Martin Wagendorfer (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 32, Wien–Köln–Weimar 2013) 215–265. 7  Vgl. dazu das Verzeichnis in Wagendorfer, Unterfertigungen (wie Anm. 6) 249–253. 8  Ebd. 240–242.



Über Sonderformen und Fälschungen von Urkunden Kaiser Friedrichs III. 129

achtet gebliebenes Selbstzeugnis dieses Herrschers. Denn in seinem berühmten, großteils eigenhändig geführten Notizbuch berichtet Friedrich III. selbst in erfreulicher Klarheit über den Zweck seiner eigenhändig verfassten Suppliken: ban ich den pa[p]st erns[t]leich piten sol, so sol ich ain pesunder priffel schreiben9, mein hand geschrift, und darin den titel seczen: F(ridericus) s(anctitatis) v(estre) devotus filius f.10 canonicus11. Diese bekräftigende Funktion von autographen Schriftstücken Friedrichs III. kam auch abseits von Bittschriften in anderen Zusammenhängen zum Tragen, wie eine Quelle über die Verhandlungen des Jahres 1461 zwischen dem römisch-deutschen Kaiser und Georg von Podiebrad belegt. In einer Instruktion für eine böhmische Gesandtschaft an den Papst wird diese von König Georg beauftragt, an der römischen Kurie den aktuellen Stand der Verhandlungen zu referieren und bei dieser Gelegenheit zu betonen, dass der Kaiser seine zuvor gegenüber König Georg in Brünn abgegebenen Versprechungen nicht eingehalten habe, obwohl er diese mit seiner aigen hannt verschribenn habe12. Im Rahmen der handgeschrift Kaiser Friedrichs III. stellt ein vor Kurzem im ungarischen Staatsarchiv aufgefundenes Schriftstück dieses Herrschers einen absoluten Sonderfall dar (Abb. 1 und 2)13. Dabei handelt es sich um einen Brief an den Erzbischof von Gran/Esztergom, Johann Beckensloer, in welchem der Kaiser den einflussreichen Geistlichen zu Rate zog: Fridericus. Lieber herr van Gran, Ulreich van Grauenegk hat durch14 seinen abbt15 ain pottschafft an uns werben lassen, als uns nit zweifelt, ir habt der ain wissen, und begern an ew, ir wellet uns raten, was wir im zu anttwurtt geben sullen. Dieser undatierte kaiserliche Brief steht sicherlich im Zusammenhang mit der im Jahr 1472 ausgebrochenen sogenannten Grafenegger-Fehde, einem langjährigen Konflikt des Landesfürsten mit Teilen des niederösterreichischen Adels, die bei König Matthias von Ungarn Unterstützung fanden16. Am Beginn des Jahres 1477 erklärten sich Ulrich von Grafenegg und einige seiner Parteigänger zu Verhandlungen mit dem Kaiser bereit, woraufhin im März dieses Jahres ausdrücklich auf Vermittlung des kaiserlichen Rates Beckensloer ein Vertrag zwischen den Streitparteien zustande kam, der diesem Zerwürfnis schließlich ein Ende bereitete17.   Danach gestrichen: darin.   Die Auflösung dieser Abkürzung bleibt unklar. 11  ÖNB Cod. 2674 pag. 8; Druck in: Alphons Lhotsky, AEIOV. Die „Devise“ Kaiser Friedrichs III. und sein Notizbuch, in: ders., Aufsätze und Vorträge 2, hg. von Hans Wagner–Heinrich Koller (Wien 1971) 194–222, hier 203. 12 Urkundliche Beiträge zur Geschichte Böhmens und seiner Nachbarländer im Zeitalter Georg’s von ­Podiebrad (1450–1471), hg. von Franz Palacky (FRA 2/XX, Wien 1860) 244 Nr. 239. 13  Budapest, Magyar Országos Levéltár, Diplomatikai Levéltár, Nr. 39316. 14  Danach radiert: ain. 15  Als Überbringer dieser Nachricht an den Kaiser fungierte vermutlich der Vorsteher des von Ulrich von Grafenegg im Jahr 1475 gegründeten Paulinerklosters in Baumgarten (bei Ödenburg/Sopron). Zu diesem Kloster siehe Karl Kaus, Das Kloster von Baumgarten, in: Burgenland. Archäologie und Landeskunde. Opera selecta, hg. von dems. (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 114, Baumgarten 2006) 356–366. 16   Siehe dazu Brigitte Haller-Reiffenstein, Ulrich von Grafeneck und seine Nachkommen – ein Parallelfall?, in: Andreas Baumkircher: Erben und Nachfolger. Symposium im Rahmen der Schlaininger Gespräche vom 20.–24. September 1989 auf Burg Schlaining, hg. von Ulrike Döcker–Rudolf Kropf (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 88, Eisenstadt 1992) 117–154, bes. 139–142; Paul-Joachim Heinig, Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 17/1–3, Köln–Weimar–Wien 1997) bes. 269–272 und 449–452. 17  Druck der dabei ausgestellten Urkunden vom 2. und 17. März dieses Jahres in Joseph Chmel, Monu9

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Abb. 1 und 2: Budapest, Magyar Országos Levéltár, Diplomatikai Levéltár, Nr. 39316.

Das hier vorzustellende Schriftstück dürfte im Vorfeld dieser Verhandlungen zu Jahresbeginn 1477 aufgesetzt worden sein. Interessanter als der Wortlaut dieses äußerst knapp formulierten Ansuchens sind in unserem Zusammenhang jedoch die äußeren und inneren Merkmale dieses Schreibens, welche in mehrfacher Hinsicht denen der bislang bekannten handgeschrift entsprechen. So handelt es sich auch in diesem Fall um ein kleinformatiges, schmales Schreiben auf Papier, das rückseitig nicht mit einem Siegel der österreichischen und römischen Kanzlei, sondern mit dem Sekretsiegel des Kaisers (S 16) verschlossen wurde (Abb. 2)18. Auf eine kurze Anrede folgt das äußerst knapp und frei formulierte Anliegen, wobei über dem Brieftext anstelle eines die Intitulatio ersetzenden F hier der offensichtlich nachgetragene Herrschername Fridericus zu finden ist. Den wementa Habsburgica. Sammlung von Actenstücken und Briefen zur Geschichte des Hauses Habsburg in dem Zeitraume von 1473 bis 1576, 1. Abtheilung: Das Zeitalter Maximilians I., 1. Bd. (Wien 1854) 267–273 Nr. 95f. Siehe dazu auch Regg.F.III. H. 34 Nr. 55, sowie Franz Martin Mayer, Über die Abdankung des Erzbischofs Bernhard von Salzburg und den Ausbruch des dritten Krieges zwischen Kaiser Friedrich und König Mathias von Ungarn (1477–1481). AÖG 55 (1877) 169–247, bes. 179–181. 18  Siehe auch Otto Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige von 751 bis 1913 Bd. 5 (Dresden 1913) 52 Nr. 16.



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sentlichen Unterschied zu einer handgeschrift stellt jedoch die Person des Schreibers dar, denn im vorliegenden Fall wurde dieses Schriftstück offenkundig nicht vom Kaiser selbst, sondern vom Protonotar der erbländischen Kanzlei, Johannes Rehwein, verfasst19. Mit dem paläographischen Befund stimmt auch die Tatsache überein, dass der bei kaiserlichen Autographen übliche Vermerk p(er) m(anum) p(ropriam) in diesem Schriftstück fehlt. Aus diplomatischer Sicht steht dieses Schreiben somit zwischen einer autographen kaiserlichen handgeschrift und einem kanzleimäßig ausgestellten verschlossenen Brief und könnte daher als Frühform der bislang im habsburgischen Herrschaftsbereich erst aus der Frühen Neuzeit bekannten Handschreiben bezeichnet werden, jener vergleichsweise formlosen, kleinformatigen Kanzleiprodukte, die nicht durch eigenhändige Ausführung seitens des Herrschers, sondern durch die bewusste Reduktion von Formalia einen erhöhten Grad an Vertraulichkeit zwischen den Korrespondenzpartnern zum Ausdruck bringen sollten20. Auch wenn die Überlieferungschance derartiger äußerlich höchst unscheinbarer Schriftstücke freilich gering ist, könnte das Fortschreiten des Projekts der „Regesta Imperii – Regesten Kaiser Friedrichs III.“ möglicherweise weitere vergleichbare Kanzleiprodukte zu Tage bringen. Mit einer sicherlich größeren Zahl von Neufunden ist zukünftig hingegen in einem weiteren Feld des autographen Schreibens Friedrichs III. zu rechnen, nämlich den eigenhändigen herrscherlichen Unterfertigungen auf Urkunden und Briefen21. In diesem Bereich dürfte insbesondere die bislang noch kaum in Regestenform erschlossene kopiale Urkundenüberlieferung in den landesfürstlichen Kanzleiregistern zu einigen weiteren Funden führen. So enthält beispielsweise ein heute im Hofkammerarchiv befindliches Urkundenverzeichnis der erbländischen Kanzlei für die Jahre 1489 bis 1491 die Abschrift eines kaiserlichen Privilegs vom 15. September 1490 für den landesfürstlichen Salzschreiber Hans Leroch von Stadl(-Paura), dem mit dieser Urkunde der ungeldfreie Ausschank von drei Dreiling Wein jährlich gewährt wurde22. Am unteren Rand dieses Registereintrags gab der Kanzleischreiber zusätzlich die besondere Art der Unterfertigung wieder: prescripta recognoscimus, doch auf unser widerruffen. Im vorliegenden Fall hatte also der Kaiser seinen autographen Vermerk prescripta recognoscimus samt charakteristischer Schlinge – die „mittlere“ und im überlieferten Urkundenmaterial am häufigsten auftretende Form – mit einem einschränkenden Zusatz versehen23. Dass es sich dabei tatsächlich um eine bislang nicht bekannte Variante der eigenhändigen Unterfertigung Friedrichs III. handelt, wird im Kanzleiregister selbst durch einen weiteren 19  Zur Analyse der Schriftproben Johannes Rehweins siehe zuletzt Daniel Luger, Humanismus und humanistische Schrift in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III. (1440–1493) (MIÖG Ergbd. 60, Wien 2016) 97–110. 20  Bereits Heinrich Koller verwendete den Terminus „Handschreiben“, allerdings problematischerweise als Synonym für handgeschrift, und steht damit im Gegensatz zur Usance der neuzeitlichen Aktenkunde, Handschreiben lediglich aufgrund von Unterschieden im Formular und grammatikalischen Stil von Kanzleischreiben zu unterscheiden. Die handgeschrift Friedrichs III. wären daher aktenkundlich als „eigenhändige Handschreiben“ zu bezeichnen. Siehe dazu Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (Historische Hilfswissenschaften, Wien–München 2009) 175f.; Julian Holzapfl, Fürstenkorrespondenz, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Hof und Schrift, hg. von Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel–Jörg Wettlaufer (Residenzenforschung 15.III, Ostfildern 2007) 299–328, hier 304. 21  Siehe dazu die grundlegenden Ausführungen von Wagendorfer, Unterfertigungen (wie Anm. 6) bes. 226–236. 22   Auf diese umfangreiche und bislang kaum beachtete Handschrift machte mich vor einigen Jahren Christian Lackner aufmerksam, wofür auch an dieser Stelle herzlich gedankt sei; siehe ÖStA, Finanz- und Hofkammerarchiv, Handschriftensammlung Nr. 44 fol. 192v. 23   Wagendorfer, Unterfertigungen (wie Anm. 6) 230–232.

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zeitgenössischen, allerdings von anderer Hand ausgeführten Hinweis am Rande dieses Vermerks bestätigt: manus imperatoris! Neben dieser mittleren Form der Unterfertigung wurden von Kaiser Friedrich III. auch noch zwei weitere Varianten verwendet, die Langform Nos Fridericus prelibatus prescripta recognoscimus, profitemur et approbamus in erster Linie für feierliche Privilegien sowie die seltene „kleine Unterfertigung“ per manum propriam24. Bereits Heinrich Koller und Martin Wagendorfer haben auf mögliche Vorbilder und Traditionslinien dieser Unterfertigungen hingewiesen25. An dieser Stelle sei dazu ergänzt, dass diese autographen Vermerke noch zu Lebzeiten des Kaisers in dessen näherem Umfeld Nachahmer fanden, etwa auf einem sicherlich von einem Schreiber der Reichskanzlei mundierten Schuldbrief, den Bischof Friedrich von Passau zugunsten Friedrichs III. als Teil eines Vertragsabschlusses mit dem Reichsoberhaupt besiegelte und rechts unterhalb der Plica eigenhändig unterfertigte, und zwar bezeichnenderweise in Form einer Kombination aus Lang- und Kurzform der kaiserlichen Variante: Nos Fridericus episcopus Pataviensis prescripta recognoscimus, profitemur et aprobamus [!] per manum propriam26. Aber auch Friedrichs Sohn und Nachfolger Maximilian versah ein am kaiserlichen Hof in Linz ausgestelltes Privileg vom 8. Juni 1493 zugunsten des einflussreichen kaiserlichen Rates und Hofmarschalls Sigmund Prüschenk nicht nur mit seinem bekannten Handzeichen, sondern unterfertigte dieses Schriftstück auch mit dem eigenhändigen, an die Usancen seines Vaters anknüpfenden Vermerk supradicta recongnoscimus [!] per manum propriam27. Nicht nur im Bereich der autographen Schriftzeugnisse Friedrichs III., sondern auch auf dem wesentlich umfangreicheren Feld der kanzleimäßig ausgestellten Urkunden und Briefe sind zahlreiche Abweichungen von der üblichen Kanzleipraxis zu bemerken. So begegnen etwa unter diesem Reichsoberhaupt diverse Urkundenvermerke in einer Vielzahl an Varianten, die am häufigsten auftretenden vorderseitigen Vermerke folgen jedoch zwei Grundtypen, die wiederum den beiden am Hof Friedrichs III. zusammengeführten Kanzleitraditionen entsprechen: dem Commissio-Vermerk der habsburgisch-landesfürstlichen Kanzlei bzw. dem Ad mandatum-Vermerk der Reichskanzlei nach luxemburgischem Vorbild28. Beide Formen wurden stets rechts unterhalb des Textes angebracht – bei Pergamenturkunden auf oder unter der Plica – und bringen somit zum Ausdruck, welche der beiden unter diesem Herrscher tätigen Kanzleien für die Ausstellung der jeweiligen Urkunde verantwortlich zeichnete29. Bislang unbeachtet blieb jedoch, dass gegen Ende der 1450er Jahre im Urkundenwesen Friedrichs III. eine dritte Kanzleitradition Einzug hielt, nämlich jene des ungarischen Königshofes. Nach dem Ableben des ungarischen Königs Ladislaus Postumus im November 1458 und der darauffolgenden Wahl von Matthias Hunyadi zu dessen Nach  Ebd. 226–233.   Koller, Bedeutung (wie Anm. 6) 123; Wagendorfer, Unterfertigungen (wie Anm. 6) 239. 26  Wien, HHStA, AUR 1490 I 5. 27  Ebd. 1493 VI 8. Zu den Autographen Maximilians siehe Christian Lackner, Einführung, in: Manu propria (wie Anm. 5) 9–15, hier 10; sowie zuletzt Andreas Zajic, Licht auf blinde Flecken. Beobachtungen zum eigenhändigen Schreiben Maximilians I., in: Maximilianus. Die Kunst des Kaisers, hg. von Lukas Madersbacher–Erwin Pokorny (Berlin–München 2019) 120–129; sowie ders., Rex idiographus – Bausteine zu einer Analyse der Autografen Maximilians I. (im Druck), dem an dieser Stelle herzlich für mehrfache Hinweise gedankt sei. 28  Zu den Kanzleivermerken unter Friedrich III. siehe allgemein Heinig, Kanzleipraxis (wie Anm. 2) 383–442. 29  Über die jeweiligen, nicht immer strikt voneinander zu trennenden Aufgabenbereiche und Organisa­ tionsformen der österreichischen und römischen Kanzlei Friedrichs III. siehe ebd. 24 25



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folger wurde von Seiten einer oppositionellen Magnatenpartei an Kaiser Friedrich III. das Angebot herangetragen, ihn bei der Übernahme der ungarischen Königswürde zu unterstützen. Der Habsburger leitete seine Ansprüche aus der Verwandtschaft mit dem verstorbenen König Ladislaus sowie aus dem Besitz der Stephanskrone ab und wurde von seinen ungarischen Unterstützern tatsächlich am 17. Februar 1459 auf Burg Güssing zum (Gegen-)König gewählt. Während die ältere Forschung noch an der Ernsthaftigkeit der Bemühungen Friedrichs um die ungarische Königswürde gezweifelt hatte, machen die überzeugenden Ausführungen Brigitte Haller-Reiffensteins deutlich, dass „die ungarische Episode doch mehr Beachtung [verdient], als man ihr meist zubilligt“30. Tatsächlich begann der Habsburger dieses Projekt durchaus ambitioniert und zielbewusst. So übernahm er nicht nur sogleich den Titel eines Königs von Ungarn samt den dazugehörigen Nebentiteln in seinen Urkunden, ihm gelang es auch, den neugewählten böhmischen König Georg von Podiebrad unter anderem durch das Versprechen der feierlichen Belehnung mit Böhmen und Mähren als Unterstützer zu gewinnen. Zugleich wurden am kaiserlichen Hof Vorbereitungen für den Krönungszug Friedrichs III. nach Stuhlweißenburg/Székesfehérvár getroffen sowie Truppen für die bevorstehende militärische Auseinandersetzung mit der Partei Hunyadis zusammengezogen. Am 7. April 1459 kam es bei Körmend in Westungarn zur ersten Schlacht, die mit einem Sieg des habsburgischen Heeres endete. Welche Bedeutung Kaiser Friedrich III. seinen ungarischen Ambitionen beimaß, zeigt wohl auch die Tatsache, dass er dem zur Huldigung nach Wiener Neustadt gereisten Anführer seiner ungarischen Parteigänger, Nikolaus Ujlaki, immerhin die honorable Aufgabe übertrug, seinen am 22. März dieses Jahres geborenen Sohn und Thronfolger Maximilian aus der Taufe zu heben31. Wenige Tage vor diesem Ereignis informierte Friedrich III. in einem Schreiben an die Vertreter der Stadt Pressburg/Bratislava über seine Königswahl durch die maior utputa et sanior pars ipsius regni Hungarie und lud die Empfänger zur bevorstehenden Krönungszeremonie (Abb. 3 und 4)32. Aus diplomatischer Sicht bemerkenswert an dieser in Wiener Neustadt ausgestellten Urkunde ist jedenfalls die Tatsache, dass im vorliegenden Fall weder der Commissio-Vermerk der landesfürstlich-österreichischen Kanzlei noch der Ad mandatum-Vermerk der Reichskanzlei rechts unterhalb des Urkundentextes zur Anwendung kommt, sondern ein ganz in Tradition der ungarischen Königskanzlei stehender Vermerk am rechten oberen Blattrand, in der zuvor nicht bekannten Variante commissio domini imperatoris et regis in consilio 33. Die Rücksichtnahme auf Gewohnheiten des königlich-ungarischen Urkundenwesens setzt sich auch im Bereich der Besiegelung fort, denn diese erfolgte hier nicht wie bei vergleichbaren Mandaten aus den Kanzleien Friedrichs III. üblich durch ein rückseitig aufgedrücktes Siegel, sondern ganz nach Vorbild der Litterae patentes der ungarischen 30 Brigitte Haller(-Reiffenstein), Kaiser Friedrich III. und die Stephanskrone. MÖSTA 26 (1973) 94–147, hier 129. Zu den politischen Hintergründen vgl. auch Karl Nehring, Matthias Corvinus, Kaiser Friedrich III. und das Reich. Zum hunyadisch-habsburgischen Gegensatz im Donauraum (Südosteuropäische Arbeiten 72, München 1975) bes. 13–23, sowie Heinrich von Zeissberg, Der österreichische Erbfolgestreit nach dem Tode des Königs Ladislaus Postumus (1457–1458) im Lichte der habsburgischen Hausverträge. AÖG 58 (1879) 1–170. 31  Haller(-Reiffenstein), Kaiser Friedrich III. (wie Anm. 30) 129–138. 32  Bratislava, Archív hlavného mesta, Magistrát mesta Bratislavy, Zbierka listín a listov Nr. 3278. 33  Zu den Vorbildern siehe Márta Kondor, Die Urkundenausstellung der zentralen Ausfertigungsorgane und der Kurialgerichte in Ungarn während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bemerkungen zu den Regesten der an ungarischen Kanzleien ausgefertigten Urkunden König und Kaiser Sigismunds. AfD 55 (2009) 191–224, hier 211.

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Abb. 3: Bratislava, Archív hlavného mesta, Magistrát mesta Bratislavy, Zbierka listín a listov Nr. 3278.

Abb. 4: Bratislava, Archív hlavného mesta, Magistrát mesta Bratislavy, Zbierka listín a listov Nr. 3278.

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Geheimkanzlei durch ein vorderseitig unter dem Text aufgedrücktes rotes Wachssiegel34. Jedoch musste in Ermangelung eines eigenen königlich-ungarischen Typars behelfsmäßig auf das Majestätssiegel der landesfürstlichen Kanzlei Friedrichs III. zurückgegriffen werden, worauf in der Corroboratio ausdrücklich hingewiesen wurde35. Ob mit der Übernahme von Teilen der ungarischen Urkundentradition auch personelle bzw. organisatorische Veränderungen im Kanzleiwesen Friedrichs III. verbunden waren, muss angesichts der noch ausstehenden systematischen Erschließung der Fridericiana in ungarischen Beständen offen bleiben36. Bekanntermaßen gelang es Friedrich III. jedoch nicht, seine Ansprüche auf den ungarischen Königsthron auf politisch-militärischer Ebene dauerhaft durchzusetzen. Schlussendlich brachte ein Bündnis zwischen Friedrichs Bruder Albrecht VI. und Matthias Hunyadi, dem sich zeitweilig auch König Georg von Podiebrad anschloss, den Kaiser in eine ausweglose Situation. Diese führte in den Jahren 1463/64 durch Vermittlung des Papstes schließlich zu dem für Friedrich III. in Anbetracht der politischen Umstände nicht ungünstigen Vertrag von Wiener Neustadt bzw. Ödenburg, welcher dem Habsburger im Gegenzug für den Herrschaftsverzicht in Ungarn, die Adoption seines Kontrahenten Matthias Hunyadi sowie die Auslieferung der Stephanskrone immerhin die Bewahrung der meisten habsburgischen Besitzungen in Westungarn und die lebenslange Führung des ungarischen Königstitels ermöglichte. Darüber hinaus sicherte Friedrich III. durch diesen Vertrag das Erbrecht im Königreich Ungarn für sich und seine Nachkommen37, einen Anspruch, dessen Verwirklichung bekanntermaßen einer günstigeren Zukunft überlassen blieb. Auch aus einem anderen Bereich des friderizianischen Urkundenwesens soll an dieser Stelle eine bislang wenig untersuchte Besonderheit angeführt werden. So begegnen im Zuge der Arbeiten an den Regesten Kaiser Friedrichs III. mitunter Original-Urkunden, die von der üblichen Kanzleipraxis lediglich durch die fehlende Nennung eines Ausstellungsortes abweichen38. Dass diese Besonderheit bereits von Zeitgenossen bemerkt und thematisiert wurde, zeigen etwa die Akten eines im Jahr 1453 vor dem kaiserlichen Kammergericht geführten Prozesses zwischen Vertretern des Deutschen Ordens und dem Preußischen Bund. In einer Gerichtssitzung vom 8. November dieses Jahres bestritt der Anwalt des Ordens die Echtheit eines von der Gegenseite vorgelegten Privilegs Friedrichs III. vom 6. Februar 1441 unter anderem mit dem Argument, die Urkunde nenne 34   Zum Siegelgebrauch der ungarischen Kanzleien siehe Kondor, Urkundenausstellung (wie Anm. 33) 214–217. 35   Sub nostro sigillo quo in dominiis et principatibus nostris hereditariis propter regalis sigilli carentiam utimur (Bratislava, Archív hlavného mesta, Magistrát mesta Bratislavy, Zbierka listín a listov Nr. 3278, https://archives. hungaricana.hu/en/charters/175321/ [9. 1. 2020]). An dieser Stelle fand das seit dem Jahr 1458 in Gebrauch stehende Siegel S 19 Verwendung; siehe dazu Posse, Siegel (wie Anm. 18) 52 Nr. 19. 36  Jedenfalls begegnet der oben genannte ungarische Kanzleivermerk auch noch auf einem Privileg des Jahres 1460, in dem Friedrich III. als König von Ungarn seinem Getreuen Jodocus das Schloss Wyglesch/Vígľaš bei Altsohl (Zólyom/Zvolen) überträgt; Budapest, Magyar Országos Levéltár, Diplomatikai Levéltár Nr. 63197 (1460 VII 9), https://archives.hungaricana.hu/en/charters/177285/ [9. 1. 2020]. 37   Druck sämtlicher Urkunden des Vertragswerkes bei Nehring, Corvinus (wie Anm. 30) 202–217. Vgl. dazu jüngst József Csermelyi, Zwischen Kaiser und König: Die Familie Kanizsai und ihre verlorenen Herrschaften in Westungarn, in: Die Kanizsai und ihre Zeit. Tagungsband der 38. Schlaininger Gespräche 17. bis 20. September 2018, hg. von Gert Polster (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 163, Eisenstadt 2019) 23–38. 38   Siehe dazu lediglich aus den Beständen des HHStA u. a.: Regg.F.III. H. 12 Nr. 32, 53, 65–71, 76, 78f., 81–84, 92f., 124f., 172, 185 und 227–230; H. 13 Nr. 43, 92, 142f., 150, 152, 157, 193 und 230; H. 18 Nr. 90, 95, 124, 126–129, 147, 234, 273 und 285; H. 22 Nr. 247 und 262; H. 27 Nr. 29.



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nicht die Stadt, in der sie ausgestellt wurde, was wider die lewffe und ordenung der kunigklichen und kayserlichen cantzley sey39. Zwei Tage später erwiderte der Vertreter des Bundes auf diesen Vorwurf, er habe in der Zwischenzeit bei kaiserlichen Räten und dem Kanzler in Erfahrung bringen können, dass in der Kanzlei über 1.000 Urkunden ausgegangen seien, die ihren Ausstellungsort nicht anführen würden. Da überdies das kaiserliche Sekretsiegel des inkriminierten Diploms unbrechenhafftig und gantz volkomen sei, könne an der Echtheit dieser Urkunde kein Zweifel bestehen. Das Urteil des Kammergerichts fällt zwar schließlich zugunsten des Deutschen Ordens aus, auf die Frage der Echtheit dieses Privilegs wird jedoch in der abschließenden Gerichtsurkunde nicht näher eingegangen. Auch in der diplomatischen Forschung wird zuweilen das Fehlen eines Ausstellungsortes als Indiz für eine rückdatierte Kanzleifälschung gesehen, eine Interpretation, die Elfie-Marita Eibl jedenfalls im eben genannten Fall aufgrund der Besiegelung des inkriminierten Privilegs mit dem tatsächlich ausschließlich in der Frühzeit der Regierung Friedrichs III. verwendeten Sekretsiegel S 7 berechtigterweise in Zweifel zieht40. PaulJoachim Heinig hingegen weist in anderem Zusammenhang auf Urkunden Kaiser Friedrichs III. hin, die keinen Ausstellungsort angeben, und sieht dies als Hinweis auf die rasche Reisegeschwindigkeit des kaiserlichen Hofes41. Allerdings zeigt gerade ein Blick auf jene Urkunden, die Friedrich III. während seines zweiten Romzuges um die Jahreswende 1468/69 ausstellen ließ, dass der fehlenden Nennung eines Ausstellungsortes auch eine andere Bedeutung zukommen konnte. Bislang sind 47 im Original oder als Kopie überlieferte Urkunden bekannt, die im Zuge dieser Reise von der kaiserlichen Kanzlei ausgestellt wurden und allesamt einen Ausstellungsort anführen. Auf Basis dieser heute überwiegend in italienischen Archiven überlieferten Urkunden ergibt sich folgendes Itinerar42: (1468 November 23: Villach) 1468 Dezember 14: Ravenna 1468 Dezember 17: Pesaro 1469 Dezember 20: Recanati 1469 Januar 1 bis 6: Rom 1469 Januar 15 und 16: Perugia 1469 Januar 19 und 20: Fano 1469 Januar 22: Pesaro 1469 Januar 25 und 26: Ravenna 1469 Januar 30 bis Februar 2: Ferrara 1469 Februar 6 bis 18: Venedig 1469 Februar 21: Pordenone (1469 März 1: St. Veit a. d. Glan) Aus diplomatisch-paläographischer Hinsicht weisen diese in Italien ausgestellten kaiserlichen Urkunden einige Besonderheiten auf, die bereits andernorts thematisiert wur  Zum Folgenden siehe Regg.F.III. H. 24 Nr. 185.   Regg.F. III. H. 24 S. 24–29; bzw. ebd. Nr. 3. 41  Heinig, Friedrich III. (wie Anm. 16) 1370 Anm. 1. 42  Zu einer vollständigen Auflistung, diplomatischen Analyse und inhaltlichen Auswertung dieser Urkunden unter Angabe der jeweiligen Archivsignaturen siehe zukünftig Daniel Luger, Der Romzug Kaiser Friedrichs III. zur Jahreswende 1468/69 im Spiegel der Urkunden – eine Begegnung mit Kultur und Gesellschaft der italienischen Frührenaissance (im Druck). 39 40

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den43. An dieser Stelle sei jedoch auf eine Gruppe von Diplomen und Mandaten Friedrichs III. hingewiesen, deren Datierung in den Zeitraum dieses Romzuges fällt, ohne jedoch einen Ausstellungsort anzugeben: 1468 November 2744 1468 November 3045 1468 Dezember 2046 1468 Dezember 2947 1469 Januar 348 1469 Januar 2849 1469 Februar 2850 1469 März 151 Inhaltlich betreffen diese Urkunden ausschließlich Angelegenheiten des Reichs, des kaiserlichen Kammergerichts sowie der habsburgischen Erblande. An anderer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kaiser Friedrich III. im Laufe der Vorbereitungen für seinen zweiten Romzug den Leiter der römischen Kanzlei, Bischof Ulrich von Passau, sowie den kaiserlichen Hofmarschall Georg Fuchs und eine Gruppe innerösterreichischer Adeliger zur Fortführung der Regierungsangelegenheiten während seiner Abwesenheit bestellt hatte52. Tatsächlich fand etwa am 23. Dezember 1468 – also kurz vor der Ankunft des Kaisers und seines Gefolges in der Ewigen Stadt – eine Sitzung des Kammergerichts unter dem Vorsitz Ulrichs von Passau in Wiener Neustadt statt53. Darüber hinaus wurden auch die offenkundig in den Erblanden verbliebenen Mitarbeiter der Kanzleien Friedrichs III. tätig und stellten in diesem Zeitraum Urkunden im Namen des Kaisers mit den Ausstellungsorten Graz, Wiener Neustadt und Wien aus54. Abgesehen von diesen dem Herrscher­ itinerar nicht entsprechenden Ortsangaben weisen diese Urkunden keinerlei Abweichungen vom üblichen Kanzleigebrauch auf55. Dass diese Schriftstücke sowie auch jene oben angeführten Urkunden ohne Nennung   Luger, Humanismus (wie Anm. 19) 93–97.   Regg.F.III. H. 4 Nr. 467. 45  Regg.F.III. H. 22 Nr. 247. 46  Siehe Urkunden-Datenbank Friedrich III., in: http://f3.regesta-imperii.de/show.php?urk=10313 [9. 1. 2020]. 47  Regg.F.III. H. 7 Nr. 294. 48  Regg.F.III. H. 7 Nr. 297. 49  Siehe Urkunden-Datenbank Friedrich III., in: http://f3.regesta-imperii.de/show.php?urk=10327 [9. 1. 2020]. 50   Regg.F.III. H. 7 Nr. 302. 51  HHStA, Reichsregister Q fol. 135r. 52  Heinig, Kanzleipraxis (wie Anm. 2) 424; Luger, Romzug (wie Anm. 42). 53  Die Protokoll- und Urteilsbücher des königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480 Bd. 3, ed. Friedrich Battenberg–Bernhard Diestelkamp (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 44, Köln–Weimar–Wien 2004) 1368. 54   Eine Auflistung der bislang bekannten Schriftstücke in Luger, Romzug (wie Anm. 42) Anhang 2. 55  Lediglich in einem Fall findet das kaiserliche Sekretsiegel S 16 Verwendung (Regg.F.III. H. 22 Nr. 253), welches in diesen Jahren allerdings noch sehr unregelmäßig zum Einsatz kam. Jedoch wurde diese Urkunde erst am 28. Februar 1469 in Wiener Neustadt ausgestellt, als sich Friedrich III. bereits auf dem Rückweg aus Italien in Kärnten befand. Es wäre in diesem Fall also eine nachträgliche Besiegelung möglich. 43 44



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eines Ausstellungsortes tatsächlich „in absentia imperatoris“ auf Veranlassung des temporär eingesetzten Regiments ausgestellt wurden und es sich dabei nicht etwa um bewusste Vor- oder Rückdatierungen handelt, machen auch die in den Kanzleivermerken genannten Relatoren deutlich. Denn an dieser Stelle wird unter anderem ausdrücklich der auf Befehl Friedrichs III. in Wiener Neustadt verbliebene römische Kanzler und Richter am kaiserlichen Kammergericht, Bischof Ulrich von Passau, als Überbringer des Beurkundungsbefehls genannt56. Diese um die Jahreswende 1468/69 erkennbare Praxis, wonach einzelne Personen oder Personengruppen unabhängig vom Hof Friedrichs agierten und in dessen Namen Urkunden ausstellten, blieb unter der Regierung dieses Kaisers sicherlich ein Sonderfall. Ortsfeste Behörden, die regelmäßig Schriftstücke in Abwesenheit des Herrschers ausfertigten, wurden erst unter dessen Sohn und Nachfolger eingeführt. Auf die Besonderheiten dieser von den maximilianeischen Regimenten ausgestellten Urkunden hat bereits Christian Lackner hingewiesen: Neben einer bestimmten Form des Kanzleivermerks ist dies vor allem die häufig fehlende Angabe eines Ausstellungsortes57. Während es sich bei den bisher diskutierten Schriftstücken unzweifelhaft um Sonderformen kaiserlicher Urkunden und Briefe handelt, muss bei anderen Abweichungen von der Kanzleinorm sicherlich auch die Möglichkeit einer Fälschung in Betracht gezogen werden. Dass dieses klassische Thema der diplomatischen Forschung gerade auch bei der Arbeit mit Herrscherurkunden des Spätmittelalters nicht an Relevanz verliert, macht bereits eine Durchsicht der bisher erschienenen Bände der Regesten Kaiser Friedrichs III. deutlich58. An dieser Stelle soll jedoch der Fokus in einem ersten Schritt nicht auf dem Aufdecken von Urkundenfälschungen mithilfe der klassischen Instrumentarien der Diplomatik liegen, sondern zunächst auf den Personen und Motiven der Fälscher selbst sowie auf den konkreten Prozessen der Herstellung von Falsifikaten, wie sie uns auf Basis von Archivmaterial aus dem Umfeld der Kanzlei Friedrichs III. entgegentreten. Ein überaus detailreiches und lebensnahes Zeugnis, das sämtliche dieser Themenkomplexe beleuchtet, stellt ein bislang unbeachtet gebliebenes Schriftstück vom 25. August 1480 aus den Beständen des Tiroler Landesarchivs dar59. In dieser eigenhändig verfassten und besiegelten Urkunde gesteht ein gewisser Konrad Bichel von Schorndorf (bei Stuttgart), nachdem er zuvor aufgrund eines kaiserlichen Mandats von Vertretern der elsässischen Stadt Rosheim inhaftiert und einer peinlichen Befragung unterzogen worden war, zahlreiche valsch brieff gemacht zu haben. Es folgt ein detaillierter Bericht aus Bichels Fälscherwerkstatt, der – auch wenn 56  Siehe Regg.F.III. H. 7 Nr. 294 und 297. In beiden Fällen wird im Urkundentext kein Ausstellungsort genannt. 57  Lackner, Vielgestaltigkeit (wie Anm. 1) 105. 58   Zu gefälschten oder im Fälschungsverdacht stehenden Urkunden Friedrichs III. siehe etwa Regg.F.III. H. 1 Nr. 23; H. 3 Nr. 75; H. 15 Nr. 436; H. 24 Nr. 6; H. 26 Nr. 570; H. 31 Nr. 209. Auch Ivan Hlavàček betont die große Bedeutung der Frage nach Urkundenfälschungen im Spätmittelalter, auch wenn diese im Vergleich zur Erforschung der Kanzleigeschichte bis auf Ausnahmen „nicht mehr im Vordergrund stehen“, und vermutet, dass sich die Zahl der gefälschten Urkunden in diesem Zeitraum sogar vermehrt; siehe ders., Das Problem der Masse: das Spätmittelalter. AfD 52 (2006) 371–393, hier 377f. Zu diplomatischen Fälschungen vgl. allgemein die Beiträge der Bände 3 und 4 in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.–19. September 1986, 5 Bde. (MGH Schriften 33/1–5, Hannover 1988). 59  TLA, Sigmundiana 14.739.

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offenkundig der Not der Folter entsprungen – den Zeitgenossen doch wohl zumindest als glaubhaft gegolten haben muss und überdies in einigen wesentlichen Teilen auf Basis weiterer Quellen verifiziert werden kann. Bichels Karriere als Falsarius begann laut eigenen Angaben im Zuge eines Erbschaftsprozesses, den er in Straßburg in eigener Sache, aber auch als Vertreter seines in Metz lebenden Miterben Michael von Kienheim gegen den gemeinsamen Verwandten Ennel von Kienheim geführt habe. Vor Gericht sei nun die von Michael von Kienheim im Vorfeld ausgestellte urkundliche Vollmacht für Bichel aus formalen Gründen abgelehnt worden (es stend nit „zu gewin und verlust“ darinen60). Bichel habe sich daraufhin an einen örtlichen Goldschmied namens Gisbrecht gewandt und diesen gebeten, nach dem auf der Vollmacht angebrachten Siegel ein Typar aus Blei stechen zu lassen – in Begleitung eines gewissen Hans Hewen, der bereits zuvor die fehlerhafte Vollmacht von Michael von Kienheim aus Metz besorgt hatte und sich nun gegenüber dem Handwerker als Aussteller dieses Schriftstücks ausgab. So kamen die beiden unter Mithilfe eines Schreibers, der die neue Bevollmächtigung aufsetzte, zu einer sämtliche Formalien erfüllenden Urkunde. Als jedoch später der Verwandte Michael persönlich in Straßburg erschienen sei, habe Bichel ihn sogleich über diesen Schwindel informiert und das bleierne Siegeltypar zerprochen. Nach diesem eher harmlosen Beginn ging Bichel in einem darauffolgenden Prozess vor dem bischöflichen Gericht in Straßburg gegen einen Juden aus Wangen im Elsass einen Schritt weiter. Nachdem der Gerichtsnotar Jakob Widersdorf das entsprechende Ladungsschreiben an den jüdischen Kontrahenten ausgestellt und an Bichel zur Übermittlung an die Gegenpartei überreicht hatte, seien die beiden übereingekommen, dieser Ladung durch die Umformung in ein Mandat Friedrichs III. größeres Gewicht zu verleihen. Widersdorf habe daraufhin ein gutte geschrifft angefertigt, während Bichel ein anndern keyserlichen brieff genomen und das sigel ußgeschniden und mit wasser naß gemacht und das bappier mit ein schribmesserlin darab geschabt und das sigel warm gemacht und uff denselben brieff getruckt und darnach dem iuden ubergeben habe61. Offensichtlich erfüllte auch dieses Falsifikat seinen Zweck und dürfte Bichel ermutigt haben, seine Tätigkeit in einem nächsten Schritt direkt an den kaiserlichen Hof zu verlegen, wo er eigenen Angaben zufolge einige Zeit als knecht eines Magisters namens Hans von Horb verbrachte. Wie in den beiden vorangegangenen Fällen enthält auch das folgende Geständnis keine näheren zeitlichen Angaben, allerdings können Bichels Informationen zu den Ereignissen am Hof Friedrichs III. auf Basis des kaiserlichen Kanzleischriftgutes chronologisch eingeordnet und in Teilen verifiziert werden. So finden wir in zeitgenössischen Urkunden und Protokollbüchern ab den späten 1460er Jahren tatsächlich einen Rechtsgelehrten namens Hans von Horb als Diener Friedrichs III. und Beisitzer des kaiserlichen Kammergerichts62. Offenbar setzte Bichel nun am Höchstgericht des römisch-deutschen Reiches seine Karriere als Urkundenfälscher fort, nach eigenen Angaben im Zusammenhang 60  Zum zeitgenössischen Gebrauch dieser Urkundenformel siehe Otto Franklin, Das königliche Kammergericht vor dem Jahre MCDXV (Berlin 1871) 5. 61  Ladungsmandate des kaiserlichen Kammergerichts auf Papier tragen üblicherweise ein rückseitig aufgedrücktes Majestätssiegel. Zu Notaren als Urkundenfälschern siehe allgemein Tilmann Schmidt, Der ungetreue Notar, in: Fälschungen im Mittelalter (wie Anm. 58) 2 697–711. 62  Siehe Heinig, Friedrich III. (wie Anm. 16) 409 Anm. 1245; Protokoll- und Urteilsbücher 3 (wie Anm. 53) 938; Regesta chronologico-diplomatica Friderici IV. Romanorum Regis (Imperatoris III.), bearb. von Joseph Chmel (Wien 1838) Nr. 5375 und 5968.



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mit einem Prozess zwischen Hans Tuschgan und der Stadt Überlingen. Tatsächlich ist urkundlich ein Prozess zwischen den genannten Parteien vor dem Hofgericht zu Rottweil belegt, den Kaiser Friedrich III. am 8. Juli 1473 suspendierte und an das kaiserliche Kammergericht zog. Bei Hans Tuschgan handelte es sich vermutlich um einen ehemaligen Hintersassen des Benediktinerstifts Weingarten, der eine Hube in Langrain bei Ravensburg innehatte63. Laut der kaiserlichen Gerichtsurkunde warf der Kläger den Vertretern der Stadt Überlingen vor, ihn vollkommen grundlos inhaftiert, seiner gelider beraubt und seiner eren an menigen ennden … swerlich beschuldigt zu haben64. Auch im Taxregister der Reichskanzlei wird von diesem Prozess berichtet. Nach einem darin enthaltenen Eintrag sei ein in diesem Zusammenhang ausgestelltes kaiserliches Mandat für Hans Tuschgan, welchem die von Uberlingen … drij finger haben abegehaugen, auf Veranlassung des Kanzlers kostenlos ausgestellt worden65. Laut Bichel wurde dieser Prozess in weiterer Folge vom Kammergericht kommissarisch an den nicht namentlich genannten hern des Klägers delegiert, vor Abschluss dieses Verfahrens sei allerdings sowohl der kommissarische Richter als auch Hans Tuschgan selbst verstorben. Daraufhin sei der Sohn des Klägers, Lienhard Tuschgan, am kaiserlichen Hof erschienen und habe Bichel vor einem Straßburger Notar – Friedrich III. hielt sich tatsächlich einige Wochen nach Aufnahme dieses Verfahrens im Elsass auf66 – als seinen Bevollmächtigten eingesetzt. Bichel erhielt vom Sohn des Geschädigten den konkreten Auftrag, den Streit mit der Stadt Überlingen gerichtlich nicht weiter zu verfolgen, sondern einen gütlichen Vergleich anzustreben. Um dies zu erreichen und Druck auf die Vertreter der Stadt auszuüben, habe Bichel nun ein Konzept für ein kaiserliches mandat mit einer cittacio aufgesetzt und seinem alten Komplizen, dem Straßburger Gerichtsschreiber Jakob Widersdorf, überbracht. Von ihm habe er das Konzept loßen ußschriben, anschließend brachte er an diesem Schriftstück nach dem bereits oben geschilderten Verfahren ein aufgedrücktes kaiserliches Siegel an. Sein Falsifikat habe er nun dem Pfarrer von St. Martin zu Straßburg, Hans Seyfried, vorgelegt, der – möglicherweise von der Echtheit des Schreibens überzeugt – die Vertreter der Stadt Überlingen schriftlich über den vermeintlichen kaiserlichen Ladungsbrief informierte, woraufhin diese schließlich einem Vergleich mit dem Kläger zustimmten67. Die Stadt leistete in diesem Zusammenhang dem Sohn des Geschädigten eine Zahlung in der Höhe von 315 Gulden, wovon Bichel für seine Aufwendungen 75 Gulden erhalten habe. Diese Einnahmen veranlassten unseren Falsarius nun offenbar, seine widerrechtliche Tätigkeit zu intensivieren und auf andere Urkundentypen auszuweiten. So gestand Bichel in weiterer Folge die Anfertigung von Falsifikaten diverser kaiserlicher Urkunden, zunächst von Geleitbriefen für sich selbst, um gegen die Nachstellungen von Schuldeneintreibern gewappnet zu sein, später auch von anderen Urkunden zugunsten Dritter, ob   Siehe etwa Stuttgart, Hauptstaatsarchiv, B 515 U 678, U 679 bzw. U 686.   Chmel, Regesta (wie Anm. 62) Nr. 6754. Bereits am 13. März des Vorjahres war in dieser Angelegenheit eine kaiserliche Ladung an die Stadt Überlingen ergangen; siehe Regg.F.III. Sonderband 2: Das Taxregister der römischen Kanzlei 1471–1475 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Hss. „weiss 529“ und „weiss 920“), bearb. von Paul-Joachim Heinig–Ines Grund (Wien–Weimar–Köln 2001) Nr. 1609. 65   Ebd. Nr. 3207 (9. Juli 1473). 66   In Straßburg befand sich der Kaiser von 16. bis 27. August 1473; zum kaiserlichen Itinerar siehe Heinig, Friedrich III. (wie Anm. 16) 1377. 67  Die Verbindung zwischen diesem Pfarrer und der Stadt Überlingen bestand vermutlich darin, dass Seyfried neben seiner Straßburger Pfarre auch eine Pfründe in Überlingen besaß; siehe Taxregister (wie Anm. 64) Nr. 4100. 63 64

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ich sie von dem keyserlichen hoff pracht hett, stets in bewährter Zusammenarbeit mit dem Straßburger Notar Jakob Widersdorf. Schließlich krönte Bichel seine unrühmliche Karriere mit der Anfertigung zweier kaiserlicher Privilegien zu eigenen Gunsten. Er begann mit einem Lehenbrief über einen Zehent in dem nordwestlich von Straßburg gelegenen Ort Bossendorf, wobei erneut sein bekannter Komplize die Reinschrift nach einem Konzept Bichels übernahm. Möglicherweise sollte dieses Diplom in einem Streit mit Jakob Kämmerer von Wildenholz zum Einsatz kommen, dem Friedrich III. in einem Privileg vom 1. Juni 1472 diesen dem Kaiser heimgefallenen Zehent verlieh. Zuvor hatte diese Einkünfte die im Mannesstamme ausgestorbene elsässische Familie Kienheim inne, zu welcher Bichel – wie oben ausgeführt – verwandtschaftliche Beziehungen aufwies68. Für die Besiegelung dieses Diploms mit dem obligatorischen anhängenden Siegel Friedrichs III. musste Bichel nun jedoch ein anderes Verfahren wählen. Nicht im Haus des Notars, sondern in seiner eigenen Kammer, die er im oberen Stockwerk des Hauses von Ottmann Schellenberg, Schneider zu Straßburg, lehenswis innehatte, sei Bichel zur Tat geschritten. Dort habe er ein anhangent insigel von einem andern brieff genomen und dasselbig sigel voneinander geschnitten und darnach wider gewermt und an den brieff, so ich han loßen schriben, gehengt und wider zusamen getrugkt. Im Anschluss daran fabrizierte Bichel auch einen adäquaten Wappenbrief, wobei ihm als Vorbild eine urkundliche Wappenverleihung Friedrichs III. für einen gewissen Lienhard Kienffleib zur Verfügung gestanden sei. Das daran angebrachte Siegel hing an einer schnur, er habe es mitten von einander geschnitten und wider gewermdt und … an den nuwen wappentzbrieff gehengt wider an die schnur. Er habe denselben wappentzbrieff uff mynen vatter und sin erben gesetzt, des datum stet uff XX jar ongeverlich. Lehen- und Wappenbrief habe er schließlich bei Wolfgang Wechsel aus Straßburg hinterlegt, im cleinen stublin uff einn prett. Möglicherweise waren es die von diesen Fälschungen abgeleiteten Ansprüche Bichels, die schließlich zum kaiserlichen Haftbefehl und zu seiner Festnahme in der elsässischen Stadt Rosheim führten. Bichel legte sein schriftliches Geständnis am 25. August 1480 ab, über sein weiteres Schicksal liegen keine Informationen vor. Sein lebensnahes, detailreiches Selbstzeugnis dürfte wohl im Zuge eines Gerichtsprozesses an den habsburgischen Hof und somit in die Archivbestände der Reichskanzlei gelangt sein. Im Anschluss an dieses Geständnis wurden wohl sämtliche von Konrad Bichel und Jakob Widersdorf angefertigten Schriftstücke aus dem Verkehr gezogen, jedenfalls konnte bislang keines dieser Falsifikate im Rahmen der „Regesten Kaiser Friedrichs III.“ aufgefunden werden. Anders stellt sich die Quellensituation im Falle des Notars Johannes Truchsess von Beyerrod69 dar, dessen im Folgenden darzustellende urkundliche Aktivität 68   Bichels erste Fälschung stand im Zusammenhang mit einem Erbschaftsprozess in der Familie Kienheim, als deren Teilerbe er auftrat. An anderer Stelle in seinem Geständnis berichtet Bichel überdies, dass er nach abgang der von Kunheim mit Geldforderungen ihrer Gläubiger konfrontiert war. Zum Lehenbrief des Jahres 1472 siehe Chmel, Regesta (wie Anm. 62) Nr. 6564. 69  Die Auflösung der Herkunftsbezeichnung Beyerrod bleibt ungewiss. Nach Anton Blaschka sei damit die Stadt Bayreuth gemeint, ders., Imperialis civitas Hallensis – quasi aurora et novum sidus. Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 10 (1961) 881–892, hier 890; Robert Büchner vermutet hingegen das schwäbische Bayersried, ders., Vor 550 Jahren: 9. Oktober 1457 – Die Weihe des Neubaus von St. Andreas in Lienz und die Ablasspraxis im Mittelalter. Osttiroler Heimatblätter 75 (2007) 1–6, hier 2. Allerdings spricht das von Truchsess im Siegel geführte geteilte Wappen (oben geweckt, unten drei Reichsäpfel) nicht für eine Herkunft aus dem Herrschaftsbereich der Hohenzollern oder aus Schwaben, sondern für einen Geburtsort in Bayern. Bei der Inskription an der Universität Löwen gab Truchsess überdies an, aus der Diözese Passau zu stammen (siehe unten). Als Herkunftsort käme somit etwa der niederbayerische Ort Weiherreuth bei Hauzenberg in Frage (ich danke Christof Paulus herzlich für diesen Hinweis).



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zwar bereits mehrfach im Fokus der internationalen mediävistischen Forschung stand, ohne dass jedoch grundsätzliche Zweifel an deren Legitimität vorgebracht wurden70. Die Grundlage für Beyerrods Wirken stellte ein vermeintliches Palatinatsprivileg Friedrichs III. dar, welches am 26. März 1452 in Rom von dem wenige Tage zuvor vom Papst zum Kaiser gekrönten Habsburger ausgestellt worden sei. Überliefert ist dieses Schriftstück u. a. im Rahmen einer von Johannes Truchsess selbst am 19. September 1454 ausgestellten Urkunde zugunsten der Stadt Halle, welcher er als Hofpfalzgraf kraft einer ihm vom Kaiser verliehenen Vollmacht die Ernennung von 50 Notaren gewährt71. Auf Basis dieser kopialen Überlieferung wurde das vermeintliche Palatinatsprivileg in den 16. Band der Regesten Kaiser Friedrichs III. aufgenommen72. Allerdings liegen etwa im Diktat dieses Schriftstücks gravierende Abweichungen vom üblichen Kanzleigebrauch vor, wobei an dieser Stelle lediglich auf eine zwar gelehrt-humoristische, im gesamten kaiserlichen Urkundenwesen jedoch absolut singuläre Formulierung hingewiesen sei. Denn im Text der Urkunde wird deren Ausstellung nicht bloß mit den vergangenen oder zukünftig zu leistenden Diensten des Begünstigten begründet, wie dies – gegebenenfalls um die Nennung einiger konkreter, besonders verdienstvoller Taten ergänzt – in entsprechenden Diplomen Friedrichs III. vor Beginn des dispositiven Teils in der Regel angeführt wird. Im vorliegenden Falle jedoch habe der Kaiser durch die Ausstellung dieses Palatinatsprivilegs insbesondere die Tatsache gewürdigt, dass Beyerrod als treuer Diener Friedrichs III. die dem Sklaven Dromo – dem faulen Faktotum aus den Komödien des Terenz – eigene Trägheit zurückgestellt und es nicht gescheut habe, keuchend wie ein Atlas die Alpen zu überschreiten und in die heilige Stadt Rom zu eilen (ex quo Alpes transcendendo sacram urbem Dromonis postergata segnicie Atlantis anhelitu nostra cum maiestate sicut fidelis servus adiri non erubuisti). Da die Erwähnung von Gestalten der klassisch-antiken Literatur im Diktat dieses kaiserlichen Privilegs eventuell als singuläre Reaktion der Reichskanzlei auf die Einflüsse des italienischen Renaissance-Humanismus während des Romzuges Friedrichs III. interpretiert werden könnte73, müssen gegen die Echtheit dieses Stücks weitere, gewichtigere Argumente ins Treffen geführt werden. Am schwerwiegendsten ist sicherlich die der kopi70  Neben den in der vorangegangenen Anmerkung genannten Arbeiten siehe Édouard Poncelet, Les notaires publics et les comtes palatins. Enquête de l’an 1455. Bulletin de la Commission royale d’Histoire 105 (1940) 1–35; Jeroen F. Benders, Bestuursstructuur en schriftcultuur. Een analyse van de bestuurlijke verschriftelijking in Deventer tot het eind van de 15de eeuw (Zwolle 2004) 191f.; Alphonsus Henricus Petrus van den Bichelaer, Het notariaat in Stad en Meierij van ’s-Hertogenbosch tijdens de Late Middeleeuwen (1306–1531). Een prosopografisch, diplomatisch en rechtshistorisch onderzoek (Diss. Eindhoven 1998) 96f.; Jan Gualterius Christiaan Joosting, Bronnen voor de geschiedenis der kerkelijke rechtspraak in het bisdom Utrecht in de middeleuwen 6 (’s-Gravenhage 1919) 189–192; Anton Blaschka, Urkunde und Humanismus, in: Renaissance und Humanismus in Mittel- und Osteuropa. Eine Sammlung von Materialien I, hg. von Johannes Irmscher (Schriften der Sektion für Altertumswissenschaft 32, Berlin 1962) 44–56. – Einzig Paul-Joachim Heinig hat aufgrund des kanzleiunüblichen Stils einer angeblich von Truchsess am Kaiserhof erwirkten Urkunde Friedrichs III. berechtigten Verdacht geschöpft; siehe ders., Friedrich III. 1 (wie Anm. 16) 751f.; zum Regest der inkriminierten, an dieser Stelle jedoch für echt befundenen Urkunde: Regg.F.III. H. 16 Nr. 41. 71   Halle, Stadtarchiv, U 1 Nr. 277. 72  Regg.F.III. H. 16 Nr. 34, vgl. auch den Druck: Blaschka, Civitas (wie Anm. 69) 883–886, sowie Regg.F.III. H. 33 Nr. 91 mit ausführlichen Hinweisen zur umfangreichen, im Folgenden zu besprechenden niedersächsischen Urkundenüberlieferung. 73  Anton Blaschka, der an der Echtheit der Urkunde keinerlei Zweifel hegte, vermutete im Diktat dieses Schriftstücks einen engen Zusammenhang mit dem Wirken Enea Silvio Piccolominis am Hof Friedrichs III.; siehe ders., Civitas (wie Anm. 69) 890f.

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alen Überlieferung zu entnehmende Angabe, wonach das Original des Palatinatsprivilegs nicht nur mit dem kaiserlichen Goldsiegel beglaubigt, sondern überdies auch mit dem Monogramm Friedrichs III. versehen worden sei, welches im Zentrum des inserierten Urkundentextes wiedergegeben wird. Einige Fehler bei der kopialen Darstellung dieser Buchstabenverbindung – wie etwa der offensichtlich in seiner Zusammensetzung völlig missverstandene Mittelschaft – könnten mit einer verunglückten Ausführung des Kopisten begründet werden, keinesfalls kann dies jedoch für die vorgebliche, absolut ungebräuchliche Ergänzung dieses Monogrammes an der Unterseite mit der bekannten Vokalfolge AEIOU samt (unpunktierter!) Schlinge gelten74. Von den Siegelbildern Friedrichs III. abgesehen, findet diese Buchstabenreihe auf Urkunden des Habsburgers in dieser Form keine Verwendung, überdies entbehrt diese Angabe gerade in Kombination mit dem Herrschermonogramm jeglicher Logik, denn gerade das kaiserliche Monogramm in kanzleigemäßer Ausführung beinhaltet die Vokalfolge AEIOU als integralen Bestandteil um den Mittelschaft gruppiert. Vollkommene Unkenntnis des Kanzleigebrauchs offenbart überdies die Tatsache, dass im Text der vermeintlichen Kaiserurkunde das angebliche Herrschermonogramm keinerlei Erwähnung findet, wie dies bei derart ausgestatteten Urkunden Friedrichs III. stets am Beginn der Corroboratio der Fall ist75. Die Ergebnisse dieser auf den klassischen Instrumentarien der Diplomatik beruhenden Analyse können im vorliegenden Fall mithilfe einer zeitgenössischen Quelle verifiziert werden, die letzte Zweifel über dieses dubiose Schriftstück aus dem Weg räumt. Denn am 28. Mai 1462 berichtet Kaiser Friedrich III. in einer Supplik an Papst Pius II. über das Treiben des vermeintlichen Hofpfalzgrafen Johannes Truchsess76. Dieser pseudo-nuntius Friedrichs III. fälsche seit Jahren kaiserliche Siegel und Urkunden ­(sigillorum et ephigrammatum [!] imperialium formas adulterandas), bezeichne sich fälschlicherweise als Hofpfalzgraf und Kommissar Friedrichs III., ernenne auf dieser ­illegitimen Grundlage öffentliche Notare, legitimiere unehelich Geborene und begehe andere frevelhafte Taten zum Schaden Vieler im gesamten römischen Reich77. Um diesem Treiben Einhalt zu gebieten, möge der Papst diese Angelegenheit zur gerichtlichen Untersuchung an Antonius de Forlivio, den Generalauditor der Apostolischen Kammer, delegieren. Dieser solle daraufhin sämtliche von Truchsess ausgestellte Schriftstücke für ungültig erklären und den Fälscher gebührend bestrafen. Pius II. gewährte diese Bitte seines ehemaligen Dienstherrn und leitete ein entsprechendes Verfahren ein: fiat ut petitur de punitione falsarii. 74  Zu Vokalfolge und Monogramm Friedrichs III. siehe Luger, Humanismus (wie Anm. 19) 77f., mit umfassenden Literaturangaben. 75  Die entsprechende Ankündigung im Urkundentext lautet: Signum serenissimi principis et domini domini Friderici tercii Romanorum imperatoris … (etwa Prag, Národní archiv, Archiv České koruny Nr. 1634) oder Das zeichen des allerdurchleuchtigisten fürsten und herren herren Friderichs des dritten römischen keysers … (Wien, HHStA, AUR 1453 I 6 u. a.). 76   An dieser Stelle sei Rainer Murauer (Historisches Institut beim Österreichischen Kulturforum in Rom) für seine Hilfestellung vor Ort herzlich gedankt. Siehe Rom, AAV S 552 fol. 291; Kurzregest in Repertorium Germanicum VIII. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Pius’ II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien (1458–1464), bearb. von Dieter Brosius–Ulrich Scheschkewitz (Tübingen 1993) 185 Nr. 1259. 77  Zum Notarsernennungsrecht und dem Amt des kaiserlichen Hofpfalzgrafen siehe jüngst Magdalena Weileder, Spätmittelalterliche Notarsurkunden. Prokuratorien, beglaubigte Abschriften und Delegatenurkunden aus bayerischen und österreichischen Beständen (AfD Beih. 18, Wien–Köln–Weimar 2019) 46–51, mit weiterführenden Literaturangaben.



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Die in der Supplik Friedrichs III. angedeutete weitreichende Aktivität dieses kaiserlichen pseudo-nuntius kann auf Basis des überlieferten Urkundenmaterials durchaus bestätigt und präzisiert werden. Ohne einer umfassenden Erschließung und Analyse der auch in diplomatisch-paläographischer Hinsicht bemerkenswerten Schriftstücke Beyerrods vorgreifen zu wollen, soll an dieser Stelle das auch räumlich weit ausgreifende Wirken dieses Fälschers in groben Zügen dargelegt werden. Zunächst tritt Johannes Truchsess von Beyerrod als angeblicher Hofpfalzgraf im mittel- und norddeutschen Raum auf, wo er am 19. September 1454 – wie bereits oben erwähnt – der Stadt Halle an der Saale das Recht erteilt, 50 öffentliche Notare zu ernennen78. In der dabei ausgestellten Urkunde inseriert Beyerrod nicht nur das vorgebliche Palatinatsprivileg des Jahres 1452, sondern er verkündete überdies seinen angeblich vom Kaiser erhaltenen Auftrag, die in Halle tätigen Notare zu überprüfen und die Verfassung und Verwaltung der Stadt sowie die Pflege der öffentlichen Wohlfahrt zu besichtigen (politiam ac rei publice et communis boni directionem)79. In seinem diesbezüglichen Urteil über die Verhältnisse in der Stadt geizt der vermeintliche kaiserliche Kommissar nicht mit humanistisch inspiriertem Lob: denn bei seiner Überprüfung habe Beyerrod eine Stadt vorgefunden, die – bei den Göttern des Olymp! – den Gemeinwesen des Priamos, des Romulus und des Themistokles gleiche. Gar könnte man meinen, nicht in Sachsen, sondern im Karthago des hochberühmten Hannibal zu weilen! Dass Halle sämtliche dieser antiken Städte insbesondere bei der Ausstellung hervorragender Urkunden sogar übertreffe (de hac Hallensi urbe excellenciora cirographice exarentur), sei nach Beyerrod nicht weiter verwunderlich, denn diese Kommune stehe im Gegensatz zu den Städten der Antike nicht nur im Dienste der Juno und des Jupiter, sondern verehre überdies auch die Gottesmutter Maria, die Gebärerin des Wortes und der Weisheit. Die von Truchsess vorgebrachten vermeintlichen Vollmachten Friedrichs III. dürften bei den Vertretern der Stadt keine Zweifel hervorgerufen haben. Jedenfalls konnte der pseudo-nuntius seine sicherlich einträgliche Tätigkeit fortsetzen; bereits wenige Tage später findet man ihn in Hildesheim, wo er am 8. November 1454 den örtlichen Stadtvertretern die Ernennung von 25 Notaren gewährte80. In den darauffolgenden Wochen wurde von Beyerrod auch den nahen Städten Braunschweig und Helmstedt die Einsetzung einer doppelten Anzahl von Notaren zuerkannt, darüber hinaus ernannte er in weiterer Folge kraft seines angeblichen Rechtes, Vertreter bzw. Subdelegierte einzusetzen, einen gewissen Arnold von Immessen zum kaiserlichen vicecomes palatinus81. Nachdem er der Stadt Frankfurt an der Oder am 13. März des folgenden Jahres die Bestellung von 20 öffentlichen Notaren zugesprochen hatte82, verlegte Truchsess seine zweifelhaften Aktivitäten in den Westen. Im April stellte Beyerrod in der holländischen Hansestadt Deventer an der Ijssel ähnliche Bewilligungen für die Kommune und das örtliche Kollegiatstift aus,   Halle, Stadtarchiv, U 1 Nr. 277.   Auch darüber legte Beyerrod ein angeblich am 13. Juli 1454 in Wiener Neustadt ausgestelltes Mandat Friedrichs III. vor, wobei auch diese Fälschung ein völlig kanzleiunübliches Diktat aufweist; zu diesem kopial überlieferten Schriftstück siehe Joosting, Bronnen (wie Anm. 70) 189–192. 80   Hildesheim, Stadtarchiv, Urkundenreihe s. d. 81 Braunschweig, Stadtarchiv, Originalurkunde Nr. 790; Aschersleben, Stadtarchiv, Urkunde Nr. 182; Helmstedt, Stadtarchiv Urkunde Nr. 365. 82 Adolf Gurnik, Die Urkunden des Stadt-Archivs zu Frankfurt a. d. Oder 1377–1512 (Frankfurt 1896) Nr. 218. 78 79

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wobei der Stadtgemeinde nach Ausweis der örtlichen Kammeramtsrechnungen lediglich Kosten für den Urkundenschreiber in Höhe von 4 Gulden entstanden, da Truchsess diese Urkunde der Stadt geschenkt habe83. Das Itinerar des pseudo-nuntius führt über Utrecht (17. Juni 1455)84 nach Löwen (Leuven/Louvain), wo sich Johannes Trogsesse nobilis et reverendus am 1. Dezember 1455 als Magister in die Matrikel der örtlichen Universität eintragen ließ85. Über ein vorangegangenes Studium Beyerrods liegen bislang keinerlei Informationen vor, auch hatte dessen Inskription an der Universität Löwen offenkundig keinen Eintritt in die akademische Laufbahn zur Folge. Denn bereits wenig später setzte Johannes Truchsess seine Tätigkeit als vermeintlicher Hofpfalzgraf und Kommissar Friedrichs III. fort, ernannte u. a. in Löwen selbst sowie in der nahen Stadt Diest weitere Vizepfalzgrafen und führte eine Kontrolle der Amtsführung von vor Ort tätigen öffentlichen Notaren durch86. Möglicherweise tauchten im Zuge von Beyerrods Aufenthalt in Flandern doch Zweifel an der Legitimität seines Wirkens auf. Jedenfalls sind im Anschluss daran bislang keine weiteren Aktivitäten von Johannes Truchsess als pseudo-nuntius bekannt. Zwei Jahre später allerdings begegnet dessen Name in gänzlich anderem Wirkungskreis. So verwahrt das Archiv der Pfarre St. Andrä in Lienz (Osttirol) ein am 9. Oktober 1457 vor Ort ausgestelltes Vidimus, unterfertigt von dem öffentlichen Notar Johannes Trogsesse de Beyernryed, Kleriker der Diözese Regensburg (Abb. 5)87. In dem entsprechenden Notarssignet findet sich erneut das bereits aus den älteren Siegeln Beyerrods bekannte geteilte Wappen, sodass es sich dabei sicherlich um dieselbe Person handelt88. Truchsess scheint also bereits vor Einsetzung der gerichtlichen Untersuchung durch die Kurie seine Tätigkeit als pseudo-nuntius beendet und in der Folgezeit als einfacher Notar amtiert zu haben. Auf welchem Weg er schließlich nach Osttirol kam, wird in zwei weiteren Urkunden deutlich, die in diesen Tagen in Lienz ausgestellt wurden89. Dabei handelt es sich um Weihe- bzw. Ablassbriefe vom 8. und 9. Oktober 1457 für die örtlichen Kirchen St. Andrä bzw. St. Johannes, ausgestellt vom resignierten Abt des Stiftes Ossiach und TitularErzbischof von Tiberias, Benedikt Siebenhirter, im Auftrag des Salzburger Erzbischofs Sigismund von Volkersdorf90. Beide Diplome tragen rechts auf der Plica die Subskription 83  Item des legaets notarius des keisers van Romen, die dat instrument gescreven hadde, dair in gescreven stont, dat die stad macht hevet 15 notarios te maken, wellick privilegium die legaet der stadt schenckede, den notarius gegeven 4 postulaets gulden; siehe Deventer, Gemeentearchief, Cam. Inv. Nr. 22b (1455-II) fol. 4v; Zitat nach Benders, Bestuursstructuur (wie Anm. 70) 191f. Anm. 241. 84  Joosting, Bronnen (wie Anm. 79) 188–198. 85  Matricule de l’Université de Louvain II, ed. Arnold Schillings (Commission Royale d’Histoire 32, Bruxelles 1946) 26 Nr. 58f. 86  Im Staatsarchiv Lüttich (Liège) sind verschiedene Quellen zu Beyerrods „kommissarischer“ Tätigkeit überliefert, deren Rechtmäßigkeit von der belgischen und niederländischen Forschung bislang nicht in Zweifel gezogen wurde; siehe etwa Poncelet, Notaires (wie Anm. 70) 1–35, sowie van den Bichelaer, Notariaat (wie Anm. 70) 96f. 87   An dieser Stelle sei Meinrad Pizzinini herzlich für die bereitwillige Anfertigung und Übersendung von Abbildungen gedankt. Lienz, Pfarrarchiv St. Andrä, XX.35. Erwähnt in Richard Heuberger, Das deutschtiroler Notariat. Umrisse seiner mittelalterlichen Entwicklung. Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 6 (1927) 27–122, hier 113. 88  Siehe oben Anm. 69. 89  Lienz, Pfarrarchiv St. Andrä, XX. 33 und 34. 90  Zu beiden Urkunden siehe Meinrad Pizzinini, Die Kirche zu St. Johannes d. T. in Lienz und ihre Geschichte. Osttiroler Heimatblätter 75/3–4 (2007) 1–4; Robert Büchner, Vor 550 Jahren: 9. Oktober 1457. Die Weihe des Neubaus von St. Andreas in Lienz und die Ablasspraxis im Mittelalter. Osttiroler Heimatblätter



Über Sonderformen und Fälschungen von Urkunden Kaiser Friedrichs III. 147 Abb. 5: Lienz, Pfarrarchiv St. Andrä, XX.35.

des Johannes Truchsess von Beyerrod, woraus abgeleitet werden kann, dass dieser wohl als Sekretär im Gefolge Benedikt Siebenhirters ein neues Betätigungsfeld fand, wobei sein neuer Dienstherr bemerkenswerterweise auch als Hofbischof Kaiser Friedrichs III. amtierte und in diesem Zusammenhang die episkopale Gewalt über die Mitglieder der kaiserlichen Kanzlei ausübte91. Der weitere Werdegang Beyerrods im erzbischöflichen Dienst kann an dieser Stelle nicht näher verfolgt werden, stehen schließlich Fälschungen und Sonderformen von kaiserlichen Urkunden und Briefen im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Freilich konnten zu diesem weiten und vielschichtigen Bereich der Diplomatik lediglich einige Beobachtungen aus der Arbeit an und mit den Regesten Kaiser Friedrichs III. geboten werden, Beobachtungen jedoch, die – so hoffe ich – einmal mehr Christian Lackners eindrücklichen Appell unterstreichen können, wonach sich die Erforschung des spätmittelalterlichen Urkundenwesens nicht in kanzleigeschichtlich-prosopographischen Studien erschöpfen sollte, sondern dass darüber hinaus – selbstverständlich unter Beachtung der spezifisch spätmittelalterlichen Rahmenbedingungen – auch die klassischen Methoden der Diplomatik, wie etwa die Instrumentarien des Schrift- und Diktatvergleiches, weiterhin wertvolle Erkenntnisse bereithalten92.

75/9–10 (2007) 1–6. Zur Person Siebenhirters siehe Franz Stubenvoll, Benedikt Siebenhirter. Hofbischof, Abt von Ossiach * um 1415, † 1458. Carinthia I 177 (1987) 207–218. 91  Heinig, Friedrich III. (wie Anm. 16) 475f. 92  So etwa Lackner, Vielgestaltigkeit (wie Anm. 1) 107.

Rudolf IV. der Stifter und Bernabò Visconti Zwei – fast – unbekannte Briefe des Herzogs von Österreich von 1360 Werner Maleczek

Der umtriebigste und extravaganteste der österreichischen Herzoge des Mittelalters starb am 27. Juli 1365 in Mailand am Hof des mit ihm verschwägerten Bernabò Visconti. Im Sommer des Vorjahres hatte Rudolf mit dem Signore von Mailand Beziehungen angeknüpft, um für seine expansive Politik gegen den Patriarchen von Aquileia und dessen Bündnispartner Francesco Carrara, Signore von Padua, Unterstützung zu gewinnen1. Das Unterpfand dieser politischen Beziehung war die Ehe zwischen Bernabòs Tochter Viridis und dem jüngeren Bruder Rudolfs, Herzog Leopold III., der im Februar 1365 nach Mailand kam, um die Ehe feierlich zu schließen. Dieses habsburgisch-mailändische Bündnis kontrastierte in dieser Zeit der rasch wechselnden Allianzen mit einer ganz offiziellen Kriegserklärung in Form eines Absagebriefs, die Rudolf einige Jahre früher, im Sommer 1360, gegen Bernabò Visconti ausgesprochen hatte und die der Gegenstand dieses kleinen Beitrages zu Ehren des Freundes ist. Die beiden zugrunde liegenden Briefe blieben bisher weitgehend unbeachtet, was mit der bisher unvollständigen Erschließung der Kanzleiquellen Rudolfs zusammenhängt. Die Urkunden und Briefe des Herzogs sind nämlich bisher nicht vollständig gesammelt worden. Nach Vorarbeiten blieben die Regesta Habsburgica schon in der Zwischenkriegszeit stecken, die Wiederaufnahme des Projektes setzt erst mit den beiden Nachfolgern Rudolfs, den Brüdern Albrecht III. und Leopold III., 1365 ein2. Der erste seriöse Biograph Rudolfs, Alfons Huber, fügte seiner Darstellung ein Verzeichnis von dessen Urkunden an, das man als nicht mehr als eine Sammlung von knappen 618 Empfängernennungen und teilweise Kurzregesten bezeichnen kann, die hauptsächlich zur Bestimmung des Itinerars des Fürsten dienen sollte3. Bei bisher unbekannten oder wenig bekannten Stücken, zumeist aus österreichischen und deutschen Archiven bezogen, formulierte Hu1  Zur oberitalienischen Politik Rudolfs noch immer am ausführlichsten: Fabio Cusin, Il confine orientale d’Italia nella politica europea del XIV e XV secolo (Milano 1937, Nachdr. Trieste 1977) 49–63, und ders., Rodolfo IV d’Absburgo, la Curia avignonese e la politica italiana nel 1363–1365. Archivio storico italiano 98 (1940) 68–75, 107–136; danach Wilhelm Baum, Rudolf IV. der Stifter. Seine Welt und seine Zeit (Graz– Wien–Köln 1996) 277–316. 2  Regesta Habsburgica, 5. Abt.: Die Regesten der Herzoge von Österreich (1365–1395), bearb. von Christian Lackner–Claudia Feller(–Stefan Seitschek), bisher 3 Bde.: 1: 1365–1370; 2: 1371–1375; 3: 1376– 1380 (Publikationen des IÖG, Wien u. a. 2007, 2010, 2019). 3 Alfons Huber, Geschichte des Herzogs Rudolf IV. von Österreich (Innsbruck 1865) 176–215.

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ber etwas ausführlichere Regesten und edierte im Anhang acht unbekannte Texte. Schon ein Jahr zuvor hatte er in seinem Buch über die Vereinigung Tirols mit Österreich ein umfangreiches Verzeichnis von Regesten veröffentlicht, in welchem sich auch 83 von Rudolf ausgestellte Stücke befanden, und wichtige sechs Stücke hatte er auch ediert4. Franz Kürschner veröffentlichte einige Jahre später die bisher einzige diplomatische Untersuchung der Urkunden Rudolfs, stützte sich auf das von Huber bereitgestellte Material, sammelte aber auch bisher unbekannte und wenig bekannte Dokumente und fügte seiner Darstellung ein Verzeichnis von 50 Regesten hinzu5. Alfons Huber nahm in seiner Bearbeitung der Regesta Imperii Karls IV. auch einen Anhang „Reichssachen“ auf, in dem er insgesamt 22 Urkunden und Briefe Rudolfs verzeichnete, wovon alle schon in den bisher zitierten Studien aufschienen, mit Ausnahme der beiden hier zu besprechenden Texte6. Knapp vor der Jahrhundertwende fügte Rudolf Thommen in seine Sammlung von Urkunden zur Schweizer Geschichte aus österreichischen Archiven 23 Urkunden und Briefe Rudolfs IV. ein, fast nichts Unbekanntes7. Im 20. Jahrhundert kam kaum etwas dazu. Franz Huter edierte im Zusammenhang mit der Feier zum 600. Jahrestag des Übergangs von Tirol an Österreich 20 Urkunden aus Tiroler Stadtarchiven, ließ sie von Faksimiles begleiten und schrieb dazu eine diplomatische Untersuchung8. In den Monographien der letzten Jahrzehnte zu Rudolf IV. finden sich vereinzelt auch bisher unbekannte oder wenig bekannte Stücke ediert oder zu Regesten verarbeitet9. Leicht greifbar sind zahlreiche Urkunden Rudolfs IV. im Internet-Portal „monasterium“, das die meisten der österreichischen und nicht wenige von den außerösterreichischen Klosterarchiven erfasst. In den Jahren 2005 bis 2008 betrieben Karin Sperl und Patrick Fiska das Projekt „Die Bühne der Fürsten“ und stellten eine Datenbank mit Urkunden und Briefen Rudolfs IV. zusammen. Sie speist sich aus einer breiten Durchsicht von Editionen und Literatur und dem Besuch einer gewissen Zahl von Archiven Österreichs, Böhmens, Südtirols und Bayerns. Das Ergebnis war eindrucksvoll: Über 1000 Originale und Texte konnten in knappen Hinweisen 4 Alfons Huber, Geschichte der Vereinigung Tirols mit Oesterreich und der vorbereitenden Ereignisse (Innsbruck 1864), hier die Editionen: Nr. 244, 317, 369, 389, 407, 408. 5 Franz Kürschner, Die Urkunden Herzog Rudolfs IV. von Österreich (1358–1365). Ein Beitrag zur speciellen Diplomatik. AÖG 49 (1872) 1–88. 6  Regesta Imperii VIII . Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. 1346–1378, bearb. von Alfons Huber (Innsbruck 1877) Nr. 339, 340. 7  Urkunden zur Schweizer Geschichte aus österreichischen Archiven, bearb. von Rudolf Thommen, Bd. 1: 765–1370 (Basel 1899) Nr. 616, 618, 619, 621, 623, 627, 628, 630–634, 636, 638, 640, 651, 652, 662, 664, 665, 691, 700, 701. 8  Franz Huter, Herzog Rudolf der Stifter und die Tiroler Städte. Festgabe der gewerblichen Wirtschaft Tirols zum 600-Jahr-Jubiläum der Vereinigung Tirols mit Österreich. Facsimiletafeln und Transkriptionen (Tiroler Wirtschaftsstudien 25, Innsbruck–München 1971). In seiner Rezension äußerte Heinrich Fichtenau schon vor fast 50 Jahren „nun, hundert Jahre nach Kürschners Untersuchung“ sollte eine Diplomatik Rudolfs IV. „wohl neuerlich versucht werden“; siehe MIÖG 80 (1972) 240. 9 Lukas Wolfinger, Die Herrschaftsinszenierung Rudolfs IV. von Österreich. Strategien – Publikum – Rezeption (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, Wien–Köln–Weimar 2018) 770–813. Nichts jedoch bei Ernst Karl Winter, Rudolph IV. von Österreich, 2 Bde. (Wiener soziologische Studien 2, 3, Wien 1934–1936); Ursula Begrich, Die fürstliche „Majestät“ Herzog Rudolfs IV. von Österreich. Ein Beitrag zur Geschichte der fürstlichen Herrschaftszeichen im späten Mittelalter (Wiener Dissertationen aus dem Gebiet der Geschichte, Wien 1965); Baum, Rudolf (wie Anm. 1); Alexander Sauter, Fürstliche Herrschaftsrepräsentation. Die Habsburger im 14. Jahrhundert (Mittelalter-Forschungen 12, Ostfildern 2003); Patrick Fiska, Zum Verhältnis Landesfürst – Klöster – Adel unter Herzog Rudolf IV. von Österreich (1358–1365), in: Soziale Bindungen und gesellschaftliche Strukturen im späten Mittelalter (14.–16. Jahrhundert), hg. von Eva Schlot­ heuber–Hubertus Seibert (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 132, München 2013) 125–163.



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auf Empfänger, Materie, Überlieferung und Drucke verzeichnet werden. Aber selbst dieses Verzeichnis ist weit von der Vollständigkeit entfernt10. Die beiden Texte, die im Folgenden besprochen und im Anhang ediert werden, sind bisher nur durch karge Hinweise bekannt. Sie finden sich, wie schon erwähnt, in der Abteilung „Reichssachen“ der Regesten Karls IV., und Alfons Huber gab auch schon den noch heute gültigen Herkunftsort der beiden Briefe an, das Collegio Ispanico in Bologna. Julius von Ficker hatte ihm den Hinweis geliefert11. Wie kommt es zu diesem unerwarteten Lagerort eines Schreibens Rudolfs IV. an Bernabò Visconti, mit dem er ihm den Krieg erklärt, und eines zweiten Schreibens an seine Leute, mit dem er ihnen unter Strafandrohung befiehlt, jegliche Unterstützung für diesen iniuriator und seine Komplizen zu beenden? Er hängt mit dem Kardinal Aegidius (Egidio, Gil) Albornoz, einer Zentralfigur des Kardinalskollegiums während des avignonesischen Papsttums, zusammen. Als ihn Clemens VI. im Dezember 1350 zum Kardinalpriester von S. Clemente ernannte, hatte er schon eine lange kirchliche Karriere hinter sich. Er gehörte zum kastilischen Hochadel und erwarb sich das Vertrauen König Alfons’ XI., der maßgeblich an seiner Ernennung zum Erzbischof von Toledo 1338 beteiligt war und der ihn zu seinem Kanzler machte. Nach des Königs Tod (26. März 1350) fiel er unter dessen Nachfolger Peter „dem Grausamen“ in Ungnade, weswegen er sich zu seiner Sicherheit an die Kurie nach Avignon begab und dort, als etwa Fünfzigjähriger, bald seine Rangerhöhung erlebte und als einziger Spanier im Kardinalskollegium rasch eine dominierende Position einnahm. Aber die Aufgabe seines Lebens erhielt er unter Innocenz VI., der ihn Ende Juni 1353 zum Legaten und Generalvikar in Italien ernannte, um die dem Papsttum entfremdeten Gebiete wieder fest unter dessen Herrschaft zu bringen. Der im Dezember 1353 zum Kardinalbischof von Sabina promovierte Albornoz wirkte bis zu seinem Tod im August 1367 in Italien, unterbrochen nur von einem einjährigen Aufenthalt in Avignon vom Oktober 1357 bis zum September 135812. Während dieser beiden Legationen, die von langen Phasen mi10   Leider kam es nicht zur Veröffentlichung, sondern nur zu zwei kurzen Aufsätzen, die auf dem Material beruhten: Patrick Fiska, Porträt und Öffentlichkeit. Wirkung und Wahrnehmung künstlerischer Inszenierung Herzog Rudolfs IV., in: Von Stadtstaaten und Imperien. Kleinterritorien und Großreiche im historischen Vergleich. Tagungsbericht des 24. Österreichischen Historikertages, Innsbruck, 20.–23. September 2005, hg. von Christoph Haidacher–Richard Schober (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 13, Innsbruck 2006) 81–88, und Karin Sperl, Die Tiroler Städte und die Herrschaftseinsetzung Herzog Rudolfs IV. 1363, in: ebd. 73–80. – Ich danke den beiden Bearbeitern herzlich, dass sie mir das Ergebnis ihrer Arbeit in Form einer pdfDatei zur Verfügung stellten. 11  Huber, Regesten (wie Anm. 6) 565 Nr. 339, 340: „Aus dem Collegio Ispanico (Bibliotheca Albornoz. 6, nr. 24 nach dem elenchus des Petrus de Lafiguera) in Bologna“. – Fickers Unterstützung: Vorwort, S. X. – Ficker war Anfang September 1875 in Bologna und schrieb von Rimini aus am 16. September an Huber: „Einleitend die ganze Ausbeute aus dem Archive Albornoz, die doch viel dürftiger ist, als die Bemerkung von Bethmann erwarten ließ. Die Auszüge sind nach dem Elenchus gemacht, der mir sogleich zur Verfügung gestellt wurde, am folgenden Tage kam der Rector eigens meinetwegen von der Campagna in die Stadt. Ich hoffte, es seien noch unverzeichnete Sachen da; aber es war nicht mehr aufzutreiben, obwohl in der Vorrede des Elenchus noch von Briefen des Albornoz an Carl die Rede ist. Die Abschriften stehen Ihnen nach meiner Rückkehr zur Verfügung; die Auszüge schicke ich schon jetzt, da vielleicht der Papstbrief bald einzureihen ist.“ Alfons Huber, Briefe (1859–1898). Ein Beitrag zur Geschichte der Innsbrucker Historischen Schule um Julius Ficker und Alfons Huber, hg. von Gerhard Oberkofler–Peter Goller (Innsbruck–Wien 1995) 123 Nr. 17. Zu den Italienreisen Fickers in den Siebzigerjahren vgl. Julius Jung, Julius Ficker (1826–1902). Ein Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte (Innsbruck 1907) 422–425. 12   Vgl. neben der soliden, älteren Monographie von Francesco Filippini, Il cardinale Egidio Albornoz (Bologna 1933), auch Juan Beneyto, El cardenal Albornoz. Hombre de Iglesia y de Estado en Castilla y en Italia (Madrid 1986), und die Zusammenfassungen bei Adalbert Erler, Aegidius Albornoz als Gesetzgeber des

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litärischer Auseinandersetzung, aber auch von erfolgreicher Diplomatie geprägt waren, gelang es Albornoz tatsächlich, alle zum Kirchenstaat gehörenden Territorien nicht nur nominell, sondern auch faktisch wieder der päpstlichen Herrschaft zu unterwerfen und damit eine der Voraussetzungen für die Rückkehr Urbans V. nach Rom im Jahre 1367 zu schaffen13. Die Erfolge des Albornoz beruhten nicht nur auf Söldnertruppen, die mit massivem Einsatz von Geld angeworben und gehalten wurden14, sondern auch auf einem gut funktionierenden bürokratischen Apparat, dessen Wichtigkeit der ehemalige kastilische Kanzler richtig erkannte und dessen Muster ihm die seit Jahrzehnten in Avignon aufblühende kuriale Zentralverwaltung mit ihren immer stärker ausdifferenzierten Unterabteilungen lieferte. Das Personal brachte er zum Teil von dort mit, zum Teil rekrutierte er es in Italien, und schnell funktionierten eine Finanzkammer, eine Pönitentiarie, vor allem aber eine Kanzlei, die einen umfangreichen Urkundenausstoß und den intensiven Schriftverkehr mit der Zentrale in Avignon bewältigte. Während Archive der Legaten im 14. Jahrhundert sonst nur sehr fragmentarisch überliefert sind, stellt jenes des Albornoz die glückliche Ausnahme dar15. Die vom Legaten nach Avignon gesandten Briefe sind wohl verloren, aber jene Innocenz’ VI. an Albornoz haben sich erwartungsgemäß in den päpstlichen Registern erhalten, wobei der Papst von allen wichtigen Schreiben, die er erhielt oder an andere Adressaten sandte, Abschriften übermittelte16. Es erfolgte eine enge Abstimmung, und häufig bestellte der Kardinal auch päpstliche Schreiben an italienische Empfänger. Auch die schriftliche Hinterlassenschaft des mehr als dreizehnjährigen Wirkens des Legaten selbst ist in hohem Maße erhalten: Die Kurie ließ sich nach seinem Tod die sorgfältig geführten Registerbücher ausfolgen17, das administrative Schriftgut verKirchenstaates (Berlin 1970) 1–27, bzw. Ralf Lützelschwab, Flectat cardinales ad velle suum? Clemens VI. und sein Kardinalskolleg. Ein Beitrag zur kurialen Politik des 14. Jahrhunderts (Pariser Historische Studien 80, München 2007) 425–427, vor allem aber die einschlägigen Bände der vom Real Colegio de España in Bologna herausgegebenen Studia Albornotiana, darunter für die Biographie und das Wirken des Kardinals am wichtigsten: El cardenal Albornoz y el Colegio de España, 6 Bde., hg. von Evelio Vendera y Tuells (Studia Albornotiana 11, 12, 13, 35, 36, 37, Bologna 1972–1979). Aber auch die alte Monographie von Hermann Joseph Wurm, Cardinal Albornoz, der zweite Begründer des Kirchenstaates. Ein Lebensbild (Paderborn 1892), leistet für die Ereignisgeschichte noch gute Dienste. 13  Vgl. Peter Partner, The Lands of St Peter. The Papal State in the Middle Ages and in the Early Renaissance (London 1972) 339–355; Roland Pauler, Die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser Karl IV. und den Päpsten. Italien als Schachbrett der Diplomatie (Politik im Mittelalter 1, Neuried 1995) 164–176; Armand Jamme, Forteresses, centres urbains et territoire dans l’État pontifical. Logiques et méthodes de la domination à l’âge albornozien, in: Pouvoir et édilité. Les grands chantiers dans l’Italie communale et seigneuriale, hg. von Élisabeth Crouzet-Pavan (Collection de l’École française de Rome 302, Roma 2003) 375–417; Stefan Weiss, Delegierte Herrschaft. Innozenz VI., Kardinal Albornoz und die Eroberung des Kirchenstaates, in: Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie. Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, hg. von Claudia Zey–Claudia Märtl (Zürich 2008) 67–84; Enzo Petrucci, La chiesa nell’azione del cardinale Egidio de Albornoz. RSCI 65 (2011) 57–100; Eva Schlotheuber–Andreas Kistner, Kaiser Karl IV. und der päpstliche Legat Aegidius Albornoz. DA 69 (2013) 531–614. 14  Vgl. Stefan Selzer, Deutsche Söldner im Italien des Trecento (BDHIR 98, Tübingen 2001) 32, 44, 57, u. ö. 15 Vgl. Pierre Jugie, Les cardinaux légats et leurs archives au XIVe siècle, in: Offices, écrit et papauté (XIIIe–XVIIe siècle), hg. von Armand Jamme–Olivier Poncet (Collection de l’École française de Rome 386, Rome 2007) 73–96. 16   Ediert in: Diplomatario del Cardenal Gil de Albornoz. Cancillería Pontificia. 1: 1351–1353; 2: 1354– 1356; 3: 1357–1359, ed. Emilio Sáez–Regina Sainz de la Meza Lasoli et al. (Barcelona 1976–1995). 17  Daraus z. B. Giulio Battelli, Le raccolte documentarie del Card. Albornoz sulla pacificazione delle terre della Chiesa, in: El Cardenal Albornoz (wie Anm. 12) 1 521–567, wiederabgedr. in: ders., Scritti scelti. Codici – Documenti – Archivi (Roma 1975) 461–507.



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machte Albornoz knapp vor seinem Tod testamentarisch seiner in Bologna 1364 errichteten Stiftung zum Unterhalt spanischer Studenten an der Universität, wo es auch heute noch aufbewahrt wird18. Der von Huber genannte Petrus de Lafiguera war der Verfasser eines zehnbändigen Inventars des Schriftgutes, das er 1752 als Rektor des spanischen Kollegs zusammenstellte. Bis in die späten Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts war dies der einzige Katalog, der auch dementsprechend benutzt wurde. In dem Archivverzeichnis, das in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erstellt wurde, finden sich die beiden Briefe Rudolfs IV., die Absage und das Mandat, vermerkt19. Diese liegen dort als zeitnahe Kopien auf zusammengehefteten Blättern in einem kleinen Libell vor. Jedem ist eine Recto-Seite vorbehalten. Beim ersten setzte der Kopist den Namen des Empfängers der Absage nach Rudolfs Intitulatio irrig im Nominativ statt im Dativ in den Text. Dem zweiten, dem Mandat, gab er die Überschrift: Copia litterarum domini ducis Austrie. Neuzeitliche archivische Vermerke geben Signatur und Inhalt an. Beide Briefe sind in Wien, 18. Juli 1360, ausgestellt. Rudolf hielt sich in der Hauptstadt von Mitte April bis in die erste Augustwoche dieses Jahres auf. Der eine Brief ist an Bernabò Visconti, miles Mediolanensis, gerichtet. Rudolf habe durch einen Brief Papst Innocenz’ VI. und auch durch dessen Gesandte erfahren, dass Bernabò mit Waffengewalt die Stadt Bologna, die der päpstlichen Herrschaft zu Recht unterworfen worden war, bedränge und bekriege und auch päpstliche Gebiete und Orte in der Romagna heimsuche, beraube und verwüste. Als ein vornehmes Glied der Kirche sei auch er, Rudolf, verletzt und wolle deshalb Bernabò, hostem publicum sancte matris Ecclesie, auch als seinen Feind betrachten. Deshalb sage er ihm, seinen Helfern und Komplizen den Krieg an, um mit Gottes Hilfe und der Unterstützung seiner Getreuen dieses Unrecht zu rächen. – Der andere Brief, an die dem Herzog unterstehenden Adeligen und und sonstigen Untertanen seiner Länder, die den Mailänder unterstützen, gerichtet, wiederholt die Begründung des Absagebriefes und bekräftigt seine, Rudolfs, Absicht, dem apostolischen Stuhl gegen den iniuriator und seine Komplizen zu Hilfe zu kommen. Er befiehlt den Adressaten unter Androhung schwerer Strafen, Bernabò zu verlassen und keine wie immer geartete Unterstützung zu gewähren. Der politische Hintergrund dieser Briefe ist die Auseinandersetzung um die Stadt Bologna in den Fünfzigerjahren des 14. Jahrhunderts, in die neben dem jeweiligen lokalen Signore und dem Kardinal Albornoz als Vertreter des päpstlichen Anspruchs auch der aus der Mailänder Signorendynastie der Visconti stammende Bernabò verwickelt waren. Nach dem Tod des allseits akzeptierten Signore von Bologna, Taddeo Pepoli († 1347), erwiesen sich seine Söhne Giacomo und Giovanni unfähig, die vom Vater errungene Position 18  José Trenchs-Odena–Carlos Sáez, Catálogo de los fondos del Archivo albornociano (Bolonia), in: El Cardenal Albornoz (wie Anm. 12) 4 217–340. Dort sind auch die beiden Briefe Rudolfs mit kurzen Regesten verzeichnet: 300 Nr. 337f. – Zum Testament vgl. Berthe M. Marti, 1372: The Spanish College versus the Executors of Cardinal Albornoz Testament, in: El Cardenal Albornoz 2 93–130. – Daneben existieren in zahlreichen Archiven Mittelitaliens viele Urkunden und andere Schriftstücke des Legaten, sodass das 1964 erschienene Verzeichnis über 1.200 Nummern auflisten konnte. Vgl. Jean Glénisson–Guillaume Mollat, L’administration des États de l’Église au XIVe siècle. Correspondance des légats et vicaires-généraux. Gil Albornoz et Androin de la Roche (1353–1367) (BEFAR 203, Paris 1964). – Die Kanzlei des Kardinals folgte dem avignonesischen Vorbild hinsichtlich des Personals und der Typen der Schriftstücke, wobei die Konzepte meist durch Sekretäre oder Abbreviatoren formuliert wurden. Vgl. José Trenchs-Odena, La cancillería de Albornoz, como legado pontificio. Annuario de estudios medievales 9 (1974/79) 469–487, hier 476. 19  Trenchs-Odena–Sáez, Catálogo (wie Anm. 18) 300.

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zu bewahren. Mit Zustimmung des Consiglio dei quattrocento verkauften sie 1351 die Signorie um 200.000 Florenen an den Erzbischof von Mailand, Giovanni Visconti, der neben seinen geistlichen Aufgaben auch die weltliche Herrschaft über Mailand – seit 1339 zusammen mit seinem Bruder Lucchino, von 1349 an aber alleine – wahrnahm und seine Familie zur mächtigsten Herrscherdynastie in Oberitalien ausbaute20. Damit war weiteren Ansprüchen der Visconti auf Bologna Tür und Tor geöffnet. Tatsächlich verlangten nach dem Tod des Erzbischofs im Herbst 1354 die Bolognesen den Neffen des Verstorbenen, Matteo, zu ihrem Signore. Dieser überließ das Regieren aber bald dem luogotenente Giovanni da Oleggio, der Matteo rasch verdrängen und nach dessen Tod 1355 selbst in die Position eines Signore einrücken konnte. Seine anstrengendsten und eine Zeit lang erfolgreichen Bemühungen galten der Abwehr der militärischen Aktionen des Bernabò Visconti, der als präsumptiver Erbe Matteos die Bologneser Signorie mit Waffengewalt anstrebte. Die Auseinandersetzung wurde auch durch einen Waffenstillstand gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe Geldes unterbrochen21. Im Herbst des Jahres 1358 wurde der aus Avignon nach Italien zurückbeorderte Albornoz im Streit um Bologna aktiv und beanspruchte die alte päpstliche Herrschaft über die Stadt und den Contado. Zunächst aber verbündete sich der Kardinal mit Giovanni da Oleggio gegen den aggressiven Bernabò Visconti, indem er ihm das Vikariat über Bologna zuerkannte. Dies war aber nur eine Etappe auf dem Weg zur formellen Abtretung der Herrschaft über Bologna an die römische Kirche, die mit dem Einverständnis Innocenz’ VI. vertraglich am 1. März 1360 abgeschlossen wurde. Oleggio wurde mit dem Vikariat über Fermo, dem Rektorat über die Mark Ancona und einer jährlichen Pension von 12.000 Goldflorenen abgegolten. Die Truppen des Kardinals rückten am 15. März 1360 kampflos in Bologna ein. Die Verwaltung der Stadt wurde unverzüglich reorganisiert. Es begann eine Zeit der päpstlichen Herrschaft, von der Bevölkerung und den städtischen Eliten bereitwillig akzeptiert, die bis 1376 währen sollte22. Aber zunächst intensivierte Bernabò Visconti seine Angriffe gegen Bologna und die umliegenden Gebiete, ja gegen die ganze Romagna, zumal seine Bemühungen, in Avignon von Innocenz VI. Zustimmung zu seinen Forderungen zu erhalten, gescheitert waren. Die nächsten Monate waren von Kriegslärm und dem Wüten der Soldateska erfüllt23. In diese Zeit der Absicherung der päpstlichen Herrschaft über Bologna und der Abwehr der militärischen Angriffe des Bernabò, die die Kassen des Kardinals extrem belasteten, fügen sich die beiden Briefe Rudolfs des Stifters. Sie sind das Ergebnis einer von Innocenz VI. ins Werk gesetzten Kampagne zur Unterstützung des in Bologna in Bedrängnis geratenen Kardinals. Dieser schickte seinen Vertrauten, Bischof Bongiovanni 20  Vgl. Anna Laura Trombetti Budriesi, Bologna 1334–1376, in: Bologna nel Medioevo, hg. von Ovidio Capitani (Storia di Bologna 2, Bologna 2007) 824–828; Guido Antonioli, Conservator pacis et iustitie. La signoria di Taddeo Pepoli a Bologna (1337–1347) (Bologna 2004); Alberto Cadili, Giovanni Visconti, arcivescovo di Milano (1342–1354) (Studi di storia del cristianesimo e delle chiese cristiane 10, Milano 2007), und Massimo Giansante, Art.Visconti, Giovanni. DBI 82 (2015) 272–274. 21   Vgl. Lino Sighinolfi, La Signoria di Giovanni d’Oleggio in Bologna (1355–1360) (Bologna 1906). 22   Vgl. Oreste Vancini, Bologna della Chiesa (1360–1376). Atti e memorie della R. deputazione per la provincia di Romagna III/24 (1905–06) 16–108, 239–320, 508–532; III/25 (1906–07) 16–108; Gerolamo Biscaro, Le relazioni dei Visconti con la Chiesa. Bernabò e il vicariato di Bologna. Innocenzo VI e i primi processi, 1355–1362. Archivio storico lombardo 64 (n. s. 1) (1937) 119–193; Filippini, Egidio Albornoz (wie Anm. 12) 204–233; Guillaume Mollat, Pourparlers de paix entre le cardinal Albornoz et Bernabò Visconti en 1361. Mélanges d’Archéologie et d’Histoire de l’École française de Rome 78 (1966) 191–206. 23  Vgl. auch Giacinto Romano, La guerra tra i Visconti e la Chiesa (1360–1376). Osservazioni e ricerche. Bollettino della Società pavese di storia patria 3 (1903) 412–437.



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von Fermo (1349–1363), Rektor der Campagna und Marittima24, nach Avignon, um den Papst zu Hilfsmaßnahmen zu veranlassen. Tatsächlich schrieb Innocenz VI. am 26. April 1360 und an den folgenden Tagen und Wochen eine Reihe von Briefen an Fürsten, von denen militärische oder finanzielle Hilfe erhofft wurde25. Karl IV. erhielt die Aufforderung, Bernabò Visconti, der in einigen Gebieten der Lombardei als königlicher Vikar fungierte, die Feindseligkeiten einstellen zu lassen und dem Legaten Albornoz Hilfe zu schicken. Als seinen besonderen Gesandten kündigte er Bischof Egidio von Vicenza an26. Der Erzbischof von Mainz, Gerlach von Nassau, der ein deklarierter Parteigänger des Kaisers war, erhielt vom Papst die Aufforderung, dessen Gesandten Egidio bei seinem Vorhaben zu unterstützen, der Bischof von Minden in gleicher Weise27. Auch an Herzog Rudolf von Sachsen-Wittenberg, ebenfalls ein Günstling Karls IV., erging ein analoges Schreiben28. Das Hilfeansuchen an den österreichischen Herzog, datiert am 26. April 1360, hat sich ebenfalls erhalten29. Auch in diesem Fall war der Vicentiner Bischof Egidio als Überbringer vorgesehen. Mitte Juli ist dieser in Wien bei Rudolf IV. bezeugt30. Dann reiste er weiter zum Kaiser und hielt sich bei Karl IV. am Reichstag in Nürnberg auf31. Rudolf wurde darüber hinaus ermahnt, den Brandenburger Markgrafen Ludwig „den Römer“ zur Absendung von 100 Bewaffneten zu veranlassen. Auch dafür gab es einen eigenen Brief an diesen32. Kein Wunder, dass die päpstliche Kanzlei in Avignon 24   Vgl. Alberto Pironti, Art. Bongiovanni. DBI 12 (1971), http://www.treccani.it/enciclopedia/bongiovanni_(Dizionario-Biografico) [14. 1. 2020]. 25  Vgl. Vancini, Bologna della Chiesa (wie Anm. 22) 263–265. 26   Codex diplomaticus dominii temporalis S. Sedis, extraits des Archives du Vatican 2: 1335–1389, ed. Augustin Theiner (Roma 1862) 384 Nr. 343. – Bei Karl IV. ging dieses Hilfsansuchen ins Leere, denn am Reichstag zu Nürnberg ernannte er am 26. Juni 1360 Bernabò Visconti zum Generalvikar des Reiches in Brescia, Bergamo, Cremona, Parma, Lodi, Borgo San Donnino und anderen Gebieten; siehe Huber, Regesten (wie Anm. 6) Nr. 3190; Dokumente zur Geschichte des deutschen Reiches und seiner Verfassung 1360, bearb. von Ulrike Hohensee et al. (MGH Const. 13/1, Wiesbaden 2016) 121–124 Nr. 136. Vgl. Pauler, Auseinandersetzungen (wie Anm. 13) 173. 27 Emil Werunsky, Excerpta ex registris Clementis VI. et Innocenti VI. summorum pontificum historiam S. R. imperii sub regimine Karoli IV illustrantia. Auszüge aus den Registern der Päpste Clemens VI. und Innocenz VI. zur Geschichte des Kaiserreichs unter Karl IV. (Innsbruck 1885) 152 Nr. 524. – Der Volltext ist noch nicht greifbar, da die französische Edition der Sekretregister Innocenz’ VI. noch nicht erschienen ist. Der letzterschienene Band, der bis Ende 1357 reicht: Innocent VI (1352–1362), Lettres secrètes et curiales 5, ed. Pierre Gasnault–Nicole Gotteri (Rome 2006). 28   Päpstliche Urkunden und Regesten aus den Jahren 1353–1378, die Gebiete der heutigen Provinz Sachsen und deren Umlande betreffend, ed. Paul Kehr–Gustav Schmidt (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 22, Halle 1889) 95 Nr. 334. 29   Acta Pataviensia Austriaca. Vatikanische Akten zur Geschichte des Bistums Passau und der Herzöge von Österreich (1342–1378) 2: Innocenz VI. (1352–1362), hg. von Josef Lenzenweger et al. (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom II/4/2, Wien 1992) 440f. Nr. 361. 30   Am 11. Juli vidimiert er zusammen mit Bischof Gottfried von Passau und den Äbten von Reichenau und Gengenbach Urkunden; siehe Vreni Dangl, Der Erzherzog und sein Bischof. Bischof Gottfried von Passau und Herzog Rudolf IV. von Österreich im Kontext der österreichischen Freiheitsbriefe, in: Privilegium maius. Autopsie, Kontext und Karriere der Fälschungen Rudolfs IV. von Österreich, hg. von Thomas Just et al. (VIÖG 69, Wien 2018) 105–144, hier 134 Nr. 71, 73. 31  Siehe Reg. Imp. VIII (wie Anm. 6) 3188a, 3270. Am 17. August wies er in Nürnberg dem Bischof auf Lebenszeit 500 Florentiner Gulden auf die jährliche Reichssteuer der Stadt Florenz an; siehe MGH Const. 13/1 (wie Anm. 26) 193–195 Nr. 219. – Im Oktober 1360 war der Bischof dann zusammen mit dem österreichischen Herzog in Konstanz; siehe Fontes rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands 4: Heinricus de Diessenhofen und andere Geschichtsquellen Deutschlands im späteren Mittelalter, ed. Johann Friedrich Böhmer (Stuttgart 1868) 16–125, hier 119f. 32  Acta Pataviensia Austriaca 2 (wie Anm. 29) 442 Nr. 363; Werunsky, Excerpta (wie Anm. 27) 151 Nr.

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am selben Tag auch ein Schreiben an Rudolfs Kanzler, seine „rechte Hand“ und engen Vertrauten Johann Ribi, genannt von Platzheim, Elekt von Gurk, ausstellte. Darin wurde dieser dringend aufgefordert, die Anliegen Innocenz’ VI. beim Herzog zu unterstützen33. Erhalten ist auch ein einschlägiger Brief an Marquard von Randeck, den Bischof von Augsburg und späteren Patriarchen von Aquileia, der als enger Vertrauter des Kaisers mehrfach als Verbindungsmann zwischen dem Herrscher und der Kurie in Avignon wirkte34. Als Empfänger von ähnlichen Briefen unter den italienischen Herrschern sind im Sekret-Registerband unter anderen genannt: Amadeus VI., Graf von Savoyen, genannt Conte verde35; Markgraf Aldobrandino III. d’Este, der Signore von Ferrara36; der mit den Visconti konstant verfeindete Signore von Mantua, Guido Gonzaga, und sein Sohn Ugolino37; Giovanni Dolfin, der Doge von Venedig38; Simone (irrtümlich Giovanni) Boccanegra, der Doge von Genua39; Francesco da Carrara, Signore von Padua40. Die Städte Florenz, Siena, Perugia, Arezzo, Pistoia und Volterra erhielten päpstliche Schreiben, in denen die Angriffe des Bernabò, die damit verbundenen Verwüstungen, Brandschatzungen und Plünderungen eindringlich geschildert wurden41. Am 30. Mai schrieb Innocenz VI. an die Bischöfe von Vercelli und Asti und verbot die Begünstigung des Bernabò und forderte Hilfe für den in Bologna in Bedrängnis geratenen Albornoz ein42. Am selben Tag stellte die päpstliche Kanzlei in Avignon einen Brief an Markgraf Ildebrando von Montferrat aus, mit welchem er dringend um Hilfe für Kardinal Albornoz angegangen wurde43. Wohl noch wichtiger waren die Hilfsappelle an König Ludwig von Ungarn, der schon vorher Bernabò Visconti wegen dessen Attacken auf Bologna eine Gesandtschaft mit 523. Vgl. Gerhard Schwertl, Art. Ludwig VI. der Römer. LMA 5 (1991) 2193f. 33   Acta Pataviensia Austriaca 2 (wie Anm. 29) 441 Nr. 362. Zu ihm jüngst zusammenfassend Wolfinger, Herrschaftsinszenierung (wie Anm. 9) 316–332, woraus auch das Zitat (S. 316) stammt, und Christian Lackner, Zum Diktat des Privilegium maius. Kanzler Johann Ribi und der Maius-Fälschungskomplex, in: Privilegium maius (wie Anm. 30) 98–103. 34  Vgl. Gerald Schwedler, Art. Marquard von Randeck. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 30 (2009) 962–967. 35   Dieser Brief (26. April 1360) ist sogar im Original erhalten, Carlo Cipolla, Innocenzo VI e Casa Savoia. Miscellanea di storia italiana III/7 (1902) 185f. Nr. 73, erneut bei Ferdinando Gabotto, Una chiamata di Amedeo VI di Savoia in soccorso di Bologna (1360). Atti e memorie della R. deputazione di storia patria per le province di Romagna IV/4 (1913/14) 410–413. Ein besonders geeigneter Adressat war Amadeus nicht, denn seine Schwester Bianca war mit Galeazzo Visconti, dem Bruder Bernabòs, verheiratet. Vgl. Eugene L. Cox, The Green Count of Savoy. Amadeus VI and Transalpine Savoy in the Fourteenth Century (Princeton 1967) 144. 36  Werunsky, Excerpta (wie Anm. 27) 151 Nr. 521. – Zum Empfänger vgl. Paolo Bertolini, Art. Este, Aldobrandino. DBI 42 (1993) 303–310. 37  Werunsky, Excerpta (wie Anm. 27) 151 Nr. 519. Vgl. Isabella Lazzarini, Art. Gonzaga, Guido. DBI 57 (2001) 791–794. 38  Werunsky, Excerpta (wie Anm. 27) 150 Nr. 519. Vgl. Gigliola Bianchini, Art. Dolfin, Giovanni. DBI 40 (1991) 499–504. Der nach Venedig geschickte päpstliche Gesandte war der berühmte Kanonist Guido da Baisio. Die verlässlichste biographische Skizze bietet immer noch Filippo Liotta, Appunti per una biografia del canonista Guido da Baisio, arcidiacono di Bologna. Studi Senesi 76 (1964) 7–52, wodurch dessen Artikel in DBI 5 (1963) 293–297, überholt ist. 39   Vgl. Giovanna Balbi, Art. Boccanegra, Simone. DBI 11 (1969) 37–40. 40  Vgl. Benjamin G. Kohl, The signoria of Francesco il Vecchio da Carrara in Padua 1350–1388 (Diss. Baltimore 1967, Ann Arbor 1968); ders., Art. Francesco I da Carrara signore di Padova. DBI 20 (1977) 649–656. 41  Werunsky, Excerpta (wie Anm. 27) 151 Nr. 520. 42  Ebd. 152 Nr. 527. 43 Ebd. 153 Nr. 528.



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Mahnungen hatte zukommen lassen44. Am 26. April 1360 wurden nicht nur an den König selbst, sondern auch an seine Frau und seine Mutter und an eine Reihe von weltlichen und kirchlichen Würdenträgern des Königreiches die entsprechenden Briefe expediert und ebenfalls Bischof Egidio von Vicenza als Gesandter und Überbringer der Botschaften angekündigt45. Auf einen neuerlichen Hilferuf des Papstes und des Kardinals reagierte König Ludwig von Ungarn, indem er einerseits am 25. Juli 1360 allen ungarischen Söldnern, die auf der Seite der Visconti kämpften, einen Seitenwechsel befahl46, andererseits mit dem Papst einen Vertrag über die Hilfeleistung abschloss und danach eine Streitmacht von 6.000 Mann in Bewegung setzte, die Mitte September durch Ferrara zog und Ende des Monats vor Bologna ankam47. In den darauffolgenden Monaten wendete sich das Kriegsglück zugunsten des Legaten, der selbst am 28. Oktober in Bologna eingezogen war, und die Truppen des Bernabò wichen zurück und gaben das in der Umgebung von Bologna Eroberte wieder auf. Dazu trug wohl bei, dass Innocenz VI. am 25. August den Mailänder Signore feierlich exkommuniziert und seine Länder mit dem Interdikt belegt hatte. Am 4. November wurde das Anathem in Avignon feierlich wiederholt. Sonst waren die nach Bologna entsandten Hilfstruppen von bescheidenem Umfang. Der Bischof von Straßburg, Johann von Lichtenberg, schickte zwanzig Kriegsknechte48, Wladislaw, der Herzog des schlesischen Oppeln/Opole, nicht mehr als 2549. Bedeutend wirksamer erwies sich das Hilfeansuchen beim österreichischen Herzog. Nachdem er am 18. Juli die Kriegserklärung an Bernabò expediert und seinen Adeligen und Untertanen geboten hatte, diesem jegliche Unterstützung zu versagen, beauftragte Rudolf IV. Eberhard von Dachsberg mit dem Kommando über eine Hilfstruppe von hundert Mann für das bedrohte Bologna. Dies fand seinen Niederschlag in den Zwettler Annalen50. Eberhard († wohl 1370) gehörte einem der prominentesten österreichischen Herrengeschlechter an, das vor allem im Waldviertel begütert war und sein Herrschaftszentrum in Rapottenstein hatte, aber auch noch über den Stammsitz bei Prambachkirchen westlich von Eferding verfügte51. Die Truppe zog nach Bologna, kam dort am 23. Dezember 1360 an 44   Dies erfuhr sogar der Chronist Matteo Villani; siehe ders., Cronica, con la continuazione di Filippo Villani, IX/95, ed. Giuseppe Porta, Bd. 2 (Parma 1995) 414f. 45  Vetera monumenta historica Hungariam sacram illustrantia … 2: Ab Innocentio PP. VI. usque ad Clementem PP. VII., 1352–1526, ed. Augustin Theiner (Rom 1860) 45–47 Nr. 82–84. 46  Trenchs-Odena–Sáez, Catálogo (wie Anm. 18) 228 Nr. 27 (6. August 1360); Vancini, Bologna nella Chiesa (wie Anm. 22) 268. 47  Chronicon Estense ad an. 1360, in: RIS 15 (Mailand 1729) 297–548, hier 484; Villani, Cronica X/2, 3, 5 (wie Anm. 44) 460, 461, 463f.; Pietro da Villola, in: Corpus Chronicorum Bononensium, ed. Albano Sorbelli (RIS² 18/3, Città di Castello 1939) 115f. Vgl. Emil Werunsky, Geschichte Kaiser Karls IV. und seiner Zeit, Bd. 3: 1355–1368 (Innsbruck 1892) 246; Pauler, Auseinandersetzungen (wie Anm. 13) 177; zu den Quellen Andrea Sommerlechner, Stupor mundi? Kaiser Friedrich II. und die mittelalterliche Geschichtsschreibung (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom 1/11, Wien 1999) 493, 495. 48  Werunsky, Excerpta (wie Anm. 27) 154 Nr. 533; Codex diplomaticus (wie Anm. 26) 388 Nr. 352. 49  Codex diplomaticus dominii temporalis (wie Anm. 26) 387 Nr. 349. 50  Eodem anno Rudolfus misit in subsidium domino apostolico nobilem baronem Eberhardum de Dachsperg cum centum galeatis, qui sedem apostolicam contra comitem Mediolanensem, qui dixit se antipapam velle creare, viriliter defenderunt. Continuatio Zwetlensis IV, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 9 (Berlin 1851) 684–689, hier 688. 51  Vgl. Anton Kerschbaumer, Das Geschlecht der Dachsberge in Niederösterreich. BlLkNÖ 16 (1894) 294–307, bes. 296; Karl Lechner, Besiedlungs- und Herrschaftsgeschichte des Waldviertels. Mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Selbständiger Sonderdruck aus Das Waldviertel 7/2). (Wien 1937) 90f., 184f., 199f.; Josef Aschauer, Die Dachsberger. Geschichte eines österreichischen

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und machte auf den Stadtchronisten Pietro da Villola einen sehr positiven Eindruck: „die schönsten Kriegsleute der Welt“52. Aber hier enden schon die Nachrichten über den Einsatz österreichischer Krieger. Über Weiteres weiß man nichts. Die positive Reaktion Herzog Rudolfs auf die Bitte Innocenz’ VI. um Hilfe mag diesen veranlasst haben, ein zweites Mal einen ähnlichen Brief nach Österreich zu expedieren. Am 23. Jänner 1361 wandte er sich an Rudolf, schilderte ihm ausführlich die Bedrohung des Comtat Venaissin durch marodierende Söldnerbanden, wies auf den Kreuzzug hin, den er gegen diese Bedrohung in den ersten Tagen des Jänners ausgerufen hatte, und bat ihn um Unterstützung des Unternehmens. Zum Abschluss des langen Schreibens, das Konrad von Heiligenstadt, Kanoniker von Freising, ein wiederholt eingesetzter Prokurator und Gesandter des Herzogs, überbringen sollte, lobte er Rudolfs Einsatz für Bologna, wie ihm dies Kardinal Albornoz mitgeteilt hatte53. Durch den Frieden von Brétigny im Mai 1360, der die erste Phase des Hundertjährigen Krieges zwischen Frankreich und England beendet hatte, waren große Massen von Söldnerbanden beschäftigungslos geworden, die in der Folgezeit nach Beute zum Plündern suchten. In den letzten Tagen des Dezember nahmen sie Pont-Saint-Esprit, etwa 50 km nördlich von Avignon, ein und verwüsteten in den folgenden Wochen das päpstliche Comtat Venaissin, was den Verkehr zur päpstlichen Kurie und ihre Versorgung mit Lebensmitteln bedrohte. Innocenz VI. ließ zahlreiche Hilferufe und Aufforderungen zum Kreuzzug an weltliche Fürsten und Bischöfe in Frankreich und in den Westteilen des Reiches ergehen, darunter an Kaiser Karl IV.54. Unter den deutschen Fürsten scheint Rudolf der einzige Herrengeschlechtes. Das Waldviertel N. F. 12 (1963) 86–87, 112–119, 143–150, 182–185, bes. 116–119; Peter Feldbauer, Der Herrenstand in Oberösterreich. Ursprünge, Anfänge, Frühformen (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 1, Wien 1972) 154–157. – Zu den Besitzungen nördlich der Donau vgl. Handbuch der historischen Stätten Österreich 1: Donauländer und Burgenland, hg. von Karl Lechner (Kröners Taschenausgabe 278, Stuttgart 1985) 88 (Prandegg), 200 (Arbesbach), 285 (Groß-Gerungs), 287 (Großpertholz), 492 (Rappottenstein), 534 (Schöngrabern), 591 (Ulrichskirchen), 597 (Waidhofen a. d. Thaya). – Eberhard ist auch nach 1365 in herzoglichen Urkunden mehrfach bezeugt, Regesta Habsburgica 1 (wie Anm. 2) Nr. 203, 205, 212, 213, 214, 229, 243, 285, 286. Seine Mitgliedschaft in der Rittergesellschaft der Tempelaise 1368/69 unterstreicht seinen Rang, vgl. Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland. Ein systematisches Verzeichnis, hg. von Holger Kruse–Werner Paravicini–Andreas Ranft (Kieler Werkstücke D/1, Frankfurt a. M. u. a. 1991) 51–57, hier 55f. – Zu Heinrich von Dachsberg, wohl einem Großneffen Eberhards, vgl. Christian Lackner, Ein Rechnungsbuch Herzog Albrechts III. von Österreich. Edition und Textanalyse (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 23, Wien 1996) 45 mit Anm. 4. – Der prominenteste Vertreter des mit Jörg 1423 im Mannesstamm ausgestorbenen Geschlechtes war ohne Zweifel Ulrich, Eberhards Sohn, Landmarschall in Österreich (1397–1402), dessen Archiv durch einen glücklichen Zufall erhalten blieb, vgl. Otto Brunner, Das Archiv des Landmarschalls Ulrich von Dachsberg. Mit einem Exkurs zur Geschichte der Juden in Wien. Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 7 (1927) 63–90; Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien–München 2002) 220. Er hatte 1377 auch die halbe Herrschaft Wolkersdorf erworben, vgl. Ernst Nowotny, Die Herrschaft Wolkersdorf vom Ende des 13. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur älteren Geschichte der späteren Hofspitalsherrschaft. JbLkNÖ N. F. 39 (1971–73) 69–112, hier 72–74. 52  Pietro da Villola (wie Anm. 47): In lo dicto milleximo vene in Bononia zente che mandò lo dux de Sterich a miser lo cardenalle. Fo tegnuda della bella zente del mondo; e fo la nocte inanzi la villia de Nadalle. Fo dì xxiii de desembre. 53  Acta Pataviensia Austriaca 2 (wie Anm. 29) 523–525 Nr. 458. – An den Kanzler, Johannes Ribi, erging am selben Tag die Aufforderung, in diesem Sinn auf Rudolf einzuwirken, ebd. 523 Nr. 457. – Zu Konrad von Heiligenstadt vgl. ebd. Register. 54  Vgl. Chroniques de Jean Froissart 6: 1360–1366, ed. Siméon Luce (Société de l’Histoire de France, Paris 1876) 59–76 § 491–498, und die entsprechende Einleitung S. XXIX–XXXIV; Léon-Honoré Labande,



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geblieben zu sein. Erst einige Monate später entspannte sich die Lage, da der Papst mit den Grandes Companies zu einer auch finanziell abgesicherten Übereinkunft kam. Ein formeller Dankesbrief Innocenz’ VI. mitsamt der Aufforderung an den österreichischen Herzog, auch weiterhin Unterstützung zu gewähren, wurde aus Avignon am 27. April 1361 expediert55. Der Krieg um Bologna wurde in den folgenden Jahren, zum Teil mit großer Erbitterung, weiter geführt, und es sollte bis zum Februar 1364 dauern, bis der Friede zwischen dem neuen Papst Urban V., der nach dem Tod seines Vorgängers am 28. September 1362 gewählt worden war, und Bernabò Visconti geschlossen werden konnte.

Anhang I Rudolf (IV.), Herzog von Österreich, sagt Bernabò Visconti und dessen Unterstützern den Krieg an, da er Bologna und andere Orte in der Romagna, die der Kirche gehören, brandschatzt, verwüstet und plündert. Wien, 1360 Juli 18. Etwa gleichzeitige Abschrift, Bologna, Archivio Albornociano im Real Colegio de España, vol. VI, nr. 337 (24A). – Druck: –. Reg.: Reg. Imp. VIII (wie Anm. 6) 565 Nr. 339; TrenchsOdena–Sáez, Catálogo (wie Anm. 18) 300 Nr. 337 (24A). Rodulfus Dei gracia dux Austrie, Styrie et Karinthie, princeps Sueuie et Alsacie, dominus Carniole, marchie Sclauice et Portusnaonis. Bernabos Vicecomes, miles Mediolanensis [!]. Ex licteris sanctissimi in Christo patris et domini nostri, domini Innocencii summi pontificis, bullatis bulla plumbea more Romane curie eiusque certis et solemnibus nunciis accepimus, quod tu cum gente tua armigera civitatem Bononiensem reductam ad fidelitatem et obedienciam sancte sedis apostolice, cui pleno iure pertinere dinoscitur, temerariis oppugnes ausibus et infestes quodque Dei timore postposito maioris presumpcionis audacia terras et loca dicte sedis in provincia Rom(anio)le constitutas percurrendo predis, rapinis ac incendiis extermines et devastes. Verum quia per hoc te fateris ostem publicum sancte matris ecclesie super petra, que Christus est, fundate firmiter, nos, qui divina clementia ipsius sumus membrum preminens, ex suis perturbacionibus et lesionibus ledimur et turbamur suosque ostes et emulos nostros habere volumus inimicos. Idcirco te tuosque auxiliatores et complices presentibus diffidamus volentes cohoperante Altissimo de fidelium nostrorum presidio et robore illatas nostro capiti iniurias tanquam membrum unctum et vividum vindicare. Datum Vienne XV Kal. Augusti anno Domini M° IIIc LX°. L’occupation du Pont Saint-Esprit par les grandes compagnies (1360–1361). Revue historique de Provence 1 (1905) 79–95, 146–164; Norman J. Housley, The Mercenary Companies, the Papacy, and the Crusades, 1356–1378. Traditio 38 (1982) 253–280, hier 262–264; William Caferro, John Hawkwood. An English Mercenary in Fourteenth-Century Italy (Baltimore 2006) 42–45. 55  Acta Pataviensia Austriaca 2 (wie Anm. 29) 529 Nr. 465.

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Werner Maleczek

II Rudolf (IV.), Herzog von Österreich, gebietet seinen ihm unterstehenden Adeligen und anderen Untertanen, die Bernabò Visconti, der Bologna und andere Orte in der Romagna, die der Kirche gehören, mit Krieg überzieht, Unterstützung leisten, diese zu entziehen. Wien, 1360 Juli 18. Etwa gleichzeitige Abschrift, Bologna, Archivio Albornociano im Real Colegio de España, vol. VI, nr. 338 (24B) unter der Überschrift Copia litterarum domini ducis Austrie. – Druck: –. Reg.: Reg. Imp. VIII (wie Anm. 6) 565 Nr. 340; Trenchs-Odena–Sáez, Catálogo (wie Anm. 18) 300 Nr. 338 (24B).

Rodulfus Dei gracia dux Austrie, Styrie et Karinthie, princeps Sueuie et Alsacie, dominus Carniole, marchie Sclauice et Portusnaonis universis et singulis nostris ac dictarum terrarum nostrarum marchionibus, palatinis, comitibus, baronibus, ministerialibus, vaxallis, militibus, armigeris ceterisque nobis subiectis cuiuscunque preheminencie status vel condicionis existant, graciam suam cum bonorum omnium incremento. Nuper ex licteris sanctissimi in Christo patris et domini nostri, domini Innocencii summi pontificis, sua bulla plumbea bullatis more Romane curie necnon ex solemnium nunciorum suorum relatibus intelleximus, quod Bernabos de Vicecomitibus, miles Mediolanensis, cum gente sua armigera civitatem Bononiensem reductam ad fidelitatem et obedienciam sancte sedis apostolice, ad quam pleno iure pertinere dinoscitur, temerariis oppugnet au­ sibus et infestet quodque Dei timore postposito maioris presumpcionis audacia terras et loca dicte sedis in provincia Rom(anio)le constitutas percurrendo predis, rapinis et incendiis exterminet et devastet. De quo dolentes ex intimis et compassione afflicti debita, quemadmodum filius de matris et membrum de capitis offensis et molestiis debet merito perturbari, dicte sedi apostolice contra prefatum iniuriatorem et suos complices, quos propter hoc diffidavimus, armata manu duximus succurrendum. Idcirco vobis et vestrum cuilibet dicto Bernaboui assistenti vel assistentibus consilio vel opere sub privacione rerum vestrarum omnium et sub pena letali corporibus infligenda districte precipiendo mandamus, quatenus mox post insinuacionem presencium vobis factam sine cuiuslibet dilacionis obstaculo a dicto Bernaboue recedentes ipsum penitus deseratis nec sibi vel alicui alteri contra prefatam sedem prestetis decetero auxilium et consilium vel operam directe vel indirecte, tacite vel expresse. Quicumque vero ex vobis proprie salutis inmemor huic mandato nostro et inhibicioni parere contempserit, preter divinam ulcionem, quam debet formidare, merito ad pretactas penas se sciat per nos fore sine gracia qualibet condempnatum. Datum Vienne XV Kal. Augusti, anno Domini millesimo IIIc LX°.

Das Ego im Konvent Urkundenproduktion und Urkundenbenützung der Kartäuser vor dem Hintergrund der Statuta ordinis Carthusiensis Meta Niederkorn

Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, wie ein Mönch im Kontext der Gemeinschaft aus den Urkunden heraus sichtbar wird. Zahlreich sind die Publikationen, die sich insbesondere in den letzten 15 Jahren mit dem Normenkatalog für Gemeinschaften, so auch geistlichen Gemeinschaften, beschäftigen. Dabei wird in der Regel wenig nach den historischen Hintergründen oder Textüberlieferungen gesucht. Oft – mitunter unter Vernachlässigung der Historie – werden diese Normen nach ihren Werten für die gegenwärtige Gesellschaft befragt. Spitzenreiter ist hier immer wieder die Regula Benedicti, die in jüngerer Zeit immer öfter als Managerhandbuch herangezogen wird. Der Blick auf die eigene Geschichte, wenn diese in ihrem Verlauf als gelungen bezeichnet werden kann, ist immer auch ein Blick auf die Urkunden, zumindest auf die Archivbestände. Dies wissen Institutionen; dies ist sozusagen institutionelles Basiswissen, das eigentlich institutionsstiftend ist1: keine Institution ohne ihre Kenntnis der eigenen Geschichte. Geschichtsbewusstsein besteht hier einerseits in der Verortung des eigenen Bestehens im Zeitenlauf. Geschichtlichkeit besteht aber auch andererseits in der Kenntnis der Daten und Fakten, die zum Bestand eines Klosters beitragen bzw. beigetragen haben; mit anderen Worten: in der Kenntnis von Stiftern, Förderern und Wohltätern, welcher Dimension auch immer deren „Wohltaten“ sein mögen. Mit der häufig mit einer Wohltat verknüpften Verpflichtung, für das Seelenheil des Wohltäters und/oder der Wohltäterin und aller seiner bzw. ihrer Angehörigen zu beten und Messen zu feiern, geht die Institution jeweils einen Vertrag ein, dessen Gültigkeitsdauer – bis zum Jüngsten Tag – die Gemeinschaft verpflichtet, jene Aufgaben zu leisten, wie sie die liturgische Memoria in Vereinbarung mit den Ordensstatuten vorsehen. Damit entsteht immer wieder eine Verflechtung zwischen Besitz, Verantwortung für diesen und Liturgie. Geschichte eines Klosters darf natürlich nicht nur anhand einer bestimmten Urkunde geschrieben werden, die zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Inhalten und Codes aufgeladen werden kann und wird, womit man diese oft auch in­ 1 Die Verknüpfung unter diversen Gesichtspunkten erfolgt in gelungener Form etwa im Sammelband Écrire son histoire: les communautés régulières face à leur passé; actes du 5e colloque international du C.E.R.C.O.R., Saint-Étienne, 6–8 novembre 2002, hg. von Nicole Bouter (C.E.R.C.O.R. Travaux et recherches 18, Saint-Étienne 2006).

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strumentalisiert2. Selbst Gründungsurkunden, auch wenn sie im Zuge der wiederholten Bemühungen um neuerliche Bestätigungen von Privilegien einen besonderen Stellenwert besitzen, sind trotzdem Einzelurkunden; sie gewinnen lediglich durch ihren Platz in der Geschichte der sich wiederholenden Bestätigungen und im Zuge dieser oftmals auch transsumierten Überlieferung eine eigene Geschichte. Geschichte einer Institution, Geschichte eines Klosters entsteht aus einem Archiv und umgekehrt entsteht ein Archiv aus der Geschichte heraus; im monastischen Bereich bestimmen mitunter detaillierte Normen den Archivierungsvorgang und den Umgang mit dem Archivgut. Als Vorbild ist hier sicherlich die päpstliche Kanzlei zu nennen, die sich nicht nur früh aus einem bestimmten Expertenzirkel – bestehend aus allen jenen, die genau jene Arbeitsschritte kannten, die aus Beschreibstoff und Schreibstoff eine Urkunde entstehen ließen – zusammensetzte, sondern tatsächlich aufgrund der Ortsgebundenheit des Papsttums auch als eine Räumlichkeit bezeichnen lässt3. Die Vorbildwirkung der päpstlichen Kanzleiverwaltung4 und der Kanzleiregelungen ist mannigfach Thema. Die Vorbildwirkung kurialer Verwaltungsstrategien potenzierte sich zweifellos bereits in Konstanz, in Basel erreichte diese wohl einen Höhepunkt. Nicht nur, dass die unterschiedlichsten Themen zu beraten waren, die man nicht auf die lange Bank schieben konnte bzw. auch nicht wollte. Eine Flut unterschiedlichster Schriftstücke verließ Basel, in offizieller Sache im Namen des Konzils oder des Papstes ausgestellt. Denn ausgehend vom Konzil von Basel, das – angelehnt an die Bezeichnung „Laboratorium der Kunst“5 – als Laboratorium aller Think Tanks für die Reform der Kirche und der Gesellschaft angesehen werden kann, überzogen die im Namen des Konzils ausgestellten Schriftstücke mit den päpstlichen Schreiben – wie es Tradition der kirchlichen Verwaltung war, nunmehr jedoch exponentiell zum universitären Einfluss hin gesteigert6 – die christianisierte Welt und stellten damit Kommunikation und Befehlsgewalt sicher. Im Kampf um die libertas ecclesiae beriefen sich die Klöster auf ihre Geschichte; die Reformorden – auch die Kartäuser – entstanden aus der besonderen Berufung auf geschichtlich belegbare Traditionen, um ihre neue, wieder auf die Wurzeln zurückgeführte Lebensform zu begründen7. Im Folgenden möchte ich den Blick auf Urkunden fokussieren und speziell das Archiv als Wissensspeicher im Hinblick auf den Besitzstand hervorheben. Dass dies im Falle von Privilegienbestätigungen geradezu auf der Hand liegt, wobei die bestehenden Privilegien, 2  Thomas Just, Geschichte wird gemacht. Von Herzog Rudolf IV. zu Heinz Grill: Das Privilegium maius im Archiv, in: Privilegium maius. Autopsie, Kontext und Karriere der Fälschungen Rudolfs IV. von Österreich, hg. von dems. et al. (VIÖG 69 = MÖStA Sonderbd. 15, Wien–Köln–Weimar 2018) 25–40. 3 Veronika Unger, Päpstliche Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert: Archiv, Register, Kanzlei (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 45, Wien–Köln– Weimar 2018). 4   Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert, hg. von Peter Herde–Hermann Jakobs (AfD Beih. 7, Köln–Weimar–Wien 1999). 5 Jana Lucas, Europa in Basel: das Konzil von Basel (1431–1449) als Laboratorium der Kunst (Basel 2017). 6 An anderer Stelle konnte ich einerseits auf den Zusammenhang zwischen den Kartausen Basel und Freiburg, der Universität Basel und Gregor Reisch, andererseits auf die Drucklegung der Statuta ausführlich eingehen: Meta Niederkorn-Bruck, Kartäuser im sozialen Umfeld der Universitäten, in: Die Kartäuser im Blickpunkt der Wissenschaften: 35 Jahre internationale Treffen, 23.–25. Mai 2014 in der ehemaligen Kölner Kartause, hg. von Hermann Josef Roth (Analecta Cartusiana 310, Salzburg 2015) 92–101. 7  Vor allem im Bezug auf die Kartäuser: Sylvain Excoffon, Les chartreux et leur histoire au Moyen Âge, in: Écrire (wie Anm. 1) 125–136.



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mitunter sogar in chronologischer Folge, in eine neue Urkunde übernommen wurden, muss nicht weiter ausgeführt werden. Dass Archive einen Erinnerungsraum darstellen8 – insbesondere dann, wenn Studien am Material in situ vorgenommen werden müssen, also nicht in einer neuen Archivierungssituation –, steht außer Frage. Dennoch bietet auch jenes Material, das nach der Aufhebung von Klöstern – Gott sei Dank – in neuen Archiven Platz gefunden hat, eine Fülle an Information über die Archivierung, den Zugang der archivierenden Institution sowie über jene Personen, die an der Herstellung der Urkunden und deren Archivierung bzw. an der neuerlichen Verwendung von archiviertem Urkundenmaterial beteiligt waren.

Die Grande Chartreuse als Verwaltungszentrale Im Zuge dieser Neuordnungsbestrebungen in der Kirche9, der Gewinnung neuer Sicherheit, insbesondere aber aufgrund einer nach dem Ende des Konziliarismus erfolgten päpstlichen Privilegierung entschloss sich die Grande Chartreuse angesichts der Bedeutung des neuen Mediums Buchdruck, die Statuta ordinis10 in gesammelter und textlich redigierter Form im Druck herauszubringen. Eine zentrale Funktion von Mutterklöstern kennen religiöse Orden, insbesondere jene, die sich in Reform- und Filiationsverbänden befinden, seit dem 9. Jahrhundert. Die Zisterzienser11 stellten die Verwaltungsstrukturen nochmals auf eine dichtere Basis der internen Kommunikation12 und sahen darin auch die Sicherstellung des Zusammenhaltes. Die Kartäuser schafften schließlich in der Folge eine Zentralverwaltung des Urkundenwesens für den Orden, in der die Disziplin der einzelnen Häuser sich ablesen lassen sollte. Damit war die Grundlage für das zentral gelenkte Visitationswesen geschaffen, aber auch die Privilegierung des Ordens wurde klar ersichtlich. Eigentlich ist in diesem Zusammenhang bereits im 15. Jahrhundert von einem vernetzten Archiv13 zu sprechen, abseits von Internet und Databases. Die Vernetzung erfolgte zum einen durch die regelmäßige Berichtspflicht der Visitatoren, die ihrerseits die 8  Wim De Clercq–Jan Dumolyn–Jelle Haemers, „Vivre noblement“: Material Culture and Elite Identity in Late Medieval Flanders. The Journal of Interdisciplinary History 38/1 (2007) 1–31. 9   Zusammenfassend etwa Jürgen Dendorfer, Zur Einführung, in: Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450–1475), hg. von dems.–Claudia Märtl (Pluralisierung und Autorität 13, Berlin u. a. 2008) 1–18. 10  Im Folgenden zitiert nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek Basel (ehemals im Besitz der örtlichen Kartause), Signatur: AK VI 21, http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-2879 [24. 1. 2020]. 11 Florent Cygler, Das Generalkapitel im hohen Mittelalter. Cisterzienser, Prämonstratenser, Kartäuser und Cluniazenser (Vita regularis 12, Münster 2002) 298–303, zur zentralen Funktion des Generalkapitels und wiederum der besonderen Stellung des Priors der Grande Chartreuse. 12  Arnaud Baudin, Conserver la mémoire dans la filiation de Clairvaux: usages et pratiques archivistiques dans cinq abbayes de Champagne (XIIe‒XVIe siècle), in: Les pratiques de l’écrit dans les abbayes cisterciennes (XIIe–milieu du XVIe siècle). Produire, échanger, contrôler, conserver. Actes du colloque international Troyes– Abbaye de Clairvaux, 28–30 octobre 2015, 2016, hg. von Arnaud Baudin–Laurent Morelle (Paris 2016) 185–210. 13  Frank Michael Bischoff, Vernetzte Archive. Perspektiven des digitalen Zugangs zu archivalischen Quellen, in: Papsturkundenforschung zwischen internationaler Vernetzung und Digitalisierung. Neue Zugangsweisen zur europäischen Schriftgeschichte, hg. von Irmgard Fees–Benedikt Hotz–Benjamin Schönfeld (Göttingen 2015) 1–18, https://rep.adw-goe.de/bitstream/handle/11858/00-001S-0000-0023-9A13-A/12_Bischoff. pdf?sequence=76 [24. 1. 2020].

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Visitationsurkunden in Abschrift – einmal für das visitierte Haus, einmal für die Zentrale in der Grande Chartreuse – herstellten. Zum anderen geschah die Vernetzung durch die Berichtspflicht seitens der Zentrale an die nachgeordneten Stellen, die Kartausen, im Hinblick auf Privilegierung. Privilegien des Ordens erhielt die Grande Chartreuse, die Originale sind dort archiviert. Spezialisten im Hinblick auf Verwaltung zu sein, kann man natürlich als Vorwurf gegenüber der Geistlichkeit formulieren oder aber als einen Ausdruck der Verantwortung sehen und im Hinblick auf das zu Verwaltende – Grund und Boden, Gebäude, Bücher und mobile Ausstattung von Kirche und allen Nebengebäuden eines Klosters – betrachten. Dass gerade bei so hoher Komplexität auch unterschiedliche Strategien nötig sind, um den Überblick zu bewahren, wird nicht überraschen. Verwaltung der Memoria im weitesten Sinne ist darunter zu verstehen; allerdings wird hier oft der Fehler begangen, diese Kriterien im Hinblick auf die rein der liturgischen Memoria geschuldeten Namenslisten von Prioren zu verwenden und diese als Verwaltungsschriftgut zu bezeichnen14. Ausgehend von den Statuta ordinis möchte ich mich nun im Folgenden der Her- und Ausstellung wie auch der Archivierung von Urkunden bei den Kartäusern zuwenden15.

Informationen zum Urkundenwesen in den Statuta ordinis So wie in der päpstlichen Kanzlei Geheimhaltung bereits seit dem hohen Mittelalter eine eifrig eingeforderte Grundvoraussetzung war16, so galt auch für die Zentrale der kartäusischen Verwaltung, deren Verhandlungszentrum das Generalkapitel ist, die Geheimhaltung als wesentlicher Faktor. Dies betraf die am Generalkapitel verhandelten Angelegenheiten ebenso wie die Abfassung der Chartae des Kapitels sowie der Visitations­ urkunden. Mehrfach wird in den Statuten in ihrer jeweiligen Fassung dieses Anliegen präzise formuliert: so etwa, dass Litterae, die vom Generalkapitel durch Nuntien übermittelt werden, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis, allenfalls übermittelt durch die Diffinitoren17 – erkennbar an der Adresse –, geöffnet werden dürfen18. Alle anderen Briefe (litterae) muss der Prior wieder in das sacculum des Nuntius legen19. Die Schlagworte Urkunden, Urkundenausstellung und Urkundenverwahrung betreffen die Kommunikation, die Herstellung von Urkunden und Briefen und deren Verwahrung bis hin zur Aufforderung, beim Erhalt einer neuen Visitationsurkunde die alte zu vernichten. Als für Kartäuser signifikant zu bewerten, ist der mit dem Schlagwort Arenga

14  Martin Haltrich, gůt půcher und ander dinge. Untersuchungen von Schriftlichkeit, Administration und Buchproduktion in der spätmittelalterlichen Verwaltung der Kartause Gaming (Diss. Wien 2010) bes. 9. – Die Hs. ist in ihrer Zusammensetzung vielmehr Resultat der insbesondere in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder intensiv geführten Diskussion um die Vereinbarung von Zeit: liturgische Zeit, astronomische Grundlagen und deren Harmonisierung mit der Liturgie eines konkreten Hauses. 15  Meta Niederkorn-Bruck, Historiographie als Produkt der Archivierung, in: Histoire et mémoire chez les chartreux, XIIe–XXe siècles: colloque international du C.E.R.C.O.R (24–27 juin 2015), hg. von Sylvain Excoffon–Coralie Zermatten (Analecta Cartusiana 319, Saint-Etienne 2017) 131–158. 16 Christoph Egger, Vertraulichkeit und Geheimhaltung in der hochmittelalterlichen päpstlichen Kanzlei. AfD 63 (2017) 253–271. 17   Statuta Antiqua (wie Anm. 10) pars II c. 29 § 33. 18   Tertia Compilatio (wie Anm. 10) c. 9 § 42. 19   Ebd. § 14.



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verknüpfte Hinweis im Repertorium20: es sollen keine zu wortreichen Arengen in den Urkunden geschrieben werden, sozusagen Schwatzhaftigkeit vermieden werden. Die Aufbewahrung führte auch zur ersten Verantwortung des Priors und von diesem abgeleitet zu jener des Procurators: Die Stichworte Arca, clavis und custodia, depositio litterarum, clenodiarum etc. werden ausführlich in den Statuta Antiqua im Hinblick auf den Verschluss thematisiert (Deposita propria et aliena sub duabus vel tribus clavibus custodiantur)21. Der Prior sollte mit Wissen des Procurators die Verantwortung für Deposita übernehmen, der Procurator hingegen durfte nicht eigenständig handeln (Deposita vel peccuniam commendat prior, non procurator, sciente tamen procuratore)22. In Aggsbach23 finden wir spätestens ab den 30er Jahren eine ideale Situation hinsichtlich Archivierung und Verwaltung vor. Auch wenn sich das Archiv seit 1782 nicht mehr in situ befindet, ist es möglich, die Objekte aufgrund der Inventare (auch jener, die an den neuen Orten der Archivierung angefertigt wurden), der Literatur und nicht zuletzt auch aufgrund der Möglichkeiten, die Recherche durch die Portale monasterium.net (ICARUS) und manuscripta.at zu unterstützen, so zusammenzuführen, dass ein anschauliches Bild der Verwaltung gewonnen werden kann. Das Kopialbuch A wurde wohl bereits tatsächlich mit der Entstehung der Kartause angelegt und bis ins 15. Jahrhundert hinein geführt, wie Adalbert Fuchs in der Einleitung seines Werkes ausführte, in welchem er die Geschichte der Kartause teilweise anhand der Drucklegung der Urkunden darlegte, aber auch ihre Erschließung in Regestenform bis zum Jahr 1500 nach den Regeln seiner Zeit vornahm24. Dagegen ist das Kopialbuch B – ebenso wie das Rechnungsbuch der Kartause, das in seinem Titel sowohl Mauerbach als auch Aggsbach nennt, weil Johannes Span ja von Mauerbach nach Aggsbach wechselte – in die Zeit des Johannes Span einzuordnen25. Das Kopialbuch C ist Ergebnis der neuen Anstrengungen, dem Kartäuserorden in der Provincia Alamanniae Superioris wieder aufzuhelfen; schon die Bestellung Georg Fasels zum Prior in Mauerbach ist unter diesem Aspekt zu sehen26. Breven enthalten Mitteilungen unterschiedlichster Natur: Nachrichten über den Tod eines Mitbruders, Nachrichten die wirtschaftliche Substanz betreffend; solche konnte der Prior mit seinem kleinen – persönlichen – Siegel siegeln bzw. dieses als Verschluss-Siegel der Litterae verwenden. In den Statuta Antiqua sollten die Kartausen offenbar daran gehindert werden, einander zu oft Breven zukommen zu lassen: innerhalb eines Jahres sollte dies nur zwei bis drei Mal geschehen, wenn sie mehr als zwei Tagesreisen voneinander entfernt lagen27. Seit dem 15. Jahrhundert sind solche Breven, Handschreiben von Prioren, die sie auch mit einem kleinen, persönlichen Siegel verschließen, belegt. Die Statuta Nova, die   Ebd. pars II c. 9 § 6.   Statuta Nova (wie Anm. 10) pars II c. 3 § 11. 22   Ebd. c. 6, § 14. 23 Heribert Rossmann, Die Geschichte der Kartause Aggsbach bei Melk in Niederösterreich, 2 Bde. (Analecta Cartusiana 29, München 1976). 24   Urkunden und Regesten zur Geschichte der aufgehobenen Kartause Aggsbach, ed. Adalbert Fr. Fuchs (FRA II 59, Wien 1906). 25  Leopold Brenner, Historia Cartusiae Maurbacensis (HHStA, Handschrift R 4): Hier wird Span in der Mauerbacher Priorenreihe unter Nr. XVIII, fol. 21r–21v behandelt. 26  Zu Georg Fasel siehe ebd. Nr. XXXIII, fol. 27v–29v. 27  Statuta Antiqua (wie Anm. 10) pars I c. 48 § 23. 20 21

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ausdrücklich auch für den Procurator und die Priorissa bestimmt waren28, aber auch die Nova collectio in C. 3 belegen, dass der Prior solch ein kleines Siegel für seine Briefe mit privatem Inhalt – gemeint ist hier wohl der nicht für den Orden im Allgemeinen wichtige Inhalt – führen durfte29. Prioren, wenn sie einander schrieben, war es aber nicht gestattet, sich als reverendus bezeichnen30; die Norm spricht hier allerdings den Briefwechsel mit Prioren und Mönchen anderer Orden nicht an. Die Schlagworte charta, clavis und custodia, falsificatores sigilli vel litterarum31 sind dem Bewahren von Urkunden, der Warnung vor Fälschern und den dafür vorgesehenen Strafen gewidmet. Besondere Aufmerksamkeit wenden die Statuten den Visitations­urkunden zu: Chartarum domorum, quas visitant, copias fideliter clausas et sigillatas quamcitius poterunt super annum mittunt ad cartusiam per omnia similes illis, quas in domibus reliquunt visitatis … et caveant, ne aliqui extranei chartas ipsas videant vel illarum copias32. Visitationsergebnisse waren demnach als Verschlusssache zu betrachten. In jedem Fall durften sie nur durch einen geistlichen Schreiber angefertigt und kontrolliert werden. Siegel und Siegelfälschung werden ausführlich behandelt, auch die Verwendung des kleinen Siegels durch den Prior. So werden auch Visitator und Covisitator 1629 in der Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft dieses anwenden: In Aggsbach fand unmittelbar beim Abschluss eines Rechtsgeschäftes im Jahr 162933 eine Visitation statt. Der Prior Hilarion von Gaming als Visitator und Georg, Prior von Mauerbach (es handelt sich um Georg Fasel)34, als Covisitator, bestätigen die Beurkundung, derzufolge die Kartause Aggsbach dem örtlichen Hofrichter Sebastian Weidtinger und dessen Frau Weingärten bei Krems, Wartberg und Trechau gegen jährlich 10 rheinische Gulden überließ35. Es handelt sich hier wohl um den Fall, dass die beiden Geistlichen den Geldertrag als für das Kloster günstiger ansahen als die eigene Bewirtschaftung36, die ja auch die Kartause selbst gar nicht durchführen hätte können. Beide Visitatoren setzten neben ihrer Unterschrift auch ihr persönliches Siegel in Form eines Lacksiegels auf die Bestätigung. Interessant ist, dass die Statuta Antiqua von 1259 eindeutig festhalten, dass jeweils anlässlich einer neuen Visitation die ältere Visitationsurkunde zu vernichten sei; es wird aber nicht von der kopialen Überlieferung dieser Urkunden gesprochen, wenngleich diese selbstverständlich existierte, was die Visitatoren natürlich wussten. Damit wird aber auch der Charakter der Rechtsverbindlichkeit der Urkunden und die geminderte Verbindlichkeit der Abschriften deutlich. Es sollte also keine ältere Visitationsurkunde als die jeweils

  Statuta Nova (wie Anm. 10) pars II c. 1 § 18.   Nova Collectio Statutorum (Parisiis 1582) pars II c. 3 § 23. 30   Statuta Antiqua (wie Anm. 10) pars II c. 3 § 15: Priores ad invicem scribendo non scribant „reverendo“. 31  Tertia Compilatio (wie Anm. 10) c. 9 § 42f. 32  Tertia Compilatio (wie Anm. 10) c. 9 § 42. 33  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1629, https://www.monasterium.net/mom/AggOCart/1629.1/ charter [24. 1. 2020]: „Das Kloster Aggsbach überläßt dem Sebastian Weidtinger, Hofrichter zu Aggsbach und Maria seine[r] Hausfrau auf ihre Lebenszeit die 2 Weingärten bey Krems, Wartberg und Trechau, 7 Viertl groß, in Bestand gegen jährlich 10 Gulden Rh.“; Regest: Archivrepertorium Bd. 1 Nr. 1516. 34  Zur Bestellung Fasels ad Cartusiae Maurbacensis restaurationem ac provinciae Superioris Alemanniae … ad capitulum generalem admovetur siehe Brenner, Historia (wie Anm. 25) fol. 27v. 35  Siehe Anm. 33. 36  Statuta Antiqua (wie Anm. 10) pars II c. 19 § 12: Vinea, terras, pratas – extra terminos coli prohibemus. 28 29



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letzte geben37. Dennoch finden wir ebensolche – zum Glück für die Forschung –, etwa in Form von Bucheinbänden wie im Fall der Kartause Hull aus dem Jahr 144038. Litterae werden, wie oben im Kontext der verschiedenen Formen der Geheimhaltung, im Rahmen der Kommunikation zwischen der Grande Chartreuse und den einzelnen domus behandelt. Dabei wird ausdrücklich auch die Unterscheidung zwischen zwei Urkundentypen getroffen: zunächst die Gruppe jener Litterae, die der Prior und der Procurator im Konsens mit dem Konvent bzw. einer bestellten Beratergruppe, die auch als maior pars fungieren konnte, mit dem großen Siegel ausstellten, wobei jeweils Prior und Konvent gemeinsam als Aussteller fungierten39. Diese Schriftstücke sind in jedem Fall mit dem großen Siegel, von welchem laut Statuten jede Kartause nur eines haben soll40, besiegelt. Diese Form der Litterae wird von einer zweiten Gruppe unterschieden, und zwar von jenen Urkunden und litterae clausae, die Inhalte mit geringerer Bedeutung für den Orden insgesamt oder den Bestand des Klosters und dessen Besitz aufweisen und demgemäß mit einem kleinen Siegel beglaubigt sind. So sollte ein Prior etwa allenfalls Schreiben an das Generalkapitel, in welchen er Vorwürfe gegen einen Untergebenen vorbringt, mit seinem persönlichen Siegel schließen (siegeln)41. Solch ein kleineres Siegel durften überdies der Procurator und – sobald Frauen im Orden zugelassen waren – auch der Procurator der Nonnen und die Priorissa verwenden42, also Personen, die in verschiedensten Rechtsgeschäften als Einzelpersonen agieren mussten, wenn es etwa um Grundbesitz und kleine Rechtsfragen in diesen Angelegenheiten ging. Schenkungen sind in diesem Kontext natürlich besonders hervorzuheben: Data semper in litteris ponantur, tam a priore Carthusie quam a ceteris ad quamdiu valeant tempus competens prefigatur 43. Gerade im Hinblick auf Verwaltung und Versorgung wurden oftmals Schriftstücke unterschiedlichster Form ausgestellt: Litterae, Cedulae und Rechnungszettel sowie Bücher zur Ordnung und Übersichtlichkeit derselben, wenn sie nicht Produkte eines alltagspraktischen Schrifttums waren, das sozusagen über den Tag hinaus keinerlei Bedeutung hatte und deshalb gar nicht bzw. jedenfalls nicht bewusst aufbewahrt wurde. Unter alle diese Aufgaben fallen die Negocia, die einem Prior und dem Procurator zugeordnet werden konnten. Aber auch den Konversen, die bestimmte Aufgabenfelder innehatten, in welchen sie aufgrund ihres Pouvoirs auch Urkunden ausstellen konnten, wurde die Verschriftlichung diverser Angelegenheiten ausdrücklich zugestanden, wobei 37  Siehe dazu Klaus Schreiner, Dauer, Niedergang und Erneuerung klösterlicher Observanz im hochund spätmittelalterlichen Mönchtum. Krisen, Reform- und Institutionalisierungsprobleme in der Sicht und Deutung betroffener Zeitgenossen, in: Gemeinsam leben. Spiritualität, Lebens- und Verfassungsformen klösterlicher Gemeinschaften in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters. hg. von dems. in Verbindung mit Mirko Breitenstein–Gert Melville (Vita Regularis Abhandlungen 53, Berlin 2013) 509–551, hier 534, mit Verweis auf Heinrich Rüthing, Die Wächter Israels. Ein Beitrag zur Geschichte der Visitationen im Kartäuserorden, in: Die Kartäuser. Der Orden der schweigenden Mönche, hg. von Marijan Zadnikar–Adam Wienand (Köln 1983) 169–183, hier 171. 38   Zur Handschrift London, British Library, MS Sloane 2515 siehe Andrew Gray, A Carthusian Charta visitationis of the fifteenth century. Historical Research 40 (1967) 91–101. – Aber auch Lambeth Palace, Ms. 413; siehe dazu Carol B. Rowntree, Studies in Carthusian History in later Medieval England. With Special Reference to the Order’s Relations with Secular Society (Diss. York 1981) 137. 39   Statuta Antiqua (wie Anm. 10) pars II c. 6 § 60. 40  Statuta Nova (wie Anm. 10) pars II c. 1 § 17. 41   Tertia Compilatio (wie Anm. 10) c. 3 § 17. 42   Statuta Nova (wie Anm. 10) pars II c. 1 § 18. 43   Statuta Antiqua (wie Anm. 10) pars II c. 31 § 39.

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selbst die Prioren oder Procuratoren in diese Bereiche nicht involviert sein sollten44. Es versteht sich, dass es sich hier um vergleichsweise unwichtige, im Kontext des Klosterguts niederrangige Angelegenheiten handeln musste, da alle wichtigen Angelegenheiten ausdrücklich dem Prior und dem Procurator, bei ganz wichtigen Geldgeschäften allenfalls unter Zuziehung des Konventes, übertragen waren. Dass im Kontext des amtlichen Schriftverkehrs zwischen der Grande Chartreuse und einzelnen Kartausen hohe Sorgfaltspflicht bestand, steht außer Frage. Hier wurde – wie allgemein im Bereich des Urkundenwesens – vor der Anfertigung von Fälschungen gewarnt und mit Strafen gedroht45. Die Falsificatio litterarum et sigillorum wird wie periurium, falsum testimonium, sortilegium und incendium gehandhabt; aber auch wie rebellio et inobedientia und unter die peccata priori (gemeint ist in diesem Fall der Prior der Grande Chartreuse) specialiter reservata eingeordnet. Zur Drucklegung der Privilegia46 wird in der Vorbemerkung der Statuta ordinis von 1510 festgehalten, dass die Kartause ihre Position aus den päpstlichen Privilegien begründet; immer ist eine Kartause nicht nur in den Ordensverband, sondern auch in ihre jeweils aktuelle Umgebung eingebunden. Im Repertorium, das dem Druck der Privilegia vorangestellt ist, wird unter dem Schlagwort der Decimas laborum nostrorum de possessionibus … quas propriis manibus vel sumptibus infra nostros terminos colimus nulli solvere tenemur, non obstante quod alique domus nostri ordinis decimas de huiusmodi laboribus aliquando persolverunt, dummodo inter nos vel aliquos nostrorum et rectores ecclesiarum, ad quod decime predicte pertinent, de ipsis solvendis pactum non intervenerit47 dieses Bewusstsein durchaus deutlich. Bereits im Jahr 1940 legte Marguerite Mollard48 verschiedene Überlegungen zu diesen nachbarlichen Beziehungen in einem kurzen Text vor49. Seither, vor allem seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts, wandte sich die Forschung im Kontext der vergleichenden Ordensgeschichte vermehrt den Kartäusern zu. Alle Ergebnisse zeigen im Grunde das Bild, dass sich ein Kloster je nach Stiftungsgut zunächst in günstiger oder weniger günstiger Lage befand, es im topographisch/geographischen wie auch im sozialen Kontext in seinem Bestand und Bestehen verankert war. Schließlich aber war die Existenz ganz wesentlich vom Wirtschaften abhängig. Wie verstanden es der Procurator und der Prior bzw. der Konvent, diese Substanz zu erhalten? Dafür wandte man in Klöstern immer schon diverse Strategien an, um zu einer Ordnung der Dokumente zu gelangen und Übersicht über den Urkundenbestand und damit den Grundbesitz bzw. die daraus zu gewinnenden Erträge zu erhalten. Dass damit vor allem die Wahl des Priors besonderer Aufmerksamkeit unterlag, ist generell in geistlichen Orden allseits ein vielfach verhandeltes Thema50. Dies wird in der Ausführlichkeit deutlich, mit der letztlich die Wahl des Priors in den Statuta 44 Tertia Compilatio (wie Anm. 10) c. 4 § 17: Negocia domorum, que per clericum conversum donatum litteras vel alias expediri possunt, non exerceantur per priores aut procuratores. 45  Zu den falsificantes litterarum bzw. falsificatores sigilli siehe Nova Collectio Statutorum (wie Anm. 29) pars II c. 7. 46  Exemplar UB Basel (wie Anm. 10) fol. 254r. 47  Ebd. fol. 256r. 48  Marguerite Mollard, verehelichte Monval (Paul Monval), wird später mit ihrem Ehemann in der Resistance Chartreuse, Dép. des Hautes Alpes, eine wichtige Rolle einnehmen; siehe Jean Philippe Landru, La Résistance en Chartreuse. Voiron, Voreppe, Rives, Saint-Laurent-du-Pont 1940–1944 (Grenoble 2016) 103. 49 Marguerite Mollard, Les relations de la Grande Chartreuse avec ses voisins, de 1084 à la fin du Moyen Âge. Positions des thèses de l’École des Chartes (1940) 81–91. 50 Philipp Hofmeister, Die Wahlbeeinflussung bei den Ordensleuten. Zeitschrift für katholische Theologie 82 (1960) 452–460.



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Antiqua, den Statuta Nova, in der Tertia Compilatio und schließlich vor allem in der 1582 im Druck vorgelegten Nova collectio beschrieben und damit festgeschrieben wird. Auch im Repertorium Statutorum sind es insgesamt 24 Positionen, in welchen Auswahl, Wahlvorgang und Vorbereitung zur Wahl besprochen werden; nahezu alle beziehen sich auf C. 5 der Statuta Antiqua. In diesem Kontext ist auch interessant zu sehen, dass die Kompetenz des Priors in der Lebensführung, sein Wissen und das (entsprechende) Alter ausdrücklich thematisiert werden: Eligendus est ille, cuius vita, scientia et etas fit in sancte conversationis exemplum51. Eng mit dem Tätigkeits- und Verantwortungsbereich des Priors war der des Procurators verbunden, weshalb dieser, wenn er sein Amt neu antrat, eine Woche lang vom Prior eingeführt werden durfte und sollte52. Rechnungslegung und Ausfertigung in den Kosten einander gegenüberstellen zu können, stellt den Idealfall dar – liegt beides vor, so gewinnen wir einen tatsächlichen Einblick in die Kosten- und Nutzenrechnungen, die es anzustellen galt bzw. für welche man als Prior gerade zu stehen hatte. In der Wirtschaftsführung war auch der Procurator eine maßgebliche Instanz; dieser sollte den Überblick im Großen wie im Detail behalten, daher auch über alles Werkzeug. So sollte er ausdrücklich alles Eisenwerkzeug (ferramenta) verzeichnen, damit es nicht verloren ginge53. Bedenkt man die im Rechnungsbuch der Kartause Aggsbach angeführten Beträge, die man zum Erwerb solcher oder auch nur für den Scherenschleifer ausgeben musste, wird dies absolut verständlich54. Der Procurator sollte natürlich den Überblick über die zu bebauenden und zu bewirtschaftenden Besitzungen haben; dafür musste er sich die nötigen Kenntnisse entweder selbst aneignen oder entsprechende Spezialisten heranziehen – wären dies nun conversi oder von außen hinzugezogene Hilfskräfte. Die Nova collectio fasst auch für das Amt des Procurators die umfassende Verantwortung, die sich aus dem großen Tätigkeitsbereich des Priors und auch dessen Verantwortung über den Procurator ergibt, zusammen55: Procurator universorum curam gerens de negotiis pene omnibus et sumptibus prioris semper recurrit consilium. Nec grande aliquid praeter eius licentiam agere, vendere, emere, accomodare praesumat aut donare. Munuscula tamen et litteras recipere potest vel dirigere.

Rechnungsbuch – Ausgaben – und der Rest in sacco Aus dem späten Mittelalter erhaltene Rechnungsbücher belegen die Überprüfung der Bargeldsummen, die überdies immer auch im Zuge der Visitationen erfolgte. Aber auch die liturgischen Geräte, die aufgrund der ihnen eigenen Bedeutung aus wertvollen Materialien bestanden, wurden darunter subsummiert. Im Rechnungsbuch der Kartause Aggsbach führt eine Rechnungslegungsnotiz an, was Johannes aus Mauerbach brachte,   Statuta Antiqua (wie Anm. 10) pars II c. 5 § 4.   Ebd. c. 6 § 19. 53   Ebd. pars III c. 14 § 2: Procurator scribit omnia ferramenta, ne aliquid deperire possit. 54   Zum Rechnungsbuch des Priors Johannes Span siehe St. Pölten, Diözesanarchiv, Pfarr- und Klosterakten, Aggsbach Kartause B-01 fol. 23v: Item von schersleiffen und II vingerhut XVIIII d. – Zum Vergleich, unmittelbar danach, vier Zeilen darunter wird in derselben Abrechnung pro duabus litteris super domo Wienne 3 tal. 12 den.; item pro littera decimarum 3 tal. den. … pro pergameno 6 flor. verzeichnet. 55   Nova Collectio Statutorum (wie Anm. 29) pars II c. 6: de Priore; ad procuratorem. 51 52

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was wiederum im Zuge neuer Geschäfte retourniert wurde und was sich schließlich in sacco befand56. Nach dem Blick auf die allgemein für die Kartäuser aufgestellten Normen möchte ich an dieser Stelle der Frage nach Gemeinschaft, Archivierung und Individuum in Aggsbach nachgehen. Inwieweit bestimmten Normen das Urkundenwesen, die Ausstellung von Urkunden der Kartausen bzw. deren Archivierung? Und wie gewann man schließlich durch die Benützung des Archivs, der aus der Verwaltung entstandenen Kopialbücher, Grundbücher etc. das Material für neu zu erstellende Urkunden? Am Beispiel von Besitz und Leihe von Weingärten der Kartause Aggsbach in Spitz (a. d. Donau) sei diesen Fragen konkret nachgegangen. Diese waren ab 1435 im Besitz der Kartause57. Im Archivbestand des Klosters befindet sich das Original dieser Schenkung, im Grund- und Banntaidingbuch58 ist der Sachverhalt verzeichnet. Auf der Rückseite der Urkunde hat eine Hand des 17. Jahrhunderts vermerkt: zum Aigenthumbs Grundbuch Nr. 37, 38a59. Es handelt sich um die Hand im Kopialbuch C, die eine Neusichtung des Bestandes vornahm und auch bei noch bestehendem Besitz die Urkunden aus dem Mittelalter aufnahm. Allerdings, wie bereits Franz Fuchs in der Vorbemerkung zum Urkundenbuch feststellte, hielt sich der Schreiber des Kopialbuches nicht an die Schreibweise des Mittelalters, sondern passte die Urkunden bei der Abschrift dem Sprachstil seiner Zeit an60. Bestandsaufnahme in Archiven erfolgte über die Urkunden und deren Einordnung wie auch immer wieder durch deren Verzeichnung in Kopialbüchern. Die Urkunden selbst erhielten dabei auf der Rückseite – wie für Aggsbach zu beobachten – einen Betreff und in vielen Fällen Hinweise auf die Verwahrung. Vermerke auf den Rückseiten der Urkunden, die offensichtlich zunächst in einem Zuge in der Zeit um 1430–1440 angebracht wurden, belegen verschiedene Archiv-Laden: Lade B61, Lade B62, Lade C63,

  Siehe etwa Rechnungsbuch (wie Anm. 54) Schutzumschlag, Rückseite außen.   HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1435 I 6, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1435_I_06/charter [27. 1. 2020]: „Andre Resch gesessen im Raedelpachl dacz Spicz und Elzbeth, dessen Frau, vermachen dem Prior Johanns und dem Konvente der Kartause zu Axpach ihren weingarten gelegen am Hardeck daselbs dacz Spicz ob Thomans underm haws weingarten und get hinauf zwischen ains grabens und Stephans Gruetschen weingarten unczen an des Metels weingarten, davon man dient dem edeln herrn von Meyssaw in sein herrschaft gen Spicz zehen phenning ze freyem purckrecht an sand Michelstag, welchen sie beide um ihr wolgewunnens gut gekauft haben, als Seelgeräte.“ Regest: Urkunden und Regesten (wie Anm. 24) 271f. Nr. 313. 58  HHStA, Länderabteilungen, Klosterakten, Kartause Aggsbach 15, Grund- und Bannteidingbuch fol. 115r, https://www.archivinformationssystem.at/bild.aspx?VEID=180758&DEID=10&SQNZNR=48 [27. 1. 2020]. 59  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1519 X 13, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1519_X_13/charter [17. 1. 2020]. 60  Urkunden und Regesten (wie Anm. 24) XIXf., hier XX. – Insgesamt dazu aber auch Arno Schirokauer, Frühneuhochdeutsch, in: Zur Entstehung der Neuhochdeutschen Schriftsprache, hg. von Klaus Peter Wegera (Reihe germanistische Linguistik 64, Tübingen 1986) 112–194; zu Urkunden bes. 124–126. 61 HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1369 IV 24, https://www.monasterium.net/mom/AggOCart/ 1369_IV_24/charter [27. 1. 2020]. 62  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1429 I 28, https://www.monasterium.net/mom/AggOCart/1429_I_28/charter [27. 1. 2020]. 63  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1384 0V 31, https://www. monasterium.net/mom/AggOCart/1384_V_31/charter [4. 3. 2020]. 56 57



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Lade D 1564, E65, E 366, Ladula k67, Ladula L(?)68. Nun sind gerade in diesem Kontext die Abhängigkeiten von Urkunden untereinander schon allein aufgrund des Formulars – der inneren Merkmale im Sinne der Diplomatik – immer gegeben. Dies betrifft nicht nur die oft beschriebene und debattierte Pertinenzformel, sondern auch Formularbestandteile im Kontext der Rechtssicherung, die in der Corroboratio zu finden sind und mitunter auch durch Auszeichnungsschrift aus dem Kontext hervorgehoben werden, wie dies etwa in der Ausfertigung des Reverses für die Verleihung der Weingärten in Spitz im Jahr 1630 geschieht: die Formel Alles treulich unnd ohne gevärde, zu dessen wahrem Urkhundt ist in Fraktur ausgeführt, ebenso wie die Eigennamen von Hanns Wolffshörndel, Ellisabeth und des ehelich gezeugten Sohnes Matthias69. Im Kontext der beiden Weingüter aus dem Aggsbacher Bestand sollen im Folgenden Urkunden aus den Jahren 1519, 1523, 1552, 1559 und 1630 miteinander verglichen werden. Die Analyse der Urkunden belegt, dass – wenig überraschend – bis zum Jahr 1559 eine starke textliche Abhängigkeit von der Urkunde aus dem Jahr 151970 besteht. Ein Textvergleich im Anhang wird dies verdeutlichen. Bei der Korrektur der Urkunde von 1519 scheint allerdings eine gewisse Unaufmerksamkeit im Bereich der Namen bestanden zu haben, jedenfalls ist auffällig, dass die Lokalisierung des Weingartens zu Viechtall, der in der Urkunde von 1519 nagst des Clement Harer haus lag, im Jahr 1552 korrigiert wird zu an des Wolffgang Bischoff weingarten. Der andere Weingarten, Hardekh genannt, ze nagst des Wolfgang Schneyder weingarten, wird für 1552 zu nagst des Hans Weyser korrigiert, wobei Michel Kayser, als Korrektur zu Hans Weysen (!), den man offensichtlich irrtümlich auch als Empfänger niedergeschrieben hat, als Empfänger genannt ist. Die Urkunde von 1552 enthält dann auch die so korrigierten Namen. In der Ausfertigung des Jahres 1559 werden die Weingärten – jener im Viechtall an des Wolffgang Byschoff weingarten und jener das Hardeckh genant, juengst des Hansen Weiser weingarten – an Ulrich Fierer adressiert. Hans Weiser ist also seit 1519 als Bezugsperson belegt und wird im Jahr 1519 sogar zweimal benannt. Die Ausfertigung aus dem Jahr 1630, die Prior und Konvent ausstellten, weist abermals eine starke textliche Abhängigkeit auf, die im Detail aber in erster Linie auf der bereits sich verändernden Verschriftlichung des Frühneuhochdeutschen beruht; dennoch bleibt der Zusammenhang deutlich sichtbar. Es ist offensichtlich auch hier noch der Grundbestand der Urkunden zum Sachverhalt der beiden Weingärten in Spitz, wie er 1519, 1552 und 1559 64   HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1435 I 06. https://www.monasterium.net/mom/AggOCart /1435_I_06/charter [4. 3. 2020]. 65  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1399 II 09, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1399_II_09/charter [27. 1. 2020]. 66   HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1402 I 17, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1402_I_17/charter [27. 1. 2020]. 67  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1402 VIII 13, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1402_VIII_13/charter [27. 1. 2020]. 68  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1400 XI 4, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1400_XI_04/charter [27. 1. 2020]. 69  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1630 XI 25, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1630_XI_25.2/charter [17. 1. 2020]. 70  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1519 X 13, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1519_X_13/charter [17. 1. 2020]: „Das Kloster Aggsbach überläßt dem Hanns N. zu Spitz im Rädelbach und seiner Hausfrau seine 2 Weingärten zu Spitz lebenslänglich in Bestand gegen halben Mostertrag und halbe Kosten.“ Regest: Archivrepertorium Bd. 1 Nr. 1310.

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verhandelt wurde, als Vorlage verwendet worden. Lediglich beim Revers, der von Hanns Wolffshörndl und seiner Frau ausgestellt wurde, sind die Abweichungen stärker, wenngleich aber hier noch, natürlich dem Sachverhalt geschuldet, ein Formular feststellbar ist. Die Urkunde von 152371 wurde bei der Durchsicht der Bestände und der Suche nach einer Vorlage offenbar bewusst übergangen, denn die Korrekturen, die Namensbestand und Datierung für 1552 gerecht werden, wurden auf dem Exemplar aus dem Jahr 1519 angebracht. Auf der Rückseite der Urkunde von 155272 hat dieselbe Hand wie auf der Urkunde von 1519 vermerkt: zum Aigenthumbs-Grundbuch Nr. 37, 38a73. Auch die Verzeichnung im Verwaltungsschriftgut erfolgte den Zusammenhängen Rechnung tragend. Nun aber zur Abfolge der Urkunden und zu deren Benützung bzw. Vorbereitung für die jeweils neue Urkunde. Natürlich – und auch dies ist im Kontext von Urkunden nicht überraschend, sondern war eo ipso zu erwarten – änderten sich die Namen der Aussteller (Prioren von Aggsbach) und der Lehensnehmer. Eindeutig ist feststellbar, dass für die Niederschrift der Urkunde von 1523 jene von 1519 als Vorlage verwendet wurde; und jene von 1552 sich wiederum auf jene von 1519 stützt. Der Schreiber der Urkunde von 1552 hat nämlich jene Namen, die er austauschen musste, in der Urkunde von 1519 interlinear und in einem Fall am linken Rand vermerkt. Man hat also im Zuge eines rascheren Geschäftsabschlusses die Namen adaptiert – und den Rest abschreiben lassen. Die Übergabe aus dem Jahr 155974 spielte in der Fassung für 1630 ebenso keine Rolle wie jene von 1523 für 1552. 1630 fand abermals, nunmehr aber nicht nur an den Lehensnehmer Hanns Wolffshörndl und seine Frau Elisabeth, sondern namentlich auch an den Sohn Matthias eine Verleihung statt. Die Auflagen waren identisch. Lediglich verpflichtete sich das Kloster nunmehr, Hanns Wolffshörndl und seiner Frau Elisabeth einen Metzen Salz zu reichen75. Es gibt zu dieser Urkunde auch den Revers – übrigens von derselben Hand geschrieben wie die Urkunde der Kartause –, ausgestellt von Matthias Wolffshörndl und seiner Frau Elisabeth76. Dieses Schriftstück fällt sehr viel detaillierter aus; dennoch beruht es in 71   HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1523 VII 15, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1523_VII_15/charter [27 . 1. 2020]: „Das Kloster Aggsbach gibt dem Hanns Kottinger, Bürger zu Spitz, zu Gwigkhen gesessen und seiner Hausfrau lebenslänglich 2 Weingärten in Spitz in Bestand gegen halben Ertrag und halbe Kosten.“ Regest: Archivrepertorium Bd. 1 Nr. 1318. 72  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1552 VIII 02, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1552_VIII_02/charter [27 . 1. 2020]: „Das Kloster Aggsbach gibt dem Michel Kayser zu Spitz im Rädlbach gesessen und Barbara seiner ehelichen Hausfrau auf ihre Lebenszeit 2 Weingärten in Spitz in Bestand gegen halben Erträgniß.“ Regest: Archivrepertorium Bd. 1 Nr. 1363. 73   Siehe vorherige Anm. 74  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1559 XII 03, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1559_XII_03/charter [17. 1. 2020]: „Das Kloster Aggsbach überläßt dem Ulrich Fierer zu Spytz im Radlbach gesessen und seiner Hausfrau auf ihre Lebenszeit 2 Weingärten in Spytz in Bestand gegen halben Mostertrag und auf halbe Kosten.“ Regest: Archivrepertorium Bd. 1 Nr. 1372. 75  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1630 XI 25, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1630_XI_25.2/charter [17. 1. 2020]: „Das Kloster Aggsbach überläßt dem Hanns Wolfshoerndl seiner Hausfrau und ihrem Sohn Mathias auf ihre 3 Lebenszeit 2 Weingärten im Spitz in Bestand gegen halben und Drittel Ertrag, wofür das Kloster jährlich 1 Metzen Salz auch beysteuert.“ Regest: Archivrepertorium Bd. 1 Nr. 1523. 76  HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1630 XI 25, https://www.monasterium.net/mom/ AggOCart/1630_XI_25/charter [17. 1. 2020]: „Hanns Wolfshoerndl zu Spitz im Retlbach gesessen, stellt dem obigen Kloster [Aggsbach], welches ihm, seiner Hausfrau und Sohn 2 Weingärten im Spitz auf ihre Lebenszeit in Bestand gelassen hat, einen Revers aus.“ Regest: Archivrepertorium Bd. 1 Nr. 1524.



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nicht wenigen Bestandteilen auf dem Text der Urkunde, wie sie Prior Georg von Aggsbach ausfertigte. Der Schreiber bediente sich hier aber auch der zeitgemäßen rechtlichen Form, wenn er auf die Weinbergordnung des Landes Österreich verwies: doch die weingertten auch bey guettem ordentlichen Sommer und Uberpau, wie es in disem landt Österreich, bey weingarts verstendigen leuthen unnd sonnderlich da diese beide weingertten gelegen, gebreuchig. Am Schluss der Urkunde wird vermerkt, dass Elisabeth, die kein eigenes Siegel führte, ihren Vetter Hanns Schueller bat, sein Siegel für sie und ihren Sohn Matthias zur Bestätigung neben das ihres Mannes anzuhängen: Ich Elisabeth, als ein weibsbildt mich kheines pedtschafts gebrauche, hab ich mit sondern fleiss erbetten, meinen herrn lieben rechten vettern, Hannsen Schueller. Ein knappes Fazit: Verschriftlichung, Archiv und Verwaltung gehen Hand in Hand; das liegt im Wesen der Sache. Wie eine Archivierung vorgenommen wurde und in welcher Weise diese tatsächlich den Zugriff auf das Archivgut gewährleistete, ist der Praxis der Akteure zuzuordnen. In nicht wenigen Fällen erlaubt uns die Vergangenheit einen genaueren Blick auf ihren praktischen Umgang mit dem Archivgut. Wenn es sich dabei um Urkunden handelt, die – wie im oben skizzierten Fall – tatsächlich denselben Grund und Boden betrafen, wenn also eine topographische Beschreibung nahezu eins zu eins aus einer sogenannten Vorurkunde übernommen werden konnte, wenn schließlich auch noch eine Rechtsangelegenheit bestätigend bzw. wiederholend verschriftlicht wurde, so verwendeten Klöster ihren Bestand. Und dies sicherlich nicht nur, um dem Aussteller der neuen Urkunde – der als Rechtsperson hinter dem Herstellungsprozess stand – das entsprechende Recht als ein bereits Bestehendes, den Sachverhalt als einen bereits einmal erfolgreich Geregelten präsentieren zu können. Die Herstellung einer solchen Urkunde wurde dann jeweils dort vorgenommen, wo Personen mit den entsprechenden Kenntnissen, wie eine solche Urkunde auszusehen hatte, auch tatsächlich vorhanden waren. Zweifellos war dies in landesfürstlichen, bischöflichen, aber auch städtischen Kanzleien der Fall. Auch die Klöster stellten oft selbst jene Urkunden her, die sie dann ratifiziert wiederbekamen. Die Kenntnis über den Kanzleigebrauch holte sich ein Schreiber im Kloster aus dem Archiv, sollte er nicht aufgrund seiner Tätigkeiten bereits damit vertraut gewesen sein. Sehr oft aber urkundete ein Kloster, Abt, Prior oder Konvent – im Falle der Kartause Aggsbach der Prior und Konvent – in eigener Sache. Ein Beispiel aus diesem Umfeld bot die Möglichkeit, einen knappen Blick auf die Praxis der Verwahrung, Verwendung, ja geradezu der Verwertung von Urkunden – die monastische Kanzleigemäßheit – zu werfen. Dass eine solche auch abseits der kaiserlichen, landesfürstlichen Kanzleien existierte, hängt mit der Tendenz der Menschen zusammen, Gewohnheiten beizubehalten, um damit leichter die Kontrolle zu bewahren. Auch der mittlere und niedere Adel befolgte bestimmte Usancen gerne, wie wir dies zunehmend seit dem ausgehenden Mittelalter feststellen können. Im Falle der Kartause Aggsbach liegt etwa ein Stück aus der Frühen Neuzeit vor, von dem man im Urkundenbestand eine Vorgängerurkunde aus dem späten Mittelalter kannte. Damit ist nicht nur belegt, dass Zellerare, Äbte und Prokuratoren den Urkundenbestand soweit kannten, dass man eben auf die ältere Urkunde zurückgreifen konnte. War der Sachverhalt einmal als ein identischer festgestellt, so konnte man in der vorliegenden Urkunde einfach die Korrektur bzw. Adaption der zeitgebundenen Bestandteile – natürlich der Namen der Akteure, allenfalls

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veränderter Bezeichnungen eines Ortes oder einer Region – vornehmen. Der aus dem Konvent oder der Kanzlei beauftragte Schreiber konnte so einfach das vorliegende ältere Stück tatsächlich im Sinne der Vorlage verwenden und kopieren.

Anhang HHStA, Urkunden Kloster Aggsbach 1519 X 1377: Das Kloster Aggsbach überlässt dem Hanns N. zu Spitz im Rädelbach und seiner Ehefrau seine zwei Weingärten zu Spitz lebenslänglich in Bestand gegen halben Mostertrag und halbe Kosten. Wir Menradusa prior und der gantz convent unser Lieben Frawn Porten zu Agspach, Cartuser ordens, bekhennen für uns, allb unser nachkhomen und thun khundt offennlich mit dem brief, das wir unsers gotzhaus zwenn weingerten zw Spitz, ainer im Viechtal, an des Clement Harrerc haus, der ander, das Hardekh genannt, zw nagst des Wolfgang Schneyderd weingarten dasselbs gelegen, in bestands weis verlassen haben. Verlassen auch die recht und redlich in craft des briefs dem beschaiden Hanns Weisere zw Spitz im Raedlpach gesessen und Barbaren, seiner elichen hau[s]frauen, auf ir baider leib lebtag und nicht lenger. In solher beschaidenhait, das das sie dyselben zwen weingerten mit ierem darlegen pawn mit aller gewönlicher weingartarbait, als mit schneiden, hawn, schnaitten, gruebm, missten, stikhen, jeten und pinten, und aller anderer notturfftiger arbait, als zu weingartpaw gehoert, auch yede arbait zu rechter pawzeit richten, damit dy weingarten in guetem paw beleiben. Und dann zw der zeit des lesen, wann unser scheinpot innen das lesen verkhündt, sullen sy dy weingerten vegsnen und in ier press füren oder pringen lassen, und dann sullen sie uns und unsern nachkhomen aus dem grandt geben halben tail most, was sie des ungeverlich darinn jerlich erpawen. Doch nehmen wir uns bevor, die schwartzen weinper in den weingerten zw dem opfer ze brauchen. Dagegn sullen und wellen wir in ausrichtn und bezallen halben tail, was das lesen, einfueren und pressen gestet und nicht mer. Doch das sie unserm lesmaister zimlich essen und trinkhen gebn, bis der most in das vas bracht wierdet ungeverlich. Ob sy aber mit solher arbait was vorgemelt verzugen und zw gebürlicher nit richten, dardurch die weingarten bed oder ainer in abpaw khem, des wir schaden nemen, sullen sie das nagst jar erstatten ân verziehen. Auf das mügen wir dy weingerten jerlich nach gewonhait daselbs zwier beschawn lassen. Erfund sich dann, das der vorig sawmsall nit erlegt noch erstat wer, so haben sie sich von irer gerechtigkait selbs abgeschaiden. Wir mügn uns auch der an fürbot und clag wol underwinden und damit handln unsers gefallens. Nichts weniger haben wird uns umb den genom schaden bey dem grandt an ierem halben tail most gwalt zu pfendn nach rat zwaier oder dreyer hausgesessen daselbs. Und wann dy zwen obgenanten leib mit tod vergangen seinn unserm gotzhaus dy genanten zwen weingarten wider ledig worden ân menigklichs irrung. Es wer dann, das der lesst leib dy weingerten mit herbstarbait verfangen het, so mügen desselben leibs nagst erben dy weingarten dasselb jar pawn und in obestimbter maynung fegsnen und ferrer damit nichts ze thun haben in kain weis, sonder wir mügen dew selbs pauen oder verlassen, wie uns verlust treulich ân geverd. 77

  Auch zu den im folgenden zitierten Urkunden siehe oben Anm. 70–73.



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Zu urkhundt geben wir în den bestand brief mit unserm convents aigen abhangunden insigl bestaet, der geben ist an sand Colmanstagf im fünfzehenhundertisten und newnzehenteng iaren nach der gepurd Cristi.   1552 korrigiert in der Urkunde von 1519 zu: Johannes.   1559 korrigiert hier: und all unser. c  1552 korrigiert in der Urkunde von 1519 zu: Wolfgang Bischoff weingarten; 1559 hier: Wolffgang Bischoff. d   1552 korrigiert in der Urkunde 1519 zu: Hans Weysen. e   1552 korrigiert in der Urkunde von 1519 zu: Michel Kayser; 1559 hier: Wilhelm Fierer. f   1552 korrigiert in der Urkunde 1519 zu: den andern Augusti. g  1552 korrigiert in der Urkunde 1519 zu: zwayundfunffzigisten. a

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daz die pharr Botzen der pessten phrüenden aine ist … Zur Inkorporation der Bozner Marienpfarrei in den Georgs-Ritterorden zu Millstatt (1511) Mit einem Editionsanhang Gustav Pfeifer

Kärnten und Tirol weisen naturgemäß zahlreiche historische Berührungspunkte auf. Neben der gegebenen geographischen Nähe, den topographischen Parallelen, personalen Beziehungen und Verflechtungen, wirtschaftlichem Austausch und Kulturtransfer bildeten nicht zuletzt auch gemeinsame Landesfürsten, wie von 1286 bis 1335 die Meinhardiner, eine Klammer. Unter den Habsburgern (ab 1335 beziehungsweise 1363/69) unterstanden die beiden Länder im späten Mittelalter meist je anderen Linien und gehörten damit zu unterschiedlichen Ländergruppen; zwischen 1490/93 und 1564, unter Maximilian I., Karl V. und Ferdinand I., aber waren sie Teile eines Herrschaftsverbands. Verbindungen zwischen Kärnten und Tirol ergaben sich in dieser Zeit auf lokaler Ebene u. a. im Bereich des Niederkirchenwesens und im Rahmen des für den hier vornehmlich interessierenden Untersuchungsraum noch wenig erforschten landesfürstlichen Kirchenregiments1. So versuchte Maximilian 1511, die Pfarrei Mariae Himmelfahrt in Bozen dem St.-Georgs-Ritterorden zu Millstatt in Oberkärnten zu inkorporieren2 – ein Versuch, der zunächst erfolgreich schien, aber, was den wirtschaftlichen Ertrag für den Orden betrifft, bald hinter den Erwartungen zurückbleiben und letztlich an individueller Widersetzlichkeit und fehlender rechtlicher Absicherung scheitern sollte. 1  So gibt es m. W. für Tirol (noch) keine mit der von Helmut Rankl für das Herzogtum Bayern vorgelegten Arbeit Das vorreformatorische landesherrliche Kirchenregiment in Bayern (1378–1526) (Miscellanea Bavarica Monacensia 34 = Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München 51, München 1971) vergleichbare Untersuchung. Die klassische Studie Heinrich von Srbik, Die Beziehungen von Staat und Kirche in Österreich während des Mittelalters (Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs 1, Innsbruck 1904), spart Tirol explizit aus und berührt das Niederkirchenwesen insgesamt nur am Rande. – Für Hinweise und Hilfestellung danke ich Manfred Hollegger (Graz), Herwig Weigl (Wien), David Fliri (Wien), Angela Mura (Bozen), Christoph Haidacher (Innsbruck) und Martin Roland (Wien). 2  Hierzu bislang namentlich Inge Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. und der St. Georgs-Ritterorden, in: Studien zur Geschichte von Millstatt und Kärnten. Vorträge der Millstätter Symposien 1981 bis 1995, hg. von Franz Nikolasch (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 78, Klagenfurt 1997) 431–453, bes. 438; vgl. aber auch Heinz Braun, Beiträge zur Geschichte Bozens im 16. Jahrhundert (SchlernSchriften 33, Innsbruck 1936) 8f., und Walter Franz Winkelbauer, Der St. Georgs-Ritterorden Kaiser Friedrichs III. (ungedr. phil. Diss., Wien 1949) 130.

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Im Folgenden soll dieses bislang weitgehend unbekannte Kapitel der tirolisch-kärntnerischen Beziehungsgeschichte auf der Grundlage zum Teil noch kaum ausgewerteter Quellen en détail skizziert werden. Dabei werden anhand des hier ausgebreiteten Einzelfalls zugleich mehrere Facetten des Fragenkomplexes der Stellvertretung in der spätmittelalterlichen Pfarrseelsorge3 angeschnitten. Aus arbeitstechnischen Gründen gilt der Fokus der Untersuchung mit einigen Rückblenden dem Zeitraum zwischen 1511 und 1524, dem für Tirol noch unbefriedigenden Forschungsstand geschuldet, werden dabei entlang der Chronologie eher deskriptive Momente und Miniaturen systematisch-analytischer Aspekte überwiegen.

I Die erste urkundliche Erwähnung einer Pfarrkirche in Bozen, der ecclesia plebis de Bauçano, stammt von 11904. Bereits um 1078/82 aber wird ein Rechtsakt in cimiterio Pozanę ecclesię vollzogen5, wobei dieser Friedhof identisch sein dürfte mit dem 1184 erwähnten cimiterium ecclesie sancte Marie 6, jener Marienkirche, die erstmals 1208 indirekt als Pfarrkirche bezeichnet wird7. Ein Pfarrer, domnus Rdolfus plebanus de Bauzano, taucht 1195 erstmals in den Quellen auf 8. Im Mai 1259 erwirbt der Tiroler Landesherr, Graf Meinhard II. von Görz, von Trienter Ministerialen die Vogteirechte über die Marienpfarrei9, seither übten die Grafen hier das ius patronatus. Im frühen 14. Jahrhundert war Bozen mit einer Pfründdotierung von 80 Mark knapp 3  Dazu jetzt Enno Bünz, viceplebanus, vicerector, vicecuratus. Stellvertretung als Problem der spätmittelalterlichen Pfarrseelsorge? Blätter für deutsche Landesgeschichte 154 (2018) 277–296. 4  … ante ecclesiam plebis de Bauçano. Tiroler Urkundenbuch I/1. Bis zum Jahre 1200, ed. Franz Huter (Innsbruck 1937) Nr. 459; Codex Wangianus. I cartulari della Chiesa trentina (secoli XIII–XIV) 2, ed. Emanuele Curzel–Gian Maria Varanini (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, fonti 5, Bologna 2007) Nr. 56 (1190 Juni 24). Vgl. neben den älteren Arbeiten Al(ois) Spornberger, Geschichte der Pfarrkirche von Bozen (Bozen 1894), und Karl Atz–Adelgott Schatz, Der deutsche Antheil des Bisthums Trient 1. Das Decanat Bozen (Bozen 1903) 21–48, zur Frühzeit zuletzt Hannes Obermair, Kirche und Stadtentstehung. Die Pfarrkirche Bozen im Hochmittelalter (11.–13. Jahrhundert). Der Schlern 69 (1995) 449–474, und Emanuele Curzel, Le pievi trentine. Trasformazione e continuità nell’organizzazione territoriale della cura d’anime dalle origini al XIII secolo (Pubblicazioni dell’Istituto di scienze religiose in Trento, series maior 5, Bologna 1999) 241–245; zum späteren Mittelalter Friedrich Schneller, Beiträge zur Geschichte des Bisthums Trient aus dem späteren Mittelalter. Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg III/38 (1894) 155–352, hier 184–199 (Regesten), und III/40 (1896) 1–100, hier 30–33. 5  Urkundenbuch I/1, ed. Huter (wie Anm. 4) Nr. 97 (1078–1082). 6 … Bauçani, in cimiterio ecclesie sancte Marie. Urkundenbuch I/1, ed. Huter (wie Anm. 4) Nr. 417; Codex Wangianus 2, ed. Curzel–Varanini (wie Anm. 4) Nr. 28 (1184 Juni 28). 7  Tiroler Urkundenbuch I/2. 1200–1230, ed. Franz Huter (Innsbruck 1949) Nr. 574; Codex Wangianus 2, ed. Curzel–Varanini (wie Anm. 4) Nr. 241 (1208 Februar 7): apud Bauzanum … sub albero iuxta parrochiam; Tiroler Urkundenbuch I/3. 1231–1257, ed. Franz Huter (Innsbruck 1957) Nr. 1079; Codex Wangianus 2, ed. Curzel–Varanini (wie oben) Nr. 48* (1238 September 7): in Bozano, aput albarum ad ecclesiam plebis Sancte Marie. 8  Urkundenbuch I/1, ed. Huter (wie Anm. 4) Nr. 398; Codex Wangianus 2, ed. Curzel–Varanini (wie Anm. 4) Nr. 54*; La documentazione dei vescovi di Trento (XI secolo–1218), ed. Emanuele Curzel–Gian Maria Varanini (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, fonti 11, Bologna 2011) Nr. 28 (1181 Mai 31): presbiter Rodulfus de Balzano; Urkundenbuch I/1, ed. Huter (wie Anm. 4) Nr. 488; La documentazione, ed. Curzel–Varanini (wie oben) Nr. 74 (1195 März 2). 9  Die Regesten der Grafen von Görz und Tirol, Pfalzgrafen in Kärnten 1. 957–1271, ed. Hermann Wiesflecker (Publikationen des IÖG IV/1.1, Innsbruck 1949) Nr. 666 und 667 (1259 Mai 2).



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vor Kaltern die ertragreichste der rund siebzig Pfarreien der Diözese Trient10, 1344 war es zusammen mit Arco und Riva die einzige, an der es eine Vielzahl von Geistlichen gab, die es erlaubte, festliche Liturgien cum ministris, diacono et subdiacono zu begehen11. Im Bozner Becken war die Marienpfarrkirche zunächst die einzige, ihr Sprengel dürfte weitgehend deckungsgleich gewesen sein mit dem des späteren Landgerichts Bozen und Gries12. Noch im 12. Jahrhundert kam es zur Dismembration der Mutterpfarrei, zur Abstückung des Landstrichs rechts der Talfer für die Pfarrei Keller/Gries. Damit war das Pfarrsystem hier für Jahrhunderte im Wesentlichen ausgeformt. Über den Urbarbesitz der Marienpfarrkirche gibt ein seit 1871 in Straßburg erliegendes Urbar aus der Mitte des 15. Jahrhunderts detailliert Aufschluss13, Einkünfte und Ausgaben der Kirchenfabrik erhellen aus den seit 1470 erhaltenen Kirchpropsteiraitungen14, während wir zu der hier vorrangig interessierenden Pfarrpfründe für die Zeit um 1500 über keine entsprechende Quelle verfügen.

II Die materiell gut dotierte Pfarrei der wirtschaftlich und politisch wichtigen Stadt, deren Herr der Herzog seit 1462 war, nutzte der Tiroler Landesfürst auf der Grundlage des ius patronatus laicale vor allem zur Versorgung von Geistlichen aus dem eigenen Umfeld, er besetzte sie regelhaft mit Vertrauenspersonen etwa aus dem herzoglichen Ratsdienst15. Ihre Eignung für den Messdienst und die Seelsorge war dabei ein Aspekt zweiten Rangs, da sie aufgrund von zeittypischer Pfründenkumulation und anderweitiger dienstlicher Beanspruchung meist nicht resident waren und vor Ort von einem Pfarrvikar vertreten wurden. Die drei Bozner Pfarrherren vor der Inkorporation von 1511 entstammten dementsprechend der Entourage des Fürsten, verfügten über eine akademische Graduierung, waren Mitglieder des Brixner [!] Domkapitels und stammten allesamt aus auswärtigen Diözesen16: Wolfgang Neundlinger aus der Diözese Passau (1471–1486 Pfarrer der 10 Hans von Voltelini, Beiträge zur Geschichte Tirols 2. Ein Verzeichnis der kirchlichen Beneficien der Diöcese Trient vom Jahre 1309. Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg III/35 (1891) 135–189, hier 172f.: In longo Athisi. An primis taxamus redditus ecclesie sancte Marie de Caldario septuaginta quinque markas … ecclesie sancte Marie de Bozano octuaginta markas (1309 Mai 13). Die Relationen verdeutlichen auch die Zehntverzeichnisse um 1300: 1295 belasteten die päpstlichen Kollektoren pro negocio regni Sicilie die Pfarreien Kaltern und Arco an den zwei Zahlungsterminen mit je 20 Pfund, die plebs Bolçani mit jeweils 15 Pfund, 1296 Bozen mit insgesamt 25, Arco mit insgesamt 40 Pfund, um 1316 zahlte der Pfarrer von Bozen 8 Pfund, der Archipresbyter von Arco 4 Pfund 10 Schilling, 7 Pfund und 10 Schilling wurden von Kaltern entrichtet. Rationes decimarum Italiae nei secoli XIII e XIV. Venetiae-Histria, Dalmatia, ed. Pietro Sella–Giuseppe Vale (StT 96, Città del Vaticano 1941) Nr. 3237, 3257 und 3324 (1295); Documenti papali per la storia trentina (fino al 1341), ed. Emanuele Curzel (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, fonti 1, Bologna 2004) 521–564, hier 524, 527 und 535 (1295), 551 und 560 (1296); ders., Chiese trentine. Ricerche storiche su territori, persone e istituzioni (Biblioteca dei Quaderni di storia religiosa 4, Sommacampagna–Verona 2005) 58–60 (post 1316). 11  Curzel, Le pievi (wie Anm. 4) 245. 12  Otto Stolz, Politisch-historische Landesbeschreibung von Südtirol (Schlern-Schriften 40, Innsbruck 1937–1939) 246 und 252f. 13  Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire ms. 2111. 14  Bozen, Stadtarchiv Hs. 639– (1470–). 15  Vgl. zur ähnlich gelagerten Situation in Bayern Rankl, Kirchenregiment (wie Anm. 1) 234 und 246. 16  Dazu anhand von Beispielen vor allem aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Sabine Weiss, Ämterkumulierung und Pfründenpluralität. Auswärtige Mitglieder des spätmittelalterlichen Brixner Dom-

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Marienkirche)17 hatte in Wien studiert und ist ab 1458 als Kanoniker des Brixner Kapitels belegt, wo er 1462 bis 1465 die Dignität des Domscholasters, ab 1468 bis zu seinem Ableben im März 1486 die Würde des Dompropsts bekleidete; seit Ende 1462 gehörte er dem Rat Herzog/Erzherzog Sigmunds an. Nach seinem Tod im Frühjahr 1486 wurde der einer Nürnberger Familie entstammende Anton Paumgartner Pfarrer von Bozen (1486– 1492)18. Er hatte an der Universität zu Padua studiert, dort 1473 das Amt des Rektors bekleidet und war 1474 zum doctor iuris utriusque promoviert worden. Im April 1480 ist er erstmals als Domherr zu Brixen belegt, 1485/86 als Domkustos, 1486 folgte er Neundlinger in Brixen auch im Amt des Dompropstes nach, das er – wie die Marienpfarrei – bis zu seinem Ableben im April 1492 bekleidete. Wolfgang von Rorbach, sein Amtsnachfolger in Bozen, stammte aus der Diözese Freising und dürfte verwandt gewesen sein mit dem Küchenmeister, Rat und Vertrauten König Maximilians Sigmund von Rorbach19. Wolfgang hatte in Wien studiert, erscheint ab 1481 als Kapitularkanoniker in Brixen, zwischen 1486 und 1492 war er Spitaler und Pfarrer von Klausen, ab Jahresbeginn 1491 bekleidete er die Kapiteldignität des Domdekans20. Im April 1492 präsentierte ihn der König dem Bischof von Trient für die durch Tod seines Vorgängers erledigte Pfarrei Bozen21, der er an die neunzehn Jahre bis zu seinem Tod am 11. Februar 1511 vorstehen sollte. Kaiser Maximilian nutzte die damit eingetretene Vakanz in seiner Patronatspfarrei zu einem Eingriff in ihr rechtliches Ordnungsgefüge, indem er veranlasste, sie dem von seinem Vater gegründeten und geförderten St.-Georgs-Ritterorden 22 zu inkorporieren. Auch Maximilian war dem Orden eng verbunden, zumal er in dessen Patron auch seinen persönlichen Schutzpatron, seinen patronus singularis, nahezu mystisch verehrte23. Zur materiellen Ausstattung des wirtschaftlich schwächelnden Ordens versuchte er wie bereits sein Vater eine Zudotierung aus Kirchengut, bei dem er über die Vogteirechte verfügte, konkret u. a., ihm die Benediktinerabtei St. Jakob zu den Schotten in Konstanz und die Zisterzienserabtei Viktring zu inkorporieren. In Kärnten scheiterte das Vorhaben am kapitels im Streben nach gesichertem Einkommen und sozialem Aufstieg. Tiroler Heimat 43/44 (1979/80) 163–184. 17 Leo Santifaller, Das Brixner Domkapitel in seiner persönlichen Zusammensetzung im Mittelalter (Schlern-Schriften 7, Innsbruck [1924/25]) 401–403 Nr. 212. 18  Ebd. 415f. Nr. 232; Alois Trenkwalder, Der Seelsorgeklerus der Diözese Brixen im Spätmittelalter (Brixen 2000) 176 Nr. 91. 19  Paul Joachim Heinig, Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik, 3 Bde. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte 17/1–3, Köln u. a. 1997) 396f. 20  Santifaller, Brixner Domkapitel (wie Anm. 17) 440‒442 Nr. 278; Trenkwalder, Seelsorgeklerus (wie Anm. 18) 445 Nr. 1454. 21  Trient/Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46, n. 22 (1492 April 10). 22  Zum Orden vgl. Walther Latzke, Die Klosterarchive, in: Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 6. Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 3, hg. von Ludwig Bittner (Inventare österreichischer staatlicher Archive 5, Wien 1938) 293–679, hier 583–616; Winkelbauer, St. Georgs-Ritterorden (wie Anm. 2); Heinrich Koller, Der St. Georgsritterorden Friedrichs III., in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hg. von Josef Fleckenstein–Manfred Hellmann (VuF 26, Sigmaringen 1980) 417–429; Holger Kruse, St. Georgs-Ritterorden (1469), in: Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland. Ein systematisches Verzeichnis, hg. von dems.–Werner Paravicini–Andreas Ranft (Kieler Werkstücke D/1, Frankfurt a. M. u. a. 1991) 407–416; zum Verhältnis Maximilians zum Orden am ausführlichsten Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. (wie Anm. 2). 23  Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. (wie Anm. 2) passim; Walter Winkelbauer, Kaiser Maximilian I. und St. Georg. MÖStA 7 (1954) 523–550.



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­ iderstand der Stände und des Erzbischofs von Salzburg24. Schwierig und verschlungen W war auch die noch von Friedrich III. angestoßene Inkorporation der Wiener Neustädter Liebfrauenpfarrkirche (seit 1469 Domkirche)25, während die der Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt in Bozen vorderhand unproblematisch erschien. Am 7. Mai 1511 berichtete Maximilian von Kempten aus an den Hochmeisteramtsverwalter des Ordens, Hans Geumann, dass er die vakante Pfarrei Bozen, die seine geistliche lehenschafft sei und seinem Patronatsrecht unterstehe, aus sonnder genediger naigung, so wir zu sand Georgen orden tragen, diesem eingeleibt vnd incorporirt habe. Zugleich habe er den Landeshauptmann Leonhard von Völs angewiesen, Geumann oder dessen bevollmächtigten, nach Bozen zu entsendenden Vertreter in die Possess der Temporalien einzuweisen26. Eine knappe Woche später, am 13. Mai, präsentierte Maximilian dem Ordinarius, Bischof Georg von Trient, den Dechanten des Georgsordens, Hermann Graf, als neuen Pfarrer27. Melchior Pfinzing, Propst zu St. Sebald in Nürnberg und Sekretär Maximilians, berichtete tags darauf wohl an Zyprian von Serntein, Maximilian habe nach noch nicht gezeichneten Schreiben Graf die Pfarrei lediglich auf Widerruf verleihen wollen, der Millstätter Dechant solle vber den costen für den Unterhalt der Pfarrei hinaus jährlich 300 Gulden Rheinisch zurücklegen und diese Summe zum Nutzen des Ordens anlegen28. Mitte August desselben Jahres präzisierte der Kaiser für den Hochmeister seine diesbezüglichen Pläne: Die Bozner Pfarrpfründe werfe 300 Gulden Rheinisch an Absenz ab29; davon sollten 50 als portio congrua an Graf gehen, alsslang er solich pfarkirchen inhaben wirdet, die restlichen 250 Gulden aber seien an den Orden abzuführen und gegen Rechnungslegung ausschließlich für die Befestigung des Ordenssitzes in Millstatt zu verwenden30. Dem Landrichter und dem Amtmann zu Bozen teilte er zugleich mit, dass der von   Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. (wie Anm. 2) 433.  Gertrud Buttlar-Gerhartl, Der St. Georgs-Ritterorden und Wiener Neustadt, in: Studien, hg. Nikolasch (wie Anm. 2) 511–527; Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. (wie Anm. 2) 436f. 26  TLA, Maximiliana IX, Pos. 97, fol. 186r–v (1511 Mai 7, Kempten); ebd. fol. 191r der Entwurf des Schreibens an Leonhard von Völs vom selben Tag. 27   Trient/Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46, n. 23 (1511 Mai 13). Als Dechant des Ordens ist Graf bereits 1497 nachzuweisen: J. F. Böhmer, Regesta Imperii XIV. Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493–1519, Bd. 2, Tl. 1: Maximilian I. 1496–1498, bearb. von Hermann Wiesflecker unter Mitwirkung von Manfred Hollegger–Kurt Riedl–Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Wien–Köln–Weimar 1993) Nr. 4827 (1497 März 30). 28   TLA, Maximiliana XIII/302, fol. 54r (1511 Mai 14, Schongau): Dann von wegen der pfarr in Pozen hab ich die brief enndern mussen vnd darein gestelt, das der hochmeister den dechand zu Mulstat heraus schickhen soll vnd das ime ir mt. solich pfarr nicht lenger dann auf ir mt. widerruffen zuuerwesen leihen well, das er auch jerlichen vber den costen, so zu vnderhaltung gedahter pfarr lauffen wirdet, iii c fl Rh ersparr vnd die zu nuz des ordens anleg, aber ir mt. hat die noch nit zeichnen wellen. Im Antwortschreiben mahnte Serntein Pfinzing an, wo sein mt. den beuelh nit gethan het, in der Sache noch einmal bei Maximilian vorstellig zu werden, dan es ist ein grosse pharrmenig zu Botzen, wo der gotsdienst nach gelassn vnd nit verbracht wurd, wár es schwer. HHStA, Maximiliana 24-3-61, fol. 118v und 120r (1511 Mai 25, Innsbruck). 29   TLA, Maximiliana IX, Pos. 97, fol. 187v–188r (1511 August 16, Pergine). 30   … vnd emphelhen dir [i. e. Geumann] darauf ernnstlich, das du … mit oberrurten iijc gulden reinisch die mauern vnd den einfang zu Milstat wie dann derselb angefangen vnd furgenomen ist, aufbawest vnd dermassen fursehung thuest, damit dasselb vor vberfall verwant seÿ vnd gedacht gelt in khainen andern weg noch weise wendest noch ausgebest, sonder solich ausgaben eÿgentlichen aufschreÿben lassest, damit d vnns auf vnser erfordern deshalben wie sich geburt lauter antzaigen vnd raithung zu thuen wist, dann wir in sonnderhait deshalben raittung haben wellen, … . Tatsächlich war auch Millstatt zwischen 1473 und 1483 ins Visier der in mehreren Wellen in Kärnten einfallenden Türken geraten. Vgl. dazu die eindrücklichen Berichte bei Jakob Unrest, Österreichische Chronik, ed. Karl Grossmann (MGH SS rer. Germ. N. S. 11, Weimar 1957) passim. 24

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Wolfgang von Rorbach eingesetzte Pfarrvikar Georg Locher noch bis Lichtmess 1512 an der Pfarrkirche zu belassen sei, diese aber mit dem 2. Februar on alle ferere auszug oder weÿgerung an Graf abzutreten habe31. Vom selben Tag stammt auch der ebenfalls in Pergine ausgestellte Revers Hermann Grafs, mit dem er die Absenzregelung bestätigte32. Kurz danach, am 26. August, investierte ihn Bischof Georg von Trient mit der Marienpfarrei33. Zur Ausstattung Grafs hatte der Hochmeisteramtsverwalter in der Zwischenzeit von einem der früheren Pfarrvikare, Magnus Wirsung aus Augsburg, dessen im Bozner Pfarr­ hof zurückgelassene Fahrhabe erworben34. Im Herbst 1511 berichtete Hermann Graf ausführlicher an Geumann über seine zu Ägidi (1. September) erfolgte Einweisung in die Possess35: Zunächst habe es viel widderwertickait gegeben, da man – wohl nicht zu Unrecht – in Bozen ettleich grossen vngunst befürchtete von wegen der absentz, die Ablösung des Vikars auff dye liechtmess wurde besprochen. Der Stadtrat habe ihn mit den Pflichten in Bezug auf Gottesdienste und seelsorgliche Betreuung vertraut gemacht, wan sie wellen iren pfarrer pey in haben vnd kein vicari. Bei der Possessgebung habe der Landrichter fur der kirchtor vor dem Rat und der Gemeinde die Einantwortungsurkunde Maximilians verlesen, das „advenisti desiderabilis“ wurde angestimmt, Graf zum Hochaltar geleitet, wo er ein gesungenes Amt von vnser lieben frawen, dye patrona ist der pfarkirchen, zelebriert habe. Schließlich machte der Dechant den Hochmeister darauf aufmerksam, dass er aus der Pfründe bis Lichtmess 1512 über keine Einnahmen verfüge, erst dann so gett des vicari jar aus vnd das mein ein. Bereits ein Jahr später, am 2. September 1512, sah sich Graf in einem in Millstatt ausgestellten Schreiben krankheitshalber (nach dem ich mit schwarer kranngkhait beladenn pin vnnd der pfar zu Potzenn als rechter selsorger nit wol vnnd ordennlich vor sein mag als sich geburt) veranlasst, die Marienpfarrei zu resignieren und mit Zustimmung des Hochmeisters dem bisherigen rector der Georgspfarrkirche zu Sternberg36, Hans Reimann (Ryman), Profess des Georgsordens, zunächst auf ein Jahr als Vikar zu überlassen 37. Unmittelbar darauf verschied Graf mit Hinterlassung eines eigenhändig verfassten Testaments38.   TLA, Maximiliana IX, Pos. 97, fol. 187r–v und 190r (1511 August 16, Pergine).  KLA, AUR 1511 August 16, https://www.monasterium.net/mom/AT-KLA/AUR/AT-KLA_418-BA_1743_St/charter [28. 12. 2019]. Graf unterfertigt die Urkunde mit seinem Petschaft und der Unterschriftsformel: ego Hermannus Graff decanus ordinis sancti Georii manu mea propria subscripsi. 33  Bozen, Propsteiarchiv, Urkundenreihe 81 (1511 August 26, Trient). 34   KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 34v. 35   Ebd. fol. 1r. 36   Friedrich III. vereinigte das Amt Sternberg (Gde. Wernberg, Bez. Villach-Land) mit der Herrschaft Landskron und schenkte es dem St. Georgs-Ritterorden; aber auch in diesem Fall sollte sich die Erwerbung durch den Orden als verschlungener, über Jahrzehnte hinziehender Prozess erweisen. Vgl. Gotbert Moro, Art. Sternberg, in: Handbuch der historischen Stätten. Österreich 2, hg. von Franz Huter (Stuttgart 21978) 312f., und namentlich Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. (wie Anm. 2) 438f. 37  KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 2r (1512 September 2, Millstatt) und 34v: Nun hat der vilberúrt vnnser dechant die pharr ain zeit lang besessen, alda er erkranngkht, dardurch er herab [nach Millstatt] begert. Deshalben wir herrn Hannsen Reinman, auch vnnser profess sannd Georgen ordens, hinauf [nach Bozen] geschigkht vnnd der techant herab khomen. 38  Dieses ist, nicht datiert, an Geumann gerichtet, dürfte aber aus ebenjenen Tagen stammen. Ebd. fol. 3r–4r: darin stellte er u. a. die Pfründe Mitterdorf (Amt Reichenau, Bez. Feldkirchen) dem Orden zurück, von der Absenztaxe daraus sollte ein Kelch für die Bozner vnser lieben frawen pruderschafft erworben werden, er bedachte Arme, die (Bozner) Gesellpriester und deren Bruderschaft, ferner die Ritterbrüder und Jungherren des Ordens, traf Verfügungen bezüglich der Totenmesse, des Dreißigsten und seiner Fahrhabe (Bargeld, eine Schaube, drei Silberbecher; sein Agnus dei und das kreutzlin sollten zum heiltumb in dye kirchen gegeben werden). Abschließend bat er Geumann, dem allem zuzustimmen (pitt mein allerliebesten gnedigisten hern vnd vater 31 32



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Am 15. September übertrug Bischof Georg von Trient Reimann die Seelsorge über die Pfarrei Bozen für die folgenden zwei Monate oder bis auf Widerruf durch den kaiserlichen Patronatsherrn39. Tatsächlich dürfte Reimann der Pfarrei nur interimistisch vorgestanden haben. Bald war auch er daselbst zu Potzen … erkhranngkht und wollte zurück nach Oberkärnten, woraufhin das Millstätter Ordenskapitel in Abwesenheit und ohne Wissen Geumanns ein anderes Mitglied des Ordens zu ainem ausrichter oder verwalter nach Bozen schickte40: Ulrich Lehendorffer aus dem mittelfränkischen Happurg hatte 1489 sein Artes-Studium in Ingolstadt mit dem Magistergrad abgeschlossen41, war Maximilians Kaplan und Senior des Georgs-Ritterordens, gehörte also zu dem dem Hochmeister unterstützend beigesellten Rat. Er dürfte die Verwaltung der Marienpfarrei spätestens mit Lichtmess 1514 übernommen haben, in jenem Monat vermeldete Lehendorffer dem Hochmeister den vollständigen Verkauf des Zinsweins und überwies Geumann 100 Pfund42. Augenscheinlich sollte auch Lehendorffer rasch wieder abgezogen werden, wogegen im Herbst 1514 Bürgermeister und Rat vorderhand aus Sorge um eine angemessene pastorale Betreuung der Stadt bei Maximilian intervenierten43: Die Marienpfarrei sei bey vnnsern vorfodern auch vnns alle zeÿt mit hochgelertten vnd bequemen pfarre[r]n vnd vicarien versehen worden, auch der jüngst vom Georgsorden bestimmte wolgelertte frume priester … maister Vlrich Lehendorffer sei seinen gottesdienstlichen Pflichten an der Pfarrkirche und ihren Zukirchen in eigener Person und durch annder gelert priester bestens nachgekommen, habe auch die Pfarrschule bisher mit der prebent tróstlich vnd wol versehen, auch gebe sein Lebenswandel und der der ihm unterstehenden priesterschafft keinen Anlass zu Beanstandung. Seine nunmehr im Raum stehende Ablösung durch einen frómbde[n] vicari wolle der kaiserliche Patronus überdenken, damit die angezaigtenn stifften vnd gotßdiennst zw mererm trost der lebenntigen auch der verschinen lieben selen mit wol schickung gehallten vnd versehen werden. Zwischenzeitlich empfahl sich der bereits genannte Magnus Wirsung dem Hochmeister Geumann mit dem Angebot, die Pfarrei auf sechs Jahre ab Lichtmess 1515 gegen 300 Gulden Absenz zu übernehmen, zusätzlich Steuer und Wassergeld, ferner die jährlichen 14 Gulden an die Abtei St. Ulrich und Afra nach Augsburg zu entrichten, 10 Pfund Pfennige zu pesserung vnd nutz am Pfarrhof zu verbauen und den Hochmeister dort jedes Jahr über einen Zeitraum von fünf Wochen mit vier oder sechs Pferden auszuhalten44.

III Die Intervention der Stadt bei Maximilian dürfte aber letztlich erfolgreich gewesen sein. Wirsung kam jedenfalls nicht zum Zuge, erst im Spätherbst 1516 jedoch präsenvmb erlawbnus durch Gotz willen solchs wel lassen geschehen … fol. 4r). Auf fol. 5r verzeichnete Graf seine Schulden: Allein der Marienpfarrkirche schuldete er 90 fl Rh, bei seinem Gesellpriester Niklas Moser von Kempten stand er mit 100 fl Rh in der Kreide. 39   Ebd. fol. 6r (1512 September 15, Trient). 40   Ebd. fol. 17r–v und 35r. 41   https://resource.database.rag-online.org/ng.XN6q274Wv05mtFrXGm4Vjq [9. 12. 2019]. 42   KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 7r (1514 Februar 10, Bozen). 43   Ebd. fol. 8r–v und 10r–v (1514 Oktober 10, Bozen). 44   Ebd. fol. 34v–35r.

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tierte der Kaiser Lehendorffer dem Trienter Ordinarius als Pfarrer45. In der entsprechenden Urkunde werden weder Reimann noch Wirsung erwähnt, vielmehr habe Ulrich ipsam ecclesiam citra obitum memorati Hermanni [Graf ] per administrationem innegehabt. Die Investitur durch Bischof Bernhard von Trient folgte zügig46, die Possessgebung dürfte unmittelbar danach erfolgt sein. Für die Nahbeziehung des Kaisers zu Lehendorffer und zum Orden spricht ein exzeptioneller47 Gratialakt, den Maximilian wenige Monate darauf im Februar 1517 in Antwerpen setzte48: Er verlieh der Marienpfarrkirche, deren aktuellem rector sive plebanus Lehendorffer sowie dessen Amtsnachfolgern als Pfarrer ein Wappen, ein entsprechendes Wappensiegel und die Rotwachsfreiheit, d. h. das prestigereiche, wenn auch rechtlich unerhebliche Vorrecht, auf rotem Wachs zu siegeln49. Das Wappen – die qualitätsvolle, wenn auch heraldisch nicht ganz präzise Miniatur ist einem flämischen Buchmaler der sogenannten Gent-Brügger-Schule zuzuweisen50 (Abb.1) – zeigt über silbernem Schildfuß, darin ein rotes Kreuz51, in Rot einen silbernen Balken, davor in goldenem Strahlenkranz eine blau gewandete Muttergottes auf einer liegenden Mondsichel stehend, mit der Rechten den nackten Jesusknaben haltend, in der Linken ein silbernes Szepter. Das Wappenbild nimmt zum einen mit dem österreichischen Bindenschild Bezug auf den kaiserlichen Patronatsherrn, das Georgskreuz wiederum ist ein Hinweis auf den nominellen Pfarrherrn, den St.-Georgs-Ritterorden, die Muttergottes schließlich ist zugleich Patronin und Eigentümerin der Pfarrkirche. Eine klare Parallele ergibt sich damit auch zum Stadtwappen, das den farbverkehrten Bindenschild mit einem auf den roten Balken gelegten sechs45  Trient/Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46, n. 24 (1516 November 4, Bregenz). 46  Schneller, Beiträge 1894 (wie Anm. 4) 196 (1516 November 15). 47   Wappenbriefe für Pfarrkirchen dürften, wenigstens was den deutschen Sprachraum betrifft, ausgesprochen selten gewesen sein, weder Prof. Dr. Enno Bünz (Universität Leipzig) noch PD Dr. Andreas Zajic (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien) sind vergleichbare Fälle bekannt. Auch die jüngste umfassende handbuchartige Studie Gerhard Seibold, Der Wappenbrief. Ein Kompendium 1 (Wien–Köln–Weimar 2020) 348, nennt nur das Bozner Beispiel. Erst von 1631 stammt der Wappenbrief Kaiser Ferdinands II. für die den Serviten inkorporierte Michaelispfarrkirche in der Prager Altstadt und für deren Mariae-Verkündigungs-Kloster in der Prager Neustadt, Jan Županič–Michal Fiala–Pavel Koblasa, Šlechtický archiv c. k. Ministerstva vnitra. Erbovní listiny Národního archivu, Státního oblastního archivu v Praze, Archivu hlavního města Prahy (dodatky), Archivu národního muzea (dodatky) [Das Adelsarchiv des k. k. Ministeriums des Innern. Wappenbriefe des Nationalarchivs, des Staatlichen Gebietsarchivs in Prag, des Archivs der Hauptstadt Prag (Nachträge), des Archivs des Nationalmuseums (Nachträge)] (Praha 2014) 374f. Nr. 105 (1631 April 19). 48   Bozen, Stadtarchiv, Urkundenreihe I, 1517 Februar 10. Vgl. die Edition hier im Anhang, S. 195f. Jetzt auch unter https://www.monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1517-02-10_Bozen/charter [5. 2. 2020]. 49   In Tirol hatte Maximilian ansonsten vor allem Städte mit der Rotwachsfreiheit begabt. Vgl. Gustav Pfeifer, Die Zeichen der Stadt. Merans Siegel im Mittelalter, in: 1317 – Eine Stadt und ihr Recht. Meran im Mittelalter. Bausteine zur Stadtgeschichte, hg. von dems. (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 43, Bozen 2018) 401–420, hier 418f. 50   Dazu Martin Roland, Medieval Grants of Arms and their Illuminators, in: Heraldic Artists and Painters in the Middle Ages and Early Modern Times, hg. von Torsten Hiltmann–Laurent Hablot (Heraldic Studies 1, Ostfildern 2018) 135–155, hier 154f.; künftig auch ders., Wappen – Kunst. Zur kunsthistorischen Relevanz von mittelalterlichen Wappenbriefen, in: Wappenbriefe und Standeserhöhungsurkunden als Ausdruck europäischen Kulturtransfers, hg. von Petr Elbel–Andreas Zajic (voraussichtlich Wien 2020). 51  In der Miniatur irrigerweise als schwebendes Tatzenkreuz dargestellt. Vgl. Harald Drös, Die Wappen am Grabmal Friedrichs III., in: Der Kaiser und sein Grabmal 1517–2017. Neue Forschungen zum Hochgrab Friedrichs III. im Wiener Stephansdom, hg. von Renate Kohn–Sonja Dünnebeil–Gertrud Mras (Wien u. a. 2017) 119–150, hier 123f.



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Abb. 1: Miniatur des Wappenbriefes Maximilians I. für die Pfarrkirche und den Pfarrer von Bozen, Antwerpen, 1517 Februar 10 (Bozen, Stadtarchiv, Urkundenreihe I, sub dato) (Aufnahme Stadtarchiv Bozen).

strahligen (goldenen) Stern, der stella maris, einem Sinnbild für Maria, die Schutzherrin der städtischen Gemeinschaft, verbindet52. Knapp vor und zu Lehendorffers Amtszeit ließ die Stadt ihr Wappen an der Pfarrkirche und namentlich an ihrem Prestigeobjekt, dem 1499 vom Augsburger Stadtbaumeister Burkhardt Engelberg entworfenen, 1519 fertigge52  Vgl. Werner Dobler, Art. Meerstern, Stern des Meeres (stella maris). Marienlexikon 4 (1992) 384f.; Gustav Pfeifer, Sanctus Vigilius und stella maris. Siegel und Wappen der Stadt Bozen im Mittelalter, in: Anno 1363. Tatort Tirol. Es geschah in Bozen (Runkelsteiner Schriften zur Kulturgeschichte 5, Bozen 2013) 163– 198, hier 183–197.

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Abb. 2: Wappensiegel des Bozner Pfarrers Ulrich Lehendorffer, Abdruck auf einer Urkunde von 1521 (Trient/ Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46 n. 5) (Aufnahme Gustav Pfeifer).

stellten spätgotischen Aufsatz des Nordturms, an mehreren Stellen prominent platzieren: So an den 1521 gefertigten, 1944 weitgehend zerstörten Türflügeln des Westportals, 1508 als Schlussstein im Gewölbe der Glockenstube, als pars pro toto zwei skulptierte sechsstrahlige Sterne an der stadtzugewandten Nordseite des ersten Geschoßes des Nordturms knapp unterhalb der Turmschlaguhr, und – ebenfalls in Sandstein gehauen – in der Form zweier zueinander gelehnter tartschenförmiger Schilde mit Tragriemen am Schallfenster der Westflanke des zweiten Turmaufsatzgeschoßes. Lehendorffer dürfte sich unmittelbar nach Erteilung des Privilegs auch den Stempel für sein (neues?) Siegel haben schneiden lassen53. Der einzige bekannte Abdruck – auf rotem Wachs unter Papierdecke – ist an einer Urkunde von 1521 aufgedrückt (Abb. 2)54. Das kreisrunde Siegel (37 Millimeter im Durchmesser) zeigt im Feld einen Halbrundschild mit beidseitig ausgezogenem, in die Umschriftleiste ragendem Oberrand und seitlichen Einbuchtungen, darin, einen damaszierten Balken überdeckend, die gekrönte Muttergottes (die Krone im Feldsegment über dem Schild) im Strahlenkranz auf einem steigenden Halbmond stehend, mit der Rechten den Jesusknaben haltend, darunter, die Umschriftleiste unterbrechend, in einem eigenen Halbrundschildchen ein gemeines 53  Dass Lehendorffer zuvor ein anderes Siegel führte, ist wahrscheinlich, aber nicht belegt. Zur Siegelführung von Pfarrern und Pfarreien vgl. grundsätzlich Enno Bünz, Spätmittelalterliche Pfarrei- und Pfarrersiegel, in: ders., Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.–16. Jahrhundert (Spätmittelalter, Humanismus Reformation 96, Tübingen 2017) 334–353. 54  Trient/Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46, n. 5 (1521 August 26): sigillum suum proprium presentibus apposuit. In einer Erbbaurecht- und Zinslehenverleihung von 1519 kündigt Lehendorffer zwar sein Hängesiegel an, die naturwachsfarbene Siegelschale hängt auch an Pergamentstreifen, allein es fehlt die mit dem Stempel beprägte (bzw. zu beprägende) rote Wachsplatte (Bozen, Propsteiarchiv, Urkundenreihe 88, 1519 November 14).



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Kreuz, das Georgskreuz. Die Umschrift in Frühhumanistischer Kapitalis55 weist das Siegel als persönliches Siegel des Pfarrers aus: + · | VLRICH · LEHENDO | RFER · PFARRER · SV · | BOTSEN ·. Eine Abschrift des Wappenbriefs schickte der Pfarrer im Juni 1518 an den Hochmeister Geumann nach Millstatt56.

IV In die Amtszeit Lehendorffers fiel nicht nur die spätgotische Ausstattung der Mariae Himmelfahrt-Pfarrkirche mit einer neuen Kanzel (1513/14) und die mit großem – auch finanziellem – Engagement von der Stadt vorangetriebene Vollendung des Nordturms, auch die in einer längeren Tradition stehenden geistlichen Spiele erreichten 1514 mit der einwöchigen Passion, der größten ihrer Art, einen Höhepunkt57. Die Austauschbeziehungen zwischen Pfarrer und Stadt dürften also sehr intensiv gewesen sein, der auf uns gekommene archivalische Niederschlag aber ist eher bescheiden58, und entsprechend wird der Pfarreialltag auch nur in Bruchstücken fassbar. Da ging es etwa um Details zur Verwaltung der Präbende: Im November 1519 verlieh Lehendorffer dem Amtmann der ritteradligen Brandis, Konrad Stetpacher, einen kleinen Weingarten beim Vltnerhauß (heute Rauch) in Niederlana gegen zwei jährlich zu Martini zu reichende Kapaune59; im Jahr darauf zitierte der wýrdige wolgelerte herr Vlrich Lehendorffer pfarrer zu Botzen seinen säumigen Zinsmann Jörg Rungger, der je eine Yhre Wein als Gült und Zehnt aus seinen Gütern bei der St. Oswald-Kapelle ob der stat Botzenn entrichten sollte, vor den Landeshauptmann Leonhard von Völs60. Zusätzlich zur Pfarrpfründe hatte Lehendorffer seit Jänner 1515 auch das Benefizium der zu den Zukirchen der Pfarrkirche zählenden Jakobskapelle auf dem Friedhof mit wöchentlicher Messverpflichtung von Bischof Bernhard von Trient auf Widerruf in com­[m]enda, also zu bloßen Nutzungszwecken, inne, im November 1518 sollte er vor den präsentationsberechtigten Kirchpröpsten in Gegenwart eines Notars darüber Rechnung legen61. 55   Die Umschrift zeigt typischerweise offenes unziales D und zweibogiges E, das N ist jeweils retrograd. Zu diesem Schrifttypus zuletzt Walter Koch, Die Frühhumanistische Kapitalis. Eine epigraphische Schrift zwischen Mittelalter und Neuzeit im Umfeld Kaiser Friedrichs III., in: Der Kaiser, hg. von Kohn et al. (wie Anm. 51) 89–118. 56   Ich schick e. f. g. ain copey des wappen briefs so mich k. mat. hatt gedenedigklichen [!] begabt, do mir kayserlich mat. die pfar Potzen hat verlihen. KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 12r (1518 Juni 28, Bozen). 57  Joseph Eduard Wackernell, Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol. Mit Abhandlungen über ihre Entwicklung, Composition, Quellen, Aufführungen und litterarhistorische Stellung (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Litteratur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer 1, Graz 1897) XIX–XXX und XL–L; Norbert Richard Wolf, Art. Bozner Passionsspiele. VL2 1 (1978) 979–982; Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet 1 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84, München–Zürich 1987) 130–246; Hannes Obermair, Die soziale Bühne der Stadt. Vigil Raber und der Spielbetrieb in Bozen um 1500 – eine sozialhistorische Skizze, in: Vigil Raber. Zur 450. Wiederkehr seines Todesjahres, hg. von Michael Gebhardt–Max Siller (Schlern-Schriften 326, Innsbruck 2004) 147–159; Reinhard Strohm, Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich: https://musical-life.net/kapitel/geistliches-spiel-und-umgang [27. 12. 2019]. 58   Für die Jahre zwischen 1506 und 1524 fehlen zudem die Ratsprotokolle, die allerdings im Regelfall wenige die Pfarrei betreffende Einträge enthalten. 59  Bozen, Propsteiarchiv, Urkundenreihe 88 (1519 November 14). 60  Ebd. Urkundenreihe 118 (1520 Juni 9). 61  Ebd. Urkundenreihe 87 (1518 November 8, Trient). Zur commenda vgl. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche (Köln–Wien 51972) 397 und 422.

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Die Gesellpriester bildeten im Pfarrhaus eine dem Pfarrer auch gottesdienstlich unterstehende Hausgemeinschaft62, Aufnahme und Entlassung von socii waren dem Bozner Stadtrecht von 1437 nach aber an die Bewilligung des Stadtrats gebunden63. Die Priesterschaft an der Pfarrkirche vereinigte sich unter dem Pfarrherrn zu gemeinsamen Funktionen im Chor, davon zeugt das heute an die Westwand gestellte, nach der Mitte des 15. Jahrhunderts gefertigte Chorgestühl. Im ausgehenden Mittelalter wurde die Priestervereinigung durch Zutritt von Laien zur Priesterbruderschaft erweitert64. Sie verfügte an der Marienkirche auf der Evangelienseite über einen eigenen, von ihr gestifteten Altar, den 1509 geweihten Hieronymusaltar mit einem 1510/17 eingerichteten Kaplaneibenefizium, hier übte die Bruderschaft auch das Patronatsrecht65. 1521 präsentierten die Benefiziaten am Dreikönigs- und am Katharinenaltar sowie Lehendorffer als Vertreter der fraternitas sacerdotum et beneficiatorum parrochialis ecclesie beate Marie virginis opidi Bozani den bisherigen ständigen Kaplan am Vigiliusaltar Andreas Ingram auf die durch Tod des Vorgängers vakante Kaplanei am Hieronymusaltar66; bald müssen Altar und Pfründe auf den Pfarrer übergegangen sein, knapp nach Lehendorffers Hinscheiden im September 1524 präsentierten die presbiteri beneficiati et confessores fraternitatis beneficiatorum dem Bischof von Trient Leonhard Weidinger hier als dessen Nachfolger67. Ende 1517 bestellte Federico Pacifico, Prior von Terni, Thesaurar der Ablasskommissare des Heilig-Geist-Ordens sowie per totam Alemaniam superiorem deputatus des Präzeptors des Hospitals Santo Spirito in Sassia (Rom), Alessandro Neroni, den Bozner Pfarrer Lehendorffer zum Prokurator für den an der Marienpfarrkirche an der Epistelseite neu gestifteten Nothelferaltar samt Almosenstock (altare unacum trunci apposicione). Hier bestand monatliche Messverpflichtung, die Gelder aus dem einmal jährlich zu leerenden Opferstock gingen zu einem Drittel an die Bauhütte der Pfarrkirche und zu zwei Dritteln an den Präzeptor des Ordens. In der Pfingstoktav hatte der Pfarrer für die Mitglieder der Nothelfer-Bruderschaft, die in dieser Zeit den Altar zu besuchen und 2 Kreuzer in den Opferstock zu legen hatten, geeignete Beichtväter zu stellen68. Waren hier die Kirchpröpste und der gesamte Rat an der Einrichtung des Altars interessiert, so war der Pfarrer andererseits regelmäßig bei der Rechnungslegung der Kirchpröpste anwesend69, auch der Wasserschreiber der Flurnutzungsgemeinschaft (Leeg) „in der Rigl“ legte 1520 seine Rechnung vor hern Vlrichen Lechndorffer senator vnd pfarer hie 62   Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire ms. 2111, fol. 97r–98r; Trient/Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46, n. 1 (1447/69). 63   Bozen Süd – Bolzano Nord. Schriftlichkeit und urkundliche Überlieferung der Stadt Bozen bis 1500 2. Regesten der kommunalen Bestände 1401–1500, ed. Hannes Obermair (Bozen 2008) Nr. 996, Punkt 32 ([14]37). 64  Ihr gehörte etwa auch der mehrfache Bürgermeister Sigmund Gerstl († 1515) an. Bozen, Südtiroler Landesarchiv, Archiv Payrsberg Nr. 451, fol. 8r (1514 November 8): in der briesterbruederschafft als ain mitprueder. 65  Spornberger, Pfarrkirche (wie Anm. 4) 29f., 35f. und 44; Schneller, Beiträge 1894 (wie Anm. 4) 197 (1517 Juni 11). 66  Trient/Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46, n. 5 (1521 August 16). 67   Ebd. capsa 46, n. 6 (1524 September 29, Bozen). 68  Bozen, Propsteiarchiv, Urkundenreihe 86 (1517 Dezember 7, Bozen). Zur Tätigkeit des Heilig-GeistOrdens um 1500 vgl. Andreas Rehberg, „Ubi habent maiorem facultatem … quam papa“. Der Heilig-GeistOrden und seine Ablasskampagnen um 1500, in: Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, hg. von dems. (BDHIR 132, Berlin u. a. 2017) 219–270. 69  Belegt etwa zu 1519 (Bozen, Stadtarchiv Hs. 670, fol. 260r–v, und Hs. 140, fol. 59r, 1519 August 31) und 1521 (ebd. Hs. 140, fol. 73r, 1521 September 2).



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zu Bozn70. Im April 1521 vidimierten Bürgermeister und Rat von Bozen auf Ersuchen des Pfarrers und des Benefiziaten der Bozner Dreifaltigkeitskapelle Jakob Weidinger für sich und den Klerus der Bistümer Trient und Brixen die von Maximilian am 6. September 1493 bestätigte Urkunde (Erz)Herzog Ernsts vom 14. Februar 1413, mit der dieser den Prälaten und der Priesterschaft der beiden Diözesen die Testierfreiheit für ihr Hab und Gut verliehen und den Zugriff von Nichtgeistlichen auf Pfarrhöfe und Gotteshäuser unter schwere Strafe gestellt hatte71.

V Mit der endlichen Einsetzung Geumanns zum Hochmeister und seiner Erhebung in den Fürstenstand auf dem Innsbrucker Ausschusslandtag der österreichischen Länder im März 1518 kam es zu einem schrittweisen Rückzug Maximilians aus den Ordensagenden. Vollends nach dem Tod des Kaisers „gab es keine ernsthaften Versuche mehr, den St. Georgs-Ritterorden zu unterstützen und auszubauen“72. Nicht von ungefähr nahmen mit 1519 die Auseinandersetzungen zwischen Pfarrer und Hochmeister um – aus der Sicht Geumanns – disziplinarische Probleme73 und ausbleibende Absenzgebühren an Schärfe erheblich zu. Dabei waren die Zahlungen über vom Hochmeister nach Bozen entsandte Boten bereits vor 1519 nicht immer reibungslos und meist nur in Teilen erfolgt74. In den folgenden Jahren bis 1524 fand die Causa pharrer zu Botzen contra Múlstat75 in Memoranden, Instruktionen, Petitionen, Sachverhaltsdarstellungen, Gegendarstellungen und Schriftsätzen für Tagsatzungen, die vornehmlich zwischen Millstatt, Bozen, Innsbruck und Wien ausgetauscht wurden, dichten schriftlichen Niederschlag. Dabei ging es zentral immer auch um die Rechtsposition Lehendorffers, nämlich ob er nun, von Maximilian präsentiert und vom Ordinarius investiert, effektiv Pfarrherr oder durch die Inkorporation lediglich Pfarrvikar und damit dem nominell als parochus habitualis fungierenden Orden zu Obödienz und Pensionszahlungen verpflichtet war76. 1521 bemerkte Geumann in seiner Denkschrift an Karl V. zur Lage des Ordens u. a.   Ebd. Hs. 140, fol. 111v (1520 Februar 23).   Bozen, Propsteiarchiv, Urkundenreihe 121 (1521 April 22); eine Ausfertigung der inserierten Urkunde ist TLA, Urkunde I 1693 (1493 September 6). Ende Juni 1521 regelte das Innsbrucker Regiment nach einer Klage der gemaine[n] priesterschafft inn dem lanndt ann der Etsch die Nachlassverwaltung Geistlicher so, dass Richter und Pfleger nach dem Tod das verlassene Hab und Gut zu inventarisieren und zu versiegeln sowie das Widum bis zur Possessgebung des Amtsnachfolgers zu verwalten hatten, die Fahrhabe hatte nach Abzug der angelaufenen Verwaltungskosten an die Erben des Priesters zu fallen, bei erbenlosem oder ab intestato eingetretenem Tod an das jeweilige Gotteshaus. Bozen, Propsteiarchiv, Urkundenreihe 121 (1521 Juni 29). 72  Koller, St. Georgs-Ritterorden (wie Anm. 2) 428. 73  Das Ordensgelübde umfasste neben der Keuschheit auch den Gehorsam. Vgl. Kruse, St. Georgs-Ritterorden (wie Anm. 22) 414. 74  Zwischen 1514 und 1519 empfing Geumann aus Bozen Zahlungen in Höhe von insgesamt 857 Gulden 2 Schilling und 12 Pfennig (KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 50r–51r). 1518 ließ Lehendorffer über Utz Ratsetzer ausnahmsweise die volle Absenz von 300 Pfund nach Millstatt überweisen, allerdings – so stellte der Hochmeister fest – habe der Bote für 6 lb 12 d … pese munß bracht (ebd. fol. 50v). 75  TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, Von der fürstlichen Durchlaucht 1523–1526, 2, fol. 68v (1524 März 5). 76  Zur rechtlichen Seite vgl. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte (wie Anm. 61) 398–401 und 409–411; Peter Landau, Art. Inkorporation. TRE 16 (1987) 163–166. 70 71

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über die Situation in Bozen: die pharr Potzen hatt kaÿ. mt. hochlóblicher gedáchtnuss dem ordn auf das pa Múlestat geben, dauon sollt mir ain pharrer járlich dritthalbhundert phundt phening raichen, wie dan vorgemellt ist. Gibt aber derselben nicht, zeucht mir vill daran ab, als stewr, wassergellt vnd anders. Wie woll ich ain gehebt mit namen Wirsing [!], der dem orden von gedachter pharr drehundert phunndt phening geben, hett dennocht all sachen auf sein darlegen enntricht, z dem ist mir der pharrer daselbst auch widerspanig, das er als ain ordennsbrueder nitt thun sollt, vnd wider dy regl sein aid aller geisstlichen gesatzten ist. Bitt e. kaÿ. mt. mir mit genediger hillf zu erscheinen, damit ich gedachtn pharrer z  gehorsam bring, dan sein muttwilliger handl macht anndern pós gedannkhen vnnd mag vill aufrur darauß erwachsen77. Bereits 1519 oder 1520 hatte der Hochmeister dem Innsbrucker Regiment die Missstände in Bozen auseinandergesetzt und dieses aufgefordert, im Namen des Königs – als rechten vnd naturlichen des ordens erbhern vnd stiffter – Lehendorffer zum Gehorsam gegenüber seinem Ordensoberen anzuhalten78. Ende Jänner 1521 antwortete der Bozner Pfarrer auf die von den Boten Christian Entfelder, dem Pfarrer von Millstatt, und Utz Ratsetzer überbrachte Vorladung und die Klagepunkte Geumanns: Er könne nach radt der ertzt nicht nach Millstatt kommen, es gebe zudem Umtriebe, die Pfarrei nach seinem Abgang dem Orden zu entziehen, wann vnnser aller liebhaber vnnd patron hochloblicher gedachtnus k. Max.an der ist hin vnter vnnd wir kain liebhaber yetzunt haben79. Er wolle daher von einem Notar ein entsprechendes Instrument aufsetzen und die Belege für die Inkorporation zusammenfassend verschriftlichen und dem Hochmeister zukommen lassen. Zu Jahresende 1521 wiederholte Geumann seine Klagepunkte in einer Instruktion wohl für einen nach Bozen zu entsendenden Kapitular. Lehendorffer habe, nachdem er ihn in Bozen lediglich als Verwalter eingesetzt hatte, nach der Possessgebung ohne sein Wissen und ohne seine Zustimmung ain presentacion vnd confermacion … erworben und sich in der Folge ihm gegenüber widerspánig gezeigt. In Bozen solle der Vertreter des Ordens vor allem von allen jarn, so er [Lehendorffer] vnnser pharrverwalter gewesen, aufrichtig raittung verlangen, gegen Quittung die dem Orden geschuldete Summe eintreiben und die Vollmacht haben, bei weiterer Renitenz gegen den Pfarrer notfalls auch rechtlich vorzugehen und dabei vom Bischof von Trient, vom Innsbrucker Hofrat, vom Bozner Landrichter und von der Stadt Unterstützung anzufordern80. Die im Raum stehende Gefahr des Verlusts der Pfarrei scheint auch den Hochmeister zwischendurch zu einer milderen Position verleitet zu haben: In einem Schreiben an den Pfarrer von Ende Februar 1523 berichtete Geumann, er sei von seinem Anwalt unterrichtet, dass es angesichts der angeschlagenen Gesundheit Lehendorffers in Bozen bereits drei Anwärter auf die Pfarrei gebe (das ier dreý zw Pozen sein, die auf ewren tod wartten) und deren künftige Zugehörigkeit zum Orden auf dem Spiel stehe, daher wolle man sich mit ihm auch wegen der Schulden ins Einvernehmen setzen81. Im Mai bestätigte Lehendorffer den Erhalt des Schreibens, Ende März, am Vorabend des Palmsonntags, sei Dr. Wolfgang Prantner, sein späterer Amtsnachfolger und Ordenshochmeister (1533–1541), bei ihm gewesen, er wolle Kaiser Karl über die Situation in Bozen in Kenntnis setzen. Zu den   HHStA, Österreichische Akten, Niederösterreich 1, fol. 410r–416r, hier 414r.   KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 13r–14v. 79  Ebd. fol. 16r–v (1521 Jänner 31, Potzen in meinem pfarhoff ). 80  Ebd. fol. 17r–18v. 81  Ebd. fol. 22r (1523 Februar 28). 77 78



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Außenständen bemerkte der Pfarrer lediglich, er habe jüngst 200 Gulden an Wassergeld82 aufbringen müssen, auch sei die Türkensteuer beträchtlich gewesen. Auch Ferdinand I. wurde mehrfach mit dem widerständigen Pfarrer befasst, im Oktober 1523 leitete er dem Regiment in Innsbruck eine an ihn gerichtete Supplik Geumanns weiter, in der der Hochmeister über die Baulast in Millstatt83 und die Rüstungskosten klagte und ihn ersuchte, das Regiment gegen Lehendorffer vorgehen zu lassen. Tatsächlich wurde der Pfarrer daraufhin im Jänner 1524 zu einer Tagsatzung nach Innsbruck geladen, wo auch der Anwalt und der Prokurator des Hochmeisters zugegen sein sollten84. In der Instruktion für seine hierzu delegierten Rechtsvertreter, Hans von Malenthein und Utz Ratsetzer, rekapitulierte Geumann die Besetzungsgeschichte der Pfarrei Bozen und bekräftigte die Position des Ordens, das er [Lehendorffer] die pharr in vnnser vnd des orden[s] namen als ain verwalter inen hat vnd gar nit sein ist, er ferner dem Orden mittlerweile 2700 Gulden schulde, von denen Bau- und Wassergeld nicht abgezogen werden könnten, und der Hochmeister die für die Befestigung von Millstatt bestimmten Summen nicht oder nur zum Teil verbauen habe können und wegen Lehendorffers Zahlungssäumigkeit habe Kredite aufnehmen müssen85. Die Tagsatzung erbrachte vorderhand keine gütliche Einigung, die Streitparteien sollten sich – so die Position des Regiments – in einem nächsten Schritt in Bozen bei einem Raittag von wegen gefallner oder geforderter pension verainen vnnd darauff also raittung geben vnd nemen und dann allenfalls noch strittige Punkte am 4. April vor Statthalter und Hofrat erneut verhandeln86. In der Zwischenzeit zeichnete sich eine neue Lösung ab, insofern als Lehendorffer dem Patronatsherrn, Ferdinand I., seinen Rückzug aus der Pfarrei gegen weiteren lebenslangen Bezug der aus der Pfründe fließenden Einkünfte und Rechte loco pensionis annuę 82   Ebd. fol. 23r (1523 Mai 5). Tatsächlich waren eisack- und talfernahe Grundstücke und Infrastruktur in und bei Bozen immer wieder von Hochwasser gefährdet. Im Sommer 1518 wies Maximilian die Stadt an, nach aktuellen Schäden im eigenen Zuständigkeitsbereich die Wege und Straßen wiederherzustellen, auch gegen dem waser noturfftig gpe vnd wórr zu errichten (Bozen, Stadtarchiv Hs. 140, fol. 63v, 1518 Juli 24). Im März 1524 unterstrich Lehendorffer seine Schwierigkeit, zu jenem Zeitpunkt die Pension an den Hochmeister nach Millstatt zu überweisen, angesehen die grosse wasser guß schadens, das die pfar hat, das am tag ligt vnnd fr die pang des wassers groß gelt nymt … (KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 49r, 1524 März 17). Die sogenannten (Wasser-) Leegen, genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Flureignern zur Errichtung und Einhaltung von Wasserschutzbauten, führten eigene Wasserbücher. Bei der jährlichen Abrechnung des Wasserschreibers verzeichnete die Leeg in der Rigl (am Bozner Boden östlich der Stadt) etwa 1520 Einnahmen an Wassergeld und Ausgaben von respektive gut 88 und gut 134 Mark (Bozen, Stadtarchiv Hs. 140, fol. 111v, 1520 März 1). Das Wassergeld stellte für Inhaber von Gütern und Gülten im Landgericht Gries und Bozen also eine erhebliche finanzielle Belastung dar, nach den Gravamina der Bauern von 1525 versuchten Geistliche und Adlige sich der Zahlung zu entziehen. Siehe Die durch den Landtag 1525 (12. Juni–21. Juli) erledigten „Partikularbeschwerden“ der Tiroler Bauer (Tiroler Landesarchiv, Handschriften Nr. 2889), ed. Fritz Steinegger–Richard Schober (Tiroler Geschichtsquellen 3, Innsbruck 1976) 11. 83  … dazu ist von notten, das schlaffhaus zu Múlstat, welhs gannz hulzen vnd pawfellig auch pawen, damit der sorg des feiers auch entladen ist, ferner muss Geumann noch vmb das klosster etwo zwen oder dreÿ thurn sezen, auch noch vmb das halb klosster ainen zwinger machen. KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 25r–v, die Weisung Ferdinands an das Regiment ebd. fol. 26r und in TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, Von der fürstlichen Durchlaucht 1523–1526, 2, fol. 46r (1523 Oktober 17, Wiener Neustadt). 84   KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 27r (1524 Jänner 9). 85   Ebd. fol. 35v–37v. Dass die hier angegebene Summe angeblich ausstehender Absentgebühren überzogen war, wusste der Hochmeister selbst, eine wohl Anfang 1524 in Millstatt entstandene Aufstellung ergab, dass Lehendorffer zwischen 1514 und 1519 insgesamt über 857 Pfund überwiesen hatte (ebd. fol. 50r–51r). 86  Ebd. fol. 42r (1524 Jänner 28).

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angeboten, der Landesfürst der Resignation zugunsten von Dr. Wolfgang Prantner, dem erwähnten Koadjutor des Georgsordens, zugestimmt, Prantner vorbehaltlich des päpstlichen Konsenses präsentiert und das Innsbrucker Regiment angewiesen hatte, ime poßsession der obbestimbten pharr zu geben87. Das darin beschriebene Szenario dürfte aber nicht so rasch umsetzbar gewesen sein, da zunächst die päpstliche Zustimmung fehlte88. Mitte Februar vermeldete der Hofrat an Ferdinand, man habe auf der Tagungsatzung in Innsbruck beide Seiten mit ihren Rechtstiteln verhört und dabei festgestellt, dass Maximilian seinerzeit zwar willens gewesst ist, die pharr zu Botzen sand Georgen orden zu incorporiern, es aber keine Belege dafür gebe, dass er die Inkorporation auch enntlichen volstreckht habe. Vielmehr habe der Kaiser 1516 die Pfarrei Lehendorffer frey verlihen vnd in als ainen rechten pharrer presentiert, worauf dieser vom Ordinarius investiert worden sei. Die Absenzgelder habe er zunächst trotzdem weiterbezahlt, weigere sich nun aber, zumal ohne Konsens des kaiserlichen Lehensherrn und des Trienter Bischofs jede Grundlage dafür fehle, zudem dieweil die pharr seiderher von wegen des gewässers, so an der pharr gründen grossen schaden getan, auch der lutterischen sect halben in grossen abfall der gülten vnd zuestännden komen sey. Nun möge Ferdinand anhand aller mitgeschickten Unterlagen der Parteien in der Sache entscheiden, allerdings gab der Hofrat zu bedenken, daz die pharr Botzen der pessten phrüenden aine ist, die der lanndsfürst zu uerleýhen hat, und bei Inkorporation in den St.-Georgs-Ritterorden naturgemäß für lanndtleüt oder diener nicht mehr zur Verfügung stehe89. Ferdinand entschied darauf im Sinne des Hofrats, die Marienpfarrei künftig frei zu vergeben und nicht zu inkorporieren90, und ließ Lehendorffer dezidiert anweisen, an den Hochmeister keine Zahlungen mehr zu leisten91. Geumanns Rechtsvertreter, Malenthein und Ratsetzer, äußerten ihr Befremden darüber, vor allem, dass in dem landesfürstlichen Abschied auf ihre Argumente zu dem vom Orden im Bozner Pfarrhaus gestellten Inventar im Wert von 190 Gulden, zu der vom Pfarrer dem Hochmeister als dessen Fürsten und Prälaten geschuldeten Obödienz, zur Abrechnung sowie zum Wasser- und Baugeld nicht eingegangen worden war, und baten das Regiment, die Entscheidung zu überdenken, da sie nit mit solhem abschid fur vnnsern gnedigen herrn kumen konnten, der ihnen mangelndes Verhandlungsgeschick und die Schuld am Scheitern der eingebrachten Ansprüche vorhalten würde92. Über den Spätsommer 1524 scheint der skizzierte Rückzug Lehendorffers zugunsten von Wolfgang Prantner konkrete Züge angenommen zu haben, im August berichtete das Regiment an Ferdinand freilich, über die päpstliche Zustimmung liege kain bulla noch ander schein dann allain ain suplication so durch die bäbstlich heÿligkait gezeichnet vor, weshalb man die Possessgebung bislang verweigert habe. Weiters hege das Regiment mit Blick 87 KLA, AUR 1524 Jänner 10, https://www.monasterium.net/mom/AT-KLA/AUR/AT-KLA_418-BA_5178_F_St/charter [3. 1. 2020]; TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, Von der fürstlichen Durchlaucht 1523–1526, 2, fol. 86v (1524 Jänner 10). 88  Am 3. März 1524 aber stimmte Clemens VII. in einer an Prantner adressierten littera der vom Bozner Pfarrer über seinen in Rom befindlichen Procurator, den Regensburger Kanoniker Johann Dietenheimer, erbetenen Resignation zu. KLA, AUR 1524 März 3, https://www.monasterium.net/mom/AT-KLA/AUR/ATKLA_418-B-A_1927_St/charter [4. 1. 2020]. 89  TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, An die fürstliche Durchlaucht 1523–1525, 2, fol. 104v–105v (1524 Februar 12). 90  TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, Von der fürstlichen Durchlaucht 1523–1526, 2, fol. 68v–69r (1524 März 5); KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 43r–v (1524 März 5). 91  KLA, Millstatt Fasz. 18/1, fol. 43v (1524 März 10). 92  Ebd. fol. 47r–v.



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auf den Laienstand Prantners erhebliche Bedenken, ain solhe ansehenliche treffenliche pharr darinn auch vil treffenlicher adenlich stifftungen sein, ainem so nicht briester ist vnd noch kain weÿch, die in zu der briesterschafft verpýnnde, angenomen hat, vnd sich nit zuversehen, daz er nach absterben des Lehendorffers darauf residieren, sonnder nur vmb ain absentz verlassen wird, einzuantworten. Da Ferdinand dieser Regelung aber längst zugestimmt und Kaiser Karl zu Prantners Gunsten interveniert habe, solle man vom künftigen Pfarrherrn wenigstens einen Revers verlangen, dass die Marienpfarrei ihm lediglich ad personam verliehen, keinesfalls aber dem Georgs-Ritterorden inkorporiert werde, und dass er sich verpflichte, sofern er nit selbs residieren wolt, in Bozen einen taugenlichen geschickten gelerten briester einzusetzen93. Mitte September reagierte Ferdinand darauf, das Regiment solle in diesem Sinne vorgehen, sich aber nach Vorliegen des Reverses mit der vom Papst signierten Supplik zufriedengeben und Prantner die Possess erteilen94. Damit schien der Konflikt endlich entschieden. Wohl knapp nach dem 20. September 1524 muss Lehendorffer seinem bereits länger beklagten Siechtum erlegen und in Bozen verstorben sein95. Um den Anspruch auf seine Verlassenschaft gab es zunächst zwischen Geumann und dem Landesfürsten divergierende Rechtsauffassungen96; das Regiment ließ den Fall auf Wunsch Ferdinands prüfen, zog entsprechende Erkundigungen ein und ließ vor Ort das Hab und Gut des Pfarrers in einem Inventar erfassen. Der Landrichter von Gries und Bozen hatte an recht angeborn gesipter friuntschaft Lehendorffers dessen leiblichen Bruder und dessen Söhne, die Neffen des Pfarrers, ausmachen können, die das Erbe antreten konnten, da in Tirol mit Ausnahme des zur Diözese Chur gehörenden Vinschgaus die phaffhait ir guot tesstiern, verschaffen vnd damit hanndlen vnd thun oder an ir nëchste fründ komen vnd erben lassen mügen nach irem willen vnd gefallen. Nur bei Fehlen enger Verwandter hätte der Landesfürst Zugriff auf das nachgelassene Hab und Gut gehabt, der Hochmeister nur für den Fall, er hab dann sonnder vertrég mit ime97, andererseits sahen die Ordensstatuten vor, dass der Besitz von Mitgliedern des Ordens bei ihrem Tod im Regelfall an den Orden fallen sollte98. Der kaiserliche Rat und Koadjutor des Hochmeisters Wolfgang Prantner wurde im März 1525 auf die Marienpfarrei präsentiert, setzte dort aber mit Johann Zehentner umgehend einen Vikar ein, der ihm und – nach dessen Ableben 1541 – dem ortenburgischen Verwalter zu Millstatt daraus weiterhin an Absent eine jährliche Pension zu entrichten hatte, während die Pfarrei selbst frei zu vergebendes Lehen des Landesfürsten blieb99. 93   TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, An die fürstliche Durchlaucht 1523–1525, 2, fol. 256r–v (1524 August 23). Dazu auch Hermann Wopfner, Die Lage Tirols zu Ausgang des Mittelalters (Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 4, Berlin–Leipzig 1908) 88 mit Anm. 2. Augenscheinlich hatte Prantner die bereits am 3. März in Rom ausgestellte littera Clemens’ VII. (s. oben Anm. 88) aus welchen Gründen auch immer noch nicht vorgelegt oder vorlegen können. 94  TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, Von der fürstlichen Durchlaucht 1523–1526, 2, fol. 158r (1524 September 14, Wien). 95  Trient/Trento, Archivio di Stato, Archivio principesco vescovile, serie latina, capsa 46, n. 6 (1524 September 29, Bozen): per obidum [!] quondam venerabilis domini Vdalrici Lehendorffer. 96   TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, Von der fürstlichen Durchlaucht 1523–1526, 2, fol. 177v (1524 Oktober 13). 97   TLA, Oberösterreichische Regierungs-Kopialbücher, An die fürstliche Durchlaucht 1523–1525, 2, fol. 300r–301r (1524 November 8). 98 Vgl. Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. (wie Anm. 2) 441. 99 Vgl. Braun, Beiträge (wie Anm. 2) 9; Atz–Schatz, Antheil 1 (wie Anm. 4) 43f.; KLA, Millstatt Fasz. 18/2, fol. 1r (1538 Juli 4), 2r (1543 Februar 20), 18r–v (1544 Jänner 21) und 23r–24v (1544 März 21).

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VI Pfarreien sind „die wichtigste lebenspraktische Schnittstelle zwischen Amtskirche, Gläubigen und Welt“; bereits die Kanonistik des 13. Jahrhunderts zeigt sie „einerseits als wechselseitig verpflichteten, heilsorientierten Personenverband aus Pfarrer und Gläubigen, andererseits als Geflecht wirtschaftlich nutzbarer Rechte“100. Auch die versuchte Inkorporation der Bozner Marienpfarrei in den St.-Georgs-Ritterorden fügt sich in dieses komplexe Gefüge von fallweise widerstreitenden Ansprüchen, Rechten und Erwartungen verschiedener Akteure. Die vom kaiserlichen Patronatsherrn 1511 zwar aufgegleiste, wie in anderen Fällen101 rechtlich aber nicht abgesicherte und/oder vor Ort schwer durchsetzbare Inkorporation bedeutete für den Inkorporationsempfänger, den wirtschaftlich unterdotierten Ritterorden mit seiner dünnen Personaldecke, vorderhand eine Herausforderung: Personell, da die Pfarrei von Millstatt aus mit Priesterbrüdern besetzt werden musste, ökonomisch, da es zunächst augenscheinlich an der Ausstattung des Pfarrhofs mangelte, daher weiterer Zuwendungen bedurfte und der endliche Ertrag aus der Pfarrei für den Orden geringer ausfiel als von Maximilian anvisiert. Der Kaiser selbst dürfte mit der Präsentation Ulrich Lehendorffers 1516 – wohl ungewollt – zur weiteren rechtlichen Verunklärung der Verhältnisse beigetragen haben. Vielleicht ist hier ein Resultat von Nahbeziehungen zu seinem Kaplan und zu der wirtschaftlich wie politisch bedeutenden Stadt zu sehen, die in dem exzeptionellen Wappenbrief für die Marienpfarrei und den damaligen Pfarrherrn auch einen emblematischen Ausdruck fanden. Mitausschlaggebend könnte aber auch Druck vonseiten der Stadt, von Bürgermeister und Rat gewesen sein, die sich für den Verbleib Lehendorffers stark machten und wohl auch im Interesse der lokalen seelsorgerischen Bedürfnisse den durch die vereinbarten Absenzgeldzahlungen sich abzeichnenden erheblichen Transfer von Vermögenswerten aus Bozen nach Millstatt mit einiger Skepsis gesehen haben dürften. Am Beispiel der Bozner Marienpfarrei werden Phänomene manifest, die über den Einzelfall und Tirol102 hinausreichen: Auf dem Innsbrucker Ausschusslandtag der österreichischen Erbländer im März 1518 bildeten die Themen Inkorporation, Absentia und Residenzpflicht in den obligen vnd beswärungen, so der weltlich stand gegen der geistlichkait hat, einen eigenen Punkt103. Immer wieder finden sie sich auch in den Gravamina nationis Germanicae, so etwa auf dem Wormser Reichstag von 1521104, wobei deren Wertung als Problem mit Vorsicht zu betrachten ist, da unsere Wahrnehmung von Nichtresidenz und Stellvertretung der Pfarrgeistlichkeit, wie Enno Bünz jüngst feststellte, stark von den Positionen der spätmittelalterlichen Kirchenreform, der lutherischen Reformation und der stereotypen Klagen der Gravamina bestimmt wird105.

100 Harald Müller, Die Pfarrei im Normgefüge der mittelalterlichen Kirche, in: Die Pfarrei im späten Mittelalter, hg. von Enno Bünz–Gerhard Fouquet (VuF 77, Ostfildern 2013) 61–96, hier 94f. 101  Vgl. Wiesflecker-Friedhuber, Maximilian I. (wie Anm. 2) 436–440. 102  Vgl. Wopfner, Lage Tirols (wie Anm. 93) 87–90; Peter Bierbrauer, Die unterdrückte Reformation. Der Kampf der Tiroler um eine neue Kirche (1521–1527) (Bauer und Reformation 2, Zürich 1993) 38–45. 103   H(artmann) J(osef ) Zeibig, Der Ausschuss-Landtag der gesammten österreichischen Erblande zu Innsbruck 1518. AÖG 13 (1854) 201–366, hier 244 und 247. 104  Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. 2, ed. Adolf Wrede (Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe 2, Gotha 1896) 685f. Art. 45 Von grosser absenz der pfarrer. 105  Bünz, viceplebanus (wie Anm. 3) 292, 296 und passim.



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Anhang Kaiser Maximilian I. erteilt der Marienpfarrkirche in Bozen, seinem Kaplan Ulrich Lehendorffer, Senior des St.-Georgs-Ritterordens und Pfarrer an der genannten Kirche, sowie dessen Amtsnachfolgern ein Wappen, ein entsprechendes Siegel und die Rotwachsfreiheit. 1517 Februar 10, Antwerpen Bozen, Stadtarchiv, Urkundenreihe I, sub dato. Orig. Perg., 36,7 (+11 Plica) : 68,2 cm, mittig gesetzte Wappenminiatur 11,9 : 8,8 cm, rückseitig in Tinte der Vermerk der pfarr kirchen wappen brieff (saec. XVI/1). unediert – Lit.: Ferdinand Troyer, Cronica der statt Botzen, ed. Nicolò Rasmo. Cultura atesina / Kultur des Etschlandes 3 (1949) 60–76, hier 70 (Auszug in frühneuhochdeutscher Übersetzung mit irriger Datierung zu 1507); J[ustinian] Ladurner, Chronik von Bozen 1844, ed. Bruno Klammer (Bozen 1982) 323f. (Auszug in Übersetzung mit irriger Datierung zu 1507, nach Troyer); A[ndreas] Simeoner, Die Stadt Bozen (Bozen 1890) 262f. (Auszug in Übersetzung mit irriger Datierung zu 1507, nach Ladurner); Spornberger, Pfarrkirche (wie Anm. 4) 48f.; Konrad Fischnaler, Tirolisch-Vorarlberg’scher WappenSchlüssel III/1–8, hg. von Klemens M. Mayr (Ausgewählte Schriften 7, Innsbruck 1951) 69 (mit irriger Datierung zu 1507, wohl nach Simeoner); Karl Theodor Hoeniger, Altbozner Bilderbuch. Hundert Abbildungen und vierzig Aufsätze zur Stadtgeschichte (Bozen 31968) 50; Gustav Pfeifer, Wappen und Kleinod. Wappenbriefe in öffentlichen Archiven Südtirols (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 11, Bozen 2001) 37 Nr. 6; Roland, Medieval Grants of Arms (wie Anm. 50) 154f.; Seibold, Wappenbrief (wie Anm. 47) 1 348 und 1112 Nr. 401, 2 721 Nr. 401; https://www.monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1517-02-10_Bozen/charter. Maximilianvs diuina fauente clementia electus Romanorum imperator semper augustus ac Germanie, Hungarię, Dalmatię, Croatię etc. rex, archi/dux Austrie, dux Burgundię, Lotharingie, Brabantię, Stirię, Carinthię, Carniole, Lymburgie et Gheldrie, lantgrauius Alsatię, princeps Sueuię, palatinus in Habspurg et Hannonię, princeps et comes / Burgundie, Flandrię, Tirolis, Goricię, Arthesię, Holandię, Seelandie, Ferretis, in Kiburg, Namurci et Zutphanię, marchio sacri Romani imperii super Anasum et Burgouię, dominus Phry-/ się, Marchię sclauonicę, Mechlinię, Portusnaonis et Salinarum etc., notum facimus tenore pręsentium vniuersis, cum sacri Romani imperii dignitas expo/stulet, vt quę ad ecclesiarum et personarum ecclesiasticarum decorem et ornamentum accedere cognoscimus ea uberiori studio et liberalitate concedamus, qua/propter uolentes ecclesiam parrochialem beatę Marię virginis oppidi nostri Bolzani Tridentinę diocesis in qua ad pręsens honorabilis deuotus nobis dilectus / Vdalricus Lehendorffer capellanus noster senior ordinis sancti Georgii rector siue plebanus existit cęsarea nostra gratia propter ipsius Vdalrici virtutes et me/rita decorare atque complecti motu proprio ex certa scientia ac de nostrę potestatis plenitudine pręfatis ecclesię et plebano ac eiusdem successoribus in perpetuum infra-/ scripta arma siue sigillum concessimus, dedimus et elargiti sumus prout tenore presentium damus, concedimus et elargimus videlicet scutum in cuius fundo albi seu / argentei coloris rubea crux, quę vulgo sancti Georgii nuncupatur, continetur, in reliqua autem ipsius scuti parte, quę complectitur insignia siue arma inclytę domus / nostrę Austrię effigies diuę Marię uirginis veste redimita celestini coloris, in dextra puerum Christum nudum et

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sinistra manibus sceptrum, subtus pedes uero lunam semi/plenam crocei coloris habens, in radiis solaribus constituitur, quemadmodum clarius in medio pręsentium pictoribus artificioa) cernuntur effigiata, statuentes et uolentes, quod prefatus / Vdalricus et successores sui in dicto rectoratu siue plebania prenominatę ecclesię in perpetuum prędicta arma siue insignia habeant, deferant illisque in omnibus et singulis / honestis decentibusque actibus et expeditionibus literarum sigillis, signetis, annulisb), monumentis, ędificiis, suppellectile et alias in locis omnibus iuxta exigentem uolun/tatem uti fruique possint et ualeant cum participatione omnium et singulorum honorum, pręrogatiuarum, gratiarum, iurium et consuetudinum quibus cęteri a nobis / et sacro imperio huiuscemodi ornamentis insigniti gaudent et potiuntur, pręterea motu et potestate similibus damus et concedimus pręfato Vdalrico et successo/ribus eius (ut pręmittitur) ut quascunque literas publicas et priuatas ipsos et eorum negotia qualiacunque concernentes poterint et ualeant absque omni impedimento libere et licite uti cera rubea non ob/stantibus in contrarium quibuscunque etiam si talia essent que hic deberent exprimi quibus omnibus et singulis derogamus et potestate qua supra derogatum esse uolumus. Nulli ergo omnino hominum liceat / hanc nostrę concessionis gratię decreti et voluntatis paginam infringere aut ei quouis ausu temerario contraire, si quis autem id attentare pręsumpserit pœnam indignationis nostrę grauissimę et viginti / librarum auri puri totiens quotiens contrafactum fuerit se nouerit irremissibiliter incursurum, quarum quidem medietatem fisco nostro cęsareo, reliquam uero partem iniuriam passorum usibus decernimus appli/candam. Harum testimonio literarum sigilli nostri appensione munitarum. Datum in oppido nostro Antwerpie die decima Februarii, anno domini millesimo quingentesimo decimoseptimo, regnorum Roma/ni tricesimoprimo, Hungarię uero vicesimoseptimo. per regem per se Ad mandatum imperatorie maiestatis proprium Serntein ss. [SP.] 1) a) b)

-cio auf Rasur nachgetragen. -i- über der Zeile ergänzt.

1) Königssiegel des Ausstellers an gedrehter schwarz-goldfarbener Seidenkordel = Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige. Von Maximilian I. bis Josef I., hg. von Otto Posse (Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige von 751 bis 1806, III. 1493–1711, Dresden 1912), Taf. 4 Nr. 4; naturwachsfarbene Schale leicht beschädigt, Abdruck abgerieben.

Medicina, musica e politica fra Studia e corti Hermann Poll, ca 1370–1401 Daniela Rando

Hermann Poll è un personaggio piuttosto noto, i cui dati biografici essenziali sono ora recuperabili attraverso il Repertorium Academicum Germanicum1. La sua breve esistenza si presta ad un approfondimento riguardo l’ambiente culturale e le reti sociali che ne sostennero la rapida, ma sfortunata carriera; la si propone qui come „case study“ del fertile intreccio fra Studia e corti al di là e al di qua delle Alpi, in omaggio a Christian Lackner, lo studioso che all’Alma mater di Poll, ai rapporti con la corte degli Absburgo e ai primi studenti dell’università rudolfina ha dedicato indagini penetranti2.

L’inventore del clavicembalum e il panorama musicale veneto-lombardo Il Repertorium Germanicum ci presenta Hermann Poll nel 1394 come chierico della diocesi di Passau, maestro in arti e detentore di due ricchi benefici parrocchiali3. Già studente di arti e medicina a Vienna4, nella facoltà ove si studiava sui testi del padovano Marsilio Santasofia5, Poll intese proseguire gli studi accedendo direttamente alle lezioni 1  Art. Hermann Poll in: RAG, https://resource.database.rag-online.org/ngLB5a072Kj83ahffLUa0Jxa [14. 11. 2019]. Cfr. Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651 (Heidelberg 2002) 230s. 2  Mi riferisco in particolare a: Christian Lackner, Wissen für den Hof. Die Universität Wien und der Hof der österreichischen Herzoge im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert, in: Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert, a cura di Kurt Mühlberger–Meta Niederkorn-Bruck (VIÖG 56, Wien–München 2010) 37–51; id., Adel und Studium. Adelige Studenten aus den habsburgischen Ländern an der Universität Wien im 15. Jahrhundert, in: Festschrift Heide Dienst zum 65. Geburtstag, a cura di Anton Eggendorfer–id.–Willibald Rosner (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 30, St. Pölten 2004) 71–92; id., Die habsburgischen Universitätsgründungen im Spätmittelalter, in: König Rudolf I. und der Aufstieg des Hauses Habsburg im Mittelalter, a cura di Bernd Schneidmüller (Darmstadt 2019) 187–201; id., Möglichkeiten und Perspektiven diplomatischer Forschung. Zum Privileg Herzog Albrechts III. für die Universität Wien vom Jahre 1384 (Stabwechsel. Antrittsvorlesungen aus der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 4, Wien 2013). 3   Art. Hermann Poll, in: Repertorium Germanicum, http://rg-online.dhi-roma.it/RG/2/3327 [16. 12. 2018]; cfr. Art. Hermann Poll (vedi nota 1). 4 Elisabeth Tuisl, Die medizinische Fakultät der Universität Wien im Mittelalter: von der Gründung der Universität 1365 bis zum Tod Kaiser Maximilians I. 1519 (Schriften des Archivs der Universität Wien 19, Göttingen 2014) 235. 5  Tiziana Pesenti Marangon, Marsilio Santasofia tra corti e università: la carriera di un „monarcha medicinae“ del Trecento (Treviso 2003) 193–305.

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di quest’ultimo, celebrato monarcha medicinae, allora professore a Pavia. Ne parla in una sua lettera Giovanni Ludovico Lambertazzi, rinomato docente di diritto e uomo di rilievo pubblico nella Padova d’età carrarese6, che nel 1397 annunciava l’arrivo di Poll in Pavia al proprio genero, Pietro Tomasi, studente appunto nella città sul Ticino7. Lambertazzi presentava il maestro in arti viennese come un „giovane di buone maniere e di buoni costumi, molto ricco d’ingegno“, il quale aveva inventato uno strumento che chiamava clavicembalum. A suo dire, Poll voleva raggiungere Pavia e ottenere entro l’estate il dottorato in medicina presso Marsilio Santasofia, per poi passare allo studio del diritto canonico o civile; e giungeva a Pavia in compagnia del magister Giovanni de Alemania, a sua volta maestro del genero di Lambertazzi, il citato Tomasi, che ne era stato allievo evidentemente a Padova, prima di essere costretto a trasferirsi a Pavia in seguito ad un episodio piuttosto misterioso8. La menzione del clavicembalum è nota e apprezzata dagli storici della musica, che in base ad essa attribuiscono a Poll l’invenzione di tale strumento musicale9. La notizia, normalmente estrapolata dal suo contesto, può acquisire nuovo spessore alla luce della „rete“ di Hermann Poll, dei suoi personaggi di riferimento fra Vienna, Padova e Pavia. Anzitutto il giurista Lambertazzi, collega e amico di Francesco Zabarella10: dottore in utroque, giudice, membro del Collegio dei giudici e dei dottori giuristi, docente all’università dal 1379 fino alla morte, Lambertazzi svolse anche uffici pubblici di una certa rilevanza; nel 1388, ad esempio, fu tra i dodici ambasciatori inviati a Gian Galeazzo Visconti per trattare la resa di Padova e sei anni dopo pronunciò il discorso funebre per Francesco il Vecchio da Carrara al fianco di Pier Paolo Vergerio e di Francesco Zabarella – fu questi a sua volta che lo rievocò in un’orazione ufficiale alla sua morte. Giuseppe Billanovich ha inserito Lambertazzi, insieme con Zabarella, nel „gruppo folto di clienti del Petrarca“; e nella cerchia petrarchesca ha annoverato pure la famiglia da Thiene, un membro della quale, genero di Lambertazzi e a sua volta amico e corrispondente del letterato e umanista Antonio Loschi, avrebbe ricordato di aver sfogliato nel 1399 un codice virgiliano già appartenuto al Petrarca nella biblioteca del Visconti a Pavia, poco dopo il soggiorno di Pietro Tomasi11. Ma oltre agli interessi letterari, dalle lettere di Lambertazzi al genero emerge pure un dettaglio prezioso: il professore giurista, che aveva ritenuto degno di nota il clavicembalo inventato da Hermann Poll, in quello stesso torno di mesi annunciava al Tomasi l’invio di un’arpa pro tui consolatione12. I due dati congiunti, notizia del clavicembalo e dono dell’arpa, fanno intuire una certa qual sensibilità musi Fiammetta Cirilli, Art. Lambertazzi, Giovanni Ludovico. DBI 63 (2004) 156–159.  Arnaldo Segarizzi, La corrispondenza familiare d’un medico erudito del Quattrocento: Pietro Tomasi (1907), ora in: Arnaldo Segarizzi: storico, filologo, bibliotecario. Una raccolta di saggi, a cura di Giancarlo Petrella (Trento 2004) 217–246, qui 227. 8  Francesco Bottin, Lo studente Pietro Tommasi tra dispute logiche, duelli armati e severità paterna, in: Studenti, università, città nella storia padovana. Atti del convegno, Padova 6–8 febbraio 1998, a cura di Francesco Piovan–Luciana Sitran Rea (Trieste 2001) 241–253. 9 Reinhard Strohm, Die private Kunst und das öffentliche Schicksal von Hermann Poll, dem Erfinder des Cembalos, in: Musica privata: die Rolle der Musik im privaten Leben. Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Salmen, a cura di Monika Fink–Rainer Gstrein–Günter Mössmer (Innsbruck 1991) 53–66. 10   Cirilli, Lambertazzi (vedi nota 6). Cfr. anche Monumenti della Università di Padova (1318–1405), a cura di Andrea Gloria, vol. 1 (Padova 1888, rist. anast. Bologna 1972) 181. 11  Giuseppe Billanovich, Petrarca letterato: lo scrittoio del Petrarca, vol. 1 (Roma 1947) 348–351, qui 349. 12 Roberto Cessi, La giovinezza di Pietro Tommasi erudito del secolo XV. Athenaum 1 (1913) 129–161, citazione 145, ora in: id., Padova medioevale. Studi e documenti raccolti e riediti, a cura di Donato Gallo, Presentazione di Paolo Sambin, vol. 2 (Padova 1985) 617–640, qui 628. 6 7



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cale in Lambertazzi, evocando forme di musica da camera coltivata entro un’eletta „sfera privata“ di ascoltatori e musici; molti dei quali, come osserva R. Strohm, erano spesso intellettuali a servizio di principi o membri dell’università13 – si pensi solo a Zabarella, che dell’illustre Johannes Ciconia si fece patrono14. L’arpa, strumento dal suono tenue, delicato e dolce15 rimasto a lungo privilegio della società di corte16, da una ventina d’anni s’era affermata nel panorama degli strumenti musicali italiani17. Francesco di Vannozzo, il „poeta e rimatore“ in movimento fra le diverse corti dell’Italia settentrionale che „alternò le esperienze poetiche a quelle di cantore, autore di musiche, suonatore di arpa e liuto“18, proprio negli anni che c’interessano componeva sei sonetti in forma di dialogo fra liuto e arpa19, mentre Jacob de Senleches, il juglar de harpa20 divenuto personaggio di spicco dell’ars subtilior dei suoi tempi, componeva La harpe de melodie; l’originale virelai venne trascritto ed eccezionalmente raffigurato in forma di arpa in un manoscritto redatto proprio a Pavia nel 1391 per mano di un frate inglese, con grande probabilità un agostiniano che studiava teologia in S. Pietro in Ciel d’Oro21. „Fra questi alti universitari che continuano una forte e stretta scuola petrarchesca“22 l’amore per le lettere poté dunque coniugarsi con l’amore per la musica – non è inutile ricordare che pure Petrarca era stato autore di testi per musica23. Docenti come Lambertazzi e Zabarella, studenti come Pietro Tomasi e Hermann Poll si mossero o attraversarono il   Strohm, Die private Kunst (vedi nota 9) 54.  Anne Hallmark, Protector, imo verus pater : Francesco Zabarella’s patronage of Johannes Ciconia, in: Institutions and patronage in Renaissance music, a cura di Thomas Schmidt-Beste (Farnham 2012) 455–470. 15   Cito letteralmente da Gerhard Kubik–Hans Joachim Zingel–Sylvia Sowa-Winter–Bo Lawergen– Gretel Schwörer-Kohl, Art. Harfen, B.II.4. (18.6.2015), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, a cura di Laurenz Lütteken (2016ss.), https://www-1mgg-2online-1com-1008e20af081b.erf.sbb.spk-berlin.de/ mgg/stable/48400 [14. 1. 2019]. 16   „Das Harfenspiel blieb auch in der frühen Neuzeit weiterhin ein Privileg höfischer Gesellschaft“: ibid. B.III. 17   Howard Mayer Brown, The Trecento Harp, in: Studies in the Performance of Late Mediaeval Music, a cura di Stanley Boorman (Cambridge 1983) 35–71, specialmente 45, 61; Reinhard Strohm, La harpe de melodie oder das Kunstwerk als Akt der Zueignung, in: Das musikalische Kunstwerk: Geschichte – Ästhetik – Theorie. Festschrift Carl Dahlhaus zum 60. Geburtstag, a cura di Hermann Danuser (Laaber 1988) 305–316. 18 Gabriella Milan, Art. Francesco di Vannozzo. DBI 50 (1988) 35–37, qui 35 e 37 (36 sul servizio al Visconti). 19  Brown, The Trecento Harp (vedi nota 17) 36–37. 20 Nell’unico documento noto del 1383 è appunto definito tale: Anne Stone, Art. Jacob de Senleches (2003), in: Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15), https://www-1mgg-2online-1com1008e20lv051a.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/17137 [14. 1. 2019]. 21 Anne Stone, The Manuscript Modena, Biblioteca estense, α.M.5.24, Commentary. With an essay on the Illumination by Federica Toniolo (Lucca 2005) 64, con rinvio a Reinhard Strohm; id., Art. Jacob de Senleches, Literatur (2003), in: Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15), https://www-1mgg-2online1com-1008e20af081b.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/48398 [14. 1. 2019]. 22  Billanovich, Petrarca letterato (vedi nota 11) 351. 23  Per brevità rinvio alla bibliografia citata da Joachim Steinheuer, Art. Petrarca, Francesco, Literatur (2005), in: Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15), https://www-1mgg-2online-1com1008e20lv051a.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/52370 [14. 1. 2019]. Inoltre a: Petrarca in musica. Atti del convegno internazionale di studi, VII centenario della nascita di Francesco Petrarca, Arezzo, 18–20 marzo 2004, a cura di Andrea Chegai–Cecilia Luzzi (Lucca 2005); Maria Sofia Lannutti, Polifonie verbali in un madrigale araldico trilingue attribuito e attribuibile a Petrarca: La fiera testa che d’uman si ciba, in: Musica e poesia nel Trecento italiano: verso una nuova edizione critica dell’Ars nova, a cura di Antonio Calvia–Maria Sofia Lannutti (Firenze 2015) 45–90. 13 14

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fertile ambiente padovano, che allora vedeva attivi compositori quali Bartolino da Padova e Johannes Ciconia. Più a occidente, la corte di Gian Galeazzo Visconti a Pavia-Milano fungeva da centro di diffusione dell’ars subtilior francese24 e sosteneva un importante patronage musicale25, tanto che vi si è ipotizzata, proprio negli anni del soggiorno pavese di Poll, la presenza di autori come Filippoto da Caserta26, Jacob de Senleches, Antonello da Caserta e Johannes Ciconia27. In realtà l’esistenza a Milano e Pavia di Johannes Ciconia, autore di due composizioni poste in connessione con la dinastia viscontea, è ora rimessa in discussione da Anne Hallmark28, e parimenti incerte risultano le relazioni con la corte viscontea sia di Filippoto da Caserta sia di Jacob de Senleches29; ma almeno una notizia permette di confermare il soggiorno a Pavia di Antonello da Caserta30, compositore per Gian Galeazzo del madrigale Del glorioso titolo d’esto duce datato al 1395, l’anno in cui Gian Galeazzo aveva ottenuto il titolo ducale. Ad un tessuto artistico esteso fra Pavia, Milano, Verona e Padova rinviano i già citati Francesco di Vannozzo, che pure per Gian Galeazzo compose otto sonetti, e Bartolino da Padova, autore di un madrigale in onore di Gian Galeazzo, composto in occasione della conquista viscontea di Padova nel 138831. Né va dimenticata la tradizione testuale dei mottetti di Philippe de Vitry, che vide un importante filone milanese/pavese, testimoniato in particolare da un manoscritto dello studente pavese Lorenz Schaller, già valorizzato da L. Bertalot e decisivo per la disseminazione delle opere petrarchesche in Germania32. Philippe de Vitry, amico di Petrarca e da questo ce24 Anna Cattoretti, Art. Mailand, 14. bis 16. Jahrhundert (1996), in: Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15) https://www-1mgg-2online-1com-1008e20lv051a.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/48401 [14. 1. 2019]. 25  Così Stone, The Manuscript Modena (vedi nota 21) 64s., che riassume i risultati in particolare di John Nádas e Agostino Ziino. 26  Ma vedi Giuliano Di Bacco, Original and Borrowed, Authorship and Authority: Remarks on the Circulation of Philipoctus de Caserta’s Theoretical Legacy, in: A Late Medieval Songbook, ed. Yolanda Plumley– Anne Stone (Turnhout 2009) 328–364, e Renata Pieragostini, Augustinian networks and the Chicago music theory manuscript. Plainsong and Medieval Music 22/11 (2013) 65–85, qui 68. 27   Strohm, Die private Kunst (vedi nota 9) 58. Anne Stone, Art. Philippus, de Caserta, in: Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15), https://www-1mgg-2online-1com-1008e20lv051a.erf.sbb.spk-berlin. de/mgg/stable/52372 [14. 1. 2019]; Claudio Gallico, La musica a Milano nel Trecento, in: Petrarca e la Lombardia. Atti del Convegno di Studi, Milano, 22–23 maggio 2003, a cura di Giuseppe Frasso–Giuseppe Velli–Maurizio Vitale (Roma–Padova 2005) 65–76, qui 69, con rinvio a Reinhard Strohm; e cfr. pure Stone, The Manuscript Modena (vedi nota 21) 64. 28 Anne Hallmark, Johannes Ciconia: reviewing the documentary evidence, in: Beyond 50 years of Ars Nova studies at Certaldo, 1959–2009: atti del convegno internazionale di studi, Certaldo, Palazzo Pretorio, 12–14 giugno 2009, a cura di Marco Gozzi–Agostino Ziino–Francesco Zimei (Lucca 2014) 265–286; id., Protector, imo verus pater (vedi nota 14). 29  Cfr. Pieragostini, Augustinian networks (vedi nota 26) 66–68, 83. 30   La rubrica degli atti di Albertolo Griffi, notaio e cancelliere episcopale di Pavia (1372–1420), a cura di Renata Crotti–Piero Majocchi (Milano 2005) Nr. 4446 (1402): procura fratris Antonelli de Caserta. Sul compositore Stone, The Manuscript Modena (vedi nota 21) 78–81, che cita anche a p. 79 la notizia del Griffi. 31  Stone, The Manuscript Modena (vedi nota 21) 65 nota 78: diversi compositori presenti nel ms. Mod A II–IV scrissero composizioni in qualche modo legate a Gian Galeazzo Visconti: Antonello da Caserta, Del glorioso titolo, Bartolino da Padova, La fiera testa e Alba columbam etc. 32 Ludwig Bertalot, Humanistisches Studienheft eines Nürnberger Scholaren aus Pavia (1460) (1910), ora in: Studien zum italienischen und deutschen Humanismus, vol. 1, a cura di Paul Oskar Kristeller (Storia e letteratura 129, Roma 1975) 83–161; Agostino Sottili, Wege des Humanismus. Lateinischer Petrarchismus und deutsche Studentenschaften italienischer Renaissance-Universitäten. Mit einem Anhang bisher unedierter Briefe, in: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass: Studies in Literature in Honour of Leonard Foster, a cura di Dennis Howard Gree-Leslie–Peter Johnson–Dieter Wuttke (Saecula spiritalia 5, Baden-Baden



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lebrato come poeta nunc unicus Gallicarum, sarebbe stato ricordato come unus famulus francigena musicus qui Petrarcham infestabat assidue ut poesym et rhetoricam edoceret33; oltre che tramite gli scolari del Petrarca di prima generazione, i testi dei suoi mottetti poterono con tutta probabilità essere diffusi, insieme con le opere di Petrarca, appunto grazie alla loro disponibilità a Pavia34. La scarna notizia del clavicembalum di Hermann Poll, chierico e studente da Vienna a Pavia, apre ad un contesto ricco di echi letterari e artistici. Il panorama culturale e musicale già noto si dilata combinando la prospettiva transalpina con quella cisalpina e guardando più attentamente all’ambiente universitario, non solo per la produzione di opere teoriche, quanto per l’esecuzione e l’ascolto35. A questo proposito si può ricordare ancora il Gualtrechino de Alamania sonatore di viola, menzionato nel 1388 come attore di una compravendita realizzata nel castello di Pavia, residenza di Gian Galeazzo Visconti, „in una camera in cui dormono i medici del suddetto signor conte di Virtù“ – un suggestivo accostamento fra musica e medicina che richiama l’attività di Hermann Poll36. E si può altrettanto ricordare il citato frate agostiniano inglese che portò a Pavia tradizioni inglesi; come pure i frammenti di mottetto studiati da R. Pieragostini, collegabili con la presenza di studenti inglesi allo Studio di Bologna con il culto di Thomas Becket nella chiesa bolognese di S. Salvatore37.

L’approdo a Pavia attraverso la rete transalpina Hermann Poll giunse da Padova a Pavia in societas con un conterraneo, il citato maestro Giovanni de Alemania, già suo socius a Vienna. Costui è stato identificato con Johannes Silber da St. Pölten38, che effettivamente svolse un percorso di studi parallelo a Poll: entrambi promossi nel 1393 a distanza di pochi mesi, l’uno baccalaureato, l’altro maestro39; insieme ricordati nella distribuzione delle lecturae nel settembre di quell’anno e del successivo40, entrambi esaminatori a Vienna – Poll nel 1395, Silber l’anno dopo41. Sulla 1982) 125–149. In riferimento ai mottetti di Philippe de Vitry: Andrew Wathey, The Motet Texts of Philippe de Vitry in German Humanist Manuscripts of the Fifteenth century, in: Music in the German Renaissance: Sources, Styles, and Contexts, a cura di John Kmetz (Cambridge 1994) 195–201, qui 196s.; Andrew Wathey, The Motets of Philippe de Vitry and the Fourteenth-Century Renaissance. Early Music History 12 (1993) 119–149. 33   Il giudizio è del contemporaneo Francesco Piendibeni, riportato da Wathey, The Motets of Philippe de Vitry and the Fourteenth-Century (vedi nota 32) 120, e id., Myth and Mythography in the motets of Philippe de Vitry (1998), ora in: Ars nova: French and Italian Music in the Fourteenth Century, a cura di John Louis Nádas–Michael Scott Cuthbert (London–New York 2009) 477–495, citazione 477. 34  Wathey, The Motets of Philippe de Vitry and the Fourteenth-Century (vedi nota 32) 122, 125s., 130s. 35  Sul tema cfr. Lucia Marchi, Music and University Culture in Late Fourteenth-Century Pavia: The Manuscript Chicago, Newberry Library, Case ms 54.1. Acta Musicologica 80/2 (2008) 143–164; Renata ­Pieragostini, Rediscovering lost evidence: little-known fragments with English polyphony in Bologna. Music & Letters 92/3 (2011) 343–376. 36   Lo ha ricordato Marchi, Music (vedi nota 35) 159, sulla base di Rodolfo Majocchi, Codice diplomatico artistico di Pavia dall’anno 1330 all’anno 1550, opera postuma, vol. 1 (Pavia 1937) 10 Nr. 34. 37   Pieragostini, Augustinian networks (vedi nota 26) 73–77; id., Rediscovering (vedi nota 35) 343–376. 38  Art. Johannes Silber, in: RAG, https://resource.database.rag-online.org/ngRH5g678SJ46gnNlQKgaPdY [14. 11. 2019]. 39  Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis 1385–1416, ed. Paul Uiblein (Publikationen des IÖG VI/2, Graz–Köln–Wien 1968) 91 (Hermann Poll), 87 (Johannes). 40  Ibid. 94, 106. 41  Ibid. 113.

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base del cenno di Lambertazzi circa il discepolato del genero nei confronti di maestro Johannes, si può ipotizzare che questi avesse preceduto Poll a Padova, entrando così in contatto con Pietro Tomasi presso il locale Studium – una sua ricetta contro la peste compilata a Padova ne potrebbe essere testimonianza: et est expertum per magistrum Iohannem de Sancto Ypolito in Padua42. Johannes Silber fu peraltro „legato a Galeazzo“, nipote di Marsilio Santasofia, il quale da Padova s’era trasferito appunto a Vienna, immatricolandovisi nel 1394 e insegnandovi almeno dal 139943 fino al 140544. Di Galeazzo Santasofia, probabile medico personale di Alberto IV di Absburgo e noto per aver tenuto nel 1404 la prima dissezione anatomica a Vienna sulla base della pratica padovana, rimane una testimonianza del 1405 che lo mostra impegnato alla corte ducale in una conversazione de statu Ytalie, informato riguardo alla presenza di Francesco Zabarella a Pordenone nonché convinto che si potesse guadagnare quest’ultimo allo Studium viennese. Con Zabarella egli doveva intrattenere un qualche rapporto personale, visto che il rettore di Vienna in quella circostanza gli aveva chiesto di scrivere al giurista padovano per invitarlo al loro Studium – Galeazzo tuttavia volle ottenere l’autorizzazione dall’arcivescovo di Salisburgo, cancelliere ducale45. Lo stesso Marsilio Santasofia, che Poll intese raggiungere a Pavia, risulta aver avuto un particolare legame sia con la natio Theutonica46, legame riflesso nel giudizio del Savonarola: ultramontanis ... medicine lumen suum non parvum contribuit, sia con il Collegio dei dottori giuristi dello Studio padovano, fra gli altri con lo stesso Lambertazzi47. Il „medico-umanista“48 fu messo in scena da Giovanni Gherardi da Prato nel Paradiso degli Alberti49 quale protagonista del cenacolo colto che si ritrovava presso Coluccio Salutati e altri50 – un cenacolo che pure si allietava con i madrigali di Bartolino da Padova51. La rete sociale, professionale e culturale entro la quale si mosse Herman Poll mostra insomma rilevanti implicazioni. Sostenuto da questa rete Poll giunse a Pavia. E vi giunse con titolo e competenze specifiche: anzitutto e non a caso in materia musicale, visto che nel 1394 allo Studium di Vienna aveva scelto di leggere (cioè insegnare) musicam (probabilmente il De musica di Boezio), mentre negli anni precedenti e successivi avrebbe letto la Fisica e gli Analytica posteriora di Aristotele, insieme con il Donato, svolgendo quindi corsi di musica, filosofia naturale, logica e grammatica, secondo il curriculum „parigino“ nelle arti liberali. Altrettanto esperto Johannes Silber, l’autore della ricetta contro la peste stilata a Padova, già lettore degli Analytica posteriora nonché dei Parva naturalia aristotelici a Vienna. I due fedeli compagni di studi intendevano addottorarsi insieme a Pavia: cum prima die simul intrassent, promiserunt invicem, quod simul gradum assumeret; e così avvenne52. Forse   Pesenti, Marsilio Santasofia (vedi nota 5) 94, 213, citazione 213.   Ibid. 211s. 44   Acta Facultatis (vedi nota 40) 147. 45   Ibid. 133. 46  Pesenti, Marsilio Santasofia (vedi nota 5) 185. 47   Ibid. 188. 48  Ibid. 608. 49   Ibid. 243. 50  Ibid. 237–247. 51  Giovanni Gherardi da Prato, Il paradiso degli Alberti, a cura di Antonio Lanza (I novellieri italiani 10, Roma 1975) 272, lib. IV 299: frate Bartolino, sì famoso musico. 52   Codice diplomatico dell’Università di Pavia, raccolto e ordinato da Rodolfo Maiocchi, vol. 1: 1361– 1400 (Pavia 1905) Nr. 655 e 659, rispettivamente licenza di Hermann Poll 1398 agosto 3 e di Johannes 1398 agosto 7; fra i presentatori di entrambi, insieme con Marsilio Santasofia, Pietro da Tossignano e il figlio di Mar42 43



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era stato proprio magister Johannes a farsi tramite fra Poll e Lambertazzi; del genero di quest’ultimo, Pietro Tomasi, Poll divenne in ogni caso „socio“ a Pavia, pronto a fargli credito e ad accettare coltri e cuscini a scomputo dei debiti accumulati. Un Tomasi il quale a sua volta godeva di rapporti diretti con l’illustre, comune magister Marsilio Santasofia: a questo era stato affidato dal suocero e nella casa di questo il suocero gli ordinava di deporre in custodia le proprie masserizie53. Da questi dati minuti si compone la realtà quotidiana della mobilità studentesca al di là e al di qua delle Alpi nonché la ragnatela di parentele o amicizie fra docenti e studenti sulla quale transalpini come Hermann Poll e maestro Johannes poterono contare, per muoversi da uno Studium all’altro. Le „Seilschaften“, le cordate organizzate in patria in vista dell’immatricolazione si „complicavano“ nei luoghi di studio, inserendosi in un mondo di cultura universitaria, di lettere, arti e politica.

La condanna a morte. Intrigo politico e lascito culturale Per ragioni ignote Hermann Poll, ormai dottore in medicina e forse pure in diritto, nel 1398 decise di spostarsi ad Heidelberg, uno Studium di fresca fondazione, con una facoltà di medicina ancora embrionale. Nel 1399 ottenne il beneficio del Duomo di Spira che solo l’anno prima era stato incorporato all’università54, mentre il suo collega Silber nel 1398 era ritornato a Vienna (venit Wyennam de Papia); qui il 5 giugno 1400 risulta accolto anche Poll55, due mesi dopo esser entrato in possesso della prebenda di Spira. Divenuto professore e medico personale del re dei Romani Ruprecht von der Pfalz (Roberto del Palatinato), nel 1401 Poll fu accusato di aver voluto avvelenare quest’ultimo su istigazione di Gian Galeazzo Visconti; sottoposto a processo e riconosciuto colpevole in Norimberga, finì orribilmente giustiziato56. La sua vicenda ebbe notevole risonanza, sedimentandosi nello scambio epistolare fra Ruprecht, Firenze e vari principi italiani, nonché nelle lettere a propria discolpa indirizzate da Gian Galeazzo all’arcivescovo di Magonza, di Colonia, a un principe ignoto e alla città di Norimberga57. Fondata o infondata che fosse l’accusa – Giacinto Romano ha mostrato in modo convincente come dietro l’intrigo ci fossero i fiorentini, insieme con Ludovico di Baviera58 – almeno a Ruprecht e al tribunale silio, Daniele (cfr. La rubrica [vedi nota 30] Nr. 3946–3947); il 3 settembre lauree di entrambi, con sermone di Marsilio Santasofia (Codice diplomatico, Nr. 679). 53  Segarizzi, La corrispondenza familiare (vedi nota 7) 12 (1397 aprile 9). 54 Gerhard Fouquet, Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 57, Mainz 1987) 718. 55   Acta Facultatis medicae Universitatis Vindobonensis, ed. Karl Schrauf, vol. 1 (Wien 1894) 95. Anche in questo caso Silber e Poll sono citati l’uno di seguito all’altro. 56   Strohm, Die private Kunst (vedi nota 9). Le fonti sono nei Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht 1. Abtheilung: 1400–1401, a cura di Julius Weiszäcker (Deutsche Reichstagsakten 4, Gotha 1882) 361–362 Nr. 302, 363–364 Nr. 303, 369–370 Nr. 308. Nella matricola di Heidelberg il suo nome venne cancellato, e poi si aggiunse: Magister Hermannus Poll etc. abrasus et exclusus est propter crimen lese maiestatis commissum in regem Rupertum quondam ducem Bauarie, Universitätsarchiv Heidelberg, Matrikel der Universität Heidelberg, M1: 1386–1432, fol. 47v; ed. in Die Matrikeln der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662, I. Theil, Von 1386 bis 1553, ed. Gustav Toepke (Heidelberg 1884) 68 nota 2, ora https://digi.ub.uni-heidelberg. de/diglit/matrikel1386; e per il manoscritto: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/uah-m1. [14. 1. 2019]. 57  RTA 4 (vedi nota 56) 369s. Nr. 308. 58 Giacinto Romano, Giangaleazzo Visconti avvelenatore: un episodio della spedizione italiana di re Ru-

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di Norimberga essa parve verosimile, anche forse per la fama di avvelenatori che perseguitava i Visconti. Qui interessa sottolineare la consuetudine di rapporti e di scambi fra i due versanti alpini che l’accusa e la condanna presupponevano: il segretario di Hermann Poll, il primo a svelare la presunta congiura, veniva dall’Italia in cui, scrive Ruprecht, per qualche tempo aveva vissuto. Hermann Poll, che da tre anni era medico personale del re, confessò (o fu costretto a confessare) di aver ricevuto incarico e credito per il veleno da Pietro da Tossignano, a sua volta medico personale di Gian Galeazzo, che Poll conosceva per esser stato fino a poco tempo prima suo allievo a Pavia – era stato infatti da lui presentato all’esame di licenza, insieme con Marsilio Santasofia. La storiografia italiana, che a parte l’eruditissimo Romano non usa sistematicamente i Regesta Imperii, tratteggia Pietro da Tossignano come „inquieto e ambizioso medico che, divenuto amico personale di Gian Galeazzo Visconti, si adoperò per favorirne la politica espansionistica in Emilia e in particolare a Bologna“. Uomo politico e già docente a Padova, Bologna, Ferrara, „sotto la protezione del Visconti“ Pietro s’era poi insediato a Pavia, dove teneva „un insegnamento medico, molto apprezzato“59. S’intuisce allora una possibile intimità di rapporti docente-studente, che poteva persistere dopo lo studio e teoricamente incidere sulla politica di Gian Galeazzo Visconti al di là delle Alpi. E’ ben vero che Gian Galeazzo faceva osservare come il suo medico personale Pietro (nostro fisico) mancasse già da un anno da Pavia e non fosse stato materialmente in grado di comunicare con lui60. Altrettanto poco credibile suona la diceria secondo la quale Pietro da Tossignano avrebbe proposto a Poll addirittura un episcopato come ricompensa dell’avvelenamento61. Ma se si tiene conto dell’attiva politica beneficiale viscontea62, anche un’insinuazione di questo genere si moveva nell’ambito del possibile. I risvolti politici della vicenda saranno da approfondire riguardo non solo al „Romzug“ di Ruprecht allora imminente63 e al suo orientamento antivisconteo64, ma anche sullo sfondo del grande scisma. Insieme con Poll, almeno altri due medici testimoniati nel Repertorium Germanicum passarono da Pavia a Heidelberg negli anni 1391–140065; l’eventuale addensamento di relazioni, a Pavia come in altre università, può essere un perto di Baviera. Archivio storico lombardo ser. 3, 21 (1894) 309–369. Il saggio di Romano è ignoto alla storiografia più recente in lingua tedesca. La confessione di Niccolò da Uzzano registrata anche in: Il registro di Giovannolo Besozzi cancelliere di Giovanni Maria Visconti, con appendice di altri atti viscontei, a cura di Caterina Santoro (Analecta Trivultiana 1, Milano 1937) 19 Nr. 22. 59 Augusto De Ferrari, Curialti, Pietro (Pietro da Tossignano o Tausignano, Petrus de Thauxignano, de Curialtis). DBI 31 (1985) 432–434, citazione 433. Nella voce non si cita l’edizione di Weiszäcker dei RTA 4 (vedi nota 56). 60  Ibid. 370 Nr. 308. 61   La testimonianza è ripresa in Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451, a cura di Ute Rödel, vol. 15: Die Zeit Ruprechts 1400–1403 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Sonderreihe 15, Köln–Wien 1986) 72. 62 Andrea Gamberini, Il principe e i vescovi. Un aspetto della politica ecclesiastica di Gian Galeazzo Visconti (1997), ora in id., Lo stato visconteo. Linguaggi politici e dinamiche costituzionali (Studi e ricerche storiche 351, Milano 2005) 69–136; Federica Cengarle, Carriera ecclesiastica e patronage politico, in: La mobilità sociale nel Medioevo italiano, 3. Il mondo ecclesiastico (secoli XII–XV), a cura di Sandro Carocci–Amedeo De Vincentiis (Roma 2017) 295–312. 63  Alfred Winkelmann, Der Romzug Ruprechts von der Pfalz. Nebst Quellenbeilagen (Innsbruck 1892). 64 Cfr. Romano, Giangaleazzo Visconti (vedi nota 58) 309–369. 65   Si tratta di Lambert Terhoven: Art. Lambert ter Hoeven, in: RAG, https://resource.database.rag-online. org/ngZP1Y274YH05ovZtYyo6Xlw [14. 1. 2019] e di Nikolaus Borrel: Art. Nikolaus Borrel in: RAG, https:// resource.database.rag-online.org/ngYO3P779Y850nuCsYRnhWkL [14. 1. 2019].



Medicina, musica e politica fra Studia e corti

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elemento per articolare meglio le nostre convinzioni sugli attori dello scisma negli Studia e alle corti italiane o transalpine. In un recente contributo si è potuto mostrare come già dalla fine degli anni Ottanta a Pavia e presso lo Studium pavese convivessero posizioni diverse riguardo all’obbedienza romana e avignonese66; tale compresenza non fu solo espressione di convenienze politiche, ma poté alimentare una dialettica e un dibattito che trovavano un’humus favorevole nello Studio. Verificare e approfondire anche sulla base dei dati del Repertorium Germanicum e del Repertorium Academicum Germanicum i legami fra studenti e docenti, fra ambiente curiale e ambienti cortigiani diventa allora prezioso. In tal modo si amplia e s’infittisce la trama di relazioni fra università, corti e poteri cittadini che nelle città dell’Italia settentrionale finora è stata apprezzata soprattutto per singoli docenti di spicco come Santasofia. Tali relazioni trapassarono dalla politica alla cultura, dai luoghi dello Studium alla „sfera privata“ dei principi, appunto accessibile a un medico personale come Hermann Poll. „Era un medico di grande competenza, di piacevole aspetto e comportamento gentile, allora trentunenne, un esperto magister artium, molto istruito, dottore in medicina, musicista eccellente all’organo e ad altri strumenti“67: con tali qualità egli poté entrare nella cerchia intima di re Ruprecht ‒ ex intimis in nostris fovebamus delitiis, confessa dolente Ruprecht68. A dispetto della sua tragica fine, il nome di Poll resta legato al clavicembalum e a una fervida stagione culturale. Pietro Tomasi, suo socio e compagno di studi pavese, divenne poi medico rinomato, docente dello Studium di Padova, letterato in corrispondenza con umanisti di fama come Guarino69. E forse continuò a coltivare gli interessi condivisi in giovinezza con Hermann, come pare di cogliere dalla sua ricca biblioteca, che fra i vari codici greci custodiva nel 1433 due trattati musicali: una rarissima, preziosa copia degli Armonica di Claudio Tolomeo con il commento di Porfirio e una copia, altrettanto preziosa, del De musica attribuito a Plutarco70. Pochi anni prima Tomasi aveva prestato i propri Plutarchi libros, portati con sé dalla „Grecia“71, a Leonardo Giustinian, l’umanista 66 Daniela Rando, in collaborazione con Wolfgang Decker, Lo Studium di Pavia nel secondo Trecento: una rivisitazione, in: L’università in tempo di crisi. Revisioni e novità dei saperi e delle istituzioni nel Trecento, da Bologna all’Europa, a cura di Riccardo Parmeggiani–Berardo Pio (Centro interuniversitario per la storia delle università italiane, Studi 30, Bologna 2016) 135–158, qui 152–156. 67  E’ l’apprezzamento del cronista Ulman Stromer, cit. in Strohm, Die private Kunst (vedi nota 9) 60. 68  RTA 4 (vedi nota 56) 363 Nr. 302; Strohm, Die private Kunst (vedi nota 9) 61. 69 Tiziana Pesenti Marangon, Professori e promotori di medicina nello Studio di Padova dal 1405 al 1509: repertorio bio-bibliografico (Trieste 1984) 205–210; Margaret King, Venetian Humanism in an Age of Patrician Dominance (Princeton 1986) 434–436. 70   Ne parla Ambrogio Traversari nel 1433 in una lettera a Niccolò Niccoli: Tomasi, a suo dire vir humanissimus, gli aveva portato in visione i propri codici greci. Ambrosii Traversarii generalis Camaldulensium ... Latinae Epistolae, vol. 2, ed. Laurentius Mehus (Florentiae 1759, ristampa anastatica Bologna 1968) lib. VIII ep. 46 413–414: 413. Devo tale importante segnalazione a Mariarosa Cortesi, che ringrazio di cuore anche per gli ulteriori suggerimenti bibliografici. Su Tomasi e sui suoi codici greci, Agostino Pertusi, L’umanesimo greco dalla fine del secolo XV agli inizi del secolo XVI, in: Storia della cultura veneta, vol. 3/1, Dal primo Quattrocento al concilio di Trento (Vicenza 1980) 177–264, qui 202; Susan Connell, Books and their Owners in Venice. Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 35 (1972) 136–186, qui 175–182, e Marino Zorzi, Dal manoscritto al libro, in: Storia di Venezia. Dalle origini alla caduta della Serenissima, vol. 4, Il Rinascimento: politica e cultura, a cura di Alberto Tenenti–Ugo Tucci (Roma 1996) 817–958, qui 842, 846. Per l’edizione di Tolomeo: Claudio Tolomeo, Armonica con il Commentario di Porfirio. Testo greco a fronte. Saggio introduttivo, traduzione, note e apparati di Massimo Raffa (Milano 2016); sul De musica dello ps.-Plutarco, Thomas J. Mathiesen, Art. Plutarch (2005), Geschichte, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15), https://www-1mgg-2online-1com-1008e20dl02b4.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/51013v [12. 3. 2020]. 71  Joannis Baptistae Mariae Contareni Anecdota Veneta, vol 1 (Venetiis 1757) 74–76: lettera di Giusti-

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e uomo politico veneziano ricordato non solo come traduttore di Plutarco72, ma anche come autore di composizioni sacre e profane, da lui stesso cantate e accompagnate con strumento musicale73. Un suo Lamento, recentemente datato all’epoca in cui era studente a Padova nel 1406, fu messo in musica, con altri suoi componimenti, dal grande Johannes Ciconia74. Proprio l’analisi retorico-melodica di tale Lamento ha indotto di recente Jason Stoessel a collocare Giustinian, Ciconia e Pier Paolo Vergerio nella stessa „emotional community“: lo spazio emozionale di quel nascente umanesimo che andava manifestandosi a Padova nel primo Quattrocento75. In chiusura pare allora opportuno ritornare sul citato circolo petrarchesco padovano e sulla cerchia di Pietro Tomasi. A quella cerchia appartenne pure Gugliemo Marcanova76, che nel 1396 si licenziò in arti a Padova alla presenza di Zabarella, Lambertazzi, Vergerio, e a Pavia divenne compagno di studi, oltre che di Tomasi, probabilmente dello stesso Poll – si addottorò difatti nel 1398, solo due mesi dopo di lui. Fresco di nozze, nel 1400 Marcanova scambiava lettere giocose con un altro suo collega dello Studium pavese, che pure era discepolo di Marsilio Santasofia e Pietro da Tossignano, e con lui condivideva interessi petrarcheschi: Giorgio Anselmi77. Oltre che scrittore di astronomia e astrologia, nella maturità Anselmi fu anche autore di un importante trattato musicale, il De musica78, in cui offrì la prima descrizione tecnica di un clavicordo, con otto corde e ventinove chiavi79. E’ nian a Tomasi, e 86: risposta di Tomasi, che ricorda i Plutarchi libros, quos a Graecia mecum devexi. Su altre opere di Plutarco date dal Tomasi in prestito cfr. Connell, Books (vedi nota 70) 176. 72  Per brevità rinvio a Lucia Nadin, Giustinian Leonardo (1376–1446). Luogotenente della Patria, umanista, in: Dizionario biografico dei friulani, Nuovo Liruti, vol. 2, L’età veneta, a cura di Cesare Scalon–Claudio Griggio–Ugo Rozzo (Udine 2009), (http://www.dizionariobiograficodeifriulani.it/giustinian-leonardo/) [9. 3. 2020]. Ma fra gli studi di musicologia si vedano almeno David Fallows, Leonardo Giustinian and Quattrocento Polyphonic Song, in: L’edizione critica tra testo musicale e testo letterario. Atti del Convegno internazionale Cremona, 4–8 ottobre 1992, a cura di Renato Borghi–Pietro Zappalà (Studi e testi musicali N. S. 3, Lucca 1995) 247–260, e Jason Stoessel, Con lagreme bagnadome el viso: mourning and music in late medieval Padua. Plainsong and Medieval Music 24 (2015) 71–89. 73  Vincenzo Borghetti, Art. Giustinian, Leonardo (2002), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15), https://www-1mgg-2online-1com-1008e20su0736.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/25033 [9. 3. 2020]. 74   Fallows, Leonardo Giustinian (vedi nota 72) 247–258. Sugli studi universitari di Leonardo Giustinian a Padova in particolare 252. 75  Stoessel, Con lagreme (vedi nota 72) 72. 76  Elisabetta Barile–Paula C. Clarke–Giorgia Nordio, Cittadini veneziani del Quattrocento: i due Giovanni Marcanova, il mercante e l’umanista (Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, Memorie. Classe di scien­ze morali, lettere ed arti 117, Venezia 2006) 9–10, 19–22, specie per i rapporti con Tomasi; Elisabetta Barile, Qualche notizia sul medico Guglielmo Angelieri da Ravenna, destinatario della Sen 3. 8. Studi petrarcheschi 20 (2007) 57–104, qui 79s. e 82–84 (rapporti con il nonno di Guglielmo, Guglielmo Angelieri); ead., Per la biografia dell’umanista Giovanni Marcanova (Treviso 2011) 132, 225. 77  Liliana Pannella, Anselmi, Giorgio senior. DBI 3 (1961), http://www.treccani.it/enciclopedia/giorgioanselmi_res-7befc14f-87e6-11dc-8e9d-0016357eee51_(Dizionario-Biografico)/ [9. 3. 2020]; Klaus-Jürgen Sachs, Art. Anselmi, Giorgio (1999), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (vedi nota 15), https:// www-1mgg-2online-1com-1008e20su0736.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/11433 [9. 3. 2020]. Sui rapporti con Guglielmo Marcanova, Barile–Clarke–Nordio, Cittadini (vedi nota 76) 22s.; Barile, Qualche notizia (vedi nota 76) 79–80. 78  Georgii Anselmi Parmensis De musica. Dieta prima de celesti harmonia, Dieta secunda de instrumento harmonia, Dieta tertia de cantabili harmonia, a cura di Giuseppe Massera (Historiae musicae cultores. Biblioteca 14, Firenze 1961). 79 Standley Howell, Medical Astrologers and the Invention of Stringed Keyboard Instruments. Journal of Musicological Research 10 (1990) 1–17, citazione 5: „Anselmi also provides a formula for what he called a monochord. But this instrument had eight strings tuned in unison and twenty-nine keys. When we read that



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forte allora la tentazione di associarlo a Hermann Poll, che aveva frequentato la medesima comunità accademica pavese di cui Anselmi dava notizie a Marcanova pochi anni dopo, nel citato scambio epistolare80. Il milieu studentesco fra Padova e Pavia sullo scorcio del secolo XIV rivela dunque un’ampia contaminazione con „quegli ambienti di seguaci e ammiratori di Petrarca nei quali prese origine e si sviluppò l’Umanesimo veneziano“81. Con il suo passaggio pur fugace, Hermann Poll appare sodale di genio, ingeniosus multum, della piccola brigata di giovani che in età matura avrebbero contribuito alla vita politica, letteraria e musicale del Quattrocento veneto-emiliano. Addendum.  Uno schizzo biografico di Pietro Tomasi è ora fornito da Patrick Gautier Dalché, Due contemporanei di Fra’ Mauro e lo spazio geografico: il medico umanista Pietro Tommasi e il filosofo naturalista Giovanni Fontana, in: Venezia e la nuova oikoumene. Cartografia del Quattrocento/Venedig und die neue Oikoumene. Kartographie im 15. Jahrhundert, a cura di Ingrid Baumgärtner­­–Piero Falchetta (Venetiana 17, Roma–Venezia 2016) 97–113, qui 98–101. Sullo studio della musica all’università di Padova e poi alla scuola di Vittorino da Feltre, Mariarosa Cortesi, Greek at the School of Vittorino da Feltre, in: Teachers, Students and Schools of Greek in the Renaissance, a cura di Federica Ciccolella­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­–Luigi Silvano (Brill’s studies in intellectual history 264, Leiden– Boston 2017) 54–78, qui 58, 62–66, su Tomasi 64 nota 35. Vittorino possedette un manoscritto comprendente fra l’altro la copia in greco sia degli Armonica di Tolomeo con il commentario di Porfirio sia del De musica dello ps.-Plutarco, manoscritto poi acquistato da Francesco Barbaro. Con quest’ultimo anche il Tomasi fu in stretto contatto.

the ends of the keys struck the strings at intervals corresponding to the proportions of the Pythagorean scale, it becomes apparent that Anselmi is describing a clavichord.“ 80   Anselmi dava a Marcanova notizie fresche sui comuni maestri, fra i quali Marsilio e Daniele Santasofia, Pietro da Tossignano e Francesco Strazzapatti. L’identificazione del pater noster Petrinus con Pietro da Tossignano, accolta anche da Elisabetta Barile, è di Agostino Sottili, Studenti tedeschi e Umanesimo italiano nell’Università di Pavia durante il Quattrocento. I: Pietro del Monte nella società accademica padovana (1430– 1433) (Contributi alla storia dell’Università di Padova 7, Padova 1971) 50, nota; cfr. Barile–Clarke–Nordio, Cittadini (vedi nota 76) 22 e nota 57. Poll e Anselmi sono accostati, senza essere posti in relazione, da Marchi, Music (vedi nota 35) 148. Anche Howell tratta singolarmente dei due personaggi: Howell, Medical Astrologers (vedi nota 79) rispettivamente 5s. e 8–10. Lo studioso americano sottolinea in generale il nesso fra sapere teorico e know how tecnico caratteristico dei medici che avevano competenze astrologiche. 81  Barile, Qualche notizia (vedi nota 76) 57s.



Überlegungen zum Begriff securitas/sicherheit im hohen und späten Mittelalter Christine Reinle

Vielleicht gibt es keinen Begriff der politischen Sprache, der in unseren Tagen so allgegenwärtig ist wie der Begriff Sicherheit. Nach Christoph Kampmann ist Sicherheit ein „Schlüsselbegriff der modernen polit[ischen] Sprache“1. Drei Merkmale zeichnen diesen Begriff aus: In Anlehnung an Steffen Patzold, der hier Gedanken Werner Conzes und Franz-Xaver Kaufmanns weiterführt, kann man sagen, dass der Begriff Sicherheit nicht „deskriptiv oder analytisch, sondern normativ“ verwendet wird2. Sicherheit ist demnach erstens ein „Grund- und Wertbegriff der politisch-sozialen Sprache“3, wobei man folgern darf, dass er wie alle normativen Begriffe auch einen Verhaltensimperativ oder mindestens einen Verhaltensappell impliziert4. Zweitens wird von dem Begriff Sicherheit und den in ihn eingeschriebenen Erwartungen ein weites Politikfeld abgedeckt. Zu diesem gehört nicht allein, wie noch in der Frühen Neuzeit, der Schutz des Individuums und des 1 Christoph Kampmann–Christian Mathieu, Art. Sicherheit. Enzyklopädie der Neuzeit 11 (2010) 1143– 1150, hier [1] 1143. Die Abs. [1] und [3] wurden von Kampmann, Abs. [2] von Mathieu verfasst. Zum Unterschied zwischen „Wort“ und „Begriff“ s. die Definition von Schrimm-Heins: „Im Unterschied zum Wort vereint ein Begriff in sich eine Bedeutungsfülle; er ist also immer mehrdeutig. Wortbedeutungen können durch Definitionen exakt bestimmt werden; Begriffe können nur interpretiert werden.“ Andrea Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas. Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991) 123–213 (zit.: Schrimm-Heins, Gewißheit 1) und 35 (1992) 115–213 (zit.: Schrimm-Heins, Gewißheit 2), hier 1 132. – Abkürzungen: RTA 1 = Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel. Erste Abt.: 1376–1387, ed. Julius Weizsäcker (Deutsche Reichstagsakten [Ältere Reihe] 1, München 1867); RTA 5 = Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht. Zweite Abt.: 1401–1405, ed. Julius Weizsäcker (Deutsche Reichstagsakten [Ältere Reihe] 5, Gotha 1885); RTA 13 = Deutsche Reichstagsakten unter König Albrecht II. Erste Abt.: 1438, ed. Gustav Beckmann (Deutsche Reichstagsakten [Ältere Reihe] 13, Stuttgart–Gotha 1925); RTA 16 = Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. Zweite Abt.: 1441–1442, ed. Hermann Herre–Ludwig Quidde (Deutsche Reichstagsakten [Ältere Reihe] 16, Stuttgart–Gotha 1928). 2 Steffen Patzold, Human Security, fragile Staatlichkeit und Governance im Frühmittelalter. Zur Fragwürdigkeit der Scheidung von Vormoderne und Moderne. Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 406–442, hier 415 (Zitat), postuliert dies für den Begriff „Human Security“, also nicht für den Begriff „Sicherheit“ im Allgemeinen. S. ferner Werner Conze, Art. Sicherheit, Schutz. Geschichtliche Grundbegriffe 5 (1984) 831–862, hier 831; Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften (Zivile Sicherheit 4, Stuttgart 21973, Nachdr. Berlin 2012) 29. 3  Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 831. Vgl. auch Kaufmann, Problem (wie Anm. 2) 10, 28; Schrimm-Heins, Gewißheit 2 (wie Anm. 1) 213. 4   Kaufmann, Problem (wie Anm. 2) 29, 31f., 39; für Kaufmann hat der Begriff Sicherheit in der heutigen Gesellschaft „Appellqualität“. Vgl. außerdem Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 124, und Patzold, Human Security (wie Anm. 2) 415.

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Gemeinwesens vor inneren und äußeren Bedrohungen, der durch Obrigkeiten und nach diesen durch Staaten zu gewährleisten war. Vielmehr wurde seit den 1930er Jahren unter dem Label der „Social Security“ die soziale Absicherung der Menschen durch den Wohlfahrtsstaat gefordert5 und in erweiterter Form seit 1994 von der UNO unter dem Schlagwort der „Human Security“ postuliert, ein jedes Individuum habe einen Anspruch auf eine umfassende Absicherung seines Lebens, nämlich auf „Freiheit von Furcht“, „Freiheit von Mangel“6 und „Freiheit zu einem Leben in Würde“7, was „wirtschaftliche Sicherheit, Ernährungssicherheit, Gesundheit, persönliche Sicherheit (im Sinne des Schutzes vor Gewalt und anderen Bedrohungen), Umwelt (als Schutz vor Umweltkatastrophen und -bedrohungen, wie Mangel an Trinkwasser, Desertifikation etc.), Gemeinschaft (den Schutz in Gemeinschaften und von Gemeinschaften umfassend) und politische Sicherheit“ beinhalte8. Drittens hat der Begriff „Sicherheit“ heute eine auf die Zukunft gerichtete Komponente, die dadurch gekennzeichnet ist, dass in Bezug auf die Zukunft „verlässlich[e]“, mindestens aber „akzeptabel riskant[e]“ Erwartungen9 gehegt werden können. Dies veranlasst Christian Mathieu zu der Folgerung, dass Sicherheit „Handeln ermöglich[e]“10. Im Gegensatz dazu referiert Schrimm-Heins die These, der „Wunsch nach Sicherheit“ gehe häufig mit einer „Furcht vor Veränderung“ Hand in Hand und könne daher zu einer „Vernichtung der Zukunft“ führen11. Beim Blick in die allgemeine Sekundärliteratur, aber auch in Quellenübersetzungen hat man den Eindruck, dass Sicherheit auch ein relevanter Gegenstand mittelalterlicher Diskurse gewesen sein müsse12. Selbstredend gab es Gefahren für das Individuum oder für das Gemeinwesen in großer Zahl, beginnend mit Kriegen, Fehden und kriminellen Gewalthandlungen über Krankheiten und Seuchen bis hin zum Problem der Nahrungsmittelversorgung oder des Schutzes vor Feuer und Brandkatastrophen. Wie sich jedoch 5  Kaufmann, Problem (wie Anm. 2) 12 und 91–139 (Kap. 3); Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit: Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, in: Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, hg. von Stephan Lessenich (Bielefeld 2003) 73–104, hier 73, 81–87 zum Konzept der „Social Security“. 6   Michelle Becka–Felix Wilfred–Mile Babič, Menschliche Sicherheit. Concilium 54/2 (2018) 129–135, hier 129. 7  Erny Gillen, Menschliche Sicherheit ethisch aufladen und politisch nutzbar machen. Concilium 54/2 (2018) 136–143, hier 136. 8  Becka et al., Menschliche Sicherheit (wie Anm. 6) 129f.; Zitat ebd. 129. Zur „Human Security“ s. außerdem Patzold, Human Security (wie Anm. 2) 415; Cornel Zwierlein, Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der Geschichtswissenschaften, in: Sicherheit und Epochengrenzen (Geschichte und Gesellschaft 38/3, Göttingen 2012) 365–386, hier 376. 9  Kampmann–Mathieu, Art. Sicherheit (wie Anm. 1), hier [2] 1143. 10 Ebd. 11   Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 124. 12   Vgl. z. B. Anthony Forbes, Laesa Majestas and the Security Legislation of Edward III: The Statutes of Treason, Provisors, and Praemunire. Studies in Medieval Culture 4 (Kalamazoo 1973–1974) 359–367; Timothy Reuter, Die Unsicherheit auf den Straßen im europäischen Früh- und Hochmittelalter. Täter, Opfer und ihre mittelalterlichen und modernen Betrachter, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, hg. von Johannes Fried (VuF 43, Sigmaringen 1996) 169–201; Konrad Bund, Studien zu Magister Heinrich von Avranches V. Ein Dichter in inoffizieller diplomatischer Mission. Das Gedicht an den „Burgenbauer“ Erzbischof Theoderich II. von Trier (R 147) über die Sicherheit Triers und die Schönheit Montabaurs und sein zeitgeschichtlicher Hintergrund (1240). Mittellateinisches Jahrbuch 42 (2007) 44–78; Florian Dirks, Ausreiten, schützen, verhandeln. Aspekte und Akteure städtischer Sicherheit im Spätmittelalter am Beispiel Bremens, Braunschweigs und Lüneburgs, in: Vorderfflik twistringhe unde twydracht. Städtische Konflikte im späten Mittelalter, hg. von Rudolf Holbach et al. (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft 18, Oldenburg 2017) 85–96.



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bereits aus den Befunden Werner Conzes ergibt, war das semantische Feld von securitas, securus oder tutus im Sinne eines umfassenden Sicherheitskonzepts in den Quellen erstaunlich unterrepräsentiert. Anstelle von securitas finden sich vielmehr pax, tranquillitas, quies oder aber protectio, wenn Zielvorgaben für politisches Handeln formuliert wurden. Securitas hingegen war allem Anschein nach kein Leitbegriff im politischen Diskurs13. Dies gilt auch für das mittelalterliche römisch-deutsche Reich. Securitas und securus sowie die zugehörigen deutschen Begriffe wurden demnach nur in einem auf spezielle Sachverhalte eingeschränkten Sinn verwendet, nicht aber, um ein umfassendes Konzept obrigkeitlicher Zuständigkeit für ein beschütztes oder gar sorgenfreies Leben der Untertanen zu beschreiben. Erst im 15. Jahrhundert traten securitas/sicherheit samt ihren Ableitungen nach bisherigem Kenntnisstand prominenter in Erscheinung14. Der begriffsgeschichtliche Befund erstaunt nicht nur wegen des unbestreitbaren Stellenwerts sicherheitsrelevanter Probleme in der mittelalterlichen Gesellschaft. Er erstaunt auch, weil securitas seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. durchaus in der politischen Sprache präsent gewesen war15. Securitas war in der frühen Kaiserzeit nicht nur ein politischer Leitbegriff, sondern auch wichtig genug gewesen, um die Wünsche und Hoffnungen der Zeitgenossen auf ein sicheres Leben in die Personifikation einer Gottheit einmünden zu lassen, deren Abbild Münzprägungen zierte16. Dementsprechend stand die Personifikation der Securitas für das Versprechen der „politischen Stabilität des römischen ‚Welt‘reiches“ sowie für einen „Zustand gesicherten und geregelten Weltfriedens“17, schlussendlich also für jene Rahmenbedingungen, die den Einwohnern des römischen Reichs ein wohlbehaltenes Leben ermöglichten. Im politischen Diskurs der hohen Kai13   Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 833, hielt fest, dass Sicherheit im Mittelalter nicht zu einem „festgelegten politischen Grundbegriff“ geworden sei. Ähnlich urteilt M[ichael] Makropoulos, Art. Sicherheit. Historisches Wörterbuch der Philosophie 9 (1995) 745–750, hier 746, der für den Begriff securitas im Mittelalter eine positive Besetzung annimmt. Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 5) 75, behandelt das Mittelalter in einem einzigen Absatz, denn er war der Meinung, dass „‚Sicherheit‘ … ein altehrwürdiges Konzept der politischen Rhetorik“ sei, „dessen Wurzeln bis in die römische Antike zurückreichen, das jedoch erst mit Beginn der Neuzeit Kraft gewonnen“ habe (ebd. 73). Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 151, spitzte die These weiter zu, wenn sie schrieb: „Securitas ist für spezielle Bedeutungen reserviert, in seiner Bandbreite eingeengt und in seiner Bedeutung überhaupt deutlich geschwächt. Als Wort-Formel zwar omnipräsent, ist securitas im Mittelalter dennoch weder Zentralbegriff noch Schlagwort und erst recht kein Wertsymbol.“ 14  Generell beobachtete Jean Delumeau das Hervortreten volkssprachlicher Begriffe für „Sicherheit“ im 15. Jh. Dazu Jean Delumeau, Rassurer et protéger. Le sentiment de sécurité dans l’Occident d’autrefois (Paris 1989) 12–14. Dazu auch Peter Schuster, Hinter Mauern das Paradies? Sicherheit und Unsicherheit in den Städten des späten Mittelalters, in: Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, hg. von Martin Dinges–Fritz Sack (Konflikt und Kultur 3, Konstanz 2000) 67–84, hier 68. Nach Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 837, wurde das Sicherheitsvokabular im 15. Jh. gelegentlich wieder in einer Weise benutzt, die als „Vorstufe“ zu einer Verwendung als politischer Begriff betrachtet werden könne. 15   Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 832. 16  Hartmann, Art. Securitas. RE 2. Reihe, 3. Halbbd. (1921) 1000–1003; Carsten Binder, Art. Securitas. Der Neue Pauly 11 (2001) 317. Vgl. auch Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 832; Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 5) 74f. Kaufmann, ebd. 74, leitet die Vergöttlichung „abstrakte[r] Begriffe“ wie der Securitas daraus ab, dass im alten Rom „numinose[n] und juridisch in die Pflicht nehmende[n] Mächte[n] … spezifische[.] Geltungsbereiche[.] und Funktionen“ zugeschrieben worden seien. Vgl. außerdem Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 139; Hans Ulrich Instinsky, Sicherheit als politisches Problem des römischen Kaisertums (Deutsche Beiträge zur Altertumswissenschaft 3, Baden-Baden 1952); Karsten Dahmen–Peter Ilisch, Securitas Saeculi – a new revival of a Probus Reverse-type in the gold coinage of Constantine I. The numismatic chronicle 166 (2006) 229–231. 17  Zitat aus Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 5) 75; vgl. ferner Kaufmann, Problem (wie Anm. 2) 52; Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 745; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 139.

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serzeit spielte die securitas des Individuums außerdem eine zentrale Rolle, wenn es um die Grenzziehung zwischen einer gerechten und einer tyrannischen Herrschaft ging18. Gebete für den Kaiser, damit das Reich sicher, das eigene Zuhause geschützt, die Heere tapfer und der Erdkreis im Zustand der Ruhe seien, wie sie bereits die frühen Christen leisteten, verbanden das Problem der Sicherheit mit der Verteidigung gegen innere und äußere Gewalt. Sie wurden mindestens bis ins 8. Jahrhundert weiter tradiert und übermittelten die Idee, dass das Reich Frieden und Sicherheit zu gewährleisten habe, ins Mittelalter19. Das Verschwinden eines umfassenden Konzepts von securitas wird gewöhnlich mit dem Niedergang des Römischen Reichs und dem Ende seiner Befähigung, Sicherheit herzustellen, erklärt20; folgerichtig wird das Wiederauftauchen des Begriffs am Ende des Mittelalters mit der Herausbildung der spätmittelalterlichen Terriorialherrschaft und nachfolgend des frühmodernen Fürstenstaats und dessen Anspruch, nach innen ein Monopol legitimer Gewaltausübung zu besitzen und die Verteidigung gegen äußere Feinde zu organisieren, in Verbindung gebracht21. Die seit dem Spätmittelalter zunehmenden obrigkeitlichen Bestrebungen, das Leben jedes Einzelnen zu disziplinieren22, könnten in logischer Weiterentwicklung dieser Lesart darüber hinaus dazu beigetragen haben, dass Sicherheit wieder stärker explizit thematisiert wurde. Als komplementär zu dieser auf Conze und Kaufmann zurückgehenden Interpretation für Verschwinden und Wiederaufkommen des Begriffs „Sicherheit“ kann die These von Zwierlein gelten, der den Begriff „Frieden“ als personenbezogen, den Begriff „Sicherheit“ hingegen als raum- bzw. territorienbezogen auffasste, was ihn zu der Schlussfolgerung veranlasste: „Das personenrelational ausgerichtete Mittelalter hatte für dieses Konzept [CR: das Konzept der Sicherheit] noch wenig Gebrauch.“ Auch nach Zwierlein war es folglich der frühmoderne Territorialstaat mit den italienischen Stadtstaaten als spätmittelalterlichen Vorläufern, in denen Sicherheit zuerst 18   Plinius der Jüngere, Panegyrikus. Lobrede auf den Kaiser Trajan, ed. Werner Kühn (Texte zur Forschung 51, Darmstadt 22008) XXVII, 1–2 S. 56–59; XXVIII, 3 S. 58–61; XXXIV, 1, S. 68f.; L, 7 S. 98f.; LXVI, 3 S. 132f.; LXXII, 7 S. 144f.; XCIII, 1 S. 178–180; L. Annaeus Seneca, De Clementia. De Beneficiis. Über die Milde. Über die Wohltaten, ed. Manfred Rosenbach (L. Annaeus Seneca. Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Sonderausgabe 5, Darmstadt 1995), hier: De clementia, Prooemium, I, 8 S. 7f.; pars III c. VIII [I, 10], 2 S. 53f.; pars III, c. XVII [I, 19], 8 S. 78f.; Instinsky, Sicherheit (wie Anm. 16) 28–36. Vgl. auch Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 139; Bernd Steidl, Propaganda und Realität: Die innere Sicherheit in der Provinz, in: Imperium Romanum – Römer, Christen, Alamannen. Die Spätantike am Oberrhein. Katalog der Landesausstellung Karlsruhe 2005/06 (Stuttgart 2005) 147–153, hier 147. 19   Tertullian, Apologeticum. Verteidigung des christlichen Glaubens. Lateinisch/deutsch, eingeleitet und übersetzt von Tobias Georges (Fontes Christiani 62, Freiburg u. a. 2015) c. 30, 4 S. 208f.; Ludwig Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser und Reich. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Staat (Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften 75, Paderborn 1937) 31f. (zu Tertullian), sowie 134, 149, 166, 163 zu spätantiken Gebeten, dass pax oder libertas, Herrscher und Volk sicher sein mögen; Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 834, mit Verweis auf Gerd Tellenbach, Römischer und christlicher Reichsgedanke in der Liturgie des frühen Mittelalters (SB der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Jg. 1934/35, 1. Abh., Heidelberg 1934) 59 Nr. 12; Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 747; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 148f. 20  Zum Konnex zwischen dem Untergang des Imperium Romanum und dem Bedeutungsverlust der securitas (allerdings ohne expliziten Hinweis auf den Verlust der mit dem Imperium verbundenen Sicherheitsgewährleistung) s. Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 151. 21  Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 837f.; Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 5) 75; Schrimm-Heins, Gewißheit 2 (wie Anm. 1) 171; Hans-Richard Reuter, Art. Sicherheit, innere und äußere. Religion in Geschichte und Gegenwart 7 (2004) 1296f., hier 1297. 22  Zur Bedeutung der „Policey“ im Kontext des frühneuzeitlichen Sicherheitsdiskurses s. Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 846.



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zum „Leitbegriff und -konzept“ wurde23. Im Italien des 15. Jahrhunderts, besonders im Florenz der Medici, sah Zwierlein erstmals Belege für eine explizit als Sicherheitspolitik ausgewiesene Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen24. Einen ersten Höhepunkt erreichte der Sicherheitsdiskurs nach allgemein akzeptierter Meinung mit dem Philosophen Thomas Hobbes, der „Sicherheit zum Zentralbegriff und zum alleinigen Staatszweck“ erhob25. Auf das Dilemma einer Unterrepräsentanz der Begriffe securitas und sicherheit in den (spät-)mittelalterlichen Quellen antworteten in jüngerer Zeit Peter Schuster und Stefanie Rüther mit der Wahl eines akteurs- bzw. handlungsbezogenen Zugriffs. So griff Schuster die These Franz-Xaver Kaufmanns auf, dass Sicherheit in Zeiten gefühlter oder erfahrener Unsicherheit zu einem prominenten Thema werde26. Er zog jedoch indiziengestützt den gegenteiligen Schluss und vermutete, dass sich Stadtbürger im römisch-deutschen Reich des 15. Jahrhunderts, in dem Wörter der Wortfamilie „Sicherheit“ wieder verstärkt in Erscheinung traten, in puncto krimineller Gefährdung ihrer eigenen Person nicht unsicherer gefühlt hätten als Bürger heutzutage27. Stefanie Rüther wiederum stellte am Beispiel Nürnbergs die Analyse administrativer Praktiken, durch die die von Feuer und Hochwasser ausgehenden Gefahren eingedämmt werden sollten28, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen darüber, wie im Spätmittelalter Sicherheitspolitik betrieben werden konnte. Rüther untersuchte also anstelle des Redens über Sicherheit das, was man als „doing security“ bezeichnen könnte. Damit beschritt sie einen Weg, der bislang noch wenig genutzte Chancen bietet, mittelalterliche Sicherheitsbedürfnisse und Sicherheitsprobleme zu identifizieren. Je deutlicher auf diese Weise Sicherheitspolitik „avant la lettre“ identiziert wird, umso mehr stellt sich jedoch die Frage, warum es im (Spät-)Mittelalter an einem umfassenden Sicherheitsbegriff gefehlt haben soll. Einen wichtigen Schritt zur Beantwortung dieser Frage ging Gerrit Jasper Schenk, der auf gelungene Weise den ideengeschichtlichen und den politisch-pragmatischen Ansatz miteinander verband. Als Ausgangspunkt diente ihm eine bildliche Quelle, nämlich das 23  Zwierlein, Sicherheitsgeschichte (wie Anm. 8) 367–369 (Zitate 369; 367). Zu den italienischen Stadtstaaten als Ausgangspunkt der Entwicklung eines „new, pragmatic concept of ‚security‘“ s. mit anderer Begründung auch Gerrit Jasper Schenk, „Human Security“ in the Renaissance? „Securitas“, Infrastructure, Collective Goods and Natural Hazards in Tuscany and the Upper Rhine Valley / Human Security in der Renaissance? Securitas, Infrastruktur, Gemeinschaftsgüter und Naturgefahren in der Toskana und im Oberrheintal, in: The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History / Die Produktion von Human Security in Vormoderne und Zeitgeschichte, hg. von Cornel Zwierlein–Rüdiger Graf–Magnus Ressel (Historical Social Research / Historische Sozialforschung 35/4, Köln 2010) 209–233, hier 225. 24 Cornel Zwierlein, Security Politics and Conspiracy Theories in the Emerging European State System (15th/16th c.), in: Security and Conspiracy in History, 16th to 21st Century, hg. von dems.–Beatrice de Graaf (Historical Social Research / Historische Sozialforschung 38, Köln 2013) 65–95, hier 76. 25   Schrimm-Heins, Gewißheit 2 (wie Anm. 1) 172 (hier das Zitat) sowie 171–188, 202f. zu Hobbes’ Sicherheitsverständnis; außerdem Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 845; Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 747. 26  Schuster, Hinter Mauern (wie Anm. 14) 68, mit Verweis auf Kaufmann, Problem (wie Anm. 2). Einschlägig sind 14f. der Neuauflage. Zum Zusammenhang von Unsicherheitserfahrung und Sicherheitsdiskurs auf der Basis von Kaufmann auch Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 125. 27  Schuster, Hinter Mauern (wie Anm. 14) 80f. Hingegen konstatiert Schuster ein handlungsleitendes „Unsicherheitsgefühl“ im Bezug auf den eigenen Besitz. Ebd. 83f. 28 Stefanie Rüther, Zwischen göttlicher Fügung und herrschaftlicher Verfügung. Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik, in: Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm, Praxis, Repräsentation, hg. von Christoph Kampmann–Ulrich Niggemann (Frühneuzeit-Impulse 2, Köln–Wien–Weimar 2013) 335–350.

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vieldiskutierte Fresko Ambrogio Lorenzettis zum Buon bzw. Mal Governo im Palazzo Pubblico von Siena (1338/39)29, auf dem u. a. die personifizierte Securitas an hervorgehobener Stelle in Szene gesetzt wird. Ausgehend von einer Analyse des Bildprogramms des Freskos kombinierte Schenk Überlegungen zum Stellenwert des Konzepts „Sicherheit“ für einen italienischen Stadtstaat mit Untersuchungen konkreter städtischer Politik zur Absicherung von Stadtbewohnern gegen Lebensmittelknappheit und natürliche Bedrohungen. Schenk konnte auf diese Weise plausibel machen, dass der prominenten Inszenierung der Securitas auf Lorenzettis Fresko ein Bemühen der städtischen Obrigkeit entsprochen habe, das Leben der Bewohner von Stadt und Umland von Siena gegen illegitime Gewalt, aber auch gegen die Risiken des täglichen Lebens, inbesondere Hungersnöte, abzusichern. Für das Fresko selbst lässt sich nach Schenks gleichermaßen zusammenfassenden wie weiterführenden Bemerkungen ein elaboriertes, theologisch wie philosophisch aufgeladenes Herrschaftskonzept ableiten, das Aspekte dessen, was heute „Human Security“ genannt wird, integrierte. Zugleich zeigte Schenk auf, dass auch andere Städte nördlich und südlich der Alpen durch administrative Maßnahmen Lebensrisiken der Menschen, die durch Naturereignisse oder Missernten verursacht waren, abzufedern versuchten, worin Schenk durchaus ein Bemühen um „Human Security“ (auf vormodernem Niveau) sah30. Gestützt auf Schenks Forschungen betonte Angela Marciniak, dass es, basierend auf „den Fragen des guten Regierens und des gesellschaftlichen Friedens“, sehr wohl einen mittelalterlichen Sicherheitsdiskurs gegeben haben müsse31, dem sie sich durch eigene Überlegungen zur „Utopia“ des Thomas Morus weiter annäherte. Dabei kam sie zum Ergebnis, dass „politische Sicherheit tatsächlich auch schon im beginnenden 16. Jahrhundert sowohl als Bedingung für individuelles Glück und für gesellschaftlichen Frieden wie auch als Bestandteil von beidem“ gegolten habe32. Vor dem Hintergrund der Forschungen Schenks und Marciniaks erstaunt der bisherige begriffsgeschichtliche „Negativbefund“ zur (spät-)mittelalterlichen Sicherheitsterminologie umso mehr. Es wäre doch überraschend, wenn eine allegorische bildliche Darstellung wie die der Securitas auf dem Fresko Lorenzettis unabhängig von einem begleitenden verbalen politischen Diskurs entstanden wäre. Der hier vorgelegte Beitrag möchte daher versuchen, das begriffsgeschichtliche Feld weitergehend als bisher auszuleuchten. Dabei soll es zum einen darum gehen, den bekannten Befund einer überwiegend auf Einzelsachverhalte beschränkten Verwendung der Wörter securitas und securus vertieft zu interpretieren, zum anderen und vor allem soll aber gefragt werden, wann und in welchem Argumentationskontext securitas und securus wieder eine über die Regelung von Einzelsachverhalten hinausgehende Bedeutung bekamen und so neben die im Früh- und Hoch29  Hierzu vgl. die von Schenk, „Human Security“ (wie Anm. 23) 210–217, verwertete Literatur. Herausgegriffen seien Dagmar Schmidt, Der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über die gute und die schlechte Regierung. Eine danteske Vision im Palazzo Pubblico von Siena (Diss. St. Gallen 2002) (http://verdi.unisg.ch/ www/edis.nsf/wwwDisplayIdentifier/2656/$FILE/dis2656.pdf [11. 02. 2020]), und John T. Hamilton, Security. Politics, Humanity, and the Philology of Care (Princeton 2013) 138–146, 152–159. Die im Programm des Freskos verwendete Gegenüberstellung von Securitas und Timor findet sich, wie Hamilton, ebd. 146f., darlegte, auch in Wilhelms von Conches Moralium Dogma Philosophorum. 30   Schenk, „Human Security“ (wie Anm. 23). 31  Angela Marciniak, „Vorbestimmt, das zu sein, was wir sein wollen“ – Nachdenken über politische Sicherheit anhand von Thomas Morus und Utopia, in: „Security turns its eye exclusively to the future.“ Zum Verhältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte, hg. von Christoph Kampmann et al. (Politiken der Sicherheit 3, Baden-Baden 2008) 57–81, hier 69f. 32   Marciniak, Vorherbestimmt (wie Anm. 31) 65.



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mittelalter gängigen Leitbegriffe pax, tranquillitas oder quies treten konnten. Insbesondere soll gefragt werden, seit wann es Ansätze dafür gab, das Herstellen von Sicherheit zu einer Aufgabe der Obrigkeit zu erklären und damit auch die securitas in den politischen Diskurs einzubringen. (1) Als Ausgangspunkt ist auf die bereits von Conze und Kaufmann nachgewiesene Tatsache zurückzukommen, dass der Gebrauch des Begriffs securitas insbesondere bei programmatischen Äußerungen im früheren und hohen Mittelalter an Bedeutung zurücktrat. Die hoch- und spätmittelalterlichen Gottes- und Landfrieden rekurrierten stattdessen auf pax und treuga als Zentralbegriffe33. Das Substantiv securitas bzw. das Adjektiv securus beziehen sich im Hochmittelalter hingegen, wie bereits erwähnt, nicht auf den generellen Status einer Gesellschaft oder aller in dieser Gesellschaft lebenden Individuen, sondern lediglich auf partikulare Sachverhalte34. So kann securitas ein „konkrete[s] Schutzversprechen“35 oder eine „Sicherheitsgarantie“36 für bestimmte Personen37 und Orte bezeichnen. Der gedachte Zusammenhang dürfte ein Zustand sein, der den Betroffenen von der Verfolgung von Ansprüchen anderer freistellte, bzw. der ihm das „geschütztsein[.] vor schaden, verlust, gefahr“ zusagte38. Securitas kann folglich im Kontext des Geleits39, der Kapitulation eines feindlichen Individuums, dessen Leben gegen verbindliche Zusagen geschont wird40, aber auch des Lehenswesens verwendet werden. Securitas meint ferner die Bekräftigung eines Sachverhalts durch eine Urkunde41 und lässt   Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 836.   Bereits in der römischen Kaiserzeit war ein technischer Sprachgebrauch von securitas möglich, um z. B. „Quittung“, „Bürgschaft“ oder „Verpfändung“ zu bezeichnen. Dazu Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 832. Nach Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 149, war dieser Aspekt für den antiken Sprachgebrauch aber nebensächlich. Für das Mittelalter spricht Conze, ebd. 834, von einer Konkretisierung des Begriffs Sicherheit. Schrimm-Heins, ebd. 149, weist darauf hin, dass im Zuge der Konkretisierung „der rechtliche Aspekt in den Vordergrund getreten“ sei, was zu einer Einengung des Bedeutungsspektrums geführt habe. Kongruierend dazu hatte in Bezug auf die Gottes- und Landfrieden bereits Conze konstatiert, dass „Wort und Begriff ‚securitas‘ im umfassenden antiken Sinne im Hoch- und Spätmittelalter nicht mehr in den von neuem aktuell werdenden Landfriedensbestrebungen enthalten“ war. Aus dem Landfriedensentwurf der Kurfürsten vom Jahre 1438 (in: RTA 13 77f. Nr. 31) folgert Conze, ebd. 836f., jedoch, dass der Begriff „Sicherheit“ prinzipiell dafür geeignet gewesen sei, zum politischen Begriff zu werden, was impliziert, dass er eine umfassendere Bedeutung annehmen musste. Vgl. außerdem Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 5) 75; Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 747; Schrimm-Heins, Gewißheit 2 (wie Anm. 1) 171, 198. 35   Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 5) 75. 36   Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 834. Vgl. auch Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 149. 37  Sicherheit wurde während der Dauer des Friedens etwa speziell solchen Personen zugesagt, die sich im Zustand der Feindschaft oder Fehde mit anderen befanden: MGH Const. 1, ed. Ludwig Weiland (Hannover 1893) 602–605 Nr. 424, hier [12] 605 Z. 1–2: Securitatis gratia omnibus precipue faidosis huius dominicae pacis statuta traditio est; ebenso ebd. 605–608 Nr. 425, hier [12] 607 Z. 24. 38  Zitat und sinngemäße Entlehnung aus: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 16 (Zehnten Bandes Erste Abtheilung) (Leipzig 1905, Nachdr. München 1991) 718; dort als Angabe zum deutschen Adjektiv sicher [1]. 39  Vgl. z. B. MGH Const. 2, ed. Ludwig Weiland (Hannover 1896) 241–247 Nr. 196, hier [7] 243 Z. 32–35; Zwierlein, Sicherheitsgeschichte (wie Anm. 8) 369. 40 Arnulf Nöding, „Min sicherheit si din“. Kriegsgefangenschaft im christlichen Mittelalter, in: In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Mittelalter, hg. von Rüdiger Overmans (Köln–Weimar–Wien 1999) 99–117; Margrit Désilles-Busch, „Doner un don“ – „Sicherheit nehmen“. Zwei typische Elemente der Erzählstruktur des höfischen Romans (Diss. Berlin 1970) 66–79. 41  Art. Sicherheit [V]. Deutsches Rechtswörterbuch 13 (2014–2018) 451. 33 34

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somit an Rechtssicherheit denken42. Desgleichen thematisieren die Wörter securitas und securus bzw. ihr deutsches Äquivalent einen speziellen Aspekt innerhalb eines größeren Problemzusammenhangs, so häufig die Sicherheit der Straßen43, die sich von der Gefährdung des platten Landes abhob und die durch Schutz hergestellt werden sollte, oder die Sicherheit privilegierter Orte (z. B. Märkte44, Kirchen, Kirchhöfe45 und Spitäler46, aber auch Äcker und Weingärten47) bzw. spezieller Personen respektive Personengruppen, wie z. B. der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung während ihrer Arbeit, der Kaufleute, der Pilger oder des Klerus48. In diesem eingeschränkten Sinne ist securitas laut Andrea Schrimm-Heins gleichwohl ein „Zielbegriff“49. Daneben kommt securitas jedoch auch in allgemeineren und unspezifischeren Kontexten vor. Die Tatsache, dass securus und securitas häufig personen- und objektbezogen und damit fallweise kasuistisch und ggf. sogar situativ verwendet wurden, dürfte m. E. damit zusammenhängen, dass beide Wörter oft in einem rechtlichen, genauer: privilegialen, oder in einem vertraglichen Kontext gebraucht werden50. Substantiv wie Adjektiv verheißen dann einen Zustand privilegierten oder vertraglich abgesicherten Schutzes. Privilegien sind jedoch Vergünstigungen, durch die Einzelne oder Gruppen gegenüber anderen ausgezeichnet werden; Verträge gelten nur zwischen den Vertragsparteien. Der häufig partikulare Charakter der Verwendung dieser Sicherheitsbegrifflichkeit ergibt sich daher aus der Sache selbst. Ein weiterer Aspekt dürfte hinzutreten. Nach meinem Eindruck begegnet aus der Wortfamilie securitas häufig nicht das Substantiv, sondern das Adjektiv securus oder das Adverb secure. Adjektiv bzw. Adverb bezeichnen eine vorhandene oder herzustellende Ei  Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 834–836; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 149–151.   Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 837; ähnlich MGH Const. 2, ed. Weiland (wie Anm. 39) 241– 247 Nr. 196, hier [9] 244 Z. 9. Zum Nutzen sicherer Straßen s. auch die von Ptolomaeus von Lucca verfasste Fortsetzung der Schrift De regimine principum des Thomas von Aquin: Divi Thomae Aquinatis doctoris angelici De regimine principum ad regem Cypri et De regimine Judaeorum ad ducissam Brabantiae, ed. Joseph Mathis (Rom 21948) lib. 2 c. 12 S. 31f., zum Thema: Quod ad bonum regimen regni sive cuiuscumque dominii pertinet stratas, sive quascumque vias in regione, vel provincia habere securas et liberas (ebd. 31); RTA 5 609–620 Nr. 426, hier [16] 613; Zwierlein, Sicherheitsgeschichte (wie Anm. 8) 369 Anm. 9. Das Banner der Securitas auf dem Sieneser Fresko des Buon/Mal Governo trägt die Aufschrift: Senza paura ogn’uom franco camini, e lavorando semini ciascuno, mentre che tal comuno manterrà questa donna in signoria, ch’el à levata a’ rei ogni balia. Dazu Schmidt, Freskenzyklus (wie Anm. 29) 71 Anm. 6; Schenk, „Human Security“ (wie Anm. 23) 215 Anm. 30. 44   Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 835; Schrimm-Heins, Gewissheit 1 (wie Anm. 1) 150. 45   RTA 1 535f. Nr. 296, hier [1] 535; RTA 5 609–620 Nr. 426, hier [16] 613f.; ebd. 694–701 Nr. 476, hier [1] 694; RTA 13 77–80 Nr. 31, hier [6] 78; ebd. 156–158 Nr. 102, hier [4] 157; RTA 16 396–407 Nr. 209, hier [5] 404 Z. 12–14. 46  RTA 5 694–701 Nr. 476, hier [3] 695. 47   Ebd. 598–601 Nr. 423, hier [ad 8] 600 Z. 10f. 48   RTA 1 535f. Nr. 296, hier [2, 3] 535; RTA 5 598–601 Nr. 423, hier [Merg. 8] 600 Z. 6f.; ebd. 602–608 Nr. 425, hier [8] 606; ebd. 609–620 Nr. 426, hier [16] 613f.; ebd. 694–701 Nr. 476, hier [2, 4, 7] 695; RTA 13 77–80 Nr. 31, hier [1, 2, 4] 77f.; ebd. 156–158 Nr. 102, hier [1, 3] 157; RTA 16 396–407 Nr. 209, hier [3, 4] 404 Z. 3–11. 49  Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 149. 50   Zur Wichtigkeit der rechtlichen Bedeutungskomponente von securitas/securus s. Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 832, 834–836; Schrimm-Heins, Gewissheit 1 (wie Anm. 1) 148–151; Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 747. Die rechtliche Komponente scheint auch bei Ratpert von St. Gallen zu dominieren, in dessen Chronik die (als gefährdet wahrgenommene) securitas nach Hannes Steiner geradezu ein „Leitmotiv“ darstellt. Hannes Steiner, Einleitung, in: Ratpert, St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), ed. ders. (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [75], Hannover 2002) 14; vgl. auch Register 279f. (freundlicher Hinweis von Dr. Marian Weiß). 42 43



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genschaft eines Objekts51 (so beispielsweise das Sicher-Sein[-Sollen] der Straßen) oder einer Aktion (so etwa das Sicher-Sein[-Sollen] des Lebens und Verweilens, der Bewegung im Raum52, des Innehabens oder Verfügens über Güter etc.). Objekt oder Aktion verfügen jeweils auch über andere Eigenschaften. Daraus ergibt sich, dass „Sicherheit“ eine Facette, nicht aber das alleinige Merkmal des näher bestimmten Sachverhalts darstellt. Dies könnte ebenfalls zum Eindruck beitragen, dass die Sicherheitsbegrifflichkeit nicht generalisierend, sondern auf Einzeltatbestände bezogen verwendet wurde. Oft kommen zudem Wortpaare wie quiete et secure oder libere et secure, aber auch quietus et securus, salvus et securus etc. vor. Securus/secure scheinen dabei das jeweils andere Adjektiv/Adverb zu unterstützen, weil sie entweder den Gedanken des (rechtlichen) Schutzes bekräftigend hinzufügen oder einen bestimmten Aspekt innerhalb des Bedeutungsspektrums des jeweils anderen Worts stark machen. Ruhiges und sicheres Handeln oder Sein stellt den Aspekt des Unangefochtenen und Unanfechtbaren heraus, freies und sicheres Handeln den Aspekt des als arbiträr Akzeptierten. In diesen Fällen scheint es mir, als gewänne insbesondere das zweite Attribut durch das begleitende Adjektiv/Adverb securus/secure seine spezifische Färbung. Dort, wo das Substantiv securitas in der Bedeutung von „Sicherheit“ mit einem anderen Begriff, wie etwa pax, verbunden wird, dürfte securitas ebenfalls entweder als Verstärkung oder als Präzisierung oder Konkretisierung aufgefasst werden. So dürfte die securitas in der Formulierung omnibus ad ipsum mercatum venientibus tribus diebus ante et tribus diebus post veniendo, manendo, redeundo pacem firmam et securitatem auctoritate banni nostri firmiter indicimus53 die Verlässlichkeit des Friedens betonen und zugleich Sicherheit als Folge des Friedens ausweisen. Die securitas in der Formulierung coenobium cum omnibus ad ea pertinentibus plenissime immunitatis securitate fruatur dürfte die rechtliche Absicherung der immunitas eigens noch einmal betonen54. Darüber hinaus begegnen securitas/ securus aber auch als Konsequenz von Schutz55 oder als Folge des Friedens56. Was die deutschsprachliche Begrifflichkeit betrifft, handelt es sich nach dem 51  Bereits Kaufmann ging davon aus, dass nicht das Abstraktum „Sicherheit“ am Beginn der Analyse stehen müsse, sondern das Adjektiv „sicher“, da es sich bei der „Sicherheit“ um eine „Eigenschaftsidee“ handele. Dazu Kaufmann, Problem (wie Anm. 2) 52. Ebd. 54 postuliert er, dass Sicherheit zunächst ein „personenbezogene[s] Attribut“ gewesen sei, bevor es zum „Attribut von Dingen und Zuständen“ geworden sei. 52  MGH Const. 1, ed. Weiland (wie Anm. 37) 38f. Nr. 17, hier S. 38 Z. 26–S. 39 Z. 3; ebd. 602–605 Nr. 424, hier [2] 603 Z. 24f.; ähnlich ebd. 605–607 Nr. 425, hier 606 Z. 27f. Vgl. auch ebd. Nr. 273 S. 373 Z. 22f. Der Raumbezug des Begriffs „Sicherheit“, den Zwierlein konstatiert, ist also bereits früh gegeben und kann daher nicht als wenig anschlussfähig für ein „personenrelational ausgerichtete[s] Mittelalter“ angesehen werden, wie Zwierlein, Sicherheitsgeschichte (wie Anm. 8) 369; ders., Security Politics (wie Anm. 24) 68, annimmt. Darüber hinaus gibt es auch einen klaren Objektbezug der Sicherheit. 53  MGH DD F.I., ed. Heinrich Appelt (MGH DD 10/1–5, Hannover 1975–1990) 2 Nr. 469 S. 381 Z. 10–12; zit. von Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 835, und von Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 150. 54   Die Urkunden Arnolfs, ed. Paul Kehr (MGH Die Urkunden der deutschen Karolinger 3, Berlin 1940) 5–8 Nr. 3, hier 7 Z. 9f. (verunechtet), zitiert bei Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 834f. 55   Die Urkunden Ludwigs II., ed. Konrad Wanner (MGH Die Urkunden der Karolinger 4, München 1994) 172f. Nr. 54, hier 173 Z. 8–10; MGH D F.I., ed. Appelt (wie Anm. 53) 333–335 Nr. 437, hier 335 Z. 6; zit. bei Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 835. 56  Zur Sicherheit als Folge des Friedens s. z. B.: MGH Const. 1, ed. Weiland (wie Anm. 27) 596f. Nr. 419, hier bes. 597 Z. 4–5; MGH D F.I. , ed. Appelt (wie Anm. 53) 380f. Nr. 469, hier 381; zitiert von Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 150. Dass Sicherheit im Hier und Jetzt jedoch nicht auf Dauer gestellt, sondern erst in eschatologischer Perspektive zu erwarten war, darf ebenfalls als Bestandteil des mittelalterlichen Weltbildes angenommen werden. Dazu Jes. 4, 4–6; Jes. 32, 17–18; 1Thess. 5, 3.

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Grimm’schen Wörterbuch bei dem Adjektiv „sicher“ und folglich auch beim Abstraktum „Sicherheit“ um ein Lehnwort aus dem Lateinischen, wobei für die Übernahme der Wörter die Rechtssprache bzw. rechtliche Regelungsmaterien, insbesondere aus dem Bereich des Schuldrechts und des „öffentlichen“ Rechts, als Ausgangspunkt angenommen werden. Als Grundbedeutung von „sicher“ wird „auszer verantwortung, nicht haftpflichtig, ... durch bürgschaftsstellung oder pfandschein gedeckt, ... von öffentlichen Lasten verschont“ angegegeben57. In der Folge kann das deutsche Substantiv sicherheit, sicherecheit neben „Sorglosigkeit“ noch „Schutz“, „sicherstellung durch das gegebene wort“58, Schutz im Rahmen eines Spezialfriedens oder des Geleits59, „förmliche, auch eidliche Zusicherung“, „Bürgschaft“, „Garantie“60, aber auch Immunität61 und Schutz im Rahmen eines Freiheitsprivilegs bedeuten62. Weitgehend austauschbar ist außerdem das Wort feiligkeit/ velicheyd/velichkeit o. ä. (mit dem zugehörigen Adjektiv feilig/fehlig/veilic/vêlic o. ä.), das ungeklärten Ursprungs ist und das für „Schutz, Sicherheit, sicheres Geleit, Friede“ oder den zugehörigen, einen der erstgenannten Punkte beinhaltenden Vertrag steht63. Die zum lateinischen Wort securus/securitas vorgetragenen Überlegungen, dass der privilegiale ­Charakter des Sicher-Seins ein einzelfallbezogenes Sicherheitsverständnis nahelegt, lassen sich also auch auf die deutschen Wörter anwenden. (2) Welche weiteren Gründe könnten dafür angeführt werden, dass der Begriff „­ Sicherheit“ zunächst nicht in dem umfassenden Sinn eines sozialen und politischen Programms benutzt wurde, der den modernen Sprachgebrauch prägt? Es wurde bereits herausgearbeitet, dass ein „objektiver“ Sicherheitsbegriff64, der die äußere Lage oder den gesellschaftlichen Zustand reflektiert, in dem ein Objekt oder Individuum sich befinden, nach dem bislang Bekannten lediglich in konkretisierter, auf Einzelsachverhalte bezogener Form erscheint. Daneben existiert jedoch auch ein subjektiver Sicherheitsbegriff, der für die lateinische Sprache sogar ein „Prae“ beanspruchen kann. Die Wörter securitas/securus wurden, wie die Begriffsgeschichte längst herausgearbeitet hat, von Cicero und Lukrez nämlich zunächst etymologisch als „Freisein von Sorge“ (se – cura) interpretiert, eine Deutung, die Isidor von Sevilla an das Mittelalter weitergab65. Den Ausgangspunkt bildet hier also eine subjektive mentale Verfasstheit66. Die genannte mentale Verfassung konnte positiv bewertet werden, aber auch ambivalent erscheinen67.   Art. Sicherheit [3b], in: Grimm, Wörterbuch 16 (wie Anm. 38) 718.  Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch (Stuttgart 361981) 193. 59   Art. Sicherheit [I]. Deutsches Rechtswörterbuch 13 (wie Anm. 41) 446; Art. Sicherheit [3b], in: Grimm, Wörterbuch 16 (wie Anm. 38) 726. 60   Art. Sicherheit [III], [IV], [VI]. Deutsches Rechtswörterbuch 13 (wie Anm. 41) 449, 452; vgl. auch Art. Sicherheit [Ia], in: Grimm, Wörterbuch 16 (wie Anm. 38) 725. 61  Vgl. Art. Sicherheit. Deutsches Rechtswörterbuch 13 (wie Anm. 41) 446; Art. Sicherheit, in: Grimm, Wörterbuch 16 (wie Anm. 38) 724; vgl. auch Art. sicher [1], in: Grimm, ebd. 718. 62  Art. Sicherheit [I]. Deutsches Rechtswörterbuch 13 (wie Anm. 41) 446. 63  Art. feilig. Deutsches Rechtswörterbuch 3 (1935–1938) 460f.; Art, Feiligkeit. Ebd. 461f., Zitate 461. 64  Zur Diffenzierung zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Sicherheit s. Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 745; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 137. 65  Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarvm Sive Originvm libri XX, ed. W. M. Lindsay, 2 Bde. (Oxford 1911) 1 lib. X [247]: Securus, quasi sine cura … . Dazu Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 832; SchrimmHeins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 133; Hamilton, Security (wie Anm. 29) 52–58. 66  Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 745f.; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 137. 67  Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 745f., bes. 746; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 133–136; Kaufmann, Problem (wie Anm. 2) 54; ders., Sicherheit (wie Anm. 5) 79; Hamilton, Se57 58



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Als negativ wurde sie im spätantiken Christentum betrachtet, wenn sie als Sorglosigkeit der vermeintlich Starken oder vermessene Heilsgewissheit erschien68. Auch wenn nach Macrobius und später nach Thomas von Aquin die Verbindung zwischen dem Fehlen von Furcht (timor) and Sicherheit ebenfalls gezogen wurde und Sicherheit demnach als Teil der Tugend der Tapferkeit (fortitudo) erschien69, blieb die ambivalente oder gar die negative Konnotation dominant. Dies kann als Grund dafür betrachtet werden, dass Sicherheit sich nicht dafür zu eignen schien, bereits im Mittelalter zu einem Wertbegriff zu werden. Da weder der objektive noch der subjektive Sicherheitsbegriff sich zum Ausdruck von Herrschaftsmaximen eigneten, erscheint der Begriff „Sicherheit“ in früh- und hochmittelalterlichen Urkundenarengen auch nicht an prominenter Stelle70. Im Gegensatz dazu war „Friede“ mit einer großen Zahl an positiven Assoziationen verbunden. Für Augustin ist im „Gottesstaat“ der Friede das letzte Ziel der sozialen und politischen Ordnung. Dabei verweist der zeitliche Friede, der im Hier und Jetzt möglich ist und sich mit Aspekten dessen verbindet, was wir heute „Sicherheit“ nennen, wie Wohlergehen (salus) oder Unversehrtheit (incolumitas), auf den Frieden, der im ewigen Leben erwartet werden kann: deus ergo naturarum omnium sapientissimus conditor et iustissimus ordinator, qui terrenorum ornamentorum maximum instituit mortale genus humanum, dedit hominibus quaedam bona huic uitae congrua, id est pacem temporalem pro modulo mortalis uitae in ipsa salute et incolumitate ac societate sui generis, et quaeque huic paci uel tuendae uel recuperandae necessaria sunt – sicut ea, quae apte et conuenienter adiacent sensibus, lux uox, aurae spirabiles aquae potabiles, et quidquid ad alendum tegendum curandum ornandumque corpus congruit –, eo pacto aequissimo, ut, qui mortalis talibus bonis paci mortalium adcommodatis recte usus fuerit, accipiat ampliora atque meliora, ipsam scilicet inmortalitatis pacem eique conuenientem gloriam et honorem in uita aeterna ad fruendum deo et proximo in deo; qui autem perperam, nec illa accipiat et haec amittat71. curity (wie Anm. 29) 61f. Zur Ambivalenz der Haltung der securitas vergleiche die Ausführungen des Wilhelm Peraldus, eines viel rezipierten mittelalterlichen Autors: Guilelmus Peraldus, Summae virtutum et vitiorum 1: Summa de Virtutibus (Antwerpen 1588) fol. 135rv. 68   Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 832. Vgl. als biblische Referenz etwa 1Thess. 5, 1–3 (dazu Conze, ebd. 834 Anm. 10). Einschlägig außerdem: Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 5) 79; Hamilton, Security (wie Anm. 29) 62f.; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 136f. (zur Position Augustins) sowie 145–147 (zur Position Gregors d. Gr.), 155 (zur Ablehnung von Heilsgewissheit bei Anselm von Canterbury). Die von Schrimm-Heins detailliert nachvollzogene Weiterentwicklung des Gedankens der Heils(un)gewissheit samt ihren Ausdifferenzierungen kann hier nicht rekapituliert werden. Zur Skepsis der Reformatoren: Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 746. 69   Thomas von Aquin, Summa Theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe, übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs 21: Tapferkeit, Masshaltung (1. Teil), kommentiert von Josef Fulko Groner, II–II 123–150 (Heidelberg u. a. 1964), hier II–II, 128, 1 S. 86; 128, ad 6 S. 91f. Der Gedanke, dass die so verstandene securitas einen Aspekt der fortitudo darstelle, findet sich im Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis. Dazu Hamilton, Security (wie Anm. 29) 146. 70   Arengenverzeichnis zu den Königs- und Kaiserurkunden von den Merowingern bis Heinrich VI., ed. Friedrich Hausmann–Alfred Gawlik (MGH Hilfsmittel 9, München 1987) 803. Bei Fichtenau fehlt das Stichwort securitas im Register: Heinrich Fichtenau, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (MIÖG Ergbd. 18, Köln–Graz 1957). 71  Aurelius Augustinus, De civitate Dei lib. 19 c. 13, ed. Bernard Dombart–Alphonse Kalb (CCSL 47, 48, Turnhout 1955) 2 680 Z. 61–75; vgl. außerdem Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat 2: Buch 11–23, übers. von Wilhelm Thimme, eingeleitet und erläutert von Carl Andresen (Zürich–München 21978) lib. 19 c. 13 S. 554f. Zum zeitlichen Frieden bei Augustinus s. Wolfgang Justus, Die frühe Entwicklung des säkularen Friedensbegriffs in der mittelalterlichen Chronistik (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter 4, Köln–Wien 1975) 18f. Ebd. 18 fasst Justus zusammen: „Während die Civitas Terrena in ihm [dem

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Im folgenden Kapitel pointierte Augustin diesen Gedanken noch: Omnis igitur usus rerum temporalium refertur ad fructum pacis terrenae in terrena ciuitate; in caelesti autem ciuitate refertur ad fructum pacis aeternae72. Das Streben nach quies carnis et copia uoluptatum, mithin nach pax corporis erschien Augustin notwendig, aber defizient, da es nicht allein auf den Frieden des Leibes oder den Frieden der Seele sowie den Frieden zwischen Leib und Seele ankomme, sondern auf den Frieden zwischen Mensch und Gott, der Frieden zwischen den Menschen voraussetze73. Da man das, was hier als pax corporis angesprochen wird, durchaus dem Streben nach (materieller) Sicherheit zurechnen könnte, scheint zugleich eine leicht abschätzige Schattierung eines solchen Sicherheitsstrebens mitgedacht. An anderer Stelle schrieb Augustin Sicherheitsstreben sogar den Bösen zu, die sich nicht damit abfinden wollten, dass irdische Güter, an die sie ihr Herz gehängt hatten, ihnen auch wieder abhanden kommen könnten, und die, um mögliche Hindernisse zu beseitigen, ein verwerfliches Leben führten74. In Bezug auf den Frieden jedoch konstatierte Augustin: „So könnten wir denn sagen, unser höchstes Gut oder, wie wir es vorhin nannten, das ewige Leben sei der Friede …“. Als „Endziel des Gottesstaates“ (finis ciuitatis huius) könne entweder „Friede im ewigen Leben oder ewiges Leben im Frieden“ (uel pax in uita aeterna uel uita aeterna in pace) gelten75. Zeitlicher Friede war also Ziel und Zweck des weltlichen Staates und zugleich Vorgeschmack und Abglanz des ewigen Friedens. Freilich war nach Augustin der zeitliche Friede wegen der Natur des Menschen instabil. Wirkliche Sicherheit war ebenso wie wahrer Friede nur im Himmel zu erwarten76; firma securitas gab es allein bei Gott77. Auch ­biblische Referenzen können angeführt werden, um die Sichtweise zu stützen, dass irdische Sicherheit nur vorübergehend gegeben78 und dauernde Sicherheit zumindest im zeitlichen Frieden, CR], in der durch ihn ermöglichten Sicherheit und Wohlfahrt, einen Endzweck erblickte, betrachtet die Civitas Dei ihn nur als ein Mittel zur Erlangung des himmlischen, allein wahren Friedens.“ 72  Aurelius Augustinus, De civitate Dei lib. 19 c. 14, ed. Dombart–Kalb (wie Anm. 71) 680 Z. 1–3. 73   Ebd. 680–682; vgl. außerdem Augustinus, Vom Gottesstaat (wie Anm. 71) lib. 19 c. 14 S. 555–557. 74  Augustinus, De libero arbitrio – der freie Wille. Zweisprachige Ausgabe, ed. Johannes Brachtendorf (Augustinus Opera. Werke. B. Frühe philosophische Schriften 9, Paderborn u. a. 2006) lib. 1 c. 4, 10. 30 S. 88: Cupere namque sine metu vivere non tam bonorum, sed etiam malorum omnium est; verum hoc interest, quod id boni appetunt avertendo amorem ab his rebus, quae sine amittendi periculo nequeunt haberi; mali autem, ut his fruendis cum securitate incubent, removere impedimenta conantur et propterea facinorosam sceleratamque vitam, quae mors melius vocatur, gerunt. 75   Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (wie Anm. 71) lib. 19 c. 11 S. 546; De civitate Dei, ed. Dombart–Kalb (wie Anm. 71) 674f.: Quapropter possemus dicere fines bonorum nostrorum esse pacem, sicut aeternam diximus uitam … . 76  Augustinus, Vom Gottesstaat (wie Anm. 71) lib. 19 c. 10 S. 545; De civitate Dei, ed. Dombart–Kalb (wie Anm. 71) 674: Sed neque sancti et fideles unius ueri dei summique cultores ab eorum fallaciis et multiformi tentatione securi sunt. in hoc enim loco infirmitatis et diebus malignis etiam ista sollicitudo non est inutilis, ut illa securitas, ubi pax plenissima atque certissima est, desiderio feruentiore quaeratur. ibi enim erunt naturae munera, hoc est, quae naturae nostrae ab omnium naturarum creatore donantur, non solum bona, uerum etiam sempiterna, non solum in animo, qui sanatur per sapientiam, uerum etiam in corpore, quod resurrectione renouabitur; ibi uirtutes, non contra ulla uitia uel mala quaecumque certantes, sed habentes uictoriae praemium aeternam pacem, quam nullus aduersarius inquietet. ipsa est enim beatitudo finalis, ipse perfectionis finis, qui consumentem non habet finem. hic autem dicimur quidem beati, quando pacem habemus, quantulacumque hic haberi potest in uita bona; sed haec beatitudo illi, quam finalem dicimus, beatitudini conparata prorsus miseria reperitur. 77   Aurelius Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch, ed. Wilhelm Thimme. Mit einer Einführung von Norbert Fischer (Düsseldorf–Zürich 2004) lib. 2 c. 13 S. 74; Hamilton, Security (wie Anm. 29) 62. 78  2Reg. 20, 19; Jes. 39, 8. Zur existentiellen Unsicherheit des menschlichen Lebens aus der Sicht Gregors des Großen s. Katharina Greschat, Sicherheit angesichts der menschlichen Ruhelosigkeit? Askese und Schrift-



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Christentum nur in eschatologischer Perspektive erwartet werden konnte. In dieser endzeitlichen Perspektive erscheinen Friede und Sicherheit etwa bei Jesaja als Frucht der Gerechtigkeit79. Vielleicht erklärt sich vor diesem Hintergrund zusätzlich, warum die Sicherheiten, die mittelalterliche Akteure boten, jeweils nur partikulare Sachverhalte abdeckten und gar nicht erst das Versprechen einer umfassenden Sicherheit anboten. (3) Zu fragen ist nun, wann diese Sichtweise auf die Sicherheit so geweitet wurde, dass securitas zu einem generalisierenden Begriff wurde, der dem modernen Sicherheitsbegriff nahekommt. M. E. zeichnet sich bereits im 13. Jahrhundert eine Veränderung ab, die noch vor der Aristotelesrezeption einsetzte, aber von dieser verstärkt wurde. Die Veränderung betrifft die Zukunftsperspektive, die sich mit dem Begriff Sicherheit verband, sowie die Ausweitung des Begriffs securitas auf abstrakte, Einzelphänomene übergreifende Sachverhalte hin. Thomas von Aquin diskutierte in quaestio 40,8 der Prima Secundae seiner Summa Theologica die traditionelle Sichtweise, wonach securitas zu Sorglosigkeit bzw. Nachlässigkeit führe, und kommentierte diese These wie folgt: „Hoffnung richtet sich auf ein zu erlangendes Gut, Sicherheit dagegen schaut auf ein zu meidendes Übel. Daher scheint ­Sicherheit mehr der Furcht entgegengesetzt zu sein, als zur Hoffnung zu gehören. Dennoch verursacht Sicherheit keine Nachlässigkeit, es sei denn, soweit sie das Urteil herabsetzt, es handle sich um etwas Schweres, womit sich auch die Bewandtnis der Hoffnung vermindert. Denn das, worin der Mensch kein Hindernis fürchtet, wird sozusagen schon gar nicht für schwer gehalten.“80 In diesen und ähnlichen Sätzen wird die securitas bereits bei Thomas von Aquin andeutungsweise mit einer zukünftigen Handlung in Verbindung gebracht (nämlich mit der Vermeidung von Übel). Vor Thomas hatte bereits Johannes Duns Scotus (um 1266–1308) dem Begriff securitas eine futurische Dimension verliehen81. Ein solcher Zug aber ist charakteristisch für das moderne Konzept von Sicherheit. Thomas von Aquin fügte außerdem noch einen weiteren allgemeinen Punkt an, indem er eine kriminelle Handlung erörterte. Er argumentierte, dass ein Dieb, Räuber oder Betrüger nicht nur eine Privatperson schädige, sondern auch den „Staat“ bzw. das Gemeinwesen, weil er die Sicherheit des „staatlichen“ bzw. öffentlichen Schutzes bedrohe: Et auslegung bei Gregor dem Großen, in: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Werner Röcke–Julia Weitbrecht (Transformationen der Antike 14, Berlin–New York 2010) 175–188, hier 177f. In der Beziehung zu Gott galt es nach Gregor, die richtige Mitte zwischen Verzweiflung angesichts der eigenen Sünden und fahrlässigem Sich-Sicher-Fühlen zu wahren, ebd. 182. 79   Jes. 4, 6; Jes. 32, 14–18. Nach Kessler thematisiert das Alte Testament allerdings auch die Erwartung, dass Gott im Hier und Jetzt für einen sicheren Ort seines Volkes Israel sorgen werde. Rainer Kessler, „Der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer“ (Jes. 32, 17). Individuelle und kollektive Sicherung im Licht der Hebräischen Bibel. Concilium 54/2 (2018) 161–168, hier 163. Zur eschatologischen Dimension von Frieden und Sicherheit im Alten Testament ebd. 167. 80   Thomas von Aquin, Summa Theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe, übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs 10: Die menschlichen Leidenschaften, kommentiert von Bernhard Ziermann, I–II 22–48 (Heidelberg u. a. 1955), hier I–II, 40, 8 ad primum S. 320: AD PRIMUM ergo dicendum quod spes respicit bonum consequendum: securitas autem respicit malum vitandum. Unde securitas magis videtur opponi timori, quam ad spem pertinere. – Et tamen securitas non causat negligentiam, nisi inquantum diminuit existimationem ardui, in quo etiam diminuitur ratio spei. Illa enim in quibus homo nullum impedimentum timet, quasi jam non reputantur ardua. 81  So Makropoulos, Art. Sicherheit (wie Anm. 13) 746. Makropoulos gibt das Zitat wie folgt wieder: securitas est duobus modis, vel de bono futuro apprehenso ita quod sit apprehensio certa, et de bono apprehenso et habito continuando.

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ideo punitur in hoc quod multiplicius restituat, quia etiam non solum damnificavit personam privatam, sed rempublicam, tutelae ejus securitatem infringendo82. Andere Bezugnahmen auf die securitas im Werk des Aquinaten erscheinen hingegen traditionell, so etwa, wenn er die securitas als Pertinenz der fortitudo sowie als Folge der magnanimitas (und folglich als Charakterzug) betrachtet, da sie einen Mangel an Furcht anzeige83; wenn er die Sicherheit einer Stadt auf der Basis bestimmter Kriterien bestimmt84 oder den Mangel von Rechtssicherheit als Merkmal einer Tyrannei herausstellt85. Wie Thomas von Aquin diskutierte ein Autor aus dem Franziskanerorden, Gilbert von Tournai, die staatliche Aufgabe einer rechtlichen Generalprävention in Verbindung mit dem Begriff securitas im fünften Kapitel seines Fürstenspiegels, der Eruditio regum et principum. Gilbert, der seinen Fürstenspiegel noch vor der Übersetzung der „Politik“ des Aristoteles ins Lateinische verfasste86, schrieb, dass ultio (Strafe oder Rache) nötig sei, einerseits als Genugtuung für die verletzte Partei, andererseits um zukünftige Sicherheit durch Abschreckung hervorzubringen: Solet enim ultio ex duabus adhiberi causis, aut ut habeat laesus solatium, aut ut exhibeatur securitas in futurum. Sed principis amplior est prosperitas, quam ut egeat isto solatio, ampliorque potestas, quam ut opinionem sibi virium quaerat 82  Thomas von Aquin, Summa Theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe, übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs 18: Recht und Gerechtigkeit, kommentiert von A. F. Utz, II–II 57–79 (Heidelberg u. a. 1953), hier II–II 61, 4 S. 105. Dazu Christiane Birr, „Kriminalstrafe ist öffentliche Rache“. Beobachtungen zum Strafgedanken in der juristischen Literatur der frühen Neuzeit, in: Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung. Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie, hg. von Eric Hilgendorf–Jürgen Weitzel (Schriften zum Strafrecht 189, Berlin 2007) 59–78, hier 64. 83  Thomas von Aquin, Summa Theologica. Deutsche Thomas-Ausgabe 21 (wie Anm. 69), hier II–II 129, 7 S. 122: Securitas autem dicitur per remotionem hujus curae quam timor ingerit. Et ideo securitas importat quandam perfectam quietem animi a timore: sicut fiducia importat quoddam robur spei. Sicut autem spes directe pertinet ad magnanimitatem, ita timor directe pertinet ad fortitudinem. Et ideo, sicut fiducia immediate pertinet ad magnanimitatem, ita securitas immediate pertinet ad fortitudinem. – Considerandum tamen est quod, sicut spes est causa audaciae, ita timor est causa desperationis, ut supra habitum est, cum de passionibus ageretur. Et ideo, sicut fiducia ex consequenti pertinet ad fortitudinem, inquantum utitur audacia; ita et securitas ex consequenti pertinet ad magnanimitatem, inquantum repellit desperationem. Als weiteren Beleg für diese viel rezipierte Sichtweise sei das vermutlich von Wilhelm von Conches verfasste Moralium dogma philosophorum genannt. Dort liest man: Fortitudo est uirtus retundens impetus aduersitatis. Unter den sechs Faktoren, die dies bewirken, nennt Wilhelm als dritte die securitas, die er im Folgenden definiert: Securitas est incomoditates imminentes et rei incoate affines non formidare. Moralium dogma philosophorum des Guillaume de Conches. Lateinisch, altfranzösisch und mittelniederfränkisch, ed. John Holmberg (Arbeten utgivna med understöd av Vilhelm Ekmans universitetsfond, Uppsala 37, Paris u. a. 1929) 30. Auch im Fürstenspiegel des Michael von Prag muss sich dieser Gedanke gefunden haben, wie die Überschrift zu Kapitel 7 des vierten Buchs belegt, welches sich insgesamt mit der Tugend der fortitudo beschäftigt. In Kapitel 7 geht es im Speziellen um die Frage: Quomodo securitas inmediate pertinet ad fortitudinem et qualiter debeat quilibet fortis esse securus vel non securus in hiis que certe vel incerte inminent periculis. William George Storey, The De quatuor virtutibus cardinalibus pro eruditione principum of Michael the Carthusian of Prague. A critical text and study (Analecta Cartusiana 6, Salzburg 1972) 120. Bedauerlicherweise wurde nur das erste Buch des Fürstenspiegels von Storey ediert. 84  Thomas von Aquin, De regimine principum, ed. Mathis (wie Anm. 43) lib. 1 c. 13 S. 16f.; ebd. lib. 2 c. 3 S. 22. Vgl. Aristoteles, Politik, übersetzt und hg. von Olof Gigon (München 102006 auf der Basis der 2. Aufl., Zürich–München 1971) lib. 7 c. 5f. [1327a] S. 227f. 85  Sic igitur nulla erit securitas, sed omnia sunt incerta, cum a iure disceditur, nec firmari quidquam potest, quod positum est in alterius voluntate, ne dicam libidine: Thomas von Aquin, De regimine principum, ed. Mathis (wie Anm. 43) lib. 1 c. 3 S. 4f., Zitat S. 5. 86 Karl Ubl, Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung (MIÖG Ergbd. 37, Wien–München 2000) 62. Dass das Amt des Fürsten nach Gilbert von Tournai, aber auch nach Wilhelm Peraldus dem Gemeinwohl verpflichtet sei und insbesondere „auf die Bestrafung von Übeltätern“ ziele, betonte Ubl (ebd.).



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alieno malo. Si vero princeps alienas ulciscatur iniurias, hoc intendat, ut vel eum, quem punit, corrigat vel poena ipsius caeteros meliores reddat vel sublatis criminibus vivatur securius et sic respublica in tranquillitate consistat87. Der Gedanke, dass ohne abschreckende Strafe, also ohne Generalprävention, keine Sicherheit für das Gemeinwesen möglich sei, ist bereits antik88. Er wird im Spätmittelalter immer wieder aufgenommen89. Für unser Thema ist wichtig, dass der Begriff Sicherheit durch die Verbindung mit dem Gedanken der Generalprävention eine vom konkreten Einzelfall abgelöste gesamtgesellschaftliche Bedeutung gewonnen hat. Noch weiter als Thomas von Aquin ging Engelbert, Abt von Admont und Autor verschiedener Schriften, darunter eines zwischen 1306 und 1313 entstandenen Speculum virtutum90 sowie eines Traktats De ortu et fine Romani imperii (ca. 1313)91. Der Admonter Abt ist als einer der Protagonisten der Aristotelesrezeption im Römisch-deutschen Reich anzusprechen. Überdies konzipierte er sein Speculum virtutum als Laienethik. In seinem Speculum virtutum zog Engelbert eine enge Verbindung zwischen der rechtlichen Bestrafung von Übeltätern und der Sicherheit und dem Nutzen des Gemeinwesens: Nimis enim dirum et durum esset, hominem suspendere aut interficere propter modicam rem ablatam, quam in decuplo refundere posset, si hoc non fieret propter communitatem et totum populum, cuius securitas et utilitas deperiret, si iudex delinquentes non puniret pena a legali iusticia constituta, non propter unum hominem, sed propter totam communitatem, que dignior est quolibet uno et singulari homine92. Securitas wird hier als Konsequenz der Ausübung von Rechtsprechung aufgefasst, als Rechtssicherheit konzeptionalisiert und, so wird man folgern dürfen, als Regierungsauftrag verstanden. Zur Verbindung von Sicherheit mit Generalprävention und Jurisdiktion trat eine dritte Komponente hinzu, um den Sicherheitsbegriff aufzuwerten, und zwar die Herausbildung einer säkularen Staatsidee93. Es wird gewöhnlich Marsilius von Padua (* um 87   Gilbert von Tournai, Eruditio regum et principum, in: Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters, ed. Hans Hubert Anton (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 45, Darmstadt 2006) 288–447, hier 438–440 (lib. 3 c. 5); gekürzter Nachdr. aus: Alphonse de Poorter, Le traité „Eruditio regum et principum“ de Guibert de Tournai. Étude et texte inédit (Louvain 1914) 87f. 88   Seneca, De clementia (wie Anm. 18) pars III, XIX [I, 21] S. 80f. – Teils auf die Gesetzgebung, teils auf das richtende Strafen hatte Isidor von Sevilla, Etymologiae (wie Anm. 65) V [20], einen ähnlichen Gedanken bezogen: Factae sunt autem leges ut earum metu humana coerceatur audacia, tutaque sit inter inprobos innocentia, et in ipsis inpiis formidato supplicio refrenetur nocendi facultas. Thomas von Aquin griff diesen Gedanken auf: Thomas von Aquin, Summa Theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe, übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs 13: Das Gesetz, kommentiert von Otto Hermann Pesch, I–II 90–105 (Heidelberg u. a. 1977), hier I–II, 95, 1, sed contra, S. 92; Delumeau, Rassurer (wie Anm. 14) 21. 89   Ein instruktiver Beleg ist einer Predigt Johannes Geilers von Kayersberg zu entnehmen (freundlicher Hinweis von Anna-Lena Wendel [Gießen]), die in ihrer im Entstehen begriffenen Dissertation darauf eingehen wird. 90   Zu seiner Biographie s. Ubl, Engelbert (wie Anm. 86) 9, 12–16. Mit den Schriften des Aristoteles, die er bis auf die Poetik alle rezipierte, kam Engelbert nach Ubl wohl schon während seines Studiums in Padua in Kontakt; ebd. 11, 13f., 17 und passim; zum Entstehungszeitraum des Fürstenspiegels s. ders., Einleitung, in: Die Schriften des Alexander von Roes und des Engelbert von Admont 2: Engelbert von Admont, Speculum virtutum, ed. ders. (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters [1/2], Hannover 2004) 12. 91 Herbert Schneider, Einleitung, in: Die Schriften des Alexander von Roes und des Engelbert von Admont 3: Engelbert von Admont, De ortu et fine Romani imperii, ed. ders. aufgrund der Vorarbeiten von George B. Fowler–Helga Zinsmeyer (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters [1, 3], Wiesbaden 2016) 24, 31. 92  Engelbert von Admont, Speculum virtutum, ed. Ubl (wie Anm. 90) lib. 11 c. 1 S. 370 Z. 5–11. 93  Johannes von Viterbo betonte in seinem auf 1228 datierten Liber de regimine civitatum die Bedeutung

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1285/1290, † 1342/1343) zugeschrieben, eine ganz und gar weltliche Funktion des „Staates“ postuliert zu haben. Marsilius reklamierte, den Ursprung der politischen Streitigkeiten (litis causam) seiner Zeit zu analysieren, damit er von Reichen oder Städten ausgetilgt werden könne: exclusa vero possint securius studiosi principantes et subditi tranquille vivere, quod est desiderabile propositum in huius operis inicio, necessarium debentibus civili felicitate frui, que in hoc seculo possibilium homini desideratorum optimum videtur et ultimum actuum humanorum94. Wenn die Konfliktursachen beseitigt sind, können die Fürsten sicherer und die Untertanen ruhig leben. Sicherheit und Ruhe werden als notwendige Bedingungen für das Glück der Bürger betrachtet. Der bereits eingeführte Engelbert von Admont (um 1250–1331) drückt diesen Gedanken noch expliziter und sogar noch früher aus: In De ortu et fine Romani imperii vertrat er die Ansicht, Reiche bzw. Fürstentümer – in moderner Perspektive also der „Staat“ – seien nicht durch göttliche Ordnung vorgegeben, sondern auf natürliche Weise entstanden. Die frühesten regna wiesen seiner Meinung nach vier Vorzüge auf, erstens regum bonita[s], zweitens populi liberta[s], quia nullis districtis legibus tenebantur, sed solis rectis moribus utebantur, drittens bellorum equita[s], die aus dem Defensivcharakter der damaligen Kriege hergerührt habe, und zu guter Letzt die regnorum securita[s], quia singulorum regna intra suam patriam uniuscuiusque finiebantur, quia secundum Tullium iustius est tenere et securius defendere „unumquemque, quod suum est“ quam invadere et possidere alienum etc.95. Sicherheit wird hier also gleichsam als „äußere Sicherheit“ auf das Gemeinwesen bzw. den „Staat“ bezogen und aus dem Verzicht auf expansive Kriegführung abgeleitet. Vor allem aber spielte die securitas nach Engelbert eine wichtige Rolle, wenn es um die nähere Bestimmung des Staatszwecks ging. Dieser bestand in aristotelischer Tradition einer guten Leitung der Stadt im Hinblick auf die Sicherheit der Bewohner: Et vere curandum est civibus et civitatibus de bono capite, quoniam per totum annum securi morantur pacifici et tranquilli et omnibus una mens est iuxta illud Senece: „Rege incolumi mens omnibus una est; ammiso rupere fidem“; item si caput est languidum, omnia membra languescunt, et fures fodiunt et furantur, et oriuntur seditiones, guerre et scandala, et maleficia remanent impunita. Johannes von Viterbo, Liber de regimine civitatum, in: Fürstenspiegel, ed. Anton (wie Anm. 87) 230–283, hier c. 11 S. 248–250 (gekürzter Nachdruck aus Johannes von Viterbo, Liber de regimine civitatum, ed. Caietano Salvemini, in: Bibliotheca Iuridica Medii Aevi. Scripta Anecdota Glossatorum vel Glossatorum aetate composita 3 [Bologna 1901] 215–280; Caietano Salvemini, Il „Liber de regimine civitatum“ di Giovanni da Viterbo. Giornale storico della letteratura italiana 41 [1903] 284–303). Zur „Säkularisierung der Herrscherethik“ in den oberitalienischen Podestàspiegeln s. Ubl, Engelbert (wie Anm. 86) 61. Zur „Säkularisierung (oder Naturalisierung) der Fürstenethik“ seit dem 12. Jh. vgl. ebd. 59–69; zur Säkularisierung der Friedensidee: Justus, Entwicklung (wie Anm. 71) 26f., 33, 141. Mit der Entwicklung einer säkularen Friedensidee, die nicht mehr „die Gottgefälligkeit, sondern die ‚publica utilitas‘“ in den Mittelpunkt rücke, sieht Justus, ebd. 141, auch eine Veränderung der Friedensziele einhergehen: „Rechtswahrung“ sei demnach nicht länger „als Wahrung der Gerechtigkeit, sondern als Unterbindung des Diebstahls … dargestellt“ worden. Diese Beobachtung kongruiert mit der oben bei Anm. 88f. herausgestellten Bedeutung der Generalprävention für fürstliches Handeln. 94   Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis). Aufgrund der Übersetzung von Walter Kunzmann bearb. und eingeleitet von Hans Kusch (Darmstadt 1958) Teil I c. 1 § 7 S. 24. Justus arbeitete heraus, dass Marsilius im Einklang mit anderen Aristotelikern die Entstehung des Staates „aus dem natürlichen Streben des Menschen nach einem befriedigenden Leben“ ableitete, wobei dieses befriedigende Leben „sich in der Erfüllung materieller Bedürfnisse“ erschöpfte: Justus, Entwicklung (wie Anm. 71) 29f. Friede ist demnach nötig, um das „Funktionieren und Zusammenwirken der einzelnen Mitglieder“ einer Gesellschaft und damit auch „wirtschaftliche[.] Kooperation“ zu ermöglichen: ebd. 31. Es liegt auf der Hand, dass bei dieser innerweltlichen Zuspitzung des Staatszwecks der Gedanke der Sicherheit an Bedeutung gewinnen musste. 95  Engelbert von Admont, De ortu, ed. Schneider (wie Anm. 91) c. 2 S. 128–130, Zitate S. 129 Z. 7–S. 130 Z. 6. Mit Anführungszeichen wird von mir ein in der Edition kursiv gesetztes Zitat ausgewiesen.



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darin, die Glückseligkeit der Untertanen zu ermöglichen96. Drei Bedingungen bzw. Gesichtspunkte (condiciones ut „partes“) machten nun die Glückseligkeit aus: videlicet „sufficiencia nullo indigens et tranquillitas nichil dolens et securitas nichil timens“97. Dies galt nicht nur für Personen, sondern auch für Reiche98. War der Staatszweck hier auf sehr modern anmutende Weise dadurch definiert, dass er den Rahmen für eine an die moderne „Human Security“ gemahnende Glückseligkeit – bestehend aus einer auskömmlichen materiellen Basis bzw. der Abwesenheit materiellen Mangels, der Abwesenheit von Leid und aus Sicherheit bzw. der Abwesenheit von Furcht – schuf, so wurden an anderer Stelle Friede und Sicherheit als Fundamente bzw. Basis eines jeden Reichs sowie Gerechtigkeit und Macht als dessen Säulen oder Stützen bezeichnet99. Sicherheit war also einmal als Aspekt bzw. Teil der Glückseligkeit ein Ziel herrscherlichen Handelns, ein anderes Mal gehörte sie zum Fundament und damit zur Voraussetzung von „Staatlichkeit“ bzw. von Herrschaft. Deren letzter und hauptsächlicher Zweck bzw. deren Ziel war jedoch, wie Engelbert im Einklang mit Augustin postulierte, der Friede100. Noch stringenter definierte Engelbert in seinem Speculum virtutum den Zweck des „Staates“: Finis autem et intentio finalis, propter quam regna et principatus sunt ab initio constituti, fuit ordinatio et conservatio pacis et iusticie, propter quam regnicole possent feliciter, id est tranquille et iocunde ac secure vivere101. Quia tria, scilicet tranquillitas, iocunditas et securitas vite, sunt summa felicitatis humane. Ergo et iste debet esse finis intentionis regis et principis, in quantum rex vel princeps, ut sub ipsorum potentatu et regimine subditi vivant tranquille et iocunde ac secure. Et quoniam felicitas hominis consistit in adeptione sui ultimi et optimi finis, per consequens felicitas regum et principum consistit in hoc fine et in hac in96  Bruno Langmeier, Ordnung in der Polis. Grundzüge der politischen Philosophie des Aristoteles (Symposion 137, Freiburg–München 2019) 46, interpretierte die von Aristoteles entworfene Polis „in einem gewissen Umfang als Ermöglichungsrahmen für die Verwirklichung des guten Lebens“. 97   Engelbert von Admont, De ortu, ed. Schneider (wie Anm. 91) c. 9 S. 151 Z. 3–5. 98   Ebd. c. 13 S. 167 Z. 17f.: Felix autem regnum est, quod habet in se et ex se sufficienciam sine indigencia et tranquillitatem sine turbacione et securitatem sine timore. Auf eine Parallelstelle im Speculum Virtutum lib. 12 c. 21 S. 455 Z. 20–S. 456 Z. 7 wird in Anm. 117 verwiesen. 99   Engelbert von Admont, De ortu, ed. Schneider (wie Anm. 91) c. 22 S. 219 Z. 5–14: Fundamentum enim originale et radicale ipsius imperii Romani sicut ceterorum regnorum minorum est causa illa, propter quam assequendam sunt omnia regna cum ipso imperio constituta, videlicet pax omnium, que sunt in regno, et securitas eorum, quia super illud fundamentum sunt omnia regna constituta et erecta mediantibus duabus columpnis, scilicet iusticia et potencia; quia iusticia est, que singulis pacem ordinat et procurat distribuendo „unicuique“, quod „suum“ est, et faciendo unumquemque suo esse contentum; potencia vero est, que iusticiam defendit et conservat convertendo ipsam in iudicium. 100   Engelbert von Admont, De ortu, ed. Schneider (wie Anm. 91) c. 15 S. 172 Z. 17–S. 173 Z. 11: Sciendum itaque, quod licet superius distinguendo felicitatem per partes suas dictum sit, quod felicitas regnorum et regum consistat principaliter in tribus, scilicet in „bonorum regni sufficiencia sine indigencia et“ in „tranquillitate sine turbacione“ et in „securitate sine timore“, § omnia tamen ista sub una racione et sub uno nomine pacis includuntur, que est finis ultimus et principalis, ad quem tendunt omnes communitates hominum, parve et magne et maiores et maxime, ut puta communitas domus, communitas vici vel ville, communitas civitatis et populi, conmunitas et societas gentis et regni, sicut dicit Augustinus XIXo libro De civitate dei: Pax enim est finis, propter quem omnis hominum communitas et societas est constituta et forma, secundum quam regitur, et racio sive causa, per quam durat et conservatur, et fructus, in quo complete felicitatur. 101   Engelbert von Admont, Speculum virtutum, ed. Ubl (wie Anm. 90) lib. 12 c. 21 S. 455 Z. 20–23. In gleicher Weise äußerte sich Engelbert von Admont in seinem Werk De regimine principum, worauf der Editor Ubl in Anm. 153 hinwies. Das einschlägige Zitat lautet: Sciendum igitur, quod hominum bene vivere in civitate vel in regno consistit in quatuor causis et rebus, scilicet in eo, quod est vivere commode, iuste, et secure ac honeste: Dazu Engelbert von Admont, De regimine principum, ed. Johannes G. T. Hufnagl (Regensburg 1725) lib. 2 c. 4 S. 46f. (zitiert aus Anm. 153 der Speculum-Virtutum-Edition).

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tentione, ut subditis faciant et procurent ex suo regimine tranquillitatem et iocundidatem ac securitatem102. Friede und Gerechtigkeit sind demnach die Voraussetzung für die Glückseligkeit eines jeden Menschen, die darin besteht, ruhig, angenehm und sicher leben zu können. Der Fürst ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass seine Untertanen die Möglichkeit haben, ein solches glückliches Leben zu führen, zumal davon auch seine eigene Glückseligkeit abhängt. Dies bedeutet konkret: Sciendum igitur, quod hominum bene vivere in civitate vel in regno consistit in quatuor causis et rebus, scilicet in eo, quod est vivere commode, iuste et secure ac honeste103. Auch hier erscheint die Sicherheit als ein Ziel, wenngleich sie von Frieden und Gerechtigkeit abgeleitet wird. Genau in diesem Sinne aber wurde die securitas auch in dem vielbehandelten Sieneser Fresko des Buon bzw. Mal Governo inszeniert104. Was Engelberts Inspirationsquelle betrifft, liegt seinen Prämissen bezüglich des Strebens nach Glückseligkeit und der diesbezüglichen Aufgabe des „Staates“ bekanntermaßen Aristoteles zugrunde. Für unser Thema erscheint jedoch relevant, dass sich an den entscheidenden Stellen in den lateinischen Aristotelesausgaben keine entsprechend prominente Sicherheitsbegrifflichkeit zu finden scheint105. Dies verwundert nicht, ist „Sicherheit“ doch ein Begriff, der erst seit Cicero in der Philosophie und seit der römischen Kaiserzeit in politischen Kontexten seine Bedeutung gewann. Es bedeutet aber, dass das Hervortreten der securitas im Spätmittelalter erfolgte, wo sie sich an das aristotelische Konzept eines säkularen Staates mit seiner Zweckbestimmung, die Glückseligkeit der Menschen zu ermöglichen, anlagerte und zugleich eine Neuakzentuierung einbrachte. Ob Engelbert seine Anregungen zur Aufwertung der securitas aus Oberitalien bezog, wo er ja bekanntlich in Padua studierte, ist unbekannt, liegt angesichts des (späteren) Sieneser Freskos als Vermutung aber nahe. 102  Engelbert von Admont, Speculum virtutum, ed. Ubl (wie Anm. 90) lib. 12 c. 21 S. 455 Z. 23–456 Z. 7. Dazu auch: Ubl, Engelbert (wie Anm. 86) 86. Der Fürst ist, wie Ubl herausarbeitete, nach der Ansicht Engelberts von Admont deswegen gehalten, sich um die „Glückseligkeit des Gemeinwesens“ – konkret: um „Ruhe, …, Sicherheit und Freude“ der Untertanen – zu mühen, weil seine eigene „Glückseligkeit … als König“ von ersterer abhänge. 103   Engelbert, De regimine principum, ed. Hufnagl (wie Anm. 101) lib. 2 c. 4 S. 46f.; zitiert aus Engelbert, Speculum virtutum, ed. Ubl (wie Anm. 90) 455 Anm. 153. 104  Schenk, „Human Security“ (wie Anm. 23) 212f. Im späteren 14. Jh. formulierte Jean Golein die Ansicht: „la justice du roy est la paix du peuple [et] sûreté du pays“. Zitat übernommen aus Delumeau, Rassurer (wie Anm. 14) 22, der den zugrundeliegenden „Miroir, exemplaire et fructueuse instruction du regime et gouvernement des roys et princes“ im Einklang mit der spätmittelalterlichen Zuschreibung fälschlich als französische Übersetzung von Aegidius Romanus, De regimine principum, betrachtete; zur Klarstellung jedoch https:// www.arlima.net/il/jean_golein.html#inf [17. 02. 2020] und http://bp16.bnf.fr/ark:/12148/cb418762500/ [17. 02. 2020]. Golein bot vielmehr die Übersetzung eines um 1300 entstandenen „Liber de informatione principum“ eines unbekannten Verfassers. Dazu Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (MGH Schriften 2, Leipzig 1938) 336–340. 105  Vgl. bes. Aristoteles, Rhetorik, übers. und hg. von Gernot Krapinger (Ditzingen 2018) lib. 1 c. 5f. [1360b–1362b] S. 43–57; Aristoteles Latinus XXXI 1–2. Rhetorica. Translatio anonyma sive vetus et Translatio Guillelmi de Moerbeka, ed. Bernhard Schneider (Leiden 1978), hier: Translatio anonyma. Liber Primus 20f. [1360b]; ebd. Translatio Guilelmi, Liber Primus c. 4–5 S. 174 [1360b]. Ein Wort aus dem Wortfeld von „Sicherheit“ erscheint hier nur einmal in Wilhelms von Moerbeke Übersetzung, und zwar an einer Stelle, an der die Translatio vetus noch firmissima statt securissma bietet: Sunt autem in ipso quidem que circa animam et que in corpore, extra autem bonitas generis et amici et pecunie et honor, adhuc autem convenire putamus potentiam inesse et fortunam; sic enim utique securissima vita erit. – Delumeau, Rassurer (wie Anm. 14) 21, verweist ebenfalls die Bedeutung des Aristoteles, der den Sicherheitsgedanken in die Staatslehre eingebracht habe, ohne jedoch auf das Problem der Aristotelesübersetzungen einzugehen.



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Als Herrscheraufgabe erscheint die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit wenig später auch nördlich der Alpen, nämlich in der Arenga einer Urkunde Ludwigs des Bayern aus dem Jahre 1338, in der explizit deklariert wird, die Sorge für die Regierung verpflichte den Herrscher dazu, für Frieden und Sicherheit seiner Untertanen mit Sorgfalt und Anspannung zu sorgen106. Der Gedanke, dass der Herrscher für honores et comoda subditorum unablässig Sorge zu tragen habe, findet sich ohne ausdrücklichen Sicherheitsbezug in der Arenga einer weiteren Urkunde Ludwigs des Bayern107. In weiteren Arengen wird dem Herrscher das Bemühen zugeschrieben, bei Notlagen der Untertanen, die durch Brand, Missernte und Überschwemmung, aber auch Raub entstanden waren, Hilfe zu leisten108. Damit zeichnet sich in der Zusammenschau ein Herrscherethos ab, das mit dem von Engelbert von Admont formulierten übereinstimmt. Der letzte Autor, auf den Bezug genommen werden soll, ist Michael von Prag († 1401), ein Kartäusermönch, der nacheinander Prior in drei Kartäuserprioraten war. Michael schrieb einen Fürstenspiegel für den Pfalzgrafen und späteren König Ruprecht I. Von diesem Fürstenspiegel ist bedauerlicherweise nur das erste von vier Büchern ediert und zum Druck befördert. Im ersten Buch beschäftigt Michael sich mit der Tugend der Klugheit. In dessen 12. Kapitel untersucht er Qualiter princeps inquantum talis debet uti prudencia operis in ydoneitate regiminis, que in tribus consistit, que sunt pax decor et securitas, et de pace ab extra, scilicet ab hostibus, quanto studio et sagacitate per principem providenda sit109. Eine taugliche Regierung und Verwaltung bestand demnach aus drei Komponenten, nämlich Friede, Angemessenheit bzw. Schicklichkeit und Sicherheit, wobei der Friede gegenüber äußeren Feinden zu wahren war. Jede dieser drei Komponenten war von der Klugheit abgeleitet. An späterer Stelle führte Michael diesen Gedanken weiter aus: Diversa sunt valde que requirit regiminis ydoneitas in principe, sed ego eam breviter volo in tribus constituere ut tam pauca possit princeps leviter in memoria tenere, quibus memoriter tentis non poterit male regere. Principis ergo regimen ydoneum erit si ex hoc principatui suo pax decor et securitas provenerit. Ecce breviter sunt hec dicta, quam cito cordi conmendata, ut 106 Christa Fischer, Studien zu den Arengen in den Urkunden Kaiser Luwigs des Bayern (1314–1347). Beiträge zu Sprache und Stil (Münchener Historische Studien, Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften 22, Kallmünz 1987) 52, mit Verweis auf Friedrich Bock, Das deutsch-englische Bündnis von 1335 bis 1342 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N. F. 12, München 1956) 118 Nr. 527. Der Wortlaut der Arenga lautet: Ad hoc ex suscepti cura regiminis nos cognoscimus obligatos, quod nostris et imperii subditis seu incolis per Romanum imperium ubilibet constitutis pacem plenamque securitatem nostra solicitudine preparare debemus. 107   Fischer, Studien (wie Anm. 106) 97, zitiert die Arenga aus MGH Const. 6/1, ed. Jakob Schwalm (Hannover 1914–1927) 507 Nr. 605: decet imperatoriam celsitudinem investigare cura vigili circa honores et comoda subditorum. Sie verweist ebd. außerdem darauf, dass in den Arengen Ludwigs IV. eine „Wechselwirkung zwischen dem Glück der Untertanen und dem Glück des Regenten“ postuliert werde. Schon Heinrich VI. hatte sich am 19. 8. 1187 in einer Urkunde für seine Getreuen in Fucecchio ähnlich geäußert: In eminenti imperatorie celsitudinis throno constituti fidelium nostrorum, eorum precipue, quos ad manus nostras specialiter et donicate tenemus, facta nostre serenitatis benigno vultu respicere et eorum securitati, commoditati et utilitati regali mansuetudine providere consuevimus; dazu Arengenverzeichnis, ed. Hausmann–Gawlik (wie Anm. 70) 197 Nr. 1153; J. F. Böhmer, Regesta Imperii IV. Ältere Staufer, 3. Abt.: Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich VI. 1165 (1190)–1197, bearb. von Gerhard Baaken (Köln–Wien 1972) 28 Nr. 55. 108  Fischer, Studien (wie Anm. 106) 53f. 109  Storey, The De quatuor virtutibus cardinalibus (wie Anm. 83) 116. Beim oben wiedergegebenen Zitat handelt es sich um die Überschrift des 12. Kapitels des ersten Buchs. Zu Beginn des Kapitels findet sich die Überschrift ebd. 167 in leicht modifizierter Form: Qvod princeps inqvantvm talis debet vti prvdencia operis in ydoneitate regiminis, qve in tribvs consistit, qve svnt pax decor secvritas, et de pace ab extra, scilicet ab hostibvs, qvanto stvdio per principem providenda sit.

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princeps, si ydonee regere querit, regat pacifice decore et caute110. Kapitel 16 bietet weitere instruktive Gesichtspunkte unter der Überschrift: Quod princeps per prudenciam operis ut ydonee regat debet esse premunitus contra futura mala principaliter per provisionem victualium. Dort ist etwa zu lesen: Superius dictum est quod in tercio loco pertinet ad ydoneitatem regiminis si princeps tam provide regat quod ex eius providencia principatus ipse consequatur securitatem. Debet enim princeps contra futura contingencia que possent populi sui et principatus esse destructiva, sicut fames vel sterilitas annorum vel inopitata gwerra, ita esse omni tempore premunitus et provisus ut si quid tale forte accideret, ipsius providencia populum suum a periculo preservaret111. Es ist klar ersichtlich, dass hier ein weitreichendes Konzept von Sicherheit vorliegt, bei dem die grundlegenden Risiken des Lebens eines jeden Einzelnen, wie Hunger, Missernten infolge von Unfruchtbarkeit oder unerwartete Kriege, durch die vorausschauende Fürsorge des Fürsten abgesichert sein sollen. Dieses kommt dem modernen Konzept der „Human Security“ frappierend nahe. Adressat der fürstlichen Bemühungen scheint allerdings anders als heute weniger das einzelne Individuum zu sein, sondern eher die Untertanenschaft als Kollektiv. Trotz der Denkleistung von Autoren wie Engelbert von Admont oder Michael von Prag bekam die securitas in begrifflicher Hinsicht noch nicht die Bedeutung, die sie in späteren Jahrhunderten hatte. Dies gilt auch im 15. Jahrhundert, und es gilt trotz einer Vielzahl obrigkeitlicher wie genossenschaftlicher praktischer Maßnahmen, die dazu bestimmt waren, Risiken des Lebens, wie Feuersbrünste oder Überschwemmungen, durch Regulierungen und Vorschriften einzuhegen112, Nahrungsmittelknappheit resp. Hungersnöte durch die Errichtung von Getreidespeichern zu lindern113, oder Krisen durch religiose Riten zu bewältigen114. Die pragmatische politische Sprache reflektierte den Fortschritt im politischen Denken so wenig wie den der politischen Praxis. Nach wie vor scheint der Gebrauch des Adjektivs „sicher“ vorherrschend geblieben zu sein, und weiterhin waren es insbesondere Einzelphänomene, die im Zuge von Vorschriften aufgezählt wurden, um sie als zu sichernd bzw. folglich sicher herauszudeuten. Gleichwohl gab es Zeugnisse, in denen die Sicherheits-Begrifflichkeit in signifikanter Akkumulation begegnet. Conze zitierte in diesem Zusammenhang einen kurfürstlichen Landfriedensentwurf aus dem Jahre 1438, den er in den Kontext der Reichsreformdebatte des 15. Jahrhunderts stellte. Nach Conze wurde hier „das Ziel des ‚Sicherseins‘ für alle Stände enumerativ aufgestellt … . Das ‚Sichersein‘ wurde zur Grundfrage der Reichsreformbestrebungen des 15. Jahrhunderts und ausdrücklich mit der Beseitigung des Fehderechts in Beziehung gesetzt …“115. Für Conze stand der Landfriedensentwurf der Kurfürsten also in jener Linie, die zur Emergenz des umfassenden Sicherheitsbegriffs in der Frühen Neuzeit führte. Die Häufigkeit, in der das Adjektiv „sicher“ im Landfriedensentwurf von 1438 präskriptiv verwendet wird, ist in der Tat auffällig:   Storey, The De quatuor virtutibus cardinalibus (wie Anm. 83) lib. 1 c. 12 S. 167.   Ebd. 1. lib. c. 16 S. 184. 112   Rüther, Zwischen göttlicher Verfügung (wie Anm. 28). 113 Christian Jörg, Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 55, Stuttgart 2008) 212–222, 270, 318. 114  Delumeau, Rassurer (wie Anm. 14) 33–396; Jörg, Teure (wie Anm. 113) 357–374; Rüther, Zwischen göttlicher Verfügung (wie Anm. 28) 349. 115  Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 837. 110 111



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Zum ersten sal der acker- und wingartman ußen sine husse mit siner habe, die man zu den eckern und wingarten, die zu arbeiten, bedarf und uf den eckern und wingarten und wider heim zu huße und als man die frucht sniden und den win leßen und das allis infuren sal, sicher sin. 2. Item es sollen auch alle kouflute mit irem libe gute und habe, alle pilgerem, sie sind geistlich ader werntlich, uf aller kurfursten ander fursten graven herren und ritterschaft straßen, es sie zu wasser ader zu lande, sicher sin und nicht beschediget werdin … . 4. Item sollen alle geistlich lute kindelbetter und ouch die in swerer krangheit sin sicher sein und nicht beschediget werdin. … 6. Item sollen kirchen kirchhofe und widenhofe auch sicher sin …116. Christian Jörg verdanken wir allerdings den wertvollen Hinweis, dass die Schutzund Sicherheitsbestimmungen dieses Friedensentwurfs insbesondere der landwirtschaftlichen Produktion und den mit ihr befassten Personen galten. Dies brachte Jörg auf überzeugende Weise mit der Hungersnot des Jahres 1438 und einem daraus abgeleiteten Bedürfnis nach vermehrter Sicherung der Subsistenz und der Versorgungswege in Verbindung117. In der Tat scheint der Situationsbezug mir geeigneter für die Bewertung der Bedeutung dieses Landfriedensentwurfs als die Annahme, er trage die von Conze angenommenen zukunftsweisenden Züge. Denn die gehäufte Aufzählung sicherheitsrelevanter Materien musste nicht notwendig zu einem generalisierten Sicherheitsbegriff führen. Dies sieht man daran, dass der Landfriedensentwurf der Kurfürsten Vorläufer im Landfrieden Karls IV. für Westfalen aus dem Jahre 1371 sowie in weiteren Bestätigungen und Fortschreibungen dieses Friedens durch König Wenzel, König Ruprecht sowie regionale Landfriedensbündnisse hatte. Alle diese Texte enthielten bereits ganz ähnliche enumerative Passagen. Gerade die unter Kurmainzer Federführung unternommenen Aktualisierungen des Landfriedens von 1371 – etwa der Landfriede von 1405 – übertrafen den kurfürstlichen Friedensentwurf des Jahres 1438 sogar noch an Präzision, wenn es galt, schützenswerte und folglich sicher zu machende Objekte und Personen herauszudeuten118. Der kurfürstliche Landfriedensentwurf des Jahres 1438 stand also in einer bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden Tradition. Daran, dass er keineswegs die ausführlichsten Sicherungsbestimmungen in der Nachfolge des Friedens von 1371 enthielt, wird deutlich, dass eine reine Akkumulation von Schutztatbeständen noch nicht zu einem abstrakten Sicherheitsbegriff führen musste, denn die Aufzählungen konnten auch wieder reduziert werden. Auf der anderen Seite konnte die Behebung eines Sicherheitsproblems nicht die Sicherheitsproblematik im Ganzen lösen, da immer damit zu rechnen war, dass an anderer Stelle neue Sicherheitsprobleme auftauchen würden119.   RTA 13 77–80 Nr. 31, hier [1, 2, 4, 6] 77f.   Jörg, Teure (wie Anm. 113) 278–281. 118  RTA 1 535–536 Nr. 296, hier [1–3] 535; Urkundenbuch zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande 6: Vom Jahre 1382 bis zum Jahre 1389, ed. Hans Sudendorf (Hannover 1867) 12–14 Nr. 13; RTA 5 694–701 Nr. 476, hier [1–7] 694f. 119  Den letztgenannten Gedanken verdanke ich einem Austausch mit Matthias Berlandi (Mainz). Er könnte durch die angebliche Äußerung eines burgundischen Adligen aus dem 15. Jh. gestützt werden, die Delumeau ohne Quellenangabe anführt: „Rien ne m’est sûr que la chose incertaine.“ Delumeau, Rassurer (wie Anm. 14) 17; vgl. aber auch ebd. 575 Anm. 50. 116 117

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Auch in theologischer Beziehung war der Sicherheitsbegriff selbst knapp 100 Jahre später noch nicht von seiner negativen Wertung befreit. In seiner Auslegung zum 147. Psalm schrieb Martin Luther 1532 in alttestamentlicher wie augustinischer Tradition120, dass es Gottes Geschenk sei, wenn eine Stadt behütet sei und die Menschen dort sicher und still wonen könnten. Wie viel sind aber wol burger oder menschen, die jr lebtage je ein mal gedacht haben, das jr schutz und sicherheit inn der stadt eine gabe Gottes sey? Welcher baur auf eim dorffe denckt, das Gottes gabe sey, das er hinder seinem zaun so sicher sizt mit seinem gesindlin? … Aber nu solcher Gttlicher schutz und sicherheit mit voller macht da ist, achtet sein niemand. Ja dafur, das wir Gotte solten dancken, faren wir zu und missebrauchens alles auffs aller mutwilligest, verfolgen Gotts wort, sind der berkeit widerspenstig und ungehorsam, betriegen und teuschen unternander, setzen auff und machen theurung wuchern und leben, als weren wir selbs Gott und herrn auf erden. Darumb mus Gott widderumb die narren zu weilen mit kolben lausen, krieg, diebe, reuber, auffrur, feur, wasser, Pestilentz und ander ungluck mehr unter uns schicken, damit er uns lere verstehen, was Schutz und Sicherheit sey, und wie es so ein edle gabe Gottes sey, Sonst lernen wirs nimmer mehr. … Und Summa: Es ist nicht menschen witze noch krafft, sondern Gottes gabe, wo schutz und sicherheit ist. Es mus mehr dazu komen denn die eisern riegel odder schmid, Gott mus die riegel (spricht er) selbs feste machen. … Doch widderumb will Gott auch nicht haben, das man jn versuche und wolte gar kein thor, keinen riegel odder nichts dazu thun zum Schutz der stad, … . Nicht also, sondern du solt bawen und riegel machen, die stadt befesten und dich rsten, gut orduung [! CR] und recht stellen, das best du vermagst. Aber da sihe zu, Wenn du solchs gethan hast, das du dich nicht darauff verlassest und sagest: Nu sitze ich sicher und feste und stehet alles wol …121. Auch wenn es Aufgabe des Menschen war, das ihm Mögliche zu tun, blieb das Gewähren von Sicherheit ein Geschenk Gottes; das irregeleitete Sich-Sicher-Fühlen zog hingegen Gottes pädagogische Strafe nach sich. Zusammenfassend kann bemerkt werden, dass Sicherheit als Abstraktum lange vor dem Beginn der Neuzeit zu einem Begriff wurde, der sich für allgemeine politische Reflexionen eignete. Er nahm schon im 13. Jahrhundert eine auf die Zukunft gerichtete Bedeutung an und wurde, wie es scheint, zunächst mit der Erwartung aufgeladen, dass der Fürst durch Generalprävention für Rechtssicherheit zu sorgen habe. Zum umfassenden Konzept wurde „Sicherheit“ im Kontext einer kreativen Aristotelesaneignung entwickelt. Hier gewann der Begriff im frühen 14. Jahrhundert an Bedeutung, als das Aufgabenspektrum des Herrschers im Namen der Glückseligkeit idealiter auf das Schaffen förderlicher Rahmenbedingungen für das Leben der Untertanen ausgeweitet wurde. In interpretierender Ausgestaltung dessen, was Aristoteles an Rahmenbedingungen genannt hatte, wurde die securitas hinzugefügt. Nicht erst in der Neuzeit, sondern bereits im Spätmittelalter bot die Aristotelesrezeption also den entscheidenden Anstoß zur Emergenz des Sicherheitsbegriffs122. Engelbert von Admont und Michael von Prag formulierten sogar Konzepte, die dem der modernen „Human Security“ ähneln. Sie lösten sich aus der Erwartung, dass endgültiger Frieden und Sicherheit nur in eschatologischer Perspektive zu denken waren, und definierten das Herstellen von Sicherheit, die somit auch als (bedingt) „machbar“ 120  Hamilton, Security (wie Anm. 29) 62f., zu Augustins Ansicht, dass diesseitige Sicherheit korrumpieren könne und dass firma securitas nur bei Gott möglich sei. 121  D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 31. Erste Abteilung (Weimar 1913) 434f. 122  Conze, Art. Sicherheit (wie Anm. 2) 846, zur Bedeutung der aristotelischen Konzepte „Gemeinwohl“ und „Glückseligkeit“ für das frühneuzeitliche Sicherheitskonzept.



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gedacht wurde, als Herrscheraufgabe. Mir scheint es für mittelalterliche Autoren jedoch überzogen, das Definieren menschlicher Aufgabenfelder so zu deuten, als sei damit Gott als Letztinstanz der Geschichte ausgeschaltet123. Zugleich wird deutlich, dass nicht allein und vielleicht nicht einmal primär das konkrete Sicherheitshandeln des sich entwickelnden frühmodernen Staates, sondern das philosophische Nachdenken „Sicherheit“ respektive securitas als umfassendes, fürs Erste aber noch Frieden und Gerechtigkeit nachgeordnetes Phänomen emergieren ließ. Durchsetzen konnte sich diese Sichtweise aber erst in der Frühen Neuzeit.

123  Vgl. auf die Neuzeit bezogene These Kaufmanns, der Begriff „Sicherheit“ habe aufgrund seiner „moralischen Ambivalenz“ erst dann zu einem „Wertbegriff“ werden können, als man sich von der Vorstellung abgewandt habe, Gott sei „der eigentlich Handelnde“ in der Geschichte, und als man statt dessen den Menschen in den Vordergrund gerückt habe. Kaufmann, Problem (wie Anm. 2) 54; Schrimm-Heins, Gewißheit 1 (wie Anm. 1) 127f.

Ein heraldisches Zeugnis aus der frühen Habsburgerzeit in Oberitalien? Eine Annäherung – aber keine sichere Lösung Josef Riedmann

Unter der Signatur cod. 74 verwahrt die Biblioteca Antica del Seminario Vescovile in Padua eine Handschrift, die aus dem Bücherbestand des 1720 verstorbenen Grafen Alfonso Alvarotti, zusammen mit anderen wertvollen Codices, darunter etwa zwei berühmte, reich illustrierte Überlieferungen der Divina Commedia (cod. 9 und 67), in die bischöfliche Sammlung gelangt ist1. Codex 74 enthält die bekannte Beschreibung des Heiligen Landes (Descriptio Terre sancte) aus der Feder des Dominikaners Burkard de Monte Sion, der in der Paduaner Handschrift – und gelegentlich auch anderswo – als Burcardus Teotonicus bezeichnet wird. In diesem Beinamen spiegelt sich die Herkunft des Mönches aus der Gegend von Magdeburg. Die ausführlichen, durch eigene Anschauungen gewonnenen Darlegungen über die Verhältnisse in Palästina und im Vorderen Orient betreffen nicht nur die politischen und religiösen Zustände, sondern etwa auch Kommunikationswege sowie Flora und Fauna im Heiligen Land. Die Descriptio ist im Jahre 1284, also knapp vor dem Ende der Präsenz der Kreuzritter in Palästina, entstanden. Burkards Werk fand offensichtlich alsbald großen Anklang sowohl bei Pilgern, welche die Heiligen Stätten aufgesucht haben, wie auch bei solchen, denen eine Reise nach Palästina verwehrt blieb. Über 100 Überlieferungen sind bekannt sowie auch Übersetzungen ins Deutsche und Französische. Eine moderne kritische Edition des Textes liegt noch nicht vor2. Mit der Entstehung und Verbreitung von Burkards Descriptio beschäftigt sich derzeit eine jüngere Forschergruppe, die im April 2019 im Rahmen eines Workshops in Innsbruck „To Jerusalem and Beyond. New Directions in the Study of Latin Travel Literature ca. 150–1500“ über den Stand ihrer Recherchen Zwischenberichte erstattete. Demnach existieren zwei deutlich verschiedene Fassungen, wobei die längere die ursprüngliche zu sein scheint. Die Überlieferungen konzentrieren sich zunächst auf Sachsen. Weitere 1  Zur Bibliothek und zur Geschichte ihrer Bestände s. I manoscritti della Biblioteca del Seminario vescovile di Padova, hg. von Andrea Donello et al. (Biblioteche e Archivi 2, Manoscritti medievali del Veneto 1, Venezia 1998). – Der Direktorin der Biblioteca Antica del Seminario Vescovile di Padova Giovanna Bergantino und ihren Mitarbeiterinnen bin ich für die entsprechenden Hinweise sehr zu Dank verpflichtet. 2   Vgl. etwa Ingrid Baumgärtner, Burchard of Mount Sion and the Holy Land. Peregrinations: Journal of Medieval Art und Architecture 4/1 (2013) 5–14. Über den Paduaner Codex ebd. 19, aber ohne Bezug zur Jerusalemdarstellung.

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Schwerpunkte von Kopien zeichnen sich in Österreich und Italien ab3. Der in der Paduaner Handschrift enthaltene Wortlaut bietet die Langfassung in einer Variante, die vor allem in Italien überliefert ist. Der Codex 74 der Biblioteca Antica der Seminarbibliothek in Padua weist heute einen neuzeitlichen festen Umschlag mit einem bräunlichen Lederüberzug auf. Der schmale Band im Quartformat (30,00 cm x 17,50 cm) mit 34 Pergamentblättern ist nicht vollständig beschrieben. Er enthält nur den Text der Descriptio, der auf fol. 27v mit dem Explicit und der zum ursprünglichen Bestand gehörenden Datierung im Jahre 1284 endet. Damals hat Burkard sein Werk abgeschlossen. Einen Hinweis auf Vorbesitzer oder gar auf eine Widmung der Handschrift sucht man im Codex vergebens. Die Schrift, eine sehr regelmäßige und sorgfältig geschriebene gotische Rotunda, verweist auf eine Entstehung des Codex in Oberitalien am Beginn des 14. Jahrhunderts. Der Text ist in zwei Kolumnen angeordnet, und häufig finden rote und blaue Paragraphenzeichen Verwendung. Der betont repräsentative Charakter der Handschrift beruht insbesondere auf den zahlreichen, sehr minuziös ausgeführten Initialen. Besonders prachtvoll gestaltet sind darunter die vor einen goldenen Hintergrund platzierten Darstellungen eines Bischofs (?) am Beginn des Textes sowie eines Dominikanermönchs an seinem Schreibpult auf fol. 14r. Diese beiden Seiten sind zudem am Rande von einer mehrfarbigen, sehr aufwändigen floralen Rankenverzierung eingefasst. Eine Besonderheit zeichnet die Paduaner Überlieferung aus: Fol. 13v wird ausgefüllt von einer sehr farbigen und detailreichen Darstellung der Stadt Jerusalem unter der Herrschaft der Christen (Abb. 1). Eine analoge Illustration findet sich in keiner anderen Abschrift des Werkes, obwohl einige davon ebenfalls mit Abbildungen ausgestattet sind. Das offensichtlich nicht aus einer Vorlage übernommene Bild Jerusalems präsentiert sich im Paduaner Codex in einem kunstvoll verzierten Rahmen vor einem goldenen Hintergrund als eine ringsum mit einer hohen, zinnenbekrönten Mauer umgebene Stadt mit einer Reihe von Türmen und einer großen, mit drei Kuppeln geschmückten Kirchenanlage im Zentrum. Die Grabeskirche mag für dieses Detail als Vorbild gedient haben. Gepanzerte Krieger mit Schilden und Lanzen halten auf der Mauer der Stadt Wache, und über dem geöffneten Stadttor in der Mitte erhebt eine Christusdarstellung in einem mit Gold ausgelegten Hintergrund die Hand zum Segen. Überhöht wird diese Darstellung durch einen Giebel mit einem großen Kreuz. Im Stadttor stehen mit Lanzen bewehrte Ritter als Wache, und vor der Stadtmauer sind auf beiden Seiten mit Lanzen und Schilden ausgestattete gepanzerte Ritter auf Pferden postiert. Darunter befinden sich auch solche mit dunkler Hautfarbe und eigenartigen Helmformen. Der ausgesprochen militärische Charakter der dargestellten Personen spricht eindeutig gegen eine Interpretation der Stadtansicht als ideales Abbild des himmlischen Jerusalem mit seinen zwölf Toren und dem Schmuck aus Edelsteinen, wie es im 21. Kapitel der Geheimen Offenbarung anschaulich beschrieben wird. Die Illustration will also circa 150 Jahre später den Zustand der Heiligen Stadt im „christlichen“ Jahrhundert 1099 bis 1187 wiedergeben. Sie befindet sich zudem in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Schilderung der Stadt Jerusa3  Im Rahmen dieser Veranstaltung referierten Jonathan Rubin (Tel Aviv) über „Burchard of Mount Sion’s Descriptio Terre Sancte: Provisional Stemma and What We Can Learn from It“ sowie Eva Ferro und Michael Schonhardt (Freiburg) über „The Manuscript Circulation of Burchard’s Descriptio and Its Reception through the Centuries“. – Den Referenten sowie Frau Prof. Baumgärtner verdanke ich wertvolle Hinweise hinsichtlich Überlieferung und Inhalt der Descriptio.



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Abb. 1: Padua, Biblioteca Antica del Seminario Vescovile, fol. 13r (Copyright Padua, Biblioteca Antica del Seminario Vescovile).

lem (De ciuitate ierusalem), die auf der gegenüberliegenden recto-Seite mit einer prächtigen Initiale beginnt und einen am Schreibpult sitzenden Dominikanermönch in seinem schwarz-weißen Habit zeigt. Offenbar wollte man damit dem Verfasser der Descriptio, Burkard, ein sinnfälliges Denkmal setzen. Prunkvolle, mehrfarbige florale Verzierungen umgrenzen auf allen vier Seiten die Stadtansicht.

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Die eindrucksvolle Darstellung hat selbstverständlich bereits mehrfach die Aufmerksamkeit der Forschung geweckt. Größte Verbreitung dürfte die Illustration in der mit Abbildungen versehenen populärwissenschaftlichen Ausgabe des Standardwerkes von Steven Runciman, Der Erste Kreuzzug, gefunden haben4. Sehr intensiv haben sich Kunsthistoriker mit der Abbildung auseinandergesetzt. Dabei erregte nicht nur die Wiedergabe der Stadt selbst ihr Interesse, sondern im Besonderen auch die üppige, vielfarbige Rankenornamentik, welche wie ein Kranz die ganze Seite einschließt. Von Giordana Canova Mariani stammt eine auf Grund von einschlägigem Vergleichsmaterial gewonnene genauere Würdigung und zeitliche Einordnung der Darstellung der Heiligen Stadt im Paduaner Codex. Nach ihren Forschungen dürfte die Illustration am Beginn des 14. Jahrhunderts, genauer gesagt um 1310, in Venedig entstanden sein. Sie steht in einem engen künstlerischen und auch inhaltlichen Zusammenhang mit einer Handschrift der Conditiones terrae sanctae des Marin(o) Sanudo, die heute in der Biblioteca Marciana in Venedig aufbewahrt wird. Nach Canova Mariani stammen die malerischen Ausstattungen im Paduaner und im Venezianer Codex von derselben Hand5. Marin Sanudo (ca. 1270–1343) – in der Literatur heute meist als „der Ältere“ bezeichnet, um ihn von seinem bekannteren namensgleichen Landsmann um 1500 zu unterscheiden – ist vor allem wegen seiner Propaganda für einen neuen Kreuzzug bekannt geworden, und in diesen Zusammenhang ordnet sich wohl auch die Paduaner Überlieferung der Descriptio terre Sancte ein. Canova Mariani bietet auch einen kurzen Hinweis auf die Wappen, die neben zwei Löwen am unteren Ende der Jerusalemdarstellung im Verband der ornamentalen Umrahmung angebracht sind (Abb. 2). Eindeutig zu identifizieren ist der schwarze einköpfige Adler auf goldenem Grund. Die Ausrichtung des Kopfes heraldisch rechts ist trotz des schlechten Erhaltungszustandes dieses Details des Bildes gut erkennbar. Die Darstellung entspricht dem seit dem 12. Jahrhundert gebräuchlichen Hoheitszeichen des römischdeutschen Herrschers, wie es vom Liber ad honorem Augusti des Petrus de Ebulo6 bis zur Darstellung des Grabmals des toten Kaisers Heinrich VII. im Codex Balduineus7 in verschiedenen Illustrationen immer wieder begegnet. Der Adler als Hoheitszeichen des Reiches beschränkte sich aber nicht auf Kaiser, sondern wurde selbstverständlich auch von den römisch-deutschen Königen verwendet. So findet sich auf der Grabplatte Rudolfs 4 Steven Runciman, Der Erste Kreuzzug (München 1981) 172. Allerdings beschränken sich manche Abbildungen nur auf die Wiedergabe der eigentlichen Stadtansicht unter Verzicht auf die Rahmenverzierungen, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird; wie etwa http://www.sbg.ac.at/ges/people/janotta/sim/stadtansichten.html [12. 5. 2019]. Keine Erwähnung findet die Darstellung in den Beiträgen des Sammelwerkes Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter, hg. von Dieter Bauer–Klaus Herbers–Nikolaus Jaspert (Campus Historische Studien 29, Frankfurt–New York 2001). 5  Giordana Canova Mariani, I manoscritti miniati, in: Il Seminario de Gregorio Barbarigo. Trecento anni di arte, cultura e fede, hg. von Pierantonio Gios–Anna Maria Spiazzi (Padova 1997) 151–177, bes. 150–160. Vgl. auch eine kurze Beschreibung des Cod. 74 in: I manoscritti, hg. von Donello et al. (wie Anm. 1), catalogo 24. Eine Abbildung ebd. 158. 6  Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern, ed. Theo Kölzer–Marlis Stähli (Sigmaringen 1994) 91 (fol. 109r, Kaiser Heinrich VI. und sein militärisches Gefolge mit dem Reichsadler). 7  Z. B. Kaiser Heinrichs Romfahrt. Die Bilderchronik von Kaiser Heinrich VII. und Kurfürst Balduins von Luxemburg 1308–1313 im Landeshauptarchiv Koblenz (Koblenz 1985), ed. Franz-Josef Heyen, fol. 37, und Der Weg zur Kaiserkrone. Der Romzug Heinrichs VII. in der Darstellung Erzbischof Balduins von Trier, hg. von Michel Margue–Michel Pauly–Wolfgang Schmid (Publications du Centre Luxembourgeois de Documentation et d’Études Médiévales 24, Trier 2009) 16f. (Hinweis von H. Weigl).



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Abb. 2: Padua, Biblioteca Antica del Seminario Vescovile, fol. 13v (Detail) (Copyright Padua, Biblioteca Antica del Seminario Vescovile).

von Habsburg im Dom zu Speyer auf der Brust des Herrschers der gleiche Adler, flankiert von den traditionellen habsburgischen Löwen8. Auch die Bewaffneten auf den Zinnen und die Ritter vor den Toren tragen zum guten Teil Schilde mit Wappen, deren Darstellungen teilweise mehr oder weniger gut erkennbar sind. Die Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht scheint aber nicht möglich zu sein. Vielleicht handelt es sich dabei auch um Phantasieprodukte des Künstlers. Anders verhält es sich mit den beiden links und rechts an exponierter Stelle unter dem Reichsadler angebrachten Wappenschilden. Canova Mariani bezeichnet sie als ancora non identificati9. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei dem rechts unter dem Reichsadler angebrachten roten Schild mit einem weißen Mittelbalken um das Wappen des Herzogtums Österreich handelt. Die Abfolge rot-weiß-rot findet sich auch im Wappenrock des rechten der beiden Ritter, die im Stadttor von Jerusalem postiert sind10. Der Bindenschild als österreichisches Hoheitszeichen war in Nordostitalien im Trecento durchaus schon bekannt, insbesondere etwa in Pordenone. Seit der Zeit der Babenberger zählte diese Stadt in Friaul zum Herrschaftsbereich der österreichischen Herzoge. Noch heute kann man dort einige österreichische Wappen aus dem Spätmittelalter sehen, die bei Restaurierungen wieder zum Vorschein gekommen sind11. 8  S. etwa die Abbildung vor dem Titel der Monographie von Oswald Redlich, Rudolf von Habsburg. Das deutsche Reich nach dem Untergang des alten Kaisertums (Innsbruck 1903). Zur problematischen Überlieferung vgl. Matthias Müller, Das Stirnrunzeln des Königs. Rudolfs von Habsburg vermeintliches Grabbildnis im Speyerer Dom als interpretatorische Herausforderung, in: König Rudolf I. und der Aufstieg des Hauses Habsburg im Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller (Darmstadt 2019) 203–236, hier bes. 213–218. 9   Canova Mariani, I manoscritti miniati (wie Anm. 5) 160. Zwei sehr schlecht erhaltene, bisher nicht identifizierte Wappen befinden sich auch am unteren Rand der ersten Seite der Handschrift. 10   Einen rot-weiß-roten Waffenrock tragen auch Herzog Albrecht II. von Österreich und seine beiden Söhne in der Darstellung auf einem heute in St. Florian befindlichen Glasfenster, das schon zu Lebzeiten des Fürsten vor 1350 entstanden sein könnte; vgl. Alphons Lhotsky, Geschichte Österreichs seit der Mitte des 13. Jahrhunderts (1281–1358) (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte Österreichs 1, Wien 1967) 312. Gute Farbabbildungen in: Die Zeit der frühen Habsburger. Dome und Klöster 1279–1379, hg. von Floridus Röhrig–Gottfried Stangler (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums N. F. 85, Wien 1979) Abb. 8; Geschichte der bildenden Kunst in Österreich 2: Gotik, hg. von Günter Brucher (München 2000) 108. 11  Vgl. dazu zusammenfassend Josef Riedmann, La specificità pordenonese: i rapporti con gli Asburgo e

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Der Schild links unter dem Reichsadler zeigt in einem grünen Feld den minimalen Rest eines Objekts in weißer Farbe. Gewissermaßen als Gegenstück zum österreichischen Wappen liegt eine Identifizierung als weißer (silberner), nach rechts schreitender Panther, dem Wappentier der Steiermark, nahe. Tatsächlich lässt sich bei intensiver Beobachtung des Originals die entsprechende Vorzeichnung des steirischen Panthers eindeutig erkennen. Die ursprüngliche Tingierung ist allerdings weitgehend verschwunden. Grün-weißgrün kehrt zudem auch im Wappenrock des linken Ritters im Stadttor von Jerusalem wieder12. Gegen die auf den ersten Blick naheliegende Vermutung, dass diese Darstellung des Reichsadlers unter dem christlichen Jerusalem in Verbindung mit Kaiser Friedrich II. steht, der in seinem Titel den Namen der Stadt führte und auch dort die Königskrone in Empfang genommen hat, sprechen die geschilderten Wappen der Herzogtümer Österreich und Steiermark. Zwar hatte der Stauferkaiser nach der Ächtung bzw. dem Tod des Babenbergers Herzog Friedrich II. beide Herzogtümer an sich gezogen. Doch dies war im Rahmen der großen Politik des Herrschers eine zu ephemere Entscheidung, um sie noch gut ein halbes Jahrhundert später propagandistisch an einer so exponierten Stelle zu dokumentieren. Die Darstellung des rot-weiß-roten Bindenschildes und des steirischen Panthers im Zusammenhang mit einem Kreuzzug lässt wiederum spontan zunächst an die Geschichte von der Entstehung des österreichischen Wappens denken, als sich der Babenberger Herzog Leopold V. bei der Eroberung von Akkon im Jahre 1191 durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Doch diese bekannte Sage ist erst Ende des 14. Jahrhunderts nachweisbar13. Ein entsprechender Beleg im Gebiet des heutigen Veneto fast hundert Jahre früher ist auszuschließen. Zudem übernahm Herzog Leopold erst nach der Rückkehr vom Kreuzzug die Herrschaft über die Steiermark, und vor allem ergibt der Reichsadler in diesem Kontext keinen Sinn. Hingegen gewinnt in der geschilderten Kombination die Deutung der bisher nicht identifizierten Wappen als ein heraldisches Zeugnis aus der frühen Habsburgerzeit ein sehr hohes Maß an Wahrscheinlichkeit. Der scheinbar älteste Beleg für die Verwendung der drei Hoheitszeichen im Zusammenhang mit einem Mitglied der habsburgischen Familie findet sich überraschenderweise auf der Grabplatte der Gertrud (Anna) von Hohenberg, der Gemahlin König Rudolfs I. von Habsburg. Die im Jahre 1281 verstorbene Königin erhielt im Basler Münster ein aufwändiges Grabmal, auf dem neben dem Reichsadler und dem habsburgischen Löwen auch der österreichische Bindenschild sowie der steirische Panther zu sehen sind. Diese Kombination in diesem zeitlichen Konnex erscheint schon auf den ersten Blick erstaunlich. Zwar hatte König Rudolf 1278 nach seinem Sieg über Ottokar von Böhmen als Reichsoberhaupt in den Herzogtümern Ösl’Austria, in: Il Quattrocento nel Friuli occidentale. Atti del convegno organizzato dalla Provincia di Pordenone nel mese di dicembre 1993 1 (Itinerari del Quattrocento, Pordenone 1996) 69–79, bes. 72. 12  Erstmals bildlich überliefert ist das steirische Pantherwappen erst in der Zürcher Wappenrolle um 1340. Die früheste literarische farbige Beschreibung findet sich um 1315 bei Ottokar aus der Gaal. Heinrich Purkart­hofer, Das Wappen der Steiermark. Kulturgeschichtliche und rechtliche Aspekte. Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 30 (1981) 77–86, bes. 80–83. 13 Karl Lechner, Die Babenberger, Markgrafen und Herzoge von Österreich 976–1246 (VIÖG 23, Wien–Köln–Graz 1976) 186. Über die Entstehung des österreichischen und steirischen Wappens vgl. zusammenfassend Alexander Sauter, Fürstliche Herrschaftsrepräsentation. Die Habsburger im 14. Jahrhundert (Mittelalter-Forschungen 12, Ostfildern 2003) 99–117.



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terreich und Steiermark die Regierungsgewalt übernommen. Aber erst mit der Belehnung der Söhne des Königs im Jahre 1282 begann die offizielle Herrschaft des Hauses Habsburg über die einst babenbergischen Länder. Die Verwendung der Wappen beim Grabmonument der bereits vorher verstorbenen Königin würde damit einen Anachronismus darstellen. Entscheidend sind die Erkenntnisse der Kunsthistoriker, welche für eine spätere Entstehung dieses Teiles der Begräbnisstätte, wahrscheinlich in der Zeit Herzog Rudolfs IV., also um 1360, plädieren14. Wie und wo findet sich aber ein sinnvoller Zusammenhang zwischen der Trias Reichsadler – Österreich – Steiermark und der Kreuzzugsidee unter dem Vorzeichen der Entstehung des Paduaner Codex im venezianischen Bereich im frühen Trecento? Ein Bezug zu König Rudolf I. ist wohl auszuschließen. Der Habsburger äußerte zwar in einem Schreiben an den Dogen Jacopo Contareno im März 1277 ausführlicher seine Absicht für die Durchführung eines Kreuzzuges15, und die Herzogtümer Österreich und Steiermark bildeten nach 1278 – wie bereits kurz erwähnt – für Rudolf eine sehr wichtige reale Machtbasis. In der Wahrnehmung des Herrschers durch seine Untertanen im Nordosten Italiens haben die beiden Herzogtümer aber gewiss keine so bedeutende Rolle gespielt, dass man ihre Wappen zusätzlich zum Reichsadler als Symbole dieser Herrschaft angesehen hätte. Etwas anders liegen die Dinge bei König Albrecht I., der zunächst ja als Herzog von Österreich und der Steiermark politisch in Erscheinung getreten ist. Auf den ersten Blick wäre es denkbar, in den Wappen eine Art Widmung der Handschrift an König Albrecht zu sehen. Allerdings weisen der Entstehungsbereich des Codex sowie auch seine Überlieferung nicht in diese Richtung. Eine andere Erklärung für einen Bezug des Manuskripts zu Albrecht I. scheint sich nicht anzubieten. Die Bestellung seiner Verwandten, der Brüder Otto, Ludwig und Heinrich, Herzoge von Kärnten und Grafen von Tirol, zu Reichsvikaren in Friaul und Istrien im Jahre 129816 dürfte nicht zu engeren Bindungen dieser Teile des heutigen Nordostitalien an den Habsburger geführt haben. Die Apostrophierung König Albrechts durch seinen Gesandten an der römischen Kurie als potentiellen recuperator Terre Sancte ist wohl ebenso wenig als konkreter Hinweis auf entsprechende Initiativen anzusprechen wie die einschlägige Bemerkung des Papstes Clemens V. in einem Schreiben an den König17. Um eine eventuelle Beziehung zwischen dem König und den in Venedig immer noch aktuellen Kreuzzugsideen aufzudecken, ist auch der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, als guter Kenner der Geschichte dieses Habsburgers gefordert. Zu den habsburgischen Fürsten, die im frühen 14. Jahrhundert Ansprüche auf die Herrschaft im Reich, in Österreich und der Steiermark erheben konnten und die entsprechenden Wappen geführt haben, ist aber auch König Friedrich III. (der Schöne) zu zählen. Der wenig glückliche Herrscher engagierte sich mehrfach, wenn auch nicht sehr wirksam, im Nordosten der Apenninenhalbinsel. Überraschend und zugleich höchst bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang zunächst eine Notiz bei Matthias von Neuenburg: Demnach hatte Katharina, die Schwes  Sauter, Fürstliche Herrschaftsrepräsentation (wie Anm. 13) 110–112.   MGH Const. III, ed. Iacobus Schwalm (Hannover–Leipzig 1904/06) 120f. Nr. 125. S. etwa Redlich, Rudolf von Habsburg (wie Anm. 8) 387f., und Josef Riedmann, Venedig und das römisch-deutsche Königtum um 1300, in: Domus Austriae. Eine Festgabe. Hermann Wiesflecker zum 70. Geburtstag, hg. von Walter Höflechner–Helmut Mezler-Andelberg–Othmar Pickl (Graz 1983) 352–362, bes. 354. 16  MGH Const. IV/1, ed. Iacobus Schwalm (Hannover–Leipzig 1906) 36f. Nr. 43. 17  Ebd. 143 Nr. 173 und 174 Nr. 214. 14 15

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ter König Friedrichs, auf ihrer Reise nach Neapel zur Vermählung mit dem Prinzen Karl von Anjou im Jahr 1316 bei ihrem Aufenthalt in Bologna, seit dem Verzicht König Rudolfs 1278 ein Teil des Territoriums des hl. Petrus und nicht mehr des Sacrum Romanum Imperium, paramenta mit dem Reichswappen sowie den Wappen von Österreich und der Steiermark mitgeführt18. Dies weiß Matthias, der sich damals als Student in Bologna aufhielt, als Augenzeuge zu berichten. Genauere Angaben über die Beschaffenheit dieser heraldischen Zeugnisse bietet Matthias nicht. Seine Formulierung legt allerdings die Vermutung nahe, dass die Wappen im direkten Zusammenhang mit der Ausstattung der Braut angebracht worden sind. Auf Grund dieser Überlegung könnte man eventuell einen Zusammenhang mit den seit dem Trecento in Mittel- und Oberitalien überlieferten prachtvollen Hochzeitstruhen (Cassoni) herstellen, die bisweilen mit Wappen geschmückt waren. Hypothetisch wäre aber auch an die Anbringung von Insignien auf einem Fahrzeug des Brautzuges zu denken, wie dies – allerdings wesentlich später – im Prunkwagen Kaiser Friedrichs III. der Fall ist, wo neben dem doppelköpfigen Reichsadler, dem Bindenschild sowie dem portugiesischen Wappen auch weitere Insignien mehrerer habsburgischer Länder angebracht sind19. Auf der Darstellung des Reisewagens der Eleonore, Gemahlin des Tiroler Landesfürsten Erzherzog Siegmund von Österreich, in der Bilderchronik des so genannten Berner Schilling ist mehrfach der österreichische Bindenschild zu sehen20, und auch die Wagen für die Wagenburgen und die Artillerie im berühmten Triumphzug Kaiser Maximilians sind mit Tüchern abgedeckt, auf denen das Reichswappen, der Bindenschild sowie der Tiroler Adler angebracht sind21. Die demonstrativen Zeugnisse der vornehmen verwandtschaftlichen Bindungen der Braut müssen auf Matthias als jungen Bologneser Studenten offensichtlich einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben, wenn er diese Episode in seinem erst zwei Jahrzehnte später entstandenen Geschichtswerk festgehalten hat. Dabei ist allerdings auch in Rechnung zu stellen, dass der Chronist engere Beziehungen zu den Habsburgern unterhalten hat22. Ein gleiches repräsentatives Auftreten wie in Bologna ist gewiss auch für den vorhergehenden Aufenthalt der österreichischen Herzogin Katharina in Treviso anzunehmen. In dieser Stadt hatten sich vereinbarungsgemäß Abgesandte des neapolitanischen Königs Robert eingefunden, um die Braut nach dem Süden zu geleiten, und bei dieser Gelegenheit musste sowohl den Vertretern der künftigen Verwandtschaft wie auch einer breiten Öffentlichkeit der Rang der Braut sinnfällig vor Augen geführt werden. Die Kommune sparte nachweislich nicht mit beträchtlichen Ausgaben für repräsentative Geschenke an 18  Die Chronik des Matthias von Neuenburg, ed. Adolf Hofmeister (MGH SS rer. Germ. N. S. 4, Berlin 1924–1940) 104: Erant autem paramenta eius imperii, Austrie et Stirie insigniis insignita. S. dazu ausführlicher Werner Maleczek, Katharina von Österreich (1295–1323), Tochter König Albrechts I., Ehefrau Prinz Karls von Kalabrien. QFIAB 92 (2012) 33–84, bes. 48–52. 19   Abgebildet im Ausstellungskatalog Friedrich III. Kaiserresidenz Wiener Neustadt. St. Peter an der Sperr, Wiener Neustadt, 28. Mai bis 30. Oktober 1966 (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums N. F. 29, [Wien 1966]) Abb. 3 und Katalognummer 153. 20  S. Carl Pfaff, Die Welt der Schweizer Bilderchroniken (Schwyz 1991) 229. 21  Katalog: Kaiser Maximilian und die Kunst der Dürerzeit, hg. von Eva Michel–Maria Luisa Sternath (München–London–New York 2012) 233, 236 und 138. Auch ein Leichenwagen kann mit Wappen geschmückt sein; s. Alltag im Spätmittelalter, hg. von Harry Kühnel (Graz 31986) 123 (Leichenzug für Herzog Hermann IV. von Schwaben, 1489/90). Die entsprechende Tradition hat sich bei Staatsbegräbnissen und ähnlichen offiziellen Anlässen bekanntlich bis heute erhalten. 22 Alphons Lhotsky, Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs (MIÖG Ergbd. 19, Graz–Köln 1963) 278–280.



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die Fürstin23. Über Padua und Ferrara war Katharina dann mit ihrem zahlreichen Gefolge weiter nach Bologna gereist. In allen diesen Stationen erregte die Ankunft der Fürstin große Aufmerksamkeit. Zudem hatte König Friedrich aus diesem Anlass auch Gesandte nach Venedig geschickt24. Dass auf diese Weise ein breites Publikum die heraldische Trias „Reich“ – „Österreich“ – „Steiermark“ zu Gesicht bekommen hat, kann angenommen werden. Ein direkter Zusammenhang mit dem ornamentalen Schmuck im Paduaner Codex lässt sich natürlich nicht nachweisen. Die Hypothese, der Illuminator habe an der Präsentation der drei Wappen derart Gefallen gefunden, dass er sie als Zeichen der christlichen Herrschaft über das christliche Jerusalem verwendete, greift sicher zu kurz. Warum die Herzogin Österreichs und der Steiermark Katharina auch die Insignien des Reiches führte, ob als vorgesehene Braut Kaiser Heinrichs VII.25, als Tochter und Schwester eines römisch-deutschen Königs oder generell, um ihre Parteinahme für die staufisch-ghibellinischen Traditionen auf der um 1300 zwischen den bekannten Parteiungen der pars imperii und der pars ecclesie gespaltenen Halbinsel zu dokumentieren, mag dahingestellt bleiben. Die Verleihung des Reichsvikariats durch König Friedrich an Cangrande della Scala, den Stadtherrn von Verona, im Jahre 131726 scheint keine nachhaltigen Folgen hinsichtlich der Kontakte des Habsburgers mit dem Süden mit sich gebracht zu haben. Eine neue Dimension der Beziehungen zwischen dem römisch-deutschen König und Nordostitalien ergab sich aber, als im Herbst 1318 die Stadt Treviso Friedrich III. als Schutzherrn anerkannte, um so eine Unterstützung gegen die expansionistische Politik des Cangrande in der Trevisaner Mark zu gewinnen. In der Folge entwickelte sich ein reger Austausch von Gesandtschaften zwischen der Kommune und dem Habsburger, der sich damals durchwegs im Gebiet der Steiermark und Österreichs aufhielt27. Seine Persönlichkeit und seine Ansprüche müssen auf diese Weise auch im Nordosten Italiens entsprechend bekannt geworden sein. König Friedrich begab sich zwar nicht selbst in die benachbarte Region im Süden, er hatte aber zunächst den Grafen Heinrich von Görz zu seinem Generalkapitän in Friaul bestellt, der auch als Vikar in Treviso und im benachbarten Conegliano Anerkennung fand. Ende 1319 war dann Ulrich von Wallsee, der Hauptmann der Steiermark, vom Habsburger als sein und des Reiches Prokurator in Padua installiert worden28, und im September des Jahres 1321 übertrug Friedrich schließlich das Reichsvikariat über Padua seinem nahen Verwandten Heinrich, dem Exkönig von Böhmen und Landesfürsten von Kärnten und Tirol29. Alle Genannten übten ihre Funktionen im Namen des Königs aus.   Maleczek, Katharina (wie Anm. 18) 49.   Regesta Habsburgica III/1, ed. Lothar Gross (Innsbruck 1922) Nr. 465. 25   So schon Lhotsky, Geschichte Österreichs (wie Anm. 10) 245, und Maleczek, Katharina (wie Anm. 18) 52. 26  Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24) Nr. 579. 27  Die Entwicklung des Engagements Friedrichs III. in Nordostitalien seit 1318 lässt sich am einfachsten anhand der Nummern in den Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24), nachvollziehen; vgl. ebd. Nr. 766, 768, 755, 756, 757, 765 usw. An einschlägigen Darstellungen s. Giovanni Tabacco, La politica italiana di Federico il Bello re dei Romani. Archivio storico italiano 108 (1950) 3–77, bes. 31–34, und Josef Riedmann, La area Trevigiana e i poteri alpini, in: Storia di Treviso 2: Il Medioevo, hg. von Daniela Rando–Gian Maria Varanini (Venezia 1991) 243–267, bes. 252–264. 28  Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24) Nr. 900, 902, 921, 922, 924, 940 usw. 29  S. dazu ausführlicher Josef Riedmann, Die Beziehungen der Grafen und Landesfürsten von Tirol zu Italien bis zum Jahre 1335 (SB der ÖAW, phil.-hist. Kl. 307, Wien 1977) bes. 350–381. 23 24

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Der Ausgang der Schlacht bei Mühldorf 1322 und die folgende mehrjährige Gefangenschaft Friedrichs verhinderten bald darauf abrupt jedes weitere Engagement des Habsburgers im Nordosten Italiens. Die von König Friedrich geführten Wappen des Reiches, Österreichs und der Steiermark werden den Abgesandten der Kommune von Treviso bereits sehr vertraut geworden sein, als sie im Frühjahr 1319 sieben Wochen lang bei Friedrich in Graz auf eine Entscheidung des Königs warten mussten30. Außerdem dürften dann die von Friedrich als römisch-deutschem König im Hinterland von Venedig kurzfristig installierten Funktionäre dort die Insignien ihres Auftraggebers einem breiteren Publikum vor Augen geführt haben. Dies lässt sich zumindest indirekt mit größter Wahrscheinlichkeit aus den Schilderungen von einschlägigen zeremoniellen Feierlichkeiten dieser Zeit erschließen: Nachdem im April 1319 Graf Heinrich II. von Görz von König Friedrich zum Vikar des Reiches über die Stadt Treviso und den dazugehörenden Distrikt bestimmt worden war, hatten die Amtsträger und das ganz Volk der Stadt Treviso den neuen Vertreter des Reichsoberhauptes cum vexillo Sancte Crucis et aliis bandieriis feierlich willkommen geheißen31. Die Wappen des Reiches, Österreichs und der Steiermark werden etwa auch zu sehen gewesen sein, als im Jänner 1320 Ulrich von Wallsee, Stirie capitaneus, in äußerst feierlicher Form in maiori sala maioris palacie comunis Padue vor einer Menge an Honoratioren und zahlreichem Volk als von König Friedrich bestellter Vikar über Padua und den Distrikt der Stadt seinen Amtseid ablegte. Auch die Vertreter der Kommune leisteten dem Vertreter des Königs, der bei dieser Gelegenheit das vexillum magnum communancie et populi sowie die Schlüssel der Stadt im Namen des Reichsoberhauptes in Empfang nahm, einen feierlichen Eid32. Der in der Politik seiner Paduaner Heimatstadt stark engagierte Frühhumanist Albertino Mussato – er war auch einmal Teilnehmer einer Gesandtschaft an König Friedrich33 – bietet in seiner Chronik eine umfangreiche Dokumentation dieses „Staatsaktes“. Zweifellos maß man diesen symbolischen Handlungen im Rahmen der kommunalen Politik eine hohe Bedeutung zu. Andrerseits ist bei derartigen demonstrativen Manifestationen des städtischen Selbstverständnisses auch die Präsentation entsprechender Insignien der Macht, also von Fahnen und Wappen, vonseiten der Vertreter des offiziellen Schutzherrn der Stadt zu erwarten.   Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24) Nr. 806.   Opusculum de proditione Tarvisii, in: Rambaldo Degli Azzoni Avogari, Memorie del beato Enrico, morto in Trivigi l’anno MCCCXV (Venezia 1760) 2 147–217, bes. 191. S. auch MGH Const. V, ed. Iacobus Schwalm (Hannover–Leipzig 1909/13) 430–432 Nr. 540–542; Reg. Habsburgica III/1 Nr. 804, 814 und 830. 32   MGH Const. V, ed. Schwalm (wie Anm. 31) 446–448 Nr. 557 und 558; Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24) Nr. 902. Eine ausführliche Dokumentation dieses Aktes bietet der Zeitgenosse Albertino Mussato: Sette libri inediti del De Gestis Italicorum post Henricum VII di Albertino Mussato. Prima edizione diplomatica, ed. Luigi Padrin (Monumenti storici publicati dalla r. deputazione Veneta di storia patria III/3, Venezia 1903) 66–70. Ähnlich schon die Schilderung ebd. 62, wonach Ulrich im Namen König Friedrichs über Padua principatum accipiens vexillumque sustulit. Der als Geschichtsschreiber sehr fruchtbare Paduaner Albertino Mussato war in politischen Angelegenheiten seiner Heimatstadt höchst aktiv; vgl. die neuere biographische Würdigung in: Albertino Mussato, Traditio civitatis Padue ad Canem Grandem. Ludovicus Bavarus, ed. Giovanna M. Gianola–Rino Modonutti (Il ritorno dei classici nell’umanesimo IV – Edizione nazionale dei testi della storiografia umanistica 10, Firenze 2015) 3–17, sowie neuerdings Giuseppe Cusa, Die Geschichtsschreibung in der Mark Verona-Treviso im Zeitalter der Kommunen und Signorien (spätes 12. bis frühes 15. Jahrhundert) (Studi – Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig. Centro tedesco di Studi Veneziani. N. F. 18, Regensburg 2019) 208–215. 33   Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24) Nr. 1096. 30 31



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Aussagekräftig ist auch im Zusammenhang mit den Versuchen, Spuren heraldischer Zeugnisse im frühen Trecento im Hinterland von Venedig aufzuzeigen, eine Notiz bei Guillielmus de Cortusiis, die über die Verwendung von Wappen in dieser Zeit in Padua berichtet: Als es Cangrande della Scala im Jahre 1328 nach langen Bemühungen gelungen war, die Herrschaft auch über diese Stadt zu erlangen, konnten die bis dahin verbannten Oppositionellen wieder in ihre Heimat zurückkehren, und es herrschte eine allgemeine Jubelstimmung: Gaudet amodo tota civitas fulgere Aquilas imperiales ubique et insignia de la Scala34. Die heraldischen Zeichen der neuen Obrigkeit wurden also demonstrativ überall in der Stadt zur Schau gestellt. Die kaiserlichen Adler führten die della Scala als Vikare des Reiches, und dazu trat noch die Leiter, das bekannte sprechende Wappen der Mitglieder der Familie35. Eine vergleichbare Stimmung dürfte einige Jahre zuvor bei der Ankunft und während der Tätigkeit der Funktionäre König Friedrichs III. in Treviso und Padua wohl nicht geherrscht haben. Aber der Adler als Insignie des Reiches wäre rechtlich auch für die Beauftragten des habsburgischen Königs in Padua durchaus angebracht gewesen, ergänzt um die Wappen der habsburgischen Herzogtümer Österreich und Steiermark. Einen ganz speziellen heraldischen Niederschlag hat die kurzfristige Oberhoheit König Friedrichs nur scheinbar in Padua hinterlassen: Die in dieser Stadt um 1320 nach dem Vorbild der Meraner Adlergroschen geprägten Münzen weisen als Beizeichen einen Bindenschild auf, der auf den ersten Blick als österreichisches Wappen anzusprechen ist. Wahrscheinlicher ist allerdings die Deutung als Wappen der Herren von Wallsee – ein weißer Balken auf schwarzem Grund –, denn weitere Paduaner Münzen zeigen die Wappen der Herren von Villanders und von Pfannberg. Engelmar von Villanders und Ulrich von Pfannberg bekleideten nach Ulrich von Wallsee Funktionen in Padua in Vertretung des Kärntner und Tiroler Landesfürsten Heinrich, der von König Friedrich im September 1321 das Reichsvikariat über Padua übertragen erhalten hatte36. Ohne Zweifel war König Friedrich III., für kurze Zeit um 1320 in der Trevisaner Mark, eine bekannte Persönlichkeit, wobei nicht nur sein nicht unbestrittenes Königtum, sondern auch seine Position als „benachbarter“ Landesfürst, wie sie sich in seinen Wappen manifestierte, eine Rolle gespielt haben dürften37. Das Hinterland von Venedig 34 Guillelmi de Cortusiis Chronica de novitatibus Padue et Lombardie, ed. Beniamino Pagnin (RIS2 XII/5, Bologna 1941) 55. S. dazu Christoph Friedrich Weber, Exempla im Schilde führen. Zur Funktionalität „redender Wappen“ in der kommunalen Geschichtsschreibung des Trecento, in: Wappen als Zeichen. Mittelalterliche Heraldik aus kommunikations- und zeichentheoretischer Perspektive, hg. von Wolfgang Achnitz (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 11/2, Berlin 2006) 147–166, bes. 180. 35   Die Leiter als Wappen der Skaliger findet sich vor allem auf den Siegeln aller Familienmitglieder. Das einprägsame Zeichen hat aber auch auf Mauern, Türmen und anderen Bauwerken die Jahrhunderte überdauert; s. etwa Giuseppe Plessi, Sigilli scaligeri, in: Gli Scaligeri 1277–1387. Saggi e schede pubblicati in occasione della mostra storico-documentaria allestita dal Museo di Castelvecchio di Verona (giugno–novembre 1988), hg. von Gian Maria Varanini (Verona 1988) 71–76, sowie die Abbildungen in mehreren weiteren Beiträgen in diesem Katalog, bes. 572–577. 36  Helmut Rizzolli, Münzgeschichte des alttirolischen Raumes im Mittelalter und Corpus Nummorum Tirolensium Mediaevalium 21: Die Münzstätten Brixen/Innsbruck, Trient, Lienz und Meran vor 1363 (Bozen 1991) 225 (Abb. 57a), 229f., 530f. und 543 (Abb. Pa7); Karel Hruza, Die Herren von Wallsee. Geschichte eines schwäbisch-österreichischen Adelsgeschlechtes (1171–1331) (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 18, Linz 1995) 459 und 473 (Abb. 10) (Hinweis von Herwig Weigl). 37   Als ein Indiz für die höher gewertete Einschätzung der Position Friedrichs als Landesfürst von Österreich und Steiermark und weniger als römisch-deutscher König beim Engagement des Habsburgers in Nordostitalien kann man etwa die in der zeitgenössischen Trevisaner Geschichtsschreibung festgehaltene Bezeichnung des Kaplans Matthias (Pfarrer von Stillfried) verstehen, der als Abgesandter Serenissimi Principis Dom. Federici Ducis

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war damals auf vielfältige politische, wirtschaftliche und kulturelle Weise engstens mit der Lagunenstadt verbunden, obwohl es erst knapp ein Dutzend Jahre später als „Terraferma“ offiziell dem Territorium der Dogenrepublik angegliedert wurde. Dass man in Venedig auf diese Weise genaue Kenntnisse hatte vom Wappen des in der unmittelbaren Nachbarschaft mehrfach engagierten habsburgischen Königs, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Schließlich könnte das Wappen Friedrichs III. allerdings auch auf direktem Weg in die Lagunenstadt gekommen sein, etwa im Rahmen von Gesandtschaft. Leider fließen die Quellen über direkte Beziehungen des Habsburgers zu Venedig äußerst spärlich. Wegen der Reise der Herzogin Katharina zu ihrem Bräutigam im Königreich Sizilien im Jahre 1316 schickte König Friedrich auch Gesandte nach Venedig, und die dortige Obrigkeit reagierte mit einem heute nicht mehr erhaltenen Schreiben38. Bei dieser Gelegenheit, aber auch bei den Gesandten Graf Heinrichs von Görz, die im Jahre 1319 dem Dogen die Verleihung des Reichsvikariats über Treviso an den Görzer durch König Friedrich melden sollten, könnten die Wappen des Reiches, Österreichs und der Steiermark in der Lagunenstadt zu sehen gewesen sein39. Zweifellos ließen sich Ort und Zeit der Entstehung der Paduaner Handschrift um 1310 in Venedig, wie sie von der Kunstgeschichte postuliert worden sind, mit einem direkten oder indirekten Bezug der heraldischen Darstellung zu Friedrich III. vereinbaren, wenn auch genauere Hintergründe, wie und wo der Illuminator des Paduaner Codex 74 auf die Vorlage seiner Wappen gestoßen ist, derzeit noch nicht oder nicht mehr zu enträtseln sind. Noch mehr im Dunkeln bleibt schließlich die Antwort auf die naheliegende Frage, warum der Künstler ausgerechnet die Wappen des nur kurzfristig und wenig glücklich in dieser Region engagierten Habsburgers zur Dekoration der Darstellung Jerusalems zur Kreuzzugszeit gewählt haben soll. Für die an sich plausibelste Vermutung, eine beabsichtigte Widmung der Handschrift an König Friedrich, finden sich im Paduaner Exemplar keine erkennbaren Hinweise, und sowohl die heute noch nachvollziehbare Geschichte wie auch der gegenwärtige Aufbewahrungsort sprechen gegen eine derartige Hypothese. Das Fragezeichen im Titel des Beitrages bezieht sich also nicht auf die Identifizierung der Wappen, sondern auf die Hintergründe ihrer Anwendung in der Darstellung des „christlichen Jerusalem“. Dafür konnte keine überzeugende eindeutige Antwort, sondern nur eine Reihe von Hypothesen geboten werden. Es bleiben aber zusätzlich doch noch Anregungen hinsichtlich eines gerade für die frühen Habsburger genauer untersuchten Phänomens: die Bedeutung von Wappen in Austrie et Regis Romanorum im Herbst 1318 nach Treviso gekommen war; Opusculum de proditione Tarvisii (wie Anm. 31) 174; Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24) Nr. 734. Albertino Mussato nennt König Friedrich zumeist romanorum rex, manchmal mit dem Zusatz austriensis oder austriensis dux; Sette libri inediti, ed. Padrin (wie Anm. 32) 48, 56, 57, 60 usw. In einem anderen Werk Mussatos wird Friedrich als F. Austrie Romanorum rex oder einfach als F. Austrie ohne weitere Beifügung apostrophiert; Mussato, Traditio, ed. Gianola–Modonutti (wie Anm. 32) 117 und 147. Guillielmus de Cortusiis, der seine ausführliche Chronik allerdings erst später verfasst hat, bezeichnet Friedrich bei dessen Aktivitäten in der Trevisaner Mark zumeist als dux Austrie, manchmal mit dem Zusatz rex Romanorum oder se dicentem Romanorum regem; de Cortusiis, Chronica de novitatibus, ed. Pagnin (wie Anm. 34) 27, 30–32, 37, 39f. Auch zu diesem Autor vgl. jetzt ausführlicher Cusa, Geschichtsschreibung (wie Anm. 31) 237–244. – Die Bezeichnung König Friedrichs als „Österreicher“ bildet aber auch eine bemerkenswerte Entsprechung zur Apostrophierung seines Gegenspielers Ludwig als „Bavarus“. 38  Regesta Habsburgica III/1, ed. Gross (wie Anm. 24) Nr. 465. 39  Ebd. Nr. 837.



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der fürstlichen Repräsentation. In seiner Studie über die fürstliche Herrschaftsrepräsentation der Habsburger im 14. Jahrhundert räumt Alexander Sauter den Wappen eine hervorragende Bedeutung bei Auftritten von Fürsten in der Öffentlichkeit ein40. Wappen sind dabei nach Sauter „Repräsentationszeichen par excellence“41, wichtig für eine Gesellschaft, in der kaum jemand die Kunst des Lesens beherrscht. Wappen dienen zur allgemein wahrgenommenen Kennzeichnung von Eigentum, aber auch zur Dokumentation von fürstlicher Großzügigkeit, etwa im Zusammenhang mit Stiftungen, und generell auch zur Identifizierung und zugleich Glorifizierung von Persönlichkeiten. Am meisten Verbreitung haben fürstliche Wappen auf Münzen und Siegeln gefunden. Aber auch auf Grabplatten und Glasfenstern wurden Wappen angebracht. Selten belegt sind hingegen „Wappen in Aktion“42, also etwa ihre Verwendung bei feierlichen Auftritten der Fürsten und Fürstinnen. Tatsächlich finden sich derartige Hinweise kaum in den schriftlichen historiographischen Quellen43. Eher sind sie in literarischen Zeugnissen zu finden, etwa bei der Schilderung von Turnieren44. In Bilderchroniken des späten Mittelalters begegnen Wappen sehr häufig. Sie dienen dort aber offenbar in erster Linie zur Kennzeichnung von Persönlichkeiten, wie etwa im Codex Balduineus, wo derartige Insignien vor allem zur Identifizierung von Truppenaufgeboten und nicht bei der Schilderung repräsentativer Szenen Verwendung finden45. Ähnlich verhält es sich im bekannten Werk des Ulrich von Richental über das Konzil von Konstanz. In den dort gebotenen Illustrationen begegnen Wappen nur selten bei Szenen fürstlicher und herrscherlicher Präsentationen und finden offensichtlich in erster Linie dann Verwendung, wenn es gilt, Personen zu kennzeichnen, die durchwegs nicht mit individuellen Gesichtszügen ausgestattet sind46. Eine Vertiefung dieser Beobachtungen, etwa in Form einer systematischen Untersuchung, wann, wie und von wem Wappen bei feierlichen Anlässen und feierlichen Auftritten gezeigt wurden, wäre durchaus eine eigene Untersuchung wert. Im Zeitalter, das geprägt ist von ritterlichen und allgemein höfischen Festlichkeiten, bei denen Herolde zunehmend eine wichtige Rolle spielen, muss dieser Form des Gebrauches von Wappen ebenfalls erhebliche Bedeutung zugekommen sein.

 S. Sauter (wie Anm. 14) 112–117 („Funktion des Wappens“).   Ebd. 113. Kursivschreibung im Zitat. 42  Ebd. 116. 43  Ebd. 116 der Verweis auf die Angaben bei Matthias von Neuenburg (s. oben 239f.). 44  Einen entsprechenden Hinweis bietet etwa Heiko Hartmann, Grundformen literarischer Heraldik im Mittelalter am Beispiel der „Krone“ Heinrichs von dem Türlin, in: Wappen als Zeichen, hg. von Achnitz (wie Anm. 34) 28–52, bes. 47. 45  Vgl. Christoph Winterer, Leere Gesichter und Wappen. Zur Welt der Zeichen in „Kaiser Heinrichs Romfahrt“, in: Wappen als Zeichen, hg. von Achnitz (wie Anm. 34) 71–97, bes. 81–84. 46 S. etwa Ulrich Richental, Chronik des Konzils zu Konstanz 1414–1418. Faksimile der Konstanzer Handschrift. Mit einem Nachwort von Jörg Klöckler (Darmstadt 2015) fol. 46vf. (Herzog Friedrich von Österreich vor Kaiser Sigismund), 75v, 76r–77v und 80r (Belehnung verschiedener Reichsfürsten mit den Fahnen ihrer Länder). Einen Sonderfall stellt die Anbringung von Wappen auf den Quartieren von Teilnehmern an der Kirchenversammlung dar; ebd. fol. 34v. Den hohen Stellenwert, den Wappen aber generell bei Richental genossen, bezeugen die vielen Seiten von phantasievollen exotischen wie auch tatsächlich geführten Wappen im Anhang der Konstanzer Handschrift, ebd. fol. 130r–136v, bzw. 137r–150r. 40 41

Urkunden aus dem hoch- und spätmittelalterlichen Österreich als Quellen für die Erforschung von Naturkatastrophen Potenziale und Grenzen Christian Rohr

Einleitung Die Umweltgeschichte hat sich im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte zu einer innovativen und stark interdisziplinär ausgerichteten Teildisziplin der Geschichtswissenschaft entwickelt, die zahlreiche Vernetzungen zu den Naturwissenschaften (u. a. Klimatologie, Hydrologie, Botanik, Zoologie, Ökologie) sowie zu anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen aufweist. Eine zwar relativ kleine, aber sehr aktive scientific community widmet sich dabei der Umweltgeschichte des Mittelalters1 und ist damit automatisch auch mit der relativen Quellenarmut des Mittelalters sowie mit den damit verbundenen hilfswissenschaftlich-quellenkritischen Fragen konfrontiert. Studien zu ex­ tremen Naturereignissen sowie Klimavariationen machen dabei einen nicht unerheblichen Teil aus, weil sie häufig besser dokumentiert sind als der Alltag im Umgang mit der natürlichen Umwelt2. 1  Vgl. dazu aus den letzten Jahren etwa die beiden Überblicksdarstellungen John Aberth, An Environmental History of the Middle Ages. The Crucible of Nature (London 2013); Richard C. Hoffmann, An Environmental History of Medieval Europe (Cambridge Medieval Textbooks, Cambridge 2014), sowie meist regional und thematisch eingegrenzte größere Spezialstudien. 2   Der folgende kurze Forschungsüberblick konzentriert sich dabei rein auf die Bereiche, die auch für diesen Beitrag von Relevanz sind: Zum Umgang mit extremen Naturereignissen und Klimavariationen vgl. Jacques Berlioz, Catastrophes naturelles et calamités au Moyen Âge (Micrologus’ Library 1, Turnhout 1998); Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit (Umwelthistorische Forschungen 4, Köln–Weimar–Wien 2007); Thomas Labbé, Les catastrophes naturelles au Moyen Âge, XIIe–XVe siècle (Paris 2017); Andrea Kiss, Floods and Long-Term Water-Level Changes in Medieval Hungary (Springer Water, Cham 2019); Thomas Wozniak, Naturereignisse im frühen Mittelalter. Das Zeugnis der Geschichtsschreibung vom 6. bis 11. Jahrhundert (Europa im Mittelalter 31, Berlin–Boston 2020). Zu Aspekten der spätmittelalterlichen Klimageschichte und ihren Auswirkungen auf Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung vgl. neben den soeben genannten Werken insbesondere Chantal Camenisch, Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 5, Basel 2015); Bruce M. S. Campbell, The Great Transition.

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Der folgende Beitrag widmet sich einer bislang nur punktuell für die historische ­ aturkatastrophenforschung des Mittelalters verwendeten Quellengattung, den UrkunN den3. Diese haben die Eigenschaft, unter der Wahrung relativ rigoroser formaler und sprachlicher Rahmenbedingungen einen bestimmten Rechtszustand herbeizuführen, zu bestätigen oder abzuändern; zudem kann in Urkunden ein spezielles Privileg verliehen werden, das häufig aus einem speziellen Anlassfall heraus resultiert, etwa aus der Notsituation in der Nachfolge eines Extremereignisses. Gerade wenn es zu einem Mangel an Hilfskräften kam bzw. die Behebung des Schadens die vorhandenen finanziellen Mittel bei weitem überstieg, kam es häufig zu einem Katastrophenszenario in der Bevölkerung, welches das Eingreifen der nächsthöheren Instanz, in der Regel des Landesherrn, mit sich brachte. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich auf die Zeit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert mit einem Fokus auf das Gebiet des heutigen Österreich (mit kleinen Ausgriffen auch nach Niederbayern und Südtirol). Analog zur Verfügbarkeit der urkundlichen Überlieferung liegt der Schwerpunkt auf Überschwemmungen an der Donau und ihren ­Nebenflüssen, doch soll ergänzend auch auf Lawinen sowie das schwere Erdbeben von 1348 eingegangen werden. Es soll dabei aufgezeigt werden, welche Potenziale der Einbezug von urkundlichen Quellen für die Naturkatastrophenforschung zum Hoch- und Spätmittelalter enthält bzw. wo die Grenzen dabei liegen4. Allerdings muss klar sein, dass die hier präsentierte Bestandsaufnahme keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Insbesondere wurden Urkunden nicht berücksichtigt, die in der Narratio nur katalogartig auf diverse Schadensereignisse, darunter etwa Hochwasserschäden, eingehen5.

Climate, Disease and Society in the Late-Medieval World (Cambridge 2016); Kathleen Pribyl, Farming, Famine and Plague. The Impact of Climate in Late Medieval England (Cham 2017). Zum Umgang mit Wasser allgemein in explizit interdisziplinärer Perspektive vgl. die Sammelbände L’acqua nei secoli altomedievali, 2 Bde. (Settimane di Studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 55, Spoleto 2008); Wasser in der mittelalterlichen Kultur. Gebrauch – Wahrnehmung – Symbolik / Water in Medieval Culture. Uses, Perceptions, and Symbolism, hg. von Gerlinde Huber-Rebenich–Christian Rohr–Michael Stolz (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte 4, Berlin–Boston 2017). 3  Relativ großen Raum nehmen Urkunden allein in der umfassenden Studie Kiss, Floods in Medieval Hungary (wie Anm. 2) 248–257 (und öfter), ein. Dies liegt an der Sondersituation im historischen Königreich Ungarn, wo sich der Urkundentyp der litterae reambulatoriae (litterae prorogatoriae) herausbildete. Dabei handelte es sich um Bestandsaufnahmen nach schweren Überschwemmungen in der Pannonischen Tiefebene, die vor allem die Bestätigung bzw. Neufestlegung der Grenzziehung zum Ziel hatten, insbesondere wenn natürliche oder vom Menschen gesetzte Grenzmarken verschwunden waren. Derartige Urkunden sind etwa für die Zeit nach den schweren Überschwemmungen 1335, 1341, 1342 und 1414 erhalten. 4   Der vorliegende Beitrag baut auf Ergebnissen der Habilitationsschrift des Verf. aus dem Jahr 2007 – Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) – auf, stellt aber die urkundliche Überlieferung erstmals als Quellenkorpus zusammen und ergänzt zudem die seinerzeitigen Ergebnisse um eine Reihe weiterer Quellenfunde sowie neu erschienene Literatur aus den letzten Jahren. Eine Reihe von Abbildungen zu den in diesem Beitrag angesprochenen Urkunden ist auch über die Plattform www.monasterium.net greifbar. 5   Vgl. als Beispiel etwa Wien, HHStA, AUR 1324 IV 24: Gottfried, Pfarrer von Camera (Kammer) und Vikar der Kirche Berg (Perg), bekennt, dass er Karl von Regensburg, Domherrn, 36 Mark Aglaier eingehändigt habe. Dieser habe ihm von der Prokuration des Erzbischofs von Salzburg 2½ Mark wegen evidenter Schäden, die er wegen des Abkommens (destructio) einiger Lehen, Überschwemmung, Brand einer Hube, Hagelwetter und Erneuerung zweier Zäune (sepium) erlitten habe, 6½ Mark nach bestem Gewissen und Schätzung ehrbarer Männer abgeschrieben (defalcavit) und so von seiner ganzen Pension nämlich 45 Mark vollständig ausgeglichen. Regest nach Franz Martin, Die Regesten der Erzbischöfe und des Domkapitels von Salzburg, 3 Bde. (Salzburg 1928–1934) 3 421. Für den Hinweis auf diese Urkunde danke ich Birgit Wiedl (St. Pölten) sehr herzlich.



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Der Umgang mit Überschwemmungen im Spiegel urkundlicher Quellen Praktisch alle Nachrichten zu Überschwemmungen im hochmittelalterlichen Donau­ raum stammen entweder aus Annalen oder aus Urkunden. Beiden Quellengattungen ist gemein, dass sie mit ihren Nachrichten nur einen sehr punktuellen Einblick in die Überschwemmungsgeschichte an der Donau sowie in den Umgang der Menschen mit dem Hochwasserrisiko geben. Es sind vor allem Extremereignisse, die derart bedeutend waren, dass sie es in die Berichterstattung schafften oder so fundamentale Veränderungen im Leben mit sich brachten, dass diese zu neuen, in Urkunden festgehaltenen Regelungen führten. Das früheste durch eine Urkunde dokumentierte Beispiel für eine Aufgabe des ursprünglichen Siedlungsplatzes aufgrund von ständig wiederkehrenden Überschwemmungen ist die Stadt Korneuburg in Niederösterreich: Bis zum 12. Jahrhundert lag Neuburg nördlich von Wien zu beiden Seiten der Donau. Mehrere schwere Überschwemmungen im Laufe des 12. Jahrhunderts sowie 1210 machten es aber schließlich für die Bewohner auf der linken (östlichen) Seite des Stromes unmöglich, die ständigen Hochwasserschäden weiter zu ertragen. Nach einer Urkunde aus dem Jahr 1212 wurde die Siedlung direkt am Ufer aufgegeben und etwas ins Landesinnere verlegt. Offensichtlich war die Neugründung zur Zeit der Ausstellung der Urkunde schon so weit gediehen, dass sie über eine funktionstüchtige und geweihte Kirche sowie einen Markt verfügte6. Somit entstanden zwei Städte: das alte Neuburg existierte nur mehr auf der rechten Seite als Klosterneuburg weiter, während die Stadt östlich der Donau, etwas vom Strom entfernt, den Namen Korneuburg erhielt7. Im Urkundenbestand von Herzogenburg findet sich ein interessantes Beispiel für die Verlegung eines Friedhofs aufgrund der ständigen Hochwassergefahr: In der zum Stift Herzogenburg gehörigen Pfarre Pfarrkirchen war der Friedhof offensichtlich immer wieder unter Wasser gesetzt worden, sodass Propst Meingott und das Kathedralkapitel von Passau im Jahr 1318 gestatteten, die Toten zum Teil auf dem Friedhof von Nussdorf, 6   Vergleich zwischen dem Stift Klosterneuburg und dem Pfarrer von Leobendorf durch Bischof Manegold von Passau vom Jahr 1212 (Klosterneuburg, Stiftsarchiv): ... cum forum Nuenburch sepius turbaretur inundatione Danubii excrescentis et necessitate cogente transferetur com edificiis a loco quo prius situm erat ad locum in quo nunc cum ecclesia fundatum est et pars fori partim esset posita in fundo in parrochia Livbendorf constituto ... . Ferdinand Schönsteiner, Die kirchlichen Freiheitsbriefe des Stiftes Klosterneuburg. Urkundensammlung mit rechtlichen und geschichtlichen Erläuterungen (Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg 7/2, Wien–Leipzig 1916) 41f. Nr. 11; Die Regesten der Bischöfe von Passau 2: 1206–1254, ed. Egon Boshof (Regesten zur bayerischen Geschichte 2, München 1999) 23 Nr. 1282. 7   Zum Hochwasser von 1210 und der damals vermutlich schrittweise erfolgten Verlegung des rechtsseitigen Teils von Neuburg vgl. Albert Starzer, Geschichte der landesfürstlichen Stadt Klosterneuburg (Klosterneuburg 1900) 32–37; Otto Frass, Elementarereignisse im österreichischen Hochmittelalter und ihre Auswirkungen. UH 42 (1971) 155–173, hier 162–165; Heide Dienst, Marktplatz und Stadtwerdung. Die Neuburger Handels- und Handwerkersiedlung (= Korneuburg) von ihrer ersten schriftlichen Erwähnung bis zur Entstehung des Landgerichts. UH 54 (1983) 175–185; Richard Perger, Klosterneuburg im Mittelalter, in: Klosterneuburg. Geschichte und Kultur 1: Die Stadt (Klosterneuburg–Wien o. J. [1992]) 139–208, hier 151f.; Christian Rohr, Zur Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung von Überschwemmungen im niederösterreichischen Raum (13.–16. Jahrhundert), in: Kriege – Seuchen – Katastrophen. Die Vorträge des 26. Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Waidhofen an der Ybbs, 3. bis 6. Juli 2006, hg. von Willibald Rosner–Reinelde Motz-Linhart (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 46 = NÖ Schriften 175 Wissenschaft, St. Pölten 2007) 63–114, hier 109; ders., Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 378.

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zum Teil in Reidling (Reudnich) zu begraben. Anscheinend war die Bodenerosion durch die Überschwemmungen der Traisen so groß, dass auch die Leichen zum Teil freigespült worden waren und neu bestattet werden mussten. Wenn die ewige Ruhe der Verstorbenen auf dem Spiel stand, war dringender Handlungsbedarf gegeben: In dem durch die Traisen geteilten Ort Pfarrkirchen sollten die Menschen von der einen Flussseite in Nussdorf, die von der anderen Flussseite in Reidling bestattet werden8. Auslöser für diese Regelung dürften wohl die Zerstörungen der schweren Hochwasser von 1316 und 1317 gewesen sein9. Ein Opfer der Überschwemmungen wurden auch das Dorf und die Pfarrkirche von Marquardsufer/Marquardsurfar, am linken Donauufer gegenüber der Einmündung der Traisen etwas unterhalb von Krems gelegen. Die offensichtlich schon sehr alte Pfarre – das Martinspatrozinium könnte auf eine karolingische Gründung hindeuten – fiel gemäß einer Urkunde Bischof Konrads von Passau vom 15. November 1160 an das Chorherrenstift St. Georgen, um dessen materielle Not – nach einem Hochwasserschaden? – zu lindern10. Vermutlich durch Überschwemmungen um das Jahr 1337 oder kurz davor wurde auch das Dorf Marquardsufer zerstört und nicht mehr aufgebaut; von den schweren Zerstörungen war auch die Pfarrkirche betroffen11. Nach einer Urkunde vom 8. April 1340 verlieh schließlich Bischof Albert von Passau an alle Gläubigen aus dem Dekanat St. Stephan am Wagram, die zum Aufbau einer neuen Pfarrkirche im benachbarten Haizendorf beisteuerten, einen vierzigtägigen Ablass12. In späterer Zeit entstand in einigem Abstand 8   Urkunde des Passauer Propstes Meingott und des Passauer Kathedralkapitels für Propst Trosto von Herzogenburg vom 27. Juli 1318: Cum defunctorum corpora in cimiterio parochialis ecclesie Pfarchirchen sepelienda ob aquarum inundacionem continuam quemadmodum vestris cognovimus literis eiusdem destructivam ipsis etiam plebezanis abhorrendam ibidem non valeant deinceps sepeliri, ad vestre peticionis devote instanciam favorabiliter in­clinati auctoritate qua impresenciarum fungimur ordinaria presentibus duximus indulgendum, ut in cimiterio capelle in Nuzdorf eidem vicine in ipsam ius sepelicionis virtute auctoritatis premisse transferentes, de cetero dicta corpora tradantur ecclesiastice sepulture sub hac forma scilicet quod in cimiterio loci iam dicti divisi per fluvium qui Traizma dicitur a loco in Pfarchirchen supradicto qui viam universe carnis ingressi fuerint, trans fluvium dictum, qui vero ex altera parte eiusdem fluvii vitam finierint, in Reudnich sepeliantur. Michael Faigl, Die Urkunden des regulirten Chorherrenstiftes Herzogenburg vom Jahre seiner Übertragung von St. Georgen: 1244 bis 1450 (Wien 1886) 66f. Nr. 69. Zur Stelle vgl. auch Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 379; Günter Katzler, Das älteste Zehentpachtregister des Stiftes Herzogenburg (1299–1339). Zur Praxis der Zehenteinhebung und ihrer Verwaltung im 14. Jahrhundert. NÖLA. Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 15 (2012) 139–211, hier 155. 9   Vgl. zu den Auswirkungen dieser Überschwemmungen im Donauraum Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 223–226. 10   Urkunde Bischof Konrads von Passau für das Chorherrenstift St. Georgen vom 15. November 1160 (Herzogenburg, Stiftsarchiv U H Nr. 6): ... ecclesiam quandam Marchuuartesuruar et quoddam curtile quod dicitur Suaichhof iuxta Zaizenmure [Zeiselmauer] in Hagenhie [Hagental] dilectis fratribus nostris de s. Georio consilio et precibus Hartuuici eiusdem loci prepositi beate memorie tradidimus, ut penuria eorum nostris in temporibus aliquantulum imminuatur. Niederösterreichisches Urkundenbuch. Dritter Band (1156–1182), ed. Roman Zehetmayer–Markus Gneiss–Sonja Lessacher–Günter Marian–Christina Mochty-Weltin–Dagmar Weltin (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung VIII/3, St. Pölten 2017) 333–335 Nr. 131. Vgl. dazu auch Die Regesten der Bischöfe von Passau 1: 731–1206, ed. Egon Boshof (Regesten zur bayerischen Geschichte 1, München 1992) 241 Nr. 773. 11   In den Zehentverpachtungen der Gegend östlich von Krems ist für die Zeit von 1299 bis 1336 noch ein Abschnitt mit dem Titel De Barrochia Marquarsvrvar/In Barrocha Marchanzuruar enthalten, ab 1337 wurde er durch einen mit dem Titel De Barrochia Haizendorf ersetzt. Vgl. dazu Wilhelm Bielsky, Die ältesten Urkunden des Kanonikatstiftes Sanct Georgen in Unterösterreich. Von 1112 bis 1244. AÖG 9 (1852) 235–304, hier 282; Katzler, Zehentpachtregister (wie Anm. 8) 160–162, 168. 12  Urkunde Bischof Alberts von Passau vom 8. April 1340: Cum igitur ecclesia parrochialis Sancti Martini in Marchartsuruar nostre diocesis per inundacionem Danubii aquarum inpetu penitus sit destructa et plebesani



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von der alten Siedlung Donaudorf, in dessen Burgfrieden eine Wassergrube mit Namen Kirchenlake noch auf das alte Dorf Marquardsufer hindeuten könnte13. Landverlust, aber auch Landgewinn spielen an Flusslandschaften nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch führten gerade einige extreme Überschwemmungen durch ihre Schotterablagerungen und Vermurungen einerseits zur Abtragung von Flussinseln und Uferzonen, andererseits zur Schaffung neuer Inseln, die rasch auch in das Wirtschaftsleben integriert wurden. Vom 2. Juli 1359 datiert eine Urkunde des Bischofs Gottfried von Passau sowie des Passauer Domkapitels für das niederbayerische Kloster Niederaltaich. Dieses hatte eine Insel in der Donau unweit des im 16. Jahrhundert verschwundenen Ortes Kirchheim besessen14, die durch ein Hochwasser der Donau verschwunden war bzw. nach dem Zurückweichen der Fluten stromabwärts wieder aufgetaucht war. Da sich das Hochwasser schon geraume Zeit vor 1359 (quamvis lapsu temporis) ereignet habe, wie in der Urkunde vermerkt ist, könnte es sich dabei vielleicht um die große Überschwemmung des Jahres 1316 oder eine in den Jahren 1342/1343 handeln. Nach dem damals bestehenden Recht fielen neue Inseln automatisch in die Gewalt des Passauer Bischofs zurück. Dieser wurde nun von Abt Petrus von Niederaltaich sowie dem Konvent des Klosters gebeten, die abgetragene Insel erneut dem Kloster zu überlassen. Offensichtlich war sie in irgendeiner Form wirtschaftlich genützt worden oder hatte zumindest als Umschlagplatz, etwa für Wein, gedient. Mit der Urkunde von 1359 wurde die neu entstandene Insel mit allen Rechten an Niederaltaich übergeben. Zum Dank sollte das Kloster für das Seelenheil des Bischofs eine jährliche Messe lesen15. Das Original der Urkunde ist freilich eiusdem ipsam in Haitzendorf de nouo reedificare inchoaverint nec absque Christi fidelium auxilio eandem valeant aliquatenus consummare, universitatem vestram exhortamur in Domino salubriter obsecrantes, quatenus Dei intuitu et ob animarum vestrarum salutem ad complementum dicte ecclesie largas vestras elemosinas erogetis et grata prebeatis subsidia karitatis. ... . Nos omnibus et singulis qui ad perficiendum opus predictum manus porrexerint adiutrices, XL dies indulgenciarum confisi de misericordia altissimi et beatorum Petri et Pauli apostolorum suffragiis de iniuncta eis penitencia misericorditer in domino relaxamus. Faigl, Urkunden Herzogenburg (wie Anm. 8) 159f. Nr. 141. 13  Vgl. Bielsky, Urkunden Sanct Georgen (wie Anm. 11) 264 und 282; Josef Kinzl, Chronik der Städte Krems, Stein und deren nächster Umgebung. Mit den Freiheitsbriefen beider Städte und den Schriftstücken ihrer gewerblichen Innungen vom Jahre 985–1869 (Krems 1869) 6; Rohr, Wahrnehmung (wie Anm. 7) 108f.; ders., Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 379f. Der Flurname Marquardsufer blieb nach 1337 noch für etwa zwei Jahrhunderte bestehen. 14  Es handelt sich dabei vermutlich um dieselbe parva insula in Danubio gegenüber von (Ober-)Absdorf, die am 7. April 1019 dem Kloster von Kaiser Heinrich II. geschenkt worden war. Vgl. D H II. 404, ed. Harry Bresslau–Hermann Bloch (MGH DD 3, Berlin 1900–1903) 518f. 15  Passau, Archiv des Bistums Passau, Urkunde Gottfrieds II. vom 2. Juli 1359 bzw. abschriftlich St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Schlossarchiv Stetteldorf, Urkunde 6a (16. Jahrhundert). Gemäß der vom Passauer Bischof Gottfried II. von Weißeneck in Passau selbst ausgestellten Urkunde erhält das Kloster Niederaltaich folgende Privilegierung: ... Sane cum insula in fluvio Danubii penes villam Chirichaim situata, que ab olim monasterio inferioris Althe [Niederaltaich] attinebat, per inundacionem et alluvionem eiusdem fluminis deserta et totaliter ymmo, quod ipsius quodammodo non apparebant reliquie, extiterit devastata, et ob hoc quamvis lapsu temporis dicta insula reducta et cessantibus inundacionibus prefatis reformata fuerit, iuxta privilegiorum nostrorum tenorem et iura dicte aque Danubii ipsorum esse desiit et ad nos et ecclesiam nostram rediit pleno iure. Dilecti nobis in Christo Petrus abbas prior totusque conventus dicti monasterii inferioris Althe ordinis sancti Benedicti nostre dyocesis nobis humiliter supplicarunt, ut ipsis et monasterio prefato predictam insulam donare, assignare et tradere iure proprietario tenendam inantea de speciali gracia dignaremur, offerentes obinde et etiam se quantum poterant obligantes ad anniversarium cum vigiliis ac missa defunctorum iuxta consuetudinem ordinis ipsorum annis singulis perpetuis futuris temporibus pro anime nostre remedio sollempniter peragendum. Nos itaque decorum abbatis et conventus presertim propter devote religionis observanciam, que in ipsorum ut percepimus monasterio eciam pre ceteris eiusdem professionis monasteriis fervencius observatur, prehabito nihilominus super hoc tractatu et deliberacione diligenti cum venerabilibus in Christo Alberto preposito Gundakchero decano totoque capitulo nostre Pataviensis ecclesie, precibus

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verloren; eine Abschrift aus dem 16. Jahrhundert könnte im Zusammenhang mit einer weiteren Überschwemmung, etwa der von 1572, zur Bestätigung des Besitzes angefertigt worden sein. Der in der Urkunde erwähnte Ort Kirchheim ist vermutlich im Laufe des 16. Jahrhunderts abgekommen, aller Wahrscheinlichkeit nach durch ein Hochwasser; er ist heute auch nicht mehr genau lokalisierbar16. Es liegt somit der Schluss nahe, dass das Kloster Niederaltaich bezüglich der damals völlig umgestalteten Donaulandschaft zwischen Krems und Tulln seine alten Rechte in einem vielleicht neu ausgebrochenen Verteilungskampf geltend machte17. Dass allgemein die kleinen Aueninseln in der Donau trotz ihrer exponierten Lage durchaus begehrt waren, geht aus einem Streit um zwei bewachsene Inseln (werde) in der Nähe von Marquardsufer (Marquardsurfar) an der Traisenmündung hervor. Sie waren rechtmäßig im Besitz des Chorherrenstifts Herzogenburg, wurden aber widerrechtlich von der „Falkenbergerin“ (Valchenbergarina) beansprucht. Am 20. Mai 1300 sprach schließlich der Landmarschall von Österreich, Hermann von Landenberg, die Inseln wieder den Herzogenburger Chorherren zu; Gottfried, der Richter von Krems, hatte die Aufgabe, das Urteil zu vollziehen18. Im Juli 1490 richteten starke Regenfälle an der Donau und ihren Nebenflüssen schwere Schäden an; es sei das verheerendste Hochwasser seit über 50 Jahren gewesen, berichteten die Zeitgenossen19. Auch das gesamte Tullnerfeld stand unter Wasser20. In Waidhofen an der Ybbs untergruben die Wassermassen der Ybbs die Stadtmauer und brachten sie zum Einsturz; der Schwarzbach versandete die ihm benachbarten Häuser völlig. In ihrer Not wandten sich die Waidhofener Bürger an Kaiser Friedrich III. (1440/1452– 1493), der der Stadt nur wenige Wochen zuvor in einem Schreiben vom 5. Juli seine favorabiliter annuentes predictam insulam cum omnibus iuribus et pertinenciis ad ipsam quomodocumque spectantibus ipsis et eorum monasterio sepedicto don[amus], assignamus et tradimus pro ipsorum et eiusdem monasterii usibus inantea realiter possidendam. In quorum omnium testimonium evidens et cautelam presente[s mandavimus] fieri litteras appensione sigilli nostri et sigilli dicti nostri venerabilis capituli communitas. Datum Patavie die beatorum Processi et Martiniani ma[rtyrum, anno domini] millesimo trecentesimo quinquagesimo nono. Regest: Vreni Dangl, Gottfried von Weißeneck, Bischof von Passau (1342–1362) (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters 38, Hamburg 2019) 319 Nr. 400. Vgl. dazu erstmals Rohr, Wahrnehmung (wie Anm. 7) 110f. mit Anm. 146; ders., Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 384f. mit Anm. 663 (dort mit einer Transkription, die noch auf der Abschrift basierte, die wiederum einige Lesefehler gegenüber dem Original aufweist, wohingegen ein Loch im Pergament im unteren Bereich des Schriftblocks zu Zeiten der Abschrift offenbar noch nicht bestand). Für den Hinweis auf die Originalurkunde danke ich Birgit Wiedl (St. Pölten) sehr herzlich, ebenso Günter Marian (St. Pölten) für den vormaligen Hinweis auf die Abschrift. 16  Vgl. Karl Lechner, Die geschichtliche Landschaft zwischen Donau und Wagram. Ein Beitrag zur Geschichte niederösterreichischer Herrschaften. JbLkNÖ N. F. 27 (1938) 30–70, hier 35–37. 17  Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass sich die überlieferte Abschrift aus dem 16. Jahrhundert im Hardegg’schen Archiv Juliusburg in Stetteldorf befand, d. h. bei einem der wichtigsten Grundherren der Region. Zum Kampf des Klosters Niederaltaich um die Donauinsel in Niederösterreich vgl. Rohr, Wahrnehmung (wie Anm. 7) 109–111. 18   Urkunde Hermanns von Landenberg vom 20. Mai 1300 und Urkunde des Kremser Richters Gottfried vom 3. Juni 1300, beide zugunsten des Chorherrenstifts Herzogenburg. Die Urkunden sind ediert bei Faigl, Urkunden Herzogenburg (wie Anm. 8) 23 Nr. 28f. Zum Konflikt vgl. Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 385f.; Katzler, Zehentpachtregister (wie Anm. 8) 162. 19 Continuatio Mellicensis ad a. 1490, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 9 (Hannover 1851) 501–535, hier 525: Hoc anno Danubius evagans alveos suos, et narracio antiquorum hoc protulit, quod in 56 annis preteritis talis inundacio Danubii non extiterat. Zu den Überschwemmungen von 1490 in Niederösterreich vgl. zuletzt Rohr, Wahrnehmung (wie Anm. 7) 81f. 20  Michael W. Weithmann, Die Donau. Ein europäischer Fluss und seine 3000-jährige Geschichte (Regensburg bzw. Graz–Wien–Köln 2000) 255, allerdings ohne Quellenangabe.



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besondere Gunst versichert hatte. Mit 31. Juli 1490 verfügte der Kaiser als Soforthilfe, dass alle Einwohner im Umkreis von drei Meilen den Bürgern von Waidhofen beim Wiederaufbau zu Hilfe kommen müssten. Wer dieser Aufforderung zur Robotleistung nicht nachkomme, müsse mit empfindlichen Strafen rechnen21. Doch schon zwei Jahre darauf, im Frühjahr 1492, ließen schwere Regenfälle den Schwarzbach erneut über die Ufer treten, sodass die Stadt- und Friedhofsmauer unterspült wurden. An einer im Bau befindlichen Kapelle wurde vorübergehend nicht weiter gearbeitet22. Bemerkenswert ist die Quellenlage für die untere Traun im Raum Wels. Dort stehen für die Rekonstruktion des Umgangs mit der Hochwassergefahr nicht nur die Rechnungen des städtischen Bruckamts zur Verfügung, sondern auch mehrere Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts, die Aufschluss über den Hochwasserschutz geben23: Am 5. Juni 1352 gewährte Herzog Albrecht II. von Österreich (1330–1358) den Bürgern von Wels, auf zwei Jahre das Ungeld von Salz, Wein, Gewand und anderen Waren auf der Maut zu Wels für Bauvorhaben der Stadt, insbesondere für Wasserschutzbauten, zu verwenden24. Eine weitere Urkunde mit demselben Datum betrifft ebenfalls den Hochwasserschutz und wurde in die sogenannte Pancharte des Jahres 1582 aufgenommen, in der die meisten der für die „Verfassung“ der Stadt maßgeblichen Dokumente abschriftlich festgehalten und nochmals durch Kaiser Rudolf II. bestätigt wurden – darunter allein fünf Urkunden zum Hochwasserschutz (Nr. 7–11). In dieser zweiten Urkunde von 1352 kommt ein offensichtlich aktuelles Problem beim Hochwasserschutz zutage: Manche Grundbesitzer weigerten sich, auf ihren Grundstücken öffentliche Schutzbauten errichten zu lassen, doch wurde das Gemeinwohl über den Privatbesitz gestellt, da zum Zwecke von Schutzbauten jeder Acker und jede Au offengestellt werden musste25. Die beiden Urkun21  Druck: Gottfried Friess, Geschichte der Stadt Waidhofen an der Ybbs von der Zeit ihres Entstehens bis zum Jahre 1820, größtentheils nach ungedruckten Quellen bearbeitet. JbLkNÖ 1 (1867) 1–146, hier 115f. Nr. 67, 68. Vgl. zudem Friedrich Richter, Aus der Katastrophenchronik Waidhofens, in: 800 Jahre Waidhofen an der Ybbs, 1186–1986, hg. von Friedrich Richter–Matthias Settele–Wolfgang Sobotka–Walter Zambal (Waidhofen an der Ybbs 1986) 185–192, hier 185; Peter Maier, Waidhofen an der Ybbs. Spuren der Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Waidhofen an der Ybbs 2006) 106. Ein ähnliches Privileg hatte Kaiser Friedrich III. der Stadt Wels nach dem Hochwasser von 1469 gewährt. Vgl. dazu im Detail unten S. 255. 22  Richter, Katastrophenchronik (wie Anm. 21) 185, unter Berufung auf einen Stiftsbrief des Pfarrers von Hollenstein und Weltpriesters des Bistums Freising, Heinrich Diermaier, vom 18. Mai 1492, vgl. zu diesem Alois Plesser, Zur Kirchengeschichte des Viertels ob dem Wienerwald vor 1627 (Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltner Diözesanblatt 15, St. Pölten 1977) 537f. Das Hochwasser vom Mai 1492 richtete auch in Oberösterreich an der Traun schwere Schäden an. Vgl. im Detail Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 292 und 554–557 (Tabelle 2 zu den Überschwemmungen der Traun nach den Welser Bruckamtsrechnungen im Anhang). 23  Vgl. zur Rekonstruktion der Hochwassergefahr und -bekämpfung auf der Basis des reichen Quellenmaterials ausführlich Christian Rohr, Überschwemmungen an der Traun zwischen Alltag und Katastrophe. Die Welser Traunbrücke im Spiegel der Bruckamtsrechnungen des 15. und 16. Jahrhunderts. Jahrbuch des Musealvereines Wels 33 (2001/02/03) 281–328; ders., Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 287–311. 24   Urkunde Herzog Albrechts II. für die Stadt Wels vom 5. Juni 1352 (Original in Wels, Stadtarchiv, Urkundenreihe): ... vnd erlauben auch, daz si von dem heutigen tag als der brief geben ist zway gantze jar nach einander den vngelt nemen sullen auf der maut ze Wels von saltz von wein von gewant vnd von aller andern chaufmanschaft in aller der weis als si den selben vngelt vrmals genomen habent also daz si damit die stat pezzern und pan sullen sunderlich dem wazzer weren daz ez dieselben stat nicht hin breche ... . Leicht gekürzt bei Walter Aspernig, Quellen und Erläuterungen zur Geschichte von Wels, 1. Teil (1350–1355). Jahrbuch des Musealvereines Wels 18 (1972) 49–77, hier 70 Nr. 33. 25   Urkunde Herzog Albrechts II. für die Stadt Wels vom 5. Juni 1352: ... das wir vnnsern getrewen den burgern ze Welß von gnaden gunen vnd erlaubt haben, wo sie dieselb statt ze Welß vor dem waßer retten vnnd bessern wellen, vnnd dartzue sie des grundes bedurffen, es sei aw oder acker, wes derselb grundt ist, das sy denselben grundt

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den Albrechts II. wurden jeweils in Wels selbst ausgestellt. Es ist daher anzunehmen, dass im Rahmen des Besuchs des Herzogs ein „Lokalaugenschein“ durchgeführt wurde, der schließlich zu den Regelungen über den Hochwasserschutz führte. Die nächste abschriftlich in der Pancharte von 1582 überlieferte Urkunde über den Hochwasserschutz stammt aus dem Jahr 1376; sie verpflichtete die in der Umgebung begüterten Klöster Lambach und Kremsmünster zur aktiven Hilfe bei der Errichtung von Wasserschutzbauten und vor allem auch beim Ausbau des Welser Stadtgrabens26. Der Stadtgraben bildete indirekt einen Teil des Hochwasserschutzes, da er gleichsam ein Auffangbecken darstellte, das zumindest bei kleineren Hochwassern die Schäden für die Stadt selbst gering hielt. Allerdings dürften derart große Projekte die Möglichkeiten der Stadtbürger bei weitem überfordert haben, vor allem wenn sie unter Zeitdruck standen27, sodass Herzog Albrecht III. (1365–1393) auch die Äbte der benachbarten Benediktinerstifte zur Mithilfe aufrief. Am 30. Dezember 1409 stellten die Herzöge Leopold IV. (1395–1411) und Ernst (1402–1424) als Vormünder ihres Vetters Albrecht V. (1404–1439) eine weitere Urkunde für die Bürgergemeinde der Stadt Wels aus, in der Steuerschulden in der Höhe von 320 Gulden erlassen wurden, um die Wasserschutzbauten voranzutreiben28. Ganz offensichtdartzue nemen mügen vnnd sollen, vnnd das in daran niemant kain yrrung nicht thuen soll. Urkunden-Buch des Landes ob der Enns 7 (Wien 1876) 7 284 Nr. 229, dort allerdings mit der (fälschlichen) Datierung auf den 6. Juni 1352. Die fehlerhaften Lesarten der Edition wurden korrigiert bei Rohr, Überschwemmungen an der Traun (wie Anm. 23) 287–290. Zur Welser Pancharte vgl. umfassend Gilbert Trathnigg, Das Freiheitenbuch der Stadt Wels. Jahrbuch des Musealvereines Wels 9 (1962/1963) 112–146; sowie als einzige (sehr fehlerhafte) Gesamtedition Josef Freiherr von Hormayr, Beiträge zur Geschichte des Oesterreichischen Städtewesens, Teil 1: Die Pancharta Kaiser Rudolphs II. für die Stadt Wels im Lande ob der Enns, oder Bestätigung ihrer sämmtlichen Freiheiten, d. d. Wien am 27. März 1582. Taschenbuch für die vaterländische Geschichte 26 (= N. F. 8) (1837) 355–400. 26   Mandat Herzog Albrechts III. an die Äbte von Kremsmünster und Lambach vom 1. November 1376: ... Wir empfelhen Ew [den Äbten von Kremsmünster und Lambach] und wellen gar ernstlich, swene Ew vnnser getrewer n. der richter von Welß von vnnsern wegen vorder vnd anrüeffe vmb hilffe zw dem paw des grabens daselbß zu Welß, das ir ime dann Ewr leüth vnnd gepaurn dahin schicket, das die mitsambt vnnsern leüthen ze Welß geholffen sein, das der ehgenannt graben gepawet vnd widerbracht werde, als das notturfftig ist. Folgt man dem letzten Satz der hier zitierten Bestimmungen, so dürfte der Stadtgraben bis dahin entweder noch nicht vollständig ausgehoben oder in einem desolaten Zustand gewesen sein; er konnte somit offensichtlich keinen Hochwasserschutz bieten. Urkundenbuch des Landes ob der Enns 9 (Linz 1906) 155 Nr. 118, mit Korrektur der fehlerhaften Lesarten durch Rohr, Überschwemmungen an der Traun (wie Anm. 23) 290. 27  Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Verstärkung der Befestigungsanlagen von Wels auch einem militärischen Zweck diente, schließlich gab es zu jener Zeit Spannungen zwischen den habsburgischen Landesherrn und den Grafen von Schaunberg. 28  Urkunde der Herzöge Leopold IV. und Ernst für die Stadt Wels vom 30. Dezember 1409: ... vnnser burger gemainiglich zu Welß ainen paw daselbst angefangen habent, solch scheden die sie vnnd dieselb vnnser statt von dem wasser daselbs gewartundt seindt, damit zuvorkomen vnnd ze vndtersteen, allso haben wir demselben vnnsern burgern zu hilff vnnd volbringung desselben paws dreyhundert vnd zwainzig pfundt pfening vnser stattsteur daselbs, die vns von den negsten zwaien vergangenen jarn, das ist das viertzehenhunderist vnnd acht vnnd das viertzehnhunderist vnnd neünt jare, von in noch außligend, gegeben vnnd sy damit begnadet in solcher masse, das sy dasselb geld an den ehgenannten paw legen vnnd kheren sollen mit ainer gueten kundtschafft vnnd gewissen angeferde. Die Urkunde ist abschriftlich in der Pancharte von 1582 enthalten und ist neu ediert bei Rohr, Überschwemmungen an der Traun (wie Anm. 23) 291. Vgl. zu dieser Urkunde zuletzt auch das ausführliche Regest mit Kommentar bei Walter Aspernig, Quellen und Erläuterungen zur Geschichte von Wels im 15. Jahrhundert, 1. Teil: 1401–1410. Jahrbuch des Musealvereines Wels 32 (1998/1999/2000) 27–278, hier 188f. Nr. 151; Druck: Urkunden und Regesten aus den Welser Archiven 1400–1450, ed. Walter Aspernig (Urkundenbuch des Landes ob der Enns 12 [Neue Reihe 1] / Schriftenreihe des OÖ. Musealvereines – Gesellschaft für Landeskunde 22 / Quellen und Darstellungen zur Geschichte von Wels. Sonderreihe zum Jahrbuch des Musealvereines Wels



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lich war die Stadt in den Jahren 1408 und 1409 so sehr in neue Schulden geraten, dass sie selbst für die wichtigsten Maßnahmen praktisch zahlungsunfähig war. Auch hier dürften Hochwasserschäden die Ursache für die finanziellen Probleme der Stadt gebildet haben. Eine ähnliche Ausrichtung wie die Urkunde von 1376 weist diejenige König Friedrichs IV., des späteren Kaisers Friedrich III., vom 26. Juni 1445 auf. Der König forderte darin die Grundherren aller Herrschaften im Raum Wels auf, dass sie ihre Grundholden beauftragen, mit Robot und Fuhren auf Verlangen der Stadt zu helfen, um die schweren Schäden nach dem letzten Hochwasser zu beheben und neuen Schäden vorzubeugen. Offensichtlich hatten erneut die Ressourcen der Stadt Wels an Menschen und finanziellen Mitteln nicht ausgereicht, die schweren Hochwasserschäden einigermaßen rasch zu beseitigen29. Am 29. März 1469 erließ Kaiser Friedrich III. eine weitere Urkunde, die sich mit der Bewältigung von Hochwasserschäden in Wels befasste: Nach dem großen Wassereinbruch in die Stadt sollten alle Grundholden im Umkreis von drei Meilen um die Stadt mit Wagen, Hauen und Schaufeln zu Hilfe kommen, um die Schäden zu beseitigen30. Wenn auch die erwähnten Urkunden einen ersten Einblick in den Umgang der Welser Bürgerschaft mit den Überschwemmungen geben, so bleiben diese Nachrichten doch auf einige große Hochwasser beschränkt. Vor allem der Aspekt der Solidarität auf regio14, Linz–Wels 2012) 54f. Nr. 44 (nach anderer Kopie). Bei Trathnigg, Freiheitenbuch der Stadt Wels (wie Anm. 25) 134, ist die Urkunde wohl zu Unrecht auf 1410 datiert. 29   Urkunde König Friedrichs IV. für die Stadt Wels vom 26. Juni 1445: Wir Fridrich von Gottes genaden romischer künig, zu allen zeitten mehrer des reichs, hertzog ze Osterreich, ze Steyr, zu Kärndten vnnd ze Crain, grave ze Tyrol etc. entpieten den ersamen, edlen vnd vnnsern lieben getrewen N. allen vnnd jeglichen prelaten, graven, freyen, herrn, rittern vnnd knechten, die leüth vnnd holden umb vnser statt Welß gesessen vnnd wonhafft haben vnnd den der brieff gezaigt wurdt, vnnser gnad vnnd alles guets, als jetz in den güßen dier Traun an derselben vnnser statt Welß mercklich schaden gethan hat und noch fuerbaßer thuen mechte, ob das nicht undterkumen vnnd gewendet wurden, vnnd als wir vernemen, begern wir und bitten ew all vnnd ews jeden besonder mit gantzem vleiß vnnd ernste, das ir ewren leüthen und holden vmb vnnser obgenannte statt Welß geseßen vnnd wonhafft empfellet vnnd mit in ernstlichen schaffet, wenn sy von vnnsern burgern daselbs ze Welß ermant werden, das sy in dann mit robatfuer vnnd in ander weeg etlich tag beistandt vnd hilff thuen, damit solcher merklicher schadt, so vnns vnnd vnnsern burgern ze Welß an der statt daselbs von dem wasser widergangen ist vnnd noch, als zu besorgen ist, widergen moechte, widerbracht, gewendet vnnd vnnterkomen werde. Daran thuet ir vnns ain sonnder guet gefallen vnnd wellen das auch genediglich gen ew erkennen. Geben zu der Neuenstatt, am sambßtag nach sanct Johannestag zu sunewenden, anno Domini etc. xlv vnnsers reichs im sechsten jar. Comissio domini reg(is) in cons(ilio). Die Urkunde ist abschriftlich in der Pancharte von 1582 enthalten und ist neu ediert bei Rohr, Überschwemmungen an der Traun (wie Anm. 23) 291f. 30  Urkunde Kaiser Friedrichs III. für die Stadt Wels vom 29. März 1469: Wir Fridrich von Gottes genaden rmischer kaiser, zu allen zeitten mehrer des reichs, zu Hungern, Dalmatien, Croatien, etc. künig, ertzherzog zu Osterreich und zu Steyr, etc. entpieten allen vnnd jeglichen vnnsern vnnd andern leüthen vmb vnnser statt Welß in drein meil weegs geseßen vnnd wonhafft, wes leüth oder holden die sein, den der brieff gezaigt oder verkndet wurdet, vnnser gnad und alles guets. Vnns haben vnnser getrewen lieben, der richter vnnd rath zu Welß anbracht, wie das wasser sich gantz auf dieselb vnnser statt Welß gelegt vnnd den inbruch gewunnen habe vnnd ob dem nit furkomen solt werden, vns an derselben vnnser statt großen schaden bringen mechte, darauf wir in dann bevolhen haben, solch inbruch des wassers ze wenden, empfelhen wir ew allen vnnd ewer jedem in sonderhait ernstlich vnnd wellen, wann ew die benannten richter vnnd rath oder den sy das an irer statt bevelhen, darumb anlangen werden, das ir ew dann mit wagen, hawen, krampeln, schauflen vnnd multern daselbs hin geen Welß fürget vnnd helffet, solch inbruch des wasser zu wenden, damit wir an derselben vnnser statt nicht schaden nemen, vnnd ew das nicht setzet und darin seimig seit, wann welch sich des setzen vnnd darin seumig sein wurden, die haben wir geschaffen dartzue ze halten vnnd ze nten, davon so tut darin dhain anders nicht; das ist gentzlich vnnnser ernstliche mainung. Geben zu Sanct Veit in Kärndten am mitwochen nach dem heiligen Palmtag anno Domini etc. lxviiii, vnnsers kaiserthumbs im achzehenden jar. Commissio domini imperatoris propria. Die Urkunde ist abschriftlich in der Pancharte von 1582 enthalten und ist neu ediert bei Rohr, Überschwemmungen an der Traun (wie Anm. 23) 292f.

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naler Ebene bei größeren Überschwemmungen wurde in den Urkunden angesprochen, offensichtlich weil diese nicht von vornherein selbstverständlich war. Sie ist durch andere Quellengattungen freilich nicht greifbar. Auch für den Bereich der Salzach ab Hallein sowie für den unteren Inn, damals noch in den Territorien des Fürsterzbistums Salzburg bzw. des Herzogtums Bayern gelegen, ist die Quellenlage vergleichsweise gut. Da die Hochwassertätigkeit an diesen Flüssen sehr ähnlich zu der an der Traun ist, sind auch Vergleiche zwischen diesen beiden Nebenflusssystemen der Donau möglich31. Ähnlich wie in Wels war für die ständige Wartung der Laufener Salzachbrücke ein eigens dafür bestellter Brückenmeister zuständig, der zumeist mit dem Stadtzimmermeister identisch war und ab 1433 urkundlich bezeugt ist32. Für die Instandhaltung der Brücke war seit 1404 die Stadt Laufen selbst verantwortlich. Sie erhielt damals angeblich vom Salzburger Erzbischof Gregor Schenk von Osterwitz das Recht auf Einhebung der Brückenmaut, musste aber im Gegenzug auch die Reparaturleistungen selbst übernehmen, wenn diese nicht mehr als ein Joch betrafen. Das Holz dafür durfte den erzbischöflichen Wäldern entnommen werden. Bei größeren Reparaturen würde aber der Erzbischof zusätzliche Mittel als Hilfe beisteuern33. Auf die Überschwemmungen des Jahres 1400 bezieht sich vermutlich auch eine Urkunde vom 7. Juli 1401 aus dem Heiliggeistspital von Burghausen am Inn. Um die schweren Wasserschäden am Gebäude zu lindern, übereignete Herzog Heinrich XVI. der Reiche von Bayern-Landshut dem Spital die Werfenau (Gemeinde St. Radegund, Bezirk Braunau am Inn)34. In anderen Fällen waren aber selbst die ökonomischen Folgen der Hochwasser zu wenig erwähnenswert, um in den Urkunden zu alltäglichen Rechtsgeschäften Widerhall zu finden. Anders ist es kaum zu erklären, dass sich in den zahlreichen Urkunden aus dem Stadtpfarrarchiv Hallein – immerhin 286 aus der Zeit zwischen 1300 und 1443 – keine einzige findet, in der auf ein Hochwasser auch nur angespielt worden wäre, ein bemerkenswerter Umstand, da es in diesen Quellen häufig um Hausübertragungen und ähnliche Besitzangelegenheiten ging35. Die Quellenlage für Flusssysteme in den südlichen und westlichen Bundesländern des heutigen Österreich ist deutlich schlechter aufgearbeitet, ja eine systematische Geschichte der Hochwassertätigkeit der Flüsse Mur und Drau sowie des Inns in Tirol fehlt für das Hoch- und Spätmittelalter nach wie vor. Im Folgenden sollen als „Vorstudie“ zu einem   Vgl. im Detail Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 559–562 (Tab. 4 im Anhang).   Laufen, Stiftsarchiv, Urkunden 136, 145 und 148 zu einem Chunrat Prukmaister, der zwischen 1433 und 1443 nachweisbar ist. Vgl. Hans Roth, Die alte Laufener Salzachbrücke. Das Hochwasser als ständige Gefahr für Brücke und Stadt. Das Salzfass. Heimatkundliche Zeitschrift des Historischen Vereins Rupertiwinkel 31/1 (1997) 5–32, hier 6 mit Anm. 7. 33  Urkunde Erzbischof Gregor Schenks von Osterwitz vom 20. April 1404 (Laufen, Stadtarchiv, Urkunde 2 sowie als Abschrift aus dem 18. Jahrhundert Laufen, Stadtarchiv, Az 7370): ... also das Sye die Pruckh teglich davon [von den Einnahmen] bessern, wann die Noth ist. ... Wär aber, daz die prukke gar oder der merer teil hingienge, so sullen wir dieselb hinwider slahen, dazu sie uns dann helfen sullen. Die Originalurkunde aus Pergament muss eine Fälschung darstellen, da der ausstellende Erzbischof schon am 9. Mai 1403 verstarb. Vgl. im Detail Roth, Laufener Salzachbrücke (wie Anm. 32) 6 mit Anm. 8. 34 Burghausen, Stadtarchiv, Spitalurkunde 32 vom 7. Juli 1401, ediert in Burghauser Urkundenbuch 1025–1503, ed. Johann Dorner, 2 Bde. (Burghauser Geschichtsblätter 54, Burghausen 2006) 1 213f. Nr. 162: … fur vns chömen vnser getrew, die purger der stat cze Purkch(ausen), vnd habent vns ze wizzen getan, wie vnser spital cze Purkch(ausen) swärleich verdorben sey von wazzers vnd wetters wegen. 35  Vgl. dazu die Regesten bei Christian Greinz, Die Urkunden des Stadtpfarrarchives in Hallein. MGSL 52 (1912) 101–160; 53 (1913) 39–68 und 121–142. 31 32



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derartigen Unterfangen einige Zufallsfunde zusammengestellt werden, die selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Überschwemmungen der Mur und ihres Einzugsgebiets sind in erster Linie über chronikale Quellen rekonstruierbar, etwa durch den Anonymus Leobiensis, der schwere Hochwasser in der Obersteiermark bzw. im Raum Leoben für die Jahre 1297, 1316, 1321 und 1322 bezeugt36. Für den Flussverlauf südlich von Graz sind die Quellen noch spärlicher: Eine Urkunde Herzog Wilhelms vom 14. Dezember 1392 berichtet, dass nach einer Überschwemmung die Murbrücke zu Wildon weggeschwemmt worden sei; deshalb dürfen per herzoglichem Privileg die Wildoner bis Martini 1393 Maut von Wagen und Saumpferden einheben, um die Brücke wieder aufbauen zu können37. In Südtirol wurde nach einem schweren Hochwasser der Etsch der Ortskern von Enn südlich von Bozen offenbar völlig zerstört. Bischof Albert von Trient gestattete daher in einer Urkunde aus dem Jahr 1222 die Neuanlage der Marktsiedlung38, die deswegen bis heute den Namen Neumarkt trägt; allein der heutige italienische Name der Gemeinde (Egna) weist noch auf die Vorgängersiedlung hin39. Häufiger als die Aufgabe von Siedlungsplätzen aufgrund ständiger Überschwemmungen waren im alpinen Raum strukturelle Veränderungen, etwa im kirchlichen Bereich. So bestimmte Bischof Siegfried von Chur im Jahr 1305, dass die Kapelle in St. Gallenkirch im Montafon (Vorarlberg) von der Mutterpfarre Bludenz losgelöst werde und einen eigenen Priester bekäme. Den Grund dafür bildeten neben der an sich großen Distanz auch die zahlreichen Überschwemmungen sowie die Schneemassen im Winter, die dem Priester aus Bludenz den Weg nach St. Gallenkirch häufig versperrten. Dadurch müsste die Heilige Messe immer wieder ausfallen und zudem seien deswegen schon manche Menschen ohne Krankensalbung verstorben, ebenso auch Kinder, ohne rechtzeitig getauft worden zu sein40.

36  Vgl. Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 223f. und 226, mit den entsprechenden Belegstellen. Allgemein zu historischen Hochwassern in der Steiermark, allerdings ohne für die mittelalterlichen Ereignisse näher ins Detail gehen zu können, vgl. Agnes Prettenhofer, Trends der mittleren und extremen Abflüsse in der Steiermark (Dipl. Graz 2004). 37   StmkLA, AUR 3763 vom 14. Dezember 1392. Für den Hinweis danke ich Birgit Wiedl (St. Pölten) sehr herzlich. 38   Bischof Albert von Trient vom 29. Juli 1222, ediert in Tiroler Urkundenbuch, I. Abteilung: Die Urkunden zur Geschichte des deutschen Etschlandes und des Vintschgaus 2: 1200–1230, ed. Franz Huter (Innsbruck 1949) 224–226 Nr. 800: ... cum dominus Albertus dei gracia Tridentine ecclesie venerabilis episcopus vidisset destrucionem burgi de Egna ab inferiore capite per flumen Atesis, ideoque dixit se velle longare dictum burgum de Egna de superiore capite ... in susum versum crucem. 39   Zu dieser Neugründung vgl. Josef Riedmann, Historische Wasserkatastrophen in Tirol, in: Wasser. Fluch und Segen. Schwazer Silber – 2. Internationales Bergbausymposion Schwaz 2003. Tagungsband, hg. von Wolfgang Ingenhaeff–Johann Bair (o. O. [Innsbruck–Wien] 2004) 177–192, hier 180. 40  Urkunde Bischof Siegfrieds von Chur vom 13. März 1305, ediert in Bündner Urkundenbuch 4: 1304– 1327, ed. Otto P. Clavadetscher–Lothar Deplazes (Chur 2001) 28f. Nr. 1804: Cum nostris fuisset auribus intimatum, quod s. Galli in Vallile capella ab ecclesia parochiali Bludenz matrice tanto locorum distaret spatio, quod dictæ capellæ homines aliquando propter aquarum inundationem quandoque ob nivium abundantiam plerisque anni temporibus divinis interesse non poterant et quod gravius et multotiens contigebat aliquos propter viæ longitudinem absque viatico et alias sine gratia baptismatis ab hoc sæculo repente migrare, tot et tantis periculis obviare volentes ... concedimus, ut capella memorata proprium habeat sacerdotem ... .

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Lawinenereignisse Historische Lawinenschäden sind für das Hoch- und Spätmittelalter deutlich schwerer zu rekonstruieren als Hochwasserereignisse. Dies liegt wohl vor allem auch daran, dass nur wenige von Menschen bewohnte oder bereiste Gebiete überhaupt „Kontaktzonen“ darstellten und zudem in kleinen Bergbauernsiedlungen die Schriftlichkeit gering war. Es sind daher zumeist nur kurze, in manchen Fällen indirekte Hinweise auf Lawinen, die uns die wichtigsten Gebiete mit Lawinengefahr rekonstruieren lassen. Dabei ist die Quellenlage für Südtirol besser als für die im heutigen Österreich liegenden alpinen Regionen. Die vermutlich früheste spätmittelalterliche Nachricht über eine Lawine im Ostalpenraum datiert vom Jahr 1285. Demnach habe eine Lawine die Kirche St. Katharina im Walde zu Schenna bei Meran hinweg getragen41. Einige frühe Nachrichten finden sich auch in der chronikalen Überlieferung aus dem Kloster Marienberg im Vintschgau42 sowie in Rechnungsbüchern der landesfürstlichen Kammer von Tirol. Letztere sind ab dem späten 13. Jahrhundert überliefert; ab den 1330er-Jahren bestätigen mehrere Einträge, dass einzelnen Leuten die Bezahlung der Steuer wegen der Verwüstung ihrer Felder durch Lawinen erlassen wurde43. Im 15. Jahrhundert kommen als Quellen einzelne Reiseberichte hinzu; um 1500 lässt sich schließlich die Lawinengefahr im Bereich der hochalpinen Bergbaugebiete im oberen Passeiertal rund um den Schneeberg besser dokumentieren, nicht zuletzt auch durch Inschriften auf Votivtafeln44. Der einzige urkundliche Beleg zu Lawinenschäden betrifft bezeichnenderweise die wirtschaftlich wichtige Bergbauregion Schwaz im Tiroler Inntal. Der Grund für eine im 15. und 16. Jahrhundert signifikant zunehmende Gefährdung durch Lawinen dürfte in der intensiven Abholzung der Hänge für den Silberbergbau gelegen haben. Eine Urkunde Herzog Friedrichs IV. von Tirol vom 14. April 1422 bezeugt, dass die Lawinen und das (Schmelz-)Wasser die Weiden in Vomp, gegenüber von Schwaz an der Nordseite des Inntals gelegen, bis zur Unbrauchbarkeit vernichtet hätten. Zur Linderung des Schadens bestätigte der Landesherr auf Bitte der arm leut zu Vomp die ihnen von Herzog (König) 41 Josef Thaler, Der deutsche Anteil des Bisthumes Trient. Topographisch-historisch-statistisch und archäologisch beschrieben 1 (Brixen 1866) 426 Anm. i. Die Nachricht befindet sich demnach in einem „Pergamentbüchlein“, das im Kirchenarchiv Schenna aufbewahrt werde. 42  So etwa Das Registrum Goswins von Marienberg, ed. Christine Roilo–Raimund Senoner (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 5, Innsbruck 1996) 236, zu einem schweren Lawinenwinter im Jahr 1357 mit zahlreichen Schadenslawinen im Umkreis des Klosters. Vgl. im Detail Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 410f. 43   In den bei Christoph Haidacher, Die älteren Tiroler Rechnungsbücher. Analyse und Edition, Bd. 1–3 (Tiroler Geschichtsquellen 33, 40 und 52, Innsbruck 1993–2008), edierten Tiroler Rechnungsbüchern aus der Zeit ab 1288 finden sich zunächst keinerlei Hinweise auf Lawinen, nur auf einige Überschwemmungen und Unwetter, etwa ebd. 1 S. 399 (B218 vom 13. Mai 1292); 2 S. 238 (E15 vom 2. August 1295); 2 S. 270 (E43 vom 7. August 1295); 2 S. 286 (E59 vom 28. Juni 1294); 2 S. 373 (E149 vom 6. Juli 1294); 2 S. 416 (E188 vom 15. Juni 1293); 2 S. 422 (E199 vom 1. Juni 1295); 2 S. 456 (E218 vom 26. Mai 1295). Erst in den relativ späten Rechnungsbüchern U (TLA Cod. 13 zu den Jahren 1322–1332), W (TLA Cod. 62 zu den Jahren 1327–1353) und X (TLA Cod. 287 zu den Jahren 1331–1340) sind Nachrichten über den Ausfall von Steuern und Grundzinsen enthalten, die auf Schneemassen, Lawinen und Muren zurückzuführen sind. Vgl. dazu Otto Stolz, Der geschichtliche Inhalt der Rechnungsbücher der Tiroler Landesfürsten von 1288–1350 (SchlernSchriften 175, Innsbruck 1957) 39. 44   Vgl. dazu jetzt Christian Rohr, Sterben und Überleben. Lawinenkatastrophen in der Neuzeit, in: Sterben in den Bergen. Realität – Inszenierung – Verarbeitung, hg. von Michael Kasper–Robert Rollinger–An­ dreas Rudigier (Montafoner Gipfeltreffen 3, Wien–Köln–Weimar 2018) 135–159, hier 144–146.



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Heinrich verliehene Gnade, dass sie ungehindert bebauen mögen, was die Lahnen (Lawinen) zu Vomp so sehr verwüstet hätten, dass die Weide kein Gras mehr trage: Wir Fridreich von gots gnaden herczog ze Österreich, ze Steir, ze Kernden vnd ze Krain, grave ze Tyrol etc. tun kunt, daz für vns komen vnser arm lewt ze Vomp vnd zaigten vns ainen brief von kunig Hainreich(e)n, der da lawt, daz er in die gnad getan het, was die lenen vnd das wasser wisen ze Vomp verlenet vnd verwüst vnd nit gras pringen mag vnd was nit nuczper ist zu hew, daz sy das pawen sullen und mugen vnd ze nucz pringen, vnd paten vns, daz wir in die gnad auch tun, vernewen vnd ze bestetten geruchten; haben wir gedacht, daz das ain gemainer nucz ist vnd die guter davon gepessert werden vnd haben dadurch vnd auch von sundern gnaden in die egenan(te) gnad auch getan und in die vernewet vnd bestettet. Also was die lenen vnd das wasser der wisen ze Vomp verlent vnd verwüst vnd nit gras pringen mag vnd was nit nuczper ist zu hew, daz sy das pawen vnd ze nucz pringen sullen vnd mugen von men(n)iklich(e)n vmbekumbert, vngeirrt vnd vngehindert an alle geverd. Vnd also emphelhen wir allen vnd yegleichen vnsern vndertanen edeln vnd vnedln vnd sunderlich ainem yeglichen vnserm pfleger auf Rotemburg [Rottenburg, Gemeinde Buch in Tirol] gegenwurtigen vnd kunftigen, daz sy die egenanten vnser lewt von Vomp bey selber vnsr(er) gnad, als oben begriffen ist, halten, schirmen vnd beleiben lassen vnd nit gestatten, daz in yemand daran kainerlay irrung noch invell tu noch des selber nit entun bey vnsern hulden, sunder in die nit gestatten geverleich ze eczen, wan wir das ernstleich maynen vnd wellen. Mit vrkund dicz briefs geben ze Insprugg an eritag in der oster veirtagen [14. April] nach kristes geburde vierczehenhundert vnd in dem zwayundzwainczigisten jare45. Freilich bleibt dieser urkundliche Einblick in den Umgang mit Lawinen und daraus resultierenden ökonomischen Schäden ein Einzelfall für das späte Mittelalter, so wie allgemein die Quellenlage zu Lawinen vor dem 17. Jahrhundert sehr dürftig ist. Nichtsdestotrotz zeigt die Urkunde einmal mehr, dass landesfürstliche Hilfe vor allem dort einsetzte, wo ein kommunales Katastrophenmanagement überfordert war. Umgekehrt war eine rasche Normalisierung des Lebens nach dem Lawinenunglück in einer wirtschaftlichen Kernregion Tirols offenbar für den Landesfürsten ein wesentliches Anliegen.

Erdbeben Erdbeben sind in Österreich zwar seltene Ereignisse, doch fand alle paar Jahrhunderte ein wirklich verheerendes Erdbeben statt46. Für den behandelten Zeitraum sticht hier insbesondere das schwere Erdbeben vom 25. Januar 1348 in Kärnten und Friaul hervor, lange Zeit auch als das „Villacher Erdbeben“ bezeichnet47. Auch wenn heute als gesichert 45  TLA, Depositum Gemeindearchiv Vomp, Urkunde Nr. 2 (Herzog Friedrich IV. vom 14. April 1422, ausgestellt in Innsbruck). Für eine Erstedition der Urkunde vgl. Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 416 mit Anm. 47. 46   Vgl. im Detail Christa Hammerl–Wolfgang Lenhardt, Erdbeben in Österreich (Graz 1997); Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 117–125, zu den belegten Erdbebenereignissen bis 1500. 47  Die Literatur zu diesem Ereignis ist recht reichhaltig. Zunächst dominierten dazu heimatkundliche und regionalgeschichtliche Detailstudien, etwa Walter Görlich–Erich Tausche–Rudolf Wurzer, Das große Erdbeben zu Villach Anno 1348 (Villach 1948); Wilhelm Neumann, Zu den Folgen des Erdbebens von 1348, 1. Teil: in Villach. Neues aus Alt-Villach. Jahrbuch des Museums der Stadt Villach 24 (1987) 25–39; ders., Zu den Folgen des Erdbebens von 1348, 2. Teil: im Gailtal bei Arnoldstein. Neues aus Alt-Villach. Jahrbuch des Museums der Stadt Villach 25 (1988) 9–68, beide Beiträge wiederabgedruckt in: Neue Bausteine zur Geschichte Kärntens. Festgabe für Wilhelm Neumann zum 80. Geburtstag (Das Kärntner Landesarchiv 20, Klagenfurt

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gelten kann, dass das Epizentrum im Raum Tolmezzo/Gemona gelegen haben dürfte48 – und somit dem schweren Erdbeben von 1976 in derselben Region offenbar sehr ähnlich war49 –, so bezieht sich ein recht großer Teil der Quellen auf den Großraum Villach, das Kloster Arnoldstein sowie auf den Bergsturz des Dobratsch, der auch die Gail aufstaute. Neben den meist chronikalen Quellen zum Erdbeben selbst sowie Urbaren zum Schadensgebiet ergänzen auch einige Urkunden das Bild, insbesondere hinsichtlich der Langzeitfolgen. Die Wiederaufbauarbeiten in Villach, insbesondere an den dortigen Stadtmauern, lassen sich auch durch eine Reihe von Urkunden nachverfolgen: Im Jahr 1351 verlängerte der Stadtherr von Villach, Bischof Friedrich I. von Bamberg, die Steuerfreiheit, die er schon 1348 auf drei Jahre erlassen hatte, um weitere acht Jahre, freilich unter der Auflage, dass die Bürger von Villach in derselben zeit sullen die stat befriden mit einer mawer. Offensichtlich war die Stadtmauer damals so sehr zerstört, dass sie keinerlei Schutz mehr bot. Die Kosten von je 100 Mark Pfennigen sollten zu gleichen Teilen der Stadtherr und die Bürgerschaft tragen50. Die nächsten Jahre des Wiederaufbaus dürften sich aber als sehr mühsam erwiesen haben. Viele Häuser lagen noch Jahre nach dem Erdbeben in Trümmern, so auch ein dem Stift Griffen gehöriges Haus in Villach51. 1380, immerhin schon 32 Jahre nach dem Erdbeben, erließ Bischof Lamprecht von Bamberg erneut eine Urkunde für die Bürger von Villach, in der er genaue Anweisungen für den offensichtlich sehr schleppenden Wiederaufbau der Stadtmauern gab: Demnach sollte die Bruderschaft der Bürger im ersten Jahr 15 Klafter der Stadtmauer wiederauf1995) 87–100 bzw. 101–157; zitiert wird jeweils nach der Ausgabe 1995. Einen Meilenstein für die spätere Naturkatastrophenforschung allgemein stellt Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung. HZ 233 (1981) 529–569, dar. Wenn auch noch nicht wirklich systematisch vorgehend, so enthält diese Studie doch zahlreiche wesentliche Beobachtungen aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Umfassend aufgearbeitet wurde das Ereignis schließlich in der Dissertation von Christa Hammerl, Das Erdbeben vom 25. Jänner 1348 – Rekonstruktion des Naturereignisses (Diss. Wien 1992). Dabei werden auch rund 200 schriftliche Quellen zum Erdbeben und Bergsturz des Dobratsch gesammelt und quellenkritisch analysiert. Für eine Druckfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit vgl. dies., Das Erdbeben vom 25. Jänner 1348 – Rekonstruktion des Naturereignisses. Neues aus Alt-Villach. Jahrbuch des Museums der Stadt Villach 31 (1994) 55–94. Aus historisch-seismologischer Sicht vgl. v. a. Emanuela Guidoboni–Alberto Comastri, Catalogue of earthquakes and tsunamis in the Mediterranean area from the 11th to the 15th century (Bologna–Roma 2005) 403–434 (mit einigen weiteren, über Hammerls Studien hinausgehenden Quellenbelegen). Zur Wahrnehmung, Deutung, Bewältigung und Erinnerung des Ereignisses vgl. zudem Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 131–159 (zum Erdbeben); sowie 183–192 (zum Bergsturz am Dobratsch). Konkret zum Bergsturz vgl. Dieter Neumann, Lage und Ausdehnung des Dobratschbergsturzes von 1348. Neues aus Alt-Villach. Jahrbuch des Museums der Stadt Villach 25 (1988) 69–77. 48  Hammerl, Erdbeben 1994 (wie Anm. 47), mit mehreren Karten zur Verteilung der berichteten Schäden sowie der Quellen. 49  Vgl. zu 1976 Emanuela Guidoboni–Gianluca Valensise, Il peso economico e sociale dei disastri sismici in Italia negli ultimi 150 anni, 1861–2011 (Bologna 2011) 302–321. 50  Urkunde Bischof Friedrichs I. von Bamberg vom 10. Januar 1351. Ein Regest dazu findet sich in Monumenta Historica Ducatus Carinthiae 10: Die Kärntner Geschichtsquellen 1335–1414, ed. Hermann Wiessner (Klagenfurt 1968) 121 Nr. 340. 51   Urkunde vom 17. Januar 1357 (KLA GV Hs. 2/15, Nr. 9, fol. 12v). Für ein Regest vgl. Monumenta Historica Ducatus Carinthiae 10 (wie Anm. 50) 155 Nr. 463 sowie (ausführlicher) Neumann, Folgen des Erdbebens 1 (wie Anm. 47) 96: Das Prämonstratenserstift Griffen hatte der Schusterbruderschaft seit 1348 keinen Zins für die Mautstube mehr bezahlt, weil diese offensichtlich durch das Erdbeben zerstört worden war. In einem Schiedsspruch erkannte der bambergische Vizedom Wulfing von Ehrenfels, dass die Griffener Prämonstratenser zwar keine Nachzahlungen leisten müssten, weil das goczhauß der hofstett von goczgewallt nicht genossen hat, doch sei in Zukunft wieder ein Zins zu zahlen. Darin ist ein Versuch zu sehen, wieder zur Normalität zurückzukehren.



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bauen, die Zunft der Schuster und Lederer je acht, die der Fleischer vier und die der Kürschner, Hafner und Bäcker je zwei Klafter. In den darauffolgenden zwei Jahren sollten sogar noch mehr Klafter der Stadtmauer pro Bruderschaft bzw. Zunft wieder in Stand gesetzt werden. Die bisher gewährte Steuerfreiheit werde nur dann für drei weitere Jahre zugestanden, wenn die Vorgaben für den Wiederaufbau auch eingehalten würden52. Bischof Lamprecht von Bamberg erließ schließlich im Jahr 1392 eine neue Stadtordnung, die nach den vielen Jahren des Wiederaufbaus wieder zur Normalität zurückführen sollte53. Somit ergibt sich für die Bewältigung der Schäden durch das Erdbeben und das Feuer eine Zeitspanne von 44 Jahren. Dies kann wohl nur damit erklärt werden, dass die Bevölkerung durch die Pest dezimiert war und keinerlei finanzkräftige Bürger mehr in der Stadt waren. Aussagekräftig ist die urkundliche Überlieferung auch zu den Einschnitten für das Benediktinerkloster Arnoldstein. Dieses wurde durch das Erdbeben selbst schwer zerstört, ebenso mehrere Kirchen im unteren Gailtal, die zum Kloster gehörten. Zum Wiederaufbau gestattete der für das Gebiet zuständige Patriarch von Aquileia dem Kloster 1349 einen Ablass zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten sowie auch an mehreren Marien- und Heiligenfesttagen54. Schon die Tatsache, dass der Patriarch von Aquileia ein Jahr nach dem Beben, das auch Aquileia selbst betroffen hatte, sowie mitten während der großen Pestepidemie seinen Generalvikar zu einer Bestandsaufnahme nach Südkärnten schickte, zeigt, dass die Obrigkeit durchaus an einer raschen Normalisierung der Zustände interessiert war55. Offensichtlich aber reichten diese neuen Einnahmen aus dem Ablass immer noch nicht aus, um den materiellen Schaden und den Ausfall von Abgaben aus den umliegenden Dörfern zu decken. Angeblich 17 Dörfer (ville) – wohl eher Weiler oder Gehöfte – waren durch das Erdbeben, den Bergsturz am Dobratsch und die Flutwelle zur Gänze oder weitgehend zerstört worden56. Die Pfarrkirche St. Johann bei der Burg Wasser­ leonburg war offensichtlich so sehr zerstört, dass man 1364 beschloss, den Sitz der Pfarrei in die Georgskirche jenseits der Drau zu verlegen57. 1376 wurde die Pfarrkirche zu 52  Urkunde Bischof Lamprechts von Bamberg vom 31. März 1380, ediert in Monumenta Historica Ducatus Carinthiae 10 (wie Anm. 50) 270f. Nr. 867. 53  Urkunde Bischof Lamprechts von Bamberg vom 5. Mai 1392, ediert ebd. 307–310 Nr. 986. 54  Ablassurkunde für das Kloster Arnoldstein vom 25. Mai 1349, ediert bei Neumann, Folgen des Erdbebens 2 (wie Anm. 47) 154 Nr. 1. 55   Vgl. in diesem Sinne Lukas Clemens, Katastrophenbewältigung im Mittelalter. Zu den Folgemaßnahmen bei Erdbeben, in: Ein gefüllter Willkomm. Festschrift für Knut Schulz zum 65. Geburtstag, hg. von Franz J. Felten–Stephanie Irrgang–Kurt Wesoly (Aachen 2002) 251–266, hier 256f. Dies widerlegt die Meinung von Borst, Erdbeben (wie Anm. 47) 552, dass der Wiederaufbau so schleppend vorangegangen sei, weil die Obrigkeit – Bamberg und Aquileia – nur ein mäßiges Interesse an einer echten Förderung der Krisengebiete gezeigt habe. 56   Urkunde des Patriarchen Johannes von Aquileia für das Kloster Arnoldstein vom 19. November 1391, ediert bei Neumann, Folgen des Erdbebens 2 (wie Anm. 47) 155f. Nr. 4a. Welche Orte unter den 17 zerstörten Dörfern/Weilern/Gutshöfen (ville) und neun Pfarrkirchen gemeint sein könnten, ist in der Forschung umstritten. Allgemein ist davon auszugehen, dass es sich bei den ville zumindest zum Teil um Weiler oder Bauernhöfe gehandelt haben dürfte und dass die Zahl 17 viel zu hoch gegriffen ist. Vgl. zur Forschungsdiskussion zusammenfassend Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 189–192. 57   Urkunde des Patriarchen Ludwig I. de la Torre von Aquileia vom 23. August 1364, ediert bei Neumann, Folgen des Erdbebens 2 (wie Anm. 47) 154f. Nr. 2. Der Ort St. Johann an der Gail dürfte nach dem Erdbeben, dem Bergsturz und der Bildung eines Stausees vollkommen aufgegeben worden sein. Vgl. ebd. 154; sowie Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 190f.

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­Goggau58, 1391 die von Hermagor dem Kloster Arnoldstein aus wirtschaftlichen Gründen inkorporiert59, auch das untrügliche Zeichen, dass der Wiederaufbau nach Erdbeben und Pest nur sehr langsam voranging. Im Falle des Erdbebens von 1348 stellt die urkundliche Überlieferung daher die vielleicht beste Quellengattung zur Rekonstruktion der Langzeitfolgen dar, die über erzählende Quellen nicht erschlossen werden könnten. Damit zeigt sich auch ein wesentlicher Unterschied zum zweiten großen Erdbeben in Mitteleuropa während der Mitte des 14. Jahrhunderts, dem in Basel im Jahr 1356: Dort waren zumindest in der Stadt Basel die Schäden schon nach wenigen Jahren beseitigt; ja die vor dem Erdbeben beengte Stadt nahm das Ereignis zum Anlass, die Stadtmauern deutlich zu erweitern. Dies ist umso bemerkenswerter, da auch die Gebiete am Oberrhein stark von der großen Pestwelle in den Jahren davor betroffen waren60.

Resümee: Potenziale und Grenzen der urkundlichen Überlieferung im Rahmen der Erforschung von Naturkatastrophen Es hat sich gezeigt, dass sich mittelalterliche Urkunden trotz ihrer häufig sehr formalistischen Einleitungs- und Schlussteile durchaus als wichtige Quellen für die historische Naturkatastrophenforschung erweisen. Insbesondere in der Narratio, d. h. in dem Teil, in dem die Beweggründe geschildert werden, warum es zur Ausstellung der Urkunde gekommen sei, sowie im Kontext mit den konkreten rechtlichen Bestimmungen lassen sich extreme Naturereignisse als Ausgangspunkt erkennen. In diesem Sinne lassen sich unter den relativ spärlich überlieferten Urkunden, die auf Hochwasser, Lawinen oder Erdbeben Bezug nehmen, zwei typische Anlassfälle herausarbeiten61: Die eine Gruppe von Urkunden regelt das Krisenmanagement im Ernstfall selbst. Dabei gewährt beispielsweise der Landesfürst Soforthilfe in Form eines zinsenfreien Darlehens oder durch den Verzicht auf zu leistende Steuern für einen festgesetzten Zeitraum. Ein Landesfürst oder Stadtherr kann aber auch in offensichtlich schwelende Konflikte eingreifen, indem er etwa Solidarität über die Grenzen der Grundherrschaft hinaus vorschreibt oder anordnet, dass jeder auf seinem Grundstück die Errichtung von Schutzbauten zulassen muss. Die Urkunde wird in diesen Fällen zumeist zeitlich nahe am Geschehen ausgestellt, oft als Reaktion auf mündliche Sachverhaltsdarstellungen. In anderen Urkunden werden eher die Langzeitfolgen von extremen Naturereignissen angesprochen: die Verlängerung von Steuerbefreiungen, die neuerliche Schenkung von Aueninseln, die durch ein Hochwasser verschwunden waren und an anderer Stelle wieder „auftauchten“, oder die Ausstattung von verlegten Siedlungen oder Klöstern mit den nötigen Rechten. An derartigen Urkunden lässt sich auch erahnen, wie lange es im Einzelfall 58  Urkunde Bischof Lamprechts von Bamberg vom 14. Mai 1376, ediert bei Neumann, Folgen des Erdbebens 2 (wie Anm. 47) 155 Nr. 3. 59  Urkunde des Patriarchen Johannes von Aquileia vom 19. November 1391, ediert bei Neumann, Folgen des Erdbebens 2 (wie Anm. 47) 155f. Nr. 4a. 60  Vgl. zur Situation in Basel ausführlich Werner Meyer, Da verfiele Basel überall. Das Basler Erdbeben von 1356. Mit einem geologischen Beitrag von Hans Peter Laubscher (184. Neujahrsblatt der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige, Basel, Basel 2006); sowie für einen Vergleich Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 2) 158–165. 61  Rohr, Extreme Naturereignisse 77f.



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dauerte, bis alle Schäden beseitigt waren – im Falle des Erdbebens in Kärnten und Friaul 1348 fast ein halbes Jahrhundert! Während gerade diese Aspekte über andere Quellengattungen nicht oder nur in Ansätzen rekonstruiert werden können, werden aber auch die Schwächen urkundlicher Überlieferung deutlich: Erstens geben Urkunden nur einen Blick auf extreme Ereignisse frei, die offensichtlich mit den vorhandenen Mitteln nicht mehr bewältigt werden konnten. Damit sind zahlreiche weitere Ereignisse, die vielleicht ähnlich starke Auswirkungen hatten, eine Stadt aber vielleicht in einer wirtschaftlich stabileren Lage trafen, ausgeblendet. Es ist bezeichnend, dass die ersten beiden Urkunden zu Wels aus dem Jahr 1352 stammen, also unmittelbar nach der großen Pestwelle. Zweitens wird in der Regel auch bei den Anlassfällen des ersten Typs nicht genau gesagt, wann das Schadensereignis eintrat. Dieses kann ggf. nur wenige Tage zurückliegen, mitunter aber wohl auch mehrere Monate. Dies macht wiederum die Aussage aus historisch-hydrologischer Sicht unscharf, wenn es um die Saisonalität von Extremereignissen geht. Drittens sind Urkunden von ihrem Entstehungskontext oft stark intentional geprägt – es geht um Hilfestellungen und Privilegien, wobei der tatsächliche Schaden mitunter stark übertrieben worden sein dürfte, wie etwa der Hinweis auf die 17 ville nach dem Erdbeben und Bergsturz im Großraum Arnoldstein. Es handelte sich dabei, anders als vom Kloster Arnoldstein bis ins 18. Jahrhundert als steuermilderndes Argument vorgebracht, wohl um Zinshöfe/Weiler und nicht um ganze Dörfer, die wiederum nur zeitweise keinen Ertrag abwarfen – aber in der Kärntner Geschichtstradition hielt sich dieser Mythos bis ins 20. Jahrhundert62. Nichtsdestotrotz stellen Urkunden eine wichtige Quellengattung für die Rekonstruktion von extremen Naturereignissen im Hoch- und Spätmittelalter dar und können die chronikale und sonstige Überlieferung besonders hinsichtlich der kurz- und langfristigen Bewältigungsstrategien signifikant bereichern. Eine systematischere Auswertung steht für viele Regionen bzw. Einzelereignisse jedoch noch aus.

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148.

  Vgl. für eine überzeugende Dekonstruktion Neumann, Folgen des Erdbebens 2 (wie Anm. 47) 112–



Urkunden statt Bücher Zum Kulturtransfer der Heiligenkreuzer Zisterzienser im mittelalterlichen Pressburg Juraj Šedivý

Als Thema meines dem Jubilar gewidmeten Beitrags erlaube ich mir, eine Studie zu wählen, die die Grenze zwischen einzelnen historischen Hilfswissenschaften, aber auch jene zwischen Österreich und der Slowakei überwindet. In meinem folgenden Text möchte ich zeigen, dass auch im Mittelalter die Beziehungen zwischen Personen aus Österreich und der damals ungarländischen Grenzstadt Pressburg (lat. Posonium, ung. Po­ zsony, slow. Preslava und später Prešpurk, heute Bratislava) beidseitig und zum gemeinsamen Nutzen sein konnten. Als pars pro toto werden die Beziehungen des südwestlich von Wien gelegenen Stiftes Heiligenkreuz mit Pressburg im Mittelalter untersucht. Denn von der älteren slowakischen Geschichtsforschung wurde nämlich im Pressburger Wirtschaftshof dieses Stiftes bei der St. Katherinen-Kapelle ein wichtiges Skriptorium vorausgesetzt. Das Zisterzienserstift in Heiligenkreuz wurde im Jahre 1133 vom Babenberger Markgrafen Leopold III. (1095–1136) auf Veranlassung seines dem Orden angehörigen Sohnes Otto von Freising (lebte um 1112–1158) gestiftet. Das neugegründete Kloster war eine der Filiationen des Mutterklosters Morimond, aus dem die ersten Heiligenkreuzer Zisterzienser mit ihrem Abt Gottschalk kamen. Um 1150 begann die immer größer werdende Mönchsgemeinschaft mit dem Bau einer steinernen Kirche, die 1187 geweiht wurde1. Die Klostergemeinde war wohl bereits früh sehr zahlreich, denn kleinere Gruppen aus Heiligenkreuz gründeten bald nach der Stiftung weitere neue Klöster (1138 Zwettl, 1142 Cikádor in Königreich Ungarn)2. Großzügige Bauunternehmen in Heiligenkreuz selbst (im 12. Jahrhundert der Kirchenbau, in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts der Kreuzgang des Klosters, in der 2. Jahrhunderthälfte der neue Hallenchor) konnten nicht ohne 1  Siehe v. a. Hermann Watzl, „…in loco, qui nunc ad sanctam crucem vocatur“. Quellen und Abhandlungen zur Geschichte des Stiftes Heiligenkreuz (Heiligenkreuz 1987). Zur (Bau-)Geschichte des Klosters z. B. Gerhard Stenzel, Von Stift zu Stift in Österreich (Wien 1977) 27–30, oder Harald W. Müller, Die Baugeschichte des Stiftes Heiligenkreuz, in: Kirche und Klosteranlage der Zisterzienserabtei Heiligenkreuz. Die Bauteile des 12. und 13. Jahrhunderts, hg. von Markus Thome (Petersberg 2007) 296–301. Eine Übersicht auch in: Gerhard Hradil–Werner Richter, Es rührt sich etwas um die Geschichtsschreibung des Stiftes Heiligenkreuz … Alte und neue Arbeiten. Sancta Crux. Zeitschrift des Stiftes Heiligenkreuz 65 (2004) 127–139. – Abkürzungen: AMB = Archív mesta Bratislavy [Archiv der Stadt Pressburg]; SNA = Slovenský národný archív [Slowakisches Nationalarchiv]. 2 Beáta Vida, Fundačný proces rehole cistercitov v Uhorsku [Stiftungsprozess der Zisterzienserklöster in Ungarn]. Kultúrne dejiny 2 (2011) 7–32 (Zitat 15) Nr. 1.

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finanzielle Unterstützung und Schenkungen seitens der österreichischen Herzöge und der Eliten der umliegenden Region erfolgt sein3. Trotz der enormen Investitionen, die die Zisterzienser für ihre Bauprojekte brauchten, verblieben ihnen ein disponibles Kapital und Personenreserven. Dank dieser konnten sie nicht nur weitere Tochterklöster gründen, sondern auch Besitzungen in- und außerhalb Österreichs – v. a. in dem nahen oberungarischen Grenzland – erwerben. Die Idee, dass sich eine österreichische Institution Liegenschaften im Königreich Ungarn kaufte, war für das 13. Jahrhundert nichts Erstaunliches. Das östlich von Österreich gelegene Königreich, das man von Hainburg oder Wiener Neustadt in wenigen Stunden zu Fuß erreichen konnte, öffnete sich zur Zeit von König Andreas II. (1205–1235) und noch mehr unter seinem Sohn Bela IV. (1235–1270) den westlichen Investoren und Siedlern. Unter den zwei genannten Herrschern erfolgte die Transformation eines relativ rückständigen ostmitteleuropäischen Landes mit einer Sozialstruktur nachkarolingischer bzw. frühmittelalterlicher Prägung zu einem progressiven Land. Am Anfang dieses Prozesses gab es in Ungarn Herrscher unterstützt von wichtigen Magnatenfamilien, die überwiegende Mehrheit der Einwohner lebte in kleinen Dörfern in einfachen, in die Erde eingetieften Holzhäusern, und der Handel verlief noch vorwiegend auf Tauschbasis. Innerhalb von ungefähr zwei Generationen lebte ein wichtiger Teil der Bevölkerung in Städten mit steinernen Bauten, die dortigen Eliten waren dank königlicher Privilegien weitgehend autonom, und die zahlreichen Münzfunde belegen plötzlich ein funktionierendes Münzsystem. Um den Transformationsprozess zu beschleunigen, boten die Grundherren (mit dem König an der Spitze) den vorwiegend deutschsprachigen Siedlern und Investoren zahlreiche Privilegien an. Mit Hinsicht auf die Nachbarschaft und die älteren Beziehungen kann man im Nordwesten Ungarns viele Kolonisten aus Böhmen und Mähren, im Norden aus Sachsen, Schlesien und Kleinpolen, im Westen hingegen vor allem aus Österreich erwarten. Die riskanten, aber hohe Gewinne bringenden Investitionen im damaligen „wilden Osten“ zogen viele Österreicher vor allem in die sich rasch entwickelnden Städte im nahen ungarländischen Donauraum (Pressburg/Bratislava, Tyrnau/Trnava, Ödenburg/Sopron, Ungarisch Altenburg/Mosonmagyaróvár, Ofen/Buda u. a.)4. Von einer starken Schicht deutschsprachiger, aus Österreich stammender Siedler in Pressburg zeugt explizit u. a. ein Vertrag zwischen den Pressburgern und einem adeligen Geschlecht aus der nahen Umgebung der Stadt, in dem vermerkt wird, dass in der Stadt tam ciues Posonienses quam hospites de Austria et Vngaria leben5. Die ersten Besitzungen der Zisterziensermönche aus Heiligenkreuz findet man im Westen des ungarländischen Donauraumes bereits unter Bela III. (1172–1196)6. Sein Sohn Em3  Diese Vermutung wird durch zahlreiche Schenkungsurkunden im Stiftsarchiv unterstützt, die dankenswerterweise auch über das Online-Portal monasterium.net zugänglich sind. Alle im Folgenden zitierten Urkunden wurden online eingesehen in: https://www.monasterium.net/mom/AT-StiAH/HeiligenkreuzOCist/ fond?block=1 [28. 1. 2020]; Druck: Urkunden des Cistercienser-Stiftes Heiligenkreuz im Wiener Walde 1–2, ed. Johann Nepomuk Weis (FRA II/1 und II/16, Wien 1856 und 1859). 4   Zu dem sozialen Transformationsprozess z. B. Gyula Kristó, Die Arpadendynastie. Die Geschichte Ungarns von 895 bis 1301 (Budapest 1993) 174–240. In Kurzform zuletzt Juraj Šedivý, Beiträge zur mittelalterlichen deutschsprachigen Schriftkultur in der Slowakei (Bratislava 2019) 85–100. 5   SNA, Archivfond Glaubwürdiger Ort beim Pressburger Kollegiatkapitel 14-17-7 (1296 IV 16), und AMB, Urkunde 16 (1296 IV 16). 6   Allgemein zur Geschichte der Zisterzienser im Königreich Ungarn z. B. Ferenc Levente Hervay, Repertorium historicum Ordinis Cisterciensis in Hungaria (Bibliotheca Cisterciensis 7, Roma 1984). Zu den Zisterziensern in Pressburg im Besonderen gibt es erstaunlicherweise lediglich eine sehr kurze Skizze in der immer



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merich (1196–1204) stellte nämlich eine Schenkungsurkunde aus, in der er der Abtei ein bereits von seinem Vater Bela geschenktes Gut, das zuvor Petschenegen gehört habe und von der Jurisdiktion der Burg Moson ausgenommen sei, bestätigte7. Mit einer späteren Urkunde schenkte Andreas II. einen weiteren Teil des Ortes, wobei der Name der Schenkung nun explizit erwähnt wurde (Leginthov, ca 5 km nordöstlich von Frauenkirchen östlich des Neusiedlersees, das heutige Mönchhof im Burgenland, ca 35 km südlich von Pressburg)8. Dieses Gut wurde später (1222 und schließlich 1229) vom König von Steuern befreit. In einer Urkunde von Bela IV. wird erwähnt, dass dort auch Weinbau betrieben wurde9. Im Jahre 1236 wird in der Bestätigung von älteren Besitzungen des Klosters durch König Bela IV. u. a. ein Grundbesitz namens Dvorník (terra, que uocatur Curia Regis iuxta aquam Saar) genannt. Dieses Gut kann man schon in der unmittelbaren Nähe von Pressburg lokalisieren (heute östlicher Teil der modernen Stadt im Gebiet des früheren Dorfes Dvorník, dessen Flur teilweise mit dem heutigen Stadtteil Weinern/Vajnory identisch ist)10. Kurze Zeit später erwarben die Zisterzienser von Heiligenkreuz weiteren, noch näher an Pressburg (vielleicht schon im Weichbild der werdenden Stadt) liegenden Besitz; sie kauften nämlich einen Weingarten retro castrum (in Posonio) von ihren Ordensgenossinnen aus Pressburg11. Die Weinproduktion ist für die Heiligenkreuzer Zisterzienser bereits kurz nach der Gründung des Klosters bezeugt (1163 tauschte das Stift mit dem Kloster Melk einen Weingarten gegen andere Liegenschaften für einen Zehent in Minkendorf12, um 1182 bekam die Abtei das Bergrecht an sieben Weingärten13). Gerade bei Zisterzienserklöstern gab es neben den Mönchen ursprünglich auch starke Laiengruppen – die Konversen. Diese erfüllten wichtige ökonomische und finanzielle Aufgaben im Auftrag des Klosters. Diese Schicht verschwand jedoch im 14. Jahrhundert fast völlig und wurde durch bezahlte Arbeitskräfte abgelöst. Das zuvor dominierende System der Grangien verschwand somit ebenfalls, die Klostergüter wurden nunmehr zumeist ausgegeben. Daraus bezog das Kloster nicht nur Geld, sondern auch Naturalien, deren Überschüsse über städtische Wirtschaftshöfe abgesetzt wurden14. noch komplexesten Darstellung der mittelalterlichen Geschichte der Stadt bei: Theodor Ortvay, Geschichte der Stadt Pressburg II/4: Das Familienleben und das materielle, intellektuelle und religiös sittliche Leben der Bevölkerung der Stadt in der Zeit von 1300–1526 (Pressburg 1903) 534f. Mehr in: Juraj Šedivý, Cirkev v stredovekej Bratislave – staré odpovede a nové otázky [Kirche im mittelalterlichen Pressburg – alte Antworten und neue Fragen], in: Kapitoly z dejín Bratislavy [Die Geschichte des Kapitels von Bratislava], hg. von Gábor Czoch et al. (Bratislava 2006) 93–126, bes. 113f. 7   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 30 (1208), FRA II/11 (wie Anm. 3) 38f. Nr. 30 – eine Konfirmation seines Bruders Andreas II. 8   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 37 (1217), FRA II/11 (wie Anm. 3) 50–52 Nr. 37. 9  Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 91 (1236 X 20), FRA II/11 (wie Anm. 3) 102f. Nr. 91. 10   Auf die Lokalisierung weist eine andere Urkunde hin: im Jahre 1252 wurden Leute aus einem Dorf mit ungarischen Namen Wdvornuk (deutsch Hof/lat. Curia) genannt, die sich mit einem Kleinadeligen versöhnten und ihm neben anderen Liegenschaften auch einen nahe gelegenen Fischerort an der Saar (clausura piscium in aqua Saar) überließen, Codex diplomaticus et epistolaris Slovaciae 2, ed. Richard Marsina (Bratislava 1987) 286 Nr. 408. 11   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 118 (1249), FRA II/11 (wie Anm. 3) 118 Nr. 112. 12   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 5 (1163 X 03), FRA II/11 (wie Anm. 3) 7 Nr. 5; Die Regesten der Bischöfe von Passau I: 731–1206, ed. Egon Boshof–Franz Reiner Erkens (Regesten zur bayerischen Geschichte 1, München 1992) 245 Nr. 786. 13   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 9 (1182), FRA II/11 (wie Anm. 3) 12 Nr. 9; Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich I: Die Siegelurkunden der Babenberger bis 1215, ed. Oskar Frh. v. Mitis–Heinrich Fichtenau–Erich Zöllner (Publikationen des IÖG 3/I, Wien 1950) 80f. Nr. 60. 14  Patrick Schicht, Ora et labora. Überlegungen zu mittelalterlichen Wirtschaftshöfen des Stiftes Heili-

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Juraj Šedivý

Zu den beiden Weinbergen in Pressburg und Umgebung bekamen die Zisterzienser am Ende des 13. Jahrhunderts (1297) ein weiteres Gut in Prača (in der Nachbarschaft jener Besitzungen, die 1249 gekauft wurden, auf dem Gebiet des heutigen Stadtteils Weinern/Vajnory)15. Pressburg wurde aber wahrscheinlich erst seit dem Jahr 1307 neben Wien zum zweiten wirtschaftlichen Mittelpunkt für die Heiligenkreuzer Mönche. Zwar versuchten sie bereits früher einen Wirtschaftshof in der Stadt zu kaufen, jedoch ohne Erfolg (habentes possessionem in Weinarn et domo ac repositorio rerum suarum in civitate Posoniensi carere penitus non possent). Denn erst 1307 konnte das Kloster ein Haus mit größerem Wirtschaftshof (domum quandam et totum fundum curie seu cum domibus et edificiis omnibus) durch Kauf von einem einheimischen Kanoniker und seiner Mutter erwerben16. Der Komplex lag an einer günstigen Stelle (an der Ecke zwischen einer der Hauptstraßen der Stadt – heute Michaelerstraße/Michalská ulica – und einer kleineren Straße: Schneeweissgasse/Biela ulica). Zu diesem Areal gehörte auch ein Gemüsegarten (ortus holerum) und sicher außerhalb der Stadt liegende Felder (agri ad ipsam curiam spectantes). Den Kauf bezeugt eine Urkunde von Abt und Konvent des Stiftes Heiligenkreuz, die heute im Stadtarchiv von Pressburg aufbewahrt wird17. Durch jüngere Schenkungen oder Käufe kamen weitere Liegenschaften in Westungarn an das Kloster (predium Sasun/ Gut Winden im Komitat Moson; Weinberge um Ödenburg/Sopron; Dorf Prodersdorf an der Leitha)18, aber das wirtschaftliche Zentrum von Heiligenkreuz in Ungarn stellte seit 1307 wohl der Wirtschaftshof in Pressburg dar. Am Anfang des 14. Jahrhunderts (1309–1311) hielt sich Kardinal Gentilis in der Stadt Pressburg auf19. In dessen Gefolge sind Personen italienischer Herkunft belegt (darauf lassen jedenfalls ihre Namen – z. B.: Johannes Spetiarius de Bononia, Cicco de Florentia, Cicco de Asisio u. a. – schließen). Einer der Kleriker aus des Kardinals Gefolge – ein Mönch namens Guido de Columna – stiftete mit Zustimmung der Heiligenkreuzer auf dem Grund ihres Pressburger Hofes eine Kapelle unter dem Patrozinium der heiligen Katharina, welche er im Jahre 1311 den Zisterziensern schenkte20. Somit bekam der Wirtschaftshof einen erweiterten – und nicht mehr ausschließlich wirtschaftlichen – Charakter. Trotzdem stellte er wohl in erster Linie eine Sammelstelle für Naturalien (v. a. Weintrauben und Wein) aus den umliegenden Gütern der Zisterzienser dar. Als „Belegschaft“ kann man in älterer Zeit vielleicht noch Konversen annehmen, sehr bald aber wohl eher genkreuz, in: Bauforschung und Denkmalpflege. Festschrift für Mario Schwarz, hg. von Günther Buchinger et al. (Wien–Köln–Weimar 2015) 138–159, hier 141f. 15  Das Gut wurde ihnen nicht geschenkt, sondern sie bekamen es vom Erzbischof von Gran/Esztergom im Tausch gegen einen anderen Besitz (Tvrdošovce im Komitat Neutra/Nitra). Siehe Michal Slivka, Pohľady do stredovekých dejín Slovenska (Res intrincesus lectae) [Einblicke in die mittelalterliche Geschichte der Slowakei] (Martin 2013) 71. 16   Regesta diplomatica nec non epistolaria Slovaciae 1, ed. Vincent Sedlák (Bratislava 1980) 236 Nr. 513. 17   AMB, Urk. 25 (1307 X 28). 18   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 102 (1240 V 20), 104 (1241 XI 01), 296 (1285 [recte 1284] XII 24), FRA II/11 (wie Anm. 3) 102 Nr. 91, 105 Nr. 96, 247f. Nr. 274; Urkundenbuch des Burgenlandes 2: 1271–1301, ed. Irmtraut Lindeck-Pozza (Publikationen des IÖG VII/2, Graz–Köln 1965) 186f. Nr. 264. 19  Ortvay, Geschichte 3 (wie Anm. 6) 84–88. 20   Die Schenkung wird durch Guido de Columna, die Übernahme durch Abt und Konvent von Heiligenkreuz beurkundet; AMB, Urk. 28 und 29 (beide 1311 VIII 25). Beide Urkunden sind von derselben Hand geschrieben. Als Ausstellungsort wird in beiden Fällen Pressburg angegeben, es handelt sich jedoch sicher um Empfängerausfertigungen, die entweder in Heiligenkreuz geschrieben oder von einem österreichischen Schreiber/Notar in Pressburg verfasst wurden (der Schreiber kannte nämlich die Namen der österreichischen Prälaten, nicht aber jenen des Pressburger Propstes).



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einen Provisor mit einigen bezahlten Gehilfen. Aufgrund der Existenz einer Kapelle auf dem Areal kann man sich auch die Anwesenheit eines Kaplans vorstellen. Später erweiterten die Heiligenkreuzer ihre Pressburger Domäne um weitere Weinberge (1319 wurden ihnen von Dietrich Hutstock zwei Weinberge in Weinern geschenkt, in demselben Jahr bekamen sie auch einen weiteren Weingarten von Kunigunde Körpnerin, überdies beschenkte im Jahr 1326 auch der Landherr Dietrich von Pillichsdorf das Kloster mit zwei Weinbergen)21. Da der Weinanbau die Haupterwerbsquelle der Pressburger Bürger darstellte, ist es verständlich, dass die diesbezügliche Konkurrenz durch die Zisterzienser ein Dorn im Auge des Stadtrats gewesen ist. Letzterer gelangte im Jahre 1355 an ein Mandat König Ludwigs I., das die Heiligenkreuzer Zisterzienser dazu verpflichtete, ihre Besitzungen in und um Pressburg nur an Pressburger zu verkaufen22. Nach mehr als eineinhalb weiteren Jahrhunderten geschah dies auch; im Jahre 1509 verpachteten die Zisterzienser ihre Besitzungen an den Stadtrat, ehe sie diese schließlich im Jahre 1525 verkauften23. Zur mehr als 200-jährigen Geschichte des Heiligenkreuzer Wirtschaftshofs in Pressburg existieren weniger als 50 Schriftstücke, außer Schenkungsurkunden zumeist lediglich einfache Quittungen. Daher konnten in der Stadtgeschichtsforschung Mythen um die kulturelle Rolle der Zisterzienser entstehen – vor allem verbreitete sich eine Idee, wonach die Heiligenkreuzer in Pressburg ein Skriptorium betrieben hätten. Am Beginn dieser These stand wohl die ungarische Kunsthistorikerin Ilona Berkovits, die den Entstehungsort für eine ganze Gruppe von Pressburger Handschriften (Missale Posoniense A, B, C, H, Itinerantium – vielleicht auch I.) in irgendeinem Kloster (!) Pressburgs suchte24. Daran knüpften die beiden slowakischen Kunsthistoriker A. Güntherová und J. Mišianik an, die bereits explizit voraussetzten, dass die Missalia A, C und H bei den Pressburger Zisterziensern entstanden seien. Das benutzte Fleuronée sollte angeblich für die Zisterzienser typisch sein25. Die Schwachstelle der Theorie ist, dass es keine Hinweise auf Skriptoren unter den Heiligenkreuzer Zisterziensern in Pressburg gibt. Man kann sich auch eine solch gelehrte Tätigkeit in einem Wirtschaftshof kaum vorstellen. Güntherová und Mišianik wollten ihre Hypothese von der angeblichen zisterziensischen Herkunft der Handschriften auch mit dem Vorkommen des Festes von Bernhard von Clairvaux, welches später radiert worden sei, untermauern. In Wirklichkeit ist aber das Fest in zwei der drei Pressburger Handschriften (Missalia A und C) eingetragen, überdies gut ersichtlich. Angesichts der häufigen Nennungen des Heiligen in mitteleuropäischen Kalendarien ist sein Vorkommen (ohne Vigil oder Octav) im Kalender der Pressburger Missalia nicht außergewöhnlich. Im Unterschied etwa zum Fest des hl. Stephan, das auf denselben Tag fällt, fehlt dem Fest des hl. Bernhard die Vigil oder Oktav, was eine tiefere Verehrung Bernhards ausschließt. Die Umstände deuten eindeutig darauf hin, dass die ganze Gruppe der Handschriften (wie eine kleinere vorher und mehrere weitere jüngere Gruppen nachher) im oder für das Pressburger Kollegiatkapitel angefertigt wurde26. 21   Siehe die Urkunden im Stiftsarchiv Heiligenkreuz von 1319 VII 25, von 1319 IX 14 und von 1326 XII 21, FRA II/16 (wie Anm. 3) 60f. Nr. 66, 61f. Nr. 67, 112f. Nr 110. 22   AMB, Urk. 127 und 128 (beide 1355 I 25). 23   Hervay, Repertorium historicum (wie Anm. 6) 107; Slivka, Pohľady (wie Anm. 15) 71. 24  Ilona Berkovits, Illuminierte Handschriften aus Ungarn vom XI–XVI. Jahrhundert (Hanau 1968) 28. 25 Alžbeta Güntherová–Ján Mišianik, Stredoveká knižná maľba na Slovensku [Mittelalterliche Buchmalerei in der Slowakei] (Bratislava 21977) 21. 26  Detaillierter dazu Juraj Šedivý, Mittelalterliche Schriftkultur im Pressburger Kollegiatkapitel (Bratislava 2007).

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Obwohl man die These über die Tätigkeit von Skriptoren in einem Wirtschaftshof ablehnen muss, spielten die Heiligenkreuzer (zwar sicherlich nicht jene, die im Wirtschaftshof oder in den um die Stadt liegenden Weinbergen und Ackern arbeiteten, sondern diejenigen aus dem Heimatkloster) im Kulturleben der Stadt eine äußerst wichtige Rolle. Sie waren nämlich der Kulturkanal, durch den die Volkssprache in die Urkundenlandschaft Pressburgs gelangt ist. Die älteste erhaltene deutschsprachige Urkunde des Königreichs Ungarn ist eine Schenkung vom 14. September 1319, in der eine Witwe aus Pressburg namens Kunigunde Körpnerin (Chunigunt die Chrpnerin) dem Kloster einen Weinberg schenkte27. Nicht nur diese, sondern auch die jüngeren deutschsprachigen Urkunden, die in Pressburg entstanden, waren nämlich für die Heiligenkreuzer Mönche bestimmt: Am 4. Juli 1320 bestätigte Dietrich der Hutstock, Burggraf von Pressburg, der Abtei von Heiligenkreuz die ihm geleistete Zahlung von 192 Pfund Pfennigen. Am 23. März 1326 beurkundete Walchun, Bürger von Pressburg, dass sein Oheim Konrad von Heiligenkreuz ihm seine Ansprüche auf einen Hof zu Traiskirchen mit zehn Pfund Pfennigen abgelöst habe28. Zwei weitere Weingärten in der Nähe von Pressburg (ligent bei Presburch an der Hochnei) schenkte den Zisterziensern Dietrich von Pillichsdorf am 21. Dezember 132629. Für die Beurkundung in Pressburg und in der weiteren Umgebung sorgte bis ungefähr in die 1270er Jahre vor allem der dortige Gespan (comes comitatus Posoniensis). Erst ab dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts setzte sich als Beurkundungsinstanz in der Stadt die Kanzlei des dortigen Kollegiatkapitels als glaubwürdiger Ort für Pressburg und seine weitere Umgebung durch. Der Stadtrat und die Bürger Pressburgs begannen mit ihren ersten Experimenten auf dem Feld der Diplomatik erst im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts (die erste erhaltene städtische Urkunde stammt aus dem Jahr 1302), doch bis in die 1340er Jahre waren deren Urkunden von Notaren des Kollegiatkapitels geschrieben und lediglich formal vom Stadtrat bzw. der Bürgerschaft ausgestellt. Die Schrift der ersten auf Latein verfassten Urkunden der Pressburger ist mit den Schreiberhänden der Notare des Kollegiatkapitels identisch, weshalb sie als Empfängerausfertigungen gelten können. Erst während der 1340er Jahre, als es zu einem Konflikt zwischen den örtlichen Bürgern und dem Kollegiatkapitel kam, erschien die Hand des ersten Stadtnotars in den kommunalen Schriftstücken30. Und gerade in die Periode der ersten bürgerlichen diplomatischen Experimente fallen auch die ersten deutschsprachigen Urkunden. Der Verdacht, dass die Bürger, die begannen, Urkunden auszustellen, nicht in der Lage waren, komplexe Urkundentexte zu verfassen, und dass es sich dabei in Wirklichkeit um Empfängerausfertigungen der Heiligenkreuzer handelte, verdichtet sich zur Überzeugung, wenn man sich die zeitgenössischen Urkunden im Archiv des Zisterzienserklosters ansieht. So zeigt etwa ein Vergleich der deutschen Urkunde der Pressburgerin Kunigunde (1319 IX 14) mit der chronologisch folgenden Urkunde im Heiligenkreuzer Archiv (1319 IX 17)31, die formal von Ausstellern in heutigem Niederösterreich stammt, nicht nur for  Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 424 (1319 IX 14), FRA II/16 (wie Anm. 3) 61f. Nr. 67.   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 428 (1320 VII 4) und 468 (1326 III 23), FRA II/16 (wie Anm. 3) 64f. Nr. 71, 109f. Nr. 107. 29   Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 472 (1326 XII 21), FRA II/16 (wie Anm. 3) 112f. Nr. 110. 30 Juraj Šedivý, Die Anfänge der Beurkundung im mittelalterlichen Pressburg (Bratislava), in: Wege zur Urkunde. Wege der Urkunde. Wege der Forschung, hg. von Karel Hruza–Paul Herold (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 24, Wien 2005) 81–115. 31  Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 424 (1319 IX 14), 425 (1319 IX 17), FRA II/16 (wie Anm. 3) 61f. 27 28



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male Übereinstimmungen beider Schriftstücke (ähnliche Schrift und Verzierung), sondern auch eine teilweise identische Stilisierung des Textes32. Eine verwandte Schrift weisen auch die nächste erhaltene „Pressburger“ Urkunde (1320 VII 4) und ein aus dem Stiftsarchiv stammendes Schriftstück auf, das formal vom Wiener Bürger Hugo von Ingolstadt und seiner Frau Kunigunde ausgestellt wurde33. Es scheint, dass der größte Anteil an der Verbreitung deutscher Urkunden in Pressburg den Heiligenkreuzer Zisterziensern gehört. Neben ihnen beteiligte sich an diesem kulturellen Transfer vielleicht auch eine andere kirchliche Institution aus Österreich (Chorherrenstift von St. Pölten?)34. Auch noch um die Mitte des 14. Jahrhunderts sind bei den deutschen Urkunden der Pressburger österreichische Beziehungen zu spüren. Die Urkunde vom 1. Mai 1346 ist scheinbar bereits eine Verschriftlichung „in eigener Sache“: Jakob Hambatho und seine Gemahlin verpfändeten die Hälfte ihres Hauses an Nikolaus, den Sohn des alten Richters Jakob, und seine Gemahlin Elisabeth35. Die Hambathos waren jedoch eine Familie, die ihren Wohnsitz nicht nur in Pressburg, sondern auch in Wien hatte. In einer weiteren deutschen Urkunde vom 5. Mai 1348 stellte ein Pressburger namens Peter, Sohn eines Jakob, einen Pfandbrief für seinen Sohn Lorenz aus; Gegenstand der Verpfändung war ein Dienst, den Peter mit seinem Bruder in Hütteldorf (ze Heetndorf ) teilte36. Auch noch die Bestätigung des Pressburger Stadtrats vom 2. Mai 1359 über die Schenkung der Frau Geisel an die Abtei Heiligenkreuz (Häuser und Weingärten in und um Pressburg) weist österreichische (und vor allem Heiligenkreuzer!) Beziehungen auf37. Die Heiligenkreuzer stellten aber nicht nur deutschsprachige Urkunden im Namen Pressburger Bürger aus, sie konzipierten auch solche, die für die Pressburger bestimmt waren. Im Jahre 1348 bestätigten sie z. B. für den Sohn des Pressburger Richters den Verkauf eines Weinbergs, um 1360 schrieben sie an den Stadtrat von Pressburg wegen der Steuerfreiheit ihres örtlichen Wirtschaftshofes, vier Jahre später stellten sie eine Quittung für den Pressburger Richter aus und 1368 eine weitere in deutscher Sprache38. Keine der Städte im ungarisch-österreichischen Grenzland (wie Ödenburg oder ­Tyrnau), keine der adeligen Familien mit Besitz an beiden Seiten der Grenze (wie die Herren von St. Georgen und Pösing oder die Forchtensteiner) begann so früh mit der deutschsprachigen Beurkundung wie die Pressburger Bürger. Die Volkssprachen (in diesem Fall das Deutsche) traten in Urkunden der genannten Aussteller (abgesehen von Pressburg) erst nach der Mitte des 14. Jahrhunderts auf. In diplomatischen Schrift­stücken der königlichen Kanzlei findet das Deutsche als erste Volkssprache allmählich in den letzten Regierungsjahren Ludwigs I. von Anjou (zum ersten Mal 1371) Verwendung, regelNr. 67, 62f. Nr. 68. Ein gewisser Servatius von Merswang stiftete mit dieser Urkunde einen Jahrtag und das Begräbnis in der Abtei für sich und seine Nachkommen. 32 Siehe https://www.monasterium.net/mom/AT-StiAH/HeiligenkreuzOCist/1319_IX_14/charter, https://www.monasterium.net/mom/AT-StiAH/HeiligenkreuzOCist/1319_IX_17/charter [28. 1. 2020]. 33  Beide in Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 428 (1320 VII 4) und 436 (1322 VII 13?), FRA II/16 (wie Anm. 3) 64f. Nr. 71, 83–85 Nr. 81. 34  HHStA, AUR 1332 I 27 (vormals St. Pölten, ehem. Augustiner Chorherrenstift), https://www.monasterium.net/mom/StPCanReg/1332_I_27/charter [28. 1. 2020]; Druck: Urkundenbuch des aufgehobenen Chorherrnstiftes Sanct Pölten, I. Teil: 976–1367, ed. Josef Lampel (Niederösterreichisches Urkundenbuch 1, Wien 1891) 301–303 Nr. 256. 35  AMB, Urk. 93 (1346 V 1). 36   Ebd. Urk. 101 (1348 V 5). 37  Heiligenkreuz, Stiftsarchiv, Urk. 607 (1359 V 2), FRA II/16 (wie Anm. 3) 247f. Nr. 232. 38  AMB, Urk. 98 (1348 II 1), 176 (ca. 1360), 218 (1364 IV 24), 255 (1368 V 3).

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mäßig jedoch erst seit den ersten Regierungsjahren Sigismunds von Luxemburg (1387– 1437)39. Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass man zwar kein Skriptorium der Heiligenkreuzer Zisterzienser in Pressburg nachweisen kann, dass aber die engen Beziehungen der Stadt Pressburg zu Heiligenkreuz vermutlich einen kulturellen Katalysator einer für das Spätmittelalter wichtigen Entwicklung darstellten, nämlich der Durchdringung der örtlichen diplomatischen Schriftkultur durch die Volkssprachen40.

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202.

  Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac civilis, ed. Georgius Fejér (Budae 1842) 309–312 Nr.

40  Die Forschungen zu dieser Studie wurden von der slowakischen Forschungsförderungsagentur (Agentúra na podporu výskumu a vývoja) im Rahmen des Projekts APVV-16-383 unterstützt.

Erschließungsprojekte mittelalterlicher Quellen am Archiv der Universität Wien und die Bedeutung des Nachlasses von Paul Uiblein für prosopografische Studien Johannes Seidl

Das Archiv der Universität Wien als universitätsgeschichtliche Forschungsinstitution Seit etwa 120 Jahren sind die Archivare des Archivs der Universität Wien bemüht, die in ihrem Archiv befindlichen Quellen zur mittelalterlichen Geschichte der Alma Mater Rudolphina editorisch zu bearbeiten und somit der Scientific Community zugänglich zu machen. In der Folge sollen diese Quellen kurz skizziert und der jeweilige Stand der Edition angegeben werden.

Die Matrikeln Die Rektoratsmatrikel

Für die Universität Wien, deren Quellenlage als besonders ergiebig zu beurteilen ist, sind zunächst die mittelalterlichen Matrikeln von erheblicher Bedeutung, wobei die Ausführungen mit der Rektorats- oder Hauptmatrikel begonnen werden sollen, deren textkritische Edition von Beginn an vom Universitätsarchiv besorgt wurde. Bereits der Wiener Universitäts- und Staatsarchivar Karl Schrauf (1835–1904)1, der seit 1875 an der Alma Mater Rudolphina tätig war, hatte den Plan gefasst, diese für das universitäre Geschehen wichtigste historische Quelle zu bearbeiten. Da der Akademische Senat der Universität Wien aber zu jener Zeit der historischen Darstellung von Joseph von Aschbach2 den unbedingten Vorzug einräumte, musste Schrauf die editorische Arbeit an der Hauptmatrikel hintanstellen3. „Die Herausgabe der Universitätsmatrikel war – trotz umfangreicher 1 Kurt Mühlberger, Art. Schrauf, Karl (1835–1904). ÖBL 11 (1997) 182f. – Abkürzung: AFA = Acta Facultatis Artium. 2 Joseph Aschbach, Geschichte der Wiener Universität, 3 Bde. (Wien 1865–1888). 3  Kurt Mühlberger–Johannes Seidl, Editionsprojekte. Zur Herausgabe der Universitätsmatrikel und der Matrikel der Rechtswissenschaftlichen Fakultät durch das Archiv der Universität Wien, in: Artes – Artisten – Wissenschaft. Die Universität Wien in Spätmittelalter und Humanismus, hg. von Thomas Maisel–Meta

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Johannes Seidl

weiterer Arbeiten, die besonders Karl Schraufs Nachfolger als Universitätsarchivar, Arthur Goldmann (1863–1942)4, vorangetrieben hatte – über Jahrzehnte blockiert.“5 Erst unter dem Universitätsarchivar Franz Gall (1926–1982) nahm die Bearbeitung der Matrikel Fahrt auf, konnten doch von 1956 bis 1975 fünf Bände ediert werden, die den Zeitraum von 1377 bis 1689 umspannen. „Danach wurden die finanziellen Mittel für die Beschäftigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bislang aus Stiftungsgeldern aufgebracht worden waren, eingefroren, was eine weitere ‚Pause‘ von etwa 15 Jahren bewirkte.“6 Der Amtsnachfolger Franz Galls als Direktor des Wiener Universitätsarchivs, Kurt Mühlberger (Direktor 1983 bis 2010), nahm die Arbeiten als Herausgeber der Rektoratsmatrikel wieder auf und konnte 1993 den 6. Band (1689/90–1714/15) in Druck legen. Während Mühlbergers Amtszeit wurden noch zwei weitere Bände fertiggestellt, nämlich Band 7 (1715/16–1745/46) und Band 8 (1746/47–1777/78). Unter der Direktion von Thomas Maisel (Archivdirektor seit 1. Dezember 2010) steht nunmehr auch Band 9 (1778/79–1832/33) unmittelbar vor der Drucklegung. „Die Reihe der handschriftlichen Wiener Universitätsmatrikel setzt sich sodann – abgesehen von ­einer Lücke zwischen 1794 und 1803 – bis zum Ende der Monarchie als Evidenz der immatrikulierten Hörer in Registerform nahezu geschlossen fort.“7 Die Universitätsmatrikel ist zweifellos die zentrale Quelle für die Personengeschichte einer Universität, da sie nicht nur die Studenten, sondern auch die Professoren und Funktionäre der Hochschule beinhaltet. Die Matrikel8 ist von großer Bedeutung und Wichtigkeit nicht nur für die Personen- und Universitätsgeschichte, sondern auch für die studentische Migrationsforschung9. Die Nationsmatrikeln

Es waren aber nicht nur die Rektoren, die eine Matrikel führten, sondern auch die Prokuratoren, die an der Spitze der akademischen Nationen standen. Von den Nationen10 haben sich für das Mittelalter nur Matrikelbücher der rheinischen11 und der ungarischen12 Nation erhalten, während für die österreichische und die Niederkorn-Bruck–Christian Gastgeber–Elisabeth Klecker (Singularia Vindobonensia 4, Wien 2015) 331–342, hier 334. 4   Zu Goldmann vgl. Thomas Maisel, Arthur Goldmann – ein jüdischer Archivar im Dienst der Universität Wien (1905–1929), in: Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Oliver Rathkolb (Zeitgeschichte im Kontext 8, Göttingen 2013) 123–145. 5  Mühlberger–Seidl, Editionsprojekte (wie Anm. 3) 335. 6 Ebd. 7  Ebd. 335f. 8  Eine Auflistung des Standes der Edition der Rektorats- oder Hauptmatrikel findet sich in Anhang 1. 9 Jacques Paquet, Les matricules universitaires (Typologie des sources du Moyen âge occidental 65, Turnhout 1992); Matthias Asche–Susanne Häcker, Matrikeln, in: Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsinteressen, hg. von Ulrich Rasche (Wolfenbütteler Forschungen 128, Wiesbaden 2011) 243–267. 10  Zu den Nationen an der Universität Wien siehe allgemein Paul Uiblein, Die Universität Wien im 14. und 15. Jahrhundert, in: Das alte Universitätsviertel in Wien 1385–1985, hg. von Günther Hamann–Kurt Mühlberger–Franz Skacel (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 2, Wien 1985) 17–36, hier 27f. 11  UAW, Codex NR I. 12  Ebd. Codex NH I.



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kleinste, die sächsische Nation, für das Mittelalter keine Handschriften vorliegen. Der bereits erwähnte Karl Schrauf legte im Jahre 1902 eine Edition der ungarischen Nationsma­ trikel vor13. Seit geraumer Zeit widmet sich mein Mitarbeiter Martin G. Enne der textkritischen Edition des ersten Bandes der rheinischen Nationsmatrikel14. Nachdem Enne schon 2010 eine Teiledition des Zeitabschnittes von 1415 bis 144215 als Magisterarbeit am Institut für Österreichische Geschichtsforschung unter der Betreuung von Meta Niederkorn-Bruck vorgelegt hatte, führte er seine aufwändige Edition nun bis zum Jahr 1470 fort. Die Studie, die als von Andreas Schwarcz und dem Verfasser betreute Dissertation16 an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien approbiert wurde, enthält neben der Textedition ausführliche prosopografische Darstellungen der Nationsprokuratoren, deren Aufgabe unter anderem die Wahl des Rektors war. Im Zusammenwirken mit den übrigen, noch vorzustellenden Editionsprojekten ist Ennes Doktorarbeit, deren Drucklegung 2020 erfolgen soll, ein wesentlicher Baustein für das Gebäude einer quellenmäßig lückenlos erschlossenen Geschichte der Universität Wien im Mittelalter. Die Juristenmatrikel

Von den mittelalterlichen Fakultäten hat sich lediglich die Matrikel der Juridischen Fakultät erhalten. Bereits im Jahre 2011 erschien der 1. Band der Matricula Facultatis Juristarum Universitatis Studii Viennensis17, der von Kurt Mühlberger herausgegeben und vom Verfasser unter Mitarbeit von Andreas Bracher und Thomas Maisel bearbeitet wurde18. Mit dieser Edition, die den Zeitraum von 1402 bis 1442 umspannt, wurde innerhalb der Reihe „Publikationen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung“ eine neue Abteilung ins Leben gerufen, wodurch alleine schon die Bedeutung und Wichtigkeit dieser Quelle unterstrichen wird. Anders als bei der Haupt- oder Rektoratsma­trikel handelt es sich – und das ist für die Erforschung von Wissenschaftlerkarrieren von höchster Bedeutsamkeit – bei der Juristenmatrikel um eine Promotionsmatrikel, d. h. der akademische Werdegang der Bakkalare, Lizentiaten und Doktoren ist in dem Kodex genau nachvollziehbar. Im Oktober 2016 erschien der zweite Band der Juristenmatrikel, der von Severin Matiasovits bearbeitet und von Thomas Maisel und dem Verfasser herausgegeben wurde19. 13   Die Matrikel der Ungarischen Nation an der Wiener Universität 1453–1630, ed. Karl Schrauf (Wien 1902). 14   UAW, Codex NR 1. 15   Martin G. Enne, Teiledition der Matrikel der Rheinischen Nation der Universität Wien. 1415–1442 (Dipl.-Arb. Wien 2010). 16  Ders., Die Rheinische Matrikel der Universität Wien. Sozioökonomische und wissenschaftsgeschichtliche Studien zu süd- und südwestdeutschen Studenten an der Universität Wien im 15. und 16. Jahrhundert (1415–1586) (Diss. Wien 2017); siehe auch ders., Zur Matrikel der Rheinischen Nation an der Universität Wien. Protocollum inclitae Nationis Rhenanae (Archiv der Universität Wien, cod. NR I), in: Artes – Artisten – Wissenschaft (wie Anm. 3) 373–388. 17  UAW, Codex J I. 18   Die Matrikel der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät – Matricula Facultatis Juristarum Studii Wiennensis 1 (1402–1442) (Handschrift J 1 des Archivs der Universität Wien), hg. von Kurt Mühlberger, bearb. von Johannes Seidl, unter Mitarbeit von Andreas Bracher–Thomas Maisel (Publikationen des IÖG, VI. Reihe: Quellen zur Geschichte der Universität Wien, 3. Abteilung 1, Wien–München 2011), https://fedora.ebook.fwf.ac.at/fedora/get/o:215/bdef:Content/get [19. 1. 2020]. 19  Die Matrikel der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät: Matricula Facultatis Juristarum Studii Wiennensis 2 (1442–1557), hg. von Thomas Maisel–Johannes Seidl, bearb. von Severin Matiasovits (Wien– Köln–Weimar 2016), https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com [19. 1. 2020].

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Dieser Kodex20 reicht von 1442–1557 und ist somit erheblich umfangreicher als der erste Band. Diese Edition, die zunächst als eine von Martin Wagendorfer und Christian Lackner betreute Doktorarbeit abgefasst wurde, beinhaltet neben der textkritischen Edition einen prosopografischen Katalog sowie eine Auswertung nach regionalen und sozioökonomischen Kriterien. Die Studie ist zwar als Fortsetzung des 1. Bandes der Wiener Juristenmatrikel konzipiert21, geht in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung jedoch über diesen hinaus, zumal sie den Zeitraum bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts abdeckt, also auch das Zeitalter der Reformation mit all ihren religiösen und sozialen Spannungen und Umwälzungen umfasst. Zu diesem Aspekt tritt – wissenschaftshistorisch von höchster Relevanz – seit Ende des 15. Jahrhunderts an der Universität Wien die Lehre des römischen Rechts22.

Die Fakultätsakten Die aussagekräftigsten Quellen der Universität Wien sind wohl die Fakultätsakten23. Sie geben nicht nur Auskunft über die Amtsperioden der Dekane und der übrigen Fakultätsfunktionäre, sondern enthalten auch Informationen über die Promotionen zum Bakkalar, Lizentiaten und Doktor bzw. Magister. Zudem eröffnen sie uns Einblicke in das universitäre Leben, wie z. B. in die sehr häufigen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Wiener Bürgern oder in den Bau von universitären Einrichtungen sowie den Ausbruch von Seuchen24 etc. Schon der mehrfach genannte Karl Schrauf legte zu Ende des 19. Jahrhunderts eine Edition der ersten drei, von 1399 bis 1558 reichenden, Bände der Akten der Medizinischen Fakultät vor25, die auch heute noch mit Gewinn heranzuziehen ist. Von der mit Abstand größten Fakultät, der Artistischen, an der rund 90 % der Scholaren studierten, existiert die mustergültige Edition des ersten Bandes der Fakultätsakten von Paul Uiblein aus dem Jahre 196826, auf die noch zurückzukommen sein wird. Mit der gleichen Akribie hat Uiblein 1978 in einem zweibändigen Werk die Akten der Theologischen Fakultät der Wiener Universität im Zeitraum von 1396 bis 1508 ediert27. Wie fruchtbar eine Synthese verschiedener Quellen und Sekundärliteratur für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Personengeschichte sein kann, zeigt die 2014 erschienene Studie von Elisabeth Tuisl über die medizinische Fakultät der Universität Wien in mit-

  UAW, Codex J II.   Auch dieser Band ist durch zwei Register präzise erschlossen. 22 Severin Matiasovits, Das Studium an der Wiener Juristenfakultät im 15. und 16. Jahrhundert. Edition und Auswertung der Wiener Juristenmatrikel von 1442 bis 1557, in: Artes – Artisten – Wissenschaft (wie Anm. 3) 343–372. 23  Für das Mittelalter liegen nur Akten der Theologischen, der Medizinischen sowie der Artistenfakultät vor, nicht jedoch solche der Juridischen Fakultät. 24 Paul Uiblein, Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät. Kommentar zu den Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis 1385–1416 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 4, Wien 21995). 25   Acta Facultatis Medicae Universitatis Vindobonensis, ed. Karl Schrauf, 3 Bde. (1399–1558) (Wien 1894–1904). 26  Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis 1385–1416, ed. Paul Uiblein (Graz–Wien–Köln 1968). 27  Die Akten der Theologischen Fakultät der Universität Wien. 1396–1508, ed. Paul Uiblein, 2 Bde. (Wien 1978). 20 21



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Abb. 1: Paul Uiblein (1926– 2003): UAW, Fotosammlung: 106. I. 3033.

telalterlicher Zeit28, die aus einer von Winfried Stelzer betreuten Diplomarbeit29 hervorgegangen ist. Ausgehend von intensiven Quellenstudien in den Akten der artistischen, theologischen und medizinischen Fakultät sowie der Rektorats- und der Juristenmatrikel erstellte die Autorin die akademischen Karrierewege der graduierten Wiener Mediziner. Zudem verfasste sie durch Erforschung der außeruniversitären Funktionen der Professoren – man denke in diesem Zusammenhang an kirchliche Pfründen oder etwa Tätigkeit als Leibarzt der habsburgischen Herrscher – Prosopografien, die in manchen Fällen die Informationsdichte von Biografien erreichen. Durch Studien in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek konnte Tuisl auch die wissenschaftlichen Werke einzelner Professoren beschreiben und kommentieren.

Der Nachlass von Paul Uiblein als Quelle für prosopografische Studien zur Wiener Universitätsgeschichte Bereits vor geraumer Zeit hat der Verfasser vorliegenden Beitrags einen Überblick über die nachgelassenen Materialien des Mediävisten Paul Uiblein (1926–2003) gegeben30. Deren Bedeutung für die mittelalterliche Universitätsgeschichte ist zwar unleugbar, doch ist ihr überlieferter Zustand, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, nicht gerade dazu angetan, rasche Fortschritte, insbesondere in der personengeschichtlichen Forschung zur Alma Mater Rudolphina, zu realisieren. Dies liegt vor allem daran, dass Uiblein mit dem überaus zeit- und arbeitsaufwändigen Unterfangen, seiner Edition des ersten Bandes der Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis31 eine solche der AFA II32 und AFA III33 folgen zu lassen, wohl vom Arbeitsaufwand her überfordert war. Uiblein hatte sich selbst mit der textkritischen Herausgabe der AFA I sowie der Akten der Theologischen Fakultät34 die Latte sehr hoch gelegt, da beide durch meisterhaft erstellte prosopografische Kataloge herausragen, deren Erarbeitung durch die Integration zahlreicher gedruckter wie ungedruckter Quellen sowie einschlägiger Literatur schier unglaublicher Mühewaltung bedurfte. Die für das Erreichen dieses überaus hohen Niveaus notwendigen zeitaufwändigen Studien hinderten Paul Uiblein offenkundig an einer zügig 28 Elisabeth Tuisl, Die medizinische Fakultät der Universität Wien im Mittelalter. Von der Gründung der Universität 1365 bis zum Tod Kaiser Maximilians I. 1519 (Schriften des Archivs der Universität Wien 19, Göttingen 2014). 29 Elisabeth Tuisl, Die Medizinische Fakultät der Universität Wien im Mittelalter (Dipl. Wien 2008). 30 Johannes Seidl, Der Nachlass Paul Uibleins – eine bedeutende Quelle zur Erforschung der Frühgeschichte der Universität Wien. Ein Werkstattbericht, in: Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren 14.–16. Jahrhundert, hg. von Kurt Mühlberger–Meta Niederkorn-Bruck (VIÖG 56, Wien– München 2010) 213–219. 31  Wie Anm. 26. 32  Acta Facultatis Artium II (Liber Secundus Actorum Facultatis Artium): 1416–1447; UAW, Codex Ph 7. 33  Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis (Liber Tertius Actorum Facultatis Artium): 1447– 1497; UAW, Codex Ph 8. 34  Wie Anm. 27.

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voranschreitenden textkritischen Edition samt dazugehörigem prosopografischen Anhang von AFA II und AFA III. Um dieses sehr hoch gesteckte, überaus anspruchsvolle Ziel zu erreichen, hat Uiblein zahlreiche Materialsammlungen aufgebaut, die, für sich genommen, wertvolle Aufschlüsse und Erkenntnisse bringen, jedoch zu keinem abschließenden, abgerundeten Resultat führten. Um dem Leser einen Einblick in die prosopografisch relevanten Vorarbeiten Uibleins zu vermitteln, seien im Folgenden die wesentlichsten Materialien vorgestellt35. Beginnen möchte ich mit Nr. 16 und Nr. 17 aus Schachtel 4, die eine nahezu vollständige Transliteration von AFA II in zwei Teilen enthalten36. Leider sind in der Transkription nur kurze inhaltliche Anmerkungen Uibleins enthalten, die eine ausführliche Regestierung keinesfalls ersetzen. Zudem sind auch kaum prosopografische Anmerkungen zu finden. Diese sind an anderen Stellen aufgelistet worden, worauf noch zurückzukommen sein wird. In Schachtel 6, Nr. 23 finden sich Regesten aus AFA III (1447–1497)37. Im Gegensatz zu vielen der Uiblein’schen Nachlassmaterialien ist dieses Konvolut durchgängig maschinschriftlich abgefasst. Dies deutet auf eine besonders sorgfältige Arbeitsweise Uibleins hin, die wohl der Bedeutung dieser Materialsammlung geschuldet war. Wie Uiblein dem Verfasser mitteilte, wollte er AFA II und AFA III aufgrund des enormen Textumfangs sowie der immer mehr abnehmenden Kenntnis der lateinischen Sprache nicht mehr in Volledition bearbeiten, sondern die Akteninhalte nur mehr in Regestenform darstellen. In vorliegendem Konvolut gibt Uiblein minutiös den Inhalt jeder Fakultätssitzung ab dem Wintersemester 1447 an, wobei auch die in den AFA III enthaltenen Sitzungen des Universitätskonsistoriums wiedergegeben werden. Diese sind mit dem Zusatz „Univ.“ gekennzeichnet. Präzise erfasst sind die Namen des jeweiligen Dekans der Artistenfakultät, das jeweilige Semester, die Rechnungslegung (Computus) und die Bezahlung des Pedells, der im Normalfall 1 lb. d erhält. Ebenso werden Informationen zum Prüfungs- und Graduierungswesen genau verzeichnet. So findet man die genauen Datumsangaben für die Bakkalars- und Lizentiatsexamen. Ebenfalls hat Uiblein die Rezeptionen von Magistern anderer Universitäten verzeichnet. Z. B. wird ein gewisser Canutus de Ludosia, Bakkalar der Universität Erfurt, in der Sitzung vom 1. September 1448 zur Responsio zugelassen und in der Sitzung vom 13. Oktober gleichen Jahres rezipiert38.

  Der Nachlass Paul Uibleins trägt die Signatur AT-UAW/131.93.   Schachtel 4, Konvolut Nr. 16: AFA II, Teil 1: 1416–1429, Format A4: fol. 1r–99r, 458 fol.; Schachtel 4, Konvolut Nr. 17: AFA II, Teil 2: 1430–1447, Format A4, fol. 99r–182r; 365 fol. (maschinschriftlich). 37  Format A 4; 287 fol. (maschinschriftlich). 38  1448 X 13: Canutus de Ludosia wird als baccalarius alterius universitatis rezipiert (Schachtel 6, Nr. 23, fol. 3); 1451 IV 6: Nicolaus de Presnaw, baccalarius Cracoviensis, der jüngst respondierte, wird als Bakkalar in die Artistenfakultät aufgenommen (Schachtel 6, Nr. 23, fol. 14); 1462 VI 12: Johannes Chrueg von Dinkelsbühl, baccalarius alterius universitatis, wird rezipiert (Schachtel 6, Nr. 23, fol. 72); 1471 VI 8–10: Balthasar von Bopfingen, baccalarius Friburgensis, bewies seine Ehrbarkeit und seinen akademischen Grad durch ein Zeugnis, weshalb er zur Responsio zugelassen wird (Schachtel 6, Nr. 23, fol. 134). 35 36



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Durch die Regesten erhält man auch Einblicke in die Welt des universitären Alltags. So wird in der Sitzung vom 21. September 1448 ein strenges Regulativ für den Mietzins in den Bursen beschlossen. Den Conventoren wird darin ausdrücklich verboten, den Zins ohne Erlaubnis des Dekans oder der Consiliare zu erhöhen, widrigenfalls der Conventor den gesamten Zins für ein Studentenzimmer verliert39. In der Sitzung vom 25. Jänner 1455 befragte der Dekan der Artistenfakultät zahlreiche Scholaren, die in Kodreien wohnten, über ihre finanziellen Ausgaben. Dabei stellte sich heraus, dass sich 80 von ihnen durchaus in Bursen erhalten könnten. Andere wiederum gaben an, sie wären durchaus in der Lage, sich mithilfe elterlicher Unterstützung einen Wohnplatz in einer Burse zu leisten, würden jedoch ein Leben in mendicitas et libertas in Kodreien vorziehen40. Es ist besonders wichtig festzuhalten, dass Uiblein den gesamten dritten Band der AFA regestiert hat, was eine wertvolle Ergänzung und Erweiterung zu seiner Transliteration dieses Bandes darstellt, die nur bis zum Jahre 1473 reicht41. Wie bereits erwähnt, dürfte der Altmeister der spätmittelalterlichen Wiener Universitätsgeschichte vor der gewaltigen Textmenge kapituliert und den Entschluss gefasst haben, die AFA III bloß in Regestenform aufzuarbeiten. Allerdings muss auch hier festgehalten werden, dass die Regesten eher Inhaltsangaben gleichen und in der vorliegenden sprachlichen Form nicht publizierbar sind. Leider fehlen, wie bereits dargelegt, derartige Regesten für den zweiten Band der AFA. Hier ist nur eine nahezu lückenlose Transliteration Uibleins erhalten, die ebenso wie die Transkription der Teile von AFA III durch Abschrift maschinenlesbar gemacht wurde42. Schachtel 9, Nr. 43: Exzerpte und Namenslisten zu Lizentiaten und Magistern (1400–1500)43. Von größerem Interesse sind hierbei Angaben auf fol. 30, wo sich Informationen zu Magistern finden, die auch im 4. Band des Repertorium Germanicum44 behandelt werden. Die fol. 31 und 32 verzeichnen Magister, die bei Arthur Goldmann45 in dessen Beitrag zum 6. Band der Geschichte der Stadt Wien46 Erwähnung finden. Von fol. 33 bis 38v erstellte Uiblein eine komplette Liste der aus jeder Nation stammenden vier Examinatoren für das Bakkalariat im Zeitraum von 1385/86 bis 1497, also die Zeitspanne von AFA I bis AFA III umfassend. Die fol. 63–65 enthalten eine Auflistung von Wiener Bakkalaren, insbesondere aus AFA II, die an anderen Universitäten rezipiert wurden. Diese Zusammenstellung verdient durchaus Interesse, da sie Einblicke in die peregrinatio academica in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bietet.   Schachtel 6, Nr. 23, fol. 3.   Ebd. fol. 33. 41   Schachtel 5, Konvolut Nr. 20: maschinschriftliche Transliteration von AFA III, Teil 1: 1447–1453: fol. 1r–64r; A 4, 124 fol.; Schachtel 5, Konvolut Nr. 21: maschinschriftliche Transliteration von AFA III, Teil 2: 1453–1464: fol. 64v–161v; A 4, 210 fol.; Schachtel 5, Konvolut Nr. 22: AFA III, Teil 3: 1464–1473: fol. 161v–235r; A 4, 168 fol. 42   Die Abschrift des transliterierten Textes wurde von Cornelia Faustmann besorgt. 43   Format A 4; 76 fol. Teilweise maschinschriftlich, teilweise handschriftlich. 44   http://dhi-roma.it/index.php?id=rep_germ [19. 1. 2020]. 45   Vgl. Anm. 4. 46  Arthur Goldmann, Die Wiener Universität 1519–1740 (Geschichte der Stadt Wien 6, Wien 1918, Studie bereits 1916 fertiggestellt, Separatabdruck Wien 1917). 39 40

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Abb. 2: Schachtel 11, Konvolut Nr. 57: fol. 1 des Xerox der Rheinischen Nationsmatrikel mit handschriftlichen Notizen Paul Uibleins.



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Schachtel 11, Konvolut Nr. 57: Band 1 der Rheinischen Matrikel47 der Universität Wien48. Uiblein hat aus diesem Konvolut ein hervorragendes Material für eine Prosopografie gestaltet. Ein wenig erschwert wird die Benützung dieses Konvoluts durch mangelhafte Abbildung der Kodexseiten bei der Rückvergrößerung des Mikrofilms. Es fehlen auf der Rectoseite des Öfteren die wichtige Informationen enthaltenden Randvermerke, wie etwa das Todesjahr eines Nationsmitglieds, die nur durch ein Wenden auf die Versoseite lesbar werden. Diese Materialsammlung ist wesentlich besser handhabbar als die meisten übrigen halbfertigen Produkte von Uibleins Hand. Das Konvolut enthält eine bis zum Ende durchgeführte Foliierung in modernen arabischen Ziffern sowie konsequent die Semesterangaben. Bei zahlreichen Personen wurde von Uiblein auch das Immatrikulationsdatum in der Rektoratsmatrikel angeführt. Ebenso vermerkt sind Namen, die mit Nummern versehen und von einem Rechteck bzw. von einem Kreis umschlossen sind. Die einem Kreis eingeschriebenen Ziffern beziehen sich auf eine Bakkalarsliste, die von einem Rechteck umschlossenen Zahlen auf eine Auflistung der Magister. Beide Listen sind leider im Jahre 2003 nicht an das Universitätsarchiv gelangt, weshalb eine rasche Identifizierung der Graduierten sehr erschwert wird. Aufgelöst können die Nummerierungen nur durch Rückkoppelung mit den Namen werden, die sich auf den noch später zu besprechenden Karteikarten Uibleins befinden. An einer wenigstens rudimentären Neuerstellung der Liste der Artistenmagister von AFA II und AFA III wird gegenwärtig vom Verfasser gearbeitet. Es ist besonders erfreulich, dass Uibleins Aufzeichnungen nunmehr in eine wissenschaftliche Studie Eingang gefunden haben. Martin G. Enne wird in der für 2020 geplanten Drucklegung seiner Dissertation über die Rheinische Nation Informationen aus Uibleins Materialsammlung mit großem Nutzen verwenden. Schachtel 12, Nr. 65: Receptoria facultatis [artistarum] magistrorum et baccalariorum49. Es handelt sich hierbei um ein Ein- und Ausgabenbuch der Wiener Artistenfakultät aus dem Zeitraum vom Sommersemester 1429 bis zum Juli 1472 auf 73 fol. Uiblein verfasste eine Transliteration der ersten zehn Blätter (Sommersemester 1429 bis zum Wintersemester 1437 in Maschinschrift); von fol. 11 bis fol. 28 folgen handschriftliche Notizen, die nur mehr summarisch die Anzahl der Bakkalare und Magister bzw. die Bezahlung von deren Graduierungstaxen angeben. Darauf folgt ein komplettes Xerox der Handschrift, auf dem sich zahlreiche handschriftliche Anmerkungen Uibleins zu den Magistern und Bakkalaren des Codex befinden. Auch diese Materialsammlung ist somit eine wertvolle Vorarbeit zu einer Prosopografie der Graduierten der Wiener Artistenfakultät. Schachtel 18, Nr. 111: Verfasserlexikon, Namenslisten von Wiener Graduierten50. Es handelt sich um eine handschriftlich abgefasste Liste von Wiener Professoren, die in der 2. Auflage des Verfasserlexikons behandelt werden51. Die Gliederung erfolgte nach Bän47  Xerox mit handschriftlichen Vermerken Paul Uibleins; Format A 4; 488 fol. Das Xerox reicht von 1415 I bis 1531 II. Die Matrikel selbst wurde bis 1586 I weitergeführt. 48  UAW, Codex NR 1. 49  Format A 4; 55 fol. und ein Xerox; UAW, Codex Ph 21. 50  Handschriftlich; Format A 4; 14 fol. 51  Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 11 Bde., hg. von Kurt Ruh–Gundolf Keil–

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den: Bd. I bis IX. Hatten die Genannten die Wiener Artistenfakultät absolviert, hat Uiblein auch in roter Schrift und Kreis die Nummern seiner Magisterauflistung beigefügt, die aber, wie bereits erwähnt, leider nicht mehr erhalten ist. Mit Rechtecken sind Personen bezeichnet, die an der Theologischen Fakultät studierten. Es folgen handschriftliche Exzerpte Uibleins aus dem Verfasserlexikon, die sich auf bedeutende Schriftsteller (Autoren) des Spätmittelalters, wie etwa Veit Arnpeck, Thomas Ebendorfer von Haselbach, Johannes von Gmunden etc. beziehen. Schachtel 30, Nr. 19752: Exzerpte aus dem Repertorium Germanicum53. Uiblein exzerpierte gezielt aus den Bänden II bis IX des Repertorium Germanicum Stellen, die einen Bezug zu Studierenden und Graduierten der Universität Wien aufweisen. Sehr nützlich sind Anmerkungen betreffend die Immatrikulation der genannten Personen, da sie den Studienbeginn derselben markieren. Im Zusammenhang mit den noch zu besprechenden Magisterkarteien Uibleins bietet vorliegendes Konvolut eine durchaus ergiebige Basis für die Abfassung von Gelehrtenprosopografien der Alma Mater Rudolphina. Zudem wird auf diese Weise die studentische Vergangenheit kirchlicher Würdenträger transparent gemacht. Des Öfteren kommen auch die bereits erwähnten Verweise auf die nicht mehr existente Liste der Magister vor, wodurch auch der Studienabschluss der Genannten evident ist (z. B.: Repertorium Germanicum Andreas de Pruchsella: Mag. Nr. 556; Andreas Zirnberger de Salzburga: Mag. Nr. 964; Georg Mayr von Amberg: Mag. Nr. 550 etc.). Erschwert wird die Fruchtbarmachung dieser Notizen durch die schwere Lesbarkeit der Schrift von Paul Uiblein, was sich naturgemäß bei den zahlreichen Eigennamen negativ auswirkt.

Karteikarten Über die vielfältigen Informationen, die Uiblein in etwa 16.000 Karteikarten zusammengefasst hat, wurde vom Verfasser bereits 201054 ein kurzer Überblick gegeben. Im Folgenden soll das Augenmerk nur auf jene Materialien gelegt werden, die weiterführende, quellenbasierte prosopografische Inhalte bieten. Auch mehrere Karteikästen, die Material zu Bakkalaren der Artistenfakultät sowie zu Graduierten der höheren Fakultäten enthalten55, seien an dieser Stelle übergangen. Der Fokus soll auf drei Karteikästen liegen, welche Magister und Lizentiaten der Artistenfakultät im Zeitraum von 1416 bis 1497 behandeln, also jene Magister, die in AFA II und AFA III genannt werden. Des Näheren zu besprechen sind die Karteikästen 6 (AFA III: 1473–1497)56, 7 (AFA III: 1447–1473)57 und 8 (AFA II)58. Diese drei Karteikästen bilden das Herzstück der Materialsammlung Uibleins. Auf den Kärtchen finden sich Eintragungen zu rund 1.600 Magistern und Lizentiaten der Artistenfakultät, die zahlreiche Literatur- und Quellenbelege enthalten. Der Werner Schröder–Burghart Wachinger–Franz Josef Worstbrock (Berlin–New York 21978–2004). 52  Format A 4; 135 fol. 53  Siehe Anm. 44. 54   Seidl, Nachlass Paul Uibleins (wie Anm. 30). 55  Es handelt sich insbesondere um folgende Karteikärtchen: 131.93.2: Bakkalare der Artistenfakultät 1416–1447; 131.93.3: Bakkalare der Artistenfakultät 1472/73–1497; 131.93.4: Personen aus den ersten beiden Bänden der Juristenmatrikel 1401–1500; 131.93.5a–5b: Bakkalare der Artistenfakultät 1447–1473 (2 Teile). 56 131.93.6. 57 131.93.7. 58 131.93.8.



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Vorteil gegenüber dem Artistenregister, das über die Homepage des Wiener Universitätsarchivs digital verfügbar ist59, besteht in der einmaligen Nennung der Graduierten und der Subsummierung der prosopografischen Daten unter dem entsprechenden Eintrag, was ein Aufsuchen verschiedener Eintragungen ein- und dieselbe Person betreffend unnötig macht. Gegenüber dem Repertorium Academicum Germanicum60 hat Uibleins Materialsammlung den Vorteil, dass deutlich mehr Informationen zu den einzelnen Graduierten geboten werden. Zudem scheint es, dass (noch) nicht alle Magister der Wiener Artistenfakultät in der elektronischen Abfrage aufgefunden werden können. Uibleins Eintragungen hingegen enthalten Informationen nicht nur über den gesamten Studienverlauf an der Artistenfakultät sowie im Fall eines weiteren Studiums an den höheren Fakultäten, sondern auch die genauen Titel und die Semester der Vorlesungen. Ebenso wird der postuniversitäre Karriereweg der Graduierten genau beschrieben. Ein sehr großes Hindernis für die Verwertung der Karteikarten bietet deren grafische Darstellung. So sind sämtliche Kärtchen händisch beschrieben, wobei Uibleins Schrift auch in diesem Fall schwer lesbar ist. Zudem verwendete er häufig eine individuelle Kurzschrift, die das Verständnis vieler Eintragungen sehr erschwert.

Endbemerkung und Ausblick Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, welche wesentlichen Materialien zur spätmittelalterlichen Universitätsgeschichte Paul Uiblein der Nachwelt hinterlassen hat. Die Heterogenität ebenso wie die schlechte Überlieferung (Schrift, teilweise Kurzschrift) und die Unvollständigkeit zahlreicher Eintragungen lassen diese im besten Fall halbfertigen Produkte für sich nicht publizierbar erscheinen. Erst durch mühevolle Zusammenschau der einzelnen Materialien könnte ein Versuch gewagt werden, diese für die weitere Forschung fruchtbar zu machen. Bei dem eindeutigen Überhang an biografisch relevantem Material wäre wohl am ehesten an einen prosopografischen Katalog der Graduierten, insbesondere der Magister der Artistenfakultät, zu denken. Dies wäre ein überaus mühseliges Unterfangen, müsste doch eine genaue Zusammenschau der in vorliegendem Beitrag genannten Materialien erfolgen, die zudem noch einer gewissenhaften Überprüfung anhand originaler Quellen und Literatur zu unterziehen wären. Sodann müsste auch eine über die Uiblein’schen Sammlungen hinausgehende Sichtung der prosopografischen Fundstellen in jüngeren Publikationen erfolgen. Trotz dieser große Mühewaltung erfordernden Arbeiten hat der Verfasser vor geraumer Zeit den Entschluss gefasst, gemeinsam mit Martin G. Enne, Elisabeth Tuisl, Daniela Angetter und Angelika Ende einen prosopografischen Katalog der in AFA II genannten Magister zu erstellen61. Sollte dieses Vorhaben gelingen, wäre zumindest ein Anschluss an Uibleins mustergültige Prosopografie in AFA I gewahrt und die Erforschung der Geschichte der Universität Wien und damit eines wesentlichen Teils des österreichischen Geisteslebens um ein Mosaiksteinchen reicher. 59   Wiener Artistenregister 1416–1555, bearb. von Thomas Maisel–Andreas Bracher–Ingrid Matschi­ negg, https://phaidra.univie.ac.at/view/o:217 [19. 1. 2020]. 60  Repertorium Academicum Germanicum. Die graduierten Gelehrten des Alten Reiches zwischen 1250 und 1550, https://rag-online.org/datenbank/datenbank [19. 1. 2020]. 61  Einige Beispiele werden in Anhang 2 gegeben.

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Anhang 1 Stand der Edition der Wiener Universitätsmatrikel (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. VI. Reihe: Quellen zur Geschichte der Universität Wien. 1. Abteilung) Band 1: 1377–1450, bearb. von Franz Gall (Graz 1956). XXVI, 712 S. Band 2: 1451–1518/I [Text], bearb. von Franz Gall–Willy Szaivert (Graz–Wien–Köln 1967). XXII, 454 S. [Register,] bearb. von Willy Szaivert (Graz–Wien–Köln 1967). 739 S. Band 3: 1518/II–1579/I, bearb. von Franz Gall–Willy Szaivert (Wien–Köln–Graz 1971). 455 S. Band 4: 1579/II–1658/59, bearb. von Franz Gall–Hermine Paulhart (Wien–Köln– Graz 1974). 608 S. Band 5: 1659/60–1688/89, bearb. von Franz Gall–Marta Szaivert (Wien–Köln–Graz 1975). XL, 333 S. Band 6: 1689/90–1714/15, bearb. von Kurt Mühlberger–Walter Schuster (Wien– Köln–Weimar 1993). XXVI, 387 S. Band 7: 1715/16–1745/46, hg. von Kurt Mühlberger, bearb. von Ulrike Denk–Nina Knieling–Thomas Maisel–Astrid Steindl (Wien–Köln–Weimar 2011). XXXIX, 500 S., https://e-book.fwf.ac.at/view/o:213 [19.1.2020]. Band 8: 1746/47–1777/78, hg. von Kurt Mühlberger, bearb. von Ulrike Denk–Nina Knieling–Thomas Maisel–Astrid Steindl (Wien–Köln–Weimar 2014). XXXVII, 671 S., http://e-book.fwf.ac.at/o:417 [19.1.2020]. Band 9: 1778/1779–1832/33. hg. von Thomas Maisel, bearb. von Birgit Heinzle–Sonja Lessacher (in Bearbeitung).

Anhang 2 Einige Beispiele für einen prosopografischen Katalog der Wiener Magister der Artistenfakultät aus AFA II Der Katalog ist wie folgt gegliedert: Normalisierter moderner Name mit Auflösung der zumeist latinisierten Herkunftsbezeichnung und Verortung nach modernen administrativen Gegebenheiten; die Originalnennungen in den AFA werden in Klammern hinter dem Namen angefügt. Es werden stets die Belegstellen in den Quellen und der Literatur angeführt. Die Eintragungen sollen folgende Informationen enthalten: Immatrikulation; Studium an der Artistenfakultät; evtl. Funktionsträger an der Artistenfakultät (z. B. Dekan); Vorlesungen an der Artistenfakultät; Studium an einer höheren Fakultät; evtl. Funktionsträger an einer höheren Fakultät; Immatrikulation und evtl. Funktion in einer akademischen Nation; evtl. außeruniversitäre Karriere. Verwendete Abkürzungen: b. a. = baccalarius artium; bacc. = baccalarius, baccalaureus; bacc. decr. = baccalarius decretorum (Bakkalar des kanonischen Rechts); dom. = dominus; dr. decr. = doctor decretorum (Doktor des kanonischen Rechts); dr. theol. = doctor



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theologiae; Dtld. = Deutschland; gr. = grossi, grossos (Groschen); lic. a. = licentiatus in artibus; lic. decr. = licentiatus decretorum (Lizentiat des kanonischen Rechts); Lkr. = Landkreis; m. a. = magister artium; PB = Politischer Bezirk; RB = Regierungsbezirk. – Abgekürzt zitierte Quellen und Literatur: Aschbach 1 = Joseph Aschbach, Geschichte der Wiener Universität 1: Geschichte der Wiener Universität im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Festschrift zu ihrer fünfhundertjährigen Gründungsfeier (Wien 1865); Carlsson 1960 = Gottfrid Carlsson, Strödda Meddelanden och Aktstycken. Härlöv och Wien. Axplock ur en universitetsmatrikel. Historisk Tidskrift 80 (1960) 145–150; Carlsson 1929 = Gottfrid Carlsson, Mäster Beros af Lödöse Bibliotek. Nordisk Tid­ skrift för Bok- och Biblioteksväsen 9 (1929) 129–142; Enne, Rheinische Matrikel (2010) (wie Anm. 15); Enne, Rheinische Matrikel (2017) (wie Anm. 16); Göhler, Domkapitel = Hermann Göhler, Das Wiener Kollegiat-, nachmals Domkapitel zu St. Stephan in Wien 1365–1554, hg. von Johannes Seidl–Angelika Ende–Johann Weissensteiner (Wien–Köln–Weimar 2015); Paul Lehmann, Skandinaviens Anteil an der lateinischen Literatur und Wissenschaft des Mittelalters, in: ders., Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze 5 (Stuttgart 1962) 275–429; Lohr = Charles H. Lohr S. J., Medieval Latin Aristotle Commentaries. Authors A–F. Traditio 23 (1967) 313–413; Mühlberger–Seidl, MJ I (wie Anm. 18); MUW I = Die Matrikel der Universität Wien 1 (siehe Anhang 1); Schrauf, Magyaroszági tanulók = Karl Schrauf, Magyarországi tanulók a Bécsi egyetemen (Magyarországi tanulók külföldön 2, Budapest 1892); Uiblein, AFTh (wie Anm. 27); Uiblein Mag. Nr. = UAW, Nachlass Paul Uiblein, Karteikarten. In diesen sind die Magister in alphabetischer Reihenfolge mit Nummern versehen; Zschokke, Metropolitan-Capitel = Hermann Zschokke, Geschichte des Metropolitan-Capitels zum Heiligen Stephan in Wien (Wien 1895). – Fachtermini: Incepcio: Zulassung zum Magisterium; Regenz: Vorlesungstätigkeit der Magistri artium nach ihrer Graduierung an der Universität; Tentamen: Prüfung zum Lizentiat. Andreas von Perchtoldsdorf (Andreas de Pertholstorff, Perchtoldstorff, Perchtoldorf) (131.93.8.987–988) (Uiblein Mag. 254) Perchtoldsdorf, PB Mödling, NÖ MUW I 1425 I A 21: Andreas Veifach de Perchtoltsdorff p(auper) AFA II: Incepcio bewilligt 3. III. 1431 (lic. a.) (fol. 107r) m. a. 1431 (fol. 109r) Regenz bewilligt 2. I. 1432 (fol. 110v) Regenz bewilligt 14. IV. 1433 (fol. 116v) Examinator für Bakkalariat (sächs. Nation) 25. I. 1437 (fol. 129r) Examinator für Bakkalariat (österr. Nation) 28. II. 1439 (fol. 134v) Vorlesungen: Posteriorum 1. IX. 1431 (fol. 109r); Obligatoria Holandrini 1. IX. 1432 (fol. 112v); Insolubilia Holandrini 1. IX. 1433 (fol. 117v); Methaphysica 1. IX. 1434 (fol. 121r); 2us und 3us Tractatus Petri Hispani 1. IX. 1435 (fol. 123v); De generacione 1. IX. 1437 (fol. 129r); Liber posteriorum 1. IX. 1438 (fol. 132v); Elencorum 1. IX. 1439 (fol. 137r); Parva naturalia 1. IX. 1440 (fol. 142v) Juridische Fakultät: Mühlberger–Seidl, MJ I, 1432 I 8: Item Mag. Andreas Feynokh de Berchtoltstorf 2 gr. (?)

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Andreas Sandberg (Andreas Santperg, Santtperg, Sandperger) (131.93.8.1010–1011) (Uiblein Mag. 172) Sandberg, poln. Susz, Woiwodschaft Ermland-Masuren, Polen MUW I 1419 II2 S 4: Andreas de Hamerstain dedit 2 gr., residuum obligatur Hammerstein, poln. Czarne, Woiwodschaft Pommern, Polen AFA II: Zugelassen zum Bakkalariat 11. VII. 1423 (fol. 61r) lic. a., Incepcio bewilligt 12. III. 1427, m. a. 1427 (fol. 84v) Examinator für Bakkalariat (sächsische Nation) 6. XII. 1427 (fol. 89v) Vorlesungen: Arismetrica communis 1. IX. 1427 (fol. 88r); Latitudines formarum 1. IX. 1428 (fol. 92r); Elencorum 1. IX. 1429 (fol. 97r) Juridische Fakultät: Mühlberger–Seidl, MJ I 1428 II 5: Mag. Andreas Santperg 2 gr. Andreas Wal (Wall) von Balzheim (de Walzham, Balsham, Balshaim, Palczhaim, Walsham, Walshaym) (131.93.8.984–985) (Uiblein Mag. 436) Ober- und Unterbalzheim, Lkr. Alb-Donau-Kreis, RB Tübingen, Baden-Württemberg, Dtld. MUW I 1438 II A 14: Andreas Wall de Balshaim 4 gr. AFA II: Zugelassen zum Bakkalariat 13. X. 1440 (fol. 143r) Präsentation zum Tentamen 2. I. 1442 (fol. 148r) lic. a. 1442; Incepcio bewilligt 12. III. 1442 (fol. 149r) m. a. 1442 Regenz bewilligt 29. XI. 1442 (fol. 153v) Examinator für Bakkalariat (ungar. Nation) 11. XII. 1444 (fol. 167v) Examinator für Lizentiat 7. I. 1445 (fol. 168r) Regenz bewilligt 3. IV. 1445 (fol. 169v); 5. I. 1446 (fol. 173r); 3. V. 1446 (fol. 174r) Vorlesungen: Posteriorum 1. IX. 1443 (fol. 158r); De celo et mundo 1. IX. 1444 (fol. 165v); Ethicorum 1. IX. 1446 (fol. 176r); Parva naturalia 1. IX. 1445 (fol. 171r); Rheinische Nation: Enne, Rheinische Matrikel (2010) 163 (fol. 65r – 1438 II): Scholar Andreas Wall de Walshaim; 176 (fol. 69v – 1440 II): Baccalarius Andreas Wall de Walczhaim; 185 (fol. 72v – 1442 I): Magister Andreas Wall de Palsshain Bero von Lödöse (Bero de Ludosia) (131.93.8.1092–1096) (Uiblein Mag. 278) Lödöse, Gotland, Schweden MUW I 1429 II S 3: Bero de Ludosia 4 gr. AFA II: Zugelassen zum Bakkalariat 26. V. 1431 (fol. 108r) lic. a., Incepcio bewilligt 8. III. 1433 (fol. 115v) m. a. 1. IX. 1433 (fol. 117v) Examinator für Bakkalariat (sächs. Nation) 6. XII. 1434 (fol. 122r) Consiliarius (sächs. Nation) 12. IV. 1435 (fol. 123r) Examinator für Bakkalariat (sächs. Nation) Regenz bewilligt 14. IV. 1436 (fol. 125v) Examinator für Lizentiat 4. I. 1437 (fol. 127v) Consiliarius (sächs. Nation) 14. IV. 1437 (fol. 128v) Examinator für Bakkalariat (sächs. Nation) 20. IX. 1437 (fol. 129v) Regenz bewilligt 29. VI. 1438 (fol. 131v) Examinator für Bakkalariat (sächs. Nation) 26. V. 1442 (fol. 150r) Consiliarius (sächs. Nation) 13. IV. 1443 (fol. 156v)



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Regenz bewilligt 10. VIII. 1443 (fol. 158r) Consiliarius (sächs. Nation) 14. IV. 1444 (fol. 170r) Amtiert als sächs. Consiliarius betreffend die Disputatio de quolibet 8. IX. 1445 (fol. 171v) Artistendekan: 9. IV. 1446 (fol. 173v, 174r) Rezeptor 1446 II, rechnet als solcher ab 3. V. 1447 (fol. 179r) Examinator für Lizentiat [I] 1447 (fol. 178r) Consiliarius (sächs. Nation) 13. X. 1447 (fol. 182r) Vorlesungen: De generacione et corrupcione 1. IX. 1433 (fol. 117v); Phisicorum 1. IX. 1434 (fol. 121r); Vetus ars 1. IX. 1435 (fol. 123v); Latitudines formarum 1. IX. 1437 (fol. 129r); Metheororum 13. X. 1437 (fol. 130r); Vetus ars 1. IX. 1438 (fol. 132v); Vetus ars 1. IX. 1443 (fol. 158r); Vetus [ars] 1. IX. 1446 (fol. 175v) Theologische Fakultät: Uiblein, AFTh 629: Cursor biblicus 1439 I (?); Sententiarius 1443 II; bacc. form. theol. 1465 I; lic. theol. 1465 I Göhler, Domkapitel 600 (Reg.); Zschokke, Metropolitan-Capitel 384 Nr. 185: Kanoniker von Sankt Stephan in Wien 1464 (bis vor 3. IX. 1465) † 1465 Aschbach I, S. 526; Carlsson 1929 129–142; Carlsson 1960 146, 149f.; Lehmann, Skandinaviens Anteil 320; Lohr 380 Siehe auch den Eintrag in der schwedischen Wikipedia: https://sv.wikipedia.org/wiki/ Bero_Magni_de_Ludosia#Bibliografi. [19. 1. 2020]. Johannes Augustini von Pâncota (Banckota, Bankata, Pankatha, Pankata) (131.93.8.1535–1537) (Uiblein, Mag. 375) Pâncota, (ung. Pankota), Kreis Arad, Rumänien MUW I 1425 II H 40: Johannes Augustini de Pankota 3 gr. AFA II: Zugelassen zum Bakkalariat 13. X. 1435 (fol. 124r) Licenciatus, Incepcio bewilligt 12. III. 1439 (fol. 134v) m. a. – Regenz bewilligt 27. V. 1439 (fol. 136r) Examinator für Bakkalariat (ung. Nation) 11. XI. 1440 (fol. 143r) Examinator für Lizentiat 7. I. 1441 (fol. 143v) Regenz bewilligt – Lecciones werden angerechnet – 1. IX. 1441 (fol. 146r), 25. II. 1442 (fol. 149r) Consiliarius (ung. Nation) 14. IV. 1442 (fol. 149r) Erhält Schlüssel für die Bibliothek 14. IV. 1447 (fol. 179r) Examinator für Bakkalariat (ung. Nation) 15. IX. 1447 (fol. 182r) Vorlesungen: Perspectiva communis 1. IX. 1439 (fol. 137v), Latitudines formarum 13. X. 1440 (fol. 143r), 2us et 3us Tractatus Petri Hispani 1. IX. 1441 (fol. 146r) Johannes Peterle(c)hner (Peterlechner, Peterlener) von Burghausen (Purkhausen, Purkhawsen) (131.93.8.1553– 1554) (Uiblein, Mag. 67) Burghausen, RB Oberbayern, Bayern, Deutschland MUW I 1418 I R 29: Johannes Peterlener de Porchhusa 4 gr. AFA II: Zugelassen zum Bakkalariat 2. I. 1419 (fol. 28r) b. a., wird präsentiert für Tentamen 2. I. 1422 (fol. 47r) lic. a., Incepcio und Regenz bewilligt 22. III. 1422 (fol. 50v) m. a.: 1422, genannt bis 1424 (fol. 54v; 65r)

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Vorlesungen: Donatus 1. IX. 1422 (fol. 54v), 2us et 3us Tractatus Petri Hispani 1. IX. 1423 (fol. 62v) Juridische Fakultät: Mühlberger–Seidl, MJ I, 1423 I 11: Mag. Johannes Lehener de Purchhawsen 2 gr. Rheinische Nation: Enne, Rheinische Matrikel (2010) 97 (fol. 41v – 1422 II): Magister Johannes Peterlehner. Konrad (Cados) von Emerkingen (Conradus de Emerchingen) (131.93.8.1173–1174) (Uiblein Mag. 347) Emerkingen, Lkr. Alb-Donaukreis, RB Tübingen, Baden-Württemberg, Dtld. MUW I 1433 II R 16: Conradus Cados de Emerkingen 4 gr. AFA II: Zugelassen zum Bakkalariat 2. I. 1436 (fol. 125r) lic. a., Incepcio bewilligt 7. III. 1438 (fol. 131r) m. a. 31. V. 1438 (fol. 131v) Regenz bewilligt 1. IX. 1438 (fol. 132r) Regenz bewilligt 14. IV. 1440 (fol. 141v) Vorlesungen: Donatus minor 1. IX. 1438 (fol. 132v), Parva naturalia 1. IX. 1440 (fol. 142v) Rheinische Matrikel: Enne, Rheinische Matrikel (2010) 141 (fol. 58r – 1435 II): Conradus de Emerkingenn Theoderich von Radolfzell (Theodericus de Czella Ratolfi, Cella Ratholffi) (131.93.8.1226) (Uiblein Mag. 495) Radolfzell am Bodensee, Lkr. Konstanz, RB Freiburg, Baden-Württemberg, Dtld. MUW I 1438 I R 127: Theodricus Vogt de Cella Ratolfi 4 gr. AFA II: Zugelassen zum Bakkalariat 13. X. 1440 (fol. 143r) Incepcio suspendiert 2./3. I. 1444 (fol. 162r) lic. a. 8. III. 1444 (fol. 163r) AFA III: m. a. 1449 (fol. 11v; fol. 18r; 27v); genannt bis 1450: Erhält 11. XI. 1450 Bibliotheksschlüssel Vorlesung: 2. Liber grecismi 1. IX. 1450 (fol. 37v) Theologische Fakultät: Uiblein, AFTh 701 Cursor biblicus 1452 I Rheinische Matrikel: Enne, Rheinische Matrikel (2010) 180 (fol. 71r – 1441 II): Baccalarius Theodricus Focht de cella Rudolffi; Enne, Rheinische Matrikel (2017) 128 (fol. 89v – 1448 II): Magister Theodoricus Fockt de Cella Ratolffi

Yo el rey Karl VI. und das eigenhändige Schreiben Stefan Seitschek

Die Tagebücher Kaiser Karls VI. dokumentieren direkt und indirekt seine Schreibtätigkeit. Nicht nur die von 1707 bis 1740 trotz einiger Lücken vorhandenen Einträge zu den jeweiligen Tagesereignissen, sondern vor allem die zahlreichen, zumeist mehrfach am Tag dort notierten Hinweise auf Depeschen bzw. Depeschieren, Schreiben, Unterschreiben oder vereinzelt auch Lesen verdeutlichen, neben den zahlreich erhaltenen eigenhändigen Schriftzeugnissen, eindrücklich eine beinahe pedantische Schreibpraxis1. Diese stellt den letzten Habsburger im Mannesstamm in eine Reihe von „Bürokraten“ auf dem Thron, die von Friedrich III., Maximilian I., Philipp II. bis zu Franz II. (I.) und schließlich Franz Joseph reicht. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit ausgewählten Zeugnissen dieser Schreibpraxis2. Dabei interessieren direkte sowie indirekte Belege der Schreibpraxis Karls VI., also auch Verweise auf Schreiben bzw. Korrespondenzen in den Quellen.

Erziehung und Sprachbeherrschung Am Beginn steht die Frage nach den Sprachkompetenzen Karls VI. Biographien des 18. Jahrhunderts verwiesen jedenfalls auf das Interesse des Erzherzogs an Künsten und Kenntnissen der Wissenschaften in seiner Ausbildung3. Das Erlernen von Sprachen war 1   Zu den Tagebüchern Stefan Seitschek, Die Tagebücher Kaiser Karls VI. zwischen Arbeitseifer und Melancholie (Horn 2018). Zusammenfassend Oswald Redlich, Die Tagebücher Kaiser Karls VI., in: Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich Ritter von Srbik (München 1938) 141–151. – Abkürzungen: ÄZA  =  Ältere Zeremonialakten; FHKA = Finanz- und Hofkammerarchiv; GFK = Geheime Finanzkonferenz; HA SB = Sammelbände des Hausarchivs; KA = Kriegsarchiv; OMeA = Hofarchive, Obersthofmeisteramt; ZAProt. = Hofzeremonielldepartement, Zeremonialprotokolle. 2   Am Beginn muss betont werden, dass es sich bei vorliegendem Beitrag um eine erste Zusammenstellung als erstes Ergebnis der Archivrecherchen des Autors handelt. Manche Ergebnisse werden daher künftig konkreter gefasst werden können oder gar revidiert werden müssen. Beinahe gänzlich fehlt etwa der Blick auf graphische Skizzen Karls, wie diese etwa für den älteren Bruder Joseph überliefert sind; s. dazu Michael Hochedlinger, Fadesse oblige oder: Die Macht der Triebe. Die Handzeichnungen Kaiser Josephs I. Aktenkundliche Beobachtungen an allerhöchstem Memorialschreibwerk, in: Beruf(ung) Archivar. Festschrift für Lorenz Mikoletzky (MÖStA 55, Innsbruck 2011) 785–814. – An dieser Stelle sei vor allem auch Kollegen gedankt, die mich bei meinen Recherchen unterstützt haben. Besonders erwähnen möchte ich dabei Stephan Buchon, Hüseyin Onur Ercan und Pia Wallnig. 3  Gottlob Benedict Schirach, Biographie Kaisers Carls des Sechsten (Halle 1776) 2.

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ein wesentlicher Punkt bei der Erziehung der kaiserlichen Kinder4. Der Literatur ist zu entnehmen, dass der Erzherzog neben Deutsch auch Latein, Spanisch, Italienisch, Französisch, Tschechisch oder Ungarisch, die Kaiserin neben Deutsch Italienisch, Französisch und auch Spanisch bzw. Katalanisch beherrschte5. Wie andere Diplomaten berichtete San Martino davon, dass Karl VI. bei den Audienzen undeutlich sprach, er selbst nur wenige Worte des Kaisers verstand. Dieser hätte in der Sprache geantwortet, in der er angesprochen wurde6. Der Wiener Hof und seine Mitglieder waren jedenfalls polyglott, was letztlich eine Voraussetzung für eine Karriere bei Hof, in der Verwaltung und der kaiserlichen Diplomatie war. Nur so konnte man die aufgetragenen Aufgaben erfüllen, weshalb Sprachen wesentlicher Teil des adeligen Erziehungskanons waren. Die verwendete Sprache war dabei anlassbezogen.. Die Undeutlichkeit der Aussprache des Kaisers korrespondierte mit der schweren Lesbarkeit der kaiserlichen Handschrift. Immer wieder sind zeitgenössische Transkriptionen kaiserlicher Resolutionen in den Protokollen oder Akten sowie ganzen Schreiben vorzufinden (s. weiter unten). Insbesondere die Schreibschrift stellt den Leser aufgrund des schmalen Mittelbandes und der langen, sich überlappenden Ober- und Unterlängen vor gewisse Herausforderungen. Deutlicher ist hingegen die Rundschrift des Kaisers, etwa bei lateinischen bzw. nicht-deutschen Texten oder Wörtern. Neben dem Schreiben wurden aber auch die anderen Fächer des typischen Erziehungskanons unterrichtet. Ein Beleg der historischen Erziehung, die insbesondere Gewicht auf die Geschichte und tugendhaftes Verhalten innerhalb der eigenen Dynastie legte, sind die handschriftlich durch Karl VI. verfassten Codices in der Österreichischen Nationalbibliothek. Die Verwendung bzw. Erstellung von Lehrbüchern zur Erziehung der habsburgischen Kinder lässt sich bereits früh fassen7. Die wohl von dem Lehrer Andreas Bauer zusammengestellten Texte sind 4 Sabine Weiss, Zur Herrschaft geboren. Kindheit und Jugend im Haus Habsburg von Kaiser Maximilian bis Kronprinz Rudolf (Innsbruck–Wien 2008) 83–90, bes. 88–90. Joseph I. sollte Sprachen etwa v. a. durch Konversation erlernen, wie es auch sein Vater Leopold getan hatte (ebd. 84). 5   Etwa Charlotte Backerra, Wien und London, 1727–1735. Internationale Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 253, Göttingen 2018) 116; Alphons Lhotsky, Kaiser Karl VI. und sein Hof im Jahre 1712. MIÖG 66 (1958) 52–80, hier 63; Bernd Rill, Karl VI. Habsburg als barocke Großmacht (Graz–Wien–Köln 1992) 25; Weiss, Herrschaft (wie Anm. 4) 90. Deutsch wurde erst spät tatsächlich unterrichtet, einen frühen Hinweis dazu gibt es jedoch bei der Erziehung Karls VI. (ebd.). Bereits die Zeitgenossen wiesen auf die Sprachkenntnisse Karls hin, z. B. Johann Basilius Küchelbecker, Allerneueste Nachricht vom Römisch=Kayserlichen Hofe … (Hannover 1732) 147. Ein Biograph notierte 1721: „dieser heran wachsende Printz/ vieler Ausländer Sprachen vollkommen lernte und verstunde/ so gar/ daß itzo Ihro Kayserl. Majestät die Teutsche/ Spanische Französische Italienische Ungarische/ Böhmische/ Lateinische und noch mehr andere Sprachen dergestalt parliren und reden/ daß sie von jeder Nation in ihrer Sprache vollkömml. können verstanden werden“. Wunderwürdiges Leben und Groß-Thaten Ihro Jetzt-Glorwürdigst-Regierenden Kayserl. und Catholischen Majestät Caroli des Sechsten (Nürnberg 1721) 218. 6  Lhotsky, Hof (wie Anm. 5) 57f.; kurz auch Backerra, Wien (wie Anm. 5) 116. 7  Z. B. zu Maximilian s. Heinrich Fichtenau, Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift (Hamburg 1961); Weiss, Herrschaft (wie Anm. 4) 151–170; Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, 5 Bde. (Wien 1971–1986) 1 73–86, bes. 74f. Allgemein Weiss, ebd. 85–88. Zur Erziehung Karls VI. János Kalmár, Ahnen als Vorbilder. Der vom späteren Kaiser Karl VI. in seinen Jugendjahren verfasste Kanon der Herrschertugenden, in: Adel im „langen“ 18. Jahrhundert, hg. von Gabriele Haug-Moritz et al. (Zentraleuropa-Studien 14, Wien 2009) 43–60; Friedrich Polleross, Monumenta Virtutis Austriacae. Addenda zur Kunstpolitik Kaiser Karls VI., in: Kunst, Politik, Religion: Studien zur Kunst in Süddeutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei. Festschrift für Franz Matsche zum 60. Geburtstag, hg. von Markus Hörsch (Petersberg 2000) 99–122, hier 100–106. Zu Maximilians eigenen Schreibfähigkeiten kurz Wiesflecker, ebd. 75 (mit weiterführender Literatur). Schließ-



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in einem Prunkmanuskript überliefert, das Herrschertugenden und tugendhaftes Verhalten anhand klassischer Zitate sowie mit Exempla aus dem Haus Habsburg, insbesondere von den kaiserlichen und landesfürstlichen Mitgliedern der Familie, darlegte (Rudolf I., Maximilian I., Karl V., Rudolf II. oder insbesondere Leopold I.) und damit antimachiavellistische Züge trägt8. Die vorliegenden Hefte in der Nationalbibliothek schrieb der junge Erzherzog eigenhändig. Das Theatrum Austriacum ist vornehmlich in Italienisch verfasst und enthält lateinische Passagen bzw. Zitate aus der Literatur. Genannt werden vornehmlich biblische sowie klassische Werke (Cicero, Seneca, Horaz, Quintus Curtius, Plutarch, Sueton, Cassiodor, Sokrates usw.). Grundsätzlich folgen auf die Überschrift und Einleitung auf Italienisch zum jeweiligen Thema mit Referenzen zu Personen und Ereignissen der dynastischen Geschichte die entsprechenden Zitate. Festzustellen ist jedenfalls, dass auch die Zitate griechischer Autoren in Latein angeführt werden. Besonders hervorzuheben ist auch eine Illustration zu Beginn9. Die zweite Handschrift in Italienisch sowie die enthaltenen lateinischen Zitate behandeln die Tugenden der Habsburger noch ausführlicher (Frömmigkeit, Milde, Gehorsam sowie Respekt vor Eltern und Lehrern, Zusammenhalt des Hauses Habsburg, Bescheidenheit, Maßhalten, Güte, Wohltätigkeit gegenüber den Armen, Gerechtigkeit, Geduld, Weisheit, Stärke und Tapferkeit usw.). Daneben wird ebenso auf das für einen guten Herrscher notwendige Interesse für die Künste und Wissenschaften, ritterliche sowie militärische Übungen oder die Jagd verwiesen10. Im Titel dieser Handschrift wird auch auf die Eigenhändigkeit (manu propria in has paginas transtuli Carolus archidux Austriae) verwiesen11. Es werden also durchaus klassische „ritterliche“ Tugenden bzw. Fähigkeiten angeführt. Zur Schrift ist anzumerken, dass es sich dabei gemäß den verwendeten Sprachen um eine Rundschrift handelt, wobei man durchaus den Eindruck gewinnt, dass der zehn- bzw. elfjährige Erzherzog mit der Schrift experimentierte12. Auffällig scheint dies etwa bei den in den Überschriften sowie auch im Text lich wurden auch im Unterricht der Kinder Maria Theresias aus diesem Anlass entworfene Tafelwerke eingesetzt. Weiss, Herrschaft 94f.; Thomas Kuster, Über Erziehung und Bildung im Zeitalter der Aufklärung, in: Prinzenrolle. Kindheit vom 16. bis 18. Jahrhundert. Eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien, hg. von Wilfried Seipel (Wien 2007) 212–216, vgl. Kat. Nr. 6.13 u. 6.14. Allgemein zur Erziehung bei den Habsburgern etwa Weiss, ebd. 64–124, die Karl VI. und seine Geschwister mehrfach erwähnt; ebd., 66, 75f., 83f., 90f., 99, 104, 111, 114f. 8  Zum Prunkmanuskript (Chicago, Newberry Library Wing MS fZw 1.696) Mayumi Ohara, Theatrum Austriacum. An illustrated „Speculum Principis“ for Archduke Karl of Austria. Jissen Women’s University Aesthetics and Art History 9 (1994) 1–25. Vgl. Kalmár, Ahnen (wie Anm. 7) 44; Polleross, Monumenta (wie Anm. 7) 100f. u. Abb. 1. 9  Eine ähnliche Darstellung zeigt im Übrigen das Blatt zur Ehrenimmatrikulation Karls in die Universitätsmatrikel 1703, wobei die Devise Virtute Patrum am unteren Bildfeld und nicht im Schnabel des Adlers steht. Wien, Universitätsarchiv, NA 2, Matrikel Österreichische Nation, fol. 10a. An diesen Stellen ist jedenfalls eine frühe Devise des Erzherzogs zu fassen. Zu dieser Polleross, Monumenta (wie Anm. 7) 103. 10  Kalmár, Ahnen (wie Anm. 7) 47–49. 11   ÖNB, Cod. 12.800. Ausführlich dazu Kalmár, Ahnen (wie Anm. 7). Konkret wird sogar der Abfassungszeitraum zwischen Jänner und April 1696 genannt. Im Katalog der Nationalbibliothek werden beide Bände (Cod. 12.800 und 12.801) unter dem gleichen Titel (Theatrum Austriacum seu virtutum Austriacorum principum compendium) geführt (als Band I und II). Zur vom Lehrer Andreas Pau(e)r (Bauer) als Vorlage zusammengestellten Schrift bes. Kalmár, Ahnen 59f.; Polleross, Monumenta (wie Anm. 7) 101. Auffallend ist insbesondere für den ersten Band (12.800), dass dieser in knapp über 20 Abschnitte unterteilt ist, die durch teilweise stark verschnörkelte Füllstriche am Ende dieser in an „Lektionen“ erinnernde Bereiche abgetrennt sind. 12   Karl verwies jeweils explizit in den Vorsatzblättern auf sein Alter bei der Anlage der Hefte. Die Texte selbst sind mit Tinte geschrieben, die Blattspiegel sind mit Bleistift (12.801) angedeutet bzw. mit Gold unterlegt (12.800) ausgestaltet.

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vereinzelt verwendeten und hervorgehobenen Versalien. Dieser Fall von Eigenhändigkeit ist jedenfalls kein isoliertes Beispiel für die Kinder Leopolds, eine entsprechende Handschrift in Latein zur Familiengeschichte mit Epigrammen und (Tusche-)Zeichnungen ist zeitnah (1698) auch von Maria Elisabeth erhalten13. Die Ausbildung in militärischen Fächern dürfte eine Zeichnung einer Kanone belegen, die von Karl signiert ist14. Einzelne Musiknotenblätter werden auch der Hand Karls VI. zugewiesen15. Es ist auf die überwiegende Verwendung von Deutsch als Amtssprache, sei es in Form schriftlicher Gutachten oder kaiserlicher Resolutionen, am Wiener Hof hinzuweisen. Selbst Prinz Eugen korrespondierte mit den österreichischen Diplomaten bzw. der Kaiser mit diesem durchaus auf Deutsch16. Erzherzogin Maria Elisabeth verkehrte mit ihrem Bruder schriftlich auf Deutsch, offizielle Schreiben fasste ein Sekretär auf Französisch ab17. Graf Giulio Visconti (1664–1751) riet bei seiner Abberufung, dass der künftige Obersthofmeister Maria Elisabeths des Deutschen mächtig sein sollte. Er selbst korrespondierte auf Spanisch und Italienisch, da die Erzherzogin und ihre Hofdamen sowie die Hofmitglieder darin kommunizierten18. Nicht zu unterschätzen ist wohl die Rolle des deutschsprachigen Wiennerischen Diarium, das letztlich die zahlreichen italienischen Zeitungen vom Wiener Markt verdrängte. Auch muss darauf verwiesen werden, dass am Wiener Hof durchaus „Dialekt“ gesprochen wurde, wie etwa für Maria Theresia bekannt. Hohe Damen der höfischen Gesellschaft korrespondierten in der Alltagssprache19. Selbst von 13  Kalmár, Ahnen (wie Anm. 7) 54f. Die Handschrift ÖNB, Cod. 7586: Chronologia Augustissimae Domus Austriacae, ist dem Vater Leopold gewidmet. Auch der letzte Teil des Bandes von Erzherzog Karl beschäftigt sich mit den Tugenden des Vaters. Kalmár verweist auf wortwörtliche Übereinstimmungen in den Texten. Ebd. 52f. bzw. 55. 14   Eigenhändige  Entwurfszeichnung für eine Falkaune mit dem Wahlspruch PATRUM VIRTUTE (signiert    Carl    Erzh.    zu    Oesterr.), 1701 (Heeresgeschichtliches Museum, Inv.nr. NI2312-3). 15  Fragment einer geistlichen Komposition für Sopran, Alt, Tenor und Bass: in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum, Partitur. Wien, Musikverein, Signatur A 187. 16  Max Braubach, Prinz Eugen von Savoyen, 5 Bde. (Wien 1963−1965) 4 244. Demnach bildeten Graf Königsegg und die Kinskys Ausnahmen, mit denen Eugen französische Schreiben austauschte. Zu kaiserlichen Schreiben z. B. HHStA, Große Korrespondenz, 90b-3 (s. unten). Zur Sprache als Mittel der Verwaltung oder Politik bzw. Diplomatie Backerra, Wien (wie Anm. 5) 267–274; Peter Burke, Languages and Communities in Early Modern Europe (Cambridge 2004); Politik und Sprache im frühneuzeitlichen Europa, hg. von Thomas Nicklas–Matthias Schnettger (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte Beih. 71, Mainz 2007). Die Bedeutung des Deutschen wird auch bei einem Blick auf die Verteilung der diplomatischen Korrespondenz des in London tätigen Grafen Philipp Kinsky deutlich. Von 171 Schreiben waren 132 auf Deutsch, 34 auf Italienisch und 5 auf Französisch verfasst (Backerra, Wien [wie Anm. 5] 269). 17 Sandra Hertel, Maria Elisabeth. Österreichische Erzherzogin und Statthalterin in Brüssel (1725–1741) (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 16, Wien u. a. 2014) 202f.; Oskar Schmid, Belgien, in: Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 4, hg. von Ludwig Bittner (Inventare österreichischer staatlicher Archive V/7, Wien 1938) 79–360, hier 263, 281. 18  Zu diesem Hertel, Maria Elisabeth (wie Anm. 17) 102–110, hier 109; Instruktionen und Patente Karls (III.) VI. und Maria Theresias für die Statthalter, Interimsstatthalter, bevollmächtigten Minister und Obersthofmeister der österreichischen Niederlande (1703–1744), hg. von Elisabeth Kovács, bearb. von Franz Pichorner–Friederike Stern (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 20, Wien 1993) 272f.; Renate Zedinger, Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714–1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 7, Wien u. a. 2000) 142f. 19  Z. B. Johanna Theresia Harrach, gest. 1719. Zu dieser Susanne Claudine Pils, Schreiben über Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach (1639–1716) (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 36, Wien 2002). Zum deutschen Dialekt etwa Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie (München 2017) 25.



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Leopold I. sind Arienkompositionen in Dialekt erhalten20. Auch die kargen Notizen Karls VI. in seinen Tagebüchern erinnern an Formen der Alltagssprache21. Der lobende Verweis Karls VI. in seinen Notizen anlässlich der ersten Zusammentreffen mit Franz Stephan von Lothringen, nämlich dass dieser Deutsch sprach, ist in diesem Kontext jedenfalls erwähnenswert (10. August 1723): manirli(c)h redt teusch. Der Aufenthalt Karls VI. in Spanien und seine spanisch geprägte Umgebung in Wien machen es unzweifelhaft, dass Spanisch in der Residenz gesprochen wurde. Aufgrund des Spanischen Rates war dieses eine wichtige Verwaltungssprache22. Vilana Perlas Marquis de Rialp war in seiner Sekretärsfunktion für die ehemals spanischen Gebiete mit Schreiben in Spanisch, Italienisch oder Französisch konfrontiert. Nicht selten finden sich aber auch entsprechende Übersetzungen aus dem Deutschen oder Französischen als Beilagen23. In einem Schreiben vom 18. Mai 1711 verwies Karl auch auf die Mitnahme von Spaniern zur Abfassung von Depeschen in spanischen stilo sowie als Zeichen von deren Unterstützung24. Diplome in seiner Rolle als spanischer König unterfertigte Karl VI. mit Yo el rey25. In den frühen Jahrgängen der Tagebücher liegen zudem Notizzettel in Spanisch bei (s. unten). Zum Italienischen meinte der savoyische Diplomat Graf San Martino di Baldessero, dass es am Wiener Hof ohnehin verstanden wurde und man ausländischen Diplomaten nicht zumutete, Deutsch zu erlernen26. Letztlich verstärkte der Zugewinn von Gebieten auf der Apenninhalbinsel unter Karl VI. neuerlich seinen Einfluss. Dieser selbst nutzte italienische Redewendungen in seiner Korrespondenz27. Elisabeth Farnese fragte beim Gesandten Ripperda anlässlich der Friedensverhandlungen an, in welcher Sprache sie am besten mit dem Kaiser korrespondieren sollte. Der Diplomat riet zu ihrer Muttersprache Italienisch28. Nicht zuletzt die Dominanz der italienischen Musikstücke in Wien illus­ triert dessen anhaltende Bedeutung als Sprache29. 20  Thomas Leibnitz, Die Musik der Kaiser im Spiegel der Wiener Hofmusikkapelle, in: Spettacolo barocco! Triumph des Theaters, hg. von Andrea Sommer-Mathis–Daniela Franke–Rudi Risatti (Petersberg 2016) 121–133, hier 126. 21   Hingewiesen kann auf den häufigen Verweis auf ein madl (Mädchen) in den frühen Jahrgängen werden. Die seltenen längeren Passagen in den Tagebüchern deuten die Alltagssprache zumindest an, etwa anlässlich der Geburt des Sohnes 1716: 14. April: als narrisch freyd; 15. April: ich illu(minationen) sehen, fahren, leut lustig. 22  Hans Reitter, Der Spanische Rat und seine Beziehungen zur Lombardei 1713–1720, 2 Bde. (Diss. Wien 1964) 1 35f.; „Spanish became a very important official language in early eigteenth-century Vienna under Emperor Charles VI.“ Klaas van Gelder, Regime Change at a Distance. Austria and the Southern Netherlands Following the War of the Spanish Succession (1716–1725) (Leuven u. a. 2016) 38. 23   Schmid, Belgien (wie Anm. 17) 278–282. 24  Alfred Arneth, Eigenhändige Correspondenz des Königs Karl III. von Spanien (nachmals Kaiser Karl VI.) mit dem Obersten Kanzler des Königreichs Böhmen, Grafen Johann Wenzel Wratislaw (AÖG 16, Wien 1856) 1–124, hier 157. 25   S. Standeserhöhungen für das Mailänder Gebiet z. B. ÖStA, AVA, Adel, Handschrift 305 und 306; ­Schreiben an den Vizekönig Graf Harrach in AVA, Familienarchiv Harrach, Familie in specie 56.5 (1728–1735). 26   Zu dessen Mission allgemein Lhotsky, Hof (wie Anm. 5) 55. 27  Elisabeth Garms-Cornides, Das Königreich Neapel und die Monarchie des Hauses Österreich, in: Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige. Ausstellungskatalog, hg. von Wolfgang Prohaska–Nicola Spinosa (Neapel 1993) 17–34, hier 25. 28  Ana Mur Raurell, Diplomacia secreta y paz. La correspondencia de los embajadores españoles en ­Viena Juan Gullermo Ripperda y Luis Ripperda (1724–1727), 2 Bde. (Biblioteca diplomática española Sección Fuentes 4, Madrid 2011), hier 1 226. 29  Franz Pichorner, Die ,,spahnische“ Althann. Maria Anna Josepha Gräfin Althann, geb. Marchesa Pi­ gnatelli (1689–1755). Ihre politische und gesellschaftliche Rolle während der Regierung Karls VI. und Maria

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Neben dem Deutschen war Latein die relevante Sprache des Reiches und seiner ­ iplomaten. Latein war auch Verwaltungssprache für Reichsitalien, italienische Eingänge D wurden sogar zurückgewiesen30. In Latein waren auch die bereits genannten Übungscodices zur habsburgischen Geschichte von Erzherzog Karl abgefasst. Nicht zuletzt aufgrund der internationalen Vertragswerke, als Verwaltungssprache der ungarischen Länder oder der wissenschaftlichen sowie letztlich panegyrischen Literatur behielt Latein jedenfalls seinen Stellenwert, auch wenn zusehends auf Deutsch publiziert wurde. So wurde seitens des Madrider Hofes bei der Aushandlung der Vertragstexte 1725 mit Rücksicht auf den Wiener Hof Latein angewandt, die Ratifikation wurde dann in Spanisch abgefasst31. Latein war nicht zuletzt die Sprache der Kirche. Beim Hofrat hatten allein Italiener das Vorrecht, ihre Anliegen auf Latein vorzutragen, die übrigen mussten diese auf Deutsch formulieren, wie der savoyische Diplomat San Martino berichtete32. Das Tschechische fand während des Krönungsaufenthaltes Karls VI. in Prag mehrfach Anwendung, beispielsweise bei der Begrüßung durch den Burggrafen beim Einzug in die Stadt, bei der Huldigung oder im Rahmen der Krönungsfeierlichkeiten. Dabei soll sich auch der Kaiser selbst der Sprache bedient haben33. Der böhmische Oberstlandhofmeister wandte sich im Rahmen der Huldigung im Namen Karls in Tschechisch an die böhmischen Stände, für die der Oberstburggraf ebenso erwiderte. Die Landtagsproposition las der Sekretär der königlichen Statthalterei in böhmisch- und teuscher sprach vor34. Der Kaiser hielt darauf eine Rede, die wiederum der Oberstburggraf auf Tschechisch beantwortete35. Zum Eid, der zunächst auf Tschechisch, dann auf Deutsch vorgelesen wurde, ist im Zeremonialprotokoll zu lesen: Welchen Eyd die der böhmischen sprach kundige böhmisch und die übrige der böhmischen sprache nicht kundige solchen teutsch nachgesprochen36. Das Französische wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Diplomatensprache schlechthin und war durch die Person des Prinzen Eugen, der in dieser korrespondierte und seine Notizen führte37, und dann den kaiserlichen Schwiegersohn Franz Stephan Theresias (DA Wien 1985) 63. Allgemein Alfred Noe, Die italienische Literatur in Österreich 1: Von den Anfängen bis 1797 (Wien u. a. 2011) 199–382; Andrea Unzeitig, Die Italiener am Wiener Hof während der Regierungszeit Kaiser Karls VI. (DA Wien 1993). 30  Backerra, Wien (wie Anm. 5) 268f.; Matthias Schnettger, Reichsitalien und die Plenipotenz, in: Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit 1/1–2: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen, hg. von Michael Hochedlinger–Petr Maťa–Thomas Winkelbauer (MIÖG Ergbd. 62/1, Wien 2019) 1 355–359, hier 356. 31   Mur Raurell, Diplomacia 1 (wie Anm. 28) 222. 32   Lhotsky, Hof (wie Anm. 5) 62. 33   Backerra, Wien (wie Anm. 5) 116 u. bes. Anm. 22; Ottocar Weber, Eine Kaiserreise nach Böhmen i. J. 1723. Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 36 (Sonderdruck Prag 1898) 22, 43. Zum Einzug in die Prager Städte etwa HHStA, OMeA ZA-Prot. 12 (1723–1724), fol. 121r, 124v; fol. 126r (Oberstburggraf Anrede in Tschechisch). Zwar wird auf Anreden und Antworten persönlich durch den Kaiser an die städtischen Deputierten bei der Präsentierung der Schlüssel verwiesen, nicht jedoch die Sprache explizit genannt bzw. von einer Beantwortung auf Deutsch ausgegangen. Vgl. für die Verwendung des Deutschen durch Karl etwa Anna-Marie Pípalová, Habsburg Spatial Politics in Prague, c. 1700–1740 (Diss. Cambridge 2018) 33f.; Štěpán Vácha–Irenea Veselá–Vít Vlnas–Petra Vokáčová, Karel VI. & Alžběta Kristýna. Česká korunovace 1723 (Praha 2009) 102. 34  Ebd. fol. 212v. 35  Ebd. fol. 215v–216r, allgemein zu den genannten Stellen fol. 215r–217r. Leider bleibt im Zeremonialprotokoll unklar, in welcher Sprache Karl VI. diese hielt. 36  Ebd. fol. 217r. 37  Vgl. etwa ÖStA, KA, Alte Feldakten 1697–XIII–1, Journal de la marche en Bosnie; Prinz Eugen. Feldherr, Philosoph und Kunstfreund, hg. von Agnes Husslein-Arco–Marie Louise von Plessen (München 2010) 61.



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von Lothringen in Wien zur Zeit Karls VI. prominent vertreten. Bei der Verwaltung der nunmehr Österreichischen Niederlande wurde das Französische vom Kaiser und seiner Familie, wie bereits erwähnt, eingesetzt38. Eine bei Vehse und damit nicht zeitgenössisch überlieferte Anekdote kann zumindest eine potentiell belastete Stimmung illustrieren. Demnach musste sich ein Höfling vom Hof entfernen, da dieser in der Nähe des Kaisers französische Kleidung trug und er diesen „Franzmann“ nicht in seiner Umgebung wünschte39. Merode-Westerloo schrieb in seinen Memoiren, dass Eleonora Magdalena Französisch neben den anderen Sprachen sehr gut beherrschte, allerdings nicht verwenden wollte, sich mit ihm selbst aber in dieser Sprache unterhielt40. Der englische Resident, der Schweizer Saint-Saphorin, verfasste seine Berichte auf Französisch, auch wenn eine englische Dienstvorschrift die englische Sprache vorsah. Er besaß jedoch keine Englisch- und zunächst auch keine Deutschkenntnisse, die er sich dann notwendigerweise aneignete41. Die kaiserlichen Majestäten unterhielten sich mit seinem Nachfolger, dem Earl of Waldgrave, in einer privaten Zusammenkunft auf Französisch, was aber als besonderes Entgegenkommen gedeutet wurde42. Zudem ist auf die Rolle des Toisonordens zu verweisen, bei welchem das Französische aufgrund des burgundischen Ursprungs, etwa bei den Statutenbüchern oder Verleihungsurkunden, von Bedeutung war43. Die Anwesenheit des Prinzen von Lothringen mit seinem Umkreis verhalf der Sprache sicherlich zu weiterem Ansehen. Dennoch hatte es offensichtlich auch der potentielle Schwiegersohn 1723 für opportun empfunden, beim ersten Zusammentreffen seine Deutschkenntnisse zu zeigen. Die Multilingualität des Kaiserhofes wird auch im diplomatischen Verkehr, insbesondere in den Vertragswerken, deutlich. Schloss man diese mit Reichsfürsten in der Regel auf Deutsch oder auch Latein, waren etwa die Verträge mit den „Barbaresken“ 1725 in Französisch und (Osmanisch)-Türkisch abgefasst44. Karl VI. publizierte die lateinische 38   Van Gelder, Regime (wie Anm. 22) 34. Schreiben aus den Niederlanden, die an den spanischen Staatssekretär Perlas gingen, wurden in Spanisch abgefasst. Ebd.; vgl. auch Schmid, Belgien (wie Anm. 17) 279. 39 Eduard Vehse, Geschichte des österreichischen Hofs und Adels und der österreichischen Diplomatie II/6 (Hamburg 1851) 286. Vgl. Thomas Lau, Die Kaiserin. Maria Theresia (Wien u. a. 2016) 22. Zum Eindringen der sog. französischen Sitten am Wiener Hof Eduard Vehse, Geschichte des österreichischen Hofs und Adels und der österreichischen Diplomatie III/7 (Hamburg 1852) 13–16. 40  M. le comte de Mérode-Westerloo, Mémoires du feld-maréchal comte de Mérode-Westerloo, 2 Bde. (Brüssel 1840) 2 254. 41  Theo Gehling, Ein europäischer Diplomat am Kaiserhof zu Wien. François Louis de Pesme, Seigneur de Saint-Saphorin, als englischer Resident am Wiener Hof 1718–1727 (Bonner Historische Forschungen 25, Bonn 1964) 22f. 42  Backerra, Wien (wie Anm. 5) 271f. Auch seine Beglaubigungsschreiben waren auf Französisch abgefasst. Grund für die Verwendung der französischen Sprache durch die englischen Diplomaten war ein Titelstreit. Ebd. 261–263. Der Kaiser antwortete auf die französischen Schreiben des englischen Königs auf Italienisch. Allgemein zu den verwendeten Sprachen der Diplomaten in Wien und London ebd. 264–270. 43   Zum Vliesorden u. a. Leopold Auer, Der Übergang des Ordens an die österreichischen Habsburger, in: Das Haus Österreich und der Orden vom Goldenen Vlies. Beiträge zum wissenschaftlichen Symposium am 30. 11. und 1. 12. 2006 in Stift Heiligenkreuz (Graz 2007) 53–64; La Orden del Toisón de Oro y sus sobrenos (1430–2011) (Madrid 2012); Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 294–299; Astrid Wielach, Die Ordensfeste der Ritter vom Goldenen Vlies im Spiegel der Wiener Zeremonialprotokolle (1665–1790), in: Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652−1800). Eine Annäherung, hg. von Irmgard Pangerl–Martin Scheutz–Thomas Winkelbauer (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 47 = Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 31, Innsbruck u. a. 2007) 287–308. 44 Mounir Fendri, Die Habsburgermonarchie und die „Barbaresken“. Die Gesandtschaft des Jussuf Khodscha in Wien (1732/1733) als Nachspiel des ersten österreichisch-tunesischen Friedensvertrages von 1725,

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Version des Vertrages von Passarowitz 1718, der Sultan ratifizierte diesen in OsmanischTürkisch45.

Die Tagebücher Karl VI. führte seine 1707 einsetzenden bzw. ab diesem Zeitpunkt erhaltenen Tagebuchnotizen46 durchwegs in Deutsch, selbst in den Jahren seines Aufenthalts auf der iberischen Halbinsel. Vereinzelt sind kurze Sentenzen in Latein festzustellen, die etwa mit dem Dank an Gott oder Ähnlichem verbunden sind. Spanisch begegnet in den Anfangsjahren auf Notizzetteln, die den Tageseinträgen beigelegt sind und diese ergänzen47. Die Einträge selbst nehmen an Umfang zu. Von einer bzw. wenigen Zeilen in den ersten Jahren48 zu durchschnittlich drei Zeilen in den beginnenden 1720er erreichen diese in der Regel ca. fünf, vereinzelt auch zehn oder mehr Zeilen49 in den späten 1730er Jahren. Festzuhalten ist, dass die Einträge keine Satzstruktur aufweisen, aber sehr wohl nicht zuletzt aufgrund des geregelten Tagesablaufs stark strukturiert sind. Schrieb der Erzherzog die Begriffe in den frühen Jahren tendenziell noch öfter aus50, treten einem diese später praktisch durchwegs in Form von Abkürzungen entgegen51. Bezeichnungen der täglichen Ereignisse (Aufstehen, Trinkkur, Kirchen-Ämter, Ratssitzungen, Verhandlungen, Korrespondenzen, Essen, Jagden usw.) und Personen, die Karl entweder persönlich traf oder über welche gesprochen wurde, sowie die Angabe der jeweiligen Uhrzeit bestimmen die Einträge. Diese selbst gliedert durchwegs die Zeit des Aufstehens, in der Regel um halb sieben, das Mittagessen und abschließende Floskeln (sonst ordinari nichts). Vereinzelt scheint auch die Uhrzeit des zu Bett Gehens auf, etwa bei lang andauernden Faschingsfesten. Die Angaben der Uhrzeit erfolgen in der Regel nach vollen, halben und Viertelstunden, teilweise können den Notizen aber auch Minutenangaben entnommen werden52. in: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, hg. von Marlene Kurz et al. (MIÖG Ergbd. 48, Wien–München 2005) 341–356, hier 343. Nicht zuletzt der Friedensvertrag von Rastatt zwischen Karl VI. und Ludwig XIV. war auf Französisch abgefasst. 45   Ernst D. Petritsch, Die internationalen Beziehungen zur Zeit des Vertragswerkes von Passarowitz, in: Wir und Passarowitz. 300 Jahre Auswirkungen auf Europa, hg. von Bettina Habsburg-Lothringen–Harald Heppner (Graz 2018) 24–36, hier 32. 46   Zur Bezeichnung als Tagebücher zusammenfassend mit weiterführender Literatur Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 26–31. 47   Z. B. HHStA, HA SB 2-1 (1707). 48   Ausnahmen bilden etwa längere Einträge betreffend Friedensverhandlungen (ca. halbe Seite; z. B. 26. Februar 1709 in HHStA, HA SB 2-3 [1709], fol. 6v). 49   Der vorletzte Eintrag vom 11. Oktober 1740 umfasst etwa 18 (!) Zeilen. 50   Z. B. 15. Dezember 1707 (HHStA, HA SB 2-1, fol. 46r): Pfing(stag) 15; rorate, letanay, ambt, processi(on) in thum; nachmittag nichts, Moles weg(en) Rom bott(schafter); sonst nichts. 51   Z. B. 6. Februar 1715 (HHStA, HA SB 2-9, fol. 4r): Mit(twoch) 6, 7 auf; depe(sc)h(en), Per(las); nacher ambt Dorot(hea); essen; nach unterschri(eben), aud(ienz), depe(sc)h(en), Stel(la), Alt(hann) lib; sonst nichts. 52  Es scheint, dass Karl VI. die Uhrzeitangaben vereinzelt nachtrug, da er bei manchen Einträgen eine kleine Lücke ließ, diese aber nicht ergänzte. Ein Beispiel hierfür wäre der Eintrag zum Tod des Sohnes am 4. November 1716, fol. 29r: end, mein erstes kindt … hat Gott heimb umb [Lücke] nachmittag zu sich nomen, ich alls betr(übt), fiat voluntas Dei. Ein mit Zeitangaben gespickter Eintrag ist jener vom 8. Juli 1721, als Karl seiner von der Kur in Karlsbad zurückkehrenden Gattin entgegenritt und diese bei Schönbrunn begrüßte: Ercht(ag) 8ten, 4 auf; messen; 4¾ wek, k(ai)s(erin) entgegen, 8 35 minut(en) bey Schonbh(o)rn, aus zelt komen, k(ai)s(erin) empfan(gen), burst, auf Schonb(orn), essen; 4¾ wek, 8½ her in Favorit(a); Alt(hann); so(nst) n(i)chts; weib gut; ord(inari).



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Allein der telegrammstilartige Inhalt sowie die Regelmäßigkeit der Einträge trotz vorhandener Lücken in den über mehr als 30 Jahren überlieferten Notizen legt nahe, dass Karl VI. diese zeitnah eintrug. Dies geschah sicherlich mit Hilfe von Notizzetteln, die er dann schubweise niederschrieb. So vermerkte er in dem eintragsschwachen Jahr 1718, das nur zwei Seiten umfasst, dass er auf ein ander zetl geschriben undt verlohren, also wie vergessen d(a)z ganz jahr. Vertatur53. Gleichzeitig ist durchaus auch an eine tageweise Eintragungspraxis zu denken, etwa mit Blick auf die zahlreichen Ergänzungen zeitnahen Inhalts in den frühen Jahrgängen, nachträglichen Ergänzungen zu bzw. Fehlen von Ereignissen54 am späteren Abend oder jene zu den Schwangerschaften Elisabeth Christines mit wöchentlichen Hinweisen55. In den Tagen kaiserlicher Krankheit, etwa bei Gichtbeschwerden, wird man zudem den Eindruck nicht los, dass das Schriftbild undeutlicher wird, eventuell ein Hinweis auf die Abfassung bei noch anhaltenden Beschwerden56. Nach der Geburt des Sohnes 1716 verblieb Elisabeth Christine in der Hofburg in Wien, während Kaiser Karl dennoch nach Laxenburg aufbrach, von wo aus er diese und ihr Kind mehrfach besuchte. Dennoch sind es gerade wieder diese Tage ohne die Gattin, die Karl und Graf Althann einen engeren Kontakt ermöglichten57. So verwies der Kaiser mehrfach darauf, dass Althann die Nacht bei ihm verbrachte bzw. dass sie diese gemeinsam verbrachten58. Interessant ist die kaiserliche Handschrift in diesen Tagen, die beinahe verstohlen die Hinweise am Beginn der Einträge noch undeutlicher, stark gekürzt, kleiner und enger nebeneinandersetzt, wodurch diese trotz Formelhaftigkeit schwer gänzlich aufzulösen sind59. Die längeren Einträge der späteren Jahre sind nicht zuletzt den teils mehrzeiligen chiffrierten Passagen geschuldet. Pachner von Zobor hat diese Geheimschriftpassagen der letzten Jahrgänge aufgelöst60. Die Verwendung von Chiffren im Bereich der diplomatischen Korrespondenz war jedenfalls Usus. In einem offenen Schreiben zur persönlichen Einschätzung der Lage an Graf Wratislaw vom 28. April 1710, das Karl eigenhändig unterfertigte, verwies er am Ende auf die unterlassene Chiffrierung: Das gegenwärtige ­Schreiben sollte in vielen stucken in Zyffer gesezet seyn, indeme aber solches die Zeit ohnmöglich zulasset, auch ich die Gelegenheit des Couriers für sicher halte, so habe es durch diese vertraute Handt schreiben lassen in der Hoffnung dass es Euch wird sicher vberliefert werden vnd Ihr mir desselben empfang mit negsten avisiren61.   HHStA, HA SB 2-10 (1717–1719), fol. 18r.   Zum Fehlen etwa von Hinweisen auf abendliche Treffen mit der Kaiserinwitwe Amalia Wilhelmine Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 49. 55   Letztere könnten natürlich auch retrospektiv nach Bestätigung der Schwangerschaft angebracht worden sein. 56   Krankheiten sind aber nicht zuletzt auch Begründung für entstandene Lücken, etwa anlässlich des Todes des Erstgeborenen; s. Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 44f., und unten Anm. 62. 57  Ähnlich verhält es sich anlässlich einer Katalonienrundreise 1710 oder einer Reise nach Mariazell 1716; s. dazu Stefan Seitschek, Der geforderte kaiserliche Körper und Geist: Karl VI. und Elisabeth Christine zwischen Krankheiten, Sexualität und Frömmigkeit, in: Männlichkeiten in der Frühmoderne: Körper, Gesundheit und Krankheit (1500–1850), hg. von Martin Dinges–Pierre Pfütsch (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beih., Stuttgart 2020) (in Vorbereitung). 58   Diese Passagen wurden wohl auch schon von der Forschung wahrgenommen, da die betroffenen Tage mit einem blauen Buntstift markiert wurden. 59   Z. B. HHStA, HA SB 2-9 (1715–1716), fol. 23r (19. und 20. Mai 1716). 60  Unpublizierte Studie HHStA, HA (zu SB 2): Pachner von Zobor, Abschriften und Auszüge aus den Tagebüchern Karls VI. 61   Arneth, Correspondenz (wie Anm. 24) 121. Allgemein dazu etwa Leopold Auer, Die Verwendung von 53 54

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Neben dieser Zahlenverschlüsselung der späten Jahre begegnen durchwegs einzelne, durchaus graphisch gestaltete Zeichen, etwa in Form eines auf einem Hügel stehenden Kreuzes oder einfacher geometrischer Muster. Diese stehen in der Regel im Kontext eines Notabeneverweises (NB) und weisen entweder auf ein übergeordnetes Sachthema oder eine Beilage zu den Notizen hin62.

Privatkorrespondenz An dieser Stelle kann kein umfassender Überblick zur Privatkorrespondenz Karls VI. gegeben werden, jedoch ein Einblick anhand ausgewählter Konvolute. Grundsätzlich gilt festzuhalten, dass die Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs einen Höhepunkt im Bereich der Geheimdiplomatie bewirkte, Prinz Eugen und Karl VI. selbst eine solche pflegten63. Dies ging einher mit der Etablierung eines Ziffernsekretärs bzw. einer Ziffernkanzlei, die von Vertrauten des Kaisers geleitet wurde (Graf Stella bzw. Freiherr von Imbsen)64. Immer wieder wechselte Karl VI. mit seiner Gattin Elisabeth Christine Schreiben, wie die Tagebuchnotizen belegen. So erreichten ihn Briefe im Vorfeld des ersten Zusammentreffens in Katalonien 1708, aber auch während der Reise durch Katalonien 1710 sowie nach der Rückkehr nach Wien, als beide Ehegatten getrennt waren. Er notierte den Empfang und das Abfassen von Schreiben etwa während des Kuraufenthalts der Kaiserin 1721 in Karlsbad oder auch während der innerösterreichischen Erbhuldigungsreise 172865. Als Karl nach dem Tod des Bruders 1711 in die Habsburgermonarchie und nach Frankfurt aufbrach, blieb Elisabeth Christine als Statthalterin (Reina Gobernadora) in Barcelona zurück. Dies stellte nicht nur aufgrund der Verhältnisse auf der iberischen Halbinsel ein miChiffren in der diplomatischen Korrespondenz des Kaiserhofes im 17. und 18. Jahrhundert, in: Geheime Post: Kryptographie und Steganographie der diplomatischen Korrespondenz europäischer Höfe während der Frühen Neuzeit, hg. von Anne-Simone Rous–Martin Mulsow (Historische Forschungen 106, Berlin 2015) 153–169; Backerra, Wien (wie Anm. 5) 44; Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 352–355. 62   Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 52–55. Den wechselnden Umgang mit diesen Verweisen im Kontext der Beilagen wird erst eine Edition der Tagebücher verdeutlichen. Vgl. Eintrag zum 15. Jänner 1707 (HHStA, HA SB 2-1, fol. 2v): rath heunt wie zetl [Zeichen]; 4. November 1716 (fol. 29r, Tod des Sohnes): diesen tag bis zu endt des jahrs hab ich alls vergessen, auch zu schreiben, teils aus hinderung, theils so; derweil was in conf(erenz) ist in zetl notirt. 63  Dazu z. B. Max Braubach, Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 22, Köln 1962) bes. 35; ders., Eugen (wie Anm. 16) 4 135, 238f., 240–262; Klaus Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740) (Bonner Historische Forschungen 42, Bonn 1976) 40f., 46–59, 225f., 261–263; Hans J. Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736. Ein kursächsischer Kabinettsminister im Dienst des Prinzen Eugen von Savoyen und Kaiser Karls VI. (Bonner Historische Forschungen 35, Bonn 1970); Hermann E. Stockinger, Die Geheimdiplomatie Prinz Eugens und die Ermordungspläne des Grafen-Pascha Bonneval, in: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten: Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit, hg. von Martin Mulsow (Köln u. a. 2014) 203–233. Für die Praxis während des Spanischen Erbfolgekriegs etwa Matthias Pohlig, Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg um 1700 (Externa 10, Wien u. a. 2016). 64   Zu Stella Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 240–242 (mit weiterführender Literatur). Zu Imbsen und dessen Rolle nicht zuletzt auch im Rahmen des Vliesordens etwa Gerhard Gonsa, Das kaiserliche Kabinett, in: Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie (wie Anm. 30) 1 541–550, bes. 544f.; Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 294–299. 65   Ebd. 135.



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litärisches, sondern angesichts fehlender (männlicher) Erben auch ein dynastisches Risiko dar. Die Ehegatten unterhielten wiederum Korrespondenzen im Ich-Stil66. Karl schrieb der durchleuchtigst-großmächtigsten fürstin, frauen Elisabethae Christina römischen keyserin, auch zu Hispanien, Hungarn und Böheimb, beeder Sicilien und Hierusalem Königin. Erzherzogin zu Öesterreich, gebohrne herzogin zu Braunschweig-Lüneburg. Unsere freundlich geliebten frauen gemahlin67. Durch die Heirat mit Erzherzog Karl war Elisabeth Christine gleichsam österreichische Erzherzogin geworden, mit dessen Nachfolge seines Bruders im Reich und in Wien Kaiserin und Königin der habsburgischen Länder. Die persönliche Anrede am Ende der Adresse entspricht dem damaligen Gebrauch. Ähnlich verhält es sich mit der Anrede am Beginn der Schreiben, wobei die erste Zeile in Auszeichnungsschrift im Textblock hervorgehoben ist: Durchleuchtigste großmächtigste römische keyserin, freundlich geliebste frau gemahlin. Das Schreiben und das Adressfeld sind durch die Hand eines Schreibers verfasst68, nach dem Datum folgt die von der Mitte nach rechts verlaufende Schlusscourtoisie sowie Unterschrift jedoch eigenhändig: Ewr maj(estät) beständigst treyster gemahl, Carl mp69. Noch deutlicher wird die Formel am 8. Mai 1712: Ewr maj(estät) beständigst treyster gemahl bis in meinen todt, Carl. In dem Schreiben selbst geht es um die Bitte des Herzogs von Lothringen zur Übernahme der Patenschaft für eine jüngst geborene Prinzessin. Auf beiliegende, nummerierte Extrakte verweist ein Brief vom 16. Juni 1712, wobei diese nicht nur im Text selbst, sondern auch am linken Seitenrand angemerkt werden70. Ein umfangreicheres Schreiben aus Barcelona vom 21. März 1712 unterfertigte die Kaiserin-Königin eigenhändig. Die doppelte Anrede des Gemahls lautet zu Beginn: Durchleuchtigst-großmächtigster römischer kayser, hochgeehrtest- und herzgeliebtester herr gemahl. Als eigenhändige Schlusscourtoisie unmittelbar vor der Unterschrift ist zu lesen: E(urer) may(es)t(ä)t ganz ergebenste, getreueste gemahlin und dienerin, Elisabeth mp71. 66   Für das Folgende s. HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 14 (1712). Dabei handelt es sich wohl vornehmlich um die „Registratur“ der Königin/Kaiserin, da ihre Schreiben als Konzepte, jene Karls hingegen als Ausfertigungen vorliegen. Vereinzelt enthält das Konvolut auch ausgefertigte Schreiben Elisabeth Christines sowie Konzepte Karls nach dessen Rückkehr nach Wien (etwa für ein Hand-brieffl vom 29. Dezember 1712, fol. 107–144, s. unten), der Schriftwechsel wurde also nachträglich wieder zusammengeführt. Für den Hinweis auf den Briefwechsel möchte ich mich bei Stephan Buchon bedanken. Zum Spanischen Erbfolgekrieg etwa Joaquim Albareda Salvadó, La guerra de sucesión de España (1700–1714) (Barcelona 2010); Der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1714) und seine Auswirkungen, hg. von Katharina Arnegger–Leopold Auer–Friedrich Edelmayer–Thomas Just (MÖStA Sonderbd. 16, Innsbruck 2018); James Falkner, The War of the Spanish Succession 1701–1714 (Barnsley 2015); Hispania-Austria III. Der Spanische Erbfolgekrieg, hg. von Friedrich Edelmayer–Virginia León Sanz–José Ignacio Ruiz Rodríguez (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 13, Wien–München 2008); The War of the Spanish Succession: New Perspectives, hg. von Matthias Pohlig–Michael Schaich (Oxford 2018); Stefan Smid, Der Spanische Erbfolgekrieg. Geschichte eines vergessenen Weltkriegs (1701–1714) (Köln–Weimar–Wien 2011). 67   Schreiben vom 16. Jänner 1712. HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 14.1, fol. 3v. 68  Die abschließende Gnadenversicherung lautet: Verbleibe dabey deroselben mit beständiger lieb und affection vorderst wohl beygethan. 69  Schreiben vom 6. Februar, 27. Mai oder 16. Juni 1712 enthalten gleichlautende Formeln mit leichten Abweichungen, z. B. 16. Juni: wobey … vorderst wohlbeygethan verbleibe. In einem Schreiben vom 9. April lautet die Anrede wiederum: Durchleuchtigst-großmächtigste Fürstin, fr(eun)d(lich) geliebte frau gemahlin. Mit Blick auf die Schreiben von 1712 wird Elisabeth Christine aber durchwegs zu Beginn als Kaiserin angesprochen. Ansonsten sind die Formeln entsprechend. Im Schreiben vom Mai 1712 ist nur die Schlusscourtoisie abgewandelt. 70  HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 14.1, fol. 128–129r. 71   Die Huldversicherung am Ende lautet (21. März 1712, ebd. fol. 111v): Wormit mich zu euer may(estät) und l(ie)bden beharrlich-höchstschätzbahren lieb und affection empfehlendt verharre. Das Schreiben beschäftigt sich vornehmlich mit der militärischen Kampagne in Spanien. Zu Beginn verweist Elisabeth Christine dabei auf

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In einem Schreiben vom 21. Jänner 1713 folgt nach der Anrede dann der Verweis des Erhalts eines Kanzleischreibens: Ewer May(estät) undt l(ie)bden, freundtbeliebiges canzleyschreiben vom 29. des negst abgewichenen monaths und jahrs72. Neben Höflichkeitsformen ist also die übliche Praxis festzustellen, dass beide Eheleute immer wieder auf erhaltene Schreiben bzw. Berichte verweisen, wie es die Distanz und damit die Dauer der Übermittlung letztlich notwendig machten und geraten erscheinen ließen, um den Empfang bzw. allfällige Verluste von Briefen zu dokumentieren. Einen solchen vermutete dann Graf Wratislaw auch in einem Schreiben vom 22. Juli 1711, nämlich dass einige von 10. und 11. darvon E. M. Meldung thuen wirdt in dass meer sein geworfen worden, in deme der Boussart dem verlauth nach von denen frantzosen gefangen worden73. In einem Schreiben vom 10. Oktober 1712 sorgt sich der Kaiser um die Sicherheit der Gattin und verweist auf die Vorkehrungen zur Sicherstellung der Kommunikation sowie freien Schifffahrt zwischen Katalonien und Italien bis Ende des Jahres sowie die baldige Ankunft einer in Holland neu ausgerüsteten Flotte74. In den Briefen selbst spricht Karl Elisabeth Christine mit ewer may(estät) und l(ie)bd(en) an. Ein Konzept eines Handbriefls im Ich-Stil vom 29. Dezember für Elisabeth Christine liegt in der untersuchten Hofkorrespondenz ebenso vor, was insbesondere aufgrund eigenhändiger Anmerkungen Karls neben dem ansonsten von einem Schreiber verfassten Text von Interesse ist75. Inhaltlich steht dieses im Zeichen der Betonung der standhaften Behauptung habsburgischer Ansprüche in Katalonien, Spanien und West-Indien trotz des englischen Austritts aus der Allianz sowie des sinkenden Beistands der Generalstaaten. Aufgrund des politischen wie militärischen Drucks der Seemächte und Kriegsgegner teilte Karl in diesem Schreiben den schweren Entschluss zum Abzug seiner Truppen und der Abreise der Kaiserin selbst aus Barcelona mit. Es ist also wohl kein Zufall, dass gerade das Konzept zu diesem wichtigen Inhalt am Rand eigenhändige Notizen Karls beinhaltet. Auch die Ergänzungen selbst sind von Interesse, die sich auf die Einbeziehung von Kataloniern und Kastiliern in den Abzug erstrecken (mit beyzigung eines oficir v[on] jedten truppen anderer nation [!] auch eins v[on] den Castillaner und ein Catlonier bzw. sondern auch dayber mit den ubrigen ministres vorderist nach befundt der sachen mit zuzihung eines oder andters vertrauten sowohl Catalaner als auch Castilla76). Nicht zuletzt wird mehrfach auf den standhaften Einsatz für die Rechte seiner treuen spanischen Mitstreiter verwiesen77, die politische Situation mit Englands Austritt aus der einen Bericht von Perlas, der mit der letzten Post zum Gemahl abging, sie selbst wollte die heutige ordinari nicht abgehen lassen ohne gegenwärtiges an ewer may(estät) und l(ie)bden abzufertigen. Ebd. fol. 109–111. Ähnliche Formeln enthält ein Schreiben vom 7. Mai 1712. Ebd. fol. 94–96. Die Schlussformeln am Ende eines Schreibens vom 21. Januar 1713 erfahren noch eine Steigerung: Wormit mich zu ewer may(estät) und l(ie)bden beharrlich schäzbahren lieb und affection empfehle und beständigst verharre bzw. E(urer) may(es)t(ä)t ganz ergebenste getreuste gemahlin gehorsahme dienerin, Elisabeth; HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 14.2, fol. 22r. Am Ende der Adresse dieser Korrespondenz ist zu lesen: unserm hochgeehrtest- und herzgeliebsten herrn gemahlen. 72   HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 14.2, fol. 16r (21. Jänner 1713), vgl. auch das Schreiben vom 27. Februar 1713, ebd. fol. 30r. 73   Arneth, Correspondenz (wie Anm. 24) 189. Am Ende eines Schreibens von Wratislaw (29. Juli 1712) steht der Hinweis auf das Mitschicken älterer Schreiben, um den Empfang aller wichtigen Briefe sicherzustellen. Ebd. 193: Schlieslich schicke E. M. in unterth. die Notam der ienigen schreiben, so seithero meines verstorbenen herrn todt an E. M. abgeschicket, damit man wiesen möge, ob alle zu recht eingeloffen seindt. 74  HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 14.2, fol. 66 (10. Oktober 1712). 75  Ebd. fol. 107–114 (29. Dezember 1712). 76  Ebd. fol. 112r bzw. 112v. 77  Ebd. fol. 110: Wahrhafftig, wann die erhalltung, wo nicht ganz Spanien, wenigst dieses meines getreuwesten fürstenthumbs Catalonien durch einen nur immer ersinnlichen weeg zu erwerben und zu hoffen oder auch ihre völlige



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Allianz sowie den friedensfreudigen Generalstaaten würde diesen Schritt nicht zuletzt zur Sicherung der italienischen Territorien, so lange die Bereitschaft zur Einschiffung seitens der Seemächte noch bestünde, notwendig machen. Aus dem Schreiben insgesamt sowie auch den eigenhändigen Notizen wird jedenfalls das Bemühen des Kaisers für seine spanischen Getreuen deutlich: mus explicirt werdten, dz es mir auf den maissten theil zu verstehne da(nn) auf all wais ein competentes corpo darvon dr(in) bleiben mus bis undt so lang alles tractirt, erfüllt und alle Spanier die heraus wollen sicher sich eingeschifft haben78. Nicht zuletzt die unhaltbare politische Situation wäre den Landesvertretern nach einer eigenhändigen Notiz deutlich zu machen (wie es den landt vorzutragen undt die pure unmoglichkeit begraifen zu machen abs[onderlich] auch79). Er ergänzte aber auch eigenhändig die Kompetenzen Elisabeth Christines in Bezug auf Feldmarschall Starhemberg im Rahmen des Abzugs (undt was E[ure] M[ajestät] weiters ih[m] anzubefehlen notig erachten werdten80). Am Ende des Konzepts steht vor der gekürzten Schlusscourtoisie eine Bekräftigung: Welches nochmahlen zum beschluss freund-dienst(lich) erinnern wollen 81. Sind die genannten Formeln der vorgestellten Korrespondenz Zeichen von gängiger Höflichkeit, wird in den Inhalten eine gewisse gegenseitige Wertschätzung greifbar, die insbesondere auch die Tagebucheinträge Karls selbst dokumentieren82. Ein interessantes Dokument für die Familienverhältnisse ist ein eigenhändiges ­Schreiben Karls am Ende seiner innerösterreichischen Reise an seine in Wien verbliebenen jüngeren Töchter (Brif bey den meer83 dem 12ten 7ber 1728)84. Dabei wandte er sich an die ältere Tochter Maria Anna (1718–1744; Mein libe tochter Mariandl), von deren tugendsamem, gottesfürchtigem und gehorsamem Verhalten ihm von allen Seiten berichtet wurde. Gemeinsam mit diesem Wohlverhalten erbat sich der Kaiser, dass sie bette andachtig und fleissig, so werdt mein rais nicht nur gluklich ablaufen, sondern werst deine altern [= Eltern] lang gesundt und getrost erhalten. Besonders freute sich der Vater über die Gesundheit der Töchter und deren allweil mehr zunemen. Es wäre ihm demnach lib, dass die Fels85 sie wegen ihres guten Betragens auszufuhren undt ein spass zu machen erlaube. Karl vergaß aber auch nicht auf die jüngere Tochter Amalia. Deiner schwester sag auch v(on) mir, ich hor daz sie sich ganz wohl undt geschaidt halt, welchs mich sehr freyr, soll jzt gross undt kein kindt mehr sein, fleissig und andachtig absonderlich vor den papa betten, gehorsamb sein, schon lehrnen, manirlich undt sich // gradt halten. Auch sollte sie nicht böse sein, der Fels und den Kammerleuten gehorchen, so werdt sie mein liebe Amalerl. Am Ende hielt untertruckhung durch [110v] längern verzug nicht mehr befördert, als abgewendet, wurde ich das so offt für sie gewagte leben allen entstehenden gefahren freuwdig aussezen, umb sie unter meinem vätterlichen schuz meiner nimmer vergesslichen dankhbahrkeit geniessen zu lassen. 78  Ebd. fol. 113r. 79  Ebd. fol. 112v. 80  Ebd. fol. 112v. 81  Ebd. fol. 114r. 82  Dazu Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 128–140. 83  Am 12. September hielt sich Karl VI. in Triest auf. 84  Ich bin Nora Paerr vom Archiv der Ursulinen zu großem Dank verpflichtet, die mich auf dieses Schreiben im Ursulinenarchiv aufmerksam gemacht hat: Archiv der Ursulinen der Römischen Union, Klosterarchiv Wien,  8. Selekte, 8.1. Briefe, private Briefe Karls VI. (1728). 85  Vermutlich ist damit die seit 1720 bei Hof als Fräuleinhofmeisterin der Kaiserin wirkende Maria Elisabeth Gräfin Colonna zu Fels gemeint. Vgl. Irene Kubiska-Scharl–Michael Pölzl, Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711–1765. Eine Darstellung anhand der Hofkalender und Hofparteienprotokolle (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 58, Innsbruck–Wien–Bozen 2013) 556.

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er Maria Anna nochmals an, Amalia zu sagen, dass sie ein grosse frau sein soll. Mariandl, Amalerl oder papa verdeutlichen jedenfalls den herzlichen Umgangston innerhalb der Familie. Bei beiden verwies Karl zudem auf ihre Schreibtätigkeit. Zu Maria Anna hielt er gleich zu Beginn fest: Dein brif undt fleis in schreiben ist mir gahr lib. Zu Amalia meint er, dass sie ihm auch einmahl schreiben auf ihr art soll. Schon Maximilian korrespondierte mit seiner Tochter Margarete von Österreich in vertrautem Ton. Neben Fragen der Diplomatie und Politik, bei denen Maximilian Margarete nicht nur informierte, sondern durchaus nach deren Rat fragte, oder Besetzungen von Ämtern sind die Sorge um die Gesundheit der Enkelkinder, Erziehungsfragen, Trauer oder Melancholie zu fassen. Nicht selten haben die Texte humoristische Züge, etwa wenn er seine Absicht des Einschlagens der geistlichen Laufbahn verkündete, um Papst zu werden. Nach der Wahl und seinem Tod müsste sie ihn dann, so der Kaiser, anbeten, was ich glorios finde86. Indirekte Nachweise für eine rege Korrespondenz mit den Schwestern liefern die Einträge in den Tagebüchern87. Insbesondere an Maria Elisabeth verfasste er nach deren Abreise in die Österreichischen Niederlande im September 1725 mehrfach Schreiben. Die Statthalterin wandte sich in den offiziellen Schreiben auf Französisch an die niederländischen Stellen in Wien. Diese sind durch Kanzleihand verfasst und mit der Unterschrift der Erzherzogin versehen. Die Korrespondenz mit ihrem Bruder Karl wurde hingegen auf Deutsch geführt. Neben durch den Privatsekretär abgefassten Schreiben wandte sich die Erzherzogin auch direkt an den Bruder, wobei neben politischen auch private Themen behandelt wurden88. In einem eigenhändig verfassten Schreiben grüßte Karl in einer zentral über dem Textblock stehenden doppelten Anrede die Schwester: Durchleuchtigste erzherzogin, mein herzallerliebste fraw schwester89. Am Ende versicherte der Bruder der Schwester nochmals ausdrücklich sein Wohlwollen: in al(len) bestens zeigen zu konen, daz ich v(on) wahren herzen unveranderlich bin, leb undt sterbe. Meiner herzallerliebsten frau schwester treyster brudter bis in todt, Carl. Die Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs sowie des Aufenthalts in Barcelona war jedenfalls eine Zeit intensiver Korrespondenzwechsel u. a. mit Wien. Augenscheinlich wird dies etwa in einer Passage eines Briefs von König Karl an Wratislaw vom 25. Juni 1711, also inmitten des heiklen Zeitraums zwischen dem Tod des Bruders und der Kaiserkrönung: Hie ist alles in alten, man siht ein schiff, geb Gott, dass es Geldt vndt brief bring90. Auf den Erhalt bzw. das Abfassen von Schreiben aus bzw. nach Wien verwies der spanische Thronkandidat regelmäßig in seinen Tagebüchern. Manchmal erfolgen auch explizite Nennun-

86  Zitiert nach Dagmar Eichberger, „Très chiere et très aimée fille“– „Mon tres redoubté seigneur et père“. Familiäre Beziehungen in der Korrespondenz zwischen Maximilian I. und Margarete von Österreich, in: Maximilian I. Aufbruch in die Neuzeit, hg. von Monika Frenzel–Christian Gepp–Markus Wimmer (Innsbruck–Wien 2019) 74–79, hier 74. Dabei ließ Maximilian die Schreiben meist von einem Sekretär aufsetzen, seltener verfasste er diese bei besonderer Bedeutung vollständig eigenhändig in Französisch. Die Tochter hingegen schrieb die Briefe zumeist selbst. Ebd. Zum Umgangston in den Briefen bes. ebd. 78f. 87   Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 168f. 88   Hertel, Maria Elisabeth (wie Anm. 17) 202f. Vgl. entsprechende Schreiben in Kanzleihand auf Französisch, aber auch eigenhändige auf Deutsch (liber graf) an den Grafen Harrach. AVA, Familienarchiv Harrach, Familie in specie 481.3 (1733–1739), fol. 1–85, z. B. fol. 1–2 (eigenhändig), fol. 82. 89  AVA, Familienarchiv Harrach, Familie in specie 789.6 (7. Februar 1737). Am Beginn des Schreibens entschuldigte sich der Kaiser wegen des langen Zeitraums ohne Brief bzw. Antwort von ihm aufgrund allerlay hinderniss (Ich bin ganz confus undt beschambt so lang unterlassen zu mein schuldigkeyt abzulegen). 90  Arneth, Correspondenz (wie Anm. 24) 187.



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gen, etwa des kaiserlichen Bruders und dessen Vertrauter91. Der von Arneth in Auswahl herausgegebene Korrespondenzwechsel zwischen Karl (III.) sowie Graf Wratislaw wird ebenso durch ganz eigenhändige, teilweise sehr umfangreiche Schreiben geprägt 92. Die Art der Abfassung wurde auch in den Texten thematisiert, am Beginn eines eigenhändigen Briefes vom 28. April 1710 verwies Karl etwa auf Wratislaws eigenhändiges schreiben93. In einem nur von Karl unterfertigten Schreiben verweist er am Ende auf die Abfassung durch diese vertraute Handt94. Am 9. Mai 1711 nannte Karl ein eigenhändiges Schreiben an die Kaiserin(mutter)95. Der vertraute Schriftwechsel mit Wratislaw hatte sich insbesondere nach dem Kennenlernen des kundigen Diplomaten in Großbritannien auf dem Weg nach Spanien entfaltet96. Nach der Niederlage bei Almansa am 25. April 1707 setzte Karl ein eigenhändiges Schreiben an Wratislaw mit einer kurzen Schilderung des Schlachtverlaufs mit herben Verlusten und des unglücklichen Verhaltens des Kommandierenden Graf Galway auf (4. Mai 1707), als Schlusscourtoisie ist zu lesen: Verbleib ich der alte, der euch von herzen liebe, Carl 97. In einem Schreiben vom 15./16. Dezember 1705 verwendete Karl folgende Huldversicherung: Adieu ich verlass mich auf euch mit aller lieb ganz zugethan98. Die manchmal deutlichen und offenen Ratschläge Wratislaws nahm Karl dem Ratgeber nicht übel, ganz im Gegenteil meinte er in einem Schreiben vom 2. März 1708: Dass ihr mich von allen avisiert was ihr hört ist mir ganz lieb vnd ist eins ieden treuen diener

91   Z. B. HHStA, HA SB 2-1 (1707), fol. 46r (17. Dezember). Vgl. Eintrag zum 20. April, ebd. 2-2 (1708), fol. 29r: auch weg(en) 5 punct memo(rialen), Meyland schon, zu vor agiustirt, nur pro forma die antwort geben wie schon convenirt und den kayser geschriben worden bzw. 27. April 1708: Lamberg freundschafft macht, nichts nuz, sonst kayser bos. Der Schriftwechsel mit dem Vater Leopold, dem Bruder Joseph, der Mutter Eleonore Magdalena, mit der Gattin Elisabeth Christine oder auch der englischen Königin Anna wird im Staatsarchiv verwahrt. HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 7-14 (1702–1713). 92   Arneth, Correspondenz (wie Anm. 24) 9, 13f. Die Texte der ausgewählten Dokumente gab Arneth auch nicht vollständig heraus, sondern ließ etwa häufige Wiederholungen aus. „Auch kann nicht mit Stillschweigen übergangen werden, dass einige, jedoch nur wenige Stellen hinwegfielen, deren Mittheilung aus manchen, auch nach so langer Zeit noch nicht zu verletzenden Rücksichten unpassend sein würde.“ Ebd. 14. Es dürfte sich dabei wohl um sehr persönliche Stellen handeln, die Arneth wegließ. Allein deshalb wäre eine neuerliche Durchsicht dieser Korrespondenz ein lohnendes Unterfangen. 93  Ebd. 122. Ähnliches steht am Beginn eines Briefs vom 25. Juni 1711 (mein lezteren eigenhandigen brief, ebd. 185). Wratislaw nannte wiederum einen eigenhändigen brief von 23. April Karls an ihn (ebd. 157) bzw. ein allergn. Handt schreiben am 27. Mai (ebd. 164). Am 5. August 1711 bestätigt er u. a., dass er ein allergn. eigenhändiges Duplicatum empfangen habe (ebd. 207). 94   Ebd. 121. 95   Ebd. 155. 96  Arneth verweist dabei regelmäßig auf die „ganz eigenhändig[en]“ Schreiben. Am Ende der Einleitung ist zudem die Auslassung von nichtssagenden sowie „unpassend[en]“ Stellen in den Texten erwähnt. Der Inhalt dieser Passagen wäre aus heutiger Sicht nicht zuletzt aufgrund des diskutierten Verhältnisses des Kaisers zu einigen seiner Ratgeber wiederum von einigem Interesse, auch wenn diese Weglassungen auch ganz andere Inhalte umfassen könnten. 97  Arneth, Correspondenz (wie Anm. 24) 43. 98 Ebd. 31. Am 23. November 1709 (versichere euch anbey meiner beständigen lieb, erkanntnuss und confidenz, ebd. 99) bzw. 11. Februar 1710 (verlass mich vollig vndt allein auf ewr trey vndt eyfer vndt versicher euch meiner bestandigen lieb, vertrauen vndt wahrer erkantnuss) sind entsprechende Formulierungen zu lesen. Besonders deutlich ist der Verweis kurz nach dem Tod des Bruders und den daraus sich ergebenden Umwälzungen: Mehrers kan nicht insinuiren, bis nicht mit erst ankommenden briefen mehrers licht in ein vndt anderen nemb, also heunt endte vndt euch bey ewrer trey vndt pflicht erinder mich ohne schey vndt egard von allen zu berichten gut vndt vbles, was vor mein dienst in ewren gewissen notig findten werdt. Ebd. 155. In einem Postscriptum vom 11. Juni 1711 ist zu lesen: womit euch nochmahlen meiner bestendigen lieb vndt gnadt versicher. Ebd. 182.

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schuldigkeit in allen die wahrheit zu schreiben, welchs mir allzeit angenem sein wird  99. In einem eigenhändigen Schreiben vom 15. Jänner 1711 verwies Wratislaw am Ende auf ein spanisches Schreiben an den Prinzen, das Befehle Karls enthielt, die entgegen den ihm mitgeteilten Konferenzschlüssen waren. [S]o ich nur zu dem endte melden wollen, weill mir vorkommt dass der Romeo an dem Printzen anderst expediret, vndt zu E. M. Vnterschrift geben alss dieselbe nicht in gedachter Conferentz resolviret haben100. An dieser Stelle darf jedenfalls nochmals das die Korrespondenz auszeichnende Vertrauensverhältnis genannt werden, das sich auch in den Formulierungen und nicht zuletzt der dichten Eigenhändigkeit in den Schreiben widerspiegelt. Betrachtet man dazu die Schreiben Karls VI. an Aloys Thomas Raimund Graf Harrach (1669–1742), wird ein Raster an möglichen Formen von Kommunikation deutlich101. Die Korrespondenz mit dem Grafen zog sich über mehrere Jahrzehnte und ist v. a. auch deshalb von Interesse, weil Harrach von 1728 bis 1733 als Vizekönig in Neapel tätig war. In Wien war er etwa Teil der Geheimen Finanzkonferenz, die für die Koordinierung der habsburgischen Finanzen zuständig war. Eine bedeutende Rolle spielte er auch als niederösterreichischer Landmarschall102. Kurzum genoss Harrach als Mitglied der „spanischen“ Gruppe bei Hof das Vertrauen Karls VI. bzw. konnte Einfluss am Wiener Hof geltend machen. In den Konvoluten finden sich jedenfalls mehrere bereits bekannte Varianten von Schreiben: Von einem Sekretär verfasste und von Karl VI. links unmittelbar unter dem Text unterfertigte deutschsprachige Schreiben. Diese enthalten vereinzelt mehrzeilige, eigenhändige Ergänzungen nach der Unterschrift. Karl unterzeichnete dabei mehrfach nicht nur das Schreiben, sondern auch seine zusätzlich angefügten eigenhändigen Zeilen jeweils links unterhalb des Textes. Der Funktion Harrachs als neapolitanischer Vizekönig geschuldet sind vereinzelt Schreiben des spanischen Staatssekretariats in dem Konvolut vorhanden, die der Kaiser unterfertigte und Vilana-Perlas103 gegenzeichnete. Ein Schreiben in Sachen des Vliesordens an seinen chevalier et confrere vom 4. Februar 1713 ist vollständig auf Französisch verfasst, der Ordenssouverän unterzeichnete unmittelbar unter dem Haupttext eigenhändig mit Charles (Abb. 1)104. Vollständig eigenhändige Schreiben Karls VI. liegen in Folio- und Quartformat vor. Insbesondere die großformatigen, vierfach gefalteten Bögen sind von Interesse, da diese einen durchaus beträchtlichen Umfang von mehreren beschriebenen Seiten und damit einen entsprechend geleisteten Arbeitsaufwand verdeutlichen. Nicht nur die Berichte der Zeitgenossen, sondern auch die Einträge in den Tagebüchern selbst belegen die intensive Schreibtätigkeit

  Nach ebd. 65. Ähnliches steht am Ende eines Schreibens vom 4. Juni 1708. Ebd. 68.  Ebd. 138. In der Antwort vom 28. März 1711 verwies Karl auf die Depesche an den Prinzen, wovon er sich die minuten bringen lassen und diese entsprechend seinen Anordnungen befunden hat, da er den Prinzen um Truppenentsendung aus Mailand nach Möglichkeit gebeten hatte. Ebd. 142. 101  Konkret beziehe ich mich auf folgende Konvolute im Familienarchiv Harrach: AVA, Familienarchiv Harrach, Familie in specie 56.5 (1728–1735), sowie ebd. 481.2 (1738) und 789.6 (7. Februar 1737). Neben den Schreiben Karls VI. sind auch Konzepte von Schreiben Graf Harrachs vorhanden. Im Folgenden werden nur die Schreiben des Kaisers betrachtet. 102   Dazu William D. Godsey, The Sinews of Habsburg Power. Lower Austria in a Fiscal-Military State 1650–1820 (Oxford 2018) 197–201. 103  Zu diesem mit weiterführender Literatur Seitschek, Tagebücher (wie Anm. 1) 242–247. Den Versuch einer Biographie bietet Sebatià Sardiné i Torrentallé, Jo, Vilana-Perles. El diplomàtic català que va moure els fils de la Guerra de Successió (1704–1734) (Mateixa Colecció 47, Lleida 2013). 104  AVA, Familienarchiv Harrach, Familie in specie 56.5, fol. 51–52. 99

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Yo el rey 305 Abb.1: AVA, Familienarchiv Harrach, Familie in specie 56.5, fol. 52.

des Kaisers105. Wenig überraschend beginnt und reicht die Schrift bei den eigenhändigen Schreiben bis an den Blattrand. Am Ende steht die Unterschrift unmittelbar unter dem Text und lässt den Rest des Blattes frei, sofern überhaupt noch Platz vorhanden war. Insbesondere die quartformatigen Schreiben umfassen mehrfach nur wenige Zeilen. Dass die Schrift Karls VI. nicht vom „Blatt weg“ einfach zu lesen war, belegen nicht zuletzt dem Konvolut beigelegte Transkriptionen der Texte. Diese sind von einer auch bei den Konzepten anzutreffenden Hand verfasst und stammen eventuell von Harrach selbst, entstanden jedenfalls innerhalb der Harrachschen Kanzlei. Karl VI. entfaltete nach 1732 auch über Bartenstein abseits der offiziellen Kanäle einen regen Korrespondenzwechsel mit seinem Diplomaten in London. Die Schreiben sind von der Hand Bartensteins verfasst, die Unterschrift steht links unten unmittelbar am Ende des Textes. Ganz eigenhändige S­ chreiben fehlen, jedoch gibt es vereinzelt mehrzeilige Anmerkungen bis hin zu mehrseitigen Postscripta am Ende der Schreiben106. Vor dem Hintergrund der regen Schreibtätigkeit Karls scheint dieser Austausch über Bartenstein nach London kein neues Mittel, jedoch bleibt die Frage zu stellen, ob gerade dieser Schriftwechsel mit London mit den wichtigen Themen der Anerkennung der dynastischen Erbfolge und einer möglichen Aussöhnung zwischen Hannover und Berlin in diesen Jahren für Bartenstein eine Möglichkeit war, das Vertrauen des Kaisers zu gewinnen, ähnlich wie es der spanische Staatssekretär Perlas genoss.

105  Backerra, Wien (wie Anm. 5) 120. In den Tagebüchern notierte er etwa schreiben ganz vormit(tag) (12. September 1728) oder curir, hofc(anzler), Soiss(ons), ich schriben ganz abendt (6. Juli 1728). 106   Charlotte Backerra hat auf diese Schreiben aufmerksam gemacht und den Briefwechsel ausgewertet, s. Backerra, Wien (wie Anm. 5) 119–121. Zu Bartensteins Rolle ebd. und Joseph Hrazky, Johann Christoph Bartenstein. Der Staatsmann und Erzieher. MÖStA 11 (1958) 221–251.

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Im Vergleich dazu entsteht bei Handschreiben an Prinz Eugen der Eindruck, dass die Zeilen weniger dicht an den Blattrand und auf der Seite insgesamt gedrängt sind107. Neben den vierfach gefalteten Foliobögen liegt auch Korrespondenz im vertraulicheren Quartformat vor108. Die Adresse steht dabei im dritten, das Siegel am vierten Feld. Am Adressfeld des Schreibens vom 19. August 1717 ist etwa zu lesen: Ihro Libten den prinzen Eugenio, Eugenio v(on) Savoyen meinen generalleutnant, hofkrigsrathpresidenten undt gobernator in den Niderlanden, [Paraphe]. Auch die Quartbögen werden vierfach gefaltet, jedoch stehen von den insgesamt sechs Feldern vier größere zwei schmaleren am Rand gegenüber. Die Adresse im fünften Feld lautet etwas kürzer: Ihro libden den prinzen Eugenio v(on) Savoyen, meinen generalutnant und krigsrathpresidenten. [Paraphe]109. Die Anrede lautet kurz Durchleichtigster furst. Diese steht im Textblock und ist auch nicht durch die Schreibweise abgesetzt110. In einem quartformatigen Schreiben von 1718 ist zu Beginn zu lesen: Mon tres chere prince, dismahl mus ich komen ein que sa amorosa (wie die Spanier sagen)111. Eine Besonderheit der Schreiben und ein Entgegenkommen gegenüber dem Empfänger Prinz Eugen ist zudem, dass der Kaiser die abschließende Courtoisie in Französisch verfasste, die durchaus auch mehrere Zeilen umfassen konnte112. Handelt es sich bei dem Schreiben vom 19. August 1717 um eine Antwort auf die von Graf Hamilton überbrachte Siegesnachricht bei Belgrad, die zwei Blattseiten umfasst, adressierte er auch an Prinz Eugen umfangreiche Schreiben113. In den eigenhändigen Schreiben teilte er Prinz Eugen jedenfalls wichtige Besetzungen bei Hof mit, etwa die von ihm erwogenen Kandidaten für die Geheime Finanzkonferenz 1716 (vgl. Handschreiben an Trautson weiter unten). Allein Stella wäre davon in Kenntnis, ansonsten wollte er vor der Veröffentlichung die Meinung des Prinzen abwarten114. Schließlich erreichten den Prinzen auch die be  HHStA, Große Korrespondenz 90b-3, Handschreiben an Prinz Eugen (1712–1736).   Ebd. 1718 fol. 66. 109   Ebd. 1718, fol. 76r. Die Paraphen hatten wohl nicht zuletzt den Zweck, mögliche Ergänzungen zu vermeiden. 110  Z. B. HHStA, Große Korrespondenz 90b-3, Handschreiben an Prinz Eugen 17. August 1717, fol. 47r. 111   Ebd., Handschreiben an Prinz Eugen 1718, fol. 77r. Karl zeigt sich in dem Schreiben besorgt über die Gesundheit des Prinzen und schreibt, dass sich dieser schonen solle. Der Hinweis auf die „Spanier“ könnte mit Wissen um die Ende 1719 aufgedeckten Intrigen der Gruppe um Althann gegen Eugen auf die damit verbundenen Spannungen bei Hof hindeuten. 112  Etwas kürzer fällt die Courtoisie in einem Schreiben vom 25. September 1717 aus: Jusque la adieu mon cher prince conservez votre santé pour amour de may et croyez moy tous jours tout votre Carl (ebd., Schreiben vom 25. September 1717, fol. 58r); 28. Juli 1718 (ebd., fol. 75r): Je vous embrasse de tout mon coeur et soyez persuadee que par inclinasion par reconoissance et par estim se conserve tous jourz un afecion et confidance inalterable et que je suis tous jourz tout votre Carl. Vgl. die Schlusszeilen des Schreibens vom 8. Oktober 1716, transkribiert in: Prinz Eugen von Savoyen 1663–1736. Ausstellung zum 300. Geburtstag (Wien 1963) 168f. und Abb. 26. Karl bittet den Prinzen darin, nicht zuletzt auf seine eigene Person Acht zu geben, was immer wieder zu lesen ist. In diesem Text sind auch vereinzelte französische Sätze eingeflochten. Das Schreiben wurde dem päpstlichen Gesandten mitgegeben, der die Ehrengaben an den Prinzen (Hut und Degen) nach dem militärischen Erfolg überreichen sollte. Darin finden sich auch die bekannten Zeilen Karls: Au reste megt ich wohl meinen liben Prinzen in dieser Funcion undt mit den schonen Capl sehen undt in gehaimb ein wenig lasßen, dan ich Euer Liebden Humor in solchen funciones kenne. Ebd. 169. Ähnliche französische Passagen in den Texten an den Prinzen sind jedenfalls immer wieder anzutreffen. HHStA, Große Korrespondenz 90b-3, Handschreiben an Prinz Eugen 17. August 1717, fol. 47v; 25. September 1717, fol. 58r: Au reste mon prince usw. 113  Z. B. HHStA, Große Korrespondenz 90b-3, Handschreiben an Prinz Eugen 18. September 1717, fol. 49r–56v. Auch dieses Schreiben endet üblicherweise mit einer französischen Courtoisie. 114  Braubach, Eugen (wie Anm. 16) 3 332f., 452 Anm. 115. Schreiben vom 15. Juli 1716 (HHStA, Große Korrespondenz 90b). 107 108



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Abb. 2: AVA, FA Harrach, Familie in specie 56,5 (21.1.1729).

reits mehrfach erwähnten, weniger persönlichen Korrespondenzen in Folioformat, die der Kaiser nur eigenhändig unterfertigte115. Zur mehrfach beobachteten Paraphe am Adressfeld kann angemerkt werden, dass sie wohl auch von Karl VI. persönlich gesetzt wurde, wie die Adressfelder der eigenhändig verfassten Schreiben anzuzeigen scheinen. Mit viel Phantasie ließe sich ein rudimentäres mp oder gar Carl erkennen (Abb. 2), Maria Theresia unterfertigte einige ihrer Korrespondenzen etwa mit einem einfachen M116. Zusammengefasst: Es konnten vollständig eigenhändige Schreiben an die Familienmitglieder und vertrauten Ratgeber vorgestellt werden, für die Karl VI. neben dem vertrauteren Quart- auch das Folioformat benutzte. Förmlicher waren Schreiben in Kanzleihand mit eigenhändiger Schlusscourtoisie und Unterschrift, die selbst bei der Korrespondenz mit der Gattin in Barcelona begegnen, wo diese aber auch die Funktion einer Regentin wahrnahm.

Resolutionen Die erhaltenen Protokolle der Gremien des Wiener Hofes illustrieren die Beteiligung des Kaisers an den Entscheidungsprozessen durch seine am Ende gefasste allerhöchste Resolution. Diese reichte von einem einfachen placet oder placet in toto zu zeilen-, teilweise seitenlangem Abwägen der Vorschläge seiner Ratgeber. Dabei übernahm er diese auch nicht immer bedenkenlos bzw. setzte sich in geringem Maße, etwa bei Summen von Gnadengeldern, durchaus über diese hinweg. Die Lesbarkeit der Resolutionen war dabei nicht immer gegeben, was zeitgenössische Transkriptionen nahelegen. So notierte er 115   Z. B. HHStA, Große Korrespondenz 90b-2, Schreiben vom 26. August 1716. Die Anrede lautete: Hochgebohrner pr(inz), lieber vetter und fürst etc. 116 Monika Czernin–Jean Pierre Lavandier, Liebet mich immer. Maria Theresia. Briefe an ihre engste Freundin (Wien 2017) 7f. Ähnlich wirkt jedoch auch ein auf Anlagen (beykommenden weitläuffigen von 7. Juni bis 29. eiusdem verfassten actis) verweisendes Zeichen in einem Schreiben vom 9. Juli 1712 an Elisabeth Christine, das Karl nur eigenhändig unterfertigte; z. B. HHStA, Staatenabteilungen Spanien, Hofkorrespondenz 14.2, fol. 3v. An anderer Stelle werden die üblichen Anlagestriche verwendet; Schreiben vom 10. Oktober 1712, ebd., fol. 66r. Rudimentär steht dieses Zeichen auch am Ende einer handschriftlichen Ergänzung bei einem Konzept eines Schreibens Karls an Elisabeth Christine von Ende 1712. Ebd. fol. 112v, 29. Dezember 1712. Zur Herrscherunterschrift allgemein Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (Wien–München 2009) 159–162. Zur Praxis in der Reichskanzlei Lothar Gross, Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806 (Inventare Österreichischer Staatlicher Archive V: Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1, Wien 1933) 216f.

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relativ umfangreich in der zeremoniell nicht unwichtigen Frage des Rahmens für Treffen der Kaiserin mit anderen Fürsten bzw. Fürstinnen auf ihrer Reise nach Wien 1713: k(ann) die kayserin in privato mit fürstinen befreundt(en) essen, auf all wais evitiren mit mannern, außer sie verlangte ihren vatter undt grossvatter zu sehen, welche endtlich mit ihr aber in der camer ganz retirat essen könnten, doch wenn wenig geschehen kan, werdt besser sein. Am Ende des Gutachtens ist dann bezüglich der anderen Punkte zu lesen: in reliquo placet117. Die Sprache der Entschließungen entsprach auch der jeweiligen Zuständigkeit des beratenden Gremiums, in der Regel waren diese also auf Deutsch abgefasst. Bei Beratungen zu ungarischen Angelegenheiten, beispielsweise in den Protokollen der Geheimen Finanzkonferenz, erfolgten solche aber durchaus auch in Latein118. Zudem sind eigenhändige Notizen Karls VI. zu Gegenständen der Geheimen Konferenz erhalten119. Die Protokolle der Geheimen Finanzkonferenz liegen in gebundener Form vor und sollen als Beispiel für solche kontinuierlich geführten Sitzungsprotokolle dienen. Festzustellen ist ein gewisser Unterschied zwischen jenen Protokollen, bei denen der Kaiser persönlich teilnahm, und solchen, wo der Senior der Minister den Vorsitz übernahm. Die Sitzungen wurden jährlich durchnummeriert, wobei jene im Beisein des Kaisers nochmals eigene Nummern erhielten (z. B. sessio 2da, coram August[issim]o 1ma). War der Kaiser anwesend, dann fielen in der Regel nicht nur die Protokolle kürzer aus, sondern stand am Ende dieser ein eigenhändiges Placet, Carl. Bei den anderen Dokumenten stand unter den Rubren der einzelnen durchnummerierten Beratungspunkte die allerhöchste Resolution, die eigenhändig durch den Kaiser, häufig aber durch Schreiber eingetragen wurde. Neben der Entscheidung enthalten diese Einträge durchwegs einen Hinweis auf das Resolutionsdatum. Zu fragen wäre, inwieweit eine Mehrfachüberlieferung vorhanden ist bzw. ob die in die Bände gebundenen Protokolle zusammengestellt wurden, also diese eventuell Abschriften darstellen. Konzepte der Sitzungen liegen auch im sogenannten Nachlass Schierendorff vor120. Diese enthalten als Protokollextrakte überschriebene Konzepte, die zahlreiche Korrekturen bzw. Ergänzungen aufweisen. Eigenhändige kaiserliche Notizen konnten in diesen Konzepten bei einer ersten Durchsicht nicht festgestellt werden121. In seltenen Fällen sind auch kaiserliche Handschreiben beigebunden (s. unten)122. Betrachtet man die Resolutionen, so sind diese in der Regel kurz und dem Votum der Konferenz zustimmend. Bei den Personalfragen wird nicht selten der Erstgereihte des Dreiervorschlags durch den Landesfürsten benannt, manchmal wich Karl VI. von dieser Praxis aber auch ab. 117  Z. B. HHStA, OMeA, ÄZA 25 (1713–1714), fol. 3v–4v (Konv. Reise Elisabeth Christine von Barcelona nach Wien). Auch ein folgendes Gutachten beinhaltet tw. lange eigenhändige Resolutionen Karls VI., was die beigemessene Bedeutung der Planung dieser Reise der Kaiserin nach Wien illustrieren kann. 118  Z. B. FHKA, GFK Prot. 5 (1719), fol. 1v (die Abtei St. Gotthard betreffend, wobei der Kaiser die Angelegenheit zunächst auf die Ungarischen Kanzlei verweist). 119   Diese umfassen den Zeitraum zwischen 1720 und 1740. Hochedlinger, Fadesse (wie Anm. 2) 801. Nach mehreren Umordnungen befinden sich diese bei den Vorträgen der Staatskanzlei. Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1–5, hg. von Ludwig Bittner (Inventare Österreichischer Staatlicher Archive V: Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 4–8, Wien 1936–1940) 1 423, 2 17 Anm. 1; Hochedlinger, Fadesse (wie Anm. 2) 801. 120   Zu diesem Alfred Fischel, Christian Julius von Schierendorff, ein Vorläufer des liberalen Zentralismus im Zeitalter Josefs I. und Karls VI., in: ders., Studien zur Österreichischen Rechtsgeschichte (Wien 1906) 137–305. 121  Eingesehen wurden die Konzepte zwischen 1716 und 1719. 122  Z. B. zum Protokoll der 24. Sitzung am 9. November 1719, s. FHKA, GFK Prot. 5 (1719), zwischen fol. 623v–624r. Dieses ist an den fürsten v(on) Trautson, meinen wigrlichen [!] gehaimen rath, also den ranghöchsten Minister, adressiert.



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Vorträge der Behördenleiter an den Kaiser mit dessen eigenhändigen Unterfertigungen sind an dieser Stelle anzuführen; sie weisen die bekannten Formen auf 123. Charakteristisch und rasch erkennbar sind diese durch die Anrede Allergnädigster Kaiser, König und Herr etc. über dem Text124. Die Reinschriften sind auf Folioformat halbbrüchig verfasst, am Ende der letzten beschriebenen Seite steht nach einem Devotionsstrich bis zum Blatt­ ende125 die Unterschrift des Hofkammerpräsidenten auf der rechten Seite. Die Rückseite enthält weitere Angaben zum Datum (rechts am Kopf bzw. obere Hälfte), auf der unteren Hälfte ein Rubrum126 und am Blattende die Unterschriften bzw. Paraphen des damit befassten Kanzleipersonals. In der Regel befinden sich über dem Rubrum Verweise zum Geschäftsgang, also etwa reprod(uziert) für die Rückgabe des unterfertigten Vortrags an die Hofkammer. Links wurden die Angaben zu Ausstellungsort und Datum angebracht. Einige Beispiele dazu aus der Hofkammer: Unter dem 2. Jänner 1731 berichtete etwa der Hofkammerpräsident Dietrichstein betreffend die Supplik um Extraspesen des kaiserlichen Residenten am polnischen Hof. Der Kaiser notierte am Ende des Vortrags zustimmend: Placet wie eingerathen, Carl 127. Entsprechende Resolutionen fielen dabei durchwegs zustimmend und daher entsprechend kurz (Placet) aus. Etwas ausführlicher gestaltete sich die Zustimmung bei einer Resolution zur Erhöhung der Besoldung der Räte und der anderen Mitarbeitern im Reichshofrat 1717: Soll dis ney augmentum der besoldung mit ersparung der zwey ersten quartal vollzohen werden, Carl 128. Hinzuweisen ist darauf, dass nicht selten in den Konvoluten nicht nur die originalen Exemplare einliegen, sondern dabei auch eine Abschrift dieser129. In Rahmen seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Geheimen Finanzkonferenz bzw. konkret einer angeordneten Mittel-Conferenz wandte sich auch Johann Leopold Donat Fürst Trautson (1659–1724) in finanziellen Fragen an den Kaiser. Das Referat vom 22. November 1717 befasste sich mit der Aufbringung von Geldmitteln für 1718 durch ent Dazu Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 116) 208–210.   Diese gingen in den hier vorgestellten Fällen jeweils nicht über die ganze Blattbreite, sondern waren ebenso halbbrüchig abgefasst wie der Haupttext. Dies änderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts, als man auch die gesamte Seitenbreite nutzte; z. B. Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 116) 267 Bsp. 12c von 1770. 125  Hatte der Haupttext das Blattende erreicht, entfiel der Devotionsstrich, und der Präsident setzte (zwängte) seine Unterschrift zwischen Textende und Blattrand; z. B. FHKA, Österreichische Hoffinanz Ktn. 1983 (6. Jänner–18. Jänner 1714), Vortrag zum 9. Jänner 1714. 126   Dieses wurde auch doppelt angebracht, also jeweils auf der rechten Blatthälfte am Blattkopf sowie der unteren Hälfte bzw. am Blattende; z. B. FHKA, Österreichische Hoffinanz Ktn. 1983 (6.–18. Jänner 1714), Vortrag zum 9. Jänner 1714; Ktn. 2066 (1.–14. Jänner 1717), Vortrag zum 10. Jänner 1717. 127   FHKA, Österreichische Hoffinanz Ktn. 2418 (01. 1731), Vortrag vom 2. Jänner 1731; vgl. auch Vortrag vom 28. Jänner 1731 (Placet. Carl  ). 128   FHKA, Österreichische Hoffinanz Ktn. 2066 (1.–14. Jänner 1717), Vortrag zum 10. Jänner 1717. Die Erhöhung ging also gleichzeitig mit einer kurzfristigen Erleichterung der kaiserlichen Kassen einher, nämlich durch Abzug zweier Quartale. Ähnlich ausführlich äußerte er sich zu den geplanten Einsparungen bei Bestellungen, Pensionen und Gnaden aufgrund finanzieller Engpässe. Konkret ging es um den Beginn der Zahlungsanweisungen: Es soll der terminus a die der ersten gnadt genomen, dis [?] wie gewohnlich abgezogen undt die verblibne rukstant nach moglichkeit des aerarii bezahlt werden. Carl. Ebd., Vortrag zum 14. Jänner 1717. Überhaupt sind es nicht selten Personalangelegenheiten, mit denen Karl von den Finanzstellen befasst wurde. Zum Ansuchen um eine Gnade meinte er auf einen Vortrag Starhembergs 1715 hin: ad meliora tempora werdt seiner dienst ingedenk sein. Carl. Tatsächlich gewährte ihm der Landesfürst dann zwei Jahre später eine entsprechende Summe (Vortrag vom 26. Dezember 1717): Placet 25.000 fl. Carl (beide Vorträge s. FHKA, Österreichische Hoffinanz Ktn. 2098, 12. 1717). 129   Z. B. zum Referat betreffend das Gehalt des kaiserlichen Residenten am königlich preußischen Hof Christoph Andreas Vossius. FHKA, Österreichische Hoffinanz Ktn. 2098 (12. 1717), 16. Dezember 1717. 123 124

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sprechende Zusagen der Erbländer. Karl dazu ausführlicher: Placent media proposita undt sol(len) mir mit allseith bearbeitung bald ad efectum gebracht werden wie auch soll es landern pro extraordinario duplici die anticipacion wie vor jahr angenomen werden130. Am 21. Mai 1719 meinte Karl VI. auf die Supplik des Metropoliten der „griechisch-orientalischen“ (serbisch-orthodoxen) Kirche Vikentije Popović-Hadžilavić, der den Metropolitensitz nach Karlowitz/Karlovice verlegt sowie 1716 und 1717 Getreide und Hafer an die slawonische Administration geliefert hatte, um Geldmittel für die Restaurierung der zerstörten Kirchen und Klöster in Syrmien: es ist bilich, das die bezahlung gleich geschehe 131. In einer etwas späteren Sitzung hielt er zu den jüdischen lifferanten Oppenheimer und Herz Löw Manasses, etwas ausführlicher zum auch von der Konferenz vorgetragenen Wuchervorwurf fest (25. Juni 1719): Gleichwie die juden den contract in nichts adimpliret und also straffmässig, so vill verwundere mich über die nachlässigkeit der camer, die alles hat geschehen lassen, ohne darauf ein wachtsames aug zu haben. Im übrigen soll das abgängige quantum in 14 dagen geliefert seyn oder die causa wirdt in dessen ermanglung auf der juden conto solches also gleich einkaufen lassen zu einigen exempl, aber umb ersezung des schadens seyn die juden oder ihre afterlieferanten den werth an geld von dem ungelieferten gueth dem aerario gratis zu entrichten schuldig, welches also gleich zu vollziehen. Carl 132. Das Zitat belegt jedenfalls das vom Hof sowie dem Kaiser selbst den jüdischen Lieferanten entgegengebrachte Misstrauen und die damit verbundenen Schwierigkeiten für diese, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit von deren Diensten für die Armeeversorgung. Der Einfluss von persönlichen Beziehungen mag in einer Resolution zu einer Sitzung von 1735 fassbar sein. Den Hofkeller hatten Angebote zum Ankauf von Wein erreicht, die Konferenz riet aber von dem Erwerb zu großer Mengen ab, da man für die nächsten Jahre ohnehin versorgt wäre. Die Konferenz sprach sich dennoch für den Kauf der von der Ehefrau Bartensteins angebotenen kleineren Menge österreichischen Weins guter Qualität aus, was der Kaiser in seiner Resolution bestätigte (11. Jänner 1736): Von dem Partenstein der wein zu nemmen, wegen der anderen zu sehen ob es nötig oder zu sehen ob nicht wirtschaftlicher damit weiter zuezuwarten133. Raum für längere Kommentare boten nicht zuletzt die Gutachten der Hofkonferenzen zu zeremoniellen Fragen bzw. Vorbereitungen entsprechender Ereignisse, die in den Zeremonialakten bzw. gebündelt in Form von Abschriften in den Zeremonialprotokollen überliefert sind134. Auf einzelne Resolutionen zur Reise Elisabeth Christines nach Wien 1713 wurde bereits verwiesen. Insbesondere die Organisation solcher Hofreisen wurde   Ebd., 16. Dezember 1717.   FHKA, GFK Prot. 5 (1719), fol. 244v. Aufgrund der geforderten geringen Summe von 1.400 Gulden hatte die Konferenz die Bezahlung empfohlen, nicht zuletzt um die Gläubigen bei guten Willen zu erhalten. 132  FHKA, GFK Prot. 5 (1719), fol. 342v–343r. Zu den Hofjuden mit weiterführender Literatur Christoph Lind, Juden in den habsburgischen Ländern 1670–1848, in: Evelyne Brugger et al., Geschichte der Juden in Österreich (Wien 2006) 339–446, hier 340–350; Barbara Staudinger, Die kaiserlichen Hofjuden in den habsburgischen Ländern, in: Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie (wie Anm. 30) 1 222–226. 133  FHKA, GFK Prot. 21 (1735), fol. 168v. Zu Bartenstein allgemein Alfred von Arneth, Johann Christoph von Bartenstein und seine Zeit. AÖG 46 (1871) 1–214; Hrazky, Bartenstein (wie Anm. 106). 134  HHStA, OMeA, Hofzeremonielldepartement. Zu den Zeremonialprotokollen Mark Hengerer, Die Zeremonialprotokolle und weitere Quellen zum Zeremoniell des Kaiserhofes im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.−18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, hg. von Josef Pauser–Martin Scheutz–Thomas Winkelbauer (MIÖG Ergbd. 44, Wien 2004) 76−93; Wiener Hof, hg. von Pangerl–Scheutz–Winkelbauer (wie Anm. 43); Stefan Seitschek, „Einige caeremonialpuncten bet(reffend)“. Kommunizierende Gefäße: Zeremonialprotokoll und Wiener Diarium als Quelle für den Wiener Hof (18. Jahrhundert) (MA Wien 2011), http://phaidra.univie.ac.at/o:306189 [17. Februar 2020]. 130 131



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im Rahmen mehrerer Gutachten besprochen, wobei sich der Kaiser dabei durchaus einbrachte135. Zum ersten Konferenzgutachten der innerösterreichischen Erbhuldigungsreise 1728 notierte Karl beispielsweise: was den etwas verfallenen statum cameralem betrifft, gehet meine resolution auff daz protocoll der conferenz die unter dem praesidio des kriegspraesidenten hab halten lassen, und ist freylich vor allen zu sehen, wie so wohl sonders der vergangene abgang ersezt, und â parte pro futuro das currens mit vermehr- und restringirung in richtigkeit gebracht werd; weil aber dieß endlich, wan alle ihren fleiß anwenden, nicht unmöglich, anderseiths sowohl die politische ursachen meines diensts, und forderist die genesung der kayserin, auch der vielleicht weiter hoffende seegen von Gott erfordern, so resolvire die reyß auf Grätz und inneröstreich(isch)e ländr heur vorzunehmen. Worüber dan von gehörigen stellen, absonderlich hoffcantzley, welche auch zu beobachten haben wird, daß die landsassen keinen unnützen pracht und spesen machen, und cammer in der gewöhn(lich)en hoffconferenz das weitere wird vorkehret und mir vortrag werden, und absonderlich dahin antragen, daß alles mit möglicher ersparrung und wirtschafft geschehe136. Die Resolution berührt mehrere Konstanten der kaiserlichen Entscheidungspraxis, nämlich die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Zentralstellen bei Hof, die ständige Finanznot sowie die vorhandenen Schulden und deren Begegnung durch Sparsamkeit und Verringerung der Ausgaben und nicht zuletzt das Wohlergehen der Kaiserin. Schließlich musste die Entscheidung getroffen werden, wer den Kaiser auf die Reise begleiten durfte, wobei dies durchaus mit Blick auf die damit verbundenen Kosten erfolgte und die Nennung der Gruppen bei Hof die dortigen Machtverhältnisse widerspiegeln konnte137. Schließlich waren es allgemein Fragen des Zeremoniells, bei denen sich Karl VI. im Zuge dieser Reise einbrachte, etwa bei dem Empfang durch die Stände oder der Form des Einzugs138. Entsprechend lange Resolutionen finden sich auch noch am Ende der Regierungszeit Karls VI., etwa anlässlich des nicht unbedeutenden Anlasses der Rückreise Franz Stephans und Maria Theresias aus Florenz über Innsbruck 1739. Auf einen entsprechenden Konferenzvortrag vom 26. April notierte er: bey diesen allen bin mit der conferenz maynung verstanden, auch daß der Paar sie herin bey denen Tyrolischen gränitzen erwarten, auch härtschieren abgehen sollen, die bedienung zu thuen ausser es möchte der herzog besser finden, das sie nicht begleiten solten. Lezten habe nur beyzusetzen, daß die incognito der reyß nur zu verstehen dem herzog auf Turin, dan von beeden von Insbrugg auff Stockach, sonst aber bey der reyß kein incognito, sondern sie her also, wie sie hineinreysen werden139. 135   Vgl. zu Hofreisen Karls VI. Hanns Leo Mikoletzky, Hofreisen unter Kaiser Karl VI. MIÖG 60 (1952) 265–285; Wilhelm Rausch, Die Hofreisen Kaiser Karls VI. (Diss. Wien 1949); Stefan Seitschek, Die Erbhuldigungsreise 1728: Organisation und Durchführung, in: Habsburger unterwegs. Von barockem Pomp zur smarten Businesstour, hg. von Renate Zedinger–Marlies Raffler–Harald Heppner (Graz 2017) 45–85. 136  HHStA, OMeA, ZA-Prot. 14 (1728–1731), fol. 17v. 137   Ebd. fol. 27v: dieß placet, dabey zu setzen des Rialp Cantzley mit abtheillung auff die reyß bey Mir und zu Gräz; dan mit mir so wohl auff ein alß anderer reyß nichts gehen wird, alß der hoff- oder vice cantzler mit denen nötigen referendarien, oder Perlas mit denen nötigen, und der Imbsen, die andere stellen werden zu Grätz bleiben, wo auch der praesident vom spanischen rath allein mitgehen wird. Auff die reyß wird auch der reichsvicecantzler mitgehen. Vgl. allgemein zu den genannten Passagen sowie weiteren entsprechenden Resolutionen zur Reise von 1728 Seitschek, Erbhuldigungsreise (wie Anm. 135). 138   HHStA, OMeA, ZA-Prot. 14 (1728–1731), fol. 33v: Weil noch nicht positive resolvirt wie den einzug zu machen und seyn kan, das ich auch einreithen wolt, soll der außschuß auff St. Gotthard, die übrige ständ ein stund von Gratz ihren empfang machen, welches alles negster zeit zu resolviren seyn wird; fol. 33r: Placet und daß sowohl bey dem einritt in die hauptstätt etwas zu pferd, auch die wacht zu fues wo nötig und möglich sich befinde. 139   HHStA, OMeA, ZA-Prot. 19 (1739–1740), fol. 33r. Zum Zusammentreffen der lothringischen Familie in Stockach bzw. Innsbruck Renate Zedinger, Franz Stephan von Lothringen (1708–1765). Monarch,

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Häufig gab es am Wiener Hof Anlass zur Hoftrauer, bei deren genauer Festlegung sich der Kaiser immer wieder einbrachte. Am 30. Januar verstarb etwa Elisabeth Auguste von der Pfalz (1693–1728). Der Vortrag bzw. das „Gutachten“ zur Klage und den Exequien datiert vom 24. Februar. Karl hielt am Ende in dieser Angelegenheit relativ ausführlich fest: Placet, die klag auf 3 monath in tuch, wie da eingerathen, anzulegen, auch die galen, wie eingerathn, zu halten, wie auch die exequien, und künfftigen Sontag anzulegen; zu Laxenburg werden wir cabos negros und die cavaliers glatte kleyder und wan ich in die statt in schwarzer seyden gehen, den tag zur ablegung der klag werd nacher benennen und werden die cavaliers 6 wochen, das ist bis 14 tag nach ostern auch in tuch, nacher in schwarz seyden gehen, Carl 140. Die kaiserlichen Resolutionen zu einem Verhandlungsgegenstand wurden auch abschriftlich gesammelt, etwa kann auf eine abschriftliche Zusammenstellung solcher Entscheidungen zur Klage Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel verwiesen werden, des Großvaters der Kaiserin141. Die Beispiele könnten beliebig erweitert werden, doch soll an dieser Stelle lediglich festgestellt werden, dass sich der Kaiser in diesen Fragen durchaus auch in Form längerer Resolutionen einbrachte. Durchaus umfangreich brachte sich Karl VI. auch bei Vorträgen des Hofkriegsratspräsidenten während des Türkenfeldzugs 1716 bis 1718 ein142. Die Resolutionen hatten dabei auch Entscheidungscharakter, etwa wenn es um die Mobilisierung und Durchmärsche von Truppen ging. Nicht selten wird die Erarbeitung weiterer Vorschläge eingefordert, etwa diese breit an den (Hof-)Kriegsrat delegiert. Die Zitierung der Resolutionen sollte weniger die Inhalte der erwähnten Vorträge darlegen als einen Eindruck über den möglichen Umfang bzw. die Formulierung solcher durch Karl VI. geben. Diese reichen von einem einfachen Placet über wenige Zeilen zu beinahe seitenlangen Entscheidungen. Festzuhalten gilt, dass auch längere Resolutionen ihre Grundlagen in den Argumenten der Vorträge haben. Neben den schriftlichen Resolutionen selbst enthalten diese auch immer wieder Hinweise auf mündliche Weisungen143. Manager, Mäzen (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 13, Wien u. a. 2008) 144f. 140   HHStA, OMeA, ZA-Prot. 14 (1728–1731), fol. 20v. 141   HHStA, OMeA, ÄZA 25 (1713–1714), fol. 257 (insgesamt 6 Punkte). 142  Vortrag vom 9. April 1718 (HHStA, Staatenabteilungen Türkei I, Turcica 182, Konv. 2, fol. 22v): hoc primum punctum placet undt ist schon auch das notig an die camer befohlen worden; fol. 25r: In hoc puncto armistaq[?][icion] ist forderst wohl considerirt worden daz dis mir v(on) den Coliers [= Colyers] undt nit v(on) den tyrken kombt [über Zeile eingefügt] also die vollmacht wohl unser ministr(en?) zu geben doch also daz sie nichts darvon regen sollen es sey dan daz die Tyrken selbst es an sie minister mit ernst verlangen inwelchen fall sie es ihn(nen) Tyr(ken) verkauf(en) undt accordiren konen, der terminus placet bis endt May sol aber (uber welchs mich weyter mit den prinzen abreden werdt) ma(n) glauben daz wur noch nicht in selben termin sonder speter die ope­racion erst anzufangen in standt sein werden, wurd ma(n) ih(nen) weyter eingehen konen d(en) Tyrken an bey aber positiv declarir(en) daz nach exp[?]rten termin auf kein geringst extension zu gedenken sondern anfelbahr die arme zu operiren fortfahren werdt. Die antwort an Coiers placet; fol. 25v: hoc punctis wegen inclusion Venedig placet; wegen abschafung des Ragoci- undt ansouinischen minister aber glaub ich soll man vor jzt sagen, daz sie wissen wurden was sie zu thun haben undt ihr wahr intencion uns zum friden zu bezaigen undt uns wenig dar(in) lig ab sie dies behalten odter abschafen ind(em) sie uns wenig schaden konten. Wa(nn) sies aber abschaffen wol(len) uns auch recht sey. Der Ragoci werdt in friden nacher gahr zu extradiren müssen verlangt werden; fol. 26r: hoc placet; fol. 31r: In reliquo placet. Carl. Konkret ging es dabei darum, die Verhandlungsposition zu verbessern, indem die Vorbereitungen für einen neuerlichen Feldzug im kommenden Jahr weiter betrieben wurden. Für den Hinweis bin ich Hüseyin Onur Ercan zu Dank verpflichtet. Unter dem Datum des Referats befindet sich der Hinweis auf die Rückstellung des Vortrags nach den kaiserlichen Resolutionen (herabkhommen den 10. eiusdem abends). 143  Im März 1728 hielt Karl etwa im Zusammenhang mit der innerösterreichischen Erbuldigungsreise fest, dass er was den stall anbelangt, mündlich das weitere dem fürsten [Schwarzenberg] anbefehlen wolle; HHSTA,



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Die landesfürstliche Unterschrift Die Kanzleischreiben (Wir-Stil) bzw. Handschreiben (Ich-Stil) durch Kanzleihand, die man eigenhändig mit einer Schlusscourtoisie und Unterschrift versah, wurden bereits thematisiert. Dass die Unterschrift auch mit territorialen Ansprüchen verknüpft war, scheinen die bereits genannten entsprechenden Unterfertigungen der spanischen Kanzlei mit Yo el rey zu belegen. Auch wenn Karl VI. hier an Traditionen anknüpfte, verdeutlicht dies umso mehr seine Zeichnungsrolle eben als legitimer spanischer König. Die Kanzlei­ tradition wurde dann auch in Wien von den betreffenden Verwaltungsstellen unter Verwendung der entsprechenden Sprachen weitergeführt144. Dabei ging es auch nach 1711 bzw. 1725 insbesondere um die Verleihung von Granden- bzw. Marquese-Titeln, wobei die Verleihungen in den Schlussformeln etwa auf firmada de mi r(ea)l mano, sellada con el sello de mis Armas145 verwiesen. Der Kaiser unterfertigte dabei neben der üblichen Formel Yo el rey auch einfach nur mit einer verkürzten Manupropria-Paraphe146. Dabei ist die Yo el rey-Formel, ähnlich wie die gängige Unterschrift Carl 147, in den Ausfertigungen dann mit der Manupropria-Paraphe kombiniert. Die genannte Paraphe taucht insbesondere auch bei innerbehördlichen Handschreiben auf, die direkt am Blattkopf ohne Anrede einsetzen und die ganze Blattseite ausnützen, wobei die Unterfertigung dann direkt unmittelbar zentral am Textende anknüpft148. Schon unter Maximilian wurde ein Stempel (Katsched ) aufgrund der zunehmenden Massen an Schriftstücken für das kleine Handzeichen genutzt. Dieser wurde trocken aufgedrückt und dann mit Tinte nachgezogen149. Ein Hinweis in einem Salbuch belegt die Anwendung eines solchen Unterschriftenstempels auch für Karl VI.: Am Ende der Abschrift der Ritterstandsverleihung für Mathias Benedikt Finsterwalder wird darauf verwiesen, dass diese erst nach dem Tod des Kaisers ausgefertigt wurde. Die Unterfertigung erfolgte mit der eigens angefertigten und im Besitz Karls VI. befindlichen Stampilia. Wohl um die Rechtmäßigkeit des Vorgangs zu dokumentieren, wurde diese im Beisein OMeA, ZA-Prot. 14 (1728–1731), fol. 33r. In einem Protokoll der Finanzkonferenz wird etwa auf eine mündliche Anordnung an die Böhmische Hofkanzlei verwiesen. FHKA, GFK Prot. 5 (1719), fol. 7r. 144   Zu den Zentralbehörden für die ehemals spanischen Gebiete nach 1713 mit weiterführender Literatur nun Carlo Capra, Die Zentralbehörden für die italienischen Provinzen, in: Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie (wie Anm. 30) 1 522–533, und Renate Zedinger, Die Wiener Behörden für die Verwaltung der Österreichischen Niederlande, in: ebd. 534–540. S. die weit gediehene Reinschrift der Verleihung der spanischen Grandezza für Mailand auf Spanisch im entsprechenden Akt: AVA, Adel, Hofadel Mailand (28. Oktober 1716). Verleihungen an Einzelpersonen betreffend Mailand waren etwa auf Latein und durch Karl mit Yo el rey unterfertigt. S. dazu z. B. Abschriften der Texte in AVA, Adel, Hs. 305 und 306. Die Kommentare bzw. Rubren dieser in der Kanzlei in Wien angelegten Übersichten sind wiederum auf Italienisch bzw. Spanisch abgefasst. 145   Z. B. AVA, Adel, Hofadel, Verleihung der Grandenwürde an Caracholo, Herzog von Sorito (Unterfertigung auf weit gediehenem Konzept mit Yo el rey und aufgedrücktem Siegel). 146  Verwiesen kann etwa auf einen Vortrag des spanischen Rates an Karl werden, den dieser dann auch mit einer eigenhändigen Resolution versah. Die Sitzungsteilnehmer selbst, deren Namen am Beginn des Vortrags stehen, unterfertigten unmittelbar nach dem Ende des Textes in einer Zeile mit ihren Paraphen; s. AVA, Adel, Hofadel Generalien Spanische Granden, Fasz. 46, 8. März 1715. Ähnlich verhält es sich bei einem Vortrag vom 29. Dezember 1713 betreffend den Grafenstand für Riba; AVA, Adel, Hofadel Riba 1714. 147   Sprachlich abgewandet Carolus bzw. Charles. 148  Z. B. AVA, Adel, Hofadel Mailand (28. Oktober 1716), Handschreiben vom 16. April 1716 auf Spanisch. 149 Manfred Holleger, Die Maximilianeischen Reformen, in: Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie (wie Anm. 30) 1 375–420, hier 387.

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Stefan Seitschek Abb. 3: AVA, Adel, Salbuch 259, fol. 366r.

des Hofkanzlers Graf Sinzendorf, eines Hofrats, eines Hofkammerrates sowie des geheimen ­Kammerzahlmeisters durch den ersten Hofkanzleiadjunkt der niederösterreichischen Expedition vorgenommen. Bei der im Salbuch folgenden Verleihung wird nur noch allgemein auf die in Einsatz gekommene Stampilia sowie die vorhergehende Anmerkung dazu verwiesen (Abb. 3)150. In der Frühen Neuzeit gewannen Drucke mit eigenhändigen Unterfertigungen des Landesfürsten immer mehr an Bedeutung. Aufgrund der anzunehmenden Zahl solcher Schreiben muss die Existenz solcher Unterschriften-Stempel also nicht verwundern und war auch außerhalb der Habsburgermonarchie eine gängig geübte Praxis151. Trotzdem darf an dieser Stelle auf die häufigen und regelmäßigen Einträge Karls in seinen Tagebüchern über „Schreiben“ bzw. explizit „Unterschreiben“ erinnert werden. In diesem Zusammenhang kann auf die Praxis bei Schreiben an die Landstände verwiesen werden, konkret auf Einladungen zu Huldigungslandtagen. 1728 beschwerten sich u. a. die Kärntner Landstände über die Einberufung mittels Generalpatent vom 20. März. Nicht nur sollte der Ansetzung eines Huldigungsaktes eine Landtagszusammenkunft vorangehen, sondern wären die Stände einzeln über die Huldigung zu informieren. An das innerösterreichische Regiment hatte der Kaiser vier eigenhändig unterfertigte Schreiben kommuniziert, das dann die weiteren Schritte veranlassen sollte. Man erklärte dieses Vorgehen bereits darin als nicht präjudizierlich und den besonderen Umständen der Huldigung geschuldet152. Die Ladung zu einem am 5. Dezember 1729 zu haltenden 150 Stefan Seitschek, Die Salbücher als Quelle zur Regional-, Institutionen- und Personengeschichte (ca. 1705–1740). Adler 27/5 (2014) 1–44, hier 14f., 41 Tafel 1b. Nebenbei kann darauf verweisen werden, dass das Diplom erst elf Jahre nach der Verleihung ausgefertigt wurde. 151   Zur Verwendung von Namensstempeln in der Reichskanzlei bzw. allgemein Gross, Geschichte (wie Anm. 116) 216f.; Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 116) 160f. In Frankreich wurden etwa die Schrift und selbst der Namenszug Ludwigs XIV. durch einen Sekretär imitiert. Vgl. zur französischen Praxis Wolfgang Hans Stein, Die Klassifikation des französischen und französisch-sprachigen Schriftgutes der frühen Neuzeit in deutschen Archiven zwischen deutscher Aktenkunde und französischer diplomatique moderne. AfD 44 (1998) 211–274, bes. 222–242, zur Nachahmung der Handschrift des Herrschers 224. 152   S. dazu kompakt mit weiterführender Literatur Stefan Seitschek, Die Erbhuldigung 1728 in Kärnten, ihre Organisation und Durchführung anhand ausgewählter Quellen. Carinthia I 202 (2012) 125–178, hier 168f.



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Landtag der oberösterreichischen Stände erging an die Vertreter der Stadt Enns mittels Reskript (Wir-Stil) vom 12. November des Jahres. Anrede (Getreue Liebe), die Datumsangaben sowie die Unterschriften und die Außenadresse wurden handschriftlich ergänzt. Unmittelbar unter dem Text steht die Unterschrift des Landesfürsten, es folgt die Gegenzeichnung des Behördenleiters sowie der Auftragsvermerk. Reskripten und damit Befehlsschreiben bediente sich der Kaiser etwa auch im Umgang mit seinen Diplomaten, wobei diese von Kanzleihand verfasst sind und am Ende die Unterfertigung Karls sowie eine Gegenzeichnung aufweisen153. Eng mit der Unterschrift des Landesfürsten bzw. Kaisers hingen natürlich auch dessen Siegel zusammen, deren Anbringung nicht zuletzt neben der eigenhändigen Unterschrift in den Schlussformeln genannt wird, wie bereits angedeutet. Entsprechend den Titeln gab es hier bekanntermaßen unterschiedlich gestaltete Größen und damit verbundene Qualitäten der Siegel (große, mittlere, kleine bzw. Sekretsiegel). Neben Majestäts- und den zumeist kleinformatigeren Wappensiegeln tauchen etwa Reitersiegel auf154. In diesem Zusammenhang kann auf die Praxis der landesfürstlichen Behörden verwiesen werden, die im Namen des Kaisers ausgestellten Schreiben mit dem landesfürstlichen Siegel, jedoch mit den Unterschriften der lokalen Behördenleiter und anderer Behördenvertreter zu versehen155.

Fazit Mehrfach wurden im Rahmen des Beitrags Fragen bzw. Elemente der Klassifizierung berührt, die Vorstellung der einzelnen Typen von Schreiben in der diplomatischen sowie administrativen Praxis sollte an dieser Stelle jedoch nicht erfolgen156. Ergänzt könnte das Bild durch die Unterfertigungen bei Friedens- oder Allianzverträgen, eventuell auch mit dem Einbringen des Kaisers im Rahmen der Verhandlungen in Form von Schreiben oder Resolutionen, Instruktionen u. v. m. werden, das für einzelne politische Ereignisse bereits ohnehin erfolgte. Die hier vorgestellten Beispiele landesfürstlicher Eigenhändigkeit können dennoch illustrieren, dass Karl VI. die Aufgaben der Regierungsgeschäfte durchaus gewissenhaft wahrnahm. Die zahlreichen Resolutionen und Schreiben sowie die Teilnahme an Konferenzen und Ratssitzungen, zumindest in den ersten Jahrzehnten seiner Herrschaft, machen dies deutlich. Ergänzt wird dieses Bild durch die täglichen Notizen in den Tagebüchern, die zum Teil mehrfach auf das „Schreiben“ bzw. „Unterschreiben“ verweisen. Der teilweise beträchtliche Umfang der Resolutionen zu Gutachten oder Vor  Zu Reskripten allgemein Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 116) 188f.   Zu den Typaren Erzherzog Karls bzw. Karls III. von Spanien und Kaiser Karls VI. s. die online verfügbare Sammlung des Haus-, Hof-, und Staatsarchivs; HHStA, Typarsammlung 18 bis 31. Die Thronsiegel als spanischer König und dann auch Kaiser sind dabei häufig auch mit Wappendarstellungen der beherrschten Länder kombiniert. Stets ist auch die Collane des Vliesordens in die Darstellung integriert. Das kaiserliche Wappensiegel (Typar 24) zeigt etwa die Wappen der österreichischen, spanischen, burgundischen, katalonischen und italienischen Länder. Zum Reitersiegel s. Typar Nr. 20, das König Karl III. mit gezogenem Schwert zeigt und in dessen Hintergrund einen Engel, der den spanischen Wappenschild trägt. Zu den habsburgischen Siegeln kompakt Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 116) 127–131. 155  Die Vertretung wurde neben der fehlenden Unterschrift des Landesfürsten auch durch entsprechende Auftragsvermerke („Commissio“) angedeutet. Dieses Instrument nutzten v. a. die Mittel-, also Landesbehörden. Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 116) 199f. 156 Dazu Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 116) 173–200. 153 154

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trägen zeigt zudem, dass der Kaiser durchaus seine Entscheidungskompetenz wahrnahm. Dies deckt sich auch mit den Beobachtungen ausländischer Diplomaten, die die Dauer des Entscheidungsprozesses nicht zuletzt aufgrund der gewünschten Einflussnahme durch den Kaiser selbst zum Teil spöttisch kritisierten. So meinte der englische Gesandte Robinson 1731: The reason is, the Emperor will work himself, and will have something to do; but as his Genius is not very extensive, he stops at trifles, and there is no removing his prejudices. From hence arose these delays, these forms, these conferences, and by this his ministers amuse him. … he would still have had something to make, to object, to revise … 157. Zwar begegnet in der Regel nicht selten ein Placet, doch scheint es insbesondere bei allgemeinen Personal- bzw. Fragen des Zeremoniells und Geldangelegenheiten durchaus auch aufgrund umfassender Resolutionen ein größeres persönliches Interesse gegeben zu haben. Dabei sollte die Zahl solcher Entscheidungen vor einer systematischen Untersuchung der einzelnen Konferenzvorträge nicht abschrecken, wenig dienlich für eine derartige Analyse waren und sind sicherlich die schwer leserlichen Handschriften Karls VI. und seines Vaters Leopold, auch wenn diese zum Teil in Abschriften vorliegen. Ein Blick auf die Entscheidungsprozesse und die Entscheidungsfindung bei Hof würde den Blick auf die jeweilige barocke Herrscherpersönlichkeit sowie ihr Wirken schärfen. Gerade die Frage des vermehrten Einbringens Karls VI. zu gewissen Themenfeldern müssen auch künftige Forschungen beantworten158.

157 Nach Backerra, Wien (wie Anm. 5) 122 (Robinson an Harrington, The National Archives, Kew, State papers 80, 73, fol. 18v–19). 158  Der Autor beabsichtigt dies im Rahmen einer allgemeinen Studie zur Geheimen Finanzkonferenz zu untersuchen. Für Kaiser Leopold s. etwa die Studie von Stefan Sienell, Die Geheime Konferenz unter Kaiser Leopold I. Personelle Strukturen und Methoden zur politischen Entscheidungsfindung (Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs 17, Frankfurt u. a. 2001).

Verschwundene Ablasswerbung des späten Mittelalters Eine Spurensuche im Gebiet des heutigen Österreich Winfried Stelzer

Wer in Bruck an der Mur vom Friedhof aus die Vorhalle der Kirche St. Ruprecht betritt, kann die große, 90 cm breite Marmortafel mit altertümlichen Schriftzeichen nicht übersehen, die an prominenter Stelle rechts neben dem Westportal eingemauert ist (Abb. 1). Auf den ersten Blick ist die Inschrift, die der Schrift nach aus dem 15. Jahrhundert stammt, nicht ganz leicht zu lesen, aber zumindest das Wort Gotzhaus (Gotteshaus) in der 2. Zeile fällt gleich ins Auge; es handelt sich demnach um einen deutschen Text. Ein knapper Informationstext des Stadtamtes Bruck aus dem Jahr 1957 in zierlichem Metallrahmen links vom Westportal erläutert: „Laut Inschrift neben dem Westtor wurde die Kirche am 29. Mai 1063 geweiht.“ Als Lesung der Inschrift bietet ein im Jahr 2010 ausgegebenes, aktuell in der Kirche aufliegendes Informationsblatt des Brucker Tourismusverbandes folgenden Text an: HIER AM SONNTAG EXAUDI NACH URBANI / DAS WÜRDIGE GOTTESHAUS GEWEIHT / AM HIMMELFAHRTSTAG UND MAITAG 29 / IM JAHRE DES HEILS 1063. Ein Blick auf die Inschrift lässt freilich auch einem Nicht-Fachmann keinen Zweifel daran, dass der Text des Informationsblattes dem Wortlaut der Inschrift nicht entsprechen kann. Der Phantasie-Text wurde vermutlich 1865 durch Hanns Petschnig erstmals bekanntgemacht1. Franz Wagner übernahm ihn 1929 wie alle übrigen Mitteilungen Petschnigs kritiklos wörtlich in seine Geschichte der Stadt Bruck2. Als Urheber der Lesung nannte er P. Edmund Rieder, einen 1868 verstorbenen Angehörigen des Benediktinerklosters Admont, leider ohne Hinweis auf die Herkunft dieser Information. Durch die Aufnahme in Wagners Stadtgeschichte wurde der angebliche Text gewissermaßen „kanonisiert“. Bis in die Gegenwart wurde er nach Wagner wiedergegeben oder als Quelle für das Datum der Kirchweihe zitiert. Jahrzehntelang hat sich niemand mit der Inschrift befasst. 1963 publizierte schließlich der steirische Kirchenhistoriker Karl Amon († 2017), der in seiner nach wie vor unentbehrlichen Monographie „Die Steiermark vor der Glaubensspaltung“ (1960) im Rahmen des umfangreichen Abschnitts „Das Ablaßwesen“ die Texte zweier Ablassinschriften in Trofaiach und Vordernberg bekanntgemacht hatte3, im Brucker Pfarrblatt einen 1 Hanns Petschnig, Über einige Kirchen in Steiermark. Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 10 (Wien 1865) 191–204, hier 194. 2 Franz Wagner, Bruck an der Mur und seine Umgebung (Bruck an der Mur 1929) 85. 3 Karl Amon, Die Steiermark vor der Glaubensspaltung. Erste Lieferung: Kirchliche Einteilung und Ver-

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Winfried Stelzer

Abb. 1: Bruck a.d. Mur, St. Ruprecht, Aufnahme Winfried Stelzer.

kritischen, ja „umstürzlerischen“ Artikel über die Inschrift4. Er versuchte erstmals den tatsächlichen Text wiederzugeben, stellte das Objekt als spätmittelalterlichen Ablassstein vor und legte dar, dass das Datum der angeblichen Kirchweihe MLXIII (1063) auf einer Fehlinterpretation der deutschen Datierung Im LXIII, gemeint als Im [Jahr 14]63, beruht. Das Weihejahr 1063, ohnedies schon verschiedentlich – u. a. vom steirischen Landeshistoriker Hans Pirchegger5 – in Zweifel Abb. 2: Bruck a.d. Mur, St. Ruprecht, Steinmetzzeigezogen, war demnach endgültig aus der chen, Aufnahme Winfried Stelzer. Geschichte der Kirche zu streichen. Amon machte auch auf das winzige Steinmetzzeichen am Schluss der letzten Zeile im Raum der Zahlzeichen aufmerksam (Abb. 2), dessen Identifizierung bisher leider nicht möglich war. 1968 erschien eine Neufassung von Amons Studie, nun mit wissenschaftlichem Anmerkungsapparat6. Die wohl als abschließend gedachte Textversion der Inschrift wurde gegenüber der Lesung von 1963 nur geringfügig verändert, die indistinkte Schreibweise belassen: Jtemsumadesantlaspeydem / tagenburtigengotzhauspring(t) / iiiitczintausenttagvnd­ fassung – ordentliche Seelsorge – christliche Liebestätigkeit (Geschichte der Diözese Seckau 3: Die Steiermark vor der Glaubensspaltung. Kirchliche Zustände 1490–1520, Lieferung 1, Graz–Wien–Köln 1960) 287–318, über die beiden Ablassinschriften 308f., zu diesen s. unten Anm. 17–21. 4 Karl Amon, Der Ablaßstein von St. Ruprecht. Brucker Pfarrblatt 11 (1963) Nr. 9, S. 3. 5 Hans Pirchegger, Erläuterungen zum Historischen Atlas der Alpenländer, II. Abt.: Kirchen- und Grafschaftskarte, Teil 1: Steiermark (Wien 1940) 75. 6 Karl Amon, Die Ablaßinschrift von St. Ruprecht bei Bruck. Blätter für Heimatkunde 42 (1968) 130–134.



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ach / tlziniarctagxxtagJmlxiii. Zum besseren Verständnis schloss er eine Übertragung in modernem Sprachgebrauch an: „Item: Die Summe der Ablässe bei dem hiesigen Gotteshaus ergibt 14.000 Tage und achtzehn Jahre, 100 Tage, 20 Tage. Im 63.“ Fragt man nach dem Erfolg und der Wirkung der völlig neuen Einschätzung der Inschrift, so drängt sich das Bild des einsamen Rufers in der Wüste auf. Der neue Befund wurde zwar 1982 – wie üblich ohne Beleg – im DEHIO Steiermark übernommen: „Stein mit Ablaßinschrift von 1463, mit Steinmetzzeichen“7. Die Information gelangte – der wörtlichen Übernahme nach zu schließen – von hier aus auch in zwei Publikationen8. Allerdings wird in beiden zusätzlich an jeweils anderer Stelle auch weiterhin die Angabe der Phantasie-Lesung über die Weihe zu angeblich 1063 referiert, ohne kritischen Hinweis und ohne den auffälligen Widerspruch zu bemerken 9. Auch in anderen populären Publikationen wurden und werden weiterhin die längst überholten und als falsch erwiesenen Angaben unkritisch, ja fahrlässig, weitergeschleppt. Eine Nachprüfung der letzten Textversion Amons ergab einige Änderungen, die das Ausmaß der Ablässe betreffen und für die Interpretation von Belang sind. Man muss freilich einräumen, dass der – nach epigraphischer Nomenklatur – in gotischer Minuskel geschriebene Text nicht ganz leicht zu lesen ist. Ober- und Unterlängen der stark stilisierten Minuskelbuchstaben sind nur rudimentär ausgeprägt, die Gestaltung der Ansätze der Schäfte wie der Schaftendungen auf der Basislinie variiert, Schwierigkeiten bereiten Bogenverbindungen sowie unterschiedliche Varianten einzelner Buchstaben. Ob 50.000 Tage Ablass oder 15.000 (Zeile 3) erlangt werden konnten, hängt von der Lesung eines einzigen Buchstabens ab: funtczig oder funtczin. Der über das Mittelband etwas nach oben verlängerte rechte Schaft des letzten Buchstabens würde der Schreibung des Buchstabens g entsprechen. Im Gegensatz zu allen anderen sieben vollständigen Belegen dieses Buchstabens fehlt aber jeglicher Ansatz zu einem Bogen in die Unterlänge. Wenn daher hier für die Lesung funtczin plädiert wird, so spielt dabei auch die Überlegung eine Rolle, dass für die Mitte des 15. Jahrhunderts ein Ausmaß von 50.000 Tagen als ganz ungewöhnlich bezeichnet werden muss. Unsicher bleibt die Schreibweise von acht beim Übergang von Zeile 3 auf 4, denn nur diese Zahl kommt nach dem Buchstabenbestand – die Zahl beginnt eindeutig mit dem Buchstaben a – sprachlich in Betracht. Der letzte Buchstabe in Zeile 3 (ein unvollständiges, der Länge nach halbiertes h?) ist ebenso unklar wie der Überrest der Zeichen am beschädigten linken Rand der Tafel vor dem Wort hundert (t, davor die zweite Hälfte des h?). Vielleicht gab auch die Vorschreibung der Buchstaben Anlass zu Missverständnissen für den Steinmetz, der vermutlich nicht lesen konnte. Perfektion war nicht immer erreichbar, z. B. bei des und pey (Zeile 1) oder bei der Buchstabengruppe der in -hundert (Zeile 4). Die ganz feine Zeilenlinierung, zunächst wohl mehr als Hilfslinien denn als Bestandteil der Inschrift gedacht, übertrug der Steinmetz ebenfalls in den Stein. Sie grenzt die Schrifträume der Zeilen auch optisch voneinander ab. In den Vertiefungen der Buchstaben sind noch heute Spuren von Farbe zu sehen. Der Kontrast zwischen dem weißen Marmor und der 7   Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs: Steiermark (ohne Graz), bearb. von Kurt Woisetschläger–Peter Krenn (Wien 1982) 57. 8  Heimo Kaindl–Alois Ruhri, Die Kirchen von Bruck an der Mur (Graz–Bruck 2002) 28, bzw. Werner Strahalm, Bruck an der Mur. Eine Stadtgeschichte (Graz 42004) 123. 9   Kaindl–Ruhri, Kirchen (wie Anm. 8) 26; Strahalm, Bruck an der Mur (wie Anm. 8) 33 und 122. Kryptisch z. B. Rudolf List, Steirischer Kirchenführer 2: Oberland (Graz–Wien–Köln 1979) 24: „Eine bisher nicht genau entzifferte … Inschrift neben dem Westtor vermerkt … als angebliches Weihedatum das Jahr 1063. Es handelt sich nach der Meinung einiger Forscher um eine Ablaßinschrift.“

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farbigen Schrift hat die Aufmerksamkeit sicher in hohem Maße auf die Tafel gelenkt.Im folgenden Wortlaut der Inschrift werden Buchstaben, die durch Beschädigung des linken Randes der Steinplatte verloren sind, in eckigen Klammern ergänzt oder ihr Platz markiert; Fragezeichen weisen auf unsichere Lesung hin; Bogenverbindungen werden durch Unterstreichung gekennzeichnet: Jtem suma des antlas pey dem / [g]egenburtigen gotzhaus pringt / [f]untczintausent tag vnd ach(?)-/ [?]thundert tag xx tag Jm lxiii10. Amon las in seiner Wiedergabe statt „achthundert Tage“ irrig „achtzehn Jahre“, die zwischen Angaben in der Zeiteinheit von Tagen eingereiht scheinen, und interpretierte die Aufzählung als Struktur von Ablässen verschiedener Verleiher. Tatsächlich wird das Ausmaß sämtlicher Ablässe ausschließlich in Tagen angegeben. Da die Reihenfolge der Angaben ihrer Größenordnung entspricht, kann es sich nur um die Gesamtsumme der erreichbaren Ablässe handeln: 15.000 + 800 + 20, demnach 15.820 Tage. Für eine Kirche, die man nicht als Ziel einer Wallfahrt kennt, war das ein sehr hoher, sehr attraktiver Gnadenschatz. Über die jeweiligen Bedingungen zur Erlangung von Ablässen bzw. das individuell erreichbare Ausmaß konnte man sich sicherlich in der Kirche informieren. Die Steintafel diente, salopp gesagt, als attraktives „Aushängeschild“. Über das allmähliche Anwachsen des Ablassschatzes von St. Ruprecht sind wir im Detail nicht unterrichtet. Bei der außerhalb der Stadtmauern gelegenen Kirche handelte es sich damals natürlich nicht um eine bloße Filialkirche, sondern um die Pfarrkirche der Stadt. Ein Teil der Ablässe wird wohl eine Begleiterscheinung des großzügigen Erweiterungsumbaus der Kirche im frühen 15. Jahrhundert gewesen sein. Eine Inschrift hoch oben in der Chornordwand bekundet, dass der Umbau mit der höchst qualitätvollen Weltgerichtsdarstellung im neuen Chor durch Rüdiger Ölhafen aus Zürich († 1424) veranlasst und finanziert wurde. Der damalige Inhaber der Pfarre war, wie die Forschungen unseres Jubilars gezeigt haben, prominenter Amtsträger in der habsburgischen Herzogskanzlei, zuletzt fürstlicher Rat am Hof Herzog Ernsts (des „Eisernen“), als dessen Vertreter er am Konzil von Konstanz teilnahm. Die Pfarre Bruck gehörte seit 1403 zu seinen wichtigsten Pfründen11. Aus dem Jahre 1428 kennen wir aus einem päpstlichen Register im Vatikanischen Archiv eine konkrete Ablassverleihung. In diesem Jahr gewährte Papst Martin V. auf das Bittgesuch des päpstlichen Auditors Hartung Molitoris von Cappel, des damaligen, ebenfalls prominenten Pfarrherrn von St. Ruprecht, wegen eines Brandes auf ewige Zeiten einen dreijährigen Ablass für die Kirche12. Und so werden sich die Ablässe summiert haben. 10  Text (nach meinem Foto und Hinweisen) auch bei Martin Roland–Andreas Zajic, Illuminierte ­ rkunden des Mittelalters in Mitteleuropa. AfD 59 (2013) 241–431, hier 305 Anm. 54 mit der Lesung U [f]untczigtausent. 11  Eine biographische Skizze bei Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien–München 2002) 317–321 (weitere Belege im Register), zu seiner Bautätigkeit in St. Ruprecht ebd. 320; s. auch ders., Archivordnung im 14. Jahrhundert. Zur Geschichte des habsburgischen Hausarchivs in Baden im Aargau, in: Handschriften, Historiographie und Recht. Winfried Stelzer zum 60. Geburtstag, hg. von Gustav Pfeifer (MIÖG Ergbd. 42, Wien–München 2002) 255–268, hier 264f.; Karl Kubes, Der Bauherr im Spiegel seiner Kunst. JbLkNÖ N. F. 50/51 (1984/85) 229–337, hier 315–317; Herwig Ebner, Die Stiftung des Brucker Pfarrers Rüdiger Ölhafen von Zürich im Jahre 1422, in: Festschrift Gerhard Pferschy zum 70. Geburtstag (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 42 = Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark Sonderbd. 25 = Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 26, Graz 2000) 463–469. Zur Weltgerichtsdarstellung Elga Lanc, Die mittelalterlichen Wandmalereien in der Steiermark (Corpus der mittelalterlichen Wandmalereien Österreichs 2, Wien 2002) Textband 61–63 Nr. 3, Tafelband Abb. 67–73, 75. 12 Sabine Weiss, Kurie und Ortskirche. Die Beziehungen zwischen Salzburg und dem päpstlichen Hof unter Martin V. (1417–1431) (BDHIR 76, Tübingen 1994) 377.



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Wenn einige Jahrzehnte später mit einer aufwändigen Steininschrift in besonderer Weise auf den erreichbaren Gnadenschatz aufmerksam gemacht wurde, so könnte dies mit der für St. Ruprecht kritischen Situation zusammenhängen, dass die innerhalb der Stadtmauern gelegene Kirche Mariä Geburt, die heutige Pfarrkirche, damals bestrebt war, die Pfarrrechte an sich zu ziehen. Da die Pfarrrechte mit beträchtlichen Einnahmen verbunden waren, bestand für die Ruprechtskirche die Gefahr, bei Verlust dieser Rechte empfindliche Einbußen bei den Einkünften hinnehmen zu müssen. Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass es sich bei der Tafel aus heutiger Sicht nicht um Dutzendware handelt, sondern um ein singuläres Objekt: Es ist nicht nur in der Steiermark, sondern im heutigen Österreich die derzeit einzige bekannte spätmittelalterliche Ablasstafel in Stein. Dass sie überhaupt erhalten und an so prominenter Stelle platziert ist, geht aber auf ein bemerkenswertes Missverständnis zurück: Sie hat die Jahrhunderte seit 1463 nämlich keineswegs an dieser Stelle überdauert. 1865, in der frühesten bekannten Mitteilung über die Tafel, wurde sie als „ein ausgegrabener Denkstein“ bezeichnet13, den man zwar nicht entziffern konnte, aber für die Weihinschrift der Kirche hielt und damit für ein besonders ehrwürdiges Denkmal, das beanspruchen durfte, öffentlich an prominenter Stelle präsentiert zu werden. Als vermeintliche Weihinschrift wurde die nicht als solche erkannte Ablasstafel, die bei einer Grabungsaktion auf dem Friedhof zutage kam, demnach erst nach 1865 an ihrem heutigen Standort eingemauert. Hätte man sie als Ablasstafel erkannt, wäre sie damals wohl in der Erde belassen oder einer anderen Verwendung zugeführt worden. Wie die offenkundigen Beschädigungen nahelegen, dürfte die 1463 an unbekannter Stelle eingemauerte Steinplatte ohne besondere Sorgfalt aus ihrem ursprünglichen Mauerbett – das durchaus mit der Stelle der gegenwärtigen Anbringung identisch sein könnte – entfernt und im Friedhof „entsorgt“ worden sein. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dies in konsequenter Befolgung des Verbotes des gewinnbringenden Ablasshandels geschehen war, das 1563 auf der letzten Sitzung des Konzils von Trient (Sessio XXV) dekretiert wurde14. Die allgegenwärtige spätmittelalterliche bzw. vortridentinische Ablasswerbung ist seit damals, von ganz geringfügigen Ausnahmen abgesehen, völlig verschwunden. Bei einer Umschau nach weiteren Objekten der vortridentinischen Ablasswerbung im Gebiet des heutigen Österreich in Form von Inschriften oder großformatigen Holztafeln, die der angeordneten Entfernung oder Vernichtung entgingen, konnten bisher nur fünf weitere Objekte ausfindig gemacht werden. Sie werden im Folgenden vorgestellt. Nicht berücksichtigt werden illuminierte Ablassurkunden, die in Kirchen als „frühe Plakate“ auch der öffentlichen Ablasswerbung dienen mochten15, sowie Grabmäler oder Schmer13  Petschnig, Über einige Kirchen (wie Anm. 1) 194; danach Wagner, Bruck (wie Anm. 2) 85, mit dem Hinweis, dass der Denkstein „jetzt rechts vom Eingang eingemauert“ sei; Amon, Die Ablaßinschrift (wie Anm. 6) 130 Anm. 3. 14  Text in Conciliorum oecumenicorum decreta, ed. Giuseppe Alberigo et al. (Bologna 31973) 796f.; The Oecumenical Councils of the Roman Catholic Church. From Trent to Vatican II (1545–1965), ed. Klaus Ganzer–Giuseppe Alberigo–Alberto Melloni (Corpus Christianorum. Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta 3, Turnhout 2010) 175f.; Dekrete der ökumenischen Konzilien 3: Konzilien der Neuzeit, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und hg., ed. Josef Wohlmuth (Paderborn–Wien u. a. 2002) 796f. (De indulgentiis): Die Synode bestimmt „allgemein, daß alle unrechten Gewinne, die mit der Erlangung der Ablässe verbunden sind, woraus sich die häufigste Ursache für Mißbräuche im christlichen Volk ergab, vollständig abgeschafft werden“. 15 Alexander Seibold, Bemalte vorreformatorische Ablassurkunden als frühe Plakate, in: Visualisierte Kommunikation im Mittelalter – Legitimation und Repräsentation, hg. von Steffen Arndt–Andreas Hedwig

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zensmann-Skulpturen mit Inschriften, die auf Ablässe für Gebetsleistungen ohne zusätzlichen Einsatz finanzieller Mittel hinweisen16 und damit von der dekretierten Entfernung nicht betroffen waren. Wandmalereien mit Hinweisen auf Ablässe im Zuge der „Sonderkonditionen“ des Heiligen Jahres 1490 haben sich in zwei obersteirischen Kirchen erhalten. Die eine Ablassinschrift wurde 1937 in der Pfarrkirche St. Rupert in Trofaiach hoch oben an der Nordwand des 2. Jochs hinter dem 1. Seitenaltar entdeckt bzw. aufgedeckt. Aus Anlass des Jubeljahres 1490 hatte sie der damalige Pfarrer Dr. Andreas Mätschacher, u. a. auch Erzpriester der Oberen Mark († 1503), als dominierenden Blickfang anbringen lassen. Um 1530 wurde die Inschrift in eine Salvator Mundi-Darstellung integriert. Zu einem späteren, nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt hat man sie wie die übrigen Wandmalereien des 15. und frühen 16. Jahrhunderts überdeckt. Es ist nicht auszumachen, ob das tridentinische Verbot der Ablasswerbung den Anstoß für die Entfernung gab, zumal die Ablasskonditionen nach 1490 nicht mehr aktuell waren. Tatsache bleibt, dass man die Inschrift der Wahrnehmung der Kirchenbesucher entzog. Heute ist die wiederaufgefundene Inschrift durch den barocken Annenaltar neuerlich verdeckt und damit wiederum unzugänglich (Abb. 3). Zwei bei der Restaurierung 1961 vom Gerüst aus aufgenommene Schwarz-Weiß-Fotografien dokumentieren das Ensemble und dienen als Grundlage der Wiedergabe des in gotischer Minuskel geschriebenen Textes (mit dem einzigen MaiuskelBuchstaben I in Iar)17. Die auf den Fotos nicht erfassten Textteile an den Seitenrändern wurden nach einer Notiz aus dem Jahr 1940 ergänzt und hier in eckigen Klammern ausgewiesen: [anno · d(omi)ni ·] mo · cccco · 90 · pey · den · czeytn · des · heylige(n) · vat(er) · pabst · i(n)noce(n)cio [· 8 · was · da · hye · d]as · heylig · genade(n)reych · Iar · v(er)gebu(n)g · all(er) · sund(en) · von · penen [· u(n)d · schulden · umb · ]die · czeit · was · pharr(er) · der · wirdig · in · got · her · a(n)nd(r)e · mätschacher18.

(Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 23, Marburg 2010) 99–109; s. auch ders., Sammelindulgenzen. Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit (AfD Beiheft 8, Köln–Weimar–Wien 2001), sowie Roland–Zajic, Illuminierte Urkunden (wie Anm. 10). 16  Beispiele dafür in Die Inschriften des Politischen Bezirks Krems, ed. Andreas Zajic (Die Deutschen Inschriften 72, Wiener Reihe 3, Die Inschriften des Bundeslandes Niederösterreich 3, Wien 2008) 49f. im Kommentar zu Nr. 42. 17  Die beiden Fotografien wurden freundlicherweise vom Bundesdenkmalamt (Wien) zur Verfügung gestellt (Inventar-Nr. N 11.226 und N 11.227 [mit Gerüst]), wofür hier bestens gedankt sei. Die Fotografie N 11.227 ist die Vorlage für die Abb. bei Ulrich Ocherbauer, Die Dekanatskirche St. Rupert in Trofaiach und ihre Restaurierung im Jahre 1961, in: Trofaiach. Altes Kulturzentrum im steirischen Erzgebiet, hg. von Ägidius Reiter (Leoben 1963) 59–70, hier nach 64. Zum Objekt Lanc, Wandmalereien (wie Anm. 11) Textband 616–619, zur Inschrift 618 Nr. 3a und Tafelband Abb. 907 (nach der Fotografie BDA Inv.-Nr. 11.226). Über Andreas Mätschacher s. Amon, Die Steiermark (wie Anm. 3) 192f., 269 Anm. 6, 309, sowie Lanc, Wandmalereien 616. 18   Text hier mit geringfügigen Korrekturen nach der Wiedergabe von Lanc, Wandmalereien (wie Anm. 11) 618 Nr. 3a, dort in Anm. 9 der Hinweis auf die von ihr zur Ergänzung herangezogene – ihrerseits korrekturbedürftige – Mitteilung von F. X. Hölbling aus dem Jahre 1940, gedruckt bei Ocherbauer, Die Dekanatskirche St. Rupert (wie Anm. 17) 70 Anm. 18. Ebenfalls nach einer Mitteilung von F. X. Hölbling bot Amon, Die Steiermark (wie Anm. 3) 308, den Text mit kleinen, wohl von ihm selbst vorgenommenen Veränderungen. Korrigiert wurden gegenüber Lanc die Schreibweisen bzw. Kürzungsauflösungen d(o)m(ini), szeytn (entgegen Lanc, ebd. 618 Anm. 10, wurde bei der Restaurierung der Buchstabe t nicht zu r verändert) bzw. szeit, inocenci, phar(re)r und and(ra)e. Die von Hölbling mitgeteilte Schreibweise inocens trifft nicht zu.



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Abb. 3: Trofaiach, Pfarrkirche, Aufnahme BDA N 11.226.

In diesem Jubeljahr konnte demnach die Vergebung aller Sünden und der Nachlass von Strafe und Schuld, d. h. ein vollkommener Ablass, erlangt werden. Von den dafür erforderlichen Voraussetzungen und auch finanziellen Bedingungen ist hier nicht die Rede. Die Inschrift hatte v. a. die Aufgabe, an die außerordentlichen Gnadenmöglichkeiten zu erinnern. Zugleich bot sie Pfarrer Mätschacher die willkommene Gelegenheit, sich selbst ein Denkmal zu setzen. Über die Inschrift sind drei große Wappen gesetzt: Zuoberst unter der Tiara und vor den gekreuzten Schlüsseln Petri das Wappen Papst Innocenz’ VIII., während dessen Pontifikat das Heilige Jahr ausgerufen worden war; darunter heraldisch rechts das Wappen Kaiser Friedrichs III.: der kaiserliche Doppeladler, auf der Brust der Bindenschild; heraldisch links das Wappen des (seit 1486) römisch-deutschen Königs Maximilian I.: der einköpfige Adler mit geviertem Brustschild, darauf der Bindenschild und das Wappen von Burgund19. Eine in der Gestaltung sehr ähnliche Inschrift mit Bezug auf den im Jubeljahr 1490 zu erlangenden vollkommenen Ablass hat sich in der unmittelbaren Nachbarschaft, in der ehemaligen Pfarrkirche St. Laurentius in Vordernberg, seit 1830 Filialkirche, in der Südostschräge des Chores erhalten (Abb.4): 19

  Detaillierte heraldische Blasonierung bei Lanc, Wandmalereien (wie Anm. 11) 618 Nr. 3a.

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Abb. 4: Vordernberg, Filialkirche St. Laurentius, Aufnahme Hans und Ulli Pienn (Trofaiach).

Nach cristi gepoerd M.cccc. und im neunczigistn bey babst in(n)oce(n)tio was dahie Römische genad v(er)gebu(n)g all(er) sun(n)de(n) vo(n) pen(en) u(nd) schullden20. Wie in Trofaiach ist auch hier die Inschrift unter das Ensemble der Wappen von Papst Innocenz VIII., Kaiser Friedrich III. und König Maximilian I. gesetzt. Die Tinkturen weichen von den korrekterweise zu erwartenden ab, vermutlich wurden sie bei einer Erneuerung, die einige Jahre vor 1883 durchgeführt wurde, verfälscht, der in gotischer Minuskel geschriebene Text (Maiuskelbuchstaben bei Nach, dem Zahlzeichen M und Römische) überarbeitet21. Ob die Inschrift vor dieser Erneuerung sichtbar war oder überhaupt erst bei dieser Gelegenheit aufgedeckt wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. In den 1880er Jahren, nach dem letzten Brand der Kirche 1882, wurde in der Nordostschräge der Kirche symmetrisch zur Ablassinschrift ein Pendant des Wappenensembles angebracht, zuoberst das Wappen Papst Leos XIII., darunter die Legende: Nach wiederholt(em) Brande an(n)o 1644 & 1882 / durch Wohlth(äter) erneuert anno 1883–1893 (Abb. 5).

20  Ebd. 637 Nr. 3 sowie Tafelband Abb. 944 (Text am Rand etwas beschnitten). Gegenüber dem Text bei Lanc wurden korrigiert die Schreibweise bzw. Kürzungsauflösungen cristy, su(e)nde(n) und pe(i)n. Der Text mit kleinen Eingriffen auch bei Amon, Die Steiermark (wie Anm. 3) 308f. – Die Fotos für Abb. 5 und 6 stellten Hans und Ulli Pienn (Trofaiach) zur Verfügung, denen ich dafür herzlich danke. 21   Lanc, Wandmalereien (wie Anm. 11) 637 Nr. 3 mit Anm. 16 und 19.



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Abb. 5: Filialkirche St. Laurentius, Aufnahme Hans und Ulli Pienn (Trofaiach).

Eine spezielle Ablasstafel hat sich in Bischofshofen (Salzburg) erhalten. Das zwischen 1443 und 1447 entstandene Diptychon stammt aus der Pfarrkirche St. Maximilian – die Pfarre war damals dem Bistum Chiemsee inkorporiert – und wird gegenwärtig im „Mu-

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Winfried Stelzer Abb. 6: Bischofshofen, Ablasstafel, Außenseite, hl. Maximilian, Aufnahme Institut für Realienkunde, Universität Salzburg.

seum am Kastenturm“ verwahrt22. Das große Objekt (Format 107 x 62 cm) war dazu 22  Otto Pächt, Die Bischofshofener Ablasstafel. Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 23 (1969) 1–18; Johann Apfelthaler, Zur Baugeschichte der Kirchen in Bischofshofen, in: Bischofshofen. 5000 Jahre Geschichte und Kultur (Bischofshofen 1984) 153–202, hier 193–195 sowie 200 die zugehörigen



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bestimmt, mit starken eisernen Ösen, die nur an einem der beiden Flügel angebracht sind, an die Wand gehängt zu werden. Daraus darf man folgern, dass es nicht vorgesehen war, die Tafeln ständig in geöffnetem Zustand zu präsentieren23. Es ist bemerkenswert, dass die originalen Scharniere und Eisenbeschläge noch heute vorhanden sind24. Die eigentliche Schauseite hat man bei geschlossenem Zustand vor Augen (Abb. 6)25: groß und dominierend die Gestalt des hl. Maximilian; zu seinen Füßen, abgerückt, in einer anderen Sphäre, kniet die kleine, mit Namen bezeichnete Figur des Stifters der Tafel, Heinreich Plehuber. Von ihm ausgehend flattert ein Spruchband zu dem Heiligen empor mit der Bitte um seine Fürsprache: Ora pro me S. Maximiliane26. Ob Heinrich Plehuber um diese Zeit schon Pfarrer von Bischofshofen war, ist nicht eindeutig auszumachen27. Das qualitätvolle, 1966/67 restaurierte Tafelbild wurde erstmals von Otto Pächt mit Conrad Laib in Verbindung gebracht. Es wird aber nicht als eigenhändiges Werk des um die Mitte des 15. Jahrhunderts bedeutendsten salzburgischen Meisters angesehen, sondern als Arbeit seiner Werkstatt, nach Pächt wohl mit Beteiligung des Meisters28. Wird das Objekt nach rechts geöffnet, erscheinen zwei eng beschriebene Tafeln in schmalen Holzrahmen mit einem – für eine Ablasstafel – ganz ungewöhnlich umfangreichen Text auf Pergament (Abb. 7 und 8)29. Der Text ist so ausführlich, dass er während der beschränkten Zeiten, in denen das Diptychon zu bestimmten Anlässen geöffnet war, Anm.; Ruth Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen (Pictura et Poesis. Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Literatur und Kunst 10, Köln–Weimar–Wien 1998) 74–76 und 229–234; AntjaFee Köllermann, Conrad Laib. Ein spätgotischer Maler aus Schwaben in Salzburg (Neue Forschungen zur deutschen Kunst 8, Berlin 2007) 114–120 und 160, zur Datierung 116–118. Sehr knappe Information über die Ablasstafel in Die Kunstdenkmäler des Landkreises Bischofshofen, bearb. von Franz Martin (Ostmärkische Kunsttopographie 28, Baden bei Wien 1940) 53. Bei dem hier irrig als Auszug aus den „Kurzen Nachrichten“ (= Breves Notitiae) bezeichneten Quellentext handelt es sich um einen Auszug aus der Notitia Arnonis, s. dazu unten bei Anm. 35. 23  Vgl. dazu den Hinweis bei Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 115 und 192 Anm. 479. 24  S. den „Restaurierungsbericht“ bei Pächt, Die Bischofshofener Ablasstafel (wie Anm. 22) 6. 25  Das Foto wurde mit Zustimmung des Herrn Pfarrers von Bischofshofen, P. Edwin Reyes SVD, vom Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit an der Universität Salzburg zur Verfügung gestellt, wofür hier bestens gedankt sei. 26  Abb. des Tafelbildes bei Pächt, Die Bischofshofener Ablasstafel (wie Anm. 22) 2 Abb. 1; Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) Abb. II.2; Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 117 Abb. 146. 27 Die kargen, bisher erreichbaren Informationen über Plehuber bei Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 115. 28   Pächt, Die Bischofshofener Ablasstafel (wie Anm. 22) 1 und 5f.; Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 116–120 und 160. Ein „Restaurierungsbericht“ sowohl über die Bildtafel als auch die Innenseiten bei Pächt, ebd. 6–8. 29   Die Fotografie wurde freundlicherweise vom Bundesdenkmalamt (Wien) zur Verfügung gestellt, wofür hier bestens gedankt sei. Eine Abb., bei der es allerdings wegen der starken Verkleinerung kaum möglich ist, den Text zu lesen, auch bei Pächt, Die Bischofshofener Ablasstafel (wie Anm. 22) 7 Abb. 10; Ansichten des Objekts bei Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) Abbildungsteil II.2, und Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 115 Abb. 145. Zum Text Apfelthaler, Zur Baugeschichte (wie Anm. 22) 193–195; Slenczka, ebd. 74f., sowie Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 115–118; Ed i t i o n des Textes Slenczka, ebd. 229–234, nicht vollständig und mit Lesefehlern (z. B. 230 Z. 5 monasterio statt richtig modo) nach unzureichender Reproduktion (vgl. die Hinweise 229 Anm. 832 und 234), bzw. Köllermann, ebd. 165–172, die lateinischen Textpartien mit gegenübergestellter deutscher Übersetzung. Leider wurden hier unmotiviert und gegen den Text eindeutig zeitgemäße Schreibweisen verändert, z. B. e zum Diphtong ae in Fällen, in denen dies dem klassischen und später wieder dem humanistischen Gebrauch entsprach, nicht aber dem spätmittelalterlichen (Beispiele aus 165 Absatz 1: nostrae, aeterna [verändert aus &erna], suae, Bavariae usw.) oder die assibilierte Form ci zu ti (Beispiel: precioso).

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Abb. 7 und 8: Bischofshofen, Ablasstafel, Aufnahme BDA_n.R_RWA 2135_Mejchar.

wohl nur durch Kleriker erläutert werden konnte, die mit dem Inhalt vertraut waren. Dies wird in einem bestimmten Ritual, einer Art „Informationsveranstaltung“, vor sich gegangen sein. Vermutlich hat man je nach Publikum die lateinischen Teile übersetzt und



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erklärt, vielleicht auch nur die deutschen Teile vorgelesen und erläutert und schließlich – als wichtigsten Programmpunkt – die Ablässe vorgestellt, die sich im letzten Abschnitt versammelt finden. Sowohl in der lateinischen Version als auch in der deutschen wird aus-

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drücklich betont, dass der Inhalt zum „Hören“ bestimmt sei30. Die drei Abschnitte sind jeweils mit einer großen Fleuronnée-Initiale markiert. Der Text beginnt mit einer ausführlichen historischen Einleitung über den hl. Rupert und die Gründung der Maximilianszelle im Pongau, heute Bischofshofen31. Die Ausführungen berufen sich zunächst knapp auf die Legende des Hl. Rupert (legenda ipsius …, cuius enarratio hic brevitatis causa rescinditur)32, nach der Christus im Jahre 580 tempore Hyldeberti regis Francorum Rupert zur Bekehrung der Länder Bayern, Österreich und Kärnten – dies natürlich zur Bezeichnung des geographischen Raumes aus der Perspektive des 15. Jahrhunderts – gesandt habe. Rupert habe demnach hier missioniert, den bayerischen Herzog Theodo und dessen Sohn Theodobert zum Glauben bekehrt und von diesen hunc locum – Bischofshofen – übertragen bekommen33. Daran schließen Informationen über die Anfänge der Salzburger Kirche und die Auffindung der Kirche des Hl. Maximilian durch Bischof Rupert aus „einer sehr alten Urkunde“, die in Salzburg, im Kloster St. Peter, eingeschlossen in einer alten runden Büchse, gefunden wurde (quoddam antiquissimum instrumentum in quodam veteri ac rotundo trunculo reclusum)34. Nun folgt wörtlich das ganze Schlusskapitel (c. 8) der um 790 entstandenen Notitia Arnonis über die Zelle des Hl. Maximilian, d. h. die Kirche von Bischofshofen35. Ungemein anschaulich ist 30   Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 230 Z. 9 bzw. 232 Z. 6; Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 165 Abs. 1 letzte Zeile bzw. 168 Abs. 5 letzte Zeile. Zur Frage „nach den Wegen der Vermittlung von in Wort und Bild formulierten geistlichen Inhalten an illiterati, also Lateinunkundige und Laien“ vgl. die Hinweise bei Christine Magin, Ablassinschriften des späten Mittelalters, in: Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Berndt Hamm et al. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58, Tübingen 2011) 101–120, hier zitiert nach der „vollständige[n], aktualisierte[n] Fassung“ als Online-Beitrag (November 2011): https://rep.adw-goe.de /bitstream/handle/11858/00-001S-0000-0001-CC1F-9/Magin-Ablassinschriften.pdf?sequence=1 [31. 12. 2019] 6 Anm. 20. 31   Zur Maximilianszelle und den Quellen zu ihrer Geschichte s. Heinz Dopsch, Bischofshofen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Bischofshofen (wie Anm. 22) 57–107, hier 61–64 sowie 103f. (Anm.). Zum Hl. Rupert, zu den mageren Informationen über ihn und zu den verschiedenen Fassungen seiner Vita s. Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG Ergbd. 31, Wien–München 1995) 227–251; Fritz Lošek, Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und der Brief des Erzbischofs Theotmar von Salzburg (MGH Studien und Texte 15, Hannover 1997) 21–27, sowie Herwig Wolfram, Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien, 2. gründlich überarbeitete Auflage (Slovenska akademija znanosti in umetnosti, Razred za zgodovinske in družbene vede. Dela 38 / Academia scientarum [!] et artium Slovenica, Classis I: Historia et sociologia. Opera 38. Zbirka Zgodovinskega časopisa 44, Ljubljana 2012) 86–97. 32   Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 230 Z. 4; Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 165 Abs. 1 Z. 18f. 33   Grundlage für diese Passage ist eine nicht eindeutig identifizierbare Version oder auch Bearbeitung der Rupert-Legende. Die Jahresangabe 580 geht auf eine Berechnung zurück, die der Salzburger Magister Rudolfus im Jahre 1186 angestellt hatte; s. Collectio de tempore et de translacione beati Rudberti, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 11 (Hannover 1854) 17. 34  Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 230 Z. 10f.; Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 165 Abs. 2. 35   Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 230 Abs. 2–231 Ende von Abs. 1; Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 166f. Edition im Salzburger Urkundenbuch 1: Traditionscodices, ed. Willibald Hauthaler (Salzburg 1910) 3–16, hier 15f., bzw. Fritz Lošek, Notitia Arnonis und Breves Notitiae. Die Salzburger Güterverzeichnisse aus der Zeit um 800. MGSL 130 (1990) 5–192, die Notitia (mit gegenübergestellter deutscher Übersetzung) 80–98, hier 94–98, sowie ders., Notitia Arnonis und Breves Notitiae, in: Quellen zur Salzburger Frühgeschichte, hg. von Herwig Wolfram (VIÖG 44 = Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde Ergbd. 22, Wien–München 2006) 9–178, die Notitia (mit gegenübergestellter deutscher Übersetzung)



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der Hinweis auf die runde Büchse als Behältnis der Urkunde, denn noch heute wird die älteste Überlieferung der Notitia Arnonis als Pergamentrotulus aus der Mitte des 12. Jahrhunderts im Archiv des Klosters verwahrt36. Der Text aus der Notitia ist in der Ablasstafel sehr sorgfältig kopiert worden. Missverstanden wurde eigentlich nur die Schreibweise von zwei Buchstaben, die im 15. Jahrhundert nicht mehr geläufig war. Das betraf das offene cc-förmige a sowie den Buchstaben z, der in der Minuskel des 12. Jahrhunderts wie ein h mit einem nach oben offenen Bogen vor dem Schaftansatz geschrieben werden kann. Dies wirkte sich v. a. bei Namen aus37, war für den Zweck der Ablasstafel natürlich irrelevant. Aber es ist doch eine bemerkenswerte Facette, dass für den mit der Ablasswerbung verknüpften „Kirchenführer“ so intensiv ältere Geschichtsquellen herangezogen und instrumentalisiert wurden. Es ist jedenfalls mit Händen zu greifen, wie hier das hohe Alter der Maximiliansverehrung und damit auch ihre Dauer durch Jahrhunderte propagiert wird und Kirchenbesucher und Ablassinteressenten in diesen Prozess eingebunden wurden. Dies alles unterstreicht die Ehrwürdigkeit des Ortes, und mit dem Hinweis auf die zahlreichen der Kirche verliehenen Indulgenzen wird diskret um weitere Unterstützung gebeten. Das Hundertfache und das ewige Leben werden im Gegenzug dafür in Aussicht gestellt. Den Abschluss dieses lateinischen Teils, der durch die Klammer der biographischen Daten Ruperts zusammengehalten wird, bildet die mit besonders ausführlichen chronologischen Details bestückte Mitteilung, dass der selige (beatus) Bischof Rupert am Ostersonntag des Jahres 623 zum Herrn einging: Anno ab incarnacione domini sexcentesimo vicesimotercio, ab ordinacione Bonifacii pape Vti tercio, et regni Eraclii imperatoris XIII, post obitum magni Gregorii viginti annis et quinque mensibus evolutis, die dominico r(esurrec)cionis beatus Rudbertus Iuuauensis episcopus migravit ad dominum38. Neben dem Inkarnationsjahr werden angeführt das 3. Pontifikatsjahr Papst Bonifaz’ V., das 13. Regierungsjahr des Kaisers Heraklius und 20 Jahre und fünf Monate nach dem Tod Gregors des Großen. War im Text zuvor dreimal vom Hl. (sanctus) Rupert die Rede, so fällt auf, dass er an 72–85, hier 82–85. – Bei Köllermann wünschte man mehr Sorgfalt bei der Wiedergabe der Namen, z. B. in der Liste der Mönche und Laien, die Erzbischof Arn bei seinen Erhebungen über die Rechtsverhältnisse konsultiert hatte: bei den Mönchen z. B. irrig Cuo und Haldo statt richtig Euo und Saldo (in der Notitia: Baldo), bei den Laien Cuno, Liuphrim, Iuunain statt richtig Eimo, Linphrim (in der Notitia: Liuphram), Iuunian. – Auf die Kopierfehler der Ablasstafel gegenüber dem Text der Notitia kann hier nicht eingegangen werden. Ein Problem für sich stellt die Überarbeitung der Schrift der Ablasstafel bei der Restaurierung 1966/67 dar, die nach der Entfernung einer früheren verfälschenden Restaurierung vorgenommen wurde; vgl. dazu den Restaurierungsbericht von H. Kuhn bei Pächt, Die Bischofshofener Ablasstafel (wie Anm. 22) 8. 36   Salzburger Urkundenbuch 1, ed. Hauthaler (wie Anm. 35) 3, hier 2 ein ausgezeichnetes Facsimile (kleiner Ausschnitt) in Originalgröße, bzw. Lošek, Notitia (1990) (wie Anm. 35) 13 = Lošek, Notitia (2006) (wie Anm. 35) 15, eine vollständige Abb. der Notitia, deren Text wegen der starken Verkleinerung aber kaum zu lesen ist, bei Lošek, Notitia (1990) 14 = Lošek, Notitia (2006) 16. 37  Offenes cc-förmiges a in Kaerheri bzw. Ambrao hat der Schreiber, der die Vorlage für die Tafel entwarf, zu Kerheri bzw. Ambro vereinfacht, die Namen Zissimo, Lezzo, Tazzo aus der Notitia wurden in der Ablasstafel wiedergegeben als Hyssimo, Lehho, Thaho. Die Beispiele stammen aus der Namenliste bei Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 167, und Lošek, Notitia (1990) (wie Anm. 35) 96, bzw. Lošek, Notitia (2006) (wie Anm. 35) 84, und dienen nur der Illustrierung. Ein Teil kann nach dem Foto (nur Ausschnitt) im Salzburger Urkundenbuch 1, ed. Hauthaler (wie Anm. 35) 2, nachgeprüft werden. Zu der bei Paläographen auch als „baiuvarisches z“ etikettierten Form des z vgl. Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B/8, Tübingen 1999) 26, hier als „h-z“ bezeichnet. 38   Linker Teil der Ablasstafel, Z. 19 und 18 von unten; Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 231 Abs. 3 (irrig Bonifatii pape quintus, tertio; Erachi imperatoris; obitum magnum Gregorum; mensibus, evolutis die dominice resurrecionis); Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 168 Abs. 1.

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dieser Stelle nicht als sanctus, sondern als beatus bezeichnet wird. Hier schimmert möglicherweise eine ältere Quelle durch. Die Information ist zumindest seit dem späten 12. Jahrhundert belegt. Die Angaben stimmen bis auf drei Details wörtlich mit einer Notiz überein, die sich in einer Handschrift des späten 13. Jahrhunderts aus dem Kloster St. Peter in Salzburg findet39, die ihrerseits nach einer Admonter Handschrift des späten 12. Jahrhunderts kopiert wurde40. Die in beiden Handschriften vorhandene Bemerkung ut legimus (vor beatus Rudbertus) sowie die Bezeichnung Ruperts als primus Iuuauensis episcopus scheinen im Text der Tafel nicht auf. Bemerkenswert ist die Zuordnung des Adjektivs dominicus zu unterschiedlichen Substantiven durch die Varianten der Endung. Die beiden Handschriften nennen als Todesdatum Ruperts die dominice resurrectionis, am Tag der Auferstehung des Herrn. Auf der Tafel wird durch die Variante die dominico resurreccionis der Sonntag als (Wochen-)Tag des Festes der Auferstehung betont. Eines der Probleme bei der Berechnung des Todestages Ruperts bzw. des Jahres lag ja darin, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gab, ob der Auferstehungstag als ein unbeweglicher Termin am 27. März gefeiert wurde und damit auf einen beliebigen Wochentag fallen konnte – daher die Möglichkeit zu berechnen, in welchen Jahren der Auferstehungstag auf einen Sonntag fiel –, oder ob man den Auferstehungstag als Ostersonntag feierte, mit der Konsequenz, dass ein bewegliches Fest für die Berechnung eines bestimmten Jahres nicht geeignet war. Die Lesart dominico auf der Tafel könnte man allenfalls als Kopierfehler werten. In diesem Fall wäre denkbar, dass die Handschrift aus St. Peter als Vorlage für die Passage in der Ablasstafel diente. Die Möglichkeit, dass auch hier eine ältere Quelle durchscheint, die nicht eindeutig zu fassen ist, kann letztlich aber doch nicht ganz ausgeschlossen werden41. 39   Salzburg, St. Peter, Cod. A 5 (ältere Signatur: H), fol. 26rb; Druck in Vitae et miracula sanctorum Iuvavensium Virgilii, Hartwici, Eberhardi, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 11 (Hannover 1854) 84–103), hier 85 Anm. 3, nach dieser Handschrift und Heiligenkreuz, Cod. 14, fol. 32vb; die Varianten der Handschrift aus St. Peter sind mit der Sigle „3“ markiert. Nach der Überlieferung aus St. Peter auch die Drucke in Thesaurus monumentorum et historicorum sive lectiones antiquae III/2, ed. Henricus Canisius–Iacobus Basnage (Antwerpen 1725) 426, bzw. Bernhard Sepp, Die Berechnungen des Todesjahres des hl. Rupert. Ein Beitrag zur Lösung der Rupertusfrage. Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 49 (München 1896) 408–431, hier 409 Anm. 5. 40  Dazu Franz Martin, Eine neu aufgefundene Admonter Handschrift. NA 41 (1917–1919) 267–282, hier 274 und 279. Die Handschrift befindet sich heute in Salzburger Privatbesitz. 41  In der ehemals Admonter Handschrift stehen die Jahresangabe und einige Stellen der Mitteilung auf Rasur, s. Martin, Admonter Handschrift (wie Anm. 40) 279. Die radierten und dadurch getilgten Varianten, denen zufolge Rupert im Jahre 614 starb, sind aus Notizen bekannt, die in zwei Handschriften des Magnum Legendarium Austriacum (Heiligenkreuz, Cod. 14 [spätes 12. Jahrhundert], fol. 32vb, danach Zwettl, Cod. 15 [frühes 13. Jahrhundert], fol. 33rb) den Anhang zur Vita des Salzburger Erzbischofs Hartwig bilden; s. Vitae, ed. Wattenbach (wie Anm. 39). In diesen beiden Überlieferungen fehlt indes der Name des Papstes (Anno … ab ordinatione pape secundi; ein leerer Raum für den Papstnamen ist nicht freigelassen), nach resurrectionis ist eingefügt: ut legimus. Für das Jahr 614 wäre Papst Bonifaz IV. (608–615) einzusetzen gewesen, die Angabe seines 2. Pontifikatsjahres steht dazu allerdings in Widerspruch. Nach einer anderen Version, die die Salzburger Annalen berichten, wäre Rupert 628 gestorben: Transitus sancti Ruberti sub Honorio papa, Heraclio imperatore, Francorum rege Lothario patre Dagoberti, Annales sancti Rudberti Salisburgenses, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 9 (Hannover 1851) 758–810, hier 767 ad a. 628. Über weitere Belege und Berechnungsversuche s. die Praefatio zur Vita Hrodberti episcopi Salisburgensis, ed. Wilhelm Levison, in: Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici, ed. Bruno Krusch–Wilhelm Levison (MGH SS rer. Merov. 6, Hannover–Leipzig 1913) 140–162, hier 146f. – Herrn Peter Fraundorfer (Wien) danke ich herzlich für die Möglichkeit, Fotos der Eintragungen in den Legendarium-Handschriften aus Heiligenkreuz und Zwettl sowie der beiden in Anm. 39 und 40 genannten Handschriften einsehen zu können.



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Wir wissen heute, dass die Daten 580/623 nicht der Realität entsprechen42. Das Problem wurde durch die äußerst kargen Informationen verursacht, die für die Berechnung und die historische Einbettung zur Verfügung stehen. Das am Anfang des Textes als Beginn der Tätigkeit Ruperts genannte Jahr 580 beruht auf der irrigen Annahme, dass es sich bei dem fränkischen König – tempore Hyldeberti regis Francorum – um Childebert II. gehandelt habe. Ein folgenschwerer Irrtum, denn tatsächlich war Childebert III. der Zeitgenosse Ruperts. Wie man heute weiß, ist das sowohl in den Gesta Hrodberti als auch in der Conversio Bagoariorum et Carantanorum jeweils zu Beginn als Datierung angeführte 2. Jahr seines Königtums – 696 – die „einzige direkte Jahresangabe der Rupert-Tradition“43. Die auf der Ablasstafel festgehaltenen, hinsichtlich des ehrwürdigen Alters konkurrenzlosen – wenngleich unzutreffenden – Daten 580/623 fanden jedenfalls vereinzelt noch bis ins 19. Jahrhundert Anhänger44. Der anschließende deutsche Text stellt eine gekürzte, zum Teil paraphrasierende Version des lateinischen dar45. In wörtlicher Übersetzung findet sich hier die erste Hälfte der Passage aus der Notitia Arnonis (c. 8, 1–4). Darauf folgt die Übersetzung der ausführlichen lateinischen Nekrolognotiz über den Hl. Rupert und ein Verweis auf die vorbenan(nte) historii [sic], die in den vorhergehenden lateinischen Ausführungen genannte Legende. Der letzte Absatz referiert in gekürzter Form den Inhalt des letzten Absatzes der lateinischen Fassung mit Verweis auf die in diesem Gotteshaus zu erwerbenden Ablässe. Der dritte Abschnitt präsentiert die Informationen über die Ablässe, offenkundig auf der Basis von früheren Zusammenstellungen, ohne erkennbare Ordnung in lateinischer Sprache. An der Spitze steht die knappe Information, dass Erzbischof Eberhard im Jahr 1425 je 40 Tage Ablass an den Tagen der Patrone und der Weihen aller Kirchen gewährte und sämtliche von welchen Bischöfen auch immer gespendeten Ablässe bestätigte (omnes indulgencias a quocumque katholico episcopo datas confirmavit). Damit stand ein ungemein reichhaltiges Angebot an Ablässen zu Gebote. Zur besseren Information hätte man vielleicht wünschen können, dass es übersichtlich gestaltet in Form eines Kalendariums zur Verfügung gestanden wäre. Die nächste Ablassverleihung geht auf Alexander von Masowien, Patriarch von Aquileia und Legatus a latere beim Konzil von Basel, zurück, der im Jahre 1443 all denen, die den Bau der Maximilianskirche unterstützen, jedesmal einen Ablass von fünf Jahren und ebenso vielen Quadragenen von den Bußen perpetue, für ewige Zeiten, spendete (Quadragenen sind Bußleistungen von 40 Tagen, d. h. in diesem Fall, dass die noch nicht getilgten Bußleistungen um 200 Tage verringert werden). Es folgen drei kurze Notizen über Ablassverleihungen im Ausmaß von 40 Tagen durch verschiedene Persönlichkeiten, aber ohne zeitliche Verortung, zunächst – historisch nicht fundiert – durch den Hl. Rupert und den Hl. Virgil, dann durch Erzbischof Dietmar von 42  Zur Interpretation der Angaben zum Todestag s. Sepp, Die Berechnungen (wie Anm. 39) 408–431; Vita Hrodberti, ed. Levison (wie Anm. 41) Praefatio 146f., hier auch zur Jahresangabe 623, sowie Wolfram, Conversio (wie Anm. 31) 95. 43  Wolfram, Salzburg (wie Anm. 31) 230. Gegenüberstellung der beiden Texte bei Lošek, Conversio (wie Anm. 31) 90. 44  S. die Literaturhinweise in Anm. 41f. sowie Erich Zöllner, Woher stammte der heilige Rupert? MIÖG 57 (1949) 1–22, wiederabgedruckt in: ders., Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Heide Dienst–Gernot Heiss (Wien 1984) 169–191, hier 170. 45   Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 232 Z. 6–Z. 4 von unten (Z. 31 Eradii statt richtig Eraclii); Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 168 Abs. 6–169 Ende von Abs. 3, hier 169 Z. 12, muss es u(er)hengnuss (Verhängnis [im Sinn von „Einwilligung“]) heißen statt inhen gnuess.

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Salzburg46, der den verfallenen Altar renovieren ließ, und schließlich Erzbischof Rudolf, bei dem es sich nur um Rudolf von Hoheneck (1284–1290) handeln kann, da es einen zweiten Erzbischof dieses Namens nicht gibt. Daran schließt sich eine längere Passage an über die mit Erlaubnis Erzbischof Friedrichs III. durchgeführte Weihe des wegen seines hohen Alters (propter nimiam sui vetustatem) beschädigten und neu renovierten Maximilian-Altars im Jahre 1327 durch Bischof Ulrich II. von Chiemsee. Die Anfangsdatierung sowie der Verweis auf diese Datierung am Schluss der Notiz erlauben die Vermutung, dass es sich um einen bereits vorgefundenen Text aus dem Jahre 1327 handelt, der nun in die neue Tafel integriert wurde. Die Notiz hebt sich durch ihre Gestaltung in besonderem Maße von allen anderen Mitteilungen ab. Den Beginn des Textes markiert eine besonders aufwändig ausgeführte große FleuronnéeInitiale, und im Bereich der Namen der Heiligen, deren im Altar geborgene Reliquien in einer langen Liste aufgezählt werden, häufen sich Farbinitialen, die den Blick auf sich ziehen. Allen, die die penibel angegebenen Bestimmungen erfüllen, werden zu detailliert aufgezählten Festtagen Ablässe von je 40 Tagen gewährt, die perpetuis temporibus Geltung haben sollen. An die Information über die Ablässe schließt sich im selben Schriftstück eine weitere Mitteilung an, die für den Festkalender der Kirche von Bischofshofen von Belang war: Der genannte Bischof Ulrich von Chiemsee verlegte den Jahrestag der Weihe sowohl des Altars als auch der Kirche auf den Sonntag nach Mariä Himmelfahrt47. Der Text stammt wohl von einer Tafel, die zum Maximiliansaltar gehörte und nun durch die neue aus den 1440er Jahren ersetzt wurde. Möglicherweise war auch die anschließende Liste von Ablässen, die vor der Renovierung des genannten Altars (ante renovacionem dicti altaris), also vor 1327, gewährt worden waren, Bestandteil dieser ersetzten Tafel. Die Liste weist kein Datum auf. Da sie aber durch ein Privileg Erzbischof Rudolfs, der sein Amt 1284–1290 ausübte, bestätigt wurde und Ablässe zu je 40 Tagen von Erzbischof Rudolf und seinen namentlich genannten Suffraganen, den Bischöfen von Freising, Passau, Regensburg, Gurk, Chiemsee und Lavant, sowie den Bischöfen von Augsburg und Eichstätt anführt, kann sie zeitlich auf die Zeit von 1285 bis 1286 eingegrenzt werden48. Der ursprüngliche Text der Tafel endet mit der Ablassverleihung durch Erzbischof Gregor und Bischof Engelmar von Chiemsee im Jahre 1403. Demnach können die Gläubigen Ablässe von je 40 Tagen zu den entsprechenden, detailliert genannten Konditionen an Sonntagen und weiteren insgesamt 18 Festtagen erwerben, und zwar so oft sie – tociens quociens – zu den aufgezählten Terminen die Maximilianskirche und deren Tochterkirchen besuchen oder Dienste der Nächstenliebe für sie erbringen oder an der einmal pro Woche in der Maximilianskirche gelesenen Marienmesse teilnehmen. Auch hier war ein beträchtlicher Gnadenschatz zu erlangen. Den zunächst frei gebliebenen Raum am Ende dieser Darlegungen hat man schließlich dazu genutzt, eine 1447 an der päpstlichen Kurie für die Pfarrkirche erlangte Ablassverleihung durch Papst Nikolaus V. im Volltext einzutragen49. Sieben Jahre Ablass und   Ob Dietmar I. (874–907) oder Dietmar II. (1025–1041) lässt sich nicht entscheiden.   Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 233 Z. 14 von unten; Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 171 Abs. 1. 48  Die Bischöfe Bernhard (auch: Wernhard) von Passau und Konrad von Lavant übten ihr Amt seit 1285 aus, Bischof Hartmann von Augsburg starb im Juli 1286, s. Die Bischöfe des Hl. Römischen Reiches. Ein biographisches Lexikon, 1: 1198–1448, hg. von Erwin Gatz–Clemens Brodkorb (Berlin 2001) 556, 669 (s. v. Salzburg) und 9 bzw. 11. 49  Der Text bei Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 172, dazu 116f. Fehlt bei Slenczka, Lehrhafte 46 47



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ebenso viele Quadragene sowie weitere Vergünstigungen konnte man danach an zahlreichen, genau vermerkten Tagen gewinnen, unter bestimmten Bedingungen und Auflagen, unter ihnen Mitwirkung an der Erhaltung der Kirchengebäude und andere fromme Gaben. Es ist offenkundig, dass dieser Nachtrag von einem anderen Schreiber stammt. Um den umfangreichen Text unterzubringen, war er gezwungen, wesentlich kleiner zu schreiben. Er fügte sich dem Korsett der bereits ausgeführten Zeilenlinierung und füllte die entsprechenden für eine Zeile gedachten Räume nun mit jeweils zwei Zeilen Text. Die Initiale ist sparsam ausgeführt, ohne Farbe, aber immerhin mit etwas Fleuronnée. Die nachgetragene Ablassverleihung von 1447 ist von großem Wert für die Datierung der Tafel. Das Objekt muss einerseits vor 1447 entstanden sein, andererseits nach dem datierten Ablass aus dem Jahr 1443. Unter der Voraussetzung, dass der auf der Schauseite namentlich genannte Stifter Heinrich Plehuber zu diesem Zeitpunkt bereits Pfarrer von Bischofshofen war – der früheste Beleg dafür stammt allerdings erst aus dem Jahr 1452 –, ließe sich die Datierung geringfügig einengen, da sein Vorgänger als Pfarrer noch 1445 begegnet50. Für die kunsthistorische Beurteilung des Tafelbildes spielt die mutmaßlich engere Datierung 1445–1447 eine Rolle in der Argumentation51, für die Einordnung des Diptychons in die spätmittelalterliche Ablasswerbung kann man von der gesicherten Entstehungszeit zwischen 1443 und 1447 ausgehen. Es ist anzunehmen, dass das Diptychon mit der historischen Verortung und den auf den letzten Stand gebrachten Informationen über die in der Maximilianskirche zu erlangenden Ablässe in enger Verbindung steht mit dem durch den Chiemseer Bischof Silvester Pflieger (1438–1453) veranlassten Umbau der Kirche, der Langhaus, Gewölbe und Vorhalle umfasste. Bischof Silvester, dessen Marmorhochgrab mit lebensgroßer Relieffigur das nördliche Querschiff der Kirche dominiert, war als Diplomat im Auftrag der Könige Albrecht II. und Friedrich IV. (später, als Kaiser, Friedrich III.) tätig, u. a. auch auf dem Konzil von Basel52. Daraus erklärt sich zwanglos die zuvor erwähnte Ablassverleihung von 1443 durch Kardinal Alexander, den Patriarchen von Aquileia und päpstlichen Legaten beim Basler Konzil. Im Zuge des tridentinischen Verbotes des Ablasshandels wird die Tafel aus dem Kirchenraum entfernt worden sein. Die Zeit danach hat sie in irgendeinem Depot überdauert. Heute ist sie neben dem singulären Rupertikreuz aus dem 8. Jahrhundert eines der Glanzstücke des Museums „am Kastenturm“ und vermittelt als rarer Zeuge eine Vorstellung von der Intensität und Vielfalt des mittelalterlichen Ablasswesens. „Das prominenteste und meistzitierte Beispiel für eine Ablassinschrift ist das Ablass­ triptychon für die Deutschordenskirche in Graz 1513.“53 Dieser aktuellen Einschätzung durch eine Inschriftenexpertin wird man vorbehaltlos zustimmen können. Es handelt sich dabei um ein besonderes Objekt mit außerordentlich umfangreichem Text und attraktiven Außenflügeln, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Eine wichtige Rolle spielte aber auch die Tatsache, dass diese Ablasstafel, gemeinsam mit dem Pendant für die Deutschordenskirche in Wien von 1466, Gegenstand der frühesten „modernen“ Publi-

Bildtafeln (wie Anm. 22) 234, wegen „kleinerem, in den Reproduktionen nicht zu entzifferndem Schriftgrad.“ 50   Zur Datierung Köllermann, Conrad Laib (wie Anm. 22) 117f. 51   Dazu ebd. 118–120. 52  Dazu ebd. 114; über Bischof Silvester s. Engelbert Wallner, Das Bistum Chiemsee im Mittelalter (1215–1508) (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Stadt und des Landkreises Rosenheim 5, Rosenheim 1967) 109–111. 53  Magin, Ablassinschriften (wie Anm. 30) 5f.

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kation über Ablasstafeln war, vorgelegt von Beda Dudík im Jahre 186854. Eine abschließende, erschöpfende Untersuchung wird Axel Ehlers verdankt, der die beiden Tafeln im Rahmen seiner umfassenden Darstellung der Ablasspraxis des Deutschen Ordens (2007) mustergültig behandelte55. Wir können uns daher hier auf das Wesentliche beschränken. Aus der reichen Überlieferung von Ablässen für den Deutschen Orden, die in sogenannten Summarien gesammelt und in der Form von umfangreichen Urkunden publik gemacht wurden, ragen diese beiden Ablasstafeln aus der Ballei Österreich heraus. Beide werden in der Schatzkammer des Deutschen Ordens in Wien verwahrt. Man kennt im gesamten Bereich des Ordens nur drei solcher Tafeln, die dritte, eine Ablasstafel aus dem Jahr 1475, indes nur aus Kopialüberlieferung56. Die ältere Tafel wurde 1466 für die Elisabethkirche des Deutschen Ordens in Wien im Auftrag von Jacob Wolgemuet, Komtur und Pfarrer, geschaffen57. Die beiden mit Pergament bezogenen Holztafeln (Format der linken Tafel 61 x 40 cm, der rechten 61 x 37 cm) enthalten in insgesamt vier Spalten ein umfangreiches Summarium in deutscher Sprache (Abb. 9). Den Beginn des Textes markiert eine über acht Zeilen der ersten Spalte reichende Miniatur der Hl. Elisabeth. Zu ihr zieht sich vom Stifter am Fuß der Spalte, kniend im weißen Ordensmantel, das Spruchband Sancta Elisabeth ora pro me. Der Text, durchgehend mit Initialen in abwechselnd roter bzw. grüner Farbe rubriziert, dürfte einen Auszug aus einer grossn tavel darstellen, die damals vermutlich in Wien vorhanden war und vielleicht „den kompletten Text des Trierer Summariums auf lateinisch“ umfasste 58. Die Fülle an detailliert vermerkten Ablässen zu verschiedensten Konditionen kann hier nicht ausgebreitet werden. Ein Verweis auf die Edition und die eingehende Analyse durch Ehlers muss genügen. Der Text beruht im Wesentlichen auf einer als „Trierer Summarium“ benannten Sammlung von Ablässen für den Orden, genauer der „Textgruppe I“ dieser Sammlung59, mit einigen Ergänzungen. Zu diesen zählt u. a. ein nur aus der Wiener Tafel bekannter Ablass von 100 Tagen zu den Kommunionstagen der Ordensbrüder. Auch zusätzliche Informationen wurden eingearbeitet. Zudem scheint die Tafel „anhand eines zeitgenössischen Festkalenders … aktualisiert worden zu sein“60. Eine Abschrift aus dem Jahr 1720 vermerkt ausdrücklich, dass sich diese tabula in Wien in dortiger hohen ordens capell(en) befand61. Das Verbot des Konzils von Trient „führte demnach … nur zur Verbannung der Tafel aus dem öffentlich zugänglichen Bereich der Kirche, nicht aber zu ihrer Zerstörung“62. 54 B[eda] Dudík, Über Ablasstafeln. SB der phil.-hist. Classe der kaiserl. Akademie der Wissenschaften 88 (Wien 1868) 155–180. 55 Axel Ehlers, Die Ablasspraxis des Deutschen Ordens im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 64, Marburg/L. 2007), s. auch ders., Ablasssummarien als Zeugnisse der Schriftlichkeit im Deutschen Orden, in: Die Rolle der Schriftlichkeit in den geistlichen Ritterorden des Mittelalters: Innere Organisation, Sozialstruktur, Politik, hg. von Roman Czaja–Jürgen Sarnowsky (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica 15, Torún 2009) 167–180, hier 178f. über die Tafeln aus Wien und Graz. 56  Ehlers, Ablasspraxis (wie Anm. 55) 262–264, Textedition 576–581, Dokument 11. 57 Dazu Dudík, Über Ablasstafeln (wie Anm. 54) 156–159, Textedition 157–159, erschöpfend Ehlers, Ablasspraxis (wie Anm. 55) 258–262 sowie 571–575, Dokument 10, Textedition 572–575, dazu Abb. 6 a und b. 58  Ehlers, Ablasspraxis (wie Anm. 55) 261. 59 Dazu ebd. 176–208. 60 Ebd. 259. 61 Ebd. 571. 62 Ebd. 259.



Verschwundene Ablasswerbung des späten Mittelalters 337

Abb.9: Ablasstafel für die Kommende Wien des Deutschen Ordens 1446, Schatzkammer des Deutschen Ordens, Wien.

Die zweite Tafel aus dem Jahr 1513 ist das prominenteste und bekannteste Ablassdokument des Ordens63. Sie wird heute in der Schatzkammer des Deutschen Ordens in Wien aufbewahrt, stammt aber, wie Ehlers aufgrund eines Transsumptes aus dem Jahr 1723 erstmals nachweisen konnte, aus der Sakristei der Grazer Leechkirche, der ursprünglich außerhalb der Stadtmauern gelegenen Kirche des Ordens64. Die beiden Außenflügel des Triptychons (geschlossen 82,5 x 68 cm, s. Abb. 10) zeigen Mariä Verkündigung (links) bzw. Anna Selbdritt (rechts), in der Mitte knappe lateinische und deutsche Informationen über die zu gewinnenden Ablässe mit dem Hinweis, dass die Tafel nur zu bestimmten Zeiten geöffnet sei, darunter zwei Wappenschilde. Heraldisch links prangt das allgemeine Amtswappen des Hochmeisters, rechts das persönliche Wappen des Hochmeisters Albrecht von Brandenburg-Ansbach (roter Adler mit auf die Brust gelegtem Deutschordensschild, in Weiß ein schwarzes Kreuz), links unter dem Hochmeisterwappen ein kleines Wappen, gespalten von Silber und Schwarz, darin in gewechselten Farben zuspringende Windhunde. Ehlers konnte dieses Wappen als Familienwappen des Grazer Deutschordenskomturs Melchior Rulko identifizieren. Demnach ließ dieser Komtur die 63 Dazu Dudík, Über Ablasstafeln (wie Anm. 54) 160–174, Textedition (unvollständig) 161–174; erschöpfend Ehlers, Ablasspraxis (wie Anm. 55) 264–271 sowie 582–595, Dokument 12, erstmals vollständige Textedition mit – einander gegenübergestellt – deutschem und lateinischem Text 583–595, dazu Abb. 8 a–d; 264 Anm. 584 Hinweise auf Abbildungen in anderen Publikationen. 64   Ehlers, Ablasspraxis (wie Anm. 55) 582.

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Abb. 10: Ablasstafel für die Kommende Graz des Deutschen Ordens 1513, Schatzkammer des Deutschen Ordens, Wien, Außenseite.

Ablasstafel für die Grazer Kommende herstellen65. Vollendet wurde die Tafel 1513 am Sonntag Reminiscere, dem 19. Februar66. Die Innenseite (Abb. 12, geöffnet 82,5 x 136 cm) bietet den lateinischen Text des Trierer Summarium in „zum Teil drastische[r] Verkürzung des ursprünglichen Textes“67, jeweils zweispaltig auf den beiden Flügeln, sowie eine deutsche Übersetzung auf der mittleren Tafel in drei Spalten. Der Vorbemerkung zufolge hat Hochmeister Albrecht von Brandenburg die Ablasszusammenstellung im Jahr 1513 dem österreichischen Landkomtur Konrad von Kottwitz aus Preußen übersandt. Ehlers hält dies allerdings für eine Behauptung, die „kaum zutreffen dürfte, aber die Möglichkeit der ordensinternen Kommunikation durch Summarien andeutet“68. Als Textvorlage für die Tafel vermutete Ehlers „eines der seit 1468 im Bereich der Ballei Österreich angefertigten Transsumpte aus der Textgruppe I oder einer Abschrift davon“69. Zusätze sind ein Ablasskalender, der die Höhe   Ebd. mit Korrektur unzutreffender Angaben.   Ebd. 266 mit Anm. 599. 67 Ebd. 267. 68 Ebd. 266–271, das Zitat aus dems., Ablasssummarien (wie Anm. 55) 179. 69  Ehlers, Ablasspraxis (wie Anm. 55) 268. 65 66



Verschwundene Ablasswerbung des späten Mittelalters 339

Abb. 11: Ablasstafel für die Kommende Graz des Deutschen Ordens 1513, Schatzkammer des Deutschen Ordens, Wien, Innenseite.

der zu verschiedenen Festen zu erlangenden Ablässe ausweist, zwei deutsche Gebete und ein apokrypher, Papst Julius II. zugeschriebener Ablass von 80.000 (!) Jahren für ein Mariengebet beim Ave-Läuten70. Dies – ob echt oder gefälscht – einer der Exzesse jener Zeit, die das radikale Vorgehen Luthers gegen das Ablasswesen begreiflich machen. Wie aus den Angaben der zuvor erwähnten Abschrift hervorgeht, befand sich die Tafel noch 1723 in Graz. Vermutlich hat man sie unmittelbar darauf nach Wien verbracht71. Von den vielen Bild- und Schrifttafeln, die in spätmittelalterlichen Kirchen in großer Zahl zu sehen waren, ist heute nur ein Bruchteil auf uns gekommen72. Dies gilt in besonderem Maße für die Ablasswerbung. Zurecht hat Hartmut Boockmann daran erinnert: „Der Ablaß ist ja nicht nur der Reformation zum Opfer gefallen, sondern auch der katholischen Reform.“73 So „hat auch ein strengerer Umgang mit dem Ablaß, wie er im katholischen Bereich alsbald nach der Reformation eingeführt werden sollte, offensichtlich die Vernichtung eines großen Teils [der Ablasswerbung] bewirkt“74. Ist schon seit etwa 1520

 Ebd. 269.  Ebd. 265f. 72   Slenczka, Lehrhafte Bildtafeln (wie Anm. 22) 10 mit Anm. 1. S. dazu auch die anregenden Arbeiten von Hartmut Boockmann, Wege ins Mittelalter. Historische Aufsätze (München 2000), darin 227–238 „Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen Kirchen“ (ursprünglich in: DA 40 [1984] 210–224), 239–256 „Wort und Bild in der Frömmigkeit des späteren Mittelalters“ (ursprünglich in: Pirckheimer-Jahrbuch 1 [1985] 9–40) sowie 257–280 „Belehrung durch Bilder. Ein unbekannter Typus spätmittelalterlicher Tafelbilder“ (ursprünglich in Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 [1994] = Kunstgeschichte und Gegenwart. 23 Beiträge für Georg Kauffmann zum 70. Geburtstag] 1–22) und die Hinweise oben Anm. 15. 73  Boockmann, Belehrung (wie Anm. 72) 277. 74 Hartmut Boockmann, Über Ablaß-„Medien“. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983) 709–721, hier 710. 70 71

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das fast vollständige Aufhören von Ablassverleihungen zu registrieren75, so setzt schließlich das tridentinische Verbot des Ablasshandels von 1563 den Schlusspunkt. Die Entfernung oder Vernichtung der Werbungsträger war die Folge. Nur wenige sind in situ auf uns gekommen. Ablassinschriften in Stein sind auch in Deutschland nur ganz vereinzelt erhalten geblieben. Als Beispiele seien die Ablassinschrift in der Außenwand der Kirche St. Wolfgang in Rothenburg ob der Tauber76 oder die vier Steintafeln in der Marienkirche in Rostock genannt77. Sie verdanken ihr „Überleben“ vermutlich dem Umstand, dass sie nur mit großem Aufwand und Zerstörungen an den Kirchenbauten oder der Ausstattung hätten entfernt werden können. Zu den besonderen Raritäten zählen Ablasstriptychen. Außer dem Beispiel aus der Grazer Kommende des Deutschen Ordens sind offenbar nur zwei weitere bekannt, eines aus dem Augsburger Dominikanerinnenkloster St. Katharinen von 1487, das andere aus dem Kölner Alexiuskloster78. Nach einer Umfrage unter Kollegen und Kolleginnen, die sich mit Inschriften befassen, konnten nach dem Stand von 2008 im ganzen deutschen Sprachraum insgesamt nur 55 Objekte der vortridentinischen Ablasswerbung erfasst werden79. Die sechs erhaltenen Objekte aus Österreich, die hier vorgestellt wurden, können immerhin einen Eindruck davon vermitteln, in welch unterschiedlichen Formen Ablasswerbung gestaltet werden konnte – Einblick in eine verschwundene Welt.

  Amon, Die Steiermark (wie Anm. 3) 319.   Die Inschriften der Stadt Rothenburg ob der Tauber, ed. Dietrich Lutz (Die Deutschen Inschriften 15, München 1976) Nr. 95; Boockmann, Über Ablaß-„Medien“ (wie Anm. 74) 714f. mit Abb. 4 und 5 (ohne Text); ders., Die Stadt im späten Mittelalter (München 1986) 268f. Nr. 407 (mit Textwiedergabe und Erläuterungen) und Abb. 378. 77   Magin, Ablassinschriften (wie Anm. 30) 7–17. 78   Boockmann, Belehrung (wie Anm. 72) 277f. mit Anm. 98. S. jetzt Martin Schawe, Rom in Augsburg. Die Basilikabilder aus dem Katharinenkloster (o. O. [München] o. J. [1999]), eine Abb. auch bei Axel Ehlers, Art. Ablass (Mittelalter). Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/ Ablass_(Mittelalter) (01. 12. 2015) Abb. 9 [31. 12. 2019]. 79  Magin, Ablassinschriften (wie Anm. 30) 2, allerdings ohne Aufzählung der Objekte. 75 76

Über die Anfänge der Auersperger in Krain Peter Štih

Historiographisch Die Identität des Geschlechts der Auersperger (slow. Turjaški) steht in Verbindung mit ihrer Stammburg Auersperg/Turjak südlich von Laibach/Ljubljana, die nach dem Auerochsen benannt wurde (lat. urus, dt. Aur [Ur], slow. tur), der auch die heraldische Hauptfigur ihres Wappens ist*. Als Symbol des Geschlechts nimmt er die zentrale Stelle in der großen Relieftafel am so genannten Ochsenturm der Burg Auersperg ein. Diese Tafel, welche die Aufmerksamkeit jedes Burgbesuchers auf sich zieht, wurde im Jahr 1520 oder bald danach in den Turm eingemauert; zumindest besagt das die Inschrift, welche die Baugeschichte der Burg zusammenfasst. Demnach beschädigte ein Erdbeben im Jahr 1511 die Burg, die Konrad von Auersperg im Jahr 1067 zu errichten begann, so schwer, dass Troian von Auersperg sie im Jahr 1520 neu erbauen musste1. Die Inschrift widerspiegelt die Tradition des Geschlechts und die Vorstellung, welche die Auersperger spätestens zu Beginn des 16. Jahrhunderts über den Anfang der Stammburg und indirekt über den Anfang ihres Geschlechts in Krain hatte+n. Ältere Aufzeichnungen ähnlicher Art bzw. ähnlichen Inhalts sind nicht bekannt. Ein Ausdruck dieses familialen und geschichtlichen Selbstbewusstseins ist auch die jüngere gereimte Genealogia der Auersperger in deutscher Sprache. Sie wurde im Jahr 1584 oder bald danach verfasst und ist heute nur in Auszügen bekannt, die Franz Hermann von Hermannstahl in den 1840er Jahren exzerpierte und Peter von Radics in den 1880er Jahren veröffentlichte2. Diese Genealogia beruft sich auf Urkunden und Aufzeichnungen aus dem 11. *  Der vorliegende Beitrag ist die erweiterte und adaptierte Fassung eines im Rahmen der slowenischen Publikation Grad Turjak, hg. von Miha Preinfalk (Castellologica Slovenica 2, Ljubljana), erscheinenden Aufsatzes. Slowenische Ortsnamen werden bei der Ersterwähnung nach den – soweit vorhandenen – deutschen Formen angegeben. Für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Beitrages danke ich Harald Krahwinkler. 1 ANNO DOMINI 1067 IAR IST / AVRSPERG DVRCH HERN CONRAT / VON AVRSPERG ANGEFANGEN ZV / PAVN NACHMALS DVRCH DEN ERT / PVDEM IM 1511 IAR ZERSCHVT / ABER DVRCH MICH TROIAN VON / AVRSPERG OBRISTEN ERB CAMRER / IN CRAIN VND DER WINDISCHEN / MARK IN GRVND ABGEPROCHEN / VND VON NEVEN ANGEFANGEN ZV / PAVEN IM 1520 IAR. Die Transkription der Inschrift überliefert schon Johann Weichard Valvasor, Die Ehre des Hertzogthums Crain XI (Laybach 1689) 24, jedoch mit der falschen Jahreszahl 1570, die erst Peter von Radics, Herbard VIII. Freiherr zu Auersperg (1528–1575), ein krainischer Held und Staatsmann (Wien 1862) 4, korrigierte. Siehe Božo Otorepec, Iz zgodovine Turjaškega gradu [Aus der Geschichte der Burg Auersperg]. Kronika 21 (1973) 147–152, hier 150. 2 Peter von Radics, Zur Geschichte der Auersperger. Archiv für Heimatkunde 2 (Laibach 1884 u. 1887) 238–242.

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Abb. 1: Die Relieftafel am Ochsenturm der Burg Auersperg (Foto: Rosana Sluga Štih).



Über die Anfänge der Auersperger in Krain 343

Jahrhundert, die noch im 16. Jahrhundert auf der Burg Auersperg aufbewahrt worden sein sollen. Die Erzählung beginnt im Jahr 1057, als zu Zeiten Kaiser [!] Heinrichs IV. auf der Burg Auersperg angeblich die Brüder Konrad, Adolf und Pilgrim lebten. Von ihnen stammten demnach die Auersperger ab: Davon Erwuchs der Edle Stamm / Der Herrn von Aursperg mit Namb. Der Ersterwähnte Konrad baute im Jahr 1067 die obere Burg Auersperg, was auch die Inschrift am Ochsenturm der Burg behauptet3. Eine identische Geschichte über die Anfänge der Auersperger überliefert auch die ungefähr gleichzeitig verfasste Genealogie, die zusammen mit dem restlichen Familienarchiv bis 1942 auf der Burg Auersperg aufbewahrt wurde und sich jetzt im Kärntner Landesarchiv in Klagenfurt befindet4. In der Zwischenzeit wurde 1557 in Basel das umfangreiche Werk des Wiener Humanisten Wolfgang Lazius „De gentium aliquot migrationibus“ veröffentlicht, in dem er die Geschichte der Auersperger weit in die antike Vergangenheit erstreckte. In typisch humanistischer Manier setzte er die japodisch-römische Stadt A(u)rupium aus Strabons Geographie mit Auersperg in Verbindung, womit die Auersperger dem Namen und der Herkunft nach von den Römern abstammten5. Mit dieser Konstruktion erlangte die auers­pergische Genealogie in der Zeit, als Hofgeschichtsschreiber zahlreichen adeligen Geschlechtern römische Herkunft zuschrieben, besonders hohes Prestige. Die von Lazius behauptete Verbindung der befestigten Japoden-Stadt Aurupium bzw. Auruponum – über deren Eroberung durch Octavian im Jahr 31 v. Chr. Hieronymus Megiser in seinen Annales Carinthiae 1612 ausführlich berichtet6 – mit Auersperg wurde im frühen 17.  Jahrhundert durch Johann Melchior Mader weiterentwickelt. Dieser geheimnisvolle Autor, über den so gut wie nichts bekannt ist, veröffentlichte 1621 ein Buch über die Kunst des Reitens mit dem Titel „Equestria“, das der Nürnberger Drucker Simon Halbmayer im westfälischen Siegen (Segodunum) veröffentlichte7. Mader dedizierte das Werk drei jungen Krainer und Kärntner Adeligen, von denen einer Wolf Engelbert von Auers­ perg (1610–1673) war. Im einführenden Widmungsbrief (epistola dedicatoria) an den jungen Auersperger, in dem der Verfasser Wolf Engelberts Geschlecht würdigt, bezeichnet er das japodische Auruponum, das nach der römischen Eroberung auch durch Attila verwüstet worden sei, als „das Ahnenhaus deiner erlauchten Familie“ und die Auruponier als „deine Ahnen“. Unweit der Ruinen dieser Stadt soll Konrad von Auersperg, der bis dahin angeblich gemeinsam mit seinen Brüdern Pilgrim und Adolf auf der alten Burg gelebt hatte, im Jahr 1067 das „castrum Auruponum“ bzw. die neue Burg Auersperg erbaut haben, die dann Troian von Auersperg im Jahr 1520 von Grund auf erneuerte8. In seiner Darstellung der Anfänge des Geschlechts verknüpfte Mader also auerspergische Überlieferung und humanistisch gelehrte Konstruktion in ein Narrativ.   Ebd. 240.   KLA, Gräflich Auersperg’sches Fideikommiss-Archiv Nr. 269 (ex Ladl 22). Für den Hinweis auf diese zwölf Blätter umfassende Genealogie und deren Transkription danke ich Miha Preinfalk. Seine Forschungen zur Geschichte der Auersperger und sein seit dem Jahr 2000 bestehender Kontakt mit Leopold Auersperg machten das von der Burg Auersperg über Cervignano auf die Burg Reideben im Lavanttal übertragene Auerspergische Archiv der breiteren Öffentlichkeit bekannt. Dieses heute im Kärntner Landesarchiv aufbewahrte Adelsarchiv ist uneingeschränkt zugänglich. 5   Zitiert nach der Ausgabe: Wolfgang Lazius, De gentium aliquot migrationibus, sedibus fixis, reliquiis, linguarumque initiis et immutationibus dialectis libri XII (Frankfurt 1600) 156 und 191. 6 Hieronymus Megiser, Annales Carinthiae. Das ist Chronica des Löblichen Erzhertzogthums Khärndten (Leipzig 1612) 123. 7  Joannes Melchior Mader, Equestria sive de arte equitandi libri duo (Siegen 1622). 8 Ebd. (Widmungsbrief an Wolf Engelbert von Auersperg, unpaginiert). 3 4

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Doch schon der Laibacher Jesuit Johann Ludwig Schönleben, der Verfasser der ersten systematischen und umfangreichen Genealogie der Auersperger9, kritisierte Lazius’ Identifizierung von Aurupium mit Auersperg. Ebenso bezweifelte er, dass ein altes römisches Adelsgeschlecht Umwälzungen, die in Krain zahlreiche Völker von den Hunnen, Goten, Bayern bis zu den Slawen verursachten, hätte überleben können. Seiner Auffassung nach waren die Auersperger kein autochthones Krainer Adelsgeschlecht, sondern schwäbischer Herkunft. Ihre Vorfahren sollen von der westlich von Augsburg gelegenen Burg Ursperg bzw. Ursberg stammen und im Dienst der fränkischen Kaiser nach Krain gekommen sein, um bei der Verteidigung des Landes gegen Feinde mitzuwirken. Die Krai­ner Burg Urs­ perg, wie sie im Prädikat des ersten gesicherten Auerspergers in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts heißt10, wurde nach Schönleben noch vor dem Ende des ersten Jahrtausends erbaut. Auf ihr sollen die ersten namentlich bekannten auerspergischen Brüder Adolf und Theoderich gelebt haben, Söhne eines anonymen, um 950 geborenen Auers­ pergers. Adolfs Söhne seien die schon in der auerspergischen Genealogia erwähnten Brüder Adolf (II.), Konrad und Pilgrim gewesen. Adolf soll um 1060 die obere Burg Auers­ perg erbaut haben, während Theoderich in Friaul die Burg Cuccagna errichtet hätte und somit der Gründer des friaulischen Zweiges der Auersperger wäre11. Schönlebens Ausführungen über die Anfänge der Auersperger wurden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts weithin rezipiert, jedoch von Anfang an nicht zur Gänze akzeptiert. Denn wie die im 18. Jahrhundert gemalte Porträtgalerie der Auersperger zeigt, hielten diese selbst an der von Lazius bzw. Mader überlieferten glorreicheren Familiengenealogie fest12. Auch Johann Weichard Valvasor, der im 11. Buch der „Ehre des Herzogthums Crain“ ausführlich über Auersperg schrieb, fasste in Anlehnung an Strabon, Lazius, Megiser und Mader die Erzählung über Aurupium als den Vorgänger von Auersperg zusammen. Valvasor übergeht Schönlebens Meinung über die schwäbische Herkunft der Auersperger und die Übertragung des Burgnamens aus der alten in die neue Heimat; er folgt ihm erst ab Konrad, dem Erbauer der neuen Burg Auersperg13. Dabei korrigiert er lediglich die Jahreszahl an jener Stelle, an der Schönleben behauptet, dass die neue Burg Auersperg um 1060 von allen drei Brüdern (und nicht allein von Konrad) erbaut worden sei14. Interessanterweise scheint also Schönleben die Inschrift am Ochsenturm der Burg Auersperg, auf die sich Valvasor in der Kritik seines älteren Kollegen bezieht, nicht gekannt zu haben. Abgesehen von der anonymen im Jahr 1776 in Laibach gedruckten Genealogie der Auersperger mit kurzen Biogrammen der einzelnen Familienmitglieder, die überwiegend 9  Von Schönlebens Genealogien der Auersperger sind mehrere handschriftliche Fassungen bekannt, davon eine in deutscher, die anderen in lateinischer Sprache; siehe Monika Deželak Trojar, Janez Ludvik Schönleben (1618–1681). Oris življenja in dela [Johann Ludwig Schönleben (1618–1681). Abriß des Lebens und Werkes] (Apes academicae 1, Ljubljana 2017) 230, 289–294. Hier berufe ich mich auf die einzige gedruckte Fassung: Joannes Ludovicus Schönleben, Genealogia illustrissimae familiae principum, comitum, et baronum ab Aursperg (Laibach 1681). 10  Urkunden- und Regestenbuch des Herzogthums Krain 1, ed. Franz Schumi (Laibach 1882–1883) 119 Nr. 125, 128 Nr. 141, 136 Nr. 155, 151 Nr. 173a. Zur schwäbischen bzw. Krainer Burg Ursberg siehe Miha Preinfalk, Auersperg. Geschichte einer europäischen Familie (Graz–Stuttgart 2006) 31–36. 11  Schönleben, Genealogia (wie Anm. 9) 1–3. Zu den Auerspergern in Friaul siehe Preinfalk, Auersperg (wie Anm. 10) 36–39. 12  Siehe Anm. 18. 13  Valvasor, Ehre XI (wie Anm. 1) 22–28. 14  Ebd. 24.



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nach Schönleben zusammengefasst wurden und in der beispielsweise behauptet wird, dass die alte oder untere Burg Auersperg schon im Jahr 451 errichtet wurde15, übernahm erst der Genealoge und Heraldiker Franz Karl Wißgrill am Ende des 18. Jahrhunderts Schönlebens Auffassung über Herkunft und Frühgeschichte der Auersperger zur Gänze. Wißgrill, der zumindest im Hinblick auf die Frühzeit nicht nur kompilierte, sondern auch Archivquellen sammelte, hielt Lazius’ Rekurs auf die römische Herkunft der Auersperger für unbegründet und Schönlebens Darlegung der deutschen Herkunft der Auersperger aus dem schwäbischen Ursberg für weitaus wahrscheinlicher. Von ihm übernahm er auch die Überlieferung, dass Adolf und Theoderich die ersten bekannten Auersperger waren16. Die römische Herkunft der Auersperger wurde auch von Franz Xaver Richter als „genealogische Schmeichelei“ abgelehnt. Dieser im österreichischen Schlesien geborene Historiker und Bibliothekar, der von 1815 bis 1825 Geschichtsprofessor am Laibacher Lyzeum war, erhielt im Jahr 1820 die Gelegenheit, das Familienarchiv auf der Burg Auers­ perg einzusehen, wo er zu seiner Verwunderung viel Material fand, das Schönleben entweder nicht gekannt oder beim Verfassen der auerspergischen Genealogie nicht berücksichtigt hatte. Richter, der in seinem Beitrag auch das „pikante Märchen“ anführt, dass ein slowenischer Metzger oder Ochsenhändler Vorfahr der Auersperger gewesen sein soll, hielt sie für ein ursprünglich „deutsches, vielleicht schwäbisches, auf jeden Fall süddeutsches Geschlecht“. Dabei berief er sich nicht auf Schönlebens Gleichsetzung des schwäbischen und des Krainer Ursperg, sondern auf den Namen, weil das Geschlecht in den ältesten Urkunden immer in deutscher und nie in slowenischer Form bezeugt ist17. Er räumt die Möglichkeit ein, dass die Auersperger schon in karolingischer Zeit nach Krain kamen, aber diese seien – hier unterscheidet er sich abermals von Schönleben – wegen der Ungarn­einfälle zurück nach Schwaben geflohen und in der Zeit der Neueroberung der Grenzgebiete unter den Ottonen auf den verlassenen Besitz zurückgekehrt. Vorsichtig fügt er aber hinzu, dass es für diese Deutung keine Beweise gebe. Auf Grundlage von Schönleben hält er jedoch fest, dass Konrad I. – mit dem die Porträtgalerie der Auersperger auf ihrer Stammburg beginne – der Stammvater der Krainer Auersperger sei18. Außer15  Arbor genealogicus lineae tantum rectae de patre in filium descendens excelsae familiae Auersperg, ab anno Christi 1036. sub divinis auspiciis, usque ad hodiernum diem nunquam interruptae (Laibach 1776) (unpaginiert). Die kurzen Biogramme einzelner Personen sind wahrscheinlich nur die Bildunterschriften zu den damals auf der Burg Auersperg ausgestellten Porträts der Auersperger und ihrer Gattinnen; siehe Anm. 18. 16  Franz Karl Wissgrill, Schauplatz des landsässigen Nieder-Österreichischen Adels vom Herren- und Ritterstande von dem XI. Jahrhundert an, bis auf jetzige Zeiten 1 (Wien 1794) 223f. 17   Der slowenische Name der Burg begegnet erst im Jahr 1455 als castel dicto Turiach, Otorepec, Iz zgodovine (wie Anm. 1) 147. 18   Franz Xaver Richter, Die Fürsten und Grafen von Aursperg (Aus bisher noch ganz unbenützten Quellen, besonders mit Hinsicht auf die krainische Landesgeschichte bearbeitet und mit Familien-Urkunden belegt). Neues Archiv für Geschichte, Staatenkunde, Literatur und Kunst 2 (21) (1830) 597–601, hier 599, veröffentlicht auch die lateinische Inschrift unter dem Bild Konrads I., die besagt, dass er von den japodischen Aurupenen oder Auerspergern herstammt. Richter vermerkt, dass die Inschrift unter Konrads Bild bereits in den erwähnten „Arbor genealogicus“ (wie Anm. 15) aus dem Jahre 1776 übernommen wurde. Aufgrund dieser Information und der Struktur der darin enthaltenen kurzen Biogramme darf man annehmen, dass dieses kurze anonyme Werk lediglich eine Sammlung der Bildunterschriften unter den Porträts der Auersperger sein könnte, über die Radics, Herbard VIII. (wie Anm. 1) 4, berichtet, dass sie sich im „Ahnensaal“ auf der Burg Auersperg befanden, dass sie im 18. Jahrhundert zwar nach einer Schablone gemalt wurden, aber dass deren lateinische Bildunterschriften den Besuchern ermöglichten, die Geschichte des Geschlechtes kurz kennenzulernen. Offensichtlich handelt es sich um dieselben Porträts, von deren Qualität im Jahr 1837 der in Laibach internierte Pole Emil Korytko enttäuscht war. Valvasor, Ehre XI (wie Anm. 1) 27, der die Burg Auersperg im Jahr 1686 besuchte

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dem erzählt er die bekannten Geschichten von der Erbauung der oberen Burg Auersperg durch die drei Brüder sowie von Konrads Vater Adolf und Onkel Theoderich, der die friaulische Linie der Auersperger auf der Burg Cuccagna begründet habe19. Auch Peter von Radics, der die Krainer Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforschte, erörterte mehrfach Herkunft und Anfänge der Auersperger, vor allem in seiner umfangreichen Monographie über den berühmten „krainischen Helden und Staatsmann“ Herbard VIII. von Auersperg. In der Einführung fasst er nach Schönleben zusammen, dass das auerspergische Geschlecht zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert von der Burg Ursperg in Schwaben nach Krain kam und dass Adolf I., der Erbauer der unteren Burg Auersperg, und Theoderich, der Gründer des friaulischen Zweiges, die ersten bekannten Auersperger waren, während Adolfs Sohn Konrad I. die obere Burg Auersperg erbaute. Er lehnt aber die Gleichsetzung des japodischen Aurupium mit Auersperg ebenso ab wie Maders Vermutung, dass die untere Burg Auersperg aus den Ruinen dieser angeblich von Attila im Jahr 451 zerstörten Stadt erbaut worden sei20. Radics kompilierte seinen Überblick über die älteste auerspergische Geschichte, doch bietet er – wie nach ihm auch Carl von Czoernig, August Dimitz oder Josip Gruden21 – nichts Neues über die Anfänge der Auersperger. Die Lage begann sich zu ändern mit Franc Kos, einem der Wegbereiter der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung bei den Slowenen und ausgezeichneten Kenner der Quellen für die mittelalterliche Geschichte des slowenischen Raumes. In der Eingangsübersicht zum dritten Band seines „Gradivo za zgodovino Slovencev v srednjem veku“ (Materialien zur Geschichte der Slowenen im Mittelalter) im Jahr 1911 lehnte er alle älteren Autoren ab, die über die Anfänge der Auersperger schrieben. Er betonte, dass es „keinen einzigen Beweis“ weder für die schwäbische Herkunft der Auersperger noch für die Behauptung, dass die ersten bekannten Auersperger Adolf und Theoderich waren, gebe. Auch könne die Inschrift am Ochsenturm der Burg Auersperg aus dem 16. Jahrhundert keine zuverlässige Quelle für das 11. Jahrhundert sein, in dem die Burg erbaut worden sein soll22. Josip Gruden meinte zwar in der Rezension des genannten Buches von Kos, dass der Autor in seiner Kritik „einigermaßen zu weit“ gegangen sei; man dürfe nicht jede Behauptung verurteilen, die nicht „mit Urkunden jener Zeit zu bezeugen“ sei. Die auers­ pergische Genealogie aus dem Jahre 1584, die sich auf Urkunden aus dem 11. Jahrhundert beruft, und die Inschrift am Ochsenturm würden nach Gruden doch Schönlebens und Valvasors Angaben stützen, und auch wenn wir keine geschichtlichen Quellen für ein Adelsgeschlecht aus dieser frühesten Zeit haben, heißt das nicht, dass es sie nicht gab23. und vermerkte, dass die Porträts der Herren von Auersperg in den Zimmern und Gemächern hingen, muss also noch eine andere, ältere Sammlung gesehen haben. 19  Richter, Aursperg (wie Anm. 18) 597–601. 20  Radics, Herbard VIII. (wie Anm. 1) 1–6; siehe auch ders., Die Auersperger in Krain. Blätter aus Krain. Beilage zur Laibacher Zeitung 5/18 (1861) 71f. 21  Carl von Czoernig, Das Land Görz und Gradisca (Mit Einschluß von Aquileia) (Wien 1873) 689; August Dimitz, Geschichte Krains von der ältesten Zeit bis auf das Jahr 1813 Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Tode Kaisers Friedrichs III. (1493) (Laibach 1874) 143, 150, 161; Josip Gruden, Zgodovina slovenskega naroda [Geschichte des slowenischen Volkes] (Celovec 1912) 125. 22  Franc Kos, Zgodovinski pregled, in: Gradivo za zgodovino Slovencev v srednjem veku [Materialien zur Geschichte der Slowenen im Mittelalter] 3, hg. von dems. (Ljubljana 1911) VII–LXIII, hier XVIf. 23 Josip Gruden, Rezension zu: Franc Kos, Gradivo za zgodovino Slovencev v srednjem veku. Tretja knjiga (1001–1100). Dom in Svet 24 (1911) 404f.; ähnlich auch ders., Rezension zu: Franc Kos, Gradivo za zgodovino Slovencev v srednjem veku. Tretja knjiga (1001–1100). Čas 5 (1911) 417.



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Kos’ Antwort war prompt und ziemlich scharf: Die Genealogie sei in einem Jahrhundert entstanden, in dem Aventinus, Lazius, Megiser und andere „geschichtliche Ereignisse großzügig frei erfanden“ und sich auf Autoren beriefen, die es nicht gab. Er wundert sich, wo die Urkunden aus dem 11. und 12. Jahrhundert blieben, auf die sich die Genealogie beziehe, und warum sie sich nicht auf der auerspergischen Stammburg befänden, wenn dort Urkunden ab dem 13. Jahrhundert erhalten blieben. Die Namen Adolf, Pilgrim und Theoderich, welche die ältesten Auersperger getragen haben sollen, seien in den zeitgenössischen Quellen nicht zu finden. Dies gelte auch für die Namen Barbaras, der vermeintlichen, aus dem völlig unbekannten Finkenberg stammenden Gattin Konrads I. von Auersperg, oder Katharinas, die angeblich 1083 Konrad II. von Auersperg geheiratet habe und aus Sannegg/ Žovnek gestammt haben soll, das übrigens im 12. Jahrhundert erstmals dokumentiert ist. Hinsichtlich der Inschrift am Ochsenturm weist Kos darauf hin, „dass die Geschichte für das 11. Jahrhundert keinen Auersperger kennt. Wir wissen auch nicht, ob das Geschlecht aus fremden Ländern kam oder ob dessen Ahnen einfache slowenische Bauern waren“. Seine Antwort an Gruden schließt er mit dem Rat, dass die Auersperger „ihren Stammbaum gut überprüfen und daraus die oben genannten Adolfs, Pilgrims und Konrads löschen mögen, sowie ihre Ahnen (!), die Schönleben, der ehemalige Laibacher Professor Richter und andere auf dem Gewissen haben!“24 Wir können sagen, dass mit Kos’ kritischer, ausschließlich auf Quellen basierender Herangehensweise eine neue Ära auch in der Erforschung der ältesten auerspergischen und nicht nur der slowenischen Geschichte begonnen hat. Den nächsten wichtigen Schritt bei der Klärung der ältesten Geschichte der Auersperger machte Ljudmil Hauptmann im Jahr 1929. Als einer der Pioniere der Adelsforschung in der slowenischen Geschichtsschreibung war er sich bewusst, dass die urkundliche Zeugenreihe den sozialen Status der betreffenden Personen widerspiegelt, und bemerkte, dass sich die nach Auersperg benannten Adeligen im 13. Jahrhundert rangmäßig von deren Vorgängern stark unterschieden. Während Engelbert von Auersperg in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhundert als liber homo, das heißt als Edelfreier erwähnt wurde, kamen Herrand von Auersperg und seine Söhne ab 1220 zuerst als Ministerialen, das heißt als Angehörige des niederen Adels, vor. Den Grund für den Statusunterschied, den Hauptmann als sozialen Abstieg desselben Personenkreises verstand und auch mit der Verkleinerung des Familienbesitzes in Verbindung brachte, sah er in der Verarmung des Geschlechts25. Aber der Tiroler Jurist und Genealoge Kamillo Trotter revidierte Hauptmanns Interpretation schon im Jahr 1931. Mit aquileischen Lehen des vor dem 9. Mai 1248 gestorbenen Konrad von Auersperg waren nämlich nicht dessen Sohn oder Söhne investiert worden, sondern sein Schwiegervater Hermann von Ortenburg; das war für Trotter ein Indiz dafür, dass mit Konrad das alte hochadelige Geschlecht der Auersperger ausstarb26. Die nach der Burg Auersperg benannten Ministerialen, von denen die späteren Grafen und Fürsten abstammten, sollen also Angehörige eines anderen Geschlechts gewesen sein, dessen erster bekannter Vertreter der im Jahr 1220 erwähnte Herrand von Auersperg war27.  Franc Kos, O najstarejših Turjačanih [Über die ältesten Auersperger]. Carniola N. F. 3 (1912) 93f.  Ludmil Hauptmann, Entstehung und Entwicklung Krains, in: Erläuterungen zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer I/4 (Wien 1929) 315–453, hier 403f. 26  Gradivo za slovensko zgodovino v srednjem veku [Materialien zur slowenischen Geschichte im Mittelalter] 6/1, ed. France Baraga (Thesaurus memoriae – Fontes 2, Ljubljana 2002) 84 Nr. 59; Kamillo Trotter, Die Herren von Auersperg, in: Genealogisches Handbuch zur bairisch-österreichischen Geschichte, hg. von Otto Dungern (Graz 1931) 73. 27  Urkunden- und Regestenbuch des Herzogthums Krain 2, ed. Franz Schumi (Laibach 1884–1887) 25f. 24 25

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Schon im Jahr 1933 übernahm Milko Kos in seinem ersten Überblick über die Geschichte der Slowenen im Mittelalter die Deutung Trotters28, die jedoch ergänzt werden muss, da für den letzten Angehörigen des alten hochadeligen auerspergischen Geschlechts ein namentlich unbekannter nobilis puer de Owersperch zu halten ist, der unter den Spitzenzeugen der zweiten Gründungsurkunde für das Zisterzienserkloster Landstraß/Kostanjevica am 8. Mai 1249 genannt wird, während am Ende der Zeugenliste unter den weltlichen Zeugen Herbord und Meinhalm von Auersperg erwähnt sind, die offensichtlich einen niedrigeren, ministerialen Status hatten29. Seither hat sich in der (slowenischen) Geschichtsschreibung die Meinung durchgesetzt, dass nach der Burg Auersperg zwei Geschlechter benannt wurden: das ältere, hochadelige, das Mitte des 13. Jahrhunderts ausstarb, und das jüngere, niederadelige, von dem das noch heute lebende Geschlecht der Auersperger abstammt30. Dušan Kos räumt die Möglichkeit ein, dass das jüngere Geschlecht der Auersperger, welches das auerspergische Wappen und einige auerspergische Besitzungen übernahm und schon zu Zeiten der hochadeligen Auersperger auf der Burg Auersperg gelebt haben muss, nach der es benannt wurde31, mit dem alten Geschlecht verwandt war32. Eher zurückhaltend gegenüber vermuteten „biologischen Banden“ zwischen den beiden auerspergischen Geschlechtern äußerte sich hingegen Andrej Komac. Er wies darauf hin, dass sich die jüngeren Auersperger hinsichtlich ihrer Leitnamen von den alten Auerspergern völlig unterscheiden und somit in diesem wichtigen Segment familialer Identität keine Fortsetzer der alten Tradition sind33. Nach Komac bestehe „eine große Möglichkeit, dass die Herkunft Nr. 34. Otto Dungern, Die Edelherren in den Urkunden des Steirischen Urkundenbuches Band I–III samt Nachträgen, in: Urkundenbuch des Herzogtumes Steiermark. Ergänzungsheft zu den Bänden I bis III, bearb. von Hans Pirchegger–Otto Dungern (Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 33, Graz 1949) 100 und Anm. 3, vermutet, dass Herrand von Auersperg aus dem friaulischen Uruspergo stammte (siehe dazu Preinfalk, Auersperg [wie Anm. 10] 38), weshalb er die Herkunft der hochadeligen Auersperger mit Friaul in Verbindung bringt. 28  Milko Kos, Zgodovina Slovencev od naselitve do reformacije [Geschichte der Slowenen von der Ansiedlung bis zur Reformation] (Ljubljana 1933) 144. Ebenso auch in der erweiterten Neuauflage des Werkes: Zgodovina Slovencev od naselitve do konca 15. stoletja [Geschichte der Slowenen von der Ansiedlung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts] (Ljubljana 1955) 259f. 29   Gradivo 6/1 (wie Anm. 26) 109 Nr. 86. 30  Siehe zum Beispiel Otorepec, Iz zgodovine (wie Anm. 1) 148; Preinfalk, Auersperg (wie Anm. 10) 42f. Anders Lucijan Adam, Donesek k zgodovini Ortenburžanov na Dolenjskem [Beitrag zur Geschichte der Ortenburger in der Unterkrain]. Kronika 43 (1995) 7–12, hier 8, der im Sinne von Hauptmann der Kontinuität des Geschlechts Vorrang gibt; dieses soll wegen der Ortenburger wirtschaftlich zugrunde gegangen sein. 31   In diesem Sinne siehe die im Original erhaltene Urkunde vom 7. April 1220: Urkunden- und Regestenbuch Krain 2 (wie Anm. 27) 25f. Nr. 34. Engelbert von Auersperg stellte diese Urkunde „auf meiner Burg Auersperg“ aus, die bei dieser Gelegenheit erstmals als castrum erwähnt wird, und mit ihr verlieh er ein Lehen. Unter zahlreichen Zeugen wird an zweiter Stelle dominus Errandus de Owersperch erwähnt, also der bekannte Herrand von Auersperg. Der erste, der in dieser Urkunde nach Auersperg benannt war, war ihr Aussteller, der zweite lediglich der Zeuge. Die Fähigkeit zur Lehenvergabe und der Besitz einer eigenen Burg positionieren den Ersten im sozialen und ständischen Sinne höher als den Zweiten, der unter den Personen mit Ministerialenstatus aufgelistet wird und offenbar auf der Burg Auersperg, nach der er so wie der Erste benannt wurde, lediglich seinen Wohnsitz hatte. 32 Dušan Kos, In Burg und Stadt. Spätmittelalterlicher Adel in Krain und Untersteiermark (VIÖG 45, Wien–München 2006) 290. Dieser Auffassung neigt auch Preinfalk, Auersperg (wie Anm. 10) 43f., zu. 33  Preinfalk, Auersperg (wie Anm. 10) 44, meint diesbezüglich, dass das Fehlen der in den Quellen bezeugten älteren Auersperger Namen Engelbert und Konrad bei den jüngeren Auerspergern noch kein Beweis dafür ist, dass es sich nicht um Mitglieder ein und desselben Geschlechts handelt, denn auch die älteren Auers­ perger hätten Namen tragen können, die für die jüngeren Auersperger typisch waren, wie Herbard, Meinhalm und Meinhard, nur dass ihre Existenz aufgrund der spärlichen Quellen nicht bewiesen werden kann. Das



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des [jüngeren auerspergischen, Anm. P. Št.] Geschlechts in den Reihen der bescheidenen Adeligen aus der weiteren Umgebung von Auersperg zu suchen ist“34.

Geschichtlich Da die spärlichen Quellen großen Interpretationsspielraum zulassen, kann also in vielen Fragen hinsichtlich der Geschichte der Auersperger kein endgültiges Urteil gefällt werden. Das gilt auch für die Herkunft und Anfänge des ersten, hochadeligen auerspergischen Geschlechts. Nachdem die kritische Behandlung der ältesten auerspergischen Genealogie quellenmäßig nicht bezeugte Namen wie Adolf, Pilgrim, Theoderich und den in viel späterer Überlieferung erwähnten Konrad gestrichen hatte, galt der im Jahr 1162 als liber homo erstmals genannte Engelbert von Auersperg (Engelber[t]us de Vrsberch) als der älteste bzw. erste bekannte Angehörige des älteren Geschlechts35. Otto Dungern und Kamillo Trotter stellten zwar schon im Jahr 1931 den Zusammenhang zwischen den Auerspergern und einem gewissen Engelbero her, der in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Krain erwähnt wird und den sie für den Ahnherrn der hochadeligen Auersperger hielten – aber ohne genauere Begründung36. Fast siebzig Jahre später äußerte sich in diesem Sinne auch Andrej Komac. Aufgrund des Vornamens und des Besitzes, den Engelbero im 11. Jahrhundert in der Nähe von Auersperg hatte, hielt er es für möglich, ihn als einen „entfernten Vorfahren der Auersperger aus dem 12. und der ersten Hälfte des 13.  Jahrhunderts“ zu betrachten37. In einer im Jahr 2006 veröffentlichten Abhandlung habe ich diese Meinung mit neuen Argumenten erhärtet, sodass heute mit größter Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass die älteren Auersperger bzw. ihr erster Vertreter Engelbero um die Mitte des 11. Jahrhunderts aus Bayern nach Krain kamen38. Auf den erwähnten Engelbero stieß ich, als ich den Familienhintergrund Rudolfs von Tarcento bzw. Lungau erforschte, des Vogts der Kirche von Aquileia, der zwischen 1112 und 1125 dem dortigen Kapitel zwanzig Huben neben der Laibacher Burg schenkte. Rudolf war mit jenem hochadeligen Geschlecht verwandt, das nach Machland in Oberösterreich benannt wurde. In männlicher Linie starb dieses aus Bayern stammende Geschlecht

könnte zwar stimmen, aber die Schlussfolgerung ist trotzdem falsch. Es ist nämlich eine Tatsache, dass ab der Mitte des 13. Jahrhunderts kein nach Auersperg benannter Adliger den Namen Engelbert trug, den wir für den führenden Namen des älteren Auersperger Geschlecht halten können, weil er in drei, sehr wahrscheinlich sogar in vier Generationen, bezeugt ist: siehe die genealogischen Tabellen bei Trotter, Auersperg (wie Anm. 26) 73; Preinfalk, ebd. 580. Die Frage ist also nicht, ob die älteren Auersperger Namen wie Herbard o. ä. trugen, sondern warum die jüngeren Auersperger den Namen Engelbert nicht trugen. 34 Andrej Komac, Vzpon Turjaških v srednjem veku (prvi del) [Der Aufstieg der Auersperger im Mittelalter]. Zgodovinski časopis 54 (2000) 15–48, hier 17–21. Zur Herkunft der jüngeren Auersperger siehe auch von Dungern, Edelherren (wie Anm. 27) 100. 35  Monumenta historica ducatus Carinthiae 1, ed. August von Jaksch (Klagenfurt 1896) 178 Nr. 229. Siehe dazu Preinfalk, Auersperg (wie Anm. 10) 41 (mit Abbildung der im Original erhaltenen Urkunde). 36   Trotter, Herren von Auersperg (wie Anm. 26) 73; Otto Dungern, Die Grafen von Weyarn, in: Genealogisches Handbuch zur bairisch-österreichischen Geschichte, hg. von dems. (Graz 1931) 75–77, hier 75. 37   Komac, Vzpon Turjaških (wie Anm. 34) 18. Unzutreffend ist allerdings seine Behauptung, dass schon Hauptmann, Entwicklung Krains (wie Anm. 25) 404, diesen Engelbert für einen Vorfahren der Auersperger hielt. 38 Peter Štih, Der bayerische Adel und die Anfänge von Laibach/Ljubljana. ZBLG 69 (2006) 1–52, bes. 22–30.

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um 1162 aus39. Dort hatte Rudolfs gleichnamiger Vater, der nach Margarethenried benannt wurde, einen Besitz, von dem er einen Teil zwischen 1078 und 1085 an das Freisinger Domkapitel und andere Empfänger schenkte40. Diese Geschäfte werden durch fünf Freisinger Traditionsnotizen dokumentiert, von denen hier jene hervorzuheben ist, mit der Rudolf und seine Gattin Adelheid eine größere Zahl von Unfreien an das Bistum Freising schenkten. Unter den vier am Ende der Traditionsnotiz angeführten und als Edelfreie (nobiles) bezeichneten Zeugen wird an erster Stelle ein Engilbero aus Krain (Engilpero Chreinensis) erwähnt. Er wurde nach Bayern von seinem miles Adalpreht (Adalpreht miles Engilperonis) begleitet, der an der letzten Stelle der Zeugenreihe steht41. Engilberos Einordnung als Spitzenzeuge der Tradition Rudolfs und Adelheids war gewiss kein Zufall und weist auf enge persönliche Beziehungen hin. Rudolf von Margarethenried muss auf jeden Fall enge Verbindungen nach Krain gehabt haben. Engilbero, der in der Traditionsnotiz als „Krainer“ bezeichnet wird, weil er im Gegensatz zu anderen nicht aus Bayern stammte, war wahrscheinlich ein naher Verwandter Rudolfs42. Außerdem bezeugt die Notiz, dass schon Rudolf von Margarethenried und nicht erst sein gleichnamiger Sohn, der im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts Besitzer von Laibach war, Beziehungen zu Krain hatte. Wer aber war dieser Krainer Adelige Engilbero und wo lag sein Besitz? Zur Lösung dieser Fragen trägt ein Diplom bei, das König Heinrich IV. am 11. Dezember 1062 in Regensburg ausstellte. Empfänger der Urkunde war ein Anzo, der vom König in Krain Besitz zu Eigen erhielt, an den vier Güter von namentlich genannten Besitzern angrenz-

39 Siehe Štih, Anfänge von Laibach (wie Anm. 38) 14–22. Dazu siehe Michael Hintermayer-Wellenberg, Die Herren von Machland und ihre Verwandten im 11. und 12. Jahrhundert. MOÖLA 21 (2008) 5–27, mit neuen Feststellungen und Berichtigungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Rudolf von Tarcento und den Herren von Machland. Meines Erachtens hat die Schlussfolgerung des Autors, dass Rudolf von Tarcento nicht der Sohn Rudolfs von Margarethenried gewesen sein konnte, keine Grundlage in den von ihm angeführten Quellen. Das schließen weder zwei Freisinger Traditionen aus 1104/22 und vor 1124 aus, die den Besitz Rudolfs (von Tarcento) in Bayern bezeugen, noch Rudolfs Aussage, dass er nach römischem Recht gelebt hätte. Anhand geographisch und zeitlich vergleichbarer Beispiele aus Friaul lässt sich zeigen (siehe Štih, ebd. 17 und Anm. 84f.), dass es sich um das angenommene und nicht angeborene Recht handelte, nach dem Rudolf lebte. Die Meinung des Autors, dass er von meiner Interpretation nicht überzeugt sei, ist deshalb kein Argument und reicht für die Ablehnung meiner Ausführungen nicht aus. 40  Die Traditionen des Hochstifts Freising 2, ed. Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte N. F. 5, München 1909) 474–477 Nr. 1648a–e. 41  Traditionen Freising 2 (wie Anm. 40) 475f. Nr. 1648d. 42   So schon Dungern, Grafen von Weyarn (wie Anm. 36) 75. Methodologisch wichtig für den Aufweis der Wahrscheinlichkeit der Verwandtschaftsverbindung zwischen Rudolf von Margarethenried und dem Krainer Engilbero ist die Feststellung von Gerald Gänser, Die Mark als Weg zur Macht am Beispiel der Eppensteiner 1. Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 83 (1992) 83–125, hier 91, auf Grundlage der Einordnung von Zeugen in Urkunden des 10. und 11. Jahrhunderts: „Die Gruppierung der Zeugen unterscheidet sich in Details von Tradition zu Tradition, doch hat es den Anschein, dass im rein kirchlichen Umfeld die ‚edlere‘ Abkunft die vorderen Plätze eröffnete, während bei weltlichen Gruppierungen mehr die verwandtschaftlichen Beziehungen im Vordergrund standen.“



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ten. Einer von ihnen hieß Engelbero43. Schon Milko Kos44 und Ernst Klebel45 haben den „Krainer“ Anzo, der genealogisch noch nicht genauer identifizierbar ist, mit dem gleichnamigen Adeligen gleichgesetzt, der wiederholt als Zeuge in Urkunden der Salzburger Erzbischöfe Balduin (1041–1060) und Gebhard (1060–1088) erscheint46. Anzos Präsenz im Gefolge der Erzbischöfe ist verständlich, denn er war ein Salzburger Vasall und trug von der dortigen Kirche Besitz im Pongau und im Lungau zu Lehen47. Dafür, dass es sich beim „Salzburger“ und beim „Krainer“ Anzo um ein und dieselbe Person handelt, spricht außer dem gleichen Namen und der gleichen Zeit, in der die beiden gelebt haben, auch die Geschichte seines Krainer Besitzes, der später – wahrscheinlich nach Anzos Tod – an Salzburg fiel48. Anzo war nicht der einzige Besitzer in Krain, der auch über Güter im Lungau verfügte. Dieser Gruppe gehörten sowohl Rudolf von Tarcento als auch die Grafen aus dem bayerischen Vohburg an, die in Krain sogar Anzos Nachbarn waren49. Wenn man berücksichtigt, dass auch andere Adelige, die Güter im heutigen Slowenien besaßen, auch über Besitz im Lungau verfügten, wie etwa die Edelfreien von Pux-Weichselburg/Višnja Gora und die Herren von Pettau/Ptuj50, dann erscheint der Lungau, der bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts zum Herzogtum Kärnten gehörte, in einem völlig neuen Licht: als wichtiges Sprungbrett des aus dem bayerischen Raum stammenden Adels für seine Besitz­ expansion in den Süden. In Krain wurde Anzo von König Heinrich IV. schon im Jahr 1058 erstmals belehnt; er erhielt im Südosten des Laibacher Beckens drei Königshuben in den vier Dörfern Bizi (Bičje), Dobelgogesdorf (Podtabor), Herzogenbach (Udje) und Lipnack (Lipljene)51. Zu43   D. H. IV., ed. Dietrich von Gladiss (MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6/1, Berlin 1941, Nachdruck Hannover 1978) Nr. 96 S. 125 Z. 25–33: … Anzoni nostro quidem fideli tale predium, quale infra terminum his nominibus subnotatum habere videbimur, in pago Creine in marcha ad eundem pagum pertinentem in comitatu Ŏdalrici marchionis situm ipso annuente et concedente in superiori riuuo qui dicitur Gvrca, sicut predium Rŏdperti usque ad rivum Bitsa vocatum finit, ubi prefati Anzonis predium iuxta eundem riuuolum adiacet in occidentali quidem plaga, ubi predia Tietpoldi comitis et Rapotonis comitis usque ad Engelberonis predium pretendere videntur, in villa Lonsa dicta, ex eiusdem predicti Engelberonis predio, sicut recto intuitu videri potest, ad prefatum predium Rŏdperti, quod, ut prediximus, in superiori riuuo Gvrca vocato situm est … . 44 Milko Kos, Salzburško posestvo Cesta na Kranjskem [Das Salzburger Gut Cesta in der Krain]. Glasnik muzejskega društva za Slovenijo 21 (1940) 66–73, hier 72. 45  Ernst Klebel, Der Lungau. Historisch-politische Untersuchung (Salzburg 1960) 154. 46  Salzburger Urkundenbuch 1, ed. Willibald Hauthaler (Salzburg 1910) 233 Nr. 5a, 242 Nr. 22; Salzburger Urkundenbuch 2, ed. Willibald Hauthaler–Franz Martin (Salzburg 1916) 141 Nr. 81, 142 Nr. 82a, 161 Nr. 94, 163 Nr. 95, 164 Nr. 96, 166 Nr. 98. 47  Salzburger Urkundenbuch 2 (wie Anm. 46) 213 Nr. 140. Zu Anzos Besitz im Lungau siehe Štih, Anfänge von Laibach (wie Anm. 38) 23f. 48  Kos, Cesta na Kranjskem (wie Anm. 44), zeigte, dass es sich beim Salzburger Gut Cezt, das die ältere Geschichtsschreibung bis einschließlich Ljudmil Hauptmann, Grofovi Višnjegorski [Die Grafen von Weichselburg]. Rad Jugoslovenske akademije znanosti i umjetnosti 250 (1935) 215–239, hier 234, in der Umgebung von Rohatsch/Rogatec in der Steiermark lokalisierte, um das ehemalige Krainer Gut Anzos handelt, das er dem Erzbistum überließ. 49  Štih, Anfänge von Laibach (wie Anm. 38) 30–33. 50  Hans Pirchegger, Landesfürst und Adel in Steiermark während des Mittelalters 1 (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 12, Graz 1951) 89f.; Klebel, Lungau (wie Anm. 45) 147f. 51  Zur Lokalisierung der genannten Ortschaften siehe Milko Kos, Gradivo za historično topografijo Slovenije (za Kranjsko do leta 1500) [Materialien zur historische Topographie Sloweniens (für Krain bis zum Jahr 1500)]1–2 (Ljubljana 1975) sub vocibus: Bičje, Udnje, Lipljene; ders., Cesta na Kranjskem (wie Anm. 44) 71; Jochen Giesler, Der Ostalpenraum vom 8. bis 11. Jahrhundert. Studien zu archäologischen und schriftlichen Zeugnissen. Teil 2: Historische Interpretation (Frühgeschichtliche und provinzialrömische Archäologie 1, Rah-

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gleich wurde ihm für den Fall, dass es in den genannten Ortschaften nicht genug Grund geben sollte, erlaubt, das fehlende Ausmaß in nahen Siedlungen südlich des Flusses Bitzi in Besitz zu nehmen52. Anzos ursprüngliche Besitzungen in Krain lagen an der Südseite des Baches Bičje, im hügeligen Dreieck zwischen Großlupp/Grosuplje, Auersperg und Zobelsberg/Čušperk. Auf diesen Raum bezieht sich offenbar auch die zweite Schenkungsurkunde für Anzo aus dem Jahre 1062. Ich verbinde sie mit der Umsetzung der Bestimmung der Urkunde von 1058, dass sich Anzo, sofern es nicht genügend königlichen Boden in den erwähnten Dörfern geben sollte, diesen in den nächsten Siedlungen suchen möge, die allerdings nicht nördlich des Baches Bičje liegen durften. Denn laut der Urkunde von 1062 erstreckte sich bis zu diesem Bach (usque in rivum Bitsa) der bis zur oberen krainischen Gurk/Krka reichende Besitz eines gewissen Ruodpert, an den der Besitz Anzos angrenzte. Der Bach Bičje stellte damit die Nordostgrenze des Besitzkomplexes dar, der 1058 an Anzo verliehen und ihm 1062 in erweiterten Grenzen erneut übertragen wurde. Zu seiner Westgrenze hieß es 1062, sie reiche bis zur Stelle, wo die Besitzungen der Grafen Diepold und Rapoto – es handelt sich um die Brüder Die(t)pold II. († 1078) und Ra(t)poto IV. († 1080) aus dem bayerischen Vohburg53 – den Besitz Engelberos berühren und beim Dorf Lonsa bis zu jenem Punkt, wo die Güter Engelberos und Ruodperts aneinander grenzten. Aus der mit den Namen der Anrainer beschriebenen Grenze von Anzos Besitz geht hervor, dass die Besitz- und Eigentumsstrukturen im Gebiet südwestlich von Laibach kurz nach der Mitte des 11. Jahrhunderts sehr differenziert waren; in der Urkunde werden ja nicht weniger als fünf verschiedene Besitzer aufgelistet. Da Udje in der Urkunde von 1058 als westlichster Ort von Anzos Besitz erwähnt wird, ist die Westgrenze wohl auf der Linie Pijava Gorica – Auersperg anzunehmen, dort wo im Tal des Baches Želimeljščica das Laibacher Moor scharf abgegrenzt beginnt bzw. endet. Dort irgendwo berührten sich die Besitzungen der Grafen Diepold und Rapoto mit dem Gut Engelberos. Da sich das Dorf Lonsa, bei dem es sich nur um Ločnik bei Auersperg handeln kann54, im Besitz Engelberos befand, sind die Besitztümer der Grafen Diepold und Rapoto nordwestlich davon, in der Umgebung von Igg/Ig und am Laibacher Moor zu vermuten. Für das Gut Engelberos, das an einer Seite an den Besitz Diepolds und Rapotos und an der anderen an denjenigen Ruodperts angrenzte, bleibt also der weitere Raum um Auersperg übrig. Sergij Vilfan meinte, dass sich hinter dem Engelbero des Jahres 1062 Engelbert I. von Spanheim († 1096) verberge55, der erste in Kärnten geborene Sohn des Grafen Siegfried

den/Westf. 1997) 345 Anm. 731 und 347 Abb. 56. 52   D. H. IV. (wie Anm. 43) Nr. 43 S. 54 Z. 37–S. 55 Z. 1: … cuidam fideli nostro Anzo nominato tres regales mansos in villis, quorum nomina subsequentur, id est Bizi, Dobelgogesdorf, Herzogenbach et Lipnack, et si in his aliquid defuerit, in proximis habitationibus ex meridiana parte fluminis Bizi nuncupati adimplendos, in marcha Kreina et in comitatu Ŏdelrici marchionis sitos cum omnibus suis pertinentiis … . 53 Siehe Štih, Anfänge von Laibach (wie Anm. 38) 30–33. 54  So schon Kos, Cesta na Kranjskem (wie Anm. 44) 71; ders., Gradivo za historično topografijo (wie Anm. 51) 330. Die von Franc Kos, Gradivo 3 (wie Anm. 22) Nr. 224 Anm. 2, S. 137, vorgeschlagene Identifizierung mit Luče südlich von Weichselburg ist unwahrscheinlich, weil Luče östlich des Baches Bičje liegt, also auf Ruodperts Besitz. 55 Sergij Vilfan, Zgodovina Ljubljane do začetka 16. stoletja [Geschichte Laibachs bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts], in: Zgodovina Ljubljane. Prispevki za monografijo [Geschichte Laibachs. Beiträge zur Monographie], hg. von Ferdo Gestrin (Ljubljana 1984) 75–95, hier 80.



Über die Anfänge der Auersperger in Krain 353

Abb. 2: Frühe Besitzverhältnisse im Gebiet um Laibach/Ljubljana (Kartographie: Mateja Rihtaršič).

von Spanheim und der Richgard „von Lavant“56. Als Indiz dafür betrachtete er sowohl den Namen als auch das Gut Engelberos, das er allerdings nicht näher zu lokalisieren versuchte. Er vermutete darin die Anfänge des großen Spanheimer Besitzes in und um Laibach. Als Stütze dieser These könnte man eine Nachricht anführen, die Vilfan noch nicht bekannt war: Engelbert I. von Spanheim wird schon im Jahr 1064 in Aquileia in 56  Siehe Heinz Dopsch, Die Gründer kamen vom Rhein. Die Spanheimer als Stifter von St. Paul, in: Schatzhaus Kärntens. Landesausstellung St. Paul 1991. 900 Jahre Benediktinerstift 2: Beiträge (Klagenfurt 1991) 43–67, hier 49f.; Friedrich Hausmann, Die Grafen zu Ortenburg und ihre Vorfahren im Mannesstamm, die Spanheimer in Kärnten, Sachsen und Bayern, sowie deren Nebenlinien. Ein genealogischer Überblick. Ostbairische Grenzmarken 36 (1994) 9–62, hier 11f.

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Friaul erwähnt57, womit sein Wirken weit im Süden schon in diesem Zeitraum belegt ist. Gewichtige Argumente sprechen jedoch gegen die These Vilfans. Als erstes Indiz dafür, dass es sich bei dem Engelbero von 1062 und Engelbert I. von Spanheim um zwei verschiedene Personen handelt, sind die unterschiedlichen Namensformen zu werten. Die Traditionsnotiz Rudolfs von Margarethenried bestätigt, dass der erstere Engilbero bzw. Engelbero und nicht Engelbert(us) genannt wurde, während der Name des Spanheimers konsequent in der Form Engelbertus wiedergegeben wird58. Noch gewichtiger scheint folgendes Argument: Engelbert I. von Spanheim war Graf. Als comes wird er bereits bei seiner ersten urkundlichen Erwähnung aus dem Jahre 1057 im fränkischen Kraichgau bezeichnet59, wo er seinem verstorbenen Verwandten Wolfram aus dem Geschlecht der Zeizolf-Wolframe nachfolgte60; später nannte er sich als Graf auch nach Spanheim (1060/77) und dem Südtiroler Pustertal (1070–um 1090)61. Da die gesellschaftliche Position der Personen in den Urkunden genau beachtet wurde, wäre Engelbero, wenn er wirklich mit Engelbert I. von Spanheim identisch gewesen wäre, in der Königsurkunde für Anzo sicher als comes bezeichnet worden. Da in derselben Urkunde und sogar im selben Satz die beiden nordwestlichen Nachbarn Engilberos, Diepold und Rapoto, als Grafen bezeichnet sind62, ist es offensichtlich, dass der Grafentitel bei Engelbero nicht zufällig fehlt, sondern weil er – im Gegensatz zu Diepold und Rapoto, aber auch zu Engelbert von I. Spanheim – kein Graf war! Gegen Vilfans These spricht aber auch das mindestens ebenso wichtige Argument der Lokalisierung von Engelberos Gut; dieses deckte sich, wie bereits dargelegt, nicht mit dem späteren Spanheimer Besitz, sondern mit dem der Auersperger. Damit ist aber auch die Frage nach dem im Jahr 1062 erwähnten Engelbero und dem „Krainer“ Engilbero aus dem Jahr 1078/85 so gut wie gelöst. Erstens: Ihre Namensgleichheit, ihr hoher adeliger Status und ihr geographischer Kontext in Krain bzw. in der weiteren Umgebung von Laibach erlauben die Schlussfolgerung, dass es sich in beiden Fällen um ein und dieselbe Person handelt. Zweitens: Engelberos Besitz um Auersperg, der Leitname des älteren auerspergischen Geschlechts und schließlich seine hohe soziale Stellung – die sich, dem hochadeligen Rang (liberi) des älteren auerspergischen Geschlechts entsprechend, in der Bezeichnung nobilis in der Freisinger Traditionsnotiz ebenso bekundet wie durch die Tatsache, dass er über einen freien Vasallen (miles) verfügte63 –, lassen die 57 Reinhard Härtel, Görz und die Görzer im Hochmittelalter. MIÖG 111 (2002) 1–66, hier 64f. (Edition der Urkunde); Hausmann, Grafen zu Ortenburg (wie Anm. 56) 12; Therese Meyer–Kurt Karpf, Zur Herkunft der Grafen von Görz. Genealogische Studie zur Genese einer Dynastie im Südostalpenraum. SüdostForschungen 59/60 ( 2000/2001) 34–98, hier 31. 58   Siehe Monumenta historica ducatus Carinthiae IV/2, ed. August von Jaksch (Klagenfurt 1906) Register, sub voce. 59   D. H. IV. (wie Anm. 43) Nr. 12 S. 16 Z. 8f.: in pago Creihgouwe in comitatu Engelberti comitis. Siehe Hausmann, Grafen zu Ortenburg (wie Anm. 56) 12; Dopsch, Gründer (wie Anm. 56) 50. 60 Friedrich Hausmann, Siegfried, Markgraf der „Ungarnmark“ und die Anfänge der Spanheimer in Kärnten und im Rheinland. JbLkNÖ N. F. 43 (1977) 115–172, hier 157f. 61  Hausmann, Grafen zu Ortenburg (wie Anm. 56) 12. 62   Siehe Anm. 43. 63  Miles bezeichnete im 11. Jahrhundert in erster Linie den freien Gefolgsmann oder Vasallen. Einen aufschlussreichen Hinweis auf die soziale Zugehörigkeit Engilberos von Krain (und seines miles Adalpreht) bietet der sogenannte Heiratsvertrag zwischen dem Freisinger Vizedom und späteren ersten Grafen von Ortenburg Adalbert und dessen Frau Berta aus der Zeit um 1072 (Traditionen Freising 2 [wie Anm. 40] 319f. Nr. 1469), in dem unter den Zeugen vor den ignobiles nicht weniger als 47 adelige Personen (nobiles) aufgezählt sind. Entsprechend der Feststellung, dass miles allgemein einen Vasallen bezeichnete und auch (hoch)adelige Personen so charakterisiert werden konnten, finden sich in dieser ersten Gruppe von Grafen und Edelfreien auch milites,



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Schlussfolgerung zu, dass der im Zeitraum von 1062 bis 1078/85 bezeugte Engelbero der Ahnherr der Auersperger war oder zumindest der erste bekannte Angehörige der edelfreien Herren von Auersperg in Krain, die Mitte des 13. Jahrhunderts erloschen sind. Doch das ist noch nicht alles: Die bayerische Herkunft der Auersperger, die bisher nur vermutet wurde, ist durch die Verbindung zwischen Engelbero – den wir nun anstatt als Krainer schon als Auersperger bezeichnen können – und Rudolf von Margarethenried jetzt als erwiesen anzusehen. Engelberos Auftreten bei Rudolfs Rechtsgeschäft in Bayern in ausgesprochen familiären Angelegenheiten, der Besitz, den der vermutliche gleichnamige Sohn Rudolfs irgendwo in der Umgebung von Laibach besaß, in dessen Nähe auch der Besitz Engelberos lag, all das legt eine enge verwandtschaftliche Verbindung zwischen Rudolf von Margarethenried und Engelbero von Auersperg nahe. Folglich ist die Herkunft der Auersperger möglicherweise in denselben Adelskreisen zu suchen, denen auch die Herren von Machland angehörten.

Zum Schluss Die Feststellungen über die bayerische Herkunft der älteren Auersperger und über ihre Ankunft in Krain spätestens um die Mitte des 11. Jahrhunderts korrespondieren gut mit dem breiteren Bild des damaligen Ostalpenraumes. Dieser Raum war als Teil des bayerischen Ostlands schon seit dem 9. Jahrhundert engstens mit Bayern verbunden, und hier begannen sich der bayerische Adel und die Kirche früh zu etablieren und führende Positionen sowohl besitzmäßig als auch herrschaftlich zu erringen64. Mithilfe von Königen aus den Dynastien der Ottonen und Salier, die das königliche Land großzügig verteilten, öffnete sich für sie ein großes Kolonisationsgebiet zwischen der österreichischen Donau im Norden und der Kolpa und Istrien im Süden, insbesondere nach dem Ende der Ungarneinfälle nach der Mitte des 10. Jahrhunderts. Im slowenischen Gebiet südlich der Karawanken und östlich des Flusses Isonzo/Soča, wo Krain noch bis 976 unter der Herrschaft des Bayernherzogs war, entstanden erst damals erste Grundherrschaften65. Kirchliche und weltliche Besitzer waren vor allem die bayerischen Bistümer Salzburg, Freising die gemeinsam mit ihren Herren angeführt sind: Nobiles enim isti sunt: Heinrich filius Marchwardi Carinthiensis comitis et milites eius Ŏdalscalch, Anno, Erchanger, Arnolt comes de Diezan et miles eius Wolftrigil, Meginhart comes de Giltich(ingen) et miles eius Magnus, Otto comes de Daningan et miles eius Reginpreht, Otto comes de Skyrun et miles eius Reginpreht, Adalhôch de Umbalesdorf et miles eius Rŏtpreht, Adalpreht de Heriboldesueldun et miles eius Arnolt, Ernust comes et vassallus suus Isingrim, Gêr comes et miles eius Reginhart, Werinheri comes et vassallus suus Ozi, Lantfrit comes, Adalram miles Patauiensis episcopi et miles eius Râtpoto (etc.). Zur Identifizierung der führenden Namen in diesem Verzeichnis siehe Therese Meyer–Kurt Karpf, Herrschaftsausbau im Südostalpenraum am Beispiel einer bayerischen Adelsgruppe. Untersuchungen zum Freisinger Vizedom Adalbert, zur Herkunft der Eurasburger in Bayern, der Grafen von Tirol und der Grafen von Ortenburg in Kärnten. ZBLG 63 (2000) 491–539, hier 494f. 64 Siehe Herwig Wolfram, Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (Geschichte Österreichs 378–907, Wien 1995) 211–224. 65  Zur Herrschaft des Bayernherzogs, den im Jahr 976 der Kärntner Herzog ersetzte, siehe D. O. II., ed. Theodor Sickel (MGH DD regum et imperatorum Germaniae 2/1, Hannover 1888, Nachdr. München 1980) Nr. 47 S. 56 Z. 32–34: (973) in ducatu prefati ducis [= Heinrich II. (der Zänker), Anm. P. Št.] et in comitatu Poponis comitis quod Carniola vocatur et quod vulgo Creina marcha appellatur. Zum frühen Netzwerk von Grundherrschaften siehe Sergij Vilfan, Zemljiška gospostva [Grundherrschaften], in: Gospodarska in družbena zgodovina Slovencev. Zgodovina agrarnih panog 2: Družbena razmerja in gibanja [Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Slowenen 2: Soziale Verhältnisse und Bewegungen] (Ljubljana 1980) 75–239, hier 111–121.

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und Brixen, der bayerische Adel, wie die Familie der Hemma von Gurk, die steirischen Otakare, die Grafen von Vohburg, Bogen, Andechs und später auch die Grafen von Görz, sowie Einzelpersonen, wie der bereits erwähnte, mit Salzburg verbundene Anzo, Rudolf von Margarethenried und dessen gleichnamiger Sohn. Diese Liste, die man beträchtlich erweitern könnte, deutet darauf hin, dass die bayerische Kirche und der Adel diesen Raum gewissermaßen zu ihrem „Hinterhof“ zählten66. In diesen Raum kamen auch die älteren Auersperger bzw. Engelbero als ihr erster dokumentierter Vertreter. Ihn verbindet mit Krain zum ersten Mal die Urkunde König Heinrichs IV. aus dem Jahre 1062. Die mehr als ein halbes Jahrtausend später verfasste gereimte Genealogie der Auersperger beginnt ihre Erzählung ebenso mit Heinrich IV., in dessen Regierungszeit im Jahr 1057 mit Konrad und seinen Brüdern Adolf und Pilgrim das Geschlecht der Auersperger seinen Anfang genommen habe. Blieb in der auerspergischen Familientradition zumindest im chronologischen Sinne die glaubwürdige Erinnerung an die Anfänge der Auersperger in Krain erhalten?

66  Siehe Heinz Dopsch, Die steirischen Otakare. Zu ihrer Herkunft und ihren dynastischen Verbindungen, in: Das Werden der Steiermark. Die Zeit der Traungauer. Festschrift zur 800. Wiederkehr der Erhebung zum Herzogtum, hg. von Gerhard Pferschy (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 10, Graz–Wien–Köln 1980) 75–139; Friedrich Hausmann, Die steirischen Otakare, Kärnten und Friaul. Besitz, Dienstmannschaft, Ämter, in: ebd. 225–275; Gänser, Mark (wie Anm. 42); Meyer–Karpf, Herrschaftsausbau (wie Anm. 63); Heinz Dopsch–Therese Meyer, Von Bayern nach Friaul. Zur Herkunft der Grafen von Görz und ihren Anfangen in Tirol, Kärnten und Friaul. ZBLG 65 (2002) 295–372; Štih, Anfänge von Laibach (wie Anm. 38); ders., Ursprung und Anfänge der bischöflichen Besitzungen im Gebiet des heutigen Slowenien, in: Blaznikov zbornik/Festschrift für Pavle Blaznik, hg. von Matjaž Bizjak (Ljubljana–Škofja Loka 2005) 37–53; ders., Zu den ersten Empfängern von Krongut in Krain. Einige Bemerkungen zu D. O. III. 58 aus dem Jahre 989, in: Archivwissen schafft Geschichte. Festschrift für Wilhelm Wadl zum 60. Geburtstag, hg. von Barbara Felsner–Christine Tropper–Thomas Zeloth (AVGT 106, Klagenfurt am Wörthersee 2014) 183–192.



Matthias Fink, ein verschwenderischer Abt des Wiener Schottenklosters (1467–1475) und ungarischer Sekretär der österreichischen Herzoge? Eine Neubetrachtung Maximilian Alexander Trofaier

Betrachtet man in Stiften der Prälatenorden die über Jahrhunderte hinweg tradierten Reihen der Äbte und Pröpste, dann stellt man fest, dass sich darin in ähnlicher Weise häufig die immer wieder gleichen recht unterschiedlichen Charaktertypen finden. Es gibt darin die Bauherren und die Reformer, die Schriftsteller und die Mäzene, die durch ihre bedeutenden Leistungen für das eigene Haus oder sein Umfeld herausragen. Daneben finden sich die Unscheinbaren, von denen oft nur der Name bekannt ist und denen schlicht das eine oder andere Ereignis aus ihrer Regierungszeit zugeordnet wird. Und dann gibt es da hin und wieder auch noch jene ambivalenten Persönlichkeiten, die gewissermaßen aus dem Rahmen fallen und bei deren Beurteilung sich die Nachwelt oft schwer tut. Unter den Äbten des Wiener Schottenklosters nimmt Abt Matthias Fink (Mathias Vinck), der von 1467 bis 1475 regierte, eine solche zwiespältige Sonderstellung ein. In der ältesten erhaltenen Äbtereihe des Klosters, jener des Humanisten Kaspar (Gaspar) Brusch aus dem Jahr 1551, wird Fink mit recht harschen Worten bedacht: Mathias … cognomento Finckhius, patria Ungarus, et Friderici III. Rom. Imp. secretarius: cuius dum aulam iugiter secutus est, et prodigus tantum argenti dilapidavit, ut relinqueret aes alienum a se conflatum 24 millium aureorum, et plurima vendiderit. Homo pomposus ac sumptuosus, et qui 30 equorum comitatu subinde aulam accedere solebat, alicuius principis instar1. 1   ÖNB, Cod. 8869, fol. 141r–v. Tabulae codicum manu scriptorum, praeter graecos et orientales in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum 5: Cod. 6501–9000 (Wien 1871) 306 Nr. 8869. Bei dieser Handschrift handelt es sich um eine Materialsammlung für einen Folgeband zu Bruschs Geschichte der Klöster und Bistümer Deutschlands, deren erster Band 1551 zur Veröffentlichung gelangt war. Im Druck erschien der in vielen Details ungenaue bzw. fehlerhafte Text allerdings erst Ende des 17. Jahrhunderts. Betreffend Abt Matthias Fink wurde dabei die Formulierung et prodigus tantum argenti dilapidavit zu tantum consumpsit pecuniae abgeschwächt. Supplementum Bruschianum, sive Gasparis Bruschii, egrani, poetae laureati, ac comitis palatini, monasteriorum et episcopatuum Germaniae praecipuorum ac maxime illustrium chronicon, sive, centuria secunda, ed. Daniel von Nessel (Wien 1692) 206–209, hier 208. Vgl. allgemein Richard Newald, Art. Brusch(ius), Kaspar. NDB 2 (1955) 690; Walther Ludwig, Gaspar Bruschius als Historiograph deutscher Klöster und seine Rezeption (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Kl. 2002/1, Göttingen 2002) 1–120, sowie speziell auf Bruschs Äbtereihe des Schottenklosters bezogen: Maximilian Alexander Trofaier, Der Konvent des Wiener Schottenstiftes im Mittelalter. Prosopographische Studien zu einem

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Der Wiener Domherr Augustin Neser wusste in seiner um 1570 verfassten lyrischen Äbtereihe noch ein pikantes Detail zu ergänzen: Abbas Matthias Finck nostra in aere alieno / Castra gravans, tentus carcere, quique fugit. / Utitur Ungaria quoque profugus instar asili2. Johann Rasch, Organist im Schottenkloster und Verfasser der ersten umfassenden Stiftsgeschichte, der allgemein gegenüber Brusch zahlreiche Korrekturen vornahm, äußerte sich rund 30 Jahre nach diesem etwas differenzierter: Matthias Fink, sextum post Scotos, consecratur in die S. Thome Anno 1467, regieret 8 jahr, resignavit Udalrico episcopo Pataviensi 9. Octobris Anno 1475 propter certas urgentes causas, pro ut asserebat, wie im vorhandnen Notaribrieff steht. Im vorbenennten buch Defensorio Canonisationis wird seiner gedacht, das er Anno 1470 neben andern commissarien in S. Leopolds legend und geschehenen Wunderzeichen sey inquisitor gewesen. Er war aus Zips oder Sibenbrgen biertig, Künigs Lassla und Kaisers Frider. 3. Secretarius, ein prchtiger Mann mit stattlicher hoffhaltung, der gleichwol viel gebaut, sunderlich an Altarn und Kirchenzier, S. Sebastians Capeln, bruederschafft, jrliche Gottsdienst unnd spend angerichtet, aber die gild und zins mehrers mit pracht weder mit bauen anbracht und anworden, ein gantz Register vol schulden gemacht unnd verlassen hat, mit dem das Closter noch auff heutigen tag beschwrt, und viel davon kommen ist3. Der Stiftsarchivar und spätere Abt Ernest Hauswirth wiederum urteilte in seiner 1858 publizierten Hausgeschichte über die Person Finks: „Noch am Schluße des Jahres 1467 wurde der Stiftsprofeß Mathias Fink (Vinkh), der aus Ungarn stammte, ehedem Pfarrverweser in Gaunersdorf und dann Cellerarius, zum Abte erwählt und geweiht. Er hatte die Prälatur 8 Jahre (1467–1475) bis zu seiner Resignation inne. Eine große Bewegung ging unter diesem Abte auf dem materiellen Gebiete vor. Mehrere Stiftungen und Schenkungen hoben die Einkünfte der Abtei und so reichlich flossen die Unterstützungen ergebener Freunde, daß in diesen Jahren verschiedene wichtige Ankäufe gemacht werden konnten. … Es war nun auch die Möglichkeit geboten, alte Schulden abzutragen und neue Bauten vorzunehmen. … So sehr die erwähnten Vorgänge dem materiellen Wohlstande des Stiftes förderlich waren, so kam es doch bei der Prachtliebe und dem Baueifer des Prälaten in einigen Jahren dahin, daß nicht nur mehrere Gülten veräußert, sondern sogar neue Schulden contrahirt werden mußten. … Die Neigung des Abtes zum Aufwande und Prunke war bei der ohnehin noch so erschütterten Finanzlage des Stiftes eine gar bedauerliche Schattenseite, welche durch sein sonst löbliches Wirken nicht ausgeglichen wurde. ... Daß der glanzliebende Abt nicht gleichgültig gegen die Beförderungsmittel des religiösen Lebens war, zeigte sich durch die Anknüpfung einer innigen geistigen Gemeinschaft mit dem Stifte Göttweig (1469), wie nicht minder durch die Gründung der in der Folge so einflußreichen Sebastianibruderschaft gegen die Pest .... Allenthalben genoß Mathias viel Ansehen; ... ihm schenkte Kaiser Friedrich IV., dessen Geheimschreiber er war, Professbuch 1155–1418 (Diss. Wien 2017) 73–75. – Abkürzungen: DOZA = Wien, Deutschordenszentralarchiv; Kl = Klosterneuburg, Augustiner-Chorherrenstift; Scho = Wien, Benediktinerabtei Schotten; StiA = Stiftsarchiv; StiB = Stiftsbibliothek; Zw = Zwettl, Zisterzienserabtei. 2  Nesers Äbtereihe ist lediglich in Abschrift in der Stiftsgeschichte des Johann Rasch überliefert. Johann Rasch, Stifftung und Prelaten unser lieben Frauen Gottshaus, Benedicter ordens, genannt zu den Schotten, zu Wienn in Osterreich, Anno Domini, M.C.LVIII. (o. O. 1586) fol. 23v. Vgl. Trofaier, Konvent (wie Anm. 1) 75. 3  Rasch, Stifftung (wie Anm. 2) fol. 23v. Zu diesem Werk eingehend Trofaier, Konvent (wie Anm. 1) 62–66 und 73–78; allgemein zur Person auch Joseph Seemüller, Über den Schottenorganisten Johann Rasch, in: Festgabe zum 100jährigen Jubiläum des Schottengymnasiums (Wien 1907) 300–308; lediglich mit seinen Kompositionen beschäftigt sich Robert Eitner, Art. Rasch, Johannes. ADB 27 (1888) 316.



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großes Vertrauen ... . Nichts desto weniger konnte sich Mathias in seiner Würde nicht behaupten, sondern da die Schuldenlast des Hauses nicht ohne sein Zuthun auf eine erschreckende Höhe gestiegen war, so sah er sich zur Abdankung genöthiget (1475). Seine ferneren Lebensschicksale sind wie die Zeit seines Todes unbekannt.“4 Und nochmals explizit auf die in den frühneuzeitlichen Äbtereihen vorgebrachten Anschuldigungen eingehend, ergänzte Hauswirth in einer Anmerkung: „Abt Mathias hielt einen stattlichen Haushalt, so daß er oft mit einem Gefolge von 30 Pferden beim Hofe Kaisers Friedrich IV. erschien. – Neser erzählt, Mathias sei nach seiner Resignation im Stifte in Haft gebracht worden, aus der Haft entkommen und in sein Vaterland Ungarn geflohen.“5 Hauswirth, dessen „Abriß“ die bis dato umfangreichste Abhandlung zur Geschichte des Schottenklosters darstellt, die von Forschenden auch heute noch – durchaus nicht zu Unrecht, leider aber oftmals ohne ergänzende Berücksichtigung der jüngeren Literatur – herangezogen wird, hat also die Darstellungen des 16. Jahrhunderts rezipiert und fortgeschrieben. Doch lassen sich diese Aussagen auch mit den vorhandenen Quellen in Einklang bringen? Im Folgenden soll dieser Frage nachgegangen werden, und dabei wird der Versuch unternommen, die Stationen von Matthias’ Leben, soweit sie nachvollziehbar sind, neu bzw. ergänzend zu beleuchten.

Herkunft Woher die Annahme, Matthias stamme aus Ungarn, rührt, ist unklar, geben doch Quellen im Schottenstift selbst anderslautende Auskunft über dessen Familienbande. Es handelt sich dabei um eine Reihe von Urkunden, die mit Besitzungen in Ladendorf im Viertel unter dem Manhartsberg zusammenhängen. Das Schottenkloster hatte bereits seit dem 12. Jahrhundert Grundbesitz in Ladendorf, weshalb der Ort erstmals in der Besitzbestätigung Herzog Leopolds VI. für das Kloster aus dem Jahr 1200 erwähnt wird; im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert wuchs der dortige Besitz noch weiter an6. Im Jahr 1468 ermöglichten gerade die verwandtschaftlichen Beziehungen des Abtes Matthias die Erwerbung zweier Höfe zu Ladendorf als freies Eigen für das Schottenkloster. Mit diesem Kauf gelangte auch eine Vielzahl von Vorurkunden in das Kloster, welche nicht nur Aufschluss über die Besitzveränderungen, sondern auch über die Verwandtschaftsverhältnisse der Besitzer geben7. Verkäufer der beiden Höfe war Sigmund Fink (Vinkh), welcher den Abt Matthias als unsern liebn herrn bruder und vettern bezeichnete – letzteres 4 Ernest Hauswirth, Abriß einer Geschichte der Benedictiner-Abtei U.L.F. zu den Schotten in Wien (Wien 1858) 43–45. 5  Ebd. 45 Anm. 1. 6   Urkunden der Benedictiner-Abtei Unserer Lieben Frau zu den Schotten in Wien vom Jahre 1158 bis 1418, ed. Ernest Hauswirth (FRA II/18, Wien 1859) 15f. Nr. 11; Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich 1: Die Siegelurkunden der Babenberger bis 1215, ed. Heinrich Fichtenau–Erich Zöllner (Publikationen des IÖG III/1, Wien 1950) 148–150 Nr. 113. Vgl. Josef Lampel, Art. Ladendorf. Topographie von Niederösterreich 5 (1903) 617–632, hier 618. 7  Gemäß der Mitte des 19. Jahrhunderts festgeschriebenen Ordnung des Stiftsarchivs des Schottenstifts, welche auf einer bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Einteilung basierte, handelte es sich dabei um den größten Teil der Urkunden in Scrinium 86. Aufgrund der Anlage der chronologischen Urkundenreihe Mitte des 20. Jahrhunderts und einer rezenten Neuverzeichnung haben alle Stücke heute Datumssignaturen, wohingegen etwa Lampel noch die alten Scriniensignaturen verwendet. Vgl. ebd. 624.

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deshalb, weil Sigmund zugleich auch für seine ungevogte Nichte Hedwig, die Tochter seines verstorbenen Bruders Wilhelm, tätig wurde8. In seiner zwei Jahre später erfolgten Bestätigung der beiden Höfe als freies Eigen für das Kloster hielt Kaiser Friedrich III. entsprechend fest, dass sie des Abtes und seiner geswistred erblich gewesen sein und Matthias derselben geswistretn tail erworben habe9. Im Jahr 1465 hatten die Brüder Sigmund und Wilhelm Fink der Ursula, Tochter ihres Stiefgroßvaters Hans Pucher und Witwe des Wiener Ratsbürgers Hans von Eslarn, noch gemeinsam deren Besitz zu Ladendorf und an anderen Orten abgekauft10. Die im Jahr 1467 durchgeführte Belehnung mit den beiden wenig später an das Schottenkloster weiterverkauften Höfen durch Kadolt von Wehingen erfolgte dagegen bereits an Sigmund und die drei unmündigen Kinder des inzwischen verschiedenen Wilhelm, nämlich Hans, Veronika und die eben genannte Hedwig11. In den Urkunden wird auch der vorverstorbene Vater Sigmunds und Wilhelms – und somit auch Matthias’ – genannt: Stephan Fink. Dieser hatte um 1420 Margarethe, die Tochter des zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Christian Hauzenberger und dessen Ehefrau Magdalena, geheiratet. Im Jahr 1421 schlossen Stephan und Margarethe Fink einen Erbangelegenheiten betreffenden Vergleich mit Magdalena und deren zweiten Ehemann Hans Pucher, im Jahr 1426 wiederum schenkte Margarethe ihrem Ehemann Stephan ihren Hof zu Ladendorf, woraufhin dieser durch Konrad von Wehingen damit belehnt wurde12. Christian Hauzenberger (Hawtzenperger) aber, Matthias’ Großvater mütterlicherseits, hatte 1410 einen Hof zu Ladendorf erworben und seiner Frau Magdalena auf diesem und anderen Gütern daselbst eine Morgengabe verschrieben13. Sein anhängendes Siegel belegt, dass es sich bei ihm um einen Angehörigen des gleichnamigen bayerischen Geschlechts handelte, welches auch in Österreich ob und unter der Enns ansässig war, vorrangig aber mit der Passauer Herrschaft Velden im oberen Mühlviertel verbunden scheint14. Schwieriger ist die Rekonstruktion der Herkunft väterlicherseits, begegnen im Ladendorfer Kontext doch sonst keine Fink. Möglicherweise besteht ein Verwandtschaftsverhältnis zum zwischen 1379 und 1388 verstorbenen Heinrich dem Finken (Vinkch, Vinch, Vinchk), welcher 1356 und 1357 als Kämmerer Herzog Albrechts II., 1360 als Burggraf zu Kreuzenstein sowie 1366 und 1367 als Kellermeister in Österreich in Erscheinung tritt, oder aber zum 1393 verstorbenen Wiener Ratsbürger Michael Fink, welcher auf8  StiAScho, Urk 1468-04-25. Lampel, Ladendorf (wie Anm. 6) 627; Leopold Stierle, Die Herren von Wehingen. Ein schwäbisches Rittergeschlecht im Dienste der Grafen von Hohenberg, der Babenberger, König Ottokars II. von Böhmen und der Habsburger. Seine verschiedenen Zweige in Niederösterreich und Mähren, in Tirol und in der angestammten Heimat (Sigmaringen 1989) 128. Ernest Hauswirth, dem der Urkundenbestand des eigenen Hauses bestens vertraut war, erwähnt die darin genannten Verhältnisse, lässt die vermeintliche ungarische Herkunft aber daneben weiter gelten. Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 43 Anm. 5. 9   StiAScho, Urk 1470-03-17. 10   Ebd. Urk 1465-03-23.1 und Urk 1465-03-23.2. 11   Ebd. Urk 1467-06-20.1 und Urk 1467-06-20.2. 12  Ebd. Urk 1421-05-19, Urk 1426-05-22 und Urk 1426-05-18. Lampel, Ladendorf (wie Anm. 6) 624; Stierle, Wehingen (wie Anm. 8) 122f. 13  StiAScho, Urk 1410-07-04. Hauswirth, Urkunden (wie Anm. 6) 517f. Nr. 419; Lampel, Ladendorf (wie Anm. 6) 623. 14  Sein Wappensiegel zeigt zwei aufgerichtete, abgewendete Monde. Vgl. Johann Evangelist Kirnbauer von Erzstätt, Niederösterreichischer Adel 1: A–R (J. Siebmacher’s grosses und allgemeines Wappenbuch IV/4/1, Nürnberg 1909) 177; Alois Frhr. von Starkenfels–Johann Evangelist Kirnbauer von Erzstätt, Oberösterreichischer Adel (J. Siebmacher’s grosses und allgemeines Wappenbuch IV/5, Nürnberg 1904) 109f.



Matthias Fink, ein verschwenderischer Abt des Wiener Schottenklosters (1467–1475) 361

grund seiner Messstiftung zu St. Stephan noch weit bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts in Wiener Urkunden Erwähnung fand15. Ein 1455 postum erwähnter Stephan der Fink dürfte nicht mit dem Vater Abt Matthias’ ident sein16. In einem päpstlichen Registereintrag aus dem Jahr 1460 wird der spätere Abt Matthias als ex utroque militari genere, also von beiden Eltern her aus ritterbürtigem Geschlecht abstammend, bezeichnet17. Seine beiden Brüder Sigmund und Wilhelm wiederum werden in den Urkunden der Jahre 1465 und 1467 edel genannt18. Obwohl weder die Fink noch die Hauzenberger in den Adelslisten und Lehensbüchern des späten 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufscheinen, deutet dies somit darauf hin, dass die beiden Familien wohl als Edelknechte dem Ritterstand angehört haben dürften19. Eine weitere Urkunde im Bestand des Schottenstifts offenbart jedoch noch eine andere familiäre Verbindung, denn im Jahr 1474 wird Abt Matthias als swager des Jörg von Pellendorf angesprochen20. Jörg, zunächst Edler, dann 1463 in den Ritterstand erhoben, war zwischen 1462 und 1468 Wiener Stadtanwalt21. Da er in erster Ehe mit einer Elisabeth Winklerin, in zweiter jedoch mit Katharina, der Tochter des Edlen Hans Kottanner, verheiratet war, ist der Begriff Schwager wohl nicht im engen Sinne, sondern vielmehr allgemein als Bezeichnung für einen in sonstiger Weise Verschwägerten zu verstehen22. Die konkreten Verwandtschaftsverhältnisse und der genaue Status der Familie Fink müssen somit weiterhin im Unklaren bleiben – eine Herkunft aus Ungarn scheint hingegen verworfen werden zu können23. 15  Leopold Sailer, Die Wiener Ratsbürger des 14. Jahrhunderts (Studien aus dem Archiv der Stadt Wien 3–4, Wien 1931) 280–282 Nr. 20/8 und Nr. 20/15. Vgl. zu letzterem nun auch Regesta Habsburgica. Regesten der Grafen von Habsburg und der Herzoge von Österreich aus dem Hause Habsburg V: Die Regesten der Herzoge von Österreich 1365–1395, Teilbd. 3: 1376–1380, bearb. von Christian Lackner–Claudia Feller (Publikationen des IÖG [I]/V/3, Wien–Köln–Weimar 2019) 58 Nr. 1400. 16 Josef Lampel, Regesten aus dem k. und k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien (Quellen zur Geschichte der Stadt Wien I/7, Wien 1923) 370f. Nr. 15472. Als Vormund dessen ungevogter Tochter Anna tritt ein Kilian Grafendorfer auf, was bei Existenz dreier lebender Brüder doch eher ungewöhnlich erschiene. 17  AAV, Reg. Vat. 503, fol. 233v–234r (17. August 1460). Repertorium Germanicum 8: Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Pius’ II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien: 1458–1464. 2 Teilbde., bearb. von Dieter Brosius–Ulrich Scheschkewitz– Karl Borchardt (Tübingen 1993) 1 601 Nr. 4244, http://rg-online.dhi-roma.it/RG/8/4244 [29. 10. 2019]. 18   Wie Anm. 10 und 11. 19   Zur Unvollständigkeit dieser Quellen vgl. Peter Feldbauer, Herren und Ritter (Herrschaftsstruktur und Ständebildung. Beiträge zur Typologie der österreichischen Länder aus ihren mittelalterlichen Grundlagen 1. Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, München 1973) 58–60; Michael Mitterauer, Ständegliederung und Ländertypen, in: Herrschaftsstruktur und Ständebildung 3 (München 1973) 115–203, hier 119. 20  StiAScho, Urk 1474-01-31. 21  Kirnbauer von Erzstätt, Niederösterreichischer Adel (wie Anm. 14) 1 335; Richard Perger, Die Wiener Ratsbürger 1396–1526. Ein Handbuch (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 18, Wien 1988) 167 Nr. 27; vgl. auch Paul-Joachim Heinig, Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik, 3 Teile (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 17/1–3, Köln–Weimar–Wien 1997) 276. Pellendorf liegt rund 10 km von Ladendorf entfernt. 22  Die Familie der ersten Ehefrau Elisabeth ergibt sich aus StiAScho, Urk 1474-08-19; in Urk 1474-01-31 bezeichnet Jörg außerdem den Hans Winkler, Hofmeister des Stiftes Klosterneuburg, als seinen Schwager; er war also wohl der Bruder Elisabeths. Die Abkunft der zweiten Ehefrau Katharina von Hans und Helene Kottanner ist in zahlreichen Quellen belegt. Richard Perger gibt jedoch an, dass Katharina die Tochter der Helene aus erster Ehe mit Peter Szekeles gewesen sei. Richard Perger, Art. Kottanner, Helene. Historisches Lexikon Wien 3 (1994) 584. 23  Die bei Rasch zu lesende Präzisierung einer Herkunft aus der Zips oder Siebenbürgen, die in der Folge

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Werdegang Dass es sich bei Matthias selbst jedenfalls nicht um einen Ungarn, sondern um einen Niederösterreicher handelte, wird auch an seiner ersten namentlichen Erwähnung sichtbar. Erstmals in Erscheinung tritt Matthias in der Matrikel der Wiener Universität im Wintersemester des Jahres 1442/43 als frater Mathias de Ladendorf monasterii Scotorum Wienne24. Im Oktober 1447 wurde er als Scholar an der artistischen Fakultät, diesmal lediglich als frater Mathias de Scotis bezeichnet, zur Determination zugelassen25. Im Schottenkloster selbst erscheint Matthias das erste Mal im Jahr 1448 als Prior unter Abt Martin von Leibitz26. Er dürfte dieses Amt erst kurz zuvor übernommen haben und bekleidete es längstens bis 145227. Ob seine Ablöse als Prior in irgendeinem Zusammenhang mit der Visitation des Schottenklosters im Juni 1452 und der dieser vorausgehenden langen Abwesenheit Abt Martins von Leibitz, welcher sich ab Mitte 1451 auf einer Visitationsreise durch die Salzburger Kirchenprovinz befunden hatte, steht bzw. ob es bereits zu dieser Zeit zu Unstimmigkeiten mit Abt Martin gekommen sein mag, kann nur Spekulation bleiben. Matthias ist jedenfalls in den 1450er-Jahren nicht fassbar. Es ist dies ein Zeitraum, der möglicherweise mit einer anderen Tätigkeit des Matthias, die von Brusch und Rasch im 16. Jahrhundert berichtet wird, in Zusammenhang zu bringen sein könnte: jene eines secretarius Kaiser Friedrichs III., bei Rasch zudem ergänzt um dieselbe Funktion für König Ladislaus Postumus28. Der Begriff des Sekretärs erlebte Ende des 14. Jahrhunderts einen Bedeutungswandel und bezog sich Mitte des 15. Jahrhunderts nicht mehr auf Angehörige des Rates, sondern unter Verdrängung des Begriffs des Notars auf die unselbständigen Schreiber in den Kanzleien der Fürsten29. Als solcher von späteren Autoren übernommen wurde, dürfte schlicht auf der Annahme beruhen, Matthias müsse trotz ungarischer Herkunft ein Deutscher gewesen sein. 24   UAW, M 1, fol. 53v. Die Matrikel der Universität Wien 1: 1377–1450, ed. Franz Gall (Publikationen des IÖG VI/1/1, Graz–Köln 1956) 229 [1442 II A 25]. — Die Identifizierung an dieser und anderen Stellen bereitet auch ohne Nennung eines Nach- bzw. Beinamens oder einer Herkunftsangabe keine Schwierigkeiten, da der Vorname Matthias für das Schottenkloster ungewöhnlich ist und sich anhand der Analyse mehrerer Nekrologien zeigt, dass es im 15. Jahrhundert keinen zweiten Mönch des Schottenklosters dieses Namens gegeben haben dürfte. Somit lassen sich alle Erwähnungen aus dieser Zeit mit großer Gewissheit auf Matthias Fink beziehen. 25   UAW, Ph 8, fol. 1v. „Wiener Artistenregister“ 1447 bis 1471. Acta Facultatis Artium III (UAW Cod. Ph 8), Teil 1: 1447 bis 1471. Personen-Nennungen im Zusammenhang mit Prüfung, Graduierung und Verteilung der Vorlesungsthemen, Nr. 9263 bis 16527, ed. Thomas Maisel–Ingrid Matschinegg (Wien 2007) 2 Nr. 9266, https://bibliothek.univie.ac.at/archiv/digitale_objekte.html [29. 10. 2019]. 26  StiAScho, Urk 1448-07-20.3. Es handelt sich hierbei um den Urteilsspruch des Johannes Poltzmacher in der Streitsache des Wiener Klosters mit dem Schottenkloster St. Jakob zu Regensburg. Hierzu Albert Hübl, Die Wiener Schotten und das Mutterkloster St. Jakob in Regensburg, in: Symbolae Scotenses. Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des k.k. Obergymnasiums zu den Schotten in Wien über das Schuljahr 1913/1914 (Wien–Leipzig 1914) 136–157, hier 144–149; sowie zuletzt Maximilian Alexander Trofaier, Monastisches Gedächtnis und monastische Realität im Wiener Schottenkloster des 15. Jahrhunderts im Kontext der Melker Reform. Das Memoriale reformacionis ad Scotos – Edition und Kommentar. Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 130 (2019) 89–182, hier 148f. 27  Für die Jahre 1446 und 1447 ist im Schottenkloster ein Prior Johannes belegt. StiAScho, Urk 1446-1203 und Urk 1447-12-02. Vgl. Trofaier, ebd. 125 Anm. 98. Ab 1452 begegnet der Prior und Artistenmagister Stephan von Wien, Urk 1452-11-19, Urk 1458-11-25 und Urk 1460-09-12. Vgl. ebd. 125f. Anm. 101, wo allerdings das erst 2019 in die Urkundenreihe eingegliederte Stück aus 1452 noch nicht rezipiert ist. 28  Brusch, Supplementum (wie Anm. 1) 208; Rasch, Stifftung (wie Anm. 2) fol. 23v. 29  Heinig, Friedrich III. (wie Anm. 21) 168–170, 576 und 732–734; Christian Lackner, Hof und Herr-



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Abb. 1: Eigenhändige Urkunde des Mönchs Matthias Fink. Wien, Benediktinerabtei Schotten, Stiftsarchiv, Urk 1461-09-19.

konnte Matthias jedoch bislang weder in der „österreichischen“ noch in der „römischen“ Kanzlei Friedrichs III. nachgewiesen werden30. Auch eine Selbstbezeichnung Matthias’ als Sekretär ist ebenso wenig feststellbar wie eine Fremdbezeichnung in zeitgenössischen Quellen; Friedrich III. selbst macht auf ihn bezogen ebenfalls keine entsprechenden Andeutungen31. Mangels konkreter Anhaltspunkte muss es daher ungewiss bleiben, worauf schaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien– München 2002) 313f. Die Bezeichnung Matthias’ als „Geheimschreiber“ Friedrichs, die sich nicht nur bei Hauswirth, sondern zuvor bereits bei Hormayr findet, ist schlicht als (für die Zeit inkorrekte) Übersetzung des Begriffs secretarius zu sehen. Joseph von Hormayr, Wien, seine Geschichte und seine Denkwürdigkeiten. Jg. 2 Bd. 2 H. 1 (Wien 1824) 161; Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 44. 30  Vgl. die Listen bei Heinig, Friedrich III. (wie Anm. 21) 1422–1426. 31  An Urkunden Friedrichs III., die sich direkt an Abt Matthias als Vorsteher des Klosters richten, sind zu

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Brusch und ihm folgend Rasch ihre Behauptung stützen und ob diese wirklich den Tatsachen entsprochen haben kann. Für mögliche zukünftige Forschungen sei an dieser Stelle jedoch noch auf eine eigenhändige Urkunde Matthias’ hingewiesen, die vom Schriftbild her durchaus für eine Fertigkeit im Urkundenschreiben sprechen mag (Abb. 1)32. Erst im Jahr 1460 tritt Matthias wieder in Erscheinung, und zwar in einer Art und Weise, die einen ersten Schatten auf seinen Charakter zu werfen vermag. Im August dieses Jahres erhielt er die päpstliche Erlaubnis, eine Pfründe anzunehmen, da er aufgrund großer Streitigkeiten nicht mehr mit seinem Abt zusammenleben wolle33. Es erscheint nicht undenkbar, dass die Resignation Abt Martins von Leibitz nur zwei Wochen später unmittelbar auf diesen Konflikt zurückzuführen ist. Der interne Zustand des Schottenklosters dürfte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr dem Ideal der Melker Reform entsprochen haben, wenngleich eine ältere Generation an Mönchen noch standhaft für deren Anliegen eintrat34. In den Folgejahren begegnet Matthias wieder in einzelnen Urkunden. Im Juni 1461 verlieh er als einer von mehreren Vertretern des Konvents gemeinsam mit seinem neuen Abt Hieronymus dem Weltpriester Wolfgang Rueber von Krems die zum Schottenkloster gehörige Pfarre Gaunersdorf (heute Gaweinstal)35. Im September des gleichen Jahres beurkundete Matthias als Verweser derselben Pfarre das Testament eines Thomas König zu Gaunersdorf36. Er dürfte dieses Amt jedoch nur vorübergehend bzw. in Abwesenheit des eigentlichen Pfarrers bekleidet haben, denn erst im Folgejahr resignierte besagter Wolfgang Rueber die Pfarre wieder in die Hände des Abtes Hieronymus37. In den Jahren 1466 und 1467 erscheint Matthias dann in einer Quittung und in einem Grundbuchsauszug als kel(l)ner, also Cellerar, des Schottenklosters38. Just in diese Jahre fällt auch die Abfassung des Memoriale reformacionis ad Scotos, einer kurzen Gedächtnisschrift über mit der Visitation des Schottenklosters und dem Auszug der irischen Mönche im Jahr 1418 sowie allgemein mit der Melker Reform in Zusammenhang stehende Ereignisse, durch einen unbekannten Mönch des Klosters39. Dessen nennen: StiAScho, Urk 1470-03-17, und HHStA, AUR 1470 I 19. Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493) nach Archiven und Bibliotheken geordnet, hg. von Heinrich Koller–Paul-Joachim Heinig–Alois Niederstätter, H. 27: Die Urkunden und Briefe des Österreichischen Staatsarchives in Wien, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv: Allgemeine Urkundenreihe, Familienurkunden und Abschriftensammlungen (1470–1475), bearb. von Sonja Dünnebeil–Daniel Luger (Wien–Köln–Weimar 2012) 47f. Nr. 6. Eine nachträgliche Erwähnung Matthias’ in einer Urkunde Friedrichs findet sich in StiAScho, Urk 1493-04-26. 32   StiAScho, Urk 1461-09-19: ... das sag ich vorgenanter bruder Mathias Vinck pey meinen trewn ungeverlich und zu urchund mit meiner aigen hantschrifft geschriben ... . Ebenfalls von seiner Hand scheint eine bereits als Abt ausgestellte kurze Urkunde aus dem Jahr 1472 zu sein. WStLA, 3.1.1 H.A. Urkunden 4452, Regesten aus dem Archive der Stadt Wien 3: Verzeichnis der Originalurkunden des städtischen Archives 1458–1493, bearb. von Karl Uhlirz (Quellen zur Geschichte der Stadt Wien II/3, Wien 1904) 177f. Nr. 4452. 33   Wie Anm. 17; Regesten aus dem Vaticanischen Archive in Rom, bearb. von Albert Starzer, in: Regesten aus in- und ausländischen Archiven, mit Ausnahme des Archivs der Stadt Wien 1, red. von Anton Mayer (Quellen zur Geschichte der Stadt Wien I/1, Wien 1895) 24–33, hier 31 Nr. 170 (falso: Unick). Erstmals, allerdings ohne großes Echo, rezipiert wurde dies von Patrick J. Barry, Die Zustände im Wiener Schottenkloster vor der Reform des Jahres 1418 (Aichach 1927) 87. 34   In dieser Hinsicht ist das nach 1460 entstandene autobiographische Senatorium Martins von Leibitz wohl auch apologetisch zu lesen. Vgl. Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 161f. 35  StiAScho, Urk 1461-06-11. 36   Ebd. Urk 1461-09-19. 37   Ebd. Urk 1462-09-26.2. 38  Ebd. Scr. 46 B. Nr. 3 a (Quittung vom 28. Dezember 1466). WStLA, 3.1.2 H.A. Akten 122/15. Jh. Uhlirz, Regesten 3 (wie Anm. 32) 93 Nr. 4111b (Grundbuchsauszug vom 19. März 1467). 39   StiBScho, Cod. 312 (Hübl 405), fol. 97r–108v (im Folgenden: Memoriale). Albert Hübl, Catalogus co-



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Intention scheint durchaus auch eine implizite Kritik an einer unter seinen jüngeren Mitbrüdern einsetzenden Reaktion auf die Observanz gewesen zu sein40. Dass der einst mit seinem Abt in Konflikt geratene Matthias wohl zu den Kritisierten zu zählen war, änderte jedoch nichts an seinem Aufstieg. Nach dem Tod des erst seit 1466 regierenden Abtes Johannes von Lambach im Oktober 1467 wurde Matthias schließlich selbst Abt des Schottenklosters; seine Abtbenediktion erfolgte am 21. Dezember dieses Jahres41.

Abbatiat Die allgemeinen, besonders die Besitzveränderungen und die empfangenen Stiftungen betreffenden Ereignisse des Schottenklosters in der Regierungszeit Abt Matthias Finks sind in der Vergangenheit bereits eingehend in der Stiftsgeschichte Ernest Hauswirths gewürdigt worden, welcher sich für sein in Gesta-Form gehaltenes Buch maßgeblich an den ihm wohlbekannten Inhalten der im Stiftsarchiv verwahrten Urkunden orientierte42. In den folgenden Ausführungen werden sie daher ausgeklammert, sofern nicht zum von Hauswirth Beschriebenen etwas Ergänzendes oder Abweichendes anzubringen ist. Wie bereits seine Amtsvorgänger begegnet Abt Matthias als Aussteller und Mitsiegler von Urkunden nicht nur in das Schottenkloster direkt betreffenden Angelegenheiten, sondern er ist wiederholt auch als Vidimator sowie als delegierter Richter und Exekutor anzutreffen43. Im Kanonisationsverfahren für Markgraf Leopold III., welches bereits 1465 dicum manu scriptorum qui in Bibliotheca Monasterii B.M.V. ad Scotos Vindobonae servantur (Wien–Leipzig 1899) 441–444 Nr. 405; Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26). Hauswirth gibt an, Teile der im Memoriale enthaltenen nekrologischen Notizen seien im Auftrag Abt Matthias Finks niedergeschrieben worden. Obwohl einzelne Nachträge aus der Regierungszeit Matthias’ datieren, handelte es sich jedoch bei diesen Aufzeichnungen um kein offizielles Nekrologium des Klosters. Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 44; Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 132f. 40  Vgl. Barry, Zustände (wie Anm. 33) 88; Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 162f. 41   Dieses Datum findet sich in einer Handschriftennotiz zu den Abtwahlen bzw. -benediktionen zwischen 1460 und 1475 (In dem sywen und LXVII [sic!] iar an sand Thomas tag ist geweicht warden unser vater der do haist Mathias Vinck der do ist der VI nach den Schotten [Anm.: nach den 1418 ausgezogenen irischen Schottenmönchen]). StiBScho, Cod. 51 (Hübl 212), fol. 1r. Hübl, Catalogus (wie Anm. 39) 232f. Nr. 51; Franz Unterkircher, Die datierten Handschriften in Wien außerhalb der Österreichischen Nationalbibliothek bis zum Jahre 1600. Katalogbeschreibungen von Heidelinde Horninger–Franz Lackner (Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich 5, Wien 1981) 104 Nr. 194. Zu Abt Johannes von Lambach zuletzt Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 123 Anm. 94. 42   Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 43–45. Eine kurze Beurteilung des Werks bei Trofaier, Konvent (wie Anm. 1) 17. 43   So finden sich abseits des Wiener Kontextes von ihm ausgestellte oder besiegelte Urkunden etwa in den Beständen der Klöster Melk, Zwettl, St. Emmeram in Regensburg und Fürstenzell (letztere beide heute: BayHStA), der Stadt Krems sowie der Familien Harrach (heute: Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv) und Hardegg (heute: St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv). Drei Siegeltypen haben sich von Abt Matthias erhalten: Noch zahlreich vorhanden ist ein rundes Thronsiegel mit ausgeprägten gotischen Architekturelementen und der neutralen Umschrift s(igillum) abbatis mon(asterii) scotoru(m) wienne ord(in)is s(ancti) benedicti. Das älteste nachweisbare Exemplar, das allerdings zerbrochen ist, datiert vom September 1468. StiAScho, Urk 1468-09-14.3. Gut erhaltene Exemplare finden sich etwa an: StiAZw, Urk 1469 IV 21; WStLA, 3.1.1 H.A. Urkunden 4323 (28. Mai 1470); BayHStA, Kloster St. Emmeram Regensburg Urkunden 1993 (17. Dezember 1471); StiAKl, Urk D 1473 II 26; DOZA, Urk 1474 III 7. Bislang nur von einer Urkunde vom März 1469 bekannt ist hingegen ein Spitzovalsiegel, ebenfalls vom Typus des Thronsiegels, mit kleinem Wappenschildchen, in welchem ein Vogel (Fink?) dargestellt ist. Dessen Umschrift nennt Matthias namentlich: s(igillum) mathias abbatis mon(asterii) b(ea)te marie scotoru(m) wienne

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Maximilian Alexander Trofaier Abb. 2: Spitzovalsiegel des Abtes Matthias Fink. Wien, Benediktinerabtei Schotten, Stiftsarchiv, Urk 1469-03-27.

durch eine Initiative der niederösterreichischen Landstände wieder ins Rollen gebracht worden war, nahm Matthias zudem schon bald eine Funktion wahr, die zuvor sein Vorgänger Abt Hieronymus innegehabt hatte, nämlich jene eines von fünf Subdelegierten des Prozesses44. Im Laufe seines Abbatiats wurde er als solcher wiederholt tätig, wobei ihm aufgrund der geographischen Nähe zu Klosterneuburg zeitweise sogar eine Hauptrolle zukam45. Auch als Visitator trat Matthias in Erscheinung: Im Jahr 1468 visitierte er gemeinsam mit dem Göttweiger Abt Laurenz Gruber und den Dechanten der Stifte

(Abb. 2). StiAScho, Urk 1469-03-27. Vgl. Ales Zelenka–Walter Sauer, Die Wappen der Wiener Schottenäbte (Wien 1971) 11 und 35 (Anm.). Das Siegelbild entspricht bis auf das Schildchen ganz den Spitzovalsiegeln seiner Amtsvorgänger Martin von Leibitz und Johannes von Lambach. StiAScho, Urk 1452-10-30.2; WStLA, 3.1.1 H.A. Urkunden 4141 (18. Dezember 1466). Ein Sekretsiegel Matthias’ hat sich zumindest in Teilen auf einer Urkunde vom September 1472 erhalten. Wie beim vorherigen zeigt dieses Wappensiegel im Schild einen Vogel. WStLA, 3.1.1 H.A. Urkunden 4452 (26. September 1472). Digitalisate der Urkunden finden sich jeweils im Monasterium Collaborative Archive, https://monasterium.net/mom [29. 10. 2019]. 44   Die übrigen vier Subdelegierten waren die Bischöfe von Passau, Gurk und Piben (Pedena/Pićan) sowie der Abt von Klein-Mariazell. 45   Vinzenz Oskar Ludwig, Der Kanonisationsprozeß des Markgrafen Leopold III. des Heiligen (Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg 9, Wien–Leipzig 1919) LXIII bzw. allgemein LIV–CXLVI (Kap. 3 und 4) passim. Mit den vielseitigen Aspekten der Kanonisation Leopolds beschäftigt sich momentan das DOC-team-Projekt „Performanz von Heiligkeit am Beispiel Markgraf Leopolds III. von Österreich“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; einen Überblick über den Prozess bietet Julia Anna Schön, Wunder, Streit und Fürstenmacht. Klosterneuburg zur Zeit Maximilians I., in: Des Kaisers neuer Heiliger. Maximilian I. und Markgraf Leopold III. in Zeiten des Medienwandels, hg. von Martin Haltrich (Klosterneuburg 2019) 8–27.



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St. Pölten und Dürnstein das Augustiner-Chorherrenstift St. Andrä an der Traisen46. Zugleich fällt seine Regierung jedoch mit dem langsamen Niedergang der Melker Reform zusammen. Die seit den 1450er-Jahren angestrengten Unionsbemühungen zwischen der Melker Observanz und den beiden anderen benediktinischen Reformbewegungen des deutschsprachigen Raums, den Observanzen von Kastl und Bursfelde, misslangen in den frühen 1470er-Jahren ebenso wie der ab 1469 unternommene Versuch einer institutionellen Vereinigung des Melker Reformverbandes47. An den zu letzterem Zweck abgehaltenen Äbteversammlungen in Salzburg (1470) und Lambach (1472) nahm Abt Matthias weder teil noch entsandte er einen Prokurator für das Schottenkloster48. In der Hausgeschichtsschreibung besonders positiv in Erinnerung blieb die Errichtung der Sebastianibruderschaft, eigentlich Bruderschaft der heiligen Fabian und Sebastian, an der Schottenkirche durch Matthias im Jahr 147149. Zu den ersten Mitgliedern dieser Konfraternität, für welche er eine eigene Kapelle im Kreuzgang einrichten ließ, zählten auch Kaiser Friedrich III. und der ungarische König Matthias Corvinus50. Zudem erwarb Matthias bereits im Jahr 1470 das erste gedruckte Buch für das Schottenkloster, die bei Günther Zainer in Augsburg 1469 gedruckte Ausgabe des „Catholicon“ des Johannes Balbus 51.

Auftraggeber des Schottenaltars? In Matthias’ Regierungszeit fällt auch die Anfertigung des Schottenaltars, jenes spätgotischen Flügelaltars, dem aufgrund seiner topographisch getreuen Ansichten von Wien und anderen österreichischen Orten eine hohe Bedeutung für die Stadt- und Regionalgeschichte zukommt, dessen Maler mit dem Notnamen „Meister des Schottenaltars“ bzw. „Schottenmeister“ bedacht wird und welcher ohne Zweifel zu den stilprägenden spät46   Urkunden und Regesten zur Geschichte des Benedictinerstiftes Göttweig 3: 1468–1500, bearb. von Adalbert Franz Fuchs (FRA II/55, Wien 1901) 3–7 Nr. 1737 (Visitationsinstrument vom 21. Dezember 1468). 47  Vgl. Raphael Molitor, Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbände. Untersuchungen und Skizzen 2: Verbände von Kongregation zu Kongregation. Verband und Exemtion (Münster 1932) 1–20; Meta Niederkorn-Bruck, Die Melker Reform im Spiegel der Visitationen (MIÖG Ergbd. 30, Wien–München 1994) 33–36; Albert Groiss, Spätmittelalterliche Lebensformen der Benediktiner von der Melker Observanz vor dem Hintergrund ihrer Bräuche. Ein darstellender Kommentar zum Caeremoniale Mellicense des Jahres 1460 (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums 46, Münster 1999) 64f.; Ulrike Treusch, Bernhard von Waging († 1472), ein Theologe der Melker Reformbewegung. Monastische Theologie im 15. Jahrhundert? (Beiträge zur historischen Theologie 158, Tübingen 2011) 18f. 48 Anselm Schramb, Chronicon Mellicense (Wien 1702) 478–483. Für die Äbteversammlung in Passau (1471) liegt keine hinreichende Angabe der Teilnehmer vor. An der Lambacher Tagung nahmen überhaupt keine Äbte teil, sondern nur drei Prokuratoren. 49   In der Bildunterschrift des Gemäldes von Matthias Fink aus der um 1760 angelegten Äbtegalerie, die sich heute im Kapitelsaal des Schottenstifts befindet, ist die Errichtung der Sebastianibruderschaft gar die einzige Angabe, die sich dort neben dem Benediktionstag und dem Resignationsjahr findet. 50   StiAScho, 05.Pfarr Scho 6/01.01 (olim: Scr. 11 B. Nr. 16 a, Statuten vom 16. Dezember 1471). Zur Geschichte der Sebastianibruderschaft: Albert Hübl, Die Bruderschaften an der Schottenkirche in Wien. Berichte und Mitteilungen des Altertums-Vereines zu Wien 50 (1918) 1–21, hier 1–11. 51   StiBScho, Ink. 1 (Hübl 62), Besitz- und Ankaufvermerk auf fol. 315r. Albert Hübl, Die Inkunabeln der Bibliothek des Stiftes Schotten in Wien (Wien–Leipzig 1904) 32 Nr. 62. Hauswirth spricht irrig von einer etwas späteren Inkunabel, die dem Kloster als erstes gedrucktes Buch 1474 geschenkt worden sei (heute: Ink. 114 [Hübl 16]). Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 44. Vgl. Cölestin Rapf, Die Bibliothek der Benediktinerabtei Unserer Lieben Frau zu den Schotten in Wien, in: Translatio Studii. Manuscript and Library Studies honoring Oliver L. Kapsner, O.S.B., hg. von Julian G. Plante (Collegeville 1973) 4–35, hier 15.

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mittelalterlichen Retabeln zählt. Die Frage, ob es sich bei diesem Altar tatsächlich um den Hochaltar der Schottenkirche gehandelt habe, wird ebenso wie jene nach seiner genauen Datierung in der kunsthistorischen und historischen Forschung unterschiedlich beurteilt. Als erster hat Fritz Grossmann auf der Basis einer zeitgenössischen Schilderung der Umgestaltungen der Schottenkirche sowie des Stiftungs- und Wohltäterverzeichnisses des Schottenklosters den Beweis für eine Anfertigung für die Abteikirche zu erbringen gesucht52. Ergänzende Überlegungen, die für diese Annahme und gegen einen erst späteren Erwerb durch das Kloster im 18. Jahrhundert sprechen, hat Arthur Saliger vorgebracht, wobei er auch dem Argument, dass der Altar keine speziellen bildlichen Hinweise auf das Schottenkloster oder dessen Besitzungen enthalte, zu begegnen sucht53. Hingegen äußerte sich Maria Theisen zuletzt vorsichtiger und vermutet zudem einen gewissen Bezug des Auftraggebers zu Kaiser Friedrich III.54. Bezüglich der Datierung des Altares hat sich die jüngere kunsthistorische Forschung meist für eine Entstehung innerhalb eines kurzen Zeitraums um 1470 ausgesprochen55. Abweichend sieht Ferdinand Opll aufgrund einiger auf den Tafeln des Altars dargestellter Wiener Gebäude eine längere Anfertigungsdauer bis 52  Friedrich Grossmann, Die Passions- und Marienleben-Folge im Wiener Schottenstift und ihre Stellung in der Wiener Malerei der Spätgotik (Diss. Wien 1930) 99–102 und 111–119; ders., Der gotische Hochaltar der Wiener Schottenkirche. Kirchenkunst 4 (1932) 13–16. StiBScho, Cod. 65 (Hübl 395), fol. 131v–133v (Promemoria futuris temporibus habenda de ecclesia nostra renovata et de altaribus de novo erectis et aliquibus antiquis destructis; im Folgenden: Promemoria). Hübl, Catalogus (wie Anm. 39) 427 Nr. 395,35; vgl. Albert Hübl, Baugeschichte des Stiftes Schotten in Wien. Berichte und Mitteilungen des Altertums-Vereines zu Wien 46/47 (1914) 35–88, hier 38 et passim; Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 116. StiAScho, 05.Pfarr Scho StiVz A (olim: Scr. 103 Nr. 1, Liber oblationum, in der Literatur auch als Liber fundationum bzw. Liber donationum zu finden). Monumenta necrologica monasterii Scotorum Vindobonensis, in: Necrologia Germaniae 5: Diocesis Pataviensis (Austria Inferior), ed. Adalbert Franz Fuchs (MGH Necr. 5, Berlin 1913) 308–318, hier 316–318; vgl. Georg Zappert, Über das Fragment eines Liber dativus der überseeisch-keltischen Mönche (Schotten) in Wien. SB der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 13 (1854) 97–183, hier 107–118; Wolfgang Eric Wagner, Von der Stiftungsurkunde zum Anniversarbucheintrag. Beobachtungen zur Anlage des Liber oblationum et anniversariorum (1442–ca. 1480) im Wiener Schottenkloster, in: Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Michael Borgolte (Stiftungsgeschichten 1, Berlin 2000) 145–170; Larissa Rasinger, Ein Jahrtagskalender des Wiener Schottenstiftes aus dem Jahr 1515. Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 129 (2018) 85–147, hier 96–102; Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 129 Anm. 110. 53 Arthur Saliger, Der Wiener Schottenmeister (München–Berlin–London–New York 2005) 7–11. Eine Zusammenfassung dieser Diskussion sowie der Forschungsgeschichte zuletzt bei: Anja Ebert, Der Wiener Schottenaltar. Das ehemalige Hochaltar-Retabel des Schottenstifts zu Wien (Weimar 2015) 11–20. 54 Maria Theisen, Himmel über Prag und Wien. Städteportraits im 15. Jahrhundert, in: Elisabeth Gruber–Christina Lutter–Oliver Jens Schmitt, Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Quellen und Methoden zur Geschichte Mittel- und Südosteuropas (UTB 4554, Wien–Köln–Weimar 2017) 360–371, hier 364–367. Ich danke Maria Theisen für die Zurverfügungstellung ihres ausführlicheren Manuskripts dieses Beitrags, welcher, bedingt durch die Vorgaben des Studienbuchs, ohne Anmerkungen erschienen ist. 55  Die Tafel „Einzug in Jerusalem“ weist auf einem Stadttor im Hintergrund die Datierung 1469 auf, wobei unterschiedlich argumentiert worden ist, wie diese Jahreszahl zu interpretieren sei. Sah man darin ursprünglich den Beginnzeitpunkt der Arbeiten, spricht sich Saliger dafür aus, darin den Abschlusszeitpunkt der Passionsfolge für die Werktagsseite des Altares zu sehen, wohingegen er die Vollendung des etwas jüngeren marianischen Zyklus für die Sonntagsseite aufgrund stilistischer Überlegungen wie auch des Bauzustands der auf der Tafel „Flucht nach Ägypten“ abgebildeten Wiener Dominikanerkirche nicht später als 1471/72 ansetzt. Saliger, Schottenmeister (wie Anm. 53) 67–69; vgl. auch Ebert, Schottenaltar (wie Anm. 53) 141–143. ­Theisen unterstreicht wiederum, dass es sich bei 1469 um das Jahr der Errichtung der Diözesen Wien und Wiener Neustadt – das von manchen mit dem dargestellten Stadttor in Verbindung gebracht wird – handelt und ein direkter Bezug zur Entstehung des Altares nicht notwendigerweise gegeben sein müsse. Theisen, Himmel (wie Anm. 54) 364f.



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ca. 147856. Dessen ungeachtet kann der Zeitpunkt des Beginns der Arbeiten am Retabel aber aufgrund stilistischer Beobachtungen wohl jedenfalls in der Frühzeit des Abbatiats Matthias Finks angesetzt werden. Ein wenig relativiert werden müssen jedoch Grossmanns Ausführungen zu den Stiftungen zugunsten des Hochaltars im Liber oblationum des Klosters, denen die Forschung seither weitestgehend gefolgt ist. Aufgrund der nur wenigen darin auffindbaren Jahreszahlen sind in der Vergangenheit insgesamt 56 Eintragungen auf einen recht breiten Zeitraum zwischen 1454 und 1481 datiert worden. Unter diesen finden sich fünf Stiftungen mit Bezug zum Hochaltar, davon zwei für den Altaraufsatz (ad tabulam summi altaris). Beim insgesamt vorletzten Vermerk vor dem datierten Eintrag zum Jahr 1481 handelt es sich um eine Schenkung von Alabasterfiguren für den Hochaltar durch den Mönch Balthasar57. Dieser wird jedoch bereits im Jahr 1466 im Memoriale reformacionis ad Scotos als Verstorbener erwähnt58. Da die direkt darauf folgende Eintragung im Liber oblationum von der gleichen Hand stammt und aus der gleichen Zeit zu sein scheint, jene zum Jahr 1481 jedoch von einer anderen Hand, und sofern davon auszugehen ist, dass die Eintragungen wirklich laufend und nicht erst nachträglich vorgenommen wurden59, bedeutet dies, dass in den späten 1460er- und in den 1470er-Jahren überhaupt keine Stiftungen im Verzeichnis eingetragen wurden! Tatsächlich haben sich für diesen Zeitraum nur vereinzelt Urkunden von Stiftungen zugunsten der Schottenkirche erhalten, welche jedoch wiederum nicht im Liber oblationum vermerkt wurden60. Freilich bedeutet der Empfang einer Gabe für einen bestimmten Altar noch nicht zwangsläufig, dass dieser bereits in Entstehung sein muss. Zudem kann das von Grossmann ebenfalls herangezogene, von gleicher Hand wie das Memoriale wohl in der ersten Hälfte der 1460er-Jahre verfasste Promemoria, das von der Aufstellung eines neuen Hochaltars berichtet, nach wie vor Gül56   Bedeutung kommt dabei einem auf der Tafel „Heimsuchung“ dargestellten hölzernen Straßenübergang zu, welchen Opll als Teil des von Friedrich III. errichteten Verbindungsgangs von der Wiener Burg nach St. Stephan identifiziert. Die Fertigstellung dieses Tafelbildes sah er daher ursprünglich Mitte der 1480er-Jahre, nun jedoch aufgrund neuester Bauforschungen zumindest vor bzw. gegen 1478. Ferdinand Opll, Das Antlitz der Stadt Wien am Ende des Mittelalters. Bekanntes und Neues zu den „Wien-Ansichten“ auf Tafelbildern des 15. Jahrhunderts. JbVGStW 55 (1999) 101–145, hier 127–135; ders., [Rezension von] Anja Ebert, Der Wiener Schottenaltar. Das ehemalige Hochaltar-Retabel des Schottenstifts zu Wien. Wiener Geschichtsblätter 71 (2016) 140–142. Eine Publikation weiterer von Opll im April 2019 im Rahmen der Tagung „Wiens Erste Moderne. Visuelle Konstruktion von Identität im 15. Jahrhundert“ in Wien angestellter Überlegungen ist derzeit in Vorbereitung. 57   Liber oblationum (wie Anm. 52) pag. 48–51, hier pag. 51: Item Balthasar pater noster dedit ymagines trium [Ergänze: regum?] alabastrum pro summo altari. Monumenta necrologica (wie Anm. 52) 317f. Vgl. Grossmann, Passions- und Marienleben-Folge (wie Anm. 52) 116–118; ders., Hochaltar (wie Anm. 52) 15. 58  Memoriale (wie Anm. 39) fol. 100v. Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 129 Anm. 110 und 170. 59 Dafür sprechen der wiederholte Händewechsel wie auch ein leichter Wechsel des Schriftcharakters einzelner Hände. Dagegen könnten jedoch die Zwischenüberschrift Subscripti domini decoraverunt altaria subscripta (Liber oblationum [wie Anm. 52] pag. 50) und die zweimalige Nennung einer Schenkung eines silbernen Kelchs durch den Wiener Bürger Niklas Kramhofer – einmal zwischen den Datierungen 1450 und 1454 (p. 48, Cramhofer), ein zweites Mal direkt vor der 1481 datierten Eintragung (p. 51, Kraumhofer) – ins Treffen geführt werden. Monumenta necrologica (wie Anm. 52) 316 und 318. 60   StiAScho, Urk 1467-09-04 (Lienhart Süß für den Kreuzaltar). Cölestin Wolfsgruber, Regesten aus dem Archive des Benedictinerstiftes Schotten in Wien, in: Mayer, Regesten (wie Anm. 33) 39–118, hier 111 Nr. 558. Urk 1469-01-23.1 (Stephan Jung von Neusohl für die Barbarakapelle). Wolfsgruber, ebd. 112f. Nr. 565. Urk 1474-01-31 und Urk 1474-08-19 (Jörg von Pellendorf ). Urk 1475-06-23 (Erasmus Feuchter für die Katharinenkapelle).

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tigkeit beanspruchen61. Umgekehrt könnten die lediglich zwei im Liber oblationum eingetragenen Stiftungen zugunsten des Altaraufsatzes vielleicht gar darauf hindeuten, dass es zu einer Verzögerung der Herstellung und damit zu einem Unwillen der Bürger, etwas dazu beizutragen, gekommen sein könnte62. In einem solchen Fall mag es dann an Abt Matthias gelegen sein, die Geldmittel für ein doch noch in Angriff genommenes Retabel auf anderem Wege aufzubringen. Bei der Einschätzung der vorgebrachten Argumente hat Abt Matthias selbst in der Forschung bislang jedoch über eine generelle Erwähnung der ihm zugeschriebenen Prachtliebe kaum Aufmerksamkeit erfahren. Ohne das Für und Wider der einzelnen Positionen weiter abwägen zu wollen, sei hier daher noch ein Indiz in die Diskussion eingebracht, das für die Annahme des Schottenaltars als Ausstattungsstück der Schottenkirche sprechen mag: So vermeldet Johann Rasch, Matthias habe gleichwol viel gebaut, sunderlich an Altarn und Kirchenzier63. Er folgt darin dem wenige Jahre älteren Äbtekatalog Abt Johann Schretels, in welchem Matthias mit den Worten qui quidem altaria quaedam ornavit ... sed tantam summam aeris alieni conflavit, quo monasterium in hunc usque diem plurimum gravatur bedacht wird64. Ob damit wirklich auch der Hochaltar der Stiftskirche mitgemeint sein muss, ist angesichts der zugegebenermaßen recht unbestimmten Angabe zwar nicht ohne weiteres hinzunehmen, doch ist freilich bemerkenswert, dass sich in diesem Katalog bei keinem anderen Abt des Klosters ein ähnlicher Hinweis findet, obwohl gerade für die unmittelbaren Vorgänger des Matthias durchaus entsprechende Quellen vorliegen65. Dies legt den Schluss nahe, dass die Ausstattungstätigkeit des Matthias noch ein Jahrhundert später als etwas speziell Erwähnenswertes angesehen wurde. Belegt ist, dass Matthias den Osttrakt des Kreuzganges samt einer Kapelle für die heiligen Sebastian, Fabian, Barbara und Agnes neu errichten ließ, doch erscheint dies allein als keine solche Unternehmung, die ihn in der Memoria des Klosters gegenüber seinen Amtsvorgängern besonders hervorgehoben haben könnte66. Berücksichtigt man dann auch noch, dass die von ihm getätigten Ausgaben das Kloster vermeintlich auch noch Ende des 16. Jahrhunderts belasteten, so liegt der Schluss nahe, dass es sich bei der Kirchenausstattung um etwas sehr Kostspieliges gehandelt haben muss. Vielleicht um einen prachtvollen Flügelaltar?

61   Promemoria (wie Anm. 52) fol. 131v: Et primo summum altare erectum est de novo et non stat in eodem loco sicut prius. Hübl, Baugeschichte (wie Anm. 52) 49 und 52f.; Grossmann, Passions- und MarienlebenFolge (wie Anm. 52) 112f.; ders., Hochaltar (wie Anm. 52) 14f.; vgl. Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 116. Grossmann gibt irrig primum altare an, was seitdem in der Literatur falsch wiederholt wird. 62  Grossmann verweist darauf, dass ein zeitlicher Abstand zwischen Aufstellung der Altarmensa und Hinzufügung des Aufsatzes durchaus nicht unüblich gewesen sei. Grossmann, Passions- und Marienleben-Folge (wie Anm. 52) 113f.; ders., Hochaltar (wie Anm. 52) 15. 63  Rasch, Stifftung (wie Anm. 2) fol. 23v. Auf diese Stelle hingewiesen haben bereits Hübl, Baugeschichte (wie Anm. 52) 59, und Grossmann, Passions- und Marienleben-Folge (wie Anm. 52) 119f. 64  Dieser Einblattdruck wurde im Jahr 1582 unter dem Titel Monasterii Scotorum Viennae Austriae fundatio et abbates bei Leonhard Nassinger in Wien gedruckt. ÖNB, F 000025-B. Vgl. Trofaier, Konvent (wie Anm. 1) 75f. 65  Vgl. die zahlreichen Angaben bei Hübl, Baugeschichte (wie Anm. 52) 48–56; Richard Perger–Walther Brauneis, Die mittelalterlichen Kirchen und Klöster Wiens (Wiener Geschichtsbücher 19/20, Wien–Hamburg 1977) 117–121 und 310f. (Anm.). 66   StiAScho, 05.Pfarr Scho 6/01.02 (olim: Scr. 11 B. Nr. 1, Bestätigung der Errichtung der Sebastianibruderschaft durch Kardinal Marco Barbo, Patriarch von Aquileia, vom 20. Dezember 1472; Abschrift des 18. Jh.). Hübl, ebd. 55f.



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Resignation und spätere Anschuldigungen Im Herbst 1475 kam das Abbatiat Matthias Finks zu einem wohl unverhofften Ende: Am 9. Oktober resignierte er sein Amt propter certas urgentes causas in die Hände des Passauer Bischofs Ulrich von Nußdorf, am Folgetag wurde Abt Leonhard von Klein-Mariazell, einer der vom Konvent bestimmten Auftragswähler, durch Kompromiss zu seinem Nachfolger gewählt67. Worum es sich bei den zwingenden Gründen handelte, die Matthias zur Resignation zwangen, verrät das über die Vorgänge aufgesetzte Notariatsinstrument nicht, Auskunft darüber erhalten wir aber aus späteren Quellen. Wenige Jahre nach den Ereignissen ist die Rede von einer merklich summ gelts, die Abt Matthias Kaiser Friedrich III. schuldig geblieben sei68. Im Jahr 1493, also fast 20 Jahre danach, erklärte Friedrich III. wiederum einen Teil der hohen Geldschulden des Schottenklosters für nichtig, da dieser von Abt Matthias ohne Wissen des Konvents angehäuft worden sei. Matthias, zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits verstorben, sei einst flüchtig geworden, das Kloster jedoch aufgrund dieser und anderer Schulden sowie erlittener Feuer- und Kriegsschäden schwer belastet69. Wenige Jahre später wies König Maximilian I. das Regiment in Wien an, das durch Abt Matthias in große Schulden gestürzte Schottenkloster vor der Übervorteilung durch Gläubiger zu schützen70. Woraus konkret die hohe Schuldenlast resultiert sei, wird an diesen Stellen jedoch ebenfalls nicht klar. Die explizite Bezifferung der Schuldenhöhe durch Brusch auf 24 Tausend Gulden sowie die Aussage Raschs, Matthias habe ein gantz Register vol schulden gemacht, legen den Schluss nahe, dass im 16. Jahrhundert noch Aufzeichnungen darüber vorhanden gewesen sein dürften, doch konnte bislang kein solches Verzeichnis identifiziert werden71. Dass die finanzielle Situation des Schottenklosters im 15. Jahrhundert generell eine schwierige war, liegt bereits in der allgemeinen wirtschaftlichen Lage der Zeit begründet. Da die Ökonomien der Klöster zu einem großen Teil von Naturalabgaben abhängig waren, hatte die Agrarkrise des Spätmittelalters große Auswirkungen auf sie72. Entsprechend konnte daran offenbar auch eine durchaus weiterhin gegebene Vergrößerung des Besitzstandes nichts ändern73. Dem Vorwurf der ruinösen Misswirtschaft waren bereits die irischen Mönche, die das Wiener Schottenkloster 1418 verlassen mussten, ausgesetzt gewesen, stellte die   StiAScho, Urk 1475-10-10. Vgl. Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 45.   Actenstücke und Briefe zur Geschichte des Hauses Habsburg im Zeitalter Maximilian’s I., Bd. 3, bearb. von Joseph Chmel (Monumenta Habsburgica. I/3, Wien 1858) 246–249 Nr. 105, hier 248f. 69   StiAScho, Urk 1493-04-26. Vgl. Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 48. 70  Regesta Imperii XIV: Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493–1519. Bd. 2,1: 1496–1498, bearb. von Hermann Wiesflecker (Wien–Köln–Weimar 1993) 242 Nr. 5544 (24. November 1497). 71  Wiederholt wurden im 14. und 15. Jahrhundert auch eigene Schuldurkunden kopial in die Satzbücher des Schottenklosters eingetragen. Eine kursorische Durchsicht des hierfür in Frage kommenden Gewähr- und Satzbuches der Jahre 1461 bis 1502 konnte jedoch nichts Entsprechendes zutage fördern. WStLA, 2.1.2.29 Grundbuch Schotten B29.22. 72   Vgl. Alois Niederstätter, Das Jahrhundert der Mitte. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Österreichische Geschichte 1400–1522, Wien 1996) 77; ders., Die Herrschaft Österreich. Fürst und Land im Spätmittelalter (Österreichische Geschichte 1278–1411, Wien 2001) 45–47. 73   Karl Janecek hat zwar aufgezeigt, dass das Schottenkloster in den Jahren nach 1468 keinen Zuwachs an Grundbesitz innerhalb der Stadt Wien mehr zu verzeichnen hatte, doch sind Grunderwerbungen an anderen Orten nicht nur vorher, sondern auch die ganze Regierungszeit Matthias’ hindurch anhand des Urkundenbestands nachweisbar. Karl Janecek, Zur Besitzgeschichte des Wiener Schottenklosters. JbVGStW 5/6 (1947) 24–92, hier 36. Vgl. Hauswirth, Abriß (wie Anm. 4) 43f. 67 68

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effektive Vermögensverwaltung doch eine zentrale Forderung der Melker Reformer dar74. Trotzdem hatte auch der Wiener Reformkonvent im Laufe des 15. Jahrhunderts weiterhin mit finanziellen Problemen zu kämpfen75. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatte wohl die Baulast, denn die ohnedies schon gegebene Baufälligkeit der Schottenkirche und der Klostergebäude erfuhr durch ein Erdbeben im Jahr 1443 eine weitere Verschlechterung76. Für die erforderlichen Instandhaltungs- und Neubauarbeiten, die teilweise durch das Promemoria dokumentiert sind, war das Kloster auf die kräftige Unterstützung städtischer Wohltäter angewiesen77. In diesem Lichte ist wohl auch die vor allem den Kreuzgang betreffende Bautätigkeit Abt Matthias’ als eine durch den Vorzustand bedingte Notwendigkeit anzusehen. Eine in ihrer Kürze doch treffende Einschätzung der finanziellen Situation unter Abt Matthias dürfte daher jene von Ales Zelenka und Walter Sauer sein: „Die schon jahrelang darniederliegenden Stiftsfinanzen brachen unter ihm endgültig zusammen.“78 Ob Matthias tatsächlich bestimmte Rechtsgeschäfte, für welche die Zustimmung des Konvents erforderlich gewesen wäre, im Alleingang abschloss oder ob es sich dabei lediglich um eine nachträgliche Schutzbehauptung des Klosters handelte, ist mangels konkreterer Vorwürfe kaum zu beantworten. Für die Angabe Nesers, Matthias sei nach seiner Resignation in Klosterhaft genommen worden, aus der er jedoch geflüchtet sei, gibt es gleichermaßen keinen Anhaltspunkt. Ein Klosterkerker im Schottenkloster ist für diese Zeit zwar belegt, doch erscheint eine solche Vorgehensweise schwer vorstellbar79. Im Notariatsinstrument über die Resignation ist darüber nichts zu lesen. Vielmehr tritt Matthias darin am Folgetag bei der Festlegung der Neuwahlbestimmungen ganz regulär als nun gewesener Abt an erster Stelle des Konvents auf – gefolgt von seinem Vorvorgänger Hieronymus als Klostersenior, der einst ebenfalls resigniert hatte. Dass Matthias jedoch bald nach seiner Resignation das Kloster verlassen haben und nach Ungarn geflohen sein muss, ist durch die Aussagen Kaiser Friedrichs III. belegt. In gegen den ungarischen König Matthias Corvinus gerichteten Gravamina, vermutlich aus dem Jahr 1479, beklagte Friedrich neben manch gewichtigeren Punkten auch, dass Abt Matthias Fink den Interessen des Kaisers wie auch des Schottenklosters zum Trotz schützende Aufnahme am Hof des Corvinen erfahren habe80. Die Anhäufung einer Schuldenlast ist eine Sache, der Vorwurf der Prunkliebe und Verschwendung eine andere. Von letzterem ist in den Urkunden des späten 15. Jahrhunderts noch keine Rede, er taucht erstmals bei Kaspar Brusch Mitte des 16. Jahrhunderts auf. Dessen Äbteliste weist jedoch bis in seine jüngste Vergangenheit hinauf zahlreiche Fehler und Ungenauigkeiten auf 81. Die bei Brusch zu lesende Vorhaltung, Matthias sei zeit seiner Regierung wie ein Fürst mit großem Gefolge aufgetreten, findet zudem eine bemerkenswerte Parallele in einer ähnlichen Passage des Memoriale reformacionis ad Scotos.  Vgl. Niederkorn-Bruck, Melker Reform (wie Anm. 47) 117f.  Vgl. Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 150–157. 76  Hübl, Baugeschichte (wie Anm. 52) 48f. 77   Memoriale (wie Anm. 39) fol. 103r. Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 173 sowie 153 Anm. 174. 78  Zelenka–Sauer, Wappen (wie Anm. 43) 11. 79 Vgl. Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 131. 80  Wie Anm. 68. Möglicherweise lässt sich die Vermutung einer ungarischen Herkunft also schlicht auf den gewählten Fluchtort zurückführen. Ich danke Daniel Luger für seinen Hinweis auf diese Stelle. 81 Vgl. Trofaier, Konvent (wie Anm. 1) 74. 74 75



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Dort wird mit Bezug auf die irischen Äbte des Schottenklosters vor der Reform des Jahres 1418 behauptet, diese seien mit großem Pomp aufgetreten und einzelne hätten sogar zwei Soldaten an ihrem Hof gehalten82. Es muss also offenbleiben, ob es sich dabei um eine in Tatsachen begründete Aussage, schlicht um einen Topos oder womöglich gar um eine Verwechslung bzw. Vermengung mehrerer Äbte, wie sie bei Brusch nicht nur einmal anzutreffen ist, handelt.

Fazit Abt Matthias Fink zählt trotz seines nur kurzen Abbatiats ohne Zweifel zu den schillerndsten Äbten des Schottenklosters. Zahlreiche Details lassen sich über seine Person in Erfahrung bringen, nicht alle decken sich mit jenem Bild, das über Jahrhunderte hinweg tradiert worden ist. Wieso Matthias trotz im Kloster vorhandener dezidiert anderslautender Quellen aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographen zu einem vermeintlichen Ungarn mutierte, ist unklar. Ob er tatsächlich in der Kanzlei Friedrichs III. tätig war, muss weiter ungewiss bleiben, wiewohl hier die Möglichkeiten paläographischer Untersuchungen noch nicht ausgeschöpft sind. Ohne Zweifel hatte das Schottenkloster mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, die nicht nur, aber auch auf Abt Matthias zurückzuführen waren. Inwieweit er sich jedoch den Vorwurf der Verschwendung gefallen lassen muss, liegt vermutlich nicht zuletzt im Auge des Betrachters. Immerhin ist das Schottenstift auch heute noch im Besitz der von ihm angekauften ersten Inkunabel des Hauses wie auch des möglicherweise von ihm in Auftrag gegebenen Schottenaltars, wohingegen die Leistungen und Errungenschaften manch anderer Äbte inzwischen schon lange dem Vergessen anheimgefallen sind.

82   Memoriale (wie Anm. 39) fol. 104v: Et cum multa pompa incedebant ita, quod, ut dicitur, duos milites habebant in curia sua aliqui, sed non omnes. Trofaier, Monastisches Gedächtnis (wie Anm. 26) 175.

Ein bisher unbekanntes Autograph Paul Sweikers von Bamberg in den Wiener Universitätsquellen Martin Wagendorfer

Die Forschungen zur Rezeption des italienischen Renaissance-Humanismus in Süddeutschland haben sich schon früh eine Besonderheit der mittelalterlichen Wiener Universitätsquellen zunutze gemacht1, nämlich die Tatsache, dass an der Alma Mater Rudophina nicht nur generell Fakultätsakten2 in außergewöhnlicher Kontinuität und Dichte erhalten sind, sondern in den Akten der Artistenfakultät auch mit einer nirgendwo sonst in Europa zu beobachtenden Regelmäßigkeit jeweils zum 1. September die Verteilung der Vorlesungen für das kommende Studienjahr festgehalten wird3. Abgesehen von allgemeinen Aufschlüssen über den Lehrbetrieb (wie etwa über Anzahl der Vorlesungen und der Magistri etc.) lassen diese Jahr für Jahr an diesem Datum vermerkten Texte, die von den Magistri behandelt worden sind, auch Rückschlüsse auf das Eindringen früher humanistischer Interessen an der Universität bzw. genauer an der Artistenfakultät derselben zu, tauchen doch in den 1450er Jahren, bezeichnenderweise kurz vor dem Weggang des „Apostels des Humanismus“, Eneas Silvius Piccolomini4, aus Österreich (Mai 1454) plötzlich Autoren 1 Vgl. schon Karl Grossmann, Die Frühzeit des Humanismus in Wien bis zu Celtis Berufung 1497. J­ bLkNÖ N. F. 22 (1929) 150–325, hier 227f.; Gustav Bauch, Die Reception des Humanismus in Wien. Eine litterarische Studie zur deutschen Universitätsgeschichte (Breslau 1903) 13f. (allerdings mit unvollständigen – etwa ohne Erwähnung von Paul Sweiker – und teils irrigen Angaben); Alphons Lhotsky, Die Wiener Artistenfakultät 1365–1497 (SB der ÖAW, phil.-hist. Kl. 247, Wien 1965) 127. – Abkürzung: AFA = Acta Facultatis Artium. 2  Zu dieser Quellengattung zuletzt als Überblick mit der älteren Literatur Jana Madlen Schütte, Akten: Rektorats-, Senats- und Fakultätsakten, in: Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch, hg. von Jan-Hendryk de Boer–Marian Füssel–Maximilian Schuh (Stuttgart 2018) 39–50. 3  Vgl. dazu Paul Uiblein, Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät. Kommentar zu den Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis 1385–1416 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 4, Wien 21995) 110–114, bes. 112; ein guter Überblick über die Wiener Universitätsquellen: ders., Zur Quellenlage der Geschichte der Wiener Universität im Mittelalter, in: ders., Die Universität Wien im Mittelalter. Beiträge und Forschungen, hg. von Kurt Mühlberger–Karl Kadletz (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 11, Wien 1999) 539–545 (davor in: Österreich in Geschichte und Literatur 7 [1963] 161–166). 4  Zu seiner Rolle für die Humanismus-Rezeption an der Universität Wien vgl. Martin Wagendorfer, Eneas Silvius Piccolomini und die Wiener Universität – Ein Beitrag zum Frühhumanismus in Österreich, in: Enea Silvio Piccolomini nördlich der Alpen. Akten des interdisziplinären Symposions vom 18. bis 19. November 2005 an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hg. von Franz Fuchs (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance und Humanismusforschung 2007, Wiesbaden 2008) 21–52, sowie zuletzt ders., Noch einmal: Trient, Biblioteca Capitolare, Cod. 86. Ein frühes Zeugnis für die Piccolomini-Rezeption an der Wiener Universität? MIÖG 128 (2020) 147–154, dort 148 Anm. 4 weiterführende Literatur zu Piccolomini.

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Martin Wagendorfer

und Werktitel in der jährlichen Verteilung auf, die davor nie behandelt worden sind. So lesen laut Vorlesungsverteilung vom 1. September 1451 Philipp Mautter von Stockerau zur rethoricam novam Tulii und ein gewisser Paul von Bamberg zu Terenz5. Ab 1454 folgen dann Georg von Peuerbach (u. a. Vergil, Aeneis; Horaz) und Johannes Mandl/Mendl (u. a. Terenz; Lucan) mit mehreren einschlägigen Themen in den nächsten Jahren, 1461 kommt noch Johannes Regiomontan (Vergil, Bucolica) hinzu. Danach brechen die Vorlesungen zu antiken Klassikern zunächst ab, ehe sie Ende des Jahrzehnts wieder einsetzen6. Während die Astronomen Georg von Peuerbach7 und Johannes Regiomontan8 gut bekannt und ihre humanistischen Interessen bzw. Kontakte auch abseits ihres Lehrveranstaltungsangebots gut bezeugt sind9 und Johannes Mendl/Mandl zumindest in einschlägigen humanistischen Netzwerken nachgewiesen werden kann10, weiß man – abgesehen von ihrem Studiengang in Wien – über Philipp Mautter von Stockerau11 und Paul von Bamberg12 bisher   AFA III (Universitätsarchiv Wien, Cod. Ph 8), fol. 52r.   Grossmann, Frühzeit (wie Anm. 1) 227. 7  Zu ihm Hermann Haupt, Art. Peurbach, Georg von. NDB 20 (2001) 281f.; Helmuth Grössing, Art. Peuerbach, Georg (von) (G. Aunpeck). VL2 7 (1989) 528–534, sowie den Sammelband Der die Sterne liebte. Georg von Peuerbach und seine Zeit, hg. von dems. (Wien 2002) (jeweils mit der älteren Literatur). 8 Vgl. Helmuth Grössing, Art. Regiomontanus (Müller), Johannes. VL2 7 (1989) 1124–1131, sowie das Addendum ebd. 11 (2004) 1291, und Menso Folkerts–Andreas Kühne, Art. Regiomontanus, Johannes. NDB 21 (2003) 270f.; zuletzt Michela Malpangotto, Vienne, Rome, Nuremberg: Regiomontanus et l’humanisme, in: Europe et sciences modernes. Histoire d’un engendrement mutuel, hg. von Vincent Jullien– Efthymos Nicolaidis–Michel Blay (Dynamiques citoyennes en Europe 2, Bern u. a. 2012) 105–132. 9   Vgl. etwa zur mutmaßlichen Büchersammlung Georgs Karl-Georg Pfändtner, Eine spätmittelalterliche Wiener Gelehrtenbibliothek: die Büchersammlung des Hofastronomen Georg Peuerbach (1423–1461)? MIÖG 115 (2007) 121–133. 10   Zur komplizierten Identifizierung Johannes Mendls vgl. Martin Wagendorfer, Bischof Johann von Eych an der Wiener Universität, in: Reform und früher Humanismus in Eichstätt. Bischof Johann von Eych (1445–1464), hg. von Jürgen Dendorfer (Eichstätter Studien 69, Regensburg 2015) 47–64, hier 58–61 mit der älteren Literatur zu Mendl 58 Anm. 57. 11   Philippus Mautter de Stockerau oder Wyenna immatrikulierte sich im Wintersemester 1440 an der Universität Wien – Die Matrikel der Universität Wien 1: 1377–1450 (Publikationen des IÖG. VI. Reihe: Quellen zur Geschichte der Universität Wien. 1. Abteilung: Die Matrikel der Universität Wien, Graz–Köln 1956) (hinfort: MUW) 218 (1440 II A 20): Philippus Mautter de Stokheraw 4 gr. – und wurde laut den Akten der artistischen Fakultät am 2. Jänner 1444 zur Determination (B. A., Acta Facultatis Artium II [Universitätsarchiv Wien, Cod. Ph 7] [hinfort: AFA II], fol. 162v: Philippus Mawtter de Wyenna), am 12. März 1446 zur Inceptio (M. A., AFA II, fol. 177v: Philippus Mauter de W[yenna]) zugelassen; in den Folgejahren finden wir ihn jeweils im Rahmen der Vorlesungsverteilung vom 1. September erwähnt: 1448: AFA III (wie Anm. 5), fol. 7v: Magister Philippus de Wienna Arithmeticam communem; fast unmittelbar hinter Paul von Bamberg; 1449: AFA III, fol. 22r: Magister Philipus de Wienna Theoricas planetarum (der Werktitel ist erst nach dem folgenden Magister, Iohannes de Stuckardia, eingetragen, und dürfte sich auf beide beziehen [?]); 1451: AFA III, fol. 52r: Magister Philippus Mautter Rethoricam novam Tulii, erneut fast unmittelbar hinter Paul von Bamberg; 1452: AFA III, fol. 62r: Magister Philippus de Wyenna Algorismum, unmittelbar hinter Paul von Bamberg; am 29. November 1451 wird er als Examinator der sächsischen Nation für das Bakkalarsexamen genannt (AFA III, fol. 55r: Philippus Mautter de Wyenna). Philipp Mautter scheint dann sein Studium an keiner höheren Fakultät in Wien fortgesetzt zu haben, jedenfalls wird er in den einschlägigen Matrikeln bzw. Akten mit einer möglichen Ausnahme nicht erwähnt: Im Wintersemester 1448 beauftragte die Wiener theologische Fakultät bei der Verteilung der Predigten auch einen Philippus de Wynna mit einer Predigt, vgl. Die Akten der Theologischen Fakultät der Universität Wien (1396–1508), 2 Bde., ed. Paul Uiblein (Wien 1978) 1 232: item sermonem Iohannis ewangeliste patroni theologie magister Philippus de Wynna, der von Paul Uiblein mit Philipp Mautter de Stockerau/Wienna identifiziert wird, vgl. ebd. 694 (Register). Philippus de Wynna scheint aber nicht Theologie studiert zu haben, jedenfalls taucht er an keiner weiteren Stelle in den Akten der theologischen Fakultät auf. 12  Es sei denn, es träfe die von Alexander Rausch, Netzwerke lokaler Komponisten in Wien um 1430, in: Musikalische Repertoires in Zentraleuropa (1420–1450). Prozesse und Praktiken, hg. von Alexander Rausch– 5 6



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fast nichts: außerhalb der Wiener Universitätsquellen scheint die prosopographische Forschung zu den beiden noch keine weiteren Belege aufgetan zu haben, und zwar weder in Hinsicht auf ihre Biographie noch auf allfällige humanistische Interessen abseits der Wahl ihrer Vorlesungstexte. Letzteres muss nicht unbedingt verwundern, ist es doch gerade für die frühen Rezipienten des italienischen Renaissance-Humanismus nicht untypisch, dass sie eine eher passive Rolle einnehmen, also noch nicht selbst in humanistischer Manier zur Feder greifen, und somit über ihre literarische Produktion oder als Briefpartner anderer Humanisten häufig nicht zu greifen sind. In einem solchen Falle bleiben methodisch zwei Wege, mittels derer sich das Interesse einer Person für den Humanismus erhärten lässt: einerseits durch die Rekonstruktion ihrer Büchersammlung, andererseits durch ihre Rezeption der humanistischen Schrift. Gerade in den letzten Jahren ist auf letzterem Gebiet die paläographische Forschung insbesondere für den österreichischen Raum gut vorangekommen: In einer beim Jubilar angefertigten Dissertation konnte Daniel Luger das Eindringen humanistischer Schriftformen in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III. en detail nachzeichnen13; was die Wiener Universität betrifft, wurden vor kurzem erstmals die Akten der artistischen Fakultät systematisch nach humanistischen Einflüssen in der Schrift der aktenführenden Dekane untersucht14. Dabei konnte gezeigt werden, dass etwa ab dem Beginn des letzten Viertels des 15. Jahrhunderts Belege für humanistisch beeinflusste Schriften in den Artistenakten zu finden sind, deren Dichte bis zur Jahrhundertwende zunimmt15. In methodischer Hinsicht sind die Akten der Wiener artistischen Fakultät für eine solche Untersuchung in besonderem Maße geeignet, da der amtsführende, jedes Semester wechselnde Dekan praktisch durchwegs auch die Akten im betreffenden Semester eigenhändig führte, womit eine Schriftzuweisung fast immer eindeutig erfolgen kann. Schwieriger in dieser Hinsicht auszuwerten sind die Akten der anderen Wiener Fakultäten (soweit erhalten)16 sowie insbesondere die Matrikelbestände17, bei denen die eigenhändige Björn Tammen (Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge 26, Wien–Köln–Weimar 2014) 113–132, hier 127– 129, erwogene These zu, der im Mensuralcodex St. Emmeram genannte und gemeinhin mit Peter Schweikl aus Regensburg identifizierte Sweikl sei mit Paul Sweiker von Bamberg identisch. Dann könnte man immerhin von einer Verbindung zum Hauptschreiber des St. Emmeramer Codex, Hermann Pötzlinger, ausgehen. 13  Daniel Luger, Humanismus und humanistische Schrift in der Kanzlei Friedrichs III. (1440–1493) (MIÖG Ergbd. 60, Wien 2016). 14  Martin Wagendorfer, Universitätsakten anders gelesen – Kulturtransfer, Transformation und die Humanistica nördlich der Alpen, in: Change in Medieval and Renaissance Scripts and Manuscripts. Proceedings of the 19th Colloquium of the Comité international de paléographie latine (Berlin, September 16–18, 2015), hg. von Martin Schubert–Eef Overgaauw (Bibliologia. Elementa ad librorum studia pertinentia 50, Turnhout 2019) 197–238. 15  Ebd. 225f. 16   Vgl. zuletzt zu dieser Frage mit einigen Irrtümern und nicht immer verlässlichen Ergebnissen Anette Löffler, Haben die Dekane der Wiener Medizinischen Fakultät in den Fakultätsakten (1399–1500) selbst geschrieben? Paläographische Überlegungen zu den eintragenden Händen. Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 102 (2018) 3–32. So entgeht der Verfasserin (vgl. ebd. 5: „Um die eintragenden Hände bestimmten Dekanen richtig zuweisen zu können, wäre es sehr nützlich, wenn weitere autographe Zeugnisse vorlägen, was aber nicht der Fall ist.“) u. a. der Umstand, dass in den Akten der anderen Wiener Fakultäten, insbesondere jenen der artistischen, durchaus Autographa späterer medizinischer Dekane vorliegen und zur Identifizierung beitragen können. 17   Vgl. die diesbezüglichen Bemerkungen in Die Matrikel der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät – Matricula Facultatis Juristarum Studii Wiennensis. II. Band 1442–1557, bearb. und eingeleitet von Severin Matiasovits, hg. von Thomas Maisel–Johannes Seidl (Publikationen des IÖG VI. Reihe: Quellen zur Geschichte der Universität Wien, 3. Abteilung: Die Matrikel der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Wien 2016) XVIII–XXI.

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Führung durch den Rektor oder Dekan oder, im Falle der Matrikel der Rheinischen Nation, den Prokurator nicht so eindeutig gegeben ist und in diesen Fällen des Öfteren nicht der Amtsinhaber persönlich zur Feder gegriffen hat. Dennoch kann man auch hier bei methodischem Vorgehen zu relativ gesicherten Ergebnissen kommen: Sicherheit oder hohe Wahrscheinlichkeit über die Identität einer Hand ist dann zu gewinnen, wenn in anderen Wiener Universitätsquellen (wie eben etwa in den Artistenakten) oder außerhalb davon hinreichend gesicherte eigenhändige Zeugnisse des entsprechenden Amtsinhabers überliefert sind oder wenn ein Amtsinhaber mehrfach das entsprechende Amt (eines Rektors, Dekans oder Prokurators etc.), das mit der Führung der Akten oder Matrikel verbunden war, bekleidete. In letzterem Falle kann man dann mit einiger Sicherheit von autographen Einträgen ausgehen, wenn gerade und nur in jenen Semestern, in denen der Amtsinhaber die betreffende Funktion innehatte, dieselbe Hand in den Akten oder Matrikeln erscheint18. Wechselt hingegen die Hand innerhalb dieser Einträge und/oder ist dieselbe Hand gar auch im Semester vor oder nach der Amtszeit des betreffenden Funktionärs anzutreffen, ist kaum anzunehmen, dass hier Eigenhändigkeit vorliegt. Tatsächlich lässt sich auf diesem Wege und in einem Quellenbestand, der bisher noch nie in paläographischer Hinsicht befragt wurde19, nämlich in der Matrikel der Rheinischen Nation, wahrscheinlich machen, dass Paul von Bamberg nicht nur in seinem Vorlesungsangebot, sondern auch in seiner Schrift humanistische Einflüsse erkennen lässt. Werfen wir aber zunächst einen Blick auf den Studiengang Pauls von Bamberg, wie er aus den Wiener Universitätsquellen rekonstruierbar ist: Paul Sweiker/Swicker von Bamberg begegnet uns hier erstmals 1439: In diesem Jahr immatrikulierte er sich im Sommersemester an der hiesigen Universität20 und absolvierte dann offensichtlich recht zügig ein Studium an der Wiener Artistenfakultät: Am 13. Oktober 1441 wurde er zur Determinatio (B.A.)21, am 18. Februar 1446 zur Inceptio (M.A.) zugelassen22. Anschließend las er bei den Artisten und ist in den Vorlesungszuteilungen am 1. September der Jahre 144623, 144824, 145025, 1451 (zu Terenz)26 und 145227 nachweisbar. Schon im Sommersemester 1450 immatrikulierte er sich an der Wiener juridischen Fakultät28, wo er (sozusagen in „Mindeststudienzeit“29) im Wintersemester 1454 zum Baccalareus in decretis promoviert wurde30 und im Sommersemester 1460 das Licentiat erlangte31.   So schon Löffler, Haben die Dekane (wie Anm. 16) 6   Zu diesem Aspekt äußert sich auch nicht die ungedruckte Dissertation von Martin G. Enne, Die Rheinische Matrikel der Universität Wien. Sozioökonomische und wissenschaftsgeschichtliche Studien zu süd- und südwestdeutschen Studenten an der Universität Wien im 15. und 16. Jahrhundert (1415–1470) (Diss. Wien 2017), die mir der Verfasser freundlicherweise zur Verfügung stellte, wofür ihm herzlich gedankt sei; gleiches gilt für die vorangegangene Magisterarbeit: ders., Teiledition der Matrikel der Rheinischen Nation der Universität Wien. 1415–1442 (MA Wien 2010). 20  MUW I (wie Anm. 11) 211 (1439 I R 72): Paulus Swicker de Pamperg 4 gr. 21  AFA II (wie Anm. 11), fol. 147r: Paulus Sweiker der Bamberga. 22  AFA II (wie Anm. 11), fol. 173v: Paulus de Babenberga. 23  AFA II (wie Anm. 11), fol. 176r: Magister Paulus de Pabenberga Donatum minorem. 24  AFA III (wie Anm. 5), fol. 7v: Magister Paulus de Babenberga Algorismum de integris. 25  AFA III (wie Anm. 5), fol. 37v: Magister Paulus de Babnberga Parva naturalia. 26  AFA III (wie Anm. 5), fol. 52r: Magister Paulus de Babenberga Therencium. 27  AFA III (wie Anm. 5), fol. 62r: Magister Paulus de Babenberga Donatum minorem. 28  Die Matrikel, bearb. Matiasovits (wie Anm. 17) 12 (1450 I 15): Magister Paulus Sweicker de Bamberga 2 gr. 29  Für den Erwerb des kanonistischen Baccalariats waren in Wien vier Jahre vorgesehen, vgl. ebd. XIV. 30  Ebd. 18 (1454 II 8): Magister Paulus de Bamberga pro baccalariatu 1 fl. 31  Ebd. 25 (1460 I 9): Magister Paulus de Bamberga ante repeticionem III fl. Hung. 18 19



Ein bisher unbekanntes Autograph Paul Sweikers von Bamberg 379

Darüber hinaus ist er auch mehrfach in der Matrikel der Rheinischen Nation zu finden: Zunächst erscheint er unter den im Sommersemester 1440 eingetragenen scolares32, dann unter den im Sommersemester 1447 eingetragenen magistri33. Danach bekleidete er – und hier wird es nun in paläographischer Hinsicht interessant – fünf Mal das Amt des Prokurators der Rheinischen Nation, erstmals im Wintersemester 1455/5634. Hier handelt es sich ganz sicher um kein Autograph des Bambergers, wie leicht aus der Tatsache zu erkennen ist, dass die Hand des Eintrags identisch ist mit jener, die bei der 1461 erfolgten Anlage der Handschrift den aus einer Vorlage übernommenen Anfangsteil ab 1415 kopiert hat35 – noch bei der zweiten Übernahme des Prokuratorenamtes durch Sweiker nahm diese Hand im Wintersemester 1459/6036 den entsprechenden Eintrag der Wahl des Prokurators und der folgenden Namensliste vor. Diese Hand schrieb in der Folge noch sämtliche Einträge bis inklusive Sommersemester 146137. Nach den letzten beiden zu diesem Semester gehörenden Namen38 bietet nun aber der folgende Eintrag zum Wintersemester des Jahres 1461/62 ein ganz anderes Schriftbild. Es handelt sich hier um den Vermerk über die dritte Wahl von Paul Sweiker zum Prokurator der rheinischen Nation39: Procuracia tercia magistri Pauli Sweicker de Babenberga decretorum licentiati. Anno Domini MoCCCCoLXIo in die sancti Martini confessoris electus fuit in procuratorem nacionis Renensis inclite magister Paulus Sweicker de Babenberga decretorum licenciatus, qui recepto computo ab honorabili et scientifico artium liberalium magistro domino Ludovico Stamkircher de Augusta in sacra theologia baccalario nacionis iam fate precedente procuratore in presentia venerabilium ac scientificorum dominorum et magistrorum Sifridi de Halprunna, Conradi Selder de Rtenacker baccalari formati in theologia ac Martini ­Hainczll de Memingen baccalari in eadem et racione facta defalcatis singulis defalcandis percepit a prefato procuratore decem et septem florenos Hungaricales, duodecim florenos Renenses et LX denarios, qui quidem floreni omnes positi sunt ad archam clausam nationis prenotate depositam cum antedicto magistro Sifrido in collegio ducali. Acta sunt hec IX mensis Decembris anno quo supra. Hierbei handelt es sich nun mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich um ein Autograph Paul Sweikers. Dies erhellt aus zwei Beobachtungen: Zunächst ist die Hand des Eintrags nicht identisch mit jenen der Einträge zum vorhergehenden bzw. zum folgenden Semester (das heißt also zu den Sommersemestern 1461 und 1462). Interessanterweise scheinen mit dem Wintersemester 1461/62 nun tatsächlich die Hände mit jedem Semester zu wechseln, sodass man schon deswegen (vorbehaltlich einer genauen paläographischen Untersuchung, die noch vorgenommen werden müsste) zumindest von phasenweisen eigenhändigen Einträgen der Prokuratoren ab diesem Zeitpunkt wird ausgehen müssen. Für Sweiker erhärtet sich diese These nun zum anderen durch einen weiteren Umstand: Die Hand des Eintrags zum Wintersemester 1461/62 ist nämlich identisch mit jener, die uns   Archiv der Universität Wien, Cod. NR 1 (hinfort: RhM), fol. 69r: Paulus Sweikcher de Bamberga.   RhM (wie Anm. 32), fol. 84v: Magister Paulus Sweicker de Pabenberga (mit dem späteren Zusatz: obiit ut licenciatus iuris canonici). 34  RhM (wie Anm. 32), fol. 113r, vgl. Abb. 1. 35   So schon Rudolf Kink, Mittheilungen aus dem Matrikelbuche der rheinischen Nation bei der k. k. Universität Wien (Wien [1853]) 1; andeutungsweise, ohne paläographischen Befund und mit Präzisierung zu Kink auch Enne, Die Rheinische Matrikel (wie Anm. 19) 17. 36  RhM (wie Anm. 32), fol. 122r, vgl. Abb. 2. 37  RhM (wie Anm. 32), fol. 124v–128r. 38  RhM (wie Anm. 32), fol. 128r oben. 39  RhM (wie Anm. 32), fol. 128r, vgl. Abb. 3. 32 33

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Martin Wagendorfer

Abb. 1: Archiv der Universität Wien, Cod. NR 1, fol. 113r.

in den Akten der Rheinischen Nation dort begegnet, wo Paul Sweiker erneut, und nun zum vierten Mal, das Amt des Prokurators derselben übernahm, nämlich im Wintersemester 1465/6640. Der Unterschied zu den anderen Händen, die sich in unmittelbarer Nähe 40

  RhM (wie Anm. 32), fol. 136v, vgl. Abb. 4.



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Abb. 2: Archiv der Universität Wien, Cod. NR 1, fol. 122r.

der Einträge Sweikers befinden, ist frappierend. Handelt es sich bei jenen praktisch durchwegs um reine gotische Kursiven bzw. Bastarden, ist die Schrift Sweikers ganz ohne Zweifel stark humanistisch beeinflusst41, auch wenn der allgemeine Eindruck ein etwas anderer als 41   Zu den Kennzeichen der Humanistica im Überblick vgl. Martin Wagendorfer, Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini (StT 441, Città del Vaticano 2008) 16–24 (mit der älteren Literatur).

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Martin Wagendorfer

Abb. 3: Archiv der Universität Wien, Cod. NR 1, fol. 128r.

jener italienischer Humanistenhände ist: Der Hauptteil des Eintrags von 1461, beginnend mit Anno Domini, zeigt eine Minuskel, die (mit einer Ausnahme42) durchwegs gerades d, gerades r (auch nach o, p usw.; Ausnahme ist die -orum-Kürzung) und stark überwiegend 42

 In denarios in der drittletzten Zeile von fol. 128r.



Ein bisher unbekanntes Autograph Paul Sweikers von Bamberg 383

Abb. 4: Archiv der Universität Wien, Cod. NR 1, fol. 136v.

gerades Schluss-s aufweist. Zwar liegen keine ct- und et-Ligatur vor und ist mit dem 3erSchluss-m in eadem ein konservatives Element präsent, aber auch der allgemeine Eindruck der Schrift bestätigt den humanistischen Einfluss: Sweiker reduziert Kürzungen erheblich, verzichtet völlig auf Schlingenbildung und Bogenverbindungen und erzielt so ein überaus klares und einheitliches Schriftbild, das in deutlichem Kontrast zur vorher schreibenden

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Martin Wagendorfer

Abb. 5: Archiv der Universität Wien, Cod. NR 1, fol. 140r.

gotischen Hand steht. Der Eintrag Sweikers zum Wintersemester 1465/643 weist grosso modo dieselben Charakteristika auf: keinerlei Schlingenbildung und Bogenverbindungen, wenige Kürzungen sowie ein klares und deutliches Schriftbild erzeugen wieder einen deut43

  RhM (wie Anm. 32), fol. 136v.



Ein bisher unbekanntes Autograph Paul Sweikers von Bamberg 385

lichen Kontrast zur nachfolgenden gotischen Hand. Allerdings sind hier gerades d und gerades Schluss-s nicht so konsequent gehandhabt wie im Wintersemester 1461/62, rundes d und rundes Schluss-s sind an einigen Stellen zu beobachten – wohl ein Indiz dafür, dass Sweiker sich die Schrift noch nicht völlig angeeignet hatte. Unter Umständen könnte der Grund für diese Inkonsequenz auch darin liegen, dass der Eintrag generell flüchtiger aussieht als jener zum Wintersemester 1461/62, insbesondere dort, wo Sweiker nun, anders als im genannten Semester, tatsächlich auch Namen in die Matrikel eintrug – hier wirkt die Schrift so flüchtig, dass sie beinahe wieder einen gotischen Eindruck macht, auch wenn sich die Einzelformen kaum geändert haben: es überwiegt noch immer deutlich gerades d, allerdings liegt in dieser Passage fast konsequent rundes Schluss-s vor. Hinzu kommt noch ein weiteres Indiz: Paul Sweiker scheint auch der einzige Prokurator der Rheinischen Nation bis weit ins 16. Jahrhundert (!) zu sein, der sich in seinen Einträgen auch an einer Kapitalis versuchte. In seinem ersten (mutmaßlich) autographen Eintrag zum Wintersemester 1461/62 besteht die dreizeilige Überschrift durchwegs aus Kapitalisbuchstaben, im Eintrag vom Wintersemester 1465/6 verwendet der Bamberger für die Überschrift Minuskelschrift, jedoch für die Eingangsworte des Eintrags (Anno Domini MoCCCCoLXVo) wiederum Kapitalis. Dass auch die Kapitalis nicht annähernd das Aussehen des antiken Vorbildes bzw. der Renaissance-Kapitalis erreicht44 (man vergleiche etwa den deutlichen Deckbalken auf dem A oder den gebogenen Schaft des T, völlig verzichtet wird auf Wechsel zwischen Haar- und Schattenstrichen usw.), passt gut zur Minuskel Sweikers, in der er, wie oben gezeigt, auch nicht zu einer in den Einzelformen „reinen“ Humanistica gelangt. Dennoch wird man allein den Versuch der Gestaltung in Kapitalis als weiteres Indiz für sein Interesse für den Humanismus werten dürfen. Ganz sicher kein Autograph Sweikers ist hingegen der Eintrag zu seiner fünften Amtszeit als Prokurator der Rheinischen Nation im Wintersemester 1467/6845. Die hier tätige gotische Hand, die keinerlei humanistische Einflüsse erkennen lässt, schreibt nämlich auch im folgenden Semester weiter. Würde man dahinter die Hand Sweikers vermuten, müsste man nicht nur erklären, warum er auch den folgenden Eintrag durchgeführt hat, sondern auch zwingend annehmen, dass die Einträge zu seiner dritten und vierten Amtszeit als Prokurator von anderer Hand stammen, obwohl beide von ein und derselben Hand, die nirgendwo sonst in der gesamten Handschrift auftaucht, geschrieben sind. Unabhängig davon, ob die oben vorgeschlagene Identifizierung der Einträge für die Wintersemester der Jahre 1461/62 sowie 1464/65 mit der Hand Paul Sweikers zutrifft, so haben wir es in jedem Fall mit außergewöhnlich frühen, ja vielleicht mit den frühesten Zeugnissen einer humanistisch beeinflussten Schrift in den Wiener Universitätsquellen 44  Zur Rezeption der Renaissancekapitalis in Österreich und Wien vgl. jüngst ausführlich Andreas Zajic, Epigraphisch-antiquarischer Habitus und literarische Stilübung, oder: Wie gestaltet und beschreibt man ein Grabmal „humanistisch“?, in: Der Kaiser und sein Grabmal 1517–2017. Neue Forschungen zum Hochgrab Friedrichs III. im Wiener Stephansdom, hg. von Renate Kohn unter Mitarbeit von Sonja Dünnebeil–Gertrud Mras (Wien–Köln–Weimar 2017) 369–416; zu frühen humanistischen Ambitionen in Auszeichnungsschriften vgl. ders., „Humanistische Ambitionen“ in der Schriftgestaltung zur Zeit Kaiser Friedrichs III. Zwei österreichische Beispiele aus handschriftlicher und inschriftlicher Überlieferung. AfD 59 (2013) 603–636. Fast scheint es, als würde Paul von Bamberg hier eine Inschrift imitieren wollen (vgl. etwa die Punkte als Worttrenner, die Nodi in I und S oder die Kürzungsstriche mit Ausbuchtungen, die er dann auch im folgenden, in Minuskel geschriebenen Teil des Eintrags verwendet. Ich danke Herrn Dr. Franz-Albrecht Bornschlegel sehr herzlich für einschlägige Hinweise). 45  RhM (wie Anm. 32), fol. 140r, vgl. Abb. 5.

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Martin Wagendorfer

Abb. 6: Archiv der Universität Wien, Cod. NR 1, fol. 163v–164r

zu tun: In den Akten der artistischen Fakultät können solche Schriften erst rund ein Jahrzehnt später das erste Mal nachgewiesen werden46, in den erhaltenen Akten der übrigen Fakultäten ist dies noch später der Fall47. In der Rheinischen Matrikel selbst treten die nächsten humanistisch beeinflussten Hände ebenfalls erst rund ein Jahrzehnt später auf: Zunächst handelt es sich um den Eintrag des (immer unter der Voraussetzung, dass es 46 47

  S. oben Anm. 14.   Wagendorfer, Universitätsakten anders gelesen (wie Anm. 14) 226 (1480er Jahre).



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sich auch hier um eigenhändige Einträge handelt) bisher ebenso wie Paul Sweiker in der Forschung weitgehend unbekannten Magister Georgius Püeczcka/Püczga/Botschgai de Dinckelspuhel48, der im Sommersemester 1477 das Amt des Procurators der Rheinischen

48   RhM (wie Anm. 32), fol. 163v–164r, vgl. Abb. 6. Er schreibt eine nun tatsächlich ganz stark humanistisch geprägte Buchkursive mit et- und ct-Ligatur, e-caudata, geradem g und geradem r und wechselndem (geradem und rundem) Schluss-s und vermeidet Kürzungen fast völlig.

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Martin Wagendorfer

Nation bekleidete49, dann, gleich im folgenden Wintersemester 1477/78, um den besser bekannten Magister Johannes Kaltenmarkter50. Wo Paul von Bamberg, wenn es sich wirklich um seine Hand handelt, mit der Humanistica in Berührung gekommen ist, wissen wir nicht: Zumindest in Padua studierte er offenbar nicht51, auch sonst scheint es für einen Italienaufenthalt des Franken zumindest bisher keinen Beleg zu geben. Somit wäre eher mit einem Kontakt (vermittelt von Humanisten oder humanistisch interessierten Personen und/oder Handschriften mit einschlägigem Schriftbild) mit der Humanistica nördlich der Alpen zu rechnen, womit sich Sweiker gut in die Reihe jener Personen einreihen würde, die in den Wiener Artistenakten ein humanistisch beeinflusstes Schriftbild erkennen lassen und deren überwiegender Teil ebenso nicht in Italien nachgewiesen werden kann52.

49   Seine akademische Laufbahn in Wien seit seiner Immatrikulation im Sommersemester 1467 zusammengestellt in Akten, ed. Uiblein (wie Anm. 11) 644 (Register, dort auch das Todesdatum 1493, das der Rheinischen Matrikel zu entnehmen ist), und Die Matrikel, bearb. von Matiasovits (wie Anm. 17) 132 (Register). 50  Zu ihm und seiner akademischen Laufbahn Hermann Göhler, Das Wiener Kollegiat-, nachmals Domkapitel zu Sankt Stephan in Wien 1365–1554, hg. von Johannes Seidl–Angelika Ende–Johann Weissensteiner (Wien 2015) 411–414 (auf veraltetem Forschungsstand [1932]), sowie Akten, ed. Uiblein (wie Anm. 11) 656 (Register, mit der älteren Literatur), und Die Matrikel, bearb. von Matiasovits (wie Anm. 17) 138 (Register). 51  Jedenfalls scheint er nicht auf bei Melanie Bauer, Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert. Eine prosopographisch-personengeschichtliche Untersuchung (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 70, Neustadt a. d. Aisch 2012). 52  Wagendorfer, Universitätsakten anders gelesen (wie Anm. 14) 227.

Von der Macht der Symbole im östlichen Europa oder „Und ewig wachen die Adler“ Marija Wakounig

Nach der Wende (1989/1991) im östlichen Europa wurden auch die Symbole der kommunistischen bzw. staatssozialistischen Macht – der Hammer, der fünfzackige Stern und die Sichel – verdrängt1, nachdem sie den geographisch näheren sowjetischen ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten als Wappenfiguren entweder gar nicht (Polen) oder nur sukzessive ab Ende der 1940er Jahre (1949 Ungarn, 1960 Tschechoslowakei2) aufgedrängt hatten werden können – ganz im Gegensatz zu den südosteuropäischen Staaten, die bis auf Bulgarien und Rumänien (1948) ziemlich rasch ihre historischen Wappen aufgegeben und als Zeichen der Zugehörigkeit eine oder mehrere Figuren in die neuen Embleme integriert hatten3. Im vorliegenden Beitrag erfolgt eine Beschränkung auf ausgewählte Symbole und Staaten, wobei sich die Auswahl an Symbolen an dem Staatssymbolik-Begriff von Pål Kolstø4 und Isabelle de Keghel orientiert, die darunter Wappen, Flagge und Hymne verstehen. De Keghel interpretiert diese als „lieux de mémoire“ nach Pierre Nora, also als Orte, „die helfen, das historische Gedächtnis und die kollektive Identität im öffentlichen Raum aufrechtzuerhalten und zu strukturieren“5. Die Änderung von Staatssymbolen während der Transformation war mit einer gewissen Sprachlosigkeit verbunden, die so den Rückgriff auf „alte symbolische Formen“ ermöglichte, um dem „Defizit an Ausdrucksmöglichkeiten nach dem Zusammenbruch der alten symbolischen Ordnung entgegenzuwirken“6. Wie 1  Zum inspirierenden Titel vgl. Jan Kubik, The Power of Symbols against the Symbols of Power. The Rise of Solidarity and the Fall of the State Socialism in Poland (University Park, PA 1994). 2  Sbírka zákonů Československé socialistiské republiky, Nr. 163 §1/1960: Zákon o státním znaku a o státní vlajce [Gesetzessammlung der Tschechslowakischen Republik, Gesetz über staatliche Symbole und über die Staatsflagge]; Jana Starek, Die Tschechische Republik zwischen nationaler Identität und europäischer Integration, in: Quo vadis EU? Osteuropa und die Osterweiterung, hg. von Iskra Schwarcz–Arnold Suppan (Europa Orientalis 5, Berlin–Wien 2008) 145–177. 3  Siehe dazu https://www.flaggenlexikon.de [2. 11. 2019]. 4 Pål Kolstø, Nationale Symbole in neuen Staaten. Zeichen von Einheit und Spaltung. Osteuropa 7 (2003) 995–1014, hier 998. 5 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 16, Berlin 1990) 11–33; Isabelle de Keghel, Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel. Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität (Arbeitspapiere und Materialien 53, Bremen 2003) 25. Siehe dazu auch die Monographie von ders., Die Staatssymbolik des neuen Russland. Traditionen – Integrationsstrategien – Identitätskurse (Analysen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa 21, Münster 2008). Dieser Beitrag folgt dem 2003 publizierten Aufsatz von de Keghel. 6  Hier bezieht sich de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 26, auf die Thesen von Arnold van Gen-

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der Untertitel des vorliegenden Beitrages „Und ewig wachen die Adler“ andeutet7, werden in erster Linie Adler Gegenstand der Untersuchung sein, die bis 1917/1918 als Wappentiere über die beiden hier behandelten Staaten wachten: Russland wurde deswegen gewählt, weil nach 1991 seine Grenzen nahezu jene Ausdehnung hatten und seine Embleme ein ähnliches Aussehen aufwiesen wie um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Polen, das seine Eigenstaatlichkeit nach 1918 zum zweiten Mal wiedererlangte, eignet sich als Vergleichsbeispiel hervorragend, weil nach dem Umbruch mit einem traditionellen, nur geringfügig veränderten Wappen das vorangegangene Regime staatssymbolisch ausgelöscht wurde, und auch, weil das dreigeteilte Polen von 1772–1918 quasi von den Flügeln dreier schwarzer Adler (Russland, Preußen/Deutschland, Österreich) bewacht und beherrscht wurde. Augenmerk geschenkt werden soll Fragen, warum, ab wann (1988ff.) und von wem die Initiative für die Änderung der Hoheitszeichen ausging – nach dem Motto, „wer im Besitz der Symbole ist, hat die Macht“8 –, zumal dies Rückschlüsse darauf zulässt, ab wann die kommunistische Macht, wenn auch kaum merkbar, an Terrain verlor und ob man diesen Trend aufzuhalten versuchte. Im Zuge dessen wird auch zu klären sein, wer darüber bestimmte, welche Symbole die neue Macht und Herrschaft repräsentieren und legitimieren sollten („wer die Macht hat, braucht Symbole“9), ob man die neuen bzw. wieder eingeführten Symbole kommunizierte, ob die Übergangszeit für einen raschen Symbolwechsel ausgenützt wurde und ob man sich bezüglich der Einführung neuer Staatssymbole für einen demokratischen Staat der alten politischen Praktiken bediente.

Zur Staatssymbolik der Russländischen Föderation Bereits im Juni 1990, eineinhalb Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991, standen mit der Souveränitätserklärung Russlands10 die kommunistischen Hoheitssymbole Hammer, Stern und Sichel, aber auch die sowjetische Staatshymne zur Disposition. Der Findungsprozess für eine neue Staatssymbolik begann im November 1990, als die russländische Regierung (RSFSR) das Komitee für Archivangelegenheiten11 damit beaufnep, Übergangsriten (Frankfurt–New York–Paris 1999) 21, und von Serguei Oushakine, In the State of PostSoviet Aphasia. Symbolic Development in Contemporary Russia. Europe-Asia Studies 6 (2000) 991–1016, hier 993–998. 7  Den (Unter-)Titel formuliert hat Ekkehard Kraft, Und ewig wachen die Adler. In Osteuropa sind die alten Staatssymbole zurückgekehrt. Neue Zürcher Zeitung (15. 7. 2002), https://www.nzz.ch/article89RL2-1.409224 [15. 11. 2019]. 8  Stefan Troebst–Wilfried Jilge, Zur Einführung. Staatssymbolik und Geschichtskultur im neuen Osteuropa. Osteuropa 53/7 (2003) 908f., hier 908. 9   Ebd.: „Wer im Besitz der Symbole ist, hat die Macht; und wer die Macht hat, braucht Symbole.“ 10   Zur politischen Entwicklung des allmählichen Zerfalls der Sowjetunion vgl. u. a. Margareta Mommsen, Das politisches System Rußlands, in: Die politischen Systeme Osteuropas, hg. von Wolfgang Ismayr (UTB 8186, Opladen 2002) 355–407, hier 355–361. 11   Vladimir A. Artamanov–Georgij V. Vilinbachov–Anna L. Choroškevič, Gerb i flag Rossii X–XX veka [Wappen und Flagge Russlands, 10.–20. Jahrhundert] (Moskva 1997) 503–508. – Am 20. Februar 1992 wurde der „Staatliche Dienst für Heraldik der Russländischen Föderation“ (Gosudarstvennaja geral‘dičeskaja služba Rossijskoj Federaciji) eingerichtet, der sich um den neuen Wappenentwurf kümmerte; dieser legte im Mai 1993 einen Entwurf vor; im November 1993 wurde eine neue Kommission eingesetzt, die die Arbeit der vorherigen evaluieren sollte – wahrscheinlich ging die Arbeit zu schleppend voran; diese legte einen neuen Entwurf vor, der am 30. November 1993 angenommen wurde. Vgl. Zeittafeln bei de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 142f.



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tragte, und endete im Mai 2007, als Präsident Vladimir Putin das „Gesetz zum Siegesbanner“ bestätigte. Während dieses langen Zeitraums von siebzehn Jahren12 haben die Präsidenten, Boris El‘cin (1991–1999) und Putin, wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung bzw. Entscheidungen genommen. El‘cin nämlich hatte nach dem Systemwechsel größere Schwierigkeiten, für die neuen Staatssymbole Akzeptanz zu finden, und war gezwungen, „mit provisorischen, nur durch Präsidialdekrete ... sanktionierten Staatssymbolen“ auszukommen. Putin hingegen profitierte vom Gewöhnungseffekt, von der Propaganda in den quasi staatlichen Massenmedien und von der „Integration sowjetischer Elemente“ in die Staatssymbolik, die ein Angebot an die in der UdSSR „sozialisierte Generation“ war13. Die Russländische Föderation stand ab 1992, als man sich verstärkt um neue Symbole der Macht und Herrschaft bemühte, vor der schwierigen Aufgabe, solche zu finden, die klar eine „Distanzierung von der kommunistischen Ideologie und vom Sowjetsystem zum Ausdruck“ brachten14, aber auch die russländische Staatlichkeit betonten, Traditionen und Werte Russlands repräsentierten und in der Lage waren, „Eintracht unter den Bürger/innen“ herzustellen15. Die von El‘cin eingesetzte Kommission, die alternative Symbole ausarbeiten sollte, liebäugelte ziemlich rasch mit den Staatssymbolen der Zarenzeit, und zwar mit der 1883 eingeführten und bis 1917 gültigen weiß-blau-roten Trikolore sowie dem bis ins Jahr 1497 zurückreichenden Doppeladler16, der 1561 mit dem Dra12   In den teils heftigen Diskussionen ging es nicht nur um ein neues Staatswappen, eine neue Staatsflagge oder eine neue Staatshymne – in Russland wurde sehr darauf geachtet, die Hymne als Staats- und nicht als Nationalhymne zu bezeichnen; somit waren alle Staatsbürger der Russländischen Föderation gemeint, nicht nur die Russinnen und Russen –, sondern um die gesamte Staatssymbolik, wie das Aussehen der Standarte des Präsidenten. Am 15. Februar 1994 führte El‘cin die weiß-blau-rote Standarte mit dem Staatswappen des Präsidenten der Russländischen Föderation ein. Am 15. April 1996 regelte El‘cin mit einem Präsidialakt das Hissen der roten „Flagge des Sieges“ zu bestimmten Anlässen (Gedenktage, Siegesfeiern zum Andenken an den Großen Vaterländischen Krieg etc.), siehe dazu de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 46f. Siehe dazu auch Kolstø, Nationale Symbole (wie Anm. 4) 1010, der bemängelt, dass sich El‘cin mit den Staatssymbolen zu viel Zeit ließ, so dass im Jänner 1998 der Versuch, die staatlichen Symbole gesetzlich absegnen zu lassen, scheiterte, d. h. die Russländische Föderation war während dieser Amtszeit „ein Staat ohne einigende und allgemein anerkannte nationale Symbole“. 13 Isabel de Keghel, Imperiales Erbe. Das heutige Russland und sein Staatswappen. Zeithistorische Forschungen/Studies in Comtemporary History 3 (2006) 138–144, hier 142, www.zeithistorische-forschungen.de/ site/40208591/default.aspx [10. 11. 2019]. Putin versuchte im Dezember 2000 alle möglichen Fraktionen im Boot zu haben: westliche Demokraten, slavophile Nationalisten und nochimmer-Kommunisten. Siehe dazu Kolstø, Nationale Symbole (wie Anm. 4) 1011. 14 De Keghel, Imperiales Erbe (wie Anm. 13) 139. Vgl. dazu auch dies., Staatssymbolik (wie Anm. 5) 27. 15  Zitat: De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 27. 16  Die Provenienz des Doppeladlers ist nicht restlos geklärt; es spricht ebenso vieles für eine byzantinische Herkunft wie für den Einfluss der Heiligen Römischen Reiches via Maximilian I. Der byzantinische Einfluss wird seit dem 18. Jahrhundert russischerseits vertreten (Argument: Translatio Imperii durch die Heirat Ivans III. mit der Nichte des letzten byzantinisches Basileos, Zoe-Sof‘ja, im Jahr 1472); für die Habsburg-These spricht das Auftreten des russischen Doppeladlers (1497 mit zwei Kronen) just zu dem Zeitpunkt, als das Großfürstentum diplomatische Beziehungen mit dem Heiligen Römischen Reich aufnahm und der Großfürst auf der Gleichrangigkeit mit dem Kaiser bestand; vgl. dazu u. a. Reinhard Frötschner, Großfürst Ivan III. von Moskau und das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Die frühneuzeitlichen Anfänge der deutsch-russischen Beziehungen im Spiegel der für die Reichsversammlungen von 1491–1493 einschlägigen Quellen. Altrussische Akten und Urkunden aus dem Moskauer Gesandtschaftsamt in deutscher Übersetzung, https://www.iosregensburg.de/fileadmin/doc/publikationen/Deutsche_Reichstagsakten_Froetschner.pdf. [10. 10. 2019] – der westliche Einfluss könnte auch damit argumentiert werden, dass der Reichs-Doppeladler für die Herrschaft des Kaisers stand (während ein einköpfiger Adler nur den König symbolisieren würde; vgl. dazu den Beitrag von Gustave Aleph, The Adoption of the Muscovy Two-Headed Eagle. A Discordant View. Speculum 41/1 [1966] 1–21), der byzantinische hingegen für den Dualismus Orthodoxie und Autokratie, sowie dass der schwarze Reichs-Doppeladler seit dem 15. Jahrhundert auf goldenem Grund dargestellt wurde, der byzantinische Adler

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chentöter als Brustschild von Ivan IV. als Staatswappen eingeführt und seit damals bis 1882 mehrfach gebessert worden war17. Um diese Präferenz staats- und mehrheitsfähig zu machen, waren verschiedene Faktoren zu berücksichtigen und entsprechend umzudeuten: Im zarischen Wappen, das für die Repräsentation eines christlichen, imperialen Reiches geschaffen worden war, widerspiegelte sich das Imperium im Wappentier, dem Doppeladler, in „den Varianten des Hoheitszeichens, auf denen die Titularwappen der eroberten Territorien abgebildet waren“18, und in den drei schwebenden Kronen. Letztere symbolisierten die drei im 16. Jahrhundert eroberten tatarischen Khanate Kazan‘, Astrachan‘ und Sibir‘, d. h. Territorien, die (bis heute) einen integrierenden Bestandteil der Russländischen Föderation darstellen19. Die seit Peter I. gültige Farbgebung des Wappens signalisierte „imperiale Ambitionen“20: Nach der Annahme des Imperatortitels 1722 ging Peter I. dazu über, statt des goldenen Adlers auf rotem oder weißem Grund diesen als Zeichen der Gleichberechtigung seines Reiches mit dem Heiligen Römischen Reich in Schwarz auf gelbem Grund zu verwenden, und so blieb es bis zum Ende der Zarenzeit21. Ein weiteres Akzeptanz-Problem stellte der Drachentöter bzw. seine Deutung auf dem Brustschild des Doppeladlers dar: Während der Reiter bis zum 18. Jahrhundert den jeweiligen siegreichen Zaren versinnbildlichte, erklärte man ihn danach als heiligen Georg22. Endgültig christlich wurde das Wappen im 19. Jahrhundert durch weitere ikonographische Elemente (Erzengel Michael und Gabriel etc.) sowie die Umschrift „Gott mit uns“. Eine derart christliche Konnotation eignete sich ab 1992 wenig für die nichtchristlichen Gemeinschaften in der Russländischen Föderation (Muslime, Juden, Buddhisten) und widersprach der Intention eines „graždanskoe soglasie“ (Eintracht unter den Bürger/ innen)23. Ähnlich verhielt es sich mit dem Hl. Georg, der als Schutzpatron Moskaus und somit als Symbol des wenig geliebten Zentralismus interpretiert hätte werden können24. hingegen in Gold auf rotem Grund. De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 34–36; Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy 2: From Alexander II to the Abdication of Nicholas II (Princeton 2000) 96–234. 17  Das Wappen mit dem Doppeladler und dem reitenden Drachentöter tauchte erstmalig 1497 auf einem Siegel Ivans III. auf und setzte sich im 16. Jahrhundert als Symbol des Zarenreiches (auch im öffentlichen Raum) durch. Siehe dazu de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 32, die sich auf Lyuba Pronina, Debate on State Symbols Nothing New. The Russia Journal (7. June 1999), www.russiajounal.com/node/688, beruft. 18   De Keghel, Imperiales Erbe (wie Anm. 13) 140. 19   Ausführlich dazu Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall (München 21993) 29–42. Zum expansiven Signal der drei Schwebekronen siehe de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 37. 20  Zitat: ebd. 38. 21  Vgl. dazu Nadežda A. Soboleva–Vladimir A. Artamanov, Simvoly Rossii [Symbole Russlands] (Moskva 1993) 45. – Nach der Februarrevolution 1917 „domestizierte“ die Juristische Konferenz, die unter dem Vorsitz von Maksim Gorkij über die Staatssymbolik zu befinden hatte, praktisch den Doppeladler, indem sie ihm alle monarchischen Attribute nahm (Szepter, Reichsapfel, Kronen etc.), wodurch er für die Provisorische Regierung annehmbar wurde, und dies, obwohl es zum Volkssport gehörte, den zarischen „Adler zu rösten“. Siehe dazu de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 39f. 22  1728 wurde praktisch die „Heiligsprechung“ des Reiters mit der offiziellen Bezeichnung „Svatoj Georgij pobedonosec“ vollzogen. Günther Stökl, Testament und Siegel Ivans IV. (Opladen 1972) 47. 23  Die so genannte Eintracht unter den Bürger/innen sollte mittels Wappen die Integration der polarisierten russländischen Gesellschaft befördern und zum Ausdruck bringen; man könnte dies auch als von der Regierung gewünschte „Versöhnung und Harmonie“ bezeichnen. Siehe dazu de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 27. 24  Ebd. 11; mit Bezug auf Jurij L. Kušer, Gosudarstvennye simvoly i nagrady Rossijskoj Federacii [Staatliche Symbole und Zeichen der Russischen Föderation] (Moskva 1999) 7, 11.



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Die Entscheidung für den goldenen Doppeladler auf rotem Grund wurde nach vielen Diskussionen zwischen Ende 1990 und November 199325 damit begründet, dass er „für 500 Jahre russländische Staatlichkeit stehe“ und ein „Symbol altehrwürdiger Traditionen darstelle“. Als Modell bot sich das Große Staatswappen des Zarenreiches aus dem Jahr 1882 an, weil es kaum christliche Bezüge enthielt und ihm auch die Titularwappen der unterworfenen Gebiete fehlten. Farblich entschied man sich daher anstelle des schwarzen Adlers auf goldenem Schild für die vorpetrinische Variante des goldenen Adlers auf rotem Schild26. Um den Doppeladler aller Elemente zu entkleiden, die ihn als imperial, monarchisch, zentralistisch oder gar expansiv hätten erscheinen lassen, musste er nicht nur sprichwörtlich Federn lassen, sondern „durch teilweise gewagte Neuinterpretationen“ salonfähig gemacht werden: Die drei Kronen auf den Häuptern des Doppeladlers, die während der Zarenzeit für die Eroberung dreier Territorien standen (die Khanate Kazan‘, Astrachan‘ und Sibir‘), erklärte man zu Symbolen der drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative sowie zum „Tribut an die Vergangenheit“27. Der Reichsapfel solle die „Einheit und Rechtsstaatlichkeit“ Russlands versinnbildlichen, das Szepter die „Verteidigung der Souveränität“ und der ursprünglich eng mit der Autokratie assoziierte Doppeladler solle die Einigkeit der im europäischen und asiatischen Teil lebenden Völker darstellen28. Das neue-alte Wappentier wurde wortwörtlich als „Symbol der Befreiung und Gleichberechtigung eines lange Zeit unterdrückten Landes interpretiert“29. Die Farbgebung des Wappens – goldener Adler auf rotem Grund30 – wurde wortreich mit der tiefen traditionellen Verwurzelung erklärt. Den Brustschild des Doppeladlers ziert nach amtlicher Lesart heute ein anonymer Reiter, der für den „Sieg des Guten über das Böse steht“31. Nach der Unterzeichnung des Wappendekrets am 30. November 1993 appellierte die Parlamentszeitung Rossijskaja gazeta an den Adler: „Beschütze mit deinen Flügeln das Vaterland“32. Die Wiedereinführung der Sowjethymne im Jahr 2000 kann als großer Erfolg Putins gewertet werden, wiewohl deren Abschaffung die Ouvertüre zur raschen Veränderung der Staatssymbole gewesen war: Auf der Sitzung des Obersten Sowjets der RSFSR wurde im November 1990 das 1833 komponierte „Patriotische Lied“ (Patriotičeskaja pesnja) von Michail I. Glinka (1804–1857), dem Schöpfer der klassischen Musik in Russland, aufgeführt. Als El‘cin bei dieser Gelegenheit ein Da capo erbat, erhoben sich alle Anwe25  Über die zähen „Doppeladler“-Verhandlungen, die Arbeit der Regierungskommission, die Kommentare in der Presse siehe de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 41–43. 26   De Keghel, Imperiales Erbe (wie Anm. 13) 143; siehe dazu auch dies, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 22 (Zitat), 23, 143 (Präsidialdekret vom 30. November 1993 über die Annahme als Staatswappen). 27  De Keghel, Imperiales Erbe (wie Anm. 13) 143f. Die offiziöse Umdeutung des Wappens ist im Gegensatz zu den anderen Staatssymbolen (Flagge, Hymne) nicht gesetzlich verankert, dies., Staatssymbolik (wie Anm. 5) 24f. 28  De Keghel, Imperiales Erbe (wie Anm. 13) 143. Vgl. dazu dies., Staatssymbolik (wie Anm. 5) 24: Um das Wappen annehmbar zu machen, musste der Öffentlichkeit die altehrwürdige Tradition vermittelt werden (mit Rekurs auf Peter I., obwohl es dem Kleinen Staatswappen von 1856 glich!). 29  Zur Rekontextualisierung des Doppeladlers siehe de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 25; sowie Kušer, Gosudarstvennye simvoly (wie Anm. 24) 17. 30  Die Kommunisten versuchte man mit dem Argument zu überzeugen, dass die Farben rot-gelb für die rote Fahne und die gelben Symbole (Stern) darauf stünden; vgl. De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 24 und auch Anm. 85. 31  Zur offiziellen Farbenlehre des Wappens und zum Reiter vgl. die Ausführungen von De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 26; Näheres dazu bei Stökl, Testament (wie Anm. 22) 48. 32  Zitiert nach De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 28.

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senden und fällten somit die Entscheidung für die neue russische Hymne33. Diese stellte bis zu ihrer Abschaffung im Dezember 2000 eine willkommene Quelle für Revisionswünsche hinsichtlich der neuen Staatssymbole dar, wobei die Behauptung russischer Olympioniken, die „demotivierende Wirkung der Glinka-Hymne“ sei schuld am mäßigen Abschneiden bei den Olympischen Sommerspielen in Sydney 2000 gewesen, der Erneuerung endgültig zum Durchbruch verholfen haben dürfte34. Putin reagiert sofort, setzte eine Kommission ein, die bereits bei ihrer Konstituierung mit der intendierten Rückkehr zur Melodie der Sowjethymne von Aleksandr V. Aleksandrov (1883–1946)35 beauftragt wurde, ließ entsprechende Dumaanträge lancieren und warb in einer Ansprache an die Nation (4. Dezember 2000) via Fernsehen geschickt für eine Reform der Staatssymbolik. Die anschließenden Appelle und Protestbriefe verschiedener Gruppierungen, liberal gesinnter Kulturschaffender und auch des ehemaligen Präsidenten El‘cin gegen die Einführung der Sowjethymne wurden von ebenso prominenten Befürwortern übertönt36, so dass am 8. Dezember 2000 die Duma die neue-alte Hymne mit einem neuen Text (wieder von Sergej V. Michalkov [1913–2009]) verabschiedete37. Die heutige, in den Farben weiß-blau-rot38 gehaltene Staatsflagge, die man am 22. August 1991 noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion einführte und die von El‘cin 1991/1993 abgesegnet sowie im Dezember 2003 von der Putin-Regierung bestätigt wurde, sowie das gegenwärtige Doppeladlerwappen (angenommen am 30. November 1993) können als Transitionselemente von der El‘cin-Ära, die für das Traditionell-Vorrevolutionäre stand, zur Putin-Ära, die sich für das Bewahren bzw. den Relaunch sowjetischer Elemente einsetzte, aufgefasst werden39.

Zur Symbolik des Herrschaftsbereichs des weißen Adlers Polens In Polen hatte die Einführung des so genannten Runden Tisches40 1989 noch vor dem Zusammenbruch des Kommunismus einen allmählichen Systemwechsel eingeläutet.   http://www.kremlin.ru/acts/bank/5012 [10. 11. 2019].   De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 49. 35   Die textlich entstalinisierte Fassung (Sergej V. Michalkov, Gabriel A. El‘-Registan) der Sowjethymne „Sojuz nerušimyj“ (Musik: Aleksandr V. Aleksandrov) war von 1977 bis 1991 im Gebrauch, als Sowjethymne galt sie von 1944 an. Andreas Guski, Die Hymne der Sowjetunion (1944) und ihre Kontexte. Zeitschrift für Slavistik 41 (1996) 150–165. 36  Parlament will alte Sowjethymne wieder einführen. Spiegel (8. 12. 2000), https://www.spiegel.de/panorama/russland-parlament-will-alte-sowjethymne-wieder-einfuehren-a-106739.html [10. 11. 2019]. 37  Zum Text („Rossija – svjaščennaja naša deržava“) von Sergej V. Michalkov siehe u. a. Soboleva–Artamanov, Simvoly Rossii (wie Anm. 21) 192f. 38   Diese Fahne (weiß-blau-rot) war die erste überhaupt, die das Russische Reich repräsentierte, und zwar als Handelsflagge (vgl. den Erlass vom 1. Juli 1705); die Trikolore soll der niederländischen (rot-weiß-blau) entlehnt worden sein, die Peter I. bei seiner Reise durch Europa 1690 dort gesehen haben soll. Vgl. dazu Kolstø, Nationale Symbole (wie Anm. 4) 1009; Kušer, Gossudarstvennye simvoly (wie Anm. 24) 28f.; de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 29f. 39  Die weiß-blau-rote Trikolore war von 1883/1896 bis 1917 im Gebrauch, zwischen Juli 1918 und Dezember 1922 figurierte die Rote Fahne mit Aufschrift (RSFSR), von Dezember 1922 bis 1991 hatte die Rote Flagge Hammer und Sichel sowie den Stern als Emblem. Vgl. de Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 29–35. Die rote Sowjetflagge machte Putin im Jahr 2003 zur offiziellen Flagge der russischen Streitmächte, dazu u. a. Kolstø, Nationale Symbole (wie Anm. 4) 1011. 40  Der Runde Tisch stellt nach Pierre Nora einen klassischen Lieu de mémoire dar; dass er nicht erhalten wurde, ist bedauerlich. Vielleicht gab es mehrere runde Tische, oder er stellte einfach eine Metapher dar. 33 34



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Bald nach der Jahreswende 1988/1989 wurde von der Polnischen Heraldischen Gesellschaft (Polskie Towarzystwo Heraldyczne) eine Initiative zur Änderung des Staatswappens lanciert. Sie regte eine geringfügige, jedoch aussagekräftige Korrektur an, nämlich dem polnischen weißen Adler im Wappen die Krone, die diesem von den kommunistischen Machthabern nach dem Zweiten Weltkrieg genommen worden war, wieder aufzusetzen. Im Juni 1989 unterstützte die Demokratische Partei diese Anregung und weitete sie um die Forderung nach Umbenennung des Staates von Volksrepublik Polen (Polska Rzeczpospolita Ludowa) in den frühneuzeitlichen und nach 1918 wieder aktivierten Namen Republik Polen (Rzeczpospolita Polska) aus. Schließlich preschten im Herbst ein paar Abgeordnete mit dem bestechenden Argument vor, Polen solle das Jahr 1990 mit dem alten Namen und Wappen begrüßen. Ende Dezember (29.) 1989 wurde im Sejm die Verfassungsänderung beschlossen, d. h. „mit der Wiedereinführung des alten Staatsnamens und Staatswappens wurde der unumkehrbare Vollzug des Systemwechsels unmissverständlich zum Ausdruck gebracht“41. Die weiß-rote Staatsflagge42 und die Nationalhymne blieben gleich; sie waren seinerzeit auch von den kommunistischen Machthabern übernommen worden und gehörten in den 1980er Jahren zum sichtbaren Signum der Solidarność-Bewegung, deren Schriftzug auf der Oppositions-Flagge in den polnischen Farben weiß-rot prangte. Beide Hoheitszeichen stammen in der heutigen Form aus der Zeit des gescheiterten Novemberaufstandes 1830/1831, also aus der Zeit der Teilungen und der polnischen Nichtstaatlichkeit, und stellen somit ein nationales Heiligtum dar. Die Farben weiß (oder silber; oben) und rot für die polnische Fahne wurden den Wappenfarben entnommen und sollten ursprünglich mit den beiden weißen Wappenfiguren (weißer Adler für Polen, weißer Reiter [vytis, Verfolger] für Litauen) auf einem roten Schild Polen-Litauen repräsentieren43. Erstmals tauchte die Farbanordnung während des vierjährigen Sejms (1788–1792) auf Bändern und Kokarden auf44, als Fahne wie erwähnt im Jahr 1831. Die weiß-rote Fahne wurde im November 191845 von der Republik Polen angenommen, und sie überdauerte mit einer Unterbrechung während des Zweiten Weltkrieges auch das kommunistische System; Diskussionen gab es lediglich wegen des roten Farbtons (von Purpurrot über Zinnoberrot zu Rot)46. Auch die polnische Hymne47, ursprünglich ein Lied der polnischen Legionen in Ita41  Zitat: Arnold Bartetzky, Der wiedergekrönte Adler. Polens visuelle Darstellung. Osteuropa 53/7 (2003) 910–922, hier 911. Zur Verfassungsentwicklung (am 17. Oktober 1992 die Kleine Verfassung als Übergang, die neue 1997 eingeführt) und den Verfassungsprinzipien siehe Klaus Ziemer–Claudia Yvette Matthes, Das politische System Polens, in: Die politischen Systeme Osteuropas (wie Anm. 10) 185–238, hier 187–190. 42  Vgl. dazu auch Alfred Znamierowski, Stworzony do chwały [Gemacht für den Ruhm] (Warszawa 1995) 201–214; Bartetzky, Adler (wie Anm. 41) 911. 43   Vgl. dazu u. a. Alfred Znamierowski, Insygnia, symbole i herby Polskie [Insignien, Symbole und Wappen Polens] (Warszawa 2003) 121f. 44  Siehe dazu https://www.crwflags.com/fotw/flags/pl.html [16. 11. 2019]; sowie Znamierowski, Insygnia (wie Anm. 43) 158–160. 45  https://www.flaggenlexikon.de/fpolen.htm [16. 11. 2019]. 46   Znamierowski, Insygnia (wie Anm. 43) 160–167. – Rot wurde als Abendröte, also als Orientierung hin zum Westen interpretiert. Diesen Hinweis verdankt die Verfasserin ihrem Kollegen Christoph Augustynowicz. – Zur Gründungslegende und historischen Mythisierung vgl. Patrice M. Dabrowski, Poland. The First Thousand Years (De Kalb, IL 2014) 6–10. 47  Der „Mazurek Dąbrowskiego“ (polnische Nationalhymne, benannt nach Jan Henryk Dąbrowski) war wegen seiner Melodie während der Revolution 1848 ein populäres Lied. Gemeinsam mit dem Text diente er dem slowakischen Dichter Samuel Tomašik als Vorlage für dessen 1834 verfasstes Lied „Hej! Slovane“; Näheres bei Silvia Miháliková, „Hej Slovaci“. Symbolische Repräsentation der Slowakei. Osteuropa 53/7 (2003)

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lien während der Napoleonischen Kriege (1797), blieb bis heute ein Merkmal der kollektiven polnischen Erinnerungskultur. Wesentlich dazu beigetragen haben ihre Entstehungszeit (nach der dritten Teilung), ihr anspornender „Einsatz“ während der Aufstände (Novemberaufstand 1830/31, Jänneraufstand 1863) und ihre Rolle als musikalisches Bindeglied zwischen Emigration und Herkunftsland (Heimat), am meisten jedoch die Anfangszeilen „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben“ (Jeszcze Polska nie zginęła – ursprünglich umarla/gestorben –, kiedy my żyjemy). Nicht ganz eindeutig war die Ausstattung des im Laufe von mehreren Jahrhunderten mehrmals veränderten Staatswappens nach der Verfassungsänderung 1989. Der weiße Adler als ältestes Hoheitszeichen, das als „Symbol einstiger Größe die Erinnerung und die Idee eines freien polnischen Staates“ aufrechterhalten hatte48, sollte, wie allgemein erwünscht, wieder bekrönt und somit die 1955 per Gesetz vom kommunistischen Regime verordnete Entkrönung49 wieder rückgängig gemacht werden. Der hartnäckige Wunsch einiger Abgeordneter, die Krone auch mit einem Kreuz auszustatten, stellte eine Herausforderung dar, ging es doch nicht nur darum, zu klären, zu welcher Zeit, warum und wie lange die Krone bekreuzt war, sondern auch, welche Relevanz die eindeutig religiöse Ausstattung für die Zukunft eines demokratischen Staates haben sollte. Die Wogen glättete schließlich Staatspräsident Wojciech Jaruzelski, der die Diskussionen rund um die staatlichen Hoheitssymbole vom Parlament an eine Kommission delegierte und diese beauftragte, den bekrönten, jedoch kreuzlosen Adler aus dem Jahr 192750 als Vorlage zu verwenden. Damit griff der kommunistische Staatspräsident aktiv in die Arbeit der Kommission ein, in der Vertreterinnen und Vertreter des Staatspräsidiums, der Regierung, des Parlaments, der Kirche und Künstler um eine Lösung bemüht waren. Im zügig erstellten Entwurf wurde die Wiederbekrönung des Adlers als quasi Wiedergutmachung für die „unter erbärmlichen Umständen [sprich während des Kommunismus]“ abgenommene Krone argumentiert51. Die scheinbar gesicherte Annahme im Parlament gestaltete sich jedoch nicht einfach: zwei Abgeordnete der Bürgerfraktion bezeichneten die Wiedereinführung des Kreuzes als unverzichtbar, während die Mehrheit die Ansicht vertrat, dass den auch in Polen lebenden Nichtchristen keine – überdies ihnen fremden – religiösen Symbole aufgezwungen werden dürften. In der atmosphärisch aufgeladenen Situation stellte schließlich die Bürgerfraktion das Abstimmungsrecht der Postkommunisten über Staatswappen in Frage. Trotz 921–932. 1848 schließlich wurde dieses Lied am Prager Slawenkongress empathisch gesungen und in der Folge von den Slawen als Hymne angenommen, so zum Beispiel 1945 in Jugoslawien; siehe dazu Robert D. Greenberg, Language and Identity in the Balkans: Serbo-Croatian and Its Disintegration (Oxford 2004) 115; ferner Službeni list Demokratske federativne Jugoslavije 1 (Beograd 1945) 5; Glasbena Matica 1872–1897, hg. von Josip Čerin (Ljubljana 1897) 9. 48   Zitat: Roger Pilachowski, Déjà vu – neue Helden aus alten Zeiten? Die Vergegenwärtigung von Geschichte und identitätsstiftender Symbolik auf einem polnischen Regimentsabzeichen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, in: Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zen­ tral- und Osteuropa seit 1918, hg. von Arnold Bartetzky–Marina Dmitrieva–Stefan Troebst (Visuelle Geschichtskultur 1, Köln–Weimar–Wien 2005) 105–116, hier 109 Anm. 9. Vgl. dazu auch Zenon Piech, Wokoł genezy orła białego jako herbu królestwa Polskiego, in: Orzeł biały – 700 lat herbu państwa Polskiego/The White Eagle – 700 Years of the Coat of Arms of the Polish State (Warszawa/Warsaw 1995) 15–32. 49   Vgl. dazu u. a. https://www.flaggenlexikon.de/fpolen.htm [16. 11. 2019]. 50   Im Jahr 1927 wurde das polnische Wappen modernisiert, was angesichts des „Alters“ notwendig war, denn 1916 hatte das Unabhängige Königreich die 1795 eingemottete polnische Heraldik wieder revitalisiert; https://www.flaggenlexikon.de/fpolen.htm [16. 11. 2019]. 51   Bartetzky, Adler (wie Anm. 41) 911f.



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deren Nichtteilnahme – sie verließen das Plenum – wurde der Entwurf der Kommission am 9. Februar 1990 angenommen52. Polen vollzog also Ende 1989 den symbolischen Systemwechsel vom Kommunismus zur Demokratie mit der Wiederbekrönung des weißen Adlers. Der polnische weiße Adler hatte eine unbestrittene Konsensstellung, wachte er doch seit nahezu 700 Jahren über das Schicksal der Polen53. Wann er tatsächlich als Symbol des polnischen Königtums verwendet wurde, ist nicht vollständig klar; als Wappentier taucht er 1295 erstmalig im Siegel an einer Urkunde von König Przemysław II. (1257–1295) auf54. Ab dem 14. Jahrhundert zählte er bis zur Dritten Teilung Polens 1795 gemeinsam mit Krone, Szepter und Reichsapfel zu den Insignien der königlichen Macht. Wann aber erhielt die Krone des Adlers ein Kreuz? Offensichtlich wurde die Wappenbesserung 1569 mit der Umwandlung Polen-Litauens von einer Personal- zur Realunion durchgeführt und das interessanterweise zu einer Zeit, als Polen (noch) als Hort religiöser Toleranz galt55. Das Diadem des Adlers blieb im Wesentlichen bis zum Staatsstreich von Jozef Piłsudski im Jahr 1926 mit einem Kreuz ausgestattet56. 1927 wurde die Krone vom Kreuz befreit und der Adler insgesamt einer ästhetischen Modernisierung unterzogen57. Die Krone kam dem Adler nach 1945 abhanden, 1955 legalisierte die kommunistische Staatsführung dieses Fait accompli; die Krone wurde somit nicht, wie erwartet oder befürchtet, besternt58. Die Wiederbekrönung des Adlers, der eine Kontinuität der polnischen Staatlichkeit bis zum Mittelalter symbolisierte und keinen Kunstgriff darstellte, streicht auch die Bedeutung der Krone als übergeordnetes Objekt hervor59. Der langen Rede kurzer Sinn: Die Forderung einiger Parlamentarier 1990, der Krone wieder ein Kreuz aufzusetzen, war heraldisch und historisch durchaus korrekt, war sie doch seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert die meiste Zeit damit ausgestattet. Allerdings   Vgl. dazu Gazeta Wyborcza (10./11. Februar 1990); dazu auch Bartetzky, Adler (wie Anm. 41) 912.   Vgl. den Titel der rezenten Publikation von Thomas Wünsch, Der weiße Adler. Die Geschichte Polens vom 10. Jahrhundert bis heute (Wiesbaden 2019). 54  Der Revers des Siegels trägt folgende Inschrift: „Reddidit ipse deus victricia signa Polonis“. In der polnischen Historiographie wird von einem von Gott „gegebenen” Königtum ausgegangen. Siehe dazu Piech, Wokoł genezy (wie Anm. 48) 55; Znamierwski, Insygnia (wie Anm. 43) 111. 55  Zwischen 1386 und 1569 war der weiße Adler nicht nur das Wappentier Polens, sondern auch das Wappen der Corona regni Poloniae. Dazu Piech, Wokoł genezy (wie Anm. 48) 58. Vgl. den Adler auf dem Wappen des Königreiches Polen von 1295 bis 1569 mit jenem der Polnisch-Litauischen Realunion von 1569 bis 1795, ferner das Wappen und die Flagge von Władysław II. (1386–1434, Krone des Adlers ohne Kreuz) mit jenen von Sigismund III. Vasa (1566–1632, Krone des Adlers trägt Kreuz). 56   Zwischen November 1918 und Jänner 1919 verwendeten die Sozialisten und die Linke Bauernpartei einen Adler ohne Krone. Mit Krone tauchte er parallel dazu Anfang des Jahres 1919 auf dem amtlichen Blatt auf (Dziennik Praw Panstwa Polskiego). Das Wappen des Regentschaftskönigreiches Polen (1916–1919) wurde 1919 bis 1927 zum Wappen der Zweiten Republik (Krone des Adlers ist bekreuzt). Vgl. dazu die Ausführungen von Znamierowski, Insygnia (wie Anm. 43) 129. 57  Die graphische Gestaltung des Künstlers Zygmunt Kaminski löste ziemliche Kontroversen aus, zumal dem Adler nicht nur das Kreuz genommen wurde, sondern auch das Szepter und der Reichsapfel – eindeutige Insignien einer Monarchie –, während man die Krone offensichtlich in Kauf nahm. Große Aufregung lösten die zwei fünfzackigen Sterne in den Flügeln aus, die man als bolschewistisch bzw. freimaurerisch interpretierte. Letztere sind bis heute Teil des polnischen Adlers. Vgl. dazu Znamierowski, Insygnia (wie Anm. 43) 129f. 58  Den Wappenadler mit bekreuzter Krone verwendeten durchgehend die polnische Emigration (1939– 1990) und die polnische Exilregierung (1956–1990). Siehe dazu die Ausführungen von Znamierowski, Insygnia (wie Anm. 43) 129. 59  Siehe dazu Marija Wakounig, Die drei Kronen Ostmitteleuropas, in: Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa. Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag, hg. von ders.–Wolfgang Müller–Michael Portmann (Austria: Forschung und Wissenschaft – Geschichte 5, Berlin–Münster–Wien 2010) 69–90. 52 53

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scheint im katholischen Polen der Staatssozialismus seine Spuren hinterlassen und sich die Meinung durchgesetzt zu haben, dass ein pluralistischer Staat seinen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern für die Identifikation mit den Staatssymbolen ein Angebot machen muss.

Abschließender Vergleich Der Sukkus der 1994 von Jan Kubik verfassten Monographie über „The Power of Symbols against the Symbols of Power“, die den Aufstieg der Solidarność und den Untergang des Staatssozialismus in Polen analysiert, der einherging mit der Aneignung und dem Verlust von Herrschaftssymbolen60, kann auf folgenden Nenner gebracht werden: „Wer im Besitz der Symbole ist, hat die Macht; und wer die Macht hat, braucht Symbole.“61 In den hier präsentierten zwei östlichen Staaten haben sich teilweise noch vor der realen Wende 1989/1991 Systemänderungen angekündigt, die „für die Unumkehrbarkeit des [sich vollziehenden und] vollzogenen politischen Wandels“62 auch im Bereich der staatlichen Hoheitszeichen visuelle und symbolische Signale erforderlich machten. Eine Institutionalisierung der Staatssymbolik-Debatte ging jeweils von kommunistischen bzw. ex-kommunistischen Staatschefs aus. Sowohl in Russland als auch in Polen wurden während der Transformationszeit Kommissionen an so genannten Runden Tischen beauftragt und auch Wettbewerbe ausgeschrieben, neue Symbole der Macht für die Repräsentation des neuen politischen Systems auszuarbeiten63. Auch die Initiative für die (Wieder-)Einführung imperialer königlicher Hoheitszeichen wurde in Polen und Russland von Kommunisten bzw. Ex-Kommunisten angeregt. Die nach alten heraldischen Vorlagen erstellten Staatssymbole sollten Ende des 20. Jahrhunderts als Legitimation für eine bis in die älteste Zeit zurückgehende staatliche Tradition dienen64: Jaruzelski setzte sich für die Bekrönung des Adlers ein und verhinderte mit viel Geschick die Ausstattung des Diadems mit einem Kreuz, das eine Düpierung jener, die dem polnischen Staatssozialismus nahegestanden waren, bedeutet hätte. In Russland, wo El‘cin den Bruch mit der Vergangenheit zu schnell und letztlich nicht ganzheitlich anging, brachte sein Nachfolger Putin die Staatssymbolik-Debatte zu einem Ende, auch, indem er mit der Wiedereinführung der Sowjethymne ein Zeichen für die kommunistisch sozialisierte Generation setzte. Sowohl das polnische als auch das russische Wappen strahlen Anachronismen aus. Die bemühten Erklärungen, dass die Wiedereinführung von bekrönten Adlern sowohl für Kontinuität zwischen Gestern und Heute stehe, als auch einen Minimalkonsens ausdrücke, der nötig war, um nach einem einschneidenden Systemwechsel (von totalitärer Herrschaft in die Demokratie) dem neuen Staat Symbole der Macht und Herrschaft nach Innen und Außen zu verleihen, greifen zu kurz. Sie erklären nämlich nicht, warum es   Kubik, The Power of Symbols (wie Anm. 1).   Troebst–Jilge, Zur Einführung (wie Anm. 8) 908 (Zitat). 62  De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 9. 63  In „Russland“ wurde noch vor dem Zerfall der SU ab Juni 1990 eine Kommission mit der Ausarbeitung von neuen Hoheitssymbolen beauftragt; in Polen kam ab 1988/89 die Staatssymbolik-Debatte am Runden Tisch zum Tragen. Siehe dazu u. a. Artamanov–Vilinbachov–Choroškevič, Gerb i flag (wie Anm. 11) 504–511; De Keghel, Staatssymbolik (wie Anm. 5) 12. 64  Troebst–Jilge, Zur Einführung (wie Anm. 8) 908. 60 61



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Insignien der Monarchie sein mussten, die dem über einem demokratischen Staatswesen wachenden Adler aufgesetzt wurden65. Die Entscheidung für die Umänderung der Hoheitssymbole fiel in Russland eher autokratisch durch eine von oben eingesetzte Kommission, in Polen unter teilweiser Mitwirkung der politischen Parteien, d. h. die hegemonial eingesetzte Kommission wurde auf Anregung der Heraldischen Gesellschaft und der Parteien gebildet. Ob dies Rückschlüsse auf die jeweiligen politischen Systeme ermöglicht, deren Grundlagen ebenso wie die sie legitimierenden Herrschaftszeichen tief in der Geschichte liegen, ist nicht eindeutig zu beantworten.

65   Zur Schaffung und Spaltung von Einigkeit kraft staatlicher Symbole vgl. Kolstø, Nationale Symbole (wie Anm. 4) 1012.

Exemplarisches zu Bestand und Bezahlung aus dem Amt als landesfürstliche Kapitalisierungsmodelle in Österreich im ausgehenden 15. Jahrhundert Mit einem Editionsanhang zu zwei (oder drei) Autographen Kaiser Friedrichs III. Andreas Zajic

Seit einiger Zeit manifestiert sich in der ostmitteleuropäischen Geschichtsforschung – mit einem Abstand von einem halben Jahrhundert zu den immer noch einschlägigen Studien von Hans-Georg Krause1 und Götz Landwehr2 – wieder lebhaftes Interesse an der Kommerzialisierung von fürstlichen Herrschaftsrechten im Spätmittelalter3. Meist 1  Hans-Georg Krause, Pfandherrschaften als verfassungsgeschichtliches Problem. Der Staat 9 (1970) 387–404 und 515–532. – Abkürzung: MZA = Moravský Zemský Archiv [Mährisches Landesarchiv]. 2  Götz Landwehr, Die Verpfändung der Deutschen Reichsstädte im Mittelalter (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 5, Köln–Graz 1967); ders., Die rechtshistorische Einordnung der Reichspfandschaften, in: Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert 1, hg. von Hans Patze (VuF 13, Sigmaringen 1970) 97–116. 3   Siehe, paradigmatisch anstelle einer längeren Aufzählung, Ludger Tewes, Die Amts- und Pfandpolitik der Erzbischöfe von Köln im Spätmittelalter (1306–1463) (Dissertationen zur mittelalterlichen Geschichte 4, Köln–Wien 1987); Uwe Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (1456–1656): Strukturen – Verfassung – Funktionseliten (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 28, Stuttgart 2006); Mark Mersiowsky, Finanzverwaltung und Finanzkontrolle am spätmittelalterlichen Hofe, in: Hofwirtschaft: Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. 10. Symposium der ResidenzenKommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Gottorf, Schleswig, 23.–26. September 2006, hg. von Gerhard Fouquet (Residenzenforschung 21, Ostfildern 2008) 171–190; Gerhard Fouquet, Zur öffentlichen Finanzverwaltung im späten Mittelalter, in: Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, hg. von Christian Hesse–Klaus Oschema (Ostfildern 2010) 69–86; ders., Geldgeschäfte im Auftrag des römischen Königs – Eberhard Windeck, Brügge, Lübeck und König Sigmund (1415–1417). ZHF 41/3 (2014) 375–399; Janos Incze, King Sigismund’s deeds of pledge in Hungary, in: Money and Finance in Central Europe during the Later Middle Ages, hg. von Roman Zaoral (Basingstoke 2016) 87–109; Stanislav Bárta, Zástavní listiny Zikmunda Lucemburského na církevní statky [Die Pfandbriefe Sigismunds von Luxemburg über kirchliche Güter] (1420–1437) (Spisy Filozofické fakulty Masarykovy univerzity 457, Brno 2016); Petr Elbel–Wolfram Ziegler, Am schwarczen suntag mardert man dieselben juden, alle die zaigten vill guets an under der erden … . Die Wiener Gesera: eine Neubetrachtung, in: „Avigdor, Benesch, Gitl“, hg. von Helmut Teufel–Pavel Kocman–Milan Řepa (Brünn 2016). Am 14. und 15. November 2019 fand an der Universität Wien ein Workshop „Fürst und Pfand. Mittelalterliche Pfandschaften als Finanzierungs- und Herrschaftsinstrumente“, organisiert von Lienhard Thaler (Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte), statt, der aktuelle Forschungsergebnisse vorstellte, siehe https:// www.hsozkult.de/event/id/termine-39916 [2. 2. 2020].

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wird in der in diesem Zusammenhang vorrangig beleuchteten Pfandpolitik ein Steuerungsmittel intensivierter Herrschaftsbildung erkannt, wobei einerseits die bedeutende Funktion der Verpfändungen als probates Instrument rascher Kreditierung, das durchaus nicht zum Schaden des verpfändenden Herrn gereicht hätte, andererseits der integrierende Effekt des Pfandschaftssystems, das meist einen kleinen Kreis von an der Macht teilhabenden Eliten angehörigen Pfandnehmern noch enger an den Fürsten gebunden und so symbolisches Kapital in der höfischen Umgebung mit ökonomischem Finanzbedarf verquickt hätte, betont werden. Bei all der erfreulicherweise auflebenden Erforschung des spätmittelalterlichen Pfandschaftswesens droht allerdings die Tatsache aus dem Blick zu geraten, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil fürstlichen Finanzbedarfs im Spätmittelalter nicht durch Verpfändungen, sondern durch andere Formen der mehr oder weniger kurzfristigen Kapitalisierung von Herrschaftsrechten im weitesten Sinn, also etwa durch Satz und Bestand bzw. Bezahlung aus dem Amt aufgebracht wurde. Auf diese wichtige Tatsache hat, soweit ich sehe, lediglich Christian Lackner in einer Reihe von scharfsichtigen Studien hingewiesen4. Schon in der Vergangenheit wurde auch festgestellt, dass sich an diesem Kreditgeschäft in großem Stil eben jene Personen beteiligten, die dem zu finanzierenden Fürsten ohnehin nahestanden und die als Kreditgeber des Fürsten nun auch zu dessen Amtleuten und damit beamteten „Mitunternehmern“ (im Sinne Peter Moraws) wurden5. Ämterpacht durch Pfand-, Satz- und Bestandverträge kann daher durchaus als Indiz für Herrschernähe gesehen werden, auch oder gerade wenn unter den Kreditgebern besonders im Lauf des 15. Jahrhunderts eine aus dem Niederadel, häufig auch durch wenigstens anfängliche Kriegsdienste, aufsteigende neue soziale Gruppe mit zunehmender Teilhabe an Politik und Verwaltung engagiert erscheint6. Skizzieren Untersuchungen zu fürstlichen Kapitalisierungsmodellen im Spätmittelalter meist die „Anpassung der Landesherrschaft an die Bedürfnisse der Geldwirtschaft“7, stellen das Phänomen also im Wesentlichen aus der Sicht des Fürsten dar, so soll in der folgenden knappen Skizze der Gegenstand beispielhaft aus der Perspektive eines Kredit4  Christian Lackner, Ein Rechnungsbuch Herzog Albrechts III. von Österreich. Edition und Textanalyse (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 23, Wien 1996); ders., Das Finanzwesen der Herzoge von Österreich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. UH 63 (1992) 284– 300; ders., Die landesfürstlichen Pfandschaften in Österreich unter der Enns im 13. und 14. Jahrhundert, in: Österreich im Mittelalter. Bausteine zu einer revidierten Gesamtdarstellung. Die Vorträge des 16. Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Puchberg am Schneeberg, 1. bis 4. Juli 1996, hg. von Willibald Rosner (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 26, St. Pölten 1999) 187–204; ders., Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406). (MIÖG Ergbd. 41, Wien 2002) 43–49; ders., Juden im Rahmen der habsburgischen Finanzverwaltung im 14. Jahrhundert. ASCHKENAS. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 20/2 (2010) 357–369; ders., Zwischen herrschaftlicher Gestaltung und regionaler Anpassung. Pfandschaften, Ämterkauf und Formen der Kapitalisierung in der Verwaltung der spätmittelalterlichen habsburgischen Länder Österreich und Steiermark, in: Habsburger Herrschaft vor Ort – weltweit (1300–1600), hg. von Jeanette Rauschert–Simon Teuscher–Thomas Zotz (Ostfildern 2013) 35–48. 5 Christian Hesse, Elitenbildung in den Fürstentümern des spätmittelalterlichen Reiches, in: Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur, hg. von Rainer C. Schwinges–Christian Hesse–Peter Moraw (HZ Beih. N. F. 40, München 2006) 263–289, hier 270, ähnlich Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 41, zum allmählichen Überwiegen niederadeliger Pfandnehmer im 15. Jahrhundert. 6  Vgl Lackner, Pfandschaften (wie Anm. 4) 198: die ausgegebenen Herrschaftsrechte seien „bewegliches Kapital, mit dem wertvolle Parteigänger belohnt, mächtige Adelige an den Fürsten gebunden und politische Optionen getroffen werden konnten … . Landesfürstliche Pfandschaften sind ein sicheres Indiz für Herrschaftsnähe des Empfängers“, vgl. auch ders., Gestaltung (wie Anm. 4) 40f. 7  Lackner, Finanzwesen (wie Anm. 4) 284.



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gebers dargestellt und gleichsam die Anpassung adeliger Geldwirtschaft an die Chancen landesfürstlicher Kreditwirtschaft beleuchtet werden8. Als Fallbeispiel dient der aus dem Herzogtum Steier stammende und ab etwa 1470 im Herzogtum Österreich tätige Kaspar von Rogendorf 9. Er wurde wie viele seiner adeligen Standes- und Zeitgenossen auch als Kreditgeber des Landesfürsten und Kaisers zum Inhaber und Einnehmer bisweilen ausgedehnter Besitz- und Einkunftskomplexe aus dem landesfürstlichen Kammergut, die er bisweilen zu Pfand oder als Satz10, häufiger aber kurzfristig (für ein, zwei oder vier Jahre) in Bestand innehatte. Die Vergabe diverser Herrschaftsrechte in Bestand bedeutete die Verpachtung von unterschiedlichsten Ämtern oder Einkünften gegen jährliche Erlegung einer pauschalierten Pachtsumme (Bestandgeld) durch den Bestandnehmer, wobei die Nutzungsdauer von vorneherein vertraglich meist auf ein oder zwei Jahre fixiert war, jedoch nicht selten vor Ablauf der Frist verlängert wurde. Die Höhe des Bestandgelds, das an die Kammer zu reichen war, entsprach in der Praxis wohl grob den zu erwartenden Einnahmen und sicherte dem Landesfürsten planbare Einkünfte, während sich dem Bestandinhaber je nach tatsächlich eingehobenen Mauten, Aufschlägen, Ungeldbeträgen, Gerichtsgebühren usw. theoretisch beträchtliche Gewinnspannen eröffneten. Die beiden Vertragsparteien sich bietenden Chancen und Vorteile sind im Fall der Bestandgeschäfte also meist klar ersichtlich. Wie sich zeigen wird, bildeten jedoch während einzelner Jahre zinslose Darlehen an den Landesfürsten, also Geschäfte über Bezahlung aus dem Amt, wie die quellenmäßige Umschreibung oft lautete, die größten Kreditierungsvolumina, die der Rogendorfer Friedrich bereitstellte. Der Mechanismus dieser Vergabe von Nutzen und Renten aus dem Kammergut bestand in der Regel darin, dass einem Kreditgeber des Landesfürsten die aushaftende Darlehenssumme durch Übertragung von Einkunftstiteln versichert wurde, sodass sich der Gläubiger aus den ihm verschriebenen Einkünften bzw. Ämtern selbst bezahlt machen sollte. Bezahlung aus dem Amt stellte also indirekt eine Form 8  Das Fehlen einer strukturgeschichtlichen und prosopographischen Bearbeitung der „untersten Verwaltungsebene, jener der lokalen Ämter, Pflegschaften, Gerichte, Mauten, Zölle, Ungeldämter etc.“, beklagt Christian Lackner, Die Entwicklung der landesfürstlichen Räte, Kanzleien und Verwaltungsapparate im Spätmittelalter und an der Wende zur Neuzeit in den Österreichischen Ländern, in: Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, hg. von Michael Hochedlinger–Thomas Winkelbauer (VIÖG 57, München 2010) 395–406, hier 403. Der vorliegende Beitrag versteht sich als kleiner Mosaikstein zu diesem größeren Bild. 9  Zur Familie insgesamt und zu Kaspar im Besonderen siehe Joseph Bergmann, Über die Freiherren und Grafen zu Rogendorf, Freiherren auf Mollenburg. SB der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Cl. 7/6–10 (1851) 519–613; Andreas Zajic, Kaspar von Roggendorf (gest. 1506). Karrierist und Kunstliebhaber, in: Waldviertler Biographien 2, hg. von Harald Hitz–Franz Pötscher–Erich Rabl–Thomas Winkelbauer (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 45, Horn–Waidhofen a. d. Thaya 2004) 9–32; ders., Rog[g]endorf, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren, Teilbd. 2, hg. von Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel–Anna Paulina Orlowska–Jörg Wettlaufer (Residenzenforschung 15.IV/2, Ostfildern 2012) 1207–1226; ders., Die Familie Rogendorf, in: Stefan Krause, Mode in Stahl. Der Kostümharnisch des Wilhelm von Rogendorf. Mit einem Beitrag von Andreas Zajic (Wien 2016) 80–89; ders., Die Rogendorfer als Kunstmäzene, in: ebd. 90–99; mehrere Beiträge im Sammelband Peter Aichinger-Rosenberger–Andreas Zajic, Schloss Pöggstall, Adelige Residenz zwischen Region und Kaiserhof (mit Beiträgen von Ralph Andraschek-Holzer–Peter Berzobohaty–Margit Blümel-Keller et al.) (Menschen und Denkmale 2 = Katalog des NÖ Landesmuseums N. F. 537, St. Pölten 2017), bes. Andreas Zajic, Große Herren und Aufsteiger, Fürstendiener und Hochverräter – Bausteine zu einer Nutzergeschichte von Schloss und Herrschaft Pöggstall, 12–51. 10   Zur Unterscheidung der Rechts- und Vertragsformen von Pfand und Satz siehe die in Anm. 4 genannten Beiträge von Christian Lackner.

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der Ämterpacht dar, bei der die Nutzungs- bzw. Vertragsdauer mit Tilgung der Gesamtschuld endete. Anders als bei Bestandverträgen, die den Kreditgeber auf eigenes Risiko zum Unternehmer machten, musste der solcherart „beamtete“ Einnehmer bzw. Ämterpächter jedoch seine tatsächlichen Einnahmen mit dem landesfürstlichen Gegenschreiber schuldtilgend verrechnen, wodurch dem Gläubiger keinerlei Gewinnmargen entstanden und die Darlehen an den Landesfürsten zinslos blieben, während der Landesfürst die Kontrolle über die Einkünfte behielt. Im Vergleich zu den Bestandverträgen scheint die Vergabeform der Bezahlung aus dem Amt daher deutlich ungünstiger für den Darlehensgeber. Wenn festgestellt wurde, dass im Spätmittelalter „sämtliche verfügbaren Herrschaftsrechte des Kammergutes, Urbar, Zehente, Wald- und Wildbanne, Burgen, Gerichte, Märkte, Städte, Mauten und Zölle“11 potentiell zu Pfandgegenständen wurden, so gilt dies noch mehr für die Besicherung von Darlehen durch Bezahlung aus dem Amt: Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts konnte buchstäblich „alles, was der Landesfürst an Einkünften erwarten konnte“12, der Besicherung entsprechender Darlehen dienen.

Kaspar von Rogendorf als Kreditgeber und „Finanztechniker“ Friedrichs III. und Maximilians I. Ganz sicher war Kaspar von Rogendorf, dem wir uns nun zuwenden wollen, ein talentierter Mitspieler im großen höfischen Kreditgeschäft in den späten Jahren Friedrichs III. Er entspricht vielleicht in mancher Hinsicht schon dem neuen Profil des spezialisierten Verwaltungstechnikers in fürstlichen Diensten und damit den Anforderungen einer Tätigkeit, deren Professionalisierung als wesentliches Element einer vormodernen Ausbildung von Funktionseliten im Interesse fürstlicher Herrschaftssicherung angesehen wurde13. Seine verlässlichen finanziellen Vorleistungen an den Kaiser machten Kaspar zum fixen personalen Faktor im übergeordneten Rahmen der Kapitalisierung des landesfürstlichen Kammerguts und sorgten auch für seine entsprechende Positionierung im personalen Rahmen des Hofs und der Landesverwaltung sowie in der Nähe des Kaisers, dessen Vertrauen14 er sichtlich genoss, ohne im engeren Sinn zum Günstling zu werden. Möglichst unmittelbarer Zugang zum Herrscher war für Amtspächter indes essentiell, galt es doch, die Einbringung der Außenstände durch persönliche Präsenz wenigstens potentiell – wenn auch teilweise nur auf lange Sicht, also durch Übertragung der Ansprüche auf die Erben und Nachkommen – zu sichern. Schließlich wird man jedenfalls annehmen dürfen, dass der Einstieg in höfische Funktionseliten nicht bloß zu einer Mehrung des familialen honor und Prestiges führen sollte, sondern auch (je nachdem, nebenbei oder   Lackner, Pfandschaften (wie Anm. 4) 189; vgl. auch ders., Gestaltung (wie Anm. 4) 38.   Ebd. 43. 13  Siehe Heinz Noflatscher, Funktionseliten an den Höfen der Habsburger um 1500, in: Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von Günther Schulz (Deutsche Führungsschichten in der Frühen Neuzeit 25, München 2002) 291–314; Hesse, Elitenbildung (wie Anm. 5) 263. Zur Diskussion um den Hof als Betätigungsumfeld von Experten vgl. jüngst die Beiträge im Sammelband Höfe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Marian Füssel– Antje Kuhle–Michael Stolz (Göttingen 2018). 14   Vgl. zur Bedeutung von herrscherlichem Vertrauen als personalem Faktor von höfischen Karrieren Jan Hirschbiegel, Nahbeziehungen bei Hof – Manifestationen des Vertrauens: Karrieren in reichsfürstlichen Diensten am Ende des Mittelalters (Norm und Struktur 44, Köln–Weimar–Wien 2015). 11 12



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vor allem) der Alimentierung des täglichen Unterhalts und der Versorgung einer weitgespannten Familie diente15. Die in der Folge zu beleuchtenden Kreditgeschäfte des Rogendorfers mit Friedrich III. machten sich jedenfalls auch als Vorleistungen für eine Fortsetzung seiner Karriere unter Maximilian I. bezahlt. In den ersten Jahren der Alleinregierung des Letzteren empfahlen Kaspars langjährige Erfahrungen als erprobter „Finanzer“ Friedrichs ihn auch als Angehörigen der neuen österreichischen Rechenkammer, eigentlich eines kollegialen Spezialausschusses des Regiments, der bis 1496 aus insgesamt vier verordneten Regimentsräten unter dem Vorsitz des für die Niederösterreichischen Länder als Generalschatzmeister wiederbestellten Simon von Hungerspach bestand16. In den Jahren 1493 bis 1495 nahm er in dieser Funktion, meistens zusammen mit den stets selben Amtskollegen, eine ganze Reihe von Rechnungen über verpfändete landesfürstliche Ämter auf, zu welchem Zweck die Bestandinhaber vor Rogendorf und seinen Kollegen in Wien zu erscheinen hatten17. 1501 war er auch Angehöriger der von Maximilian eingesetzten Kommission zur Reform der landesfürstlichen Kammergutverwaltung in Österreich18. Seine ausgeprägte Befähigung zum Kreditgeschäft in großem Maßstab und seine Sachkenntnis in komplexen Finanzangelegenheiten erklärt sich in Hinblick auf zwei 15   Vgl. treffend Alexander Sigelen, „Amtsträger“ und „Beziehungsmakler“. Das kaiserliche Finanzsystem im Reich unter Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler (1560–1617), in: „Das Blut des Staatskörpers“. Forschungen zur Finanzgeschichte der Frühen Neuzeit, hg. von Peter Rauscher–Andrea Serles–Thomas Winkelbauer (HZ Beih. N. F. 56, München 2012) 355–388, hier 357: „Positionen in der Machtelite wurden nämlich auch deswegen angestrebt, weil sie dem Fortkommen der Familie des Amtsinhabers dienten.“ 16  Zu den Reformen der Finanzverwaltung Maximilians siehe jetzt überblicksweise Manfred Hollegger, Die Maximilianeischen Refomen, in: Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit 1/1: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen, hg. von Michael Hochedlinger–Petr MaŤa–Thomas Winkekbauer (MIÖG Ergbd. 62/1, Wien 2019) 377–420, hier 395 und 403. 17   Siehe Reg. Imp. XIV/1/1 Nr. 417 (1494 Februar 18, St. Pölten): Kg. Maximilian I. befiehlt allen seinen Einnehmern und Amtleuten in Steier, Kärnten, Krain, Istrien, im Karst und Österreich, nur Zahlungsbefehle des NÖ Regimentes anzunehmen, da dieses alle Zahlungen einnehmen soll; die Quittungen sind von Simon von Hungersbach, Kaspar von Rogendorf, Sigmund von Niedertor, Georg von Rottal und Dr. Johann Fuchsmagen zu unterschreiben; Nr. 3070 (1494 Juli 11, Wien): Hans Kramer und Sigmund Tetzgern legen Rechnung über Pflege von Markt und Ungeld Wels und Aufschlag von Ybbs (Bestand 1484–93) vor den Räten Kaspar von Rogendorf, Sigmund von Niedertor und Simon von Hungersbach; Nr. 3179 (1494 Nov. 22, Wien): Richter und Rat von Zwettl legen Rechnung wegen diverser Ämter in Zwettl vor Roggendorf, Rottal, Fuchsmagen und Hungersbach; Nr. 3188 (1494 November 29): Hans Mettschacher, Hauptmann zu Retz, wegen Retz; 3202 (1494 Dez. 12, [Wien]): Lasla Prager wegen diverser Pfandschaften; Nr. 3278 (1495 Februar 9, Wien): Martin Burger, Bürger zu Wien, wegen des Hubmeisteramtes in Österreich, (1490–93), Abrechnung vor Rogendorf und Rottal; Nr. 3313 (1495 März 19, [Wien]): Maximilians Diener Hans Han wegen ungenannter Ämter; Nr. 3318 (1495 März 20, [Wien]): Richter und Rat von Laa wegen diverser Einkünfte. Im Jahr 1500 hatte umgekehrt der Rogendorfer so wie zahlreiche andere Amtleute vor einer Rechenkommission (Rottal, Sigmund Schneidpeck, Florian Waldauf, Johann Fuchsmagen u. a.) in Wien Rechenschaft zu legen, siehe, Reg. Imp. XIV/3/1 Nr. 9893 (1500 Februar 18, Innsbruck), 1502 wurde der Rogendorfer zusammen mit Sigmund [Ludwig] von Polheim wegen strittiger Abrechnungen von Maximilian vor die Innsbrucker Rechenkammer beordert, die sich als unzuständig erachtete, siehe Reg. Imp. XIV/4 Nr. 16865a (1502 August 30, Imst) und 19991 (1502 Oktober 6, Innsbruck). Vgl. auch Heinz Noflatscher, Räte und Herrscher. Politische Eliten an den Habsburgerhöfen der österreichischen Länder 1480–1530 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 161 = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 14, Mainz 1999) 65. 18   Die Einsetzung der Kommission erfolgte am 11. April 1501, siehe Bergmann, Freiherren (wie Anm. 9) 532. Vgl. zur Geschichte der von Maximilian ab 1498 eingesetzten „Umreiter“- und „Reformierer“-Kommissionen knapp Hollegger, Reformen (wie Anm. 16) 403 und 409f.

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unerlässliche Qualifikationen – Geläufigkeit und Gewandtheit im Umgang mit großen Geldbeträgen einerseits, ausreichendes eigenes Kapitalvermögen als Voraussetzung für Ämterpachten andererseits19 – unschwer aus familialen Konstellationen: Schon Kaspars Vater Sigmund hatte jahrzehntelang leitende Funktionen in der landesfürstlichen Verwaltung in Steier innegehabt. Spätestens 1440 war er Judenrichter in Marburg/Maribor20 gewesen, später, von etwa 1445 bis Ende 145421, fungierte er als fast ständig in Graz ansässiger Landschreiber in einer finanztechnischen Spitzenposition und ab etwa 1455 – mit längeren Unterbrechungen – bis zu seinem Tod als mit dem Ratstitel versehener Hauptmannschaftsverweser in Steier22. Fallweise scheint Sigmund ab 1451 auch als Urteiler oder Beisitzer in Prozessen vor dem Kammergericht auf23. Zudem scheint er als Pfleger der seit etwa 1438 von Friedrich grundlegend umgestalteten Grazer Burg mit Beaufsichtigung und Leitung der umfangreichen Bauvorhaben beschäftigt gewesen zu sein, zu deren Finanzierung er etwa 1466 immer wieder hohe Geldbeträge aus diversen kaiserlichen Einkünften angewiesen bekam24. 1444 und 1468 ist er einer der Landesanwälte, die die Geschäfte Friedrichs in Steier, Kärnten und Krain während dessen Abwesenheit führen sollen25. In diesem kurzgefassten cursus honorum des Vaters sind bereits alle Elemente der Karriere des Sohnes vorgezeichnet, und es darf als sicher gelten, dass Sigmund seine ökonomischen Kompetenzen und sein reiches praktisches Verwaltungswissen an seinen ältesten Sohn weitergegeben hat. 1471 beurkundete Sigmund eine Erbfolgeregelung für seine Söhne, der zufolge Kaspar das gemeinsame Erbe solange verwalten sollte, bis die 19  Vgl. Lukas Winder, Die Kreditgeber der österreichischen Habsburger 1521–1612. Versuch einer Gesamtanalyse, in: Forschungen (wie Anm. 15) 435–458, hier 452: „Jedenfalls war ein dem jeweils angestrebten Posten entsprechendes Vermögen ein nicht zu vernachlässigendes Einstellungskriterium.“ 20   Siehe Norbert Weiss, Das Städtewesen der ehemaligen Untersteiermark im Mittelalter. Vergleichende Analyse von Quellen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 46, Graz 2002) 155 und 240. 21   Siehe Burkhard Seuffert, Drei Register aus den Jahren 1478–1519. Untersuchungen zu Politik, Verwaltung und Recht des Reiches, besonders des deutschen Südostens (Innsbruck 1934) 64, 66. Die früheste mir bislang bekannte Nennung Sigmunds als Landschreiber enthält dessen Urkunde über die Widerlegung der Heiratsgabe und Heimsteuer seiner Frau Katharina Rindscheid vom 21. Dezember 1445, s. Anm. 31. 22   Vgl. die letzte mir bekannte Nennung Sigmunds als Landschreiber und ohne Ratstitel in StmkLA, AUR 6454a (1454 Dezember 29, Wr. Neustadt), siehe auch Bergmann, Freiherren (wie Anm. 9) 523, und Reg. Imp. XIII/13 Nr. 318, bzw. die erste Nennung als Hauptmannschaftsverweser in StmkLA, AUR 6512f (1455 Jänner 13, Graz, Abschrift von 1879). 23   Reg. Imp. XIII/9 Nr. 110 (1451 März 31, Wr. Neustadt); Reg. Imp. XIII/3 Nr. 38 (1451 April 14, Wr. Neustadt); Reg. Imp. XIII/19 Nr. 574 (1455 Dezember 11, Graz). Zur wichtigen Funktion des Kammer­ gerichtes als politisches Instrument Friedrichs III. siehe Christine Reinle, Zur Gerichtspraxis Kaiser Friedrichs III., in: Kaiser Friedrich III. (1440–1493) in seiner Zeit. Studien anläßlich des 500. Todestages am 19. August 1493/1993, hg. von Paul-Joachim Heinig (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 12, Köln–Weimar–Wien 1993) 317–353. 24  Siehe Regesta chronologico-diplomatica Friderici IV. Romanorum regis (imperatoris III.). Auszug aus den im k.k. geheimen Haus-, Hof- und Staats-Archive zu Wien sich befindenden Reichsregistraturbüchern vom Jahre 1440–1493. Nebst Auszügen aus Original-Urkunden, Manuskripten und Büchern. Erste Abteilung. Vom Jahre 1440 bis März 1452. Zweite Abteilung. Vom Jahre 1452 (März) bis 1493, ed. Joseph Chmel (unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Wien 1838, Hildesheim 1962) Nr. 4425: 1466 März 29, Neustadt; Nr. 4750: 1466 Nov. 18, Graz; Nr. 4751: StmkLA AUR 7176 (1467 Jänner 9, Graz; Abschrift von 1877). 25  Siehe Die ältesten steirischen Landtagsakten 1396–1519. I. Teil: 1396–1452, bearb. von Burkhard Seuffert–Gottfriede Kogler (Quellen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 3, Graz– Wien–München 1953) Nr. 31 (1444 Juli 6, Wr. Neustadt); ebd. II. Teil: 1452–1493, bearb. von dens. (Quellen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 4, Graz–Wien–München 1958) Nr. 136 (1468 November 15, Graz).



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beiden jüngeren Brüder Balthasar (bzw. Walter) und Burkhard 26 Jahre alt wären26. Die ungewöhnlich ausführliche und geradezu arengenartige Narratio der Urkunde erläutert unter völligem Verzicht auf zeittypische Frömmigkeitstopoi, dass es zu verhindern gälte, dass beim Ableben Adeliger ohne Testament das Familienvermögen durch Uneinigkeit in fremde Hände komme. Das Diktat der Urkunde drückt das Selbstverständnis Sigmunds als Haupt eines selbstbewussten adeligen Hauses ebenso klar aus wie seine Ansicht von der Notwendigkeit wirtschaftlich klugen Handelns, eine Tugend des geübten Verwaltungsfachmanns, und es scheint bezeichnend, wenn regelrechte Neologismen auftreten, die zeigen, dass der Rogendorfer auch mit dem modernen Vokabular der Wirtschaftswelt vertraut war. Er habe beobachtet, daz unnder dem adel und auch sunst meniger unversehens mit dem tod begriffen und ubereylt ist worden, dadurch er kain ordnung under seinen kindern seins zeittlichen guts halbm, daz in gelassen wirt, getun hat mugen, deshalben ire gelassne kinder in irer jugend und kchindhait zu solhen irn vätterlichen erbtail komen und daz sew dann das unvernunfft und auch ir jugenndt halbm nicht haben nutzperleich geregiern und innhaben mugen, sunder ee sew zu irn rechten tegen und vernunfft komen sind, daz dann solh ir erb und guet in ander fromb hendt pracht ist, damit dieselben geslecht gantz verdorben und nach solhn verderben gar leichtvertikleich gehallten sind worden … . Über die Tragfähigkeit des ihm gleichsam in die Wiege gelegten Fundaments der Fertigkeiten Kaspars als Finanztechniker kann also kein Zweifel bestehen. Das Eigenkapital Kaspars vor dessen ersten Verschreibungen durch Friedrich lässt sich fraglos ebenso auf elterliche Quellen zurückführen. Dass Sigmund durch seine vielfältigen Funktionen in der steirischen Landesverwaltung ein schon zuvor akkumuliertes Kapitalvermögen noch bedeutend gesteigert hat, ist als sicher anzunehmen. Dazu trat weiter ein nicht pekuniär zu beziffernder Erbfall nach seinem Schwiegervater. Wie später Kaspar, so hatte auch Sigmund zwei Ehen geschlossen, die zwar im geographischen Bezugsfeld seines (unter-)steirischen Interessenhorizonts verblieben, sozial aber eine klare Ausweitung des Heiratskreises eines Niederadeligen bedeuteten, dessen Familiengeschichte sich nicht weiter als bis zu dessen Vater zurückverfolgen lässt. Als Sigmunds erste Frau wird in der vorliegenden Literatur übereinstimmend eine Klara von Trackenburg (Drachenburg/ Kozje in der Untersteiermark/Slowenien27) angegeben. Die vom Verfasser der vorliegenden Skizze früher geäußerte Vermutung, dass Sigmund anstelle der diesfalls fälschlich tradierten Klara von Trackenburg oder nach dieser eine Prüschenk geheiratet hätte, was auch den späteren engen Austausch zwischen Sigmunds Sohn Kaspar und den Brüdern Heinrich und Sigmund Prüschenk und entsprechende wechselseitige Adressen erklären würde28, hat sich jüngst als unzutreffend erwiesen. Vielmehr hatte Barbara von Hallegg, also Sigmunds Mutter, nach dem Tod Niklas Rogendorfers in zweiter Ehe vor Jahresende 26  Brno, MZA, G 9 (Roggendorfské listiny) 4 (1471 März 18) und Abschrift von 1879 in StmkLA, AUR 7357a; Zeuge: Wulfing von Fladnitz, mein lieber swager. Vgl. auch Bergmann, Freiherren (wie Anm. 9) 523. 27   Siehe zur Familie knapp Dušan Kos, In Burg und Stadt. Spätmittelalterlicher Adel in Krain und Untersteiermark (VIÖG 45, Wien–München 2006) 353–355 und 567 (Taf. 56), der jedoch eine Eheverbindung mit den Rogendorfern nicht erwähnt. 28 Siehe Zajic, Rog[g]endorf (wie Anm. 9) 1211. Dieselbe irrige Vermutung (Kaspar sei ein Sohn Sigmunds mit einer Prüschenk) hatte bereits Reichard Streun von Schwarzenau in St. Pölten, NÖLA, Ständisches Archiv, Hs. 5/8, fol. 139r, angestellt. – Zu Sigmund Prüschenk als „Graue Eminenz“ am Hof Friedrichs III. und Maximilians I. vgl. in Zukunft die Ergebnisse des von FWF und GAČR geförderten Kooperationsprojekts I-4076 „Graue Eminenzen in Aktion“ (GREMIA), für das Daniel Luger eine Neubewertung der Person Prüschenks vorbereitet.

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1413 Hermann Prüschenk geheiratet29. Aus der Verbindung Sigmunds mit Klara von Trackenburg stammte offenbar der Sohn Kaspar30. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Sigmund 1445 Katharina, die Tochter des verstorbenen Bernhard Rindscheid, wodurch er seine Integration in die adelige Funktionselite des Landes durch die Verwandtschaft mit dem vormaligen Landschreiber und königlichen Rat Pankraz Rindscheid und dem Hauptmannschaftsverweser Leopold von Aspach weiter ausbaute31. Auch für seinen ältesten Sohn Kaspar verhandelte Sigmund eine vielleicht auch finanziell nicht unvorteilhafte, jedenfalls aber im Sinne hypogamen Konnubiums, also eines „Hinaufheiratens“, zielgerichtete, prestigeträchtige und symbolisches Kapital einbringende Eheverbindung: 1464 versprach der untersteirische Herr Erasmus von Wildhaus/ Viltuš (gest. 1471) als Letzter seines Familienzweigs, seine aus seiner Ehe mit Elisabeth von Auersperg stammende (Erb-)Tochter Margarete mit Kaspar von Rogendorf zu verheiraten32. Seiner Geburt nach und durch seine eigene Verehelichung war Kaspar also mit prominenten und politisch einflussreichen Familien des steirischen (und des Kärntner) Ritteradels und Herrenstands verwandt. Von diesen familialen Präliminarien, die Kaspars spätere Position als landesfürstlicher Finanzfachmann zu erklären helfen, ist nun auf dessen Rolle als Kreditgeber Friedrichs III. überzugehen. 1467/69 begegnet Kaspar als junger Mann noch selbst als Söldnerführer in der Untersteiermark33, ein Jahrzehnt später wird ihm die Finanzierung solcher Truppen in größe29   Dies geht eindeutig hervor aus einer Urkunde, mit der Barbara, Ehefrau des Hermann Prüschenk, und ihr Sohn Sigmund Rogendorfer ihren zu Kaufrecht innegehabten Hof in Seiersberg bei Straßgang samt Zubehör um 80 lb. Wiener den. an die Äbtissin von Göss verkauften, siehe StmkLA, AUR Nr. 4541 (1413 Dezember 28). Anstelle Barbaras sollte ihr Mann, Hermann Prüschenk, siegeln, als zweiter Siegelzeuge sollte wegen Siegelkarenz Sigmunds (wann ich die czeyt grabns insigel nicht gehabt han) dessen ohaim Friedrich Hallegger fungieren. Tatsächlich sind auf der Vorderseite des Papiereinzelblatts nur geringe Reste eines aufgedrückten Petschafts in Grünwachs sichtbar; vielleicht handelt es sich bei diesem Stück nur um ein Konzept für eine auszufertigende Pergamenturkunde, da außerdem in der Siegelankündigung jeweils von angehängten Siegeln die Rede ist. Den Hinweis auf dieses wichtige Stück verdanke ich Kollegen Daniel Luger. 30  Dies geht hervor aus St. Pölten, NÖLA, StA Hs. 5/8, fol. 139r. Streun hatte diese Angabe von Kaspars Mutter einer Aufstellung seines Zeitgenossen, des NÖ Landmarschalls Hans Wilhelm von Rogendorf, entnommen. Als Beleg für die Richtigkeit dieser Angabe – immerhin war Hans Wilhelm der Vorname seiner Ururgroßmutter nicht mehr bekannt – zitiert Streun ebd. eine Lehensurkunde Heinrichs (I.) (Prüschenk) Grafen von Hardegg für die Brüder Sigmund, Wilhelm, Wolfgang und Georg von Rogendorf, die er als seine oheim anspricht. 31   Brno, MZA, G 9 Nr. 1 (1445 Dezember 21). Als Siegelzeugen fungierten Sigmunds Amtskollegen Leopold Aspach, Verweser der Hauptmannschaft in Steier und öhaim des Ausstellers, und Thomas Giebinger, Hubmeister zu Graz. 32  Die Verpflichtung Erasmus’ ist – für einen herrenständischen Urkundenden um die Mitte des 15. Jahrhunderts eher ungewöhnlich – eigenhändig abgefasst und mit dem in der Mitte des Blatts über den Text aufgedrückten Petschaft des Ausstellers besiegelt (mit mein selbs hantgeschrift und aufgedrugkchten sekret) und sieht bei Nichterfüllung des Vertrags eine wechselseitige Pön von 1000 lb. den. vor; siehe Brno, MZA, G 9 Nr. 3 (1464 April 26). Die schließlich auf den 29. August datierte Pergamenturkunde verpflichtet den Wildhauser sogar zu einer Pön von 2.000 fl. (ung. und Dukaten). – Zu den Wildhausern siehe knapp Kos, In Burg und Stadt (wie Anm. 27) 584 (Taf. 71a), und Rajmund Lampreht, Izvor in razvoj gospodov Mariborskih (The Origins and the Development of the Maribor Nobility). Časopis za zgodovino in narodopisje 86/2–3 (2015) 9–33, hier 24–26. 33  Siehe Regesta (wie Anm. 24) Nr. 5034 (1467 Juni 7, Neustadt): K. F. III. befiehlt Wilhelm Gresl, Amtmann zu Marburg, Kaspar von Rogendorf für Sold und Kostgeld auf 4 Pferde nachträglich 75 lb. den. und zukünftig jährlich 128 lb. den. zu bezahlen, bzw. ebd. Nr. 5838 (1469 November 24, Wiener Neustadt): K. F. III. befiehlt Paul von Eibiswald, Amtmann in Lemberg/Lemberg pri Strmcu (n. Cilli/Celje, SLO), Kaspar von Rogendorf 160 lb. den. Sold und Kostgeld für 5 Quartale und 32 fl. für ein Pferd, das er zur Abfertigung der Söldner gegeben hat, zu bezahlen.



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rem Maßstab zuteil. Die anscheinend erste Station eines persönlichen Engagements des Rogendorfers im Herzogtum Österreich und Motiv einer Verlagerung seiner Interessen in die donauösterreichischen Länder stellt die – auf seinen Vater Sigmund und ihn gleichermaßen lautende – pfleg- und satzweise Verschreibung der strategisch bedeutenden Burg Weitenegg an der Donau im Frühjahr 1470 dar34. Die Möglichkeit zur Übernahme dieser Pflegschaft durch Auslösung des Satzes von Elisabeth, der Witwe nach Thomas von Stubenberg, wurde Vater und Sohn aus ihrem steirischen (kognatischen) Umfeld eröffnet, denn mit dem kaiserlichen Rat Erasmus von Stubenberg hatte die Herrschaft schon seit 1465 einen landfremden Pfleger gehabt35. Mit der Auslösung von Weitenegg 1470 konnten die beiden Rogendorfer die Konditionen gegenüber den Stubenberg jedoch verbessern: Hatten diese einer Auslösung unter Wahrung einer lediglich zweimonatigen Vorankündigung gewärtig zu sein, so schreibt der Satzbrief für die Rogendorfer eine lediglich zu Georgi (24. April) und Michaelis (29. September) mögliche Auslösung fest, verringerte also die Unsicherheit der Nutzungsdauer spürbar. Für die nächsten fünf Jahre bleiben die sonstigen Aktivitäten Kaspars in landesfürstlichen Diensten und damit auch Aufschlüsse über seine Einkünfte weitgehend im Dunklen. Doch war er – allerdings kaum (alleine) durch Tätigkeit als Söldnerführer bzw. Soldunternehmer36 – Kaiser Friedrich III. gegenüber zum Gläubiger einer so großen Menge Gelds geworden, dass ihm bereits nicht näher bekannte Mauten und Aufschläge verschrieben worden waren. Am 21. Dezember 1475 wurde Kaspar jedoch auf eigenen Wunsch der Einhebung dieser schon zuvor längere Zeit eingenommenen Aufschläge zu Wasser und zu Land entbunden37. Möglicherweise verzichtete Kaspar deshalb auf diese Aufschläge, weil ihm Friedrich schon am 25. November 1474 mündlich das Ungeld in Waidhofen an der Ybbs und Ybbs offenbar in der Nachfolge des Andreas Krabat von Lappitz auf zwei Jahre in Bestand übertragen hatte, eine Nutzung, die 1476 um weitere zwei Jahre bis zum 25. November 1478 verlängert wurde. Das jährliche Bestandgeld betrug 34   Den Revers Sigmunds und Kaspars von Rogendorf von 1470 Mai 4 siehe in Wien, HHStA, AUR sub dato, siehe Reg. Imp. XIII/27 Nr. 35. 35   Siehe Brno, MZA, G 9 Nr. 144 (1465 Jänner 12, Wiener Neustadt), vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 625. Dem Stubenberger wurde die Pflege für ein berait vorgestrecktes Darlehen von 5000 fl. ung. und Dukaten in sacz und phlegweis eingeräumt. Bei einer Wiederauslösung sollte die Vorankündigung durch den Kaiser zwei Monate im Voraus erfolgen. Zwei Jahre später war Thomas von Stubenberg Erasmus als Pfleger nachgefolgt, siehe einen Befehl Friedrichs zur Truppenrüstung an den Stubenberger in Regesta (wie Anm. 24) 4883 (1467 Jänner 29, Linz). 36   Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 38f., konstatiert, dass zumindest im 14. Jahrhundert kaum Bargeldflüsse vom Pfandnehmer zum Landesfürsten dem Abschluss von Pfandgeschäften vorausgegangen seien. Hauptmotiv seien vielmehr ausständige Soldforderungen gewesen, auch wenn im Diktat der Urkunden topische und unspezifische Verweise auf geleistete Darlehen häufig auftreten. Vgl. grundsätzliche Überlegungen zur Finanzierung von Söldnertruppen bei Uwe Tresp, Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten: Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte 19, Paderborn–München–Wien–Zürich 2004), und dems., Kostenbewusstsein im Krieg? Zur Verwaltung und Finanzierung der Kriegführung deutscher Fürsten im 15. Jahrhundert, in: Kriegskosten und Kriegsfinanzierung in der Antike, hg. von Friedrich Burrer (Darmstadt 2008) 193–209; vgl. zuletzt auch den Sammelband Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich, hg. von Philippe Rogger (ZHF Beih. 49, Berlin 2014). 37  Brno, MZA, G 9 Nr. 5 (1475 Dezember 21, Ybbs): Kaspar, Friedrichs Truchsess und Pfleger von Weitenegg, habe ettlich zeither Aufschläge zu Wasser und zu Land eingenommen, wovon der Kaiser ihn auf dessen Bitte gnädig begibt und anordnet, dass er in dieser Hinsicht nicht mehr belangt werden solle. In Reg. Imp. XIII/26 Nr. 680 scheint mir der Inhalt missverständlich wiedergegeben: Friedrich übertrage Kaspar mit der Urkunde wissentlich jene Aufschläge zu Wasser und zu Land, die er schon seit langem einnehme, und verbietet jeglichen Eingriff darin.

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1.200 fl.38. Offenbar spätestens am 11. November 1478 wurde der Bestandvertrag nun urkundlich um ein weiteres Jahr verlängert, wobei nun Martini (eben der 11. November) als Ablauftermin vereinbart und das Bestandgeld um 100 lb. den. auf 1.300 lb. den. erhöht wurde. Unter diesen Konditionen wurde der Bestand am 9. September 1479 sowie am 26. September 1480 abermals um jeweils ein Jahr (bis 11. November 1481) verlängert39, und von da an um weitere vier Jahre gegen ein jährliches Bestandgeld von – nun wiederum – 1.200 lb. den.40. Die weiteren Vorgänge rund um die Herrschaft Weitenegg bieten einen guten Einblick in die sehr wahrscheinlich von den interessierten hofaffinen Kreditgebern selbst akkordierte und orchestrierte Gesamtstrategie der wechselseitigen Auslösungen von ausgegebenem Kammergut, die wohl der Arrondierung der jeweiligen Besitz- und Einkunftskomplexe dienten. 1478 musste Kaspar die Pflegschaft Weitenegg samt allem Zubehör und den versetzten Nutzen und Renten im Yspertal an Sigmund Prüschenk abtreten41. Wenige Wochen später wurde Kaspar – offenbar zur unmittelbaren Kompensation des an Prüschenk abgetretenen Weitenegg – Pfleger von Ybbs42. Im September 1479 übertrug ihm Friedrich weiters bis auf Widerruf die Pflege des Schlosses Werfenstein im Struden (uncz auf unser widerruffen, verrer geschéfft und bevelhen in phlegweis ingeben) sowie den Bestand der zugehörigen Maut samt Nutzen und Renten (in bestanndsweis gelassen)43. Aus den Einnahmen von Schloss und Maut sollte Kaspar das Schloss in phlegweis treulich innhaben und es nach notturfft behuetten, bewarn, versorgen und dem Aussteller jährlich zu den Quatemberterminen 600 lb. den. reichen. Bereits im Mai 1479 hatte Friedrich Kaspar die Einkünfte der Maut und des Ungelds im Struden zur Tilgung eines Darlehens übertragen, dessen Widmung einmal mehr Einblicke in die volatilen Kapitalisierungs38  Wien, HHStA, AUR 1476 August 1, Wiener Neustadt (c.d.i.p.), siehe Reg. Imp. XIII/34 Nr. 31; vgl. auch Wien, HHStA, AUR 1476 April 10 (c.d.i. per dominum Sigismund Prueschinkh camerarium), siehe Reg. Imp. XII/34 Nr. 13; aus diesem späteren Auszug aus dem blauen Kanzleiregister Johann Waldners geht hervor, dass Kaspar zum genannten Zeitpunkt dem Landesfürsten 500 lb. den. von der gefanngen wegen und weitere 150 lb. den. remanentz (also einen Überschuss nach Rechnungslegung) nach der Übernahme der Renten von Krabat (Ungeld in Waidhofen an der Ybbs und Ybbs) schuldete, vgl. auch Monumenta Habsburgica. Aktenstücke und Briefe zur Geschichte des Hauses Habsburg in dem Zeitraume von 1473 bis 1576, Bd. 3: Aktenstücke und Briefe zur Geschichte des Hauses Habsburg im Zeitalter Maximilians I., ed. Joseph Chmel (Wien 1858, Nachdr. Hildesheim 1968) 655 Nr. 80. 39   Siehe Brno, MZA G 9 Nr. 12 (1480 September 26, Wien), vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 720, 734 und 740. 40  Beurkundet wurde die zunächst offenbar nur mündlich ausgesprochene Verlängerung erst nachträglich, siehe MZA G 9 Nr. 15 (1483 September 5, Graz), siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 753. Die Urkunde trägt bezeichnenderweise den Vermerk commissio domini imperatoris p(er) d(ominum) S(igmundum) Prusch(enk) marsch(alcum) et camer(arium), lässt also auf Einflussnahme Sigmund Prüschenks auf das Zustandekommen der Verlängerung schließen. 41  Wien, HHStA, AUR 1478 September 24, Graz, siehe Reg. Imp. XIII/34 Nr. 204f. Wie schon den Stubenberg und den Rogendorfern zuvor wurde Prüschenk das Schloss pflegs-, das Zubehör an Renten satzweise überlassen, wobei die Verschreibung über Weitenegg 5.000 ungarische Gulden und Dukaten, die über das Ungeld im Yspertal 1.500 fl. betrug. Die Bestandsummen blieben damit trotz mehrfachem Inhaberwechsel konstant. 42  Wien, HHStA, AUR 1478 Oktober 19 ist der Revers Kaspars, den neben dem Aussteller auch dessen oheim Heinrich Prüschenk besiegelte; der Wechsel Weitenegg/Ybbs scheint auch dieser Beobachtung zufolge eine zwischen Kaspar und den Prüschenk akkordierte Aktion gewesen zu sein. Erstaunlicherweise siegelte Kaspar hier in Rotwachs – ein Privileg, das er sich förmlich erst 1480 von Friedrich beurkunden ließ, während Heinrich Prüschenk Grünwachs benützte. 43  Brno, MZA G 9 Nr. 9 (1479 September 7, Graz), vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 733.



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geschäfte rund um das Kammergut bietet. Die 1.270 fl., die Kaspar dem Landesfürsten vorstrecken sollte, musste dieser gegen Quittung an Bürgermeister, Richter und Rat von Wien erlegen, die mit diesem Fehlbetrag nun imstande waren, Sigmund Schlick als Inhaber des versetzten Schlosses Wald auszulösen44. Kaspar fungierte in diesem Fall also als Steller eines Zwischenkredits, der nach Willen des Landesfürsten die Ablösung eines Satzes durch eine dritte Partei zu realisieren helfen sollte. Dieser Vorgang stellt nun einen Fall von Bezahlung aus dem Amt dar. Im Spätherbst 1484 verschrieb der Kaiser dem Rogendorfer Schloss und Herrschaft Krumau am Kamp satz- und pflegweise um 1.450 ungarische Gulden und Dukaten, womit der in die erweiterte steirische Verwandtschaft Kaspars gehörende Landeshauptmann von Krain, Wilhelm von Auersperg, wohl kaum gegen dessen Willen, sondern aufgrund vorheriger Absprache mit dem Rogendorfer, abgelöst wurde45.

Fallbeispiel Bezahlung aus dem Amt: Hans von Plankenstein und Kaspar von Rogendorf als Einnehmer des Aufschlags von Melk Aus der bislang gebotenen Übersicht der von Kaspar als Kreditgeber und Amtspächter Friedrichs III. getätigten Geschäfte wurde bewusst ein dichter Komplex von Verträgen über Bezahlung aus dem Amt, also der Besicherung von zinslosen Darlehen durch die bis zur Tilgung der aushaftenden Schuldsumme einzubringenden Einkünfte eines landesfürstlichen Amts, ausgeblendet. Anhand dieses Fallbeispiels soll thesenhaft erläutert werden, warum diese auf den ersten Blick für den Einnehmer so ungünstige Form landesfürstlicher Kapitalisierung letztlich doch vorteilhaft gewesen sein dürfte. Im Frühjahr 1477, also noch eher am Beginn seiner langen Karriere als Amtspächter und landesfürstlicher Funktionsträger, legte Kaspar zusammen mit Hans von Plankenstein, dessen Verhältnis zu Kaspar ansonsten schlecht zu beleuchten ist, den Grundstein zu einer höchst bemerkenswerten Serie an Darlehen, die diese beiden Geschäftspartner in wenig mehr als drei Jahren dem Kaiser zur Verfügung stellten und für die sie sich jeweils aus dem ihnen als Besicherung verschriebenen Amt bezahlt machen sollten. Zunächst liehen die beiden Adeligen dem Landesfürsten 5.000 ungarische Gulden und Dukaten zu dessen notdurften, wofür beiden der Aufschlag in Melk zu Wasser und zu Land bis zur Tilgung der Gesamtsumme übertragen wurde46. Die Urkunde legte die Höhe der einzuhebenden Aufschläge taxativ fest und verpflichtete die Empfänger zur Einhaltung dieser Abgaben, die sie stets in Beisein des kaiserlichen Gegenschreibers der Aufschläge, der darüber Buch führen und mit Friedrich abrechnen sollte, sowie des von Friedrich dazu verordneten Beschauers einnehmen sollten, alslanng untz sy derselben funfftausent gulden ganntz davon entricht und betzalt über das, so wir zu sold irs innemer desselben aufslags und unserr gegenschreiber und beschawer bestimben werden. Der Vorteil dieser Ausgabe des Mel44  Siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 730 (1479 Mai 23, Graz). Tatsächlich wurde Wald jedoch Sigmund Tellitzer als Pfleger eingeräumt, das für die zugehörigen Renten zu erlegende Bestandgeld fiel mit 200 lb. den. recht bescheiden aus, siehe dessen Revers vom 25. Mai 1479 in Wien, HHStA, AUR, vgl. Reg. Imp. XIII/34 Nr. 288. 45  Siehe den Revers Kaspars in Wien, HHStA, AUR 1484 November 26, vgl. Reg. Imp. XIV/30 Nr. 148; Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 47 Anm. 54. 46  Brno, MZA, G 9 Nr. 8 (1477 März 21, Wien), vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 682. In Wien, HHStA, AUR 1477 III 17 (recte 1477 April 2) liegt der Revers der beiden über den Aufschlag vor, der jedoch bereits die angesteigerte Summe von 6.400 ungarischen Gulden und Dukaten nennt; vgl. auch Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 37 mit Anm. 10.

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ker Aufschlags in Form der Bezahlung aus dem Amt für den Landesfürsten ist, wie bereits oben umrissen, klar: Verwaltung und Abrechnung der Einkünfte werden anders als bei Vergaben zu Pfand und Satz oder in Bestand der Kontrolle des Landesfürsten nicht gänzlich entzogen. Die Höhe des Darlehens scheint durchaus nicht ungewöhnlich gewesen zu sein. Für ebenfalls 5.000 ungarische Gulden und Dukaten gab Friedrich fast zur selben Zeit das Schloss Wald samt Zubehör pfleg- und satzweise an Sigmund Schlick aus47. Wäre diese Darlehensbesicherung durch Bezahlung aus dem Amt ein für die beiden Krediteure nachteiliger Vorgang gewesen, dann wäre dies wohl auch schon der Schlusspunkt unter dem Geschäft gewesen. Der Plankensteiner und der Rogendorfer bemühten sich jedoch im Gegenteil sichtlich darum, in kurzer Zeit möglichst hohe weitere Darlehen für den Kaiser aufzustellen, die sie sich umgehend wiederum auf dem Melker Aufschlag versichern ließen. Die entsprechenden Verschreibungen ließ sich Kaspar im Frühjahr 1478 in einem Vidimus des Melker Abtes übersichtlich zusammenstellen, das sich in einer zeitnahen Abschrift erhalten hat48. Schon am unmittelbar auf die Ausstellung der ersten Urkunde folgenden Tag, also am 22. März 1477, wurde ein weiteres Darlehen von 400 fl. auf dem Aufschlag versichert49, wozu nur etwas mehr als eine Woche später weitere 1.000 fl. treten50. Eine angesichts der unbekannten Verwendungszwecke der bis dahin geleisteten Darlehen aufschlussreiche Erweiterung der auf dem Melker Aufschlag aushaftenden Beträge beurkundete der Kaiser am 13. Mai 1477, indem er Plankenstein und Rogendorf anwies, seinem Diener Balthasar von Rogendorf – Kaspars jüngerem Bruder51 – 250 fl. ausständiges Soldgeld auszubezahlen und sich über diese Summe wiederum aus dem Melker Aufschlag bezahlt zu machen52. Dieser Vorgang belegt exemplarisch, dass nicht nur Maßnahmen außerordentlicher Finanzierung des Landesfürsten, sondern auch regelmäßige Haushaltsausgaben im engsten Sinn, selbst Bagatellbeträge, durch ad-hoc eingebrachte Darlehen bei Amtleuten bedeckt wurden. Im konkreten Fall war die Lösung freilich in doppelter Hinsicht naheliegend: Kaspar sollte den Sold ja für seinen jüngeren Bruder vorstrecken, also gleichsam innerfamiliär „aushelfen“. Zudem war aber Balthasar vielleicht gerade eben im Begriff, Erzherzog Maximilian in die Niederlande zu begleiten, in dessen burgundischen Diensten er wenigstens zeitweise 1481 und vielleicht sogar bis zu seinem frühen Tod 1483 stand53. 47  Reg. Imp. XIII/26 Nr. 685 (1477 April 27, Wien). Zur zwei Jahre später mit einem Kredit Kaspars ermöglichten Auslösung von Wald durch die Stadt Wien siehe oben 411. 48  Brno, MZA, G 9 Nr. 221 (1478 Mai 11, Melk), vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 682. Die Urkunden waren dem Abt im Auftrag der beiden Partner von Hans Pielacher und Michael Prandeys vorgewiesen worden. Wenn in der Folge zu einzelnen Urkunden Friedrichs in Sachen des Melker Aufschlags keine anderweitigen Überlieferungsangaben geboten werden, handelt es sich durchwegs um Kopien in diesem Vidimus. 49   1477 März 22, Wien, siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 683. 50   1477 März 31, Wien, siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 684. 51  Spätestens 1467 erscheint Balthasar erstmals in habsburgischen Hofdiensten. Seine enge persönliche Beziehung zum etwa gleichaltrigen Erzherzog Maximilian stellte wohl wenigstens einen unterschwellig unterstützenden Faktor für die Karriere Kaspars im höfischen Umfeld dar. Als einer der Knaben aus dem erbländischen, vor allem dem steirischen Adel, die als Spiel- und Lerngefährten des jungen Maximilian am erzherzoglichen Hof aufwuchsen (siehe Regesta [wie Anm. 24] Nr. 5207 [1467 September 7, Neustadt]: Kaiser Friedrich III. befiehlt Prokop Zinner, Ungelter zu Wiener Neustadt, den Knaben Hzg. Maximilians monatlich 18 den. zu bezahlen sowie ihrem Schulmeister Ulrich Ros 20 den. Als Knaben werden unter anderem Friedrich von Stubenberg, Volkhard von Auersperg und Balthasar von Rogendorf genannt), stand er naturgemäß in engstem Kontakt mit dem Kaiserhaus, was sich für die weitere Karriere des Bruders Kaspar offenbar günstig auswirkte. 52  Vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 686. 53  In seiner Funktion als Hofdiener Maximilians hielt sich Balthasar zu Beginn der achtziger Jahre oft in



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Die mutmaßliche Verbindung der Soldzahlung an den jüngeren Rogendorfer zu diesem „Brautzug“ Maximilians wird dadurch wahrscheinlich, dass Kaspar und der Plankensteiner kaum zwei Wochen später dem Kaiser abermals 4.000 ungarische Gulden und Dukaten als aus dem Melker Aufschlag zu tilgendes Darlehen zuführten, von dem wir nun explizit erfahren, dass es der Finanzierung der burgundischen Reise Maximilians diente54. Klarer in den Rahmen der Kriegsfinanzierung Friedrichs fällt ein weiteres, drei Wochen jüngeres Darlehen von 500 ungarischen Gulden und Dukaten, das der Kaiser – diesfalls nur Hans von Plankenstein allein – abermals auf dem Melker Aufschlag zu versichern erlaubte. Der gegen Quittung von Graf Haug von Werdenberg, Friedrichs Rat und oberstem Hauptmann, und dem Kämmerer Jobst Hauser, Pfleger von Krems, zu erlegende Betrag sollte zur Bezahlung der Truppen des Jaroslav von Sternberg verwendet werden55. In denselben Kontext gehört die Ausfolgung weiterer 112 lb. 4 ß. 10 den. durch Plankensteiner und Rogendorf an den kaiserlichen Diener Lienhard Fuller, dessen Solddienst und Schadenersatzforderungen damit abgedeckt wurden, und deren Erstattung wiederum auf dem Melker Aufschlag versichert wurde56, oder die Begleichung der Soldforderungen über 506 lb. 5 ß. 20 den., die Wenzel Apfalterer für seinen Kriegsdienst in Schloss Aspersdorf (heute Grafenegg) in Rechnung gestellt hatte57. Zwar wurde der überwiegende Teil des gesamten Kreditvolumens in dem nicht viel mehr als ein Jahr umfassenden Zeitraum, den das genannte Vidimus überblicken lässt, von den beiden Partnern gestellt, doch noch im Herbst 1481 ließ sich der Plankensteiner alleine weitere 2.250 lb. den., die er dem Kaiser berait geliehen hatte, auf dem Melker Aufschlag verschreiben58. Im selben Jahr musste Kaspar dem Söldner Wenzel Sabaditzko gegen Quittung 100 lb. den. aus dem Melker Aufschlag reichen59, und auch für die 600 lb. den., die Kaspar zur Anwerbung der für seine eigene Pflegschaft Ybbs nötigen Söldner verwendet hatte, sollte er sich aus dem Melker Aufschlag bezahlt machen60. den Niederlanden auf. 1481 sicherte ihm Maximilian angesichts der von Jugend auf geleisteten Hofdienste einen jährlichen Sold und Dienstgeld von 700 Kronen bei realem Dienst am Hof, zahlbar zu zwei Terminen im Jahr, und einen Samtrock zu. Während der Abwesenheit vom Hof sollte dem Rogendorfer neben dem Samtrock das halbe Dienstgeld zustehen; siehe Brno, MZA G 9 Nr. 13 (1481 Februar 22, Gent); eh. Unterfertigung Maximilians (Großes Handzeichen) links unterhalb des Textblocks. Der Begünstigte wird hier – abweichend von der herrenmäßigen Titulatur seines älteren Bruders Kaspar durch die erbländische Kanzlei Friedrichs III. – als Walther Rogendorffer angesprochen. 54  Dies explizit in der Urkunde von 1477 Mai 24 (Reg. Imp. XIII/26 Nr. 687): czu abvertigung des hochgebornen Maximilian herczogen zu Osterreich etc., unnsers lieben sun, zu seiner gemáchel in die burgundischn lande; pauschal lässt sich dies wohl kaum für alle Urkunden des Rogendorfers in Zusammenhang mit dem Melker Aufschlag behaupten, wie dies in Reg. Imp. XIII/26 Nr. 682 (Kommentar) beansprucht wird. Vgl. zu den Summen, die von anderen Kreditgebern im Reich zu diesem Zweck aufgebracht wurden: Karl Rausch, Die burgundische Heirat Maximilians I. Quellenmäßig dargestellt (Wien 1880) 172f. 55   1477 Juni 15, Wien; siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 691. Die von Friedrich geforderte Quittung des Grafen von Werdenberg und Hausers liegt ebenfalls in Kopie vor; sie datiert schon zum 1. Juni, nennt als Truppenführer abweichend Zdenko/Zdeněk von Sternberg und als eigentliches Zahlungsdatum den 2. Februar, wobei das Geld in Schloss Ottenschlag übergeben worden war. 56  1477 Juni 22, Wien; siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 694. 57   1478 Jänner 23, Graz; siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 706. In Friedrichs Verschreibung ist die Rede von 16 Wochen Solddienst mit 27 Pferden, im erhaltenen Revers Apfalterers (Wien, HHStA, AUR 1478 I 12, Stein an der Donau) sind 14 Wochen und 25 Pferde angeführt. 58  1481 Oktober 30, Wien (Wien, HHStA, AUR, sub dato, kassiert), siehe Reg. Imp. XIII/35 Nr. 148. Vermerk: com(m)issio do(mi)ni imp(er)ator(is) p(er) d(ominum) W(ilhelmum) Aursp(er)g camer(arium). 59   1481 September 5, Wien; siehe Brno, MZA G 9 Nr. 14 (Reg. Imp. XIII/26 Nr. 746), 60  1483 September 6, Graz; siehe Brno, MZA G 9 Nr. 228, Vermerk: c.d.i. p(er) d(ominum) S(igmundum)

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Dass in den dichten Komplex an Urkunden zum Melker Aufschlag für den Plankensteiner und den Rogendorfer aus den Jahren 1477/88 auch zwei – oder vielleicht sogar drei – Autographen Friedrichs III. gehört hatten, mit denen im August bzw. November 1477 weitere 800 bzw. 600 ungarische Gulden auf dem Melker Aufschlag versichert wurden61, unterstreicht einerseits wohl die Dringlichkeit der Kreditierung und scheint darüber hinaus mehrere Annahmen hinsichtlich der eigenhändigen Schreiben des Kaisers zu bestätigen und miteinander zu verknüpfen: Erstens, dass die Empfänger eigenhändiger Schreiben des Kaisers nicht selten mit direktem Zugang zum Herrscher ausgestattete einflussreiche Personen aus dessen höfischem Umfeld waren, zweitens, dass nicht wenige von diesen unter Friedrichs Amtspächtern zu suchen sind, und drittens, dass der Anlass zur Abfassung eigenhändiger Schreiben oft mit dringenden finanziellen Angelegenheiten verknüpft war62. Insgesamt wurden die beiden Financiers nach Ausweis aller einschlägigen Urkunden mit der sehr beträchtlichen Summe von 15.350 ungarischen Gulden und Dukaten sowie 718 lb. 10 ß. den. auf den Melker Aufschlag verwiesen. Auf den ersten Blick wirkt dieses mit hohen Summen operierende Geschäft als zinsloses Darlehen an den Kaiser im Vergleich zu Pfand-, Satz- und Bestandgeschäften sehr ungünstig für die Kreditgeber. Der Nutzen dieses Kreditierungsmodells für die Geldgeber scheint jedoch nicht in der (fehlenden) Verzinsung des Kapitals, sondern in einer „Umwegrentabilität“ zu liegen, deren mögliche Renditefaktoren am Ende dieses Beitrags diskutiert werden sollen. Der Fall der Vergabe des Melker Aufschlags an den Plankensteiner und den Rogendorfer soll zunächst noch mit dem in mancher Hinsicht ähnlichen der Wein- und Salzmaut von Sarmingstein63 verglichen werden, die 1481 an die mit den Rogendorfern verwandten und an deren Seite als Kreditunternehmer in Herrschernähe tätigen Brüder Prüschenk ausgegeben wurde. Ein genauerer Blick auf die Details der Sarmingsteiner Mautgeschäfte der Prüschenk – ganz wie Kaspar von Rogendorf ließen sich auch die Prüschenk ihre Mauturkunden in einem Vidimus übersichtlich zusammenstellen64 – stiftet zunächst Verwirrung: Schon seit 1479 hatte Heinrich Prüschenk als Pfleger von Sarmingstein auch die dortige Maut in Bestand eingenommen65. Im Folgejahr gewährte FriedPrusch(enk) marsch(alcum) et camer(arium); siehe Reg. Imp. XIII/26, n. 754: Kaspar habe in disen kriegslewffen ettwas zeither ettlich dinstlewt zu bewarung derselben unser stat gehabt, die er noch brauchet und sy irs solds von seinem gut enntricht und betzallt hat, als wir bericht sein. Nach erfolgter raittung mit den Söldnern solle sich Kaspar über 600 lb. den. aus dieser Summe aus dem Melker Aufschlag bezahlt machen. 61  Siehe den Editionsanhang. 62 Martin Wagendorfer, Eigenhändige Unterfertigungen Kaiser Friedrichs III. auf seinen Urkunden und Briefen, in: König und Kanzlist, Kaiser und Papst. Friedrich III. und Enea Silvio Piccolomini in Wiener Neustadt, hg. von Franz Fuchs–Paul-Joachim Heinig–Martin Wagendorfer (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 32, Wien–Köln–Weimar 2013) 215–265, hier 225. 63   Siehe bislang Alfred Hoffmann, Die Salzmaut zu Sarmingstein in den Jahren 1480–87. MIÖG 62 (1954) 447–459, wiederabgdr. in: ders., Österreich und Land ob der Enns. Studien und Essays, ausgewählt und hg. von Alois Mosser, Bd. 2 (Wien 1981) 188–204; ders., Die Weinfuhren auf der österreichischen Donau in den Jahren 1480–87, in: Aus Verfassungs- und Landesgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Mayer (Lindau–Konstanz 1954/55) 329–345; wiederabgedr. in: ders., Österreich (wie oben) 216– 238. Die einschlägigen Urkunden Friedrichs III. sind jetzt bearbeitet und bequem zusammengestellt in Reg. Imp. XIII/34 Nr. 320; Reg. Imp. XIII/35 Nr. 1, 78, 82, 110, 121, 122, 124, 127, 150, 152, 159, 205 und 215. 64  Durch den Abt von Baumgartenberg, 1496 April 19, Baumgartenberg; siehe Wien, HHStA, AUR sub dat. 1480 X 14; vgl. Reg. Imp. XIII/35 Nr. 78. 65   Wie oben, Reg. Imp. XIII/34 Nr. 320.



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rich jedoch Heinrichs Bruder Sigmund das Recht, zusätzlich zu der bislang von Heinrich eingenommenen (und von diesem in Bestand gehaltenen) Maut von dem grossen saltz aus Passau auch noch Küfelsalz und Wein sowie alle andere Kaufmannschaft zu vermauten, allerdings nun auf Rechnung und zur Abzahlung eines Darlehens von 4.000 fl. und 2.500 lb. den.66. Zwar fehlen anscheinend weitere Urkunden, die klären könnten, ob Heinrich durch diese Urkunde formal des früheren Bestandvertrags enthoben wurde – die Urkunde für Sigmund schließt explizit die frühere Salzmaut Heinrichs mit ein –, doch kann Letzterer in der Praxis kaum Bestandgeld für Mauteinkünfte erlegt haben, aus denen sich gleichzeitig sein Bruder bezahlt machen sollte. Der jüngere Vertrag mit Sigmund änderte die Sachlage jedenfalls deutlich: Durch die neue Rechtsform der Bezahlung aus dem Amt – analog zu der des Plankensteiners und des Rogendorfers für den Melker Aufschlag – bekam der Landesfürst wieder unmittelbare Kontrolle über die Einkünfte aus der Maut. Eine solche Änderung ergibt für den Mauteinnehmer dann Sinn, wenn bei laufendem Bestandvertrag die Erträgnisse aus der Maut zu gering zu werden und unter die Höhe des zu erlegenden Bestandgelds zu fallen drohen. Genau wie bei Hans von Plankenstein und Kaspar von Rogendorf mit dem Melker Aufschlag wurden die Einnahmen aus der Sarmingsteiner Maut in den Folgejahren die Standardversicherung für die meisten der von den beiden Brüdern – zumeist Sigmund – für den Kaiser getätigten Ausgaben. In ziemlich genau zwei Jahren, zwischen 14. Oktober 1480 und 30. Oktober 1482, verwies Friedrich die beiden Prüschenk über eine im Vergleich zu den Melker Einnehmern noch deutlich höhere Gesamtsumme von wenigstens 16.306 ungarischen Gulden und Dukaten sowie 8.497 lb. und 6 den. auf die Einnahmen aus der Sarmingsteiner Maut67. Die Verwendungszwecke der jeweils zugrundeliegenden Darlehen des Plankensteiners und des Rogendorfers und der Prüschenk waren wenigstens teilweise verschieden: Trugen letztere wohl durchwegs zur Deckung der enormen Kosten der Kriegsführung gegen die ungarischen Truppen bzw. zur Aufbringung jener gemäß dem zwischen Friedrich und Matthias gegen Jahresende 1477 geschlossenen Friedensvertrag dem ungarischen König zu entrichtenden Summe von 100.000 fl. bei, die 1478/79 in zwei Tranchen von den Ständen unter und ob der Enns bereitzustellen war68, so dienten wenigstens die ersten Darlehen des Plankensteiners und Rogendorfers an den Kaiser aus der ersten Jahreshälfte 1477, also vor Ausbruch der Kriegshandlungen mit den ungarischen Truppen69, wie oben ausgeführt, einem anderen Zweck.

  Reg. Imp. XIII/35 Nr. 78 (1480 Oktober 14, Wien).   Dazu sind noch zu rechnen ein in der Höhe unbekannter Teilbetrag aus einem älteren Darlehen sowie Soldzahlungen an die Söldner in den Schlössern Sarmingstein und Ebersdorf, für die wöchentlich 1 lb. den. veranschlagt wurden. 68 Max Vancsa, Geschichte Nieder- und Oberösterreichs 2: 1283 bis 1522 (Deutsche Landesgeschichten 6, Stuttgart–Gotha 1927) 501 und 504f. mit Anm. 2; Karl Schober, Die Eroberung Niederösterreichs durch Mathias Corvinus in den Jahren 1482–1490. Mit Benützung bisher unedierter Quellen im k. und k. Staats-Archiv, im Wiener Stadt-Archiv und n. ö. Landes-Archiv (Wien 1879) 2 und 170 (Nr. 2); Karl Gutkas, Friedrich III. und Matthias Corvinus (Wissenschaftliche Schriftenreihe Niederösterreich 65, St. Pölten–Wien 1982) 17; Gyula Rászó, Die Feldzüge des Königs Matthias Corvinus in Niederösterreich 1477–1490 (Militärhistorische Schriftenreihe 24, Wien 31997) 6; Reg. Imp. XIII/34, Einleitung und Nr. 106 ([1477 Dezember 1, Gmunden]), Abs. 7; zuletzt knapp Petra Heinicker, Sold und schaden: Der Kaiser rechnet ab. Überlegungen zu zwei Schiedsverfahren zwischen Kaiser Friedrich III. und Soldunternehmern zur Zeit des Ungarnkrieges. Studia Historica Brunensia 66/1 (2019) 59–84, hier 64. 69 Siehe Rászó, Feldzüge (wie Anm. 68). 66 67

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Bestandverträge im großen Stil Dieses mit dem Melker Aufschlag exzessiv betriebene Besicherungssystem von zinslosen Darlehen an den Kaiser wurde später auch auf andere von Kaspar verwaltete Kammergüter übertragen. 1484 wird seine Tätigkeit als Soldunternehmer im Kampf gegen die ungarischen Truppen im Großraum Krems eben wiederum in Form der Bezahlung aus dem Amt fassbar: Als Pfleger von Ybbs fiel ihm und dem Sarmingsteiner Pfleger Heinrich Prüschenk die Aufgabe zu, mit dem vom Steiner Mautner Bernhard Karlinger auf Befehl Friedrichs III. bereitzustellenden 2.000 lb. den. Truppen gegen die Ungarn ins Feld zu bringen70. Diese Truppenwerbung war lediglich Teil einer größeren Rüstungskampagne, zu deren Finanzierung Friedrich bei den Prälaten, Adeligen, Amtleuten und Städten in Österreich ob und unter der Enns Geld aufnahm, das eben Prüschenk und Rogendorf einheben sollten. In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist eine Urkunde Friedrichs für Kaspar, die den Besicherungsmechanismus für dessen Soldforderungen klarlegt: Sollte der Rogendorfer, dem aufgetragen wurde, 100 Reiter und 300 Mann zu Fuß anzuwerben, seine Werbungskosten und Schadenersatzansprüche nicht aus dem Anschlag im Land decken können, dann sollte er sich über den Differenzbetrag aus den Einkünften des ihm verschriebenen Aufschlags im Struden selbst bezahlt machen. Dazu wurde ihm wie gewöhnlich die Nutzung solange zugesagt, bis alle seine Forderungen, die alten wie die neuen, gedeckt seien71. Danach scheint Kaspar mit keinen weiteren Krediten mehr auf Aufschläge verwiesen worden zu sein, stattdessen nehmen die in Bestandverträgen gebundenen Kapitalsummen deutlich zu. Waren „bedeutendere Städte und große Kammergutsbezirke“ früher „nur ausnahmsweise in Zeiten drückendster Finanznot zeitweilig als Pfandobjekt“72 ausgegeben worden, so wurde Steyr im späten 15. Jahrhundert regelmäßig pfleg- und bestandweise ausgetan. 1491 wurde schließlich Kaspar bis auf Widerruf Pfleger des bedeutenden Schlosses (bzw. der Herrschaft und Burggrafschaft) Steyr und Bestandinhaber aller umfangreichen Komplexe an Nutzen, Renten, Vogtei, Ungeld, Stadtsteuer und Abgaben von der zugehörigen Mühle, wofür er ein jährliches Bestandgeld von 5.000 fl. rh. zu erlegen hatte73. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass Kaspar – wie alle anderen Amtspächter auch – bestrebt war, aus der parallelen Nutzung seiner Bestandobjekte vorteilhafte Synergieeffekte bzw. möglichst großen Gewinn zu ziehen. Den an sich schon enormen Einkünftekomplex der Herrschaft Steyr erweiterte Kaspar nur eineinhalb Monate später durch die Pacht von Maut, Ungeld und Gerichtsgeldern von Enns auf zwei Jahre (bis Weihnachten 1494), wofür jährlich 1.100 lb. den. bzw. Gulden als Bestandgeld zu bezahlen waren74. Dass Kaspar seine neuen Ämterpachten im Land ob der Enns dazu verwendete, um unter Nutzung seiner Erfahrungen aus früheren Ämtern, gleichsam also aufgrund von „Insider-Informationen“, über die Aufschlags- und Mautpraxis entlang der Handelswege über die Donau 70  Siehe Wien, HHStA, AUR 1484 Mai 15, Graz (Mandat an Karlinger). Zusammen mit Prüschenk quittierte Kaspar am 19. Juni über den Empfang von 1.000 lb. den. (siehe die Quittung ebd.), die übrige Summe nahm schließlich der Hauptmann Hans von Wulfersdorf ein; vgl. auch Reg. Imp. XIV/30 Nr. 99f. 71   Brno, MZA G 9. Nr. 233 (1484 Mai 15, Graz); siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 756; vgl. Schober, Eroberung (wie Anm. 68) 57; Vancsa, Geschichte 2 (wie Anm. 68) 518. 72  Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 38. 73  Brno, MZA G 9 Nr. 17 (1491 November 28, Linz); vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 791; Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 47 Anm. 52, und ders., Entwicklung (wie Anm. 8) 404. 74  Brno, MZA G 9 Nr. 18 (1492 Jänner 17, Linz); vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 792.



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Kapital zu schlagen, wird evident aus einer Beschwerde der Bürger von Waidhofen an der Ybbs – also jener Stadt, deren Verwaltungsstrukturen er als früherer Ungeldpächter zweifellos gut kannte – bei Friedrich III., dass Kaspar ihnen gegen altes Herkommen für die von ihnen bei Wallsee mit dem Ziel Freistadt über die Donau verhandelten Waren Maut abverlange75. Hatte Kaspar schon bis dahin verstanden, Einkünfte in strategisch wichtigen bzw. kommerziell bedeutenden Kammergutspositionen im Herzogtum Österreich und dem Land ob der Enns zu akquirieren, so bedeutete das nur knapp nach der Ennser Bestandnahme abgeschlossene Bestandgeschäft über das landesfürstliche Eisenrevier am Erzberg einen neuen Höhepunkt in der Finanzierungspolitik Kaspars, nicht nur, was die Höhe des Bestandgelds betraf, sondern auch den Umfang der Renten: In einer Urkunde von 1492 über die auf zwei Jahre (bis Margarete [13. Juli] 1494) abgeschlossene Bestandvergabe von Maut und Ungeld in Innerberg und den Eisenaufschlag in Vordernberg sowie den Aufschlag auf Eisenerz in Leoben samt allen Erzlagern, Forstamt und Fischwaide auf den Seen am Erzberg sowie zugehörigen Gerichtsrechten gegen ein jährliches Bestandgeld von 8.000 fl. rh. wird Kaspar neben seiner Funktion als Kämmerer und Burggraf von Steyr erstmals auch als kaiserlicher Rat bezeichnet76. Die gleichzeitige Pacht der einträglichen Renten in Steyr und am Erzberg verschaffte Kaspar eine besonders günstige Position, stellte doch Steyr den zentralen und privilegierten Verhandlungsort für das Innerberger Eisen dar. Kaspar hatte sich also durch zwei parallele Ämterpachten an die miteinander verflochtenen Schaltstellen eines großen Handelsraums gesetzt. Ob Kaspar selbst sich als adeliger Bergwerksunternehmer am Erzberg betätigen wollte oder ob er lediglich aus einer sich ihm bietenden Kaufgelegenheit heraus auf einen sich rentierenden Weiterverkauf spekulierte, ist unklar, doch kaufte er im Spätsommer 1492 ein ödes Schmelzhaus in Innerberg an der Scholnicz von den Geschwistern Ruerer an, das er schon im Frühjahr 1493 an den Innerberger Bürger Christian Steinwerfer weiterverkaufte77. Ansätze zu einer protokapitalistischen Betätigung als (landwirtschaftlicher) Unternehmer78 lassen sich bei Kaspar mit Ausnahme der unten zu umreißenden mutmaßlichen Weinhandelsaktivitäten ansonsten kaum feststellen. Auf der Höhe der domänenwirtschaftlichen Ausstattung der Zeit war allerdings eine offenbar ausgedehnte Teichwirtschaft79 in der Herrschaft Otten75  Das entsprechende Mandat Friedrichs, diese Einhebung einzustellen (1492 Oktober 18, Linz), druckt Gottfried Friess, Geschichte der Stadt Waidhofen an der Ybbs von der Zeit ihres Entstehens bis zum Jahre 1820, größtentheils nach ungedruckten Quellen bearbeitet. JbLKNÖ 1 (1867) 1–146, hier 117f. Nr. 70; vgl. Regesta (wie Anm. 24) Nr. 7947 und 8089; Vancsa, Geschichte 2 (wie Anm. 68) 528. 76   Brno, MZA G 9 Nr. 19 (1492 Juli 9, Linz); siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 799. 77   Der Ankauf von den Geschwistern Ruerer in: Brno, MZA G 9 Nr. 235 (1492 September 20); der Verkauf an Steinwerfer in: NÖLA, Schloßarchiv Seisenegg, Karton 7, C 107 (1493 März 13); siehe das ausführliche Regest bei Andreas Zajic, Aeternae Memoriae Sacrum. Waldviertler Grabdenkmäler des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Auswahlkatalog (Staatsprüfungsarbeit am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Wien 2001) Reg. 105. Aus der Urkunde von 1492 geht hervor, dass Kaspar auf die vormaligen Inhaber des Schmelzhauses (plehaws) mit der Mahnung, durch die Verödung des Schmelzhauses dem kaiserlichen Kammergut keinen Eintrag zu tun, Druck bezüglich des Verkaufes ausgeübt hatte: nachdem unser plehaws ... lanng zeit unnutzper und od gestanden, der kayserlichen maiestat am kamerguet khain fadrung pracht ... hat uns unser genediger herr herr Caspar von Rogendorf bewegt angehabt, in menig weg vorgehalten, damit solh werchgaden zu fadrung kayserlicher maiestat kamerguet geybt wurd, das an unserm vermugen nicht gewesen, sich von seinem guet angriffen, darauf haben wir recht und redlich verkauft ... . 78  Vgl. Enno Bünz, Adlige Unternehmer? Wirtschaftliche Aktivitäten von Grafen und Herren im späten Mittelalter, in: Grafen und Herren in Südwestdeutschland vom 12. bis ins 17. Jahrhundert, hg. von Kurt Andermann–Clemens Joos (Kraichtaler Kolloquien 5, Epfendorf 2006) 35–69. 79  Vgl. Herbert Knittler, Gewerblicher Eigenbetrieb und frühneuzeitliche Grundherrschaft am Beispiel

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schlag, bei Rieggers, die 1510 anlässlich eines Teilungsvertrags der drei Söhne Kaspars belegt ist. Dass der Fischbesatz tatsächlich „außer Haus“ vermarktet wurde, geht aus der Tatsache hervor, dass der Teich von der Teilung ausgenommen sein sollte, die in ein Register einzutragenden Einkünfte nach Bezahlung der Fischknechte unter den Brüdern aufzuteilen waren. Der Erlös der gemeinschaftlich betriebenen Teichwirtschaft sollte teilweise die Bautätigkeit am sanierungsbedürftigen Schloss Guntersdorf gegenfinanzieren80. Die Pachtgeschäfte Kaspars in den frühen 1490er Jahren dürfen durchaus als solche im großen Stil bezeichnet werden: Im Jahr 1492 musste Kaspar über 16.000 fl. an landesfürstlichen Bestandgeldern abliefern, eine sehr beträchtliche Summe, die rein arithmetisch etwa den Volumina der im Folgejahr von Christoph von Liechtenstein und Heinrich Prüschenk abgeschlossenen Bestandverträge entsprach81. Ganz zweifellos überstiegen die Einkünfte aus den von Kaspar planvoll synchronisierten oder verschränkten Ämtern jedoch diese Pauschalsummen beträchtlich, auch wenn wir nicht imstande sind, die Einkünfte des Rogendorfers zu beziffern. Zu diesen Nutzen und Renten kamen noch weitere kleine geldwertige Vergünstigungen: 1493 schenkte ihm Friedrich III. etwa das vormals vom seinerzeitigen Innerberger Mautner Hans Heidenreich für den Kaiser angekaufte, nun aber baufällige Haus am Markt in Innerberg82, eine Begnadung, hinter der vielleicht auch eine weitere Kreditvergabe des Rogendorfers vermutet werden könnte, wäre die zu erwartende Summe dafür nicht eher zu klein. Dass aus diesem Modell der Verpachtung großer Einkunftstitel durch den Landesfürsten an ein und denselben finanzkräftigen Pächter beide Parteien Vorteile zogen, scheint aus der Tatsache hervorzugehen, dass Kaspar im Frühjahr 1493 eine Verlängerung der bestehenden Pachten ob der Enns und am Erzberg um weitere zwei Jahre erwirken konnte83. Vorangegangen war dieser Verlängerung eine Abrechnung älterer Bestandverträge und selbst eine noch immer ausstehende Endabrechnung über das steirische Landschreiberamt von Kaspars längst verstorbenem Vater. Alle wechselseitigen Ansprüche – die ihrer Höhe nach in der sehr knapp diktierten Urkunde leider nicht angeführt werden – wurden offenbar gegengerechnet und aufgehoben bzw. gütlich applaniert und alle Forderungen gegen den Rogendorfer fallengelassen84. Man wird nicht fehlgehen anzunehmen, dass das neutrale Ausfallen dieser „Zwischenbilanz“ Voraussetzung für die gerade eben genannte zweieinhalb Monate später erfolgte Verlängerung der großen Ämterpachten war. des Waldviertels. MIÖG 92 (1984) 115–146; ders., Teichwirtschaft im Waldviertel, in: Aichinger-Rosenberger–Zajic, Schloss Pöggstall (wie Anm. 9) 244–249. 80   Siehe Wien, HHStA, Hs. B 361 fol. 94–95r; vgl. Zajic, Große Herren (wie Anm. 4) 23f. 81  Beide zusammen hatten 33.200 fl. zu erlegen, der Vertrag lief auf drei Jahre; siehe Lackner, Entwicklung (wie Anm. 8) 405. 82   Brno, MZA G 9 Nr. 20 (1493 August 1, Linz); siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 819. 83  Brno, MZA G 9 Nr. 22 (1493 Mai 31, Linz); siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 816. In dieser Urkunde erläuterte Friedrich III. – im Widerspruch zur Urkunde von 1491 –, dass die Bestandinhabung von Steyr und die Ennser Nutzung mit Weihnachten 1493 ausliefen, wogegen die Eisenerzer Bestandschaft von Maut und Aufschlag noch ein Jahr bis zum Margaretentag 1494 dauere; er verlängerte alle drei Bestände um jeweils weitere zwei Jahre. Gegen Jahresende 1494 sollte der Rogendorfer die Ennser Einkünfte jedoch an Lasla Prager abtreten; siehe Reg. Imp. XIV/1 Nr. 3198 (1494 Dezember 7 [, Wien]). 84  Brno, MZA G 9 Nr. 28 (1493 März 15, Linz [Vidimus des Propstes von Waldhausen von 1496 April 26]); vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 811. Explizit genannt werden als quittiert das Landschreiberamt Sigmunds, die von Kaspar zusammen mit dem Plankensteiner oder alleine innegehabten Aufschläge, das Ungeld von Waidhofen an der Ybbs und Ybbs, die Nutzen und Renten von Werfenstein und die Verbindlichkeiten aus der von Kaspar König Matthias Corvinus geleisteten Huldigung.



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Zweierlei Systemverwerfungen: Risiken der Kreditvergabe in Zeiten der Kriegs­ finanzierung und Ursachen einer Rotation der ausgegebenen Kammergüter Die bislang gebotene Darstellung ergibt folgendes Bild: In geschickter Ausnutzung des enormen Finanzierungsbedarfs des kaiserlichen Landesfürsten aufgrund permanenter Kriegsführung gelang es Kaspar von Rogendorf, durchaus planvoll geleistete Darlehen durch beträchtliche Einkünfte aus landesfürstlichen Herrschaftsrechten besichern zu lassen. Das virtuos – und zweifellos in akkordierter Planung zusammen mit seinen Amtskollegen und Mithöflingen – orchestrierte Spiel als Kreditgeber schiene geradezu risikolos für den gewiegten Financier, existierte nicht auch die glaubwürdige kopiale Überlieferung einer hinsichtlich ihrer tatsächlichen Verwendung schwer einzuordnenden Klagschrift Kaspars gegen Kaiser Friedrich III., die vielleicht in das Jahr 148785 gehört: Der vormalige Hofkammerpräsident und genealogische Sammler Reichard Streun von Schwarzenau (gest. 1600) bietet in seinen Kollektaneen die Abschrift einer geschicht der verderblichen unbillichen scheden und handlung, so mir, Caspar von Rogendorf, von unsers allergnedigsten herrn des Römischen kaysers unterthan bescheen und aufgelegt ist86. Der Text, den Streun bis auf ein vorangestelltes Nota kommentarlos zusammen mit anderen Quellen zur Geschichte der Rogendorfer ans Ende seiner Notizen zu dieser Familie setzt, liest sich wie eine ausführliche Rechtfertigungsschrift des Rogendorfers zu einer unmittelbar bevorstehenden Absage an Kaiser Friedrich III. bzw. zu einem Schiedsverfahren. Offenbar war Kaspar, der seinem Landesfürsten wie geschildert durchaus beträchtliche Summen als Darlehen geboten und als kreditierender und loyaler Söldnerführer im Kampf gegen die ungarischen Truppen zur Verfügung gestanden hatte, selbst vom massiven Schadentrachten im täglichen Krieg der für Friedrich III. im Feld stehenden Söldnertruppen betroffen gewesen. Dabei bleibt unklar, ob es sich tatsächlich um Übergriffe handelt – wie Kaspar naheliegender Weise darstellt – oder um prinzipiell im Sinne der Zeit gerechtfertigtes Schadentrachten gegen den Rogendorfer, weil dieser dem ungarischen König Huldigung geleistet hatte, um seine Besitzungen – worunter allerdings auch die landesfürstlichen Pflegschaften, Sätze und Bestandgüter zu verstehen sind – gegen Kriegshandlungen der Ungarn zu schützen. 1486 hatte Kaspar seine Güter Rosenburg, Krumau, Ottenschlag, Pöggstall, Mollenburg und Struden sowie Guntersdorf von der Schatzung durch die Ungarn um 3.000 fl. ung. auf ein Jahr befreit87, am 13. November 1488 nahm er die Schlösser Pöggstall und Ottenschlag von König Matthias als Herzog von Österreich zu Lehen, dem er den Lehnseid in Wien geleistet hatte88. Zu jenen Personen, über deren Übergriffe sich Kaspar offenbar um eben diese Zeit konkret beschwert, gehört neben Herzog Al­ brecht von Sachsen und Graf Haug von Werdenberg auch sein Verwandter, Amtskollege, Nachbar als Grundherr und Amtmann sowie Geschäftspartner Heinrich Prüschenk, wo85  Die Datierung ergibt sich aus der weiter unten genannten Angabe, Kaspar habe die Stadt Ybbs das neunte Jahr als Pflegschaft inne; da Kaspars Revers dazu vom 3. Oktober 1478 datiert, wäre bei strenger Auslegung eine Ansetzung nach 1487 Oktober 3 vorzunehmen. 86  St. Pölten, NÖLA, StA Hs. 5/8 fol. 154r–156v. 87  1486 Oktober 20 Retz. S. Alois Plesser, Zur Kirchengeschichte des Waldviertels vor 1560. Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltner Diözesan-Blatt 11 (1932) 121–664, hier 566 (nach der damals angeblich im Schlossarchiv Gschwendt aufbewahrten Ausfertigung auf Papier). 88   Siehe Wien, HHStA, AUR 1488 XI 13 (deutschsprachige Urkunde, Vermerk: Ad mandatum proprium domini regis; ich danke Kollegin Kathrin Kininger sehr herzlich für rasche Auskünfte zu diesem Stück) und HHStA, HS. B 361 fol. 48r, vgl. Bergmann, Freiherren (wie Anm. 9) 526.

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bei aus den detaillierten Klagen Kaspars über die von den Truppen der Vorgenannten verantworteten Drangsale gegen seine Untertanen bisweilen Konturen adeliger Fehdeführung89 hinter dem Krieg gegen die Ungarn durchscheinen. Schiedsverfahren zwischen dem Kaiser und seinen Soldunternehmern wurden gerade zur Zeit des Kriegs gegen die Ungarn bisweilen abgewickelt90, und aus den vielleicht in einen vergleichbaren Kontext gehörenden Beschwerdepunkten Kaspars wird eindrücklich klar, wie sehr spätmittelalterlicher Krieg als Wirtschaftskrieg auch und gerade auf der Ebene der lokalen Grundherrschaften durchschlägt91. Die Volatilität des heiklen Geschäfts der Kriegsfinanzierung konnte sich jederzeit auch zu Lasten der involvierten Krediteure auswirken, wie sich an der Klagschrift Kaspars zeigt, der selbst zusammen mit Sigmund Prüschenk 1482 im Interesse und in Vertretung des Kaisers zwei Schiedsverfahren im Konflikt Friedrichs mit den Soldunternehmern Václav Vlček von Čenov und Andreas von Weispriach angestoßen und durchgeführt hatte92. Alles in allem gelang es dem Rogendorfer bis zum Tod Friedrichs III. sehr gut, seine Ämterpachten zielgerichtet zu verwalten. Nach dessen Tod sah sich Maximilian jedoch offenkundig veranlasst, ihm näherstehende Höflinge mit Sicherheiten für Kredite und Remunerationen geleisteter Dienste zu versorgen. Maximilian setzte daher eine im Rahmen der unterschiedlich engen höfischen Anbindung der adeligen Kreditgeber zu bewertende Rotation der Bestandobjekte93 in Gang und nötigte Kaspar, der schon in den ersten Novembertagen des Jahres 1493, also knapp nach dem Tod Friedrichs, als einer der Statthalter, Regenten und Räte Maximilians in Wien aufscheint94, mehrere einträgliche Bestand89   Vgl. zur Fehdeführung in Niederösterreich im 15. Jahrhundert immer noch Karl Schalk, Aus der Zeit des österreichischen Faustrechts 1440–1463. Das Wiener Patriziat um die Zeit des Aufstandes von 1462 und die Gründe dieses Ereignisses. Quellenkritische Chronik (Abhandlungen zur Geschichte und Quellenkunde der Stadt Wien 3, Wien 1919); aus reicher jüngerer Literatur etwa Alexander Jendorff–Steffen Krieb, Adel im Konflikt: Beobachtungen zu den Austragungsformen der Fehde im Spätmittelalter. ZHF 30 (2003) 179–206; Michael Jucker, Rauben, Plündern, Brandschatzen: Kriegs- und Fehdepraxis im Spannungsfeld von Recht, Ökonomie und Symbolik, in: Zwischen adliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung: Fehdeführung im spätmittelalterlichen deutschen Reich, hg. von Christine Reinle–Julia Eulenstein–Michael Rothmann (Affalterbach 2013) 261–284; Christine Reinle, Überlegungen zu Eigenmacht und Fehde im spätmittelalterlichen Europa. Einführung in Fragestellung und Ergebnisse des Sammelbandes „Fehdehandeln und Fehdegruppen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa“, in: Fehdehandeln und Fehdegruppen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, hg. von Mathis Prange–Christine Reinle (Göttingen 2014) 9–38. 90   Siehe jetzt Heinicker, Sold (wie Anm. 68). 91   Zu analogen Klagen Friedrichs III. gegenüber seinen Soldunternehmern, wonach diese seine Untertanen marodierend geschädigt hätten, siehe Heinicker, Sold (wie Anm. 68) 79f. Vgl. ferner aus reicher Literatur Malte Prietzel, Kriegführung im Mittelalter: Handlungen, Erinnerungen und Bedeutungen (Der Krieg in der Geschichte 32, Paderborn 2006); Martin Clauss, Wirtschaftskriege? Zu den wirtschaftlichen Aspekten spätmittelalterlicher Kriege, in: Handbuch Kriegstheorien, hg. von Thomas Jäger–Rasmus Beckmann (Wiesbaden 2011) 325–334. 92  Heinicker, Sold (wie Anm. 68). 93  Vgl. die treffende Formulierung von der „Rotation der Pfänder“ bei Lackner, Pfandschaften (wie Anm. 4) 198, der ebd. darauf hinweist, dass landesfürstliche Pfandschaften – im späteren 15. Jahrhundert eben auch Bestandvergaben – „ein sicheres Indiz für die Herrschaftsnähe des Empfängers“ seien, vgl. ähnlich Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 40: „Landesfürstliche Pfandschaften sind ein sicheres Indiz für Herrschaftsnähe. Fürstendienst in Hof, Krieg und Verwaltung vermittelt Pfandschaften.“ Dementsprechend bedeutete der Verlust der Herrschernähe oft auch den Verlust der Pfandinhabung, siehe Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 42. 94  Reg. Imp. XIV/1 Nr. 2820 (1493 November 5, Wien): Bericht Ludwig Klingkhamers an Erzherzog Sigmund. Kg. Maximilian befinde sich nach dem Tod Friedrichs in Graz, Statthalter in Wien bis zu Maximilians Rückkehr seien Sigmund Prüschenk, Kaspar von Rogendorf, Christoph von Liechtenstein, (Sigmund



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objekte an andere abzutreten: Noch gegen Jahresende 1493 musste Kaspar Steyr an den zweiten Vliesritter aus den österreichischen Erblanden, Rat und Kämmerer Maximilians I., Martin von Polheim95, abtreten96, 1495 die Herrschaft Werfenstein und die Maut im Struden an Heinrich Prüschenk97. 1494 überlässt Maximilian Kaspar zwar den Zehent von Emmersdorf bis auf Widerruf zu trewr hannd und auf raittung98, doch muss ihn dieser schon 1496 wieder an seinen Regimentskollegen Andreas Krabat von Lappitz abtreten. Im selben Jahr wurden ihm dafür das Schloss Dürnstein, vormals Pflegschaft des verstorbenen Hans Vorster, das landesfürstliche Amt in der Wachau (St. Michael) samt Ungeld, bisher innegehabt von Konstantin Geringer, unter zusätzlicher Zahlung von 250 lb. den. Burghut (für die er sich aus den Erträgnissen des Amts selbst bezahlt machen sollte) auf Widerruf pflegweise bzw. zu trewer hanndt und auf raittung überlassen99. 1500 musste Kaspar den Satz des Marktes Wullersdorf samt Ungeld und anderem Zubehör zugunsten Heinrich Prüschenks (nunmehr Grafen von Hardegg und im Machland) aufgeben100.

Maßgeschneidert und hochkomplex: Kaspars Vertrag über Steyr (1501) als Amalgam verschiedener Kapitalisierungsmodelle Spätestens 1501 wurde Kaspar jedoch unter Abschluss eines ungewöhnlich komplexen, im Grunde einen Fall von Amtsdarlehen/Ämterpacht darstellenden Vertrags unter zusätzlicher Anwendung moderner Kreditierungssysteme wieder Pfleger bzw. Burggraf des Schlosses und Pächter der Herrschaft Steyr101. Maximilian überließ Kaspar Schloss von) Niedertor, Dr. (Konrad) Stürtzel, Kanzler (Johann) Waldner und (Dr. Johann) Fuchsmagen; siehe auch Noflatscher, Räte (wie Anm. 17) 65, der die ausgesprochene Orientierung dieses Kollegiums von „Ausländern“ auf Maximilian hin betont, während nur Liechtenstein und Rogendorf als Repräsentanten der Stände dem Gremium angehörten. Vgl. zuletzt auch Hollegger, Reformen (wie Anm. 16) 395 und 398. 95   Siehe zu ihm Paul-Joachim Heinig, Martin II de Polheim, in: Les Chevaliers de l’ordre de la Toison d’or au XVe siècle, hg. von Raphaël de Smedt (Kieler Werkstücke Reihe D: Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters 3, Frankfurt a. M. u. a. 2000) 220–222; Carl Hans Lodewijk Ivo Cools, Mannen met macht. Edellieden en de Moderne Staat in de Bourgondisch-Habsburgse landen, ca. 1475–ca. 1530 (Amsterdam 2000) 385; Jean-Marie Cauchies, Les étrangers dans l’entourage politique de Philippe le Beau. Revue du Nord 84 (2002) 413–428, hier 410f. 96  Brno, MZA G 9 Nr. 21 (1493 Dezember 18, Wien). Die Urkunde mit dem persönliches Engagement Maximilians insinuierenden Vermerk c.d.r.p. datiert vom selben Tag wie die Ratifikation des Friedensvertrags von Senlis. 97  Siehe den entsprechenden Tötbrief über den Revers des Rogendorfers in Brno, MZA G 9 Nr. 26 (1495 März 26, Worms; Vermerk: c.d.r.p.). Am selben Tag verkaufte Maximilian Heinrich Prüschenk die Grafschaft Forchtenstein um die kolossale Summe von 24.000 fl. auf Wiederkauf, siehe Reg. Imp. XIV/1 Nr. 1455. Ob die Abtretung von Werfenstein damals tatsächlich erfolgte, ist unklar, da Maximilian Kaspar 1496 befahl, das Schloss im Struden an Wolfgang Peisser abzutreten; siehe Brno, MZA G 9 Nr. 30 (1496 August 29). 98  Brno, MZA G 9 Nr. 23 (1494 Mai 18). Die Urkunde trägt den Vermerk c.d.r.i.c. Zur Unterscheidung von Treuhandverwaltung (auf jährliche Rechnungslegung) und Bestandvergabe (Verpachtung gegen fixierte jährliche Bestandsumme, darüber hinaus erwirtschafteter Ertrag verbleibt beim Amtspächter) siehe Lackner, Finanzwesen (wie Anm. 4) 298f.; ders., Gestaltung (wie Anm. 4) 43. 99   Brno, MZA G 9 Nr. 29 (1496 Mai 19, Augsburg). Sollte bei der Rechnungslegung ein Gewinn Kaspars aus der Burghut entstehen, musste dieser der Kammer abgeliefert werden. Nach Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 47 Anm. 54, nahm Kaspar Dürnstein 1487 um 1.276 fl. zu Pfand. 100   Brno, MZA G 9 Nr. 36 (1500 Dezember 4, Linz). 101  Siehe Kaspars Revers von 1501 Februar 18, Linz, in: Wien, HHStA, AUR sub dato (neben Kaspar fungiert Heinrich Graf von Hardegg als Siegelzeuge; ich danke Kollegin Kathrin Kininger sehr herzlich für rasche Auskünfte zu diesem Stück); vgl. Reg. Imp. XIV/3 (Nr. 11551); Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 45f.,

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und Herrschaft Steyr samt dem Ungeld pflegsweys und sagte Kaspar die Zahlung einer Burghut von jährlich 200 lb. den. und Deputaten an Korn aus dem Vizedomamt ob der Enns und Wein aus dem Vizedomamt in Wien zu, wobei die Transportkosten zulasten Kaspars gehen sollten. Dazu kamen ein Drittel aller Steyrer Gerichtseinkünfte und Strafgebühren (von allen fällen und wenndeln), die üblichen Siegeltaxen und das Amt in (Bad) Hall mit Ausnahme des Ungelds, wovon jedoch dem königlichen Rentmeister zu Steyr jährlich 40 fl. rh. abzuliefern waren. Frei standen Kaspar ferner alle Fischwaiden zum Eigenbedarf (eine Verpachtung war ausdrücklich untersagt) sowie der gewöhnliche Brennholzbedarf des Schlosses (hofholtz) und Gras- und Heubedarf (wismad  ) einschließlich der entsprechenden Robotleistungen. Dagegen gelobte Kaspar, aus den ihm zugewiesenen Mitteln der Burghut und aus eigenen Mitteln das Schloss zu behüten und zu versorgen und dem Landesfürsten mit acht gerüsteten Pferden nach der newn ordennantz für ein Monat pro Jahr im Land ob der Enns auf eigene Kosten, doch auf Schadenersatzleistung des Landesfürsten, und bei Bedarf auch länger außer Landes, jedoch diesfalls auch auf Kosten des Landesfürsten, Kriegsdienst zu leisten, wobei Kaspar ausdrücklich einen redlichen verstenndigen man an seiner eigenen Stelle ins Feld schicken durfte. Die Reparatur von Dächern, Fenstern, Öfen, (wandfesten) Bänken und anderen klain sachen sollte Kaspar auf eigene Kosten bewerkstelligen und außer auf Befehl des Landesfürsten keine Bautätigkeit auf dessen Kosten durchführen. Nach den üblichen Offenhaltungsklauseln folgen die Bestimmungen zur Einnahme des Ungelds, über das in Beisein des Gegenschreibers abzurechnen war. Dieser zunächst einfach erscheinende Pflegschaftsvertrag wird ungleich komplexer durch die Tatsache, dass er auf einem verzinslichen Darlehen des Rogendorfers beruht. Auf ansynnen und begern Maximilians hatte er 5.000 fl. rh. bar geliehen, die ihm mit 5% verzinst werden sollen, dergestalt, dass er jährlich 500 lb. den. aus dem anfallenden Ungeld in abslag des geleisteten Darlehens einbehalten durfte und sich gleichzeitig daraus über die jeweils anfallenden Zinsen des Kapitals und die ihm zugesagte Burghut selbst bezahlt machen sollte. Lediglich der nach Abzug von Burghut (jährlich 200 lb. den.) und jährlich anfallenden Zinsen (im ersten Jahr also 250 lb. den.) verbleibende Betrag diente effektiv der Abzahlung des Darlehens, dessen sukkzessiv sich verringernde Summe jährlich neu zum feststehenden Satz von 5% verzinst wurde. Damit war einerseits gewährleistet, dass die Kredittilgung seitens des Landesfürsten nur sehr langsam voranschreiten konnte, während andererseits bei jährlich sinkendem Zinsertrag ein pauschaliertes Einkommen zugunsten Kaspars bis zur vollständigen Tilgung des Kredits gesichert blieb. Über den Kaspar jährlich zustehenden Betrag von 500 lb. den. hinausgehende Erlöse aus dem Ungeld waren gegen Rechnung dem Vizedomamt ob der Enns abzuliefern. Im gegenteiligen Fall eines Mindererlöses aus dem Ungeld wurde Kaspar für die Differenz an das Rentmeisteramt zu Steyr verwiesen. Der für den in Finanzangelegenheiten umfassend versierten Rogendorfer maßgeschneiderte Vertrag kombiniert damit Elemente von Pfandverträgen in Form eines abnießenden Pfands und Verträgen über Bezahlung aus dem Amt und ist nicht nur ungleich komplexer als Kaspars alter Bestandvertrag über Steyr von 1491, die Konditionen des neuen Vertrags sind auch drastisch günstiger für ihn ausgefallen.

spricht unter Bezug auf diesen Vertrag von „Hybridformen, die wohl auch die Experten der Finanzverwaltung nicht mehr ganz klar auseinander zu halten vermochten“.



Exemplarisches zu Bestand und Bezahlung aus dem Amt 423

Zur Funktion von Geschäften über Pfand, Satz, Bestand und Bezahlung aus dem Amt im Kontext adeliger Vermögensbildung Im Vergleich zu vielen anderen Standesgenossen hatten sich die Rogendorfer nach dem Gesagten offenbar lange auf Satzgeschäfte und kurzfristige Bestandverträge bzw. überhaupt auf Bezahlung aus dem Amt als Absicherung ihrer Forderungen gegen den Landesfürsten beschränkt und nicht den Versuch unternommen, aus der möglichst langfristigen Erstreckung der Nutzungsdauer von Pfandherrschaften die Grundlage späterer Lehen oder gar freieigener Herrschaften zu konstruieren102. Dass sich besonders ursprünglich Landfremde um 1500 in Österreich sehr oft zunächst nur mit Pfandherrschaften begütert machten, konnte diesen etwa dann zum Problem werden, wenn im Fall einer Verehelichung des Pfandinhabers Morgengabe und Heimsteuerwiderlegung zu verschreiben waren. Sollte die Versicherung auf einer Pfandherrschaft erfolgen, so war die urkundliche Bewilligung des Landesfürsten dazu einzuholen. Als Beispiel für einen solchen „bürokratischen“ Mehraufwand kann hier wiederum ein prominentes Beispiel aus dem kognatischen Familienverband Kaspars angeführt werden. Herrschaft und Stadt Marchegg waren Niklas II. Grafen Salm 1501 um 6.000 fl. Pfandschilling verschrieben worden103. Im Folgejahr erlaubte Maximilian dem Grafen Salm, seinem Diener und Pfleger zu Marchegg, die Widerlegung des Heiratsguts und die Morgengabe für dessen Frau Elisabeth, geb. von Rogendorf, Kaspars Schwester, auf seinem Pfandschilling Marchegg zu versichern104. Diese Pfandverschreibung bereitete dem Grafen Salm und seinem Schwager von Rogendorf allerdings Schwierigkeiten, da in der Urkunde Maximilians nur die ursprüngliche Pfandsumme über 6.000 fl. rh., nicht aber das offenbar später zusätzlich versetzte Ungeld mit 500 fl. explizit enthalten war. Niklas musste sich darum Kaspar gegenüber verpflichten, binnen Jahresfrist einen neuen Satzbrief Maximilians zu erwirken, der explizit auch das Ungeld und somit die gesamte Pfand- und Satzsumme von 6.500 fl. enthalten sollte105. Erst als nach 1500 die Zahl der Verpfändungen durch Maximilian I. wieder zunahm, bemühten sich auch die Rogendorfer vermehrt um den Erwerb von hoch dotierten Pfandherrschaften – mitunter vergeblich106. Da die Vergabe des landesfürstlichen Kammerguts zu Pfand wohl ebenso wie die der in Bestand verlassenen Güter in Form einer Versteigerung der Titel an den Meistbietenden durch die Hofkammer abgehandelt wurde107, gestaltete sich die Teilnahme an diesem Investitionsgeschäft als hochspekulativ, 102   Vgl. beispielhaft Markus Jeitler, Von der Pfandherrschaft zur freien Grafschaft – Falkenstein im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Falkenstein. Seine Geschichte, seine Menschen, seine Vereine, hg. von Markus Holzweber–Josef Prinz–Willibald Rosner (Horn 2009) 62–85; Hans-Werner Langbrandtner, Pfandschaft und Kauf, in: Adelige Lebenswelten im Rheinland. Kommentierte Quellen der Frühen Neuzeit, hg. von Gudrun Gersmann–Hans-Werner Langbrandtner unter Mitarbeit von Monika Gussine (Vereinigte Adelsarchive im Rheinland e.V., Schriften 3, Köln–Weimar–Wien 2009) 272–277. 103  Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 39 mit Anm. 20. Vgl. auch ebd. 41–43. 104  1502 März 4, Innsbruck; siehe Brno, MZA, G 9 Nr. 246. 105  1502 Juni 12; siehe Brno, MZA, G 9 Nr. 247. 106  1502 beabsichtigte Kaspar, die Pfandherrschaft Drosendorf um die beträchtliche Summe von 10.000 fl. rh. von Michael von Eitzing abzulösen, doch wurde dieser Plan nicht verwirklicht; siehe Reg. Imp. XIV/4/1 Nr. 16783 (1502 August 4, Augsburg), sodass schließlich Johann/Jan (d. Ä.) Morakschi/Mrakšý von Noskau/ Noskov zum Zuge kam; siehe Zajic, Aeternae Memoriae Sacrum (wie Anm. 77) 136. Vgl. Lackner, Gestaltung (wie Anm. 4) 41 und 47. 107 Siehe Lackner, Entwicklung (wie Anm. 8) 403f., mit Verweis auf die Instruktion für die Niederös-

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da immer wieder Ablösungserbieten an die Kammerräte oder den Landesfürsten herangetragen wurden und den seitens der Pfandinhaber vorgetragenen Wünschen nach lebenslanger Zusicherung des Pfandgenusses nicht leicht entsprochen wurde. Rückgrat der rogendorfischen Herrschaften sollten jedoch ohnehin von Anfang an österreichische Lehen oder Eigenbesitz bilden. Offenbar motiviert durch seine Funktionen als Pfleger und Amtspächter an der Donau erwarb Kaspar 1478 die Herrschaft Pöggstall im Weitental108. 1479 verdichtete Kaspar seinen Besitz im südlichen Waldviertel durch Erwerb des landesfürstlichen Lehens des Schlosses Ottenschlag samt Zubehör von Wolfgang Seisenegger109. Der Erwerb beider landesfürstlicher Lehen ebenso wie jener des Stift Melker Lehens der Herrschaft Guntersdorf im Weinviertel 1480110 wurde – dies anzunehmen legt die zeitliche Koinzidenz mit den entsprechenden Darlehensverschreibungen Friedrichs nahe – sehr wahrscheinlich mit dem aus dem Aufschlag in Melk fließenden Bargeld finanziert. 1486 kaufte Kaspar schließlich seine erste freieigene Herrschaft in Österreich, die Burg Mollenburg, von Benedikt von Ebersdorf111. Damit lässt sich zuletzt thesenartig die Frage beantworten, weshalb vergleichsweise nachteilig erscheinende Verträge über Bezahlung aus dem Amt für Kreditgeber des Landesfürsten doch attraktiv sein mochten. Die auf Einkünften wie den großen Donaumauten und Zöllen, die zusammen mit den Ungeldeinnahmen den Löwenanteil des landesfürstlichen Einkommens im Herzogtum Österreich ausmachten112, versicherten Kapitalsummen waren für die Amtspächter aus ihren jeweiligen Einnahmetiteln wiederum unmittelbar und kurzfristig in bar abrufbar und zur Akquisition von Grundbesitz als Lehen und Eigengut einsetzbar. Dies scheint einer der Gründe dafür gewesen zu sein, dass sich Kreditgeber wie der Plankensteiner und der Rogendorfer und die Prüschenk auf die Stellung zinsenloser Darlehen und Bezahlung aus dem Amt einließen, weil sie nämlich erstens dafür sorgten, dass sie selbst als „Privatleute“ durch die in ihrer Funktion als Amtspächter gleichsam als Durchlaufposten eingehobenen Bargeldmengen stets liquid blieben, während grundherrschaftliche Einkünfte neben Naturalzinsen eben nur sehr überschaubare geldwertige Einkünfte brachten. Der buchmäßige (Soll-)Ertrag der für die Rogendorfer symbolisch zentralen und identitätsstiftenden Herrschaft Pöggstall betrug im Jahr 1510 lediglich 230 lb. den., der ihrer Herrschaft Ottenschlag immerhin etwa 372 lb. den.113. Dagegen wurde für die oben besprochene 1501 beurkundete Übertragung von Steyr an Kaspar sichtlich davon ausgegangen, dass allein die jährlichen Einkünfte aus dem dortigen Ungeld etwa 500 fl. ausmachten. Dass das aus Amtsdarlehen/Ämterpachten, terreichische Rechenkammer von 1522; vgl. bei dems., Gestaltung 43f., die treffende Charakterisierung als „Darlehenswettbewerb“. 108   Wien, HHStA, AUR 1478 Dezember 7, Graz (siehe Reg. Imp. XIII/34 Nr. 222); vgl. zuletzt knapp Zajic, Große Herren (wie Anm. 9) 20. 109  Die Belehnungsurkunde siehe in Brno, MZA G 9 Nr. 10 (1479 September 6, Graz); siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 732 und Reg. Imp. XIII/313. Der Seisenegger hatte das Lehen nur mündlich aufgesandt. 110  Siehe Markus Jeitler, Herrschaftsbildung und wirtschaftlicher Mißerfolg – Guntersdorf im späten Mittelalter, in: Guntersdorf und Großnondorf. Die Geschichte der Marktgemeinde Guntersdorf, hg. von Anton Eggendorfer (Horn–Wien 2008) 56–80. 111  1486 Mai 25; siehe das Vidimus des Kaufbriefs durch den Abt von Garsten in Brno, MZA G 9 Nr. 234 (1493 Juni 22, Garsten); vgl. Zajic, Große Herren (wie Anm. 9) 22. 112  Lackner, Finanzwesen (wie Anm. 4) 289 und 292–294. Dass gerade die Mauten und Aufschläge an der Donau als der Hauptroute mittelalterlichen (Massen-)Güterverkehrs im Herzogtum Österreich einträgliche und finanziell belastbare Kommerzialisierungsobjekte darstellten, bedarf nicht näherer Erklärung. 113  Siehe Wien, HHStA Hs. B 361 fol. 7v.



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besonders den Mauteinnahmen lukrierte Kapital wiederum in den Erwerb von Grund und Boden als klassische Manifestation adeligen Lebens und Aktionsfeld adeliger Repräsentation investiert wurde, kann also nicht verwundern114. Zweitens bedeuteten aber vielleicht auch kommerzielle Vorteile, die sich den Maut­ einnehmern boten, einen gewissen Anreiz zur Übernahme dieser Ämter. Dass die Einnehmer die Gelegenheit zu nutzen suchten, mit ihren Herrschaftsrechten verknüpfte wirtschaftliche Transaktionen wahrzunehmen115 – vergleiche auch die oben gebotenen Angaben zu Kaspar als Inhaber eines Schmelzhauses am Erzberg – liegt auf der Hand. Von der Salzmaut und dem Weinaufschlag in Sarmingstein war Kaspar von Rogendorf jeweils mit einer beträchtlichen Fuhrmenge befreit, die wohl kaum nur der Deckung des Eigenbedarfs diente, sondern auf kommerziellen Absatz hindeuten dürfte116. Bezeichnenderweise liegt Kaspar in den Jahren 1480/85 mit einer Aufschlagsbefreiung für 20.000 Eimer in Sarmingstein hinter Kaiser Friedrich III. (mit 28.000 Eimern) und Sigmund Prüschenk (mit 25.000) an dritter Stelle der mautbefreiten Weinfuhren117. Im Fall Kaspars ist – zumal zu jenem Zeitpunkt keine ob der Enns gelegenen Besitzungen des Rogendorfers zu beliefern waren – zu vermuten, er habe seine Weine (vor allem wohl aus Guntersdorf ) unter Ausnutzung seiner Mautbefreiungen marktkonform in Richtung Passau donauaufwärts verhandelt. Drittens und vielleicht nicht erst zuletzt aber scheinen solche zinslosen Darlehen an den Kaiser auch Vorleistungen für Promotionen in der Ämterhierarchie bei Hof dargestellt zu haben. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Kaspar von der erbländischen Kanzlei Friedrichs erstmals in jener Urkunde vom 22. Juni 1477 als Kämmerer tituliert wurde, mit der ihm weitere Soldzahlungen an Lienhard Fuller auf den Aufschlag in Melk versichert wurden118. Da Kaspar noch in der Verschreibung jener 4.000 ungarischen Gulden für die burgundische Reise Maximilians vom 24. Mai 1477 als Truchsess angeschrieben worden war, dürfte seine Beförderung zum Kämmerer während des Folgemonats mit diesem Darlehen nicht nur zeitlich, sondern auch kausal eng zusammenzuhängen. Trifft diese Mutmaßung für den Rogendorfer und für andere Krediteure – was Gegenstand ähnlicher kleiner Detailstudien sein könnte – zu, dann könnten sich prinzipiell ungünstige Verträge über Bezahlung aus dem Amt selbst wiederum im übertragenen Sinn als ein Darlehen an den Landesfürsten verstehen lassen, der dessen Abzahlung durch Ausschüttung von hochverzinstem symbolischem Kapital, der Universalwährung spätmittelalterlicher Hofgesellschaften, gewährleistete.

114  Vgl. dieselbe Beobachtung für Zacharias Geizkofler bei Sigelen, „Amtsträger“ (wie Anm. 15) 386f.: „Die Investitionsstragien für sein Vermögen zielten auf Aufstieg durch Erwerb privilegierten Grundbesitzes, der der Familie dauerhaft eine adlige Existenz sichern sollte.“ 115   Hoffmann, Salzmaut (wie Anm. 63) 456. 116  Nach Hoffmann, Salzmaut (wie Anm 63) 455, führte er zwischen 1480 und 1487 13.500 Küfel Salz mautfrei auf der Donau durch. 117 Nach dems., Weinfuhren (wie Anm, 63) 342, folgte nach Kaspar an vierter Stelle Heinrich Prüschenk mit 17.000 Eimern, alle anderen Empfänger lagen mit deutlichem Abstand dahinter. 118  1477 Juni 22, Wien; siehe Reg. Imp. XIII/26 Nr. 694 (siehe oben 413).

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Editionsanhang A Kaiser Friedrich III. erlaubt Hans von Plankenstein und Kaspar von Rogendorf, sich über die ihm dargeliehene Summe von 800 ungarischen Gulden aus dem ihnen bereits früher zur Tilgung eines Darlehens eingeräumten Aufschlag in Melk bezahlt zu machen. 1477 August 3, Krems Abschrift in einem Vidimus des Abtes von Melk von 1478 Mai 11, Melk, Moravský zemský archiv Brno, G 9 (Roggendorfské listiny) Nr. 221 (unfol.). Regest: Reg. Imp. XIII/26 Nr. 699. Wier Fridreich von Gots genaden Romischer kayser etc. bekennen fur uns und unnser erben, als unns unnser lieben getrewen Hanns von Plankchenstain und Caspar von Rognn­ dorf, unnser kamrer, ain sum gulden zu unnsern notduerfft gelichen haben, darumb wier sew auf den aufslag zu Melkch geschafft haben, also haben uns aber die benanten von Plankchenstain und von Rognndorf zu unnsern hannden gelichen achthundert ungerisch gulden, und haben in auch vergunt und erlaubtt, die benantn achthundert ungerisch gulden zu der voderen sum auf dem aufslag zu bezalen. Urkundt mit unnser selbs hanndt geschrifft zu Krembs an sand Stephanstag im Snidt anno domini etc. lxxvij. Die in ihrem Diktat (urkundenmäßiges Formular mit vorangestellter abgekürzter Intitulatio119 und der Promulgatio bekennen) sehr kanzleimäßig abgefasste, offenbar unbesiegelte Urkunde stellt – zumal wenn sie durchwegs eigenhändig geschrieben war, wogegen jedenfalls die Unterfertigungsformel am Ende des Eschatokolls nicht spricht – unter den bislang bekannt gemachten Autographen Friedrichs120 eine Ausnahme dar, nicht nur, weil eine vollständig eigenhändig von Friedrich geschriebene Urkunde sonst nicht überliefert zu sein scheint, sondern auch, weil die Unterfertigung keiner der drei in der Literatur umrissenen von Friedrich gebrauchten Formen121 entspricht. B Kaiser Friedrich III. erlaubt [Hans von] Plankenstein und [Kaspar von] Rogendorf, sich über ein ihm geleistetes Darlehen von 600 ungarischen Gulden aus dem von ihnen eingenommenen Aufschlag [in Melk] bezahlt zu machen. 1477 November 12 119  Diese kommt auch in eigenhändigen Briefen Friedrichs vor; siehe Wagendorfer, Unterfertigungen (wie Anm. 62) 223. 120 Heinrich Koller, Zur Bedeutung der eigenhändigen Briefe Kaiser Friedrichs III., in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, hg. von Friedrich Battenberg–Filippo Ranieri (Köln–Wien 1994) 119–129; Wagendorfer, Unterfertigungen (wie Anm. 62) 215–265; Christian Lackner, Die Vielgestaltigkeit der spätmittelalterlichen Herrscherurkunde, in: Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich Appelt, hg. von Werner Maleczek (VIÖG 62, Wien 2014) 93–107. 121  Zusammengefasst bei Wagendorfer, Unterfertigungen (wie Anm. 62) 226–236.



Exemplarisches zu Bestand und Bezahlung aus dem Amt 427

Abschrift in einem Vidimus des Abtes von Melk von 1478 Mai 11, Melk, Moravský zemský archiv Brno, G 9 (Roggendorfské listiny) Nr. 221 (unfol.). Regest: Reg. Imp. XIII/26 Nr. 690 (falsche Datierung zu 1477 Juni 14 aufgrund der unrichtigen Lesung an sand Feytzn abent; Sand Frytzen steht jedoch korrekt für den Briccius-Tag). F. Der von Plankchnstain und Rogndorffer haben mir gelichen und fur mich bezalt sechshundert ungerisch gulden, der vergan ich in das sy sich auch bezalen sullen von dem aufslag, den si einnemen. Geben an Sand Frytzen abent 1477 p(er) m(anum) p(ropriam) Die Vorlage der Abschrift lässt sich anhand des Formulars mit der charakteristischen Reduktion des Ausstellernamens (zweifellos, wie von erhaltenen Stücken bekannt, oben mittig)122, der knappen Formulierung des eigentlichen Rechtsinhalts und dem schließenden (wohl rechts unten platzierten) Eigenhändigkeitsvermerk der von Friedrich etwas später den Prüschenk ausgestellten Sarmingsteiner Verschreibung von 1480 an die Seite stellen123. C Ein weiteres eigenhändiges Schreiben Kaiser Friedrichs III. an Hans von Plankenstein und Kaspar von Rogendorf soll aus dem Jahr 1479 gestammt haben. Sein Inhalt ist unbekannt; dass es sich um ein weiteres Dokument in Zusammenhang mit dem von beiden eingenommenen Aufschlag von Melk handelt, ist wahrscheinlich, doch wäre auch ein Bezug zu Kaspars Pfandherrschaft Dürnstein denkbar. Dort befand sich das Autograph jedenfalls vor 1600, wie Reichard Streun von Schwarzenau in seinen genealogischen Sammlungen festhält: Eodem Anno [1479] schreibt ime und herrn Hansen von Plankenstain kayser Fridreich ain briefl von aigner hand, so ich under den Tirnstainerischen briefen gefunden und bey handen habe, wie folgt: … 124. Es schließt sich jedoch, wenigstens in der niederösterreichischen Kopie der Streunschen Handschrift, keine Transkription an, sondern lediglich der Verweis darauf, dass die Stände unter der Enns diesen Aufschlag auf dem Kremser Landtag von 1477 (richtig: Jänner 1478125) ablösen und mit den von Herzog Ludwig von Bayern (in Spitz) und Stephan von Eitzing (in Dürnstein) eingenommenen Aufschlägen zu einem einzigen festgesetzten Aufschlag vereinigen wollten126.

  Siehe ebd. 223f.   Reg. Imp. XIII/35 Nr. 1. (1480 o. T.). 124  NÖLA, StA Hs. 5/8 fol. 139v. 125  Vgl. Reg. Imp. XIII/26 Nr. 703 (Ladschreiben Friedrichs III für den 6. Jänner 1478). 126  Vgl. dazu Schober, Eroberung (wie Anm. 68) 3f., 17, 20 und 22f. 122 123

Überregionale Versammlungen der Babenberger in der Mark Österreich Roman Zehetmayer

Einleitung Die Geschichtsforschung hat längst die Bedeutung von Versammlungen für den inneren Zusammenhalt nicht nur auf Reichsebene, sondern auch der Herzogtümer und Marken erkannt. Der erste, der sich mit den dort im Hochmittelalter abgehaltenen Landtagen bzw. Landtaidingen1 vergleichend beschäftigte, war Georg Waitz, der herausarbeitete, dass diese nicht zuletzt Herrschaftsinstrumente der Herzöge gewesen seien2. Einen anderen Zugang fand Julius Ficker, der in diesen Zusammenkünften ein wichtiges Element der territorialen Einheit sah und die Ausdehnung der Herzogsgewalt bzw. des Herzogtums mit dem Einzugsbereich der Landtagsbesucher gleichsetzte. Ficker versuchte deswegen, die einzelnen Landtage und die Teilnehmer zu erfassen, um so Schlüsse auf die Ausdehnung der Herzogtümer ziehen zu können3. Mit den (oberen) Landtaidingen in Mark und Herzogtum Österreich setzte sich zuerst Arnold Luschin von Ebengreuth auseinander, der darin vom Landesfürsten einberufene Notablenversammlungen sah, in der alle „öffentlichen Angelegenheiten“ des Landes besprochen worden sind4. Abgehalten worden seien diese Taidinge alle sechs Wochen in den drei Gerichtsstätten Tulln, Neuburg und Mautern5. Neue grundsätzliche Überlegungen steuerte 1939 Otto Brunner in seinem Buch „Land und Herrschaft“ bei. Brunner ging es darin vor allem um die Definition des Wesens eines mittelalterlichen Landes, von 1  Im heutigen Deutschland wird für Versammlungen unter Vorsitz des jeweiligen Herzogs im Hochmittelter zumeist der Begriff Land- oder Herzogstag bevorzugt, in Österreich eher Landtaiding, das so vom Landtag des Spätmittelalters unterschieden wird. In dieser Arbeit werden die Begriffe Landtaiding, Landtag, Landesversammlungen oder landesweite Versammlungen synonym und unterschiedslos verwendet. 2  Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte 7 (Kiel 1876) 125f., 129; 8 (Kiel 1878) 45; siehe auch bereits Sigmund Riezler–Carl Heigel, Das Herzogthum Bayern zur Zeit Heinrichs des Löwen und Ottos I. von Wittelsbach (München 1867) 152–161. 3 Julius Ficker, Vom Reichsfürstenstande. Forschungen zur Geschichte der Reichsverfassung zunächst im 12. und 13. Jahrhunderte III/2, hg. von Paul Puntschart (Innsbruck 1923) 32–54, 93f., 150–153, 188, 287f. 4 Arnold Luschin von Ebengreuth, Geschichte des älteren Gerichtswesens in Österreich ob und unter der Enns (Weimar 1879) 48; siehe auch Heinrich Brunner, Das gerichtliche Exemtionsrecht der Babenberger, in: ders., Abhandlungen zur Rechtsgeschichte. Gesammelte Aufsätze 1 (Weimar 1931) 3–81, hier 17; siehe dazu Maximilian Weltin, Landtaiding, Landgericht und Dorfgericht, in: Recht und Gericht in Niederösterreich, hg. von Willibald Rosner (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 31, St. Pölten 2002) 9–16, hier 10. 5  Luschin, Gerichtswesen (wie Anm. 4) 48–66.

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dem man erst dann sprechen könne, „wenn sich eine Landesgemeinde und ein einheitliches Landrecht herausgebildet“ haben6. Diese Landgemeinde umfasste die Teilnehmer der obersten Gerichtsversammlung, des Landtaidings, dessen Bestehen für die Entstehung eines Landes Voraussetzung war7. Während der Landesbegriff Brunners in Deutschland nicht immer auf Zustimmung gestoßen ist8, wurde er vor allem von der ostösterreichischen Verfassungsgeschichtsschreibung positiv rezipiert. Ein früher Befürworter war nicht zuletzt Othmar Hageneder, der in seinen Untersuchungen zur Landwerdung Oberösterreichs einerseits den Geltungsbereich des Landrechts untersucht, andererseits aber im Sinne Brunners stets auch nach der Formierung einer Gerichtsgemeinde gefragt hat9. Eine noch größere Bedeutung erhielten Landtaidinge für Maximilian Weltin, der sich in mehreren Studien mit dem Landesbegriff beschäftigt hat und 1990 zum Ergebnis gekommen ist, dass „das Land … [eine] Interessengemeinschaft einer Anzahl adeliger lokaler Machthaber mit der von ihnen als übergeordnet anerkannten Instanz des Landesherrn [ist]. … Die Zugehörigkeit … bekundete man durch die Teilnahme an der Landesversammlung unter dem Vorsitz des Landesherrn“10. Bei den Landtaidingen fand nach Weltin der Interessenausgleich zwischen Landesfürst und Adel statt und wuchsen die Teilnehmer zu einer Interessengemeinschaft zusammen11. Weltin stellte jene Orte zusammen, in denen Landtaidinge stattgefunden haben, und konnte dabei zeigen, dass diese nicht nur in Tulln, Mautern und Neuburg abgehalten worden sind12. 6 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands (5Österreichs) im Mittelalter (VIÖG 1, Brünn–Leipzig–Prag 1939, Darmstadt 51965) 219f. bzw 194. 7  Brunner, Land (wie Anm. 6) 232, 235, 238. 8  Siehe etwa Walter Schlesinger, Zur Gerichtsverfassung des Markengebiets östlich der Saale im Zeitalter der deutschen Ostsiedlung, in: ders., Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters (Göttingen 1961) 48–132, hier 82–92, der in „Landdingen“ Instrumente der Markgrafen für die Durchsetzung der Landeshoheit sieht; Herbert Helbig, Der wettinische Ständestaat. Untersuchungen zur Geschichte des Ständewesens und der landständischen Verfassung in Mitteldeutschland bis 1485 (Mitteldeutsche Forschungen 4, Münster–Köln 1955) 466. 9  Etwa Othmar Hageneder, Die Grafschaft Schaunberg. MOÖLA 5 (1957) 189–264, hier 239, 249f.; ders., Territoriale Entwicklung, Verfassung und Verwaltung im 15. Jahrhundert, in: Tausend Jahre Oberösterreich. Das Werden eines Landes. (Katalog der) Ausstellung des Landes Oberösterreich 1. Beitragsteil (Linz 1983) 53–63, hier 58–61; ders., Die Anfänge des oberösterreichischen Landtaidings. MIÖG 78 (1970) 286–301. 10 Maximilian Weltin, Der Begriff des Landes bei Otto Brunner und seine Rezeption durch die verfassungsgeschichtliche Forschung, in: ders., Das Land und sein Recht. Ausgewählte Beiträge zur Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, hg. von Folker Reichert–Winfried Stelzer (MIÖG Ergbd. 49, Wien– München 2006) 384–409, hier 406. – Darüber hinaus analysierte er in mehreren Studien den Einzugsbereich der Landtaidingsteilnehmer, um so Änderungen bei der Ausdehnung des Landes feststellen zu können; ders., Die „tres comitatus“ Ottos von Freising und die Grafschaften der Mark Österreich, in: ders., Land 60–81, hier 77. Siehe auch ders., Die steirischen Otakare und das Land zwischen Donau, Enns und Hausruck, in: ebd. 188–204, hier 201f.; ders., Vom „östlichen Baiern“ zum „Land ob der Enns“, in: ebd. 205–232, hier 205; kritisch Othmar Hageneder, Land und Landrecht in Österreich und Tirol. Otto Brunner und die Folgen, in: Tirol – Österreich – Italien. Festschrift für Josef Riedmann zum 65. Geburtstag, hg. von Klaus Brandstätter– Julia Hörmann (Schlern-Schriften 330, Innsbruck 2005) 299–312, hier 303 Anm. 24, 305. 11 Maximilian Weltin, Landesfürst und Adel – Österreichs Werden, in: ders., Land (wie Anm. 10) 509– 564, hier 532; skeptisch Hageneder, Land und Landrecht (wie Anm. 10) 302–306; Enno Bünz, Das Land als Bezugsrahmen von Herrschaft, Rechtsordnung und Identitätsbildung. Überlegungen zum spätmittelalterlichen Landesbegriff, in: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland, hg. von Matthias Werner (VuF 61, Ostfildern 2005) 53–92, hier 85; siehe weiters Winfried Stelzer, Landesbewußtsein in den habsburgischen Ländern östlich des Arlbergs bis zum frühen 15. Jahrhundert, in: Ebd. 157–222, hier 162f., 165. 12  Am umfassendsten Maximilian Weltin, Die Urkunden des Archivs der niederösterreichischen Stände



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Im Gegensatz zur österreichischen Forschung spielten in Deutschland hochmittelalterliche Landtaidinge bzw. Landtage auch abseits der Forschungen zum Landesbegriff eine Rolle13. So sah etwa Helmut Maurer in seiner 1978 publizierten Studie über die Herzöge von Schwaben im Hochmittelalter in den Herzogstagen vor dem Investiturstreit eher ein Forum der gemeinsamen Entscheidungsfindung, für die Zeit danach eher ein Instrument der herzoglichen Herrschaftsausübung im Zuge der Territorialisierung14. Gerd Althoff bezog Versammlungen in seine Forschungen zu den „Spielregeln der Politik“ ein und wollte nicht zuletzt die Mechanismen der Entscheidungsfindungen freilegen. Nach Althoff gab es zwei Arten von Versammlungen, nämlich erstens jene im kleinen Kreis der wichtigen Entscheidungsträger hinter verschlossenen Türen abgehaltenen mit der Möglichkeit, offen seine Meinung zu sagen. Hier wurden die Entscheidungen gefällt, die dann alle Anwesenden mittragen mussten. Davon zu unterscheiden sind große, öffentliche Versammlungen, bei denen es in der Regel formalisierter zuging und die den Zweck hatten, die noch nicht eingebundenen Großen auf den im kleinen Kreis getroffenen Konsens einzuschwören, aber auch die Herrschaft wirkungsvoll inszenieren zu können15. Etwa zeitgleich erschienen auch im angelsächsischen Raum einige Studien zur Funktion von Versammlungen. Timothy Reuter etwa unterstrich deren fundamentale Bedeutung als Ort der konkreten Herrschaftsausübung, wenn auch gerade bei Zusammenkünften hin und wieder ungeplante Konfrontationen entstehen konnten16. Chris Wickham machte auf die integrative Funktion von Versammlungen, aber auch auf deren Bedeutung für die Legitimation von Herrschern aufmerksam, die dabei die Anwesenden leichter kontrollieren konnten. Herrscher nutzen Versammlungen vor allem, um auf eine effektive Art und Weise Konsens herzustellen. Auf Versammlungen errungene Erfolge waren nachhaltiger, dementsprechend ist es nur starken Herrschern gelungen, überregionale Zusammenkünfte in einer gewissen Regelmäßigkeit einzuberufen17. Was aber bedeuten diese neuen Erkenntnisse über die Funktion von Versammlungen für die Beurteilung der in der Mark Österreich abgehaltenen Landtaidinge? Können diese (5). NÖLA 7 (1983) 44–74, hier 56–64; siehe auch ders., Landesfürst (wie Anm. 11) 532–534; ders. in: Urkunde und Geschichte. Niederösterreichs Landesgeschichte im Spiegel der Urkunden seines Landesarchivs. Die Urkunden des Niederösterreichischen Landesarchivs 1109–1314, ed. Maximilian Weltin unter Mitarbeit von Dagmar Weltin–Günter Marian–Christina Mochty-Weltin (Niederösterreichisches Urkundenbuch Vorausband, St. Pölten 2004) 424–427. 13   Siehe auch die Bemerkung bei Eduard Hlawitschka, Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft 804–1046 (Darmstadt 1986) 204, wonach Versammlungen auf Landesebene „noch durchaus unerforscht“ seien. 14  Helmut Maurer, Der Herzog von Schwaben. Grundlagen, Wirkungen und Wesen seiner Herrschaft in ottonischer, salischer und staufischer Zeit (Sigmaringen 1978) 131, 213f., 219, 237, 244. 15  Zuletzt umfassend Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter (Darmstadt 2016) 47, 311–319. 16  Timothy Reuter, Assembly Politics in Western Europe from the Eighth Century to the Twelfth, in: ders., Medieval Polities and Modern Mentalities, hg. von Janet Nelson (Cambridge 2009) 193–216, hier 202f., 205–208. Besonders Leidulf Melve machte schließlich darauf aufmerksam, dass Versammlungen öfters nicht so kontrolliert abliefen, wie dies vor allem Althoff angenommen hatte; Leidulf Melve, Assembly Politics and the Rules of the Game ca. 650–1150. Viator 41/2 (2010) 69–90. Siehe grundsätzlich auch Stuart Airlie, Assemblies in Early Medieval Germany, in: Political Assemblies in the Earlier Middle Ages, hg. von P. S. Barnwell–Marco Mostert (Studies in the Early Middle Ages 7, Turnhout 2003) 29–46. 17  Chris Wickham, Consensus and Assemblies in the Romano-Germanic Kingdoms. A Comparative Approach, in: Recht und Konsens im frühen Mittelalter, hg. von Verena Epp–Christoph Meyer (VuF 82, Ostfildern 2017) 389–426, hier 401, 415, 423.

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überhaupt weiterhin als Gradmesser für den Stand der Landwerdung bzw. der Formierung eines Zusammengehörigkeitsgefühls gelten oder bieten sie nicht eher Anhaltspunkte für die Macht des Markgrafen? Und steht nicht die von Althoff vorgebrachte Beobachtung, dass die eigentlichen Entscheidungen im kleinen Kreis im Vorfeld und nicht bei den großen Versammlungen getroffen wurden, in einem gewissen Widerspruch zur Meinung, dass es bei Landtaidingen selbst zu einem Interessenausgleich des Markgrafen mit dem Adel gekommen ist? Ziel der vorliegenden Studie ist es nun, die überregionalen Versammlungen in der Mark Österreich unter diesen Gesichtspunkten noch einmal zu untersuchen. Seit wann gelang es den Babenbergern, solche oder gar landesweite Zusammenkünfte einzuberufen, und ergeben sich daraus Informationen eher über ein Wir-Bewusstsein oder eher über die Macht der Markgrafen? In welchen Phasen kam es gehäuft dazu und wann nicht? Haben die Markgrafen größere Versammlungen eher in Phasen abgehalten, in denen sie fest im Sattel saßen und sie die Großen so auf ihre Politik einschwören konnten, oder als sie eine Schwächeperiode durchlebten und deswegen auf die Zustimmung des Adels angewiesen waren und diese suchen mussten? Welchen Zweck hatten also die vom Herzog oder Markgrafen einberufenen Versammlungen und wer profitierte davon? Damit im Zusammenhang stehen weiters Fragen nach dem Teilnehmerkreis dieser überregionalen Versammlungen, auch um zu klären, ob immer wieder dieselben Personen geladen wurden und erreicht werden sollten oder ob es markante Abweichungen gab bzw. wie groß die Fluktuation war. Gab es darüber hinaus im Vorfeld Beratungen im engeren Kreis, und wer zählte zu diesem? Im Folgenden soll diesen Fragen nachgegangen werden, indem die überregionalen Versammlungen der Markgrafen einzeln untersucht und in den jeweiligen Kontext gestellt werden, wobei aus pragmatischen Gesichtspunkten die Umwandlung Österreichs in ein Herzogtum 1156 als zeitlicher Endpunkt gewählt worden ist. Ein weiteres grundlegendes Problem, das sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die Abgrenzung der Landtage bzw. Landtaidinge von anderen Versammlungen, worauf erst nach Vorlage der Detailergebnisse im Rahmen der Schlussanalyse eingegangen werden kann.

Versammlungen im 10. und 11. Jahrhundert Um 965 wurde östlich der Enns eine zum Herzogtum Bayern gehörende Mark eingerichtet, seit 976 sind die Babenberger als Markgrafen belegt, zu deren wichtigsten Aufgaben grundsätzlich die militärische Befehlsgewalt über den im Amtsgebiet lebenden Adel und der Vorsitz im markgräflichen Gericht zählten18. Bei solchen Anlässen wird es wohl bereits von Anfang an zu größeren Versammlungen gekommen sein, doch lässt sich quellenbedingt dazu nichts Konkretes aussagen. Zu bedenken ist indes, dass vor 1002 die bayerischen Herzöge eine wichtige Rolle in der Mark gespielt und hier selbst bayernweite

18   Siehe allgemein Waitz, Verfassungsgeschichte 7 (wie Anm. 2) 8f.; Schlesinger, Entstehung (wie Anm. 8) 255.



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Versammlungen abgehalten19, Grundbesitz aufgewiesen20 und Feldzüge gegen die Ungarn angeführt haben21. Inwieweit die Markgrafen in dieser Situation überhaupt eigenständig agieren konnten22 und ob es ihnen gelang, damals bereits alle wichtigen Großen zur Teilnahme ihrer Versammlungen zu bewegen, oder ob sich nicht in der Mark sitzende Adelsfamilien – etwa jene aus dem engeren Umfeld der Herzöge – ferngehalten haben, muss deshalb offen bleiben. Eine wichtige Zäsur für die Geschichte der Mark bildete die Wahl Herzog Heinrichs IV. zum König 1002, spielten doch danach die grundsätzlich von nun an politisch wesentlich schwächeren bayerischen Herzöge23 östlich der Enns kaum noch eine Rolle, was für den Handlungsspielraum des Markgrafen nicht ohne Folgen blieb24. Da sich auch die Herrscher kaum in der Mark engagierten25, konnten der Markgraf und die Großen diese weitgehend eigenständig herrschaftlich durchdringen26. Nachrichten über die Abhaltung überregionaler Versammlungen unter Vorsitz der Babenberger finden sich auch für die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts keine, was angesichts der Quellenlage aber nicht viel aussagt27. Einen ersten konkreten Hinweis enthält schließlich eine im 12. Jahrhundert in Melk hergestellte undatierte Urkundenfälschung auf Markgraf Ernst28. Nicht zuletzt die Zeugen sprechen für einen echten Kern, unter denen sich der steirische Markgraf Otakar, die Sieghardinger, Formbacher und wichtige Edelfreie, aber auch Ministerialen der gesamten Mark finden29. Datieren lässt sich die Versammlung auf vor 1071, vielleicht auf um 106030. Die Nachricht über die Versamm19   NÖUB 1: 777–1076, ed. Maximilian Weltin–Roman Zehetmayer unter Mitarbeit von Dagmar Weltin–Günter Marian–Christina Mochty-Weltin (Publikationen des IÖG VIII/1, St. Pölten 2008) 148–150 Nr. 12g; Karl Brunner, Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 907–1156, Wien 1994) 102f.; Roman Zehetmayer, Hat die Landwerdung der Babenbergermark bereits um die Jahrtausendwende begonnen?, in: Die Babenbergermark um die Jahrtausendwende. Zum Millennium des heiligen Koloman, hg. von dems. (NÖLA 16, St. Pölten 2014) 83–106, hier 91. 20   NÖUB 1 (wie Anm. 19) Nr. 19b. Siehe auch einen Brief der älteren Tegernseer Briefsammlung, wonach Herzog Heinrich versuchte, den Mönchen in oriente gelegene Güter zu entfremden; ebd. Nr. 20a. 21   Annales sancti Rudberti Salisburgenses, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 9 (Hannover 1851) 758–810, hier 772: Heinricus IV. dux de Ungaris triumphat; Peter Csendes, Österreich, Wien und das Reich. JbLkNÖ N. F. 62 (1996) 171–186, hier 173. 22  Siehe zuletzt Zehetmayer, Landwerdung (wie Anm. 19) 87, 91f.; ders., Zu den Anfängen der Landwerdungen im nordalpinen Reich am Beispiel der Marken Steier, Österreich und Meißen. MIÖG 124 (2016) 1–25, hier 10f. 23   Siehe etwa Hubertus Seibert, Zwischen regnum und ducatus. Grundlagen, Formen und Träger herzoglicher Herrschaft in Bayern um die Jahrtausendwende, in: Babenbergermark (wie Anm. 19) 42–67; Roman Deutinger, Bayern vor tausend Jahren. JbLkNÖ N. F. 84 (2018) 1–10. 24  Siehe dazu Zehetmayer, Landwerdung (wie Anm. 19) 95–98. 25   Etwa Roman Zehetmayer, Die babenbergischen Markgrafen Heinrich I. (994/1018) und Adalbert (1018/1055) und die Entstehung des Landes „Niederösterreich“. JbLkNÖ N. F. 84 (2018) 11–34, hier 27, mit der weiteren Literatur. 26  Siehe grundlegend Weltin, Landesfürst (wie Anm. 11) 509–521. 27  Immerhin finden sich Hinweise auf größere Versammlungen im Zuge von Kriegszügen; Die Chronik des Bischofs Thietmar und ihre Korveier Überarbeitung, ed. Robert Holtzmann (MGH SS rer. Germ. N. S. 9, Berlin 21955) 420, 475; Annales Altahenses maiores, ed. Edmund L. B. Oefele (MGH SS rer. Germ. in usum schol. [4], Hannover ²1891) 28 zu 1041: Liutpold … congregata multitudine, quanta potuit, 30 zu 1042. 28   NÖUB 1 (wie Anm. 19) Nr. +34. 29  Unter den Edlen und Ministerialen finden sich etwa Rudolf von Perg und sein Sohn Walchun, Rapoto von Kilb, Markward von Burgschleinitz, Aribo von Traisen, die Kuenringer Azzo, Anshalm und Nizo oder Ulrich von Kattau. 30  Siehe NÖUB 1 (wie Anm. 19) 419f.

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lung hat sich nur zufällig erhalten und lässt vermuten, dass dies kein Einzelfall war. Zumindest aber kann festgehalten werden, dass es seit der Jahrhundertmitte markenweite Versammlungen gegeben hat. Da sich der echte Urkundenkern nur sehr grob datieren lässt und auch sonst keine Anhaltspunkte vorliegen, bleiben die Umstände der Versammlung unklar. Anzumerken ist noch, dass in den Jahrzehnten nach 1050 die Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls vorangeschritten ist31 und die Stellung der Babenberger in der Mark damals ungefährdet war. Unter Markgraf Ernsts Sohn Leopold II. kam es 1081 zum Bruch mit König Heinrich IV.32. In der um 1135 verfassten und hier grundsätzlich plausibel wirkenden33 Vita Altmanni heißt es, dass Markgraf Leopold anschließend die Großen der Mark in Tulln zu einer Versammlung geladen hat, um diese dabei mit einem Schwur an sich zu binden und zum Abfall vom König zu bewegen34. Es muss freilich Vorgespräche mit wichtigen Adeligen gegeben haben, denn ein unvermitteltes Vorpreschen des Markgrafen ohne Rückversicherung wäre für Leopold zweifellos zu riskant gewesen. Der Markgraf hat die Großen vermutlich nicht nach Tulln gerufen, um mit ihnen über die grundsätzliche Ausrichtung seiner Politik zu beratschlagen, sondern um sie öffentlich auf eine bereits ausgemachte Sache einzuschwören und sich der Unterstützung zu vergewissern bzw. dies öffentlich zu inszenieren35. Es wurden aber entweder nicht alle Adelige der Mark geladen oder konnten nicht überzeugt werden, wie die zeitgleiche Vertreibung der Gegner aus der Mark zeigt. Es gab demnach in der Mark auch Anhänger Heinrichs 36, und es waren keineswegs alle Adeligen Teil der Interessensgemeinschaft zwischen Markgraf und Adel37. Vielleicht wurde gerade wegen der unsicheren Lage eine Versammlung ein  Siehe etwa Zehetmayer, Markgrafen (wie Anm. 25) 27–33.   Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz 1054–1100, ed. Ian S. Robinson (MGH SS rer. Germ. N. S. 14, Hannover 2003) 330, 358; Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. 3 (Leipzig 1900) 207. 33   So ist die Absage Leopolds und der anderen Großen auch in den Melker Annalen überliefert; Annales Mellicenses, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 9 (Hannover 1851) 480–501, hier 500 zu 1081 (nach Codex Zwetlensis 102): Altmannus antistes marchioque Lupoldus aliique principes iurabant contra regem Heinricum. 34  Vita Altmanni episcopi Pataviensis, ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 12 (Hannover 1856) 226–243, hier 236: Interea marchio Liupaldus coadunatis primoribus sui regiminis in villa quae Tulna dicitur, dominium Heinrici tyranni iureiurando abnegat, Altmannum praesulem magnis laudibus praedicat, omnes fautores Heinrici de sua potestate expellit … . Siehe etwa Brunner, Land (wie Anm. 6) 199, 232; Weltin in: NÖUB 1 (wie Anm. 19) 434; Zehetmayer, Anfänge Landwerdungen (wie Anm. 22) 13. 35   Skeptisch Karl Brunner, Leopold, der Heilige. Ein Portrait aus dem Frühling des Mittelalters (Wien– Köln–Weimar 2009) 46: „Was das genau für eine Art von Versammlung war, können wir aus dem rückblickenden Bericht nicht erschließen: Später wurde daraus eine Art Landtag gemacht.“ 36 Angenommen wurde, dass auch die mächtigen und weiterhin herrschertreuen Diepoldinger davon betroffen waren; siehe Weltin, Landesfürst (wie Anm. 11) 511; anders Heinz Dopsch, Zwischen Dichtung und Politik. Herkunft und Umfeld Ulrichs von Liechtenstein, in: Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, hg. von Franz V. Spechtler–Barbara Maier (Schriftenreihe der Akademie Friesach 5, Klagenfurt 1999) 49–104, hier 60 Anm. 37; Tobias Küss, Die älteren Diepoldinger als Markgrafen in Bayern (1077–1204). Adlige Herrschaftsbildung im Hochmittelalter (Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft 8, München 2013) 129f. 37  Von inneren Unruhen ist allerdings – anders als in der benachbarten Steiermark – nichts bekannt. Dass Leopold im Jahre 1082 zwar gegen den mit Heinrich verbündeten Böhmenherzog Wratislav eine Niederlage erlitt, aber dennoch nicht als Markgraf abgesetzt werden konnte, wurde immer wieder als Hinweis auf seine starke Stellung gewertet; Weltin in: NÖUB 1 (wie Anm. 19) 434; ders., Markgraf Rüdiger von Bechelaren – eine historische Figur?, in: ders., Land (wie Anm. 10) 410–420, hier 418; anders Brunner, Herzogtümer (wie Anm. 19) 326. 31 32



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berufen, die vielleicht auch den Zweck hatte, oppositionelle Kräfte weiter abzukanzeln und auszuschließen. Die Quellen verraten nicht, ob sich noch der 1095 verstorbene Leopold II. oder erst kurz danach sein gleichnamiger Sohn mit dem Kaiser ausgesöhnt hat. Über größere Versammlungen unter Vorsitz des Landesfürsten hört man in dieser Phase nichts mehr, obwohl etwa die Göttweiger Traditionsbücher im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts einsetzen38 und damit die urkundliche Überlieferung wesentlich besser wird.

Versammlungen unter Markgraf Leopold III. (1095–1136) Als erstes Landtaiding unter Leopold III. wurde zuweilen eine in die Jahre 1099/1102 zu datierende, in Tulln abgehaltene Versammlung angesehen39. Mit den Burggrafen von Regensburg, den Haderichen, Starkfried von Pötzleinsdorf-Ponsee, Reginger von StaatzSt. Pölten (?) und Ministerialen wie den Kuenringern oder den Imbachern (?)40 waren tatsächlich einige wichtige Große zugegen. Zu bedenken aber ist, dass abgesehen von den Burggrafen von Regensburg keine gräfliche Familie und nur wenige bedeutende Edle vor Ort gewesen sind. Mehrere Versammlungen Leopolds lassen sich im Rahmen der Gründung des Kanonikerstifts Klosterneuburg im Jahr 1113 nachweisen. Bei drei Schenkungen des Markgrafen an das Stift finden sich zu einem guten Teil übereinstimmende Zeugen41, weshalb die drei Rechtshandlungen wahrscheinlich bei einer Gelegenheit vollzogen worden sind. Dass der Schreiber den einen oder anderen wichtigen Zeugen aber bei einer oder sogar bei zwei dieser Rechtsgeschäfte weggelassen hat, zeigt die große Ermessensbreite bei der Zeugenauflistung42. Zugegen waren jedenfalls Graf Werigand von Plain, Graf Dietrich von Formbach und einige wichtige Edle aus unterschiedlichen Landesteilen43. Überhaupt nicht vermerkt wurden Ministeriale, doch scheint es unwahrscheinlich zu sein, dass von diesen niemand dabei gewesen ist, vermutlich aber waren sie dem Schreiber in diesem Zusammenhang nicht wichtig genug44. Für die folgenden Jahre lassen sich im dichten 38   Die Traditionsbücher des Benediktinerstiftes Göttweig, ed. Adalbert Fuchs (FRA II/69, Wien 1931) Nr. 1–14, Nr. 16–25, Nr. 31f., Nr. 40, Nr. 265 und passim. Freilich sind die Datierungen der Edition nicht immer verlässlich. 39   FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 56; siehe etwa Weltin, Landesfürst (wie Anm. 11) 532 („Landesversammlung“); Günter Marian, Studien zum mittelalterlichen Adel im Tullnerfeld (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 39, St. Pölten 2017) 23. 40  Die Zeugen sind noch ohne Herkunftsnamen angeführt, was eine Zuordnung als schwierig erweist. Möglich wäre etwa, dass Adalbert und Rüdiger nicht den Imbachern, sondern den Herren von Sittendorf zuzurechnen sind. Vielleicht gab es zwischen den beiden Familien aber auch engere verwandtschaftliche Beziehungen. 41  BUB IV/1: Ergänzende Quellen 976–1194, ed. Heinrich Fichtenau–Heide Dienst (Publikationen des IÖG 3/IV/1, Wien 1968) Nr. 610 (1113): Weregandvs, Hartwicvs, Hadiricvs et filius eius Heinricvs, Bernt­ hardvs; Nr. 611 (1113): Hadericus et filii eius Heinricvs, Rapoto, Werigandvs, Gvndalchart; Nr. 612 (1113): comes Werigandvs, (item comes) Theodericvs, Hernist, Kadalhoc/Chadoldus, Bertolt [in einer Variante: Gerold], Rapoto, Starfrit, Gvndalchar. Allen drei Zeugenlisten gemeinsam ist Graf Werigand von Plain, Haderich und sein Sohn Heinrich kommen zwei Mal vor, in zwei anderen der drei Traditionsnotizen Rapoto und ein Gundakar. 42   Nicht auszuschließen wäre aber auch, dass die eine oder andere Person bei der vielleicht mehrtägigen Versammlung nicht durchgehend anwesend gewesen ist. 43  Zu identifizieren sind Ernst von Kilb/oder von Traisen, Angehörige der Traisen-Sippe? (Hartwig und Bernhard), der Chadolde und der Haderiche sowie Starkfried von Pötzleinsdorf-Preuwitz. 44  Im Gegensatz dazu waren 1114 bei einer anderen Versammlung im Rahmen der Gründung des Stiftes

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Klosterneuburger Material keine Treffen nachweisen, die von Adeligen aus allen Teilen der Mark besucht worden wären. Die nächste größere Zusammenkunft mit Leopold lässt sich 1121/22 anlässlich der Schlichtung eines Besitzstreites zwischen einem Adeligen und dem Stift Göttweig feststellen45. Neben dem Markgrafen kamen damals sein Sohn Adalbert, Markgraf Otakar II. von Steier und dessen Sohn Leopold, Bischof Reginmar von Passau, die Grafen Dietrich von Formbach, Hermann von Formbach-Windberg-Radlberg, Gebhard von Poigen und einige wichtige Edle aus mehreren Landesteilen46 zusammen. Dass auch diesmal keine Ministerialen genannt werden, liegt wohl auch hier am Schreiber47. Die Anwesenheit so vieler bedeutender Persönlichkeiten macht deutlich, dass hier mehr als nur die Beendigung des vergleichsweise unwichtigen Streites besprochen worden sein muss48. Mehrere der damals anwesenden Personen, nämlich Markgraf Leopold III., Markgraf Otakar II., Graf Gebhard von Poigen, Rudolf von Perg und Albero von Griesbach, finden sich wieder bei einem in Gars am Kamp abgehaltenen conventus, bei dem zusätzlich etwa auch Graf Werigand von Plain zugegen war49. Hier werden auch einige Ministerialen aufgelistet50. Auch diesmal müssen noch andere Angelegenheiten als der in der Traditionsnotiz erwähnte Besitzstreit besprochen worden sein, wobei der entlegene Versammlungsort Gars auffällt, wohin der steirische Markgraf eigens gereist war. Er musste einen triftigen Grund gehabt haben, um hierher zu kommen. Otakars Sohn Leopold, nunmehr steirischer Markgraf, fand sich in der zweiten Hälfte der 1120er Jahre gemeinsam mit Graf Konrad von Peilstein, Graf Gebhard von Sulzbach oder Angehörigen der mächtigen Traisensippe beim österreichischen Markgrafensohn Leopold (IV.) anlässlich einer Schenkung an das Stift Garsten ein51. Dies zeigt, dass damals überregionale Versammlungen Klosterneuburg neben dem Landesfürsten ausschließlich wichtige Ministerialen zugegen; BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 614. Vielleicht kamen zu dieser Schenkung eines Ministerialen nur Standesgenossen. 45   FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 188; BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 634. 46   Etwa Rudolf von Perg, Ulrich von Wilhering, Adalbero von Griesbach, Otto und Hartwig von Lengbach. 47  Ausdrücklich heißt es am Ende der Zeugenliste et alii multi, quos perlongum est omnes adnotare, was mehr als nur die übliche formelhafte Wendung zu sein scheint. 48   Vielleicht ging es um die militärische Unterstützung Leopolds für den in Bedrängnis geratenen Salzburger Erzbischof Konrad und den Gurker Bischof, auf deren Seite die steirischen Markgrafen standen; Heinz Dopsch, Salzburg im Hochmittelalter. Die äußere Entwicklung, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land 1: Vorgeschichte, Altertum, Mittelalter 1, hg. von dems. (Salzburg 1981) 229–336, hier 261, 265. 49   NÖUB 3: 1156–1182, ed. Roman Zehetmayer unter Mitarbeit von Markus Gneiss–Sonja Lessacher–Günter Marian–Christina Mochty-Weltin–Dagmar Weltin (Publikationen des IÖG VIII/3; Publikation des NÖ Landesarchivs, St. Pölten 2017) Nr. 214. Siehe FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 4, Nr. 86, Nr. 87, Nr. 185, Nr. 186; Heide Dienst, Schriftliche Quellen zur Besiedelungsgeschichte des Waldviertels. Ausgewählte Beispiele, in: Siedlungsnamen und Siedlungsformen als Quellen zur Besiedelungsgeschichte Niederösterreichs, hg. von Helmuth Feigl (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 8, Wien 1986) 171–186, hier 174–176; Christoph Sonnlechner, Landschaft und Tradition. Aspekte einer Umweltgeschichte des Mittelalters, in: Text – Schrift – Codex. Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, hg. von Christoph Egger–Herwig Weigl (MIÖG Ergbd. 35, Wien 2000) 123–223, hier 167–169; Klaus Lohrmann, Herrschaftsverhältnisse in der Grie 1070 bis 1170. JbLkNÖ N. F. 81 (2015) 65–197, hier 98, 107–116. 50  Siehe zu den genannten Ministerialen Weltin, Landesfürst (wie Anm. 11) 533. 51  NÖUB 2: 1078–1158, ed. Roman Zehetmayer–Dagmar Weltin–Maximilian Weltin unter Mitarbeit von Günter Marian–Christina Mochty-Weltin (Publikationen des IÖG VIII/2, St. Pölten 2013) Nr. 138; Die Traditionsurkunden des Klosters Garsten, ed. Siegfried Haider (QIÖG 8, Wien–München 2011) Nr. T 1. Am Ende der Zeugenliste werden wenige Ministerialen angeführt. Angesichts der anwesenden Grafen dürfte die Zeugenliste nur einen Teil der tatsächlich Anwesenden wiedergeben.



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auch bereits vom gleichnamigen Sohn des Markgrafen geleitet wurden. Zu einer weiteren größeren Zusammenkunft kam es vor 1121, als Bischof Heinrich von Freising in Melk einen Tausch mit seinem Bruder Friedrich von Peilstein vornahm. Neben Markgraf Leo­ pold nahmen daran auch Otakar II., vor allem aber enge Verwandte der Tauschpartner, wie Heinrich und Gebhard von Burghausen und Konrad von Peilstein, teil. Zwar waren auch Graf Ekbert von Formbach-Pitten und einige Edle anwesend, es bleibt aber fraglich, ob angesichts des Übergewichts der Sieghardingersippe hier von einer landesweiten Versammlung gesprochen werden kann52. Eine Zunahme an überregionalen Versammlungen lässt sich seit etwa 1130 beobachten. Eine solche, die vermutlich 1133 in Krems stattfand, wird im Göttweiger Traditionskodex ausdrücklich als colloquium generale bezeichnet53. Anwesend waren Markgraf Leopold, Bischof Reginmar von Passau und mehrere wichtige Edle aus unterschiedlichen Gegenden, mit Graf Gebhard von Poigen aber nur ein Graf. Einmal mehr wurde auf die Anführung von Ministerialen verzichtet. Übereinstimmungen in der Zeugenliste liegen mit einem anderen in Krems abgehaltenen Taiding vor, bei dem ein Adeliger dem Stift Göttweig Besitz überlässt in presentia Liupoldi marchionis, quando eiusdem principis in prefato loco [Krems] sollempnis habebatur contio54. Doch reichen die gemeinsamen Zeugen (Gebhard von Poigen, Otto und Hartwig von Lengbach) wohl nicht aus, um nur ein Treffen annehmen zu können55. Zuletzt wurde auch eine dritte Rechtshandlung auf dieses Kremser Taiding bezogen56, wobei es hier tatsächlich eine größere Schnittmenge, aber auch markante Unterschiede (Bischof Reginmar, die beiden Markgrafensöhne, Burggrafen von Regensburg) gibt57. Zu überlegen wäre allenfalls, ob sich damals der Markgraf nicht vielleicht länger in Krems aufgehalten hat und sich Gespräche über einen längeren Zeitraum mit wechselnden Teilnehmern hingezogen haben. Zu bedenken ist indes, dass 52  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 193. – Vermutungen, dass weitere Rechtshandlungen auf diese Melker Versammlung zu beziehen sind (ebd. S. 604 Note *), treffen angesichts der Unterschiede in den Zeugenlisten wohl nicht zu. Vielleicht aber wurde der Freisinger Bischof in Österreich phasenweise vom Passauer Bischof, vom österreichischen und steirischen Markgrafen und weiteren Adeligen begleitet und kam es dabei zuweilen zu größeren Versammlungen (etwa ebd. Nr. 191, Nr. 192). 53   FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 243 (zu 1133): … Otto in generali colloquio ad Chremise adstante domno Reginmaro Patauiensi episcopo et Liupoldo marchione super reliquias sanctorum … delegavit … testes …: Gebehardus comes de Piugin, Adalram de Berga, Pabo de Amarange, Otto de Lenginbach et fratres eius Hartwicus et Heinricus, Chadolt de Mauriberge, Bertoldus, Walchun de Machlant, Herimannus de Huntesheim et alii quam plurimi; BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 668; Weltin, Urkunden 5 (wie Anm. 12) 61. 54   FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 304: Gebehardus comes de Piugen, Otto et frater eius Hartwicus de Lengenbach, Hademarus de Chufarn, Hartwicus de Rudnich, Hademarus de Kunerigen et frater eius Albero de Chobanesburc, Hartunc de Ruhenekke. 55  Siehe FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 304 Vorbemerkung; Weltin in: NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 737 Note *; skeptisch BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 667 Vorbemerkung. 56  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 737: Bruno de Pusinperge dedit Fornbacensi ęcclesię per manum nobilis viri domni Hartwici de Legenbach presente Liupaldo marchione … testes …: Adelbertus et Leopaldus filii marchionis Leopaldi, Gebehardus comes de Piugen, Heinricus filius prefecti Ratisponę, Otto et frater eius Heinricus de Purchstal, Fridericus de Hunesperch et filius eius Fridericus, Pabo de Ameranger, Otto et frater eius Wanchn de Lautisdorf, Gerolt de Elsaren, Uvalchn et frater eius Chnrat de Sunelburch, Chadolt de Zoclisdorf, Pabo et frater eius Erchinger de Gottinisvelde, Wolfher de Heimenburch et frater eius Isinrich. Siehe Weltin ebd. Note *. 57  Gemeinsam sind allen drei Versammlungen die Zeugen Graf Gebhard von Poigen und Otto und Hartwig von Lengbach-Burgstall. Übereinstimmungen zwischen NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 737 und FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 243: Pabo von Amarang, Walchun von Machland-Lautisdorf/Loosdorf und Chadold von Mailberg-Zogelsdorf. – Unterschiede ergeben sich, weil in NÖUB 2 Nr. 737 auch Ministerialen berücksichtigt wurden.

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die übereinstimmenden Personen auch sonst häufiger im Umfeld des Markgrafen zu finden sind. Eine größere Versammlung trat 1135 in Greifenstein anlässlich einer nach einem längeren Streit fixierten Übereinkunft zwischen Markgraf Leopold und Bischof Reginmar über den Zehent in 13 bis dahin landesfürstlichen Eigenkirchen zusammen58. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Einigung nicht erst in Greifenstein, sondern bereits davor im kleineren Kreis zwischen den beiden Kontrahenten zustande gekommen ist. Bei der Versammlung sollte die Vereinbarung wohl nur noch im großen Rahmen öffentlich verlautbart und inszeniert werden, wozu vielleicht auch die Niederschrift und Übergabe einer Urkunde dienten, die vom Passauer Bischof besiegelt worden ist. Als „Paradebeispiel“ sowohl für die öffentliche Verlautbarung von Rechtsgeschäften als auch für die Abhaltung von Landtaidingen wurden lange Zeit die Vorgänge um die Errichtung der Stiftskirche zu (Klein-)Mariazell angesehen59, fand doch zunächst eine Versammlung mit einigen Bischöfen, der markgräflichen Familie, den Grafen von Peilstein und Plain und zahlreichen Edlen in Klosterneuburg statt60, ehe der Vorgang ein zweites Mal in Tulln und ein drittes Mal in St. Pölten wiederholt wurde, hier mit Zustimmung aller Adeligen (cuius rei sunt testes totius provincie principes)61. Zuletzt wurde die darüber ausgestellte Siegel­ urkunde aber als Fälschung des späten 12. oder des 13. Jahrhunderts erkannt62. Die Zeugenliste selbst erregt freilich keine Bedenken. Dennoch bleibt unklar, ob die Versammlung tatsächlich anlässlich der Kirchenerrichtung zusammengekommen und der Rechtsakt gleich drei Mal an verschiedenen Orten vor großen Menschenmengen verlautbart worden ist63. Immerhin wurde eine solche Vorgehensweise vom Fälscher für möglich gehalten. In die Jahre 1133/36 fällt eine Schenkung Markgraf Leopolds, deren Zeugenliste die Probleme um die Einschätzung von Versammlungen gut verdeutlicht. Es sind nämlich nur vier Zeugen angegeben, bei denen es sich aber um zwei Grafen (Gebhard von Poigen, Leutold von Plain) und zwei wichtige Edle (Friedrich von Haunsberg, Pabo von Burgschleinitz-Amarang) handelt64. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Schreiber nur vier 58   NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 143 (1135): Adelbertus et Liupaldus filii marchionis, Dietricus comes, Adalrammus et frater eius Adalbertus de Perge, Otto et frater eius Walchůn de Machlant, Dietricus de Adelgerispach, v Chadolt de Zokilisdorf, Chůnradus de Sůnnilburch, Hadamarus de Chůphare, Chunradus de Wirmilaha, Odalricus de Woluisteine, Walchůn de Griespach … ; siehe ebd. 522f. und Heide Dienst, Niederösterreichische Pfarren im Spannungsfeld zwischen Bischof und Landesfürst nach dem Ende des Investiturstreites. MÖStA 34 (1981) 1–44, hier 1–7. Es war mit Dietrich von Formbach zwar nur ein Graf zugegen, dafür aber viele wichtige Edle aus mehreren Landesteilen. Nicht besonders prominent sind die Ministerialen vertreten. 59  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 92; siehe Luschin, Gerichtswesen (wie Anm. 4) 48; Oskar von Mitis, Studien zum älteren österreichischen Urkundenwesen (Wien 1912) 12; Weltin, Urkunden 5 (wie Anm. 12) 57f. 60  Hec tradicionis actio celebrata est in presencia nostra in Nouacivitate in purificacione sancte Marie super allatas predicti loci reliquias M.C.XXXVI. … presente domino Chunrado Salzpurgensi archiepiscopo una cum domino Romano suffraganeo suo et coepiscopo et domino Reginmaro Patauiensi episcopo et domina Agnete marchionissa et tribus filiis suis Leupoldo Adelberto Ernesto, magna optimatum circumstante frequencia. Et cum essent huius rei testes innumeri, ex pluribus sunt pauci electi nominatim expressi aure tracti, qui et hic habentur infrascripti: comes Chunradus de Pilsteine, comes Leutoldus de Pleyn, Adelramus de Perge et frater eius Adelbertus, Otto de Machland et Walchun frater eius, Otto de Lenginbach et frater eius Hartwicus, Wernhardus de Ivlbach … . 61   Hæc eadem tradicio nichilominus secundo et tercio apud Tulnum oppidum et item apud Sanctum Ypolitum promulgatur et confirmatur consensu omnium nobilium. Cuius rei sunt testes totius provincie principes. 62   Zuerst wohl Heide Dienst, Marktplatz und Stadtwerdung. Die Neuburger Handels- und Handwerkersiedlung (Korneuburg) von ihren ersten schriftlichen Erwähnungen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. UH 54 (1983) 175–185, hier 175; NÖUB 2 (wie Anm. 51) S. 379. 63  Siehe Dienst, Marktplatz (wie Anm. 62) 179 Anm. 25, 180; NÖUB 2 (wie Anm. 51) S. 378f. 64   NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 214 (1133/36).



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prominente Personen aus einer wesentlich größeren Menge herausgegriffen hat, ist jedenfalls sehr groß. In den letzten Jahren Leopolds lassen sich noch einige weitere größere Versammlungen unter Vorsitz des Markgrafen oder von dessen Söhnen feststellen, die von mindestens einem Grafen und einigen wichtigen Edlen aus mehreren Landesteilen besucht worden sind65. Insgesamt können in der Regierungszeit Markgraf Leopolds III. etwa 15 Versammlungen festgestellt werden, bei denen ein bis fünf Grafen, mehrere wichtige Edle und zumeist auch Ministerialen, die zuweilen aber vom Schreiber weggelassen werden, mit einer gewissen geographischen Streuung zugegen waren66. Bis etwa 1120 lassen sich solche Versammlungen nur vereinzelt nachweisen, dann, vor allem aber seit etwa 1130, deutlich häufiger, was nicht nur an der etwas verbesserten Quellenlage liegen kann67. Keine brauchbaren Anhaltspunkte finden sich aber vorerst zur Frage, ob überregionale Versammlungen in Phasen politischer Stärke oder Schwäche des Markgrafen einberufen worden sind. Bei sechs der erwähnten etwa 15 größeren Versammlungen waren drei oder vier Gra65  Am 13. Juni 1136 übergab Graf Ekbert von Formbach Markgraf Leopold III. vor einer bedeutenden Menge – darunter der Bischof von Passau und der noch minderjährige Markgraf von Steiermark – das Dorf Enzersfeld. Nur drei Tage später tauschte Leopold III. auf Bitten seines Sohnes mit dem Stift Klosterneuburg dieses Dorf gegen ein anderes. Viele Zeugen des ersten Rechtsgeschäfts waren noch vor Ort, neu hinzugekommen sind aber der andere Markgrafensohn Leopold, Adalbert von Perg und Rapoto von Schwarzenburg; Codex traditionum ecclesiae collegiatae Claustroneoburgensis ..., ed. Maximilian Fischer (FRA II/4, Wien 1851) Nr. 482; BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 696 (1136); siehe auch Heide Dienst, Babenberger-Studien. Niederösterreichische Traditionsnotizen als Quellen für die Zeit Markgraf Leopolds III. (Wiener Diss. aus dem Gebiete der Geschichte 7, Wien 1966) 128f.; Weltin in: NÖUB 2 (wie Anm. 51) 378, der an einen Zusammenhang mit der (Klein-)Mariazeller Kirchenerrichtung denkt. – NÖUB 2 Nr. 231 (1136): comes Chnradus de Pilstein, Otto de Lengenbach, Rapoto de Nezta, Sterfrit de Becelinesdorf … . Bei der Urkunde handelt es sich zwar um eine Fälschung vom Beginn des 13. Jahrhunderts, der Sachverhalt erscheint aber als unverdächtig; zuletzt Roman Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen zum zweiten Band des Niederösterreichischen Urkundenbuchs. NÖLA 15 (2012) 59–115, hier 81f. – NÖUB 2 Nr. 737 (1134/36): Schenkung eines Adeligen an das Kloster Formbach: Cuius rei testes extiterunt: Adelbertus et Leopaldus filii marchionis Leopaldi, Gebehardus comes de Piugen, Heinricus filius prefecti Ratisponę, Otto et frater eius Heinricus de Purchstal, Fridericus de Hunesperch et filius eius Fridericus, Pabo de Ameranger, Otto et frater eius Wanchn de Lautisdorf, Gerolt de Elsaren, … Chadolt de Zoclisdorf … . Auch hier sitzen die Söhne des Markgrafen einer Versammlung vor. – BUB IV/1 Nr. 659 (1133/36): Comes Detdiricus et Bruno et Adalbertůs Herbavituli et filius eius Adalbero et Gundalzar de Zeminaten et Hatemarus et Erquenbertus et frater eius Nizo … et ipse marchio Liutpoldus et filius eius Adalbertus in presentia qhorum [!] totum confirmatum est magna turba suorum astante. – NÖUB 2 Nr. 217; BUB IV/1 Nr. 693: Anwesend waren mit Dietrich von Formbach, Leutold von Plain und Gebhard von Poigen und dessen Sohn vier Grafen, zudem wichtige Edle. Dass mit den Prellenkirchern nur eine Ministerialenfamilie angeführt wurde, lag wohl am Schreiber, zumal in einer zeitgenössischen zweiten Version überhaupt keine ministeriales, dafür aber zusätzliche wichtige Edle vermerkt worden sind. – NÖUB 2 Nr. 311; FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 329, Nr. 330 (nach B): … , qualiter Liupoldus marchio cum manu uxoris suę Agnetis et presentia filiorum suorum Heinrici et Liupoldi astante etiam domno Reginmaro Patauiensis ęcclesię episcopo … testes …: Heinricus et Liupoldus filii eius, Sigihardus de Scalah et Gebehardus frater eius de Purchusin, Chůnradus de Pilstein, Liutoldus de Plein, Otto de Purcstal et fratres eius Hartwicus et Heinricus …; Weltin in: NÖUB 2 Nr. 311 Note * will auch diese Versammlung mit der Gründung (Klein-)Mariazells in Verbindung bringen. – Siehe weiter FRA II/4 Nr. 454 (am ehesten 1133/36): comes Gebehardus de Pugen, Leutoldus comes, Pabo de Slunce, Hartwich de Pugen, Otto de Lenginpach, Geroldus de Lenginpach, Geroldus de Elsaren, Herimannus filius comitis Gebehardi, Starichfrit de Pezilinedorf, Werinhart de Iulpach. 66  Siehe auch Yoshihisa Hattori, Land und Adel im Deutschen Mittelalter (Tokio 1998) 7f. (Zusammenfassung der in japanischer Sprache erschienenen Arbeit). 67  Es nimmt zwar ab etwa 1130 die Zahl der markgräflichen Siegelurkunden deutlich zu, diese fallen aber im Vergleich zu den Traditionsnotizen mengenmäßig nicht besonders ins Gewicht. Wie erwähnt beginnen die besonders umfangreichen Göttweiger Traditionsnotizen bereits am Ende des 11. Jahrhunderts, die Klosterneuburger im Wesentlichen mit 1113/14.

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fen zugegen, beim erwähnten Tausch innerhalb der Sieghardingersippe sogar fünf 68, in keinem Fall mehr, meist aber nur einer oder zwei, am häufigsten Graf Gebhard von Poigen und Graf Werigand von Plain bzw. dessen Sohn Leutold, die etwa bei der Hälfte der größeren Treffen anwesend waren und wohl zum engeren Umfeld des Markgrafen gehört haben. Häufiger waren auch die Grafen von Formbach zugegen, seltener Angehörige der Sieghardingersippe. Immer wieder waren auch Markgrafensöhne69, der Bischof von Passau70 und die Markgrafen der Steiermark dabei71, die ebenfalls eng verwandten böhmischen Přemysliden lassen sich dagegen bei keinem größeren Treffen nachweisen. Diese Treffen waren also nicht auf Personen mit Sitz in der Mark beschränkt, sondern standen benachbarten Fürsten offen. Vor allem bei deren Anwesenheit kann davon ausgegangen werden, dass auch politisch bedeutsame Angelegenheiten besprochen worden sind, die vor den öffentlichen Versammlungen sicherlich im kleinen Kreis diskutiert worden sind. Von den Edelfreien waren am häufigsten die Perg-Machländer, die Lengbacher und die Burgschleinitzer präsent, wobei vor allem die ersten beiden auch abseits der großen Versammlungen immer wieder an der Seite der Babenberger anzutreffen sind. Einmal lassen sich auch schon die im heutigen westlichen Oberösterreich sitzenden Julbacher (Schaunberger)72 bei einem größeren Taiding des Landesfürsten nachweisen. Dass aus dieser singulären Präsenz aber eine Zugehörigkeit ihres Einflussbereichs zum Land Österreich bereits zum damaligen Zeitpunkt abzuleiten wäre73, ist fraglich. Überhaupt nicht anzutreffen sind die im nördlichen Waldviertel verankerten Herren von Raabs, deren Machtbereich demnach damals vielleicht noch nicht zum Land Österreich gehörte74. Über die Ministerialen und deren Versammlungsbesuche lassen sich keine verlässlichen Aussagen machen, weil sie bei der Niederschrift der Zeugen noch häufig unbeachtet geblieben sind, was Rückschlüsse auf deren Einschätzung durch die Schreiber zulässt. Von den Ministerialen waren Angehörige der Kuenringer am häufigsten bei Versammlungen zugegen, eine Familie, die damals schon von großer Bedeutung war. Sie sind damals besonders bei überregionalen Treffen im Umkreis der Babenberger nachweisbar, im kleineren Rahmen aber nur punktuell75.

Versammlungen unter Leopold IV. und Heinrich II. bis 1156 Nach dem Tode Leopolds III. im November 1136 trat dessen drittgeborener gleichnamiger Sohn die Nachfolge an, was innerhalb der Familie und im Adel zu Unmut führte76. Um eine Versöhnung herbeizuführen, wurde eine große Versammlung in Tulln einbe68   FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 188; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 311, Nr. 191, Nr. 193, Nr. 217; FRA II/4 (wie Anm. 65) Nr. 454. 69  FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 188; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 143, Nr. 92; FRA II/4 (wie Anm. 65) Nr. 454, Nr. 482. 70  FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 188, Nr. 243; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 143, Nr. 92. 71  FRA II/69 (wie Anm. 38) Nr. 188; NÖUB 3 (wie Anm. 49) Nr. 214; FRA II/4 (wie Anm. 65) Nr. 482. 72   FRA II/4 (wie Anm. 65) Nr. 454. 73  Siehe dazu Weltin, „Östliches Baiern“ (wie Anm. 10) 205f.; kritisch Hageneder, Land und Landrecht (wie Anm. 10) 303 Anm. 24, 305. 74  Weltin in: NÖUB 1 (wie Anm. 19) 434. 75  Siehe Roman Zehetmayer, Zum Gefolge des Adels in der Babenbergermark. MIÖG 120 (2012) 23–49, hier 28 mit den Belegen. 76  Siehe auch S. 447f.



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rufen, die von drei Grafen, mehreren wichtigen Edlen, aber auch Ministerialen wie den Kuenringern besucht wurde77. Eine solche Angelegenheit konnte demnach nicht alleine innerhalb der Familie bereinigt werden, sondern zur Erreichung eines tragfähigen Konsenses musste der Landesadel hinzugezogen werden. Dies zeigt aber auch die vorhandene Bereitschaft, friedlich eine Lösung zu suchen. Für das Jahr 1137 ist eine Versammlung mit ähnlicher Zusammensetzung zu Mautern überliefert, bei der der neue Markgraf dem Passauer Bischof die Wiener Peterskirche überließ78. Vermutlich hatte auch dieses Treffen mit dem Nachfolgekonflikt zu tun79. Im Spätwinter oder Frühling 1139 übertrug König Konrad III. seinem Halbbruder Markgraf Leopold IV. das Herzogtum Bayern, der sich nun überwiegend dort aufhielt und gleich zu Beginn eine landesweite Versammlung einberief80. Zwar besuchte er 1139/40 zuweilen seine Mark81, ob er dabei aber auch Landtage oder zumindest überregionale Zusammenkünfte abgehalten hat, bleibt unklar82. Bemerkenswerterweise sind im Herbst 1140 Bischof Reginbert von Passau, Markgraf Otakar III. von Steier, Graf Dietrich von Formbach und einige wichtige heimische Edle vermutlich im südlichen Waldviertel zusammengetroffen83, ohne dass Herzog Leopold zugegen gewesen wäre. Zu überlegen wäre, ob nicht der Passauer Bischof oder Markgraf Otakar III. in Österreich Aufgaben für den abwesenden Leopold wahrgenommen und dabei auch größere Versammlungen einberufen hat84. Leopold IV. hatte in Bayern spätestens seit dem Sommer 1140 harte Auseinandersetzungen mit den Welfen auszufechten85 und konnte sich erst wieder im Frühjahr 1141 in die Mark begeben. Am ehesten bei dieser Gelegenheit hielt er eine Versammlung in Tulln ab, zu der auch der wichtige Verbündete Markgraf Otakar III. mit zahlreichen Gefolgsleuten und 77  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 93: Preterea domina Agnes marchionissa [una cum] tribus liberis suis, scilicet Adalbero Leupoldo Ernesto, … , cum essent apud Tulnum oppidum, ubi pro reconciliatione duorum fratrum Leupoldi et Adalberti convenerat conventus principum qui huius traditionis conscii sunt … comes Theodericus de Formbach, comes Chůnradus de Pilstein, comes Levtoldus de Playn, Adelrammus de Bergen, Hainricus et Rapoto fratres Swarzenburch, Otto de Machlant et frater eius Walchn, Otto de Legenbach et frater eius Hartwicus, Hademarus de Chfarn, v Starfridus de Bezelinsdorf, Chadolt de Mreberch, Hainricus prefectus urbis Medelicensis, O dalricus de Stiuene, Hademarus de Chunringen et frater eius Albero … . Die Urkunde ist zwar manipuliert (ebd. 379), diese Passage ist aber ziemlich sicher der echten Vorlage entnommen. Siehe zum Konflikt etwa Dienst, Babenberger-Studien (wie Anm. 65) 140–149; Tobias Weller, Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert (Rheinisches Archiv 149, Köln–Weimar–Wien 2004) 341f. Der Urkundenschreiber hat die Versammlung als conventus principum bezeichnet. Ob auch diese Formulierung der echten Vorlage entnommen ist, bleibt unsicher. 78   NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 242 (1137): Ernustus frater marchionis, Theodericus comes, Leutoldus comes, Otto, Adelrammus advocatus, Chadodus, Waltchun de Greizpach, Chadoldus, Diepaldus de Chagere; ministeriales vero: Hadamarus … . Diesmal waren auch hochrangige Geistliche zugegen (neben dem Bischof die Pröpste von St. Pölten, St. Nikola und St. Georgen). 79   Dies trifft vielleicht auch auf eine im selben Jahr in Krems abgehaltene Versammlung zu, bei der als Zeugen Graf Konrad von Peilstein, Adalram von Perg, Otto von Machland, Wernhard von Julbach und Konrad von Würmla genannt werden; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 159. 80   Siehe zuletzt Roman Zehetmayer, Die Babenberger als Herzöge von Bayern (1139–1156). ZBLG 77 (2014) 183–220, hier 188f., 212. 81   Siehe etwa NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 159 (1139, St. Florian), vielleicht auch Nr. 239 (1139/1140 II 14). Dass die Handlung in der Mark stattgefunden hat, ist nicht gesichert. 82   Möglich wäre aber, dass das in Anm. 86 und Anm. 88 genannte Treffen 1139/40 stattgefunden hat. 83   NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 252 (1140 Herbst) mit Note *. Die Zeugen beziehen sich wohl eher auf die Handlung zu Martinsberg im südlichen Waldviertel (Huius rei testes sunt). 84   Zehetmayer, Babenberger (wie Anm. 80) 189f. 85  Ebd. 190f.

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mehreren Grafen erschien86. Mit Gebhard von Sulzbach war zudem ein verbündeter Adeliger aus dem Nordgau anwesend87, der wohl zur Besprechung bayerischer Angelegenheiten gekommen war. Wahrscheinlich in dieser Phase traf der Herzog an einem unbekannten Ort mit Markgraf Otakar, Graf Leutold von Plain, Graf Konrad und Graf Siegfried von Peilstein, den Machländern und weiteren Großen88 und 1141 zu Klosterneuburg mit Graf Leutold von Plain, Graf Konrad von Peilstein, Graf Gebhard von Burghausen, den PergMachländern und den Lengbachern zusammen89. Einmal mehr werden keine Ministerialen genannt, einmal mehr dürfte dafür der Schreiber verantwortlich sein. In ähnlicher Zusammensetzung kam es am ehesten in diesen Jahren zu einem vierten größeren Treffen90. 1141 bzw. 1139/41 ist es demnach in der Mark zu einer beträchtlichen Zahl an überregionalen Versammlungen in sehr kurzer Zeit gekommen, und es liegt auf der Hand, dass dabei die Lage in Bayern und etwaige Unterstützungsmaßnahmen besprochen worden sind91. Nach dem überraschenden Tod Leopolds im Oktober 114192 folgte ihm in der Mark sein älterer Bruder Heinrich II. (Jasomirgott), der 1143 auch das Herzogtum Bayern erhielt93. Vermutlich bereits unmittelbar danach hielt er in Wien eine landesweite Versammlung ab94, die von Markgraf Otakar III. von Steier, vier Grafenfamilien und vielen wichtigen Edlen95 und Ministerialen besucht worden ist. Wahrscheinlich wurden dabei Gespräche 86   NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 151: … Ottacher marchionis de Styra in audientia domini Liupoldi marchionis Austrie apud Tullen … testes sunt: Gebehardus comes de Purchusen, Gebehardus comes de Sulzpach, Adelbertus comes de Pogen, Leutoldus comes de Plegen; de nobilibus autem: Gotiscalchus de Huosperc, Wernhardus de Iulspach, Ditricus de Algerspach; de ministerialibus vero ipsius marchionis Austrie: Albero de Chunringen, Otto de Gobatsburc; de Styrensibus autem: … . Überlegungen zur Datierung ebd. Note * mit dem Verweis auf NÖUB 2 Nr. 2310. 87   Zu ihm Jürgen Dendorfer, Adelige Gruppenbildung und Königsherrschaft. Die Grafen von Sulzbach und ihr Beziehungsgeflecht im 12. Jahrhundert (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 23, München 2004) 64–69, 362–377, 407–412 und passim. Gebhard war bereits in den Jahren 1125/29 in der Mark anwesend, ohne dass aber der Grund dafür ersichtlich wird; siehe NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 138; siehe dazu auch Zehetmayer, Babenberger (wie Anm. 80) 193 Anm. 55. 88  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 271 (1139/41). 89  Ebd. Nr. 272 (1141): Huic sollemni donacioni testificantur … . 90  BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 716 (1139/41): Graf Leutold von Plain, Graf Dietrich von Formbach, Graf Hermann von Poigen und von den Edlen die Lengbacher, Adalbert von Perg oder die Traisen. 91   Auch haben die längeren Abwesenheiten des Herzogs den Bedarf an konzentrierten Gesprächen in der Mark vielleicht verstärkt. – In den Jahren 1139/41 lässt sich auch eine Reihe von Treffen Leopolds im kleineren Rahmen nachweisen bzw. solche, bei denen lediglich wenige Zeugen aufgelistet werden; siehe etwa BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 712–715; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 218. 92   Ottonis episcopi Frisingensis chronica sive historia de duabus civitatibus, ed. Adolf Hofmeister (MGH SS rer. Germ. [45], Berlin 1912) c. VII/25 S. 350f.; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 2313; BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 729. 93   Otto von Freising, Chronica, ed. Hofmeister (wie Anm. 92) c. VII/26 S. 351f.; J. F. Böhmer, Regesta Imperii IV. Ältere Staufer, 1. Abt.: Die Regesten des Kaiserreiches unter Lothar III. und Konrad III., Teil 2: Konrad III., neubearb. von Jan Paul Niederkorn–Karel Hruza (Wien–Köln–Weimar 2008) Nr. 240, Nr. 265. 94   Überliefert sind zwei Zeugenlisten; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 528 (1143 vor IV 18): Otakars [!] marchio Styrensis, Gebohardvs comes de Purchusin, Chnradus comes de Pilstan, Rapoto comes de Ortinperc, Ekkebertus v comes de Btin, Adelbertus de Perge, Liutoldus iunior de Pleigin, Odalricus de Gademe, Hartunc de Rhinecce, Adalbero de Chnirinc, Heinricvs et frater eius Rapoto de Gunderamisdorf, Werinhardvs de Valfkstein, Adalbero de Cumpindorf, Wolfkerus de Ualchinstein, Nr. 517: Otakarus Styrensis marchio, Rapoto comes de Ortinperc, Gebohardus comes de Purchusin … , Chnradus comes de Halle et filius eius Chnradus, Heinricus comes de Scalah, Ekkebertus comes de Butino, Liutoldus comes de Pleigin et filius eius Liutoldus, Adelbertus de Perge, Waltchn de Mahlant, Werinhardus de Iugilpah, … ; de ministerialibus nostris: Adelbero de Purchartisdorf, Adelbero de Chnirinc, v Odalricus de Stiuina, Hartungus de Ruhinekke … ; siehe ebd. 236. 95   Undeutlich bleibt indes die Präsenz der Edlen, weil die zwei damals aufgezeichneten Zeugenlisten bei diesen nicht unerheblich voneinander abweichen; siehe Anm. 94.



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über die Herrschaftsausübung in der Mark nach der Übernahme der bayerischen Herzogswürde und wohl über etwaige Hilfeleistungen durch den heimischen Adel geführt. Bereits kurze Zeit später kam es auch schon zu ersten schweren Auseinandersetzungen zwischen Welf VI. und Heinrich, der sich mit königlicher Unterstützung noch einmal durchsetzen konnte96. Dies verschaffte ihm etwas Luft, so dass er sich in die Mark begeben konnte, wo er wohl 1143/44 zu einer überregionalen Versammlung in der Nähe Wiens (Laab im Walde) geladen hat. Anwesend waren die uns bereits bekannten wichtigsten östlich des Inns sitzenden Verbündeten dieser Jahre97. Ähnliches trifft auf ein wahrscheinlich damals abgehaltenes weiteres Treffen zu98. Dass dabei auch eine etwaige Unterstützung in der bayerischen Angelegenheit besprochen worden ist, kann vorausgesetzt werden, zumal mit den Domvögten von Regensburg, den Burggrafen von Regensburg und Pabo von Zulling auch bayerische Adelige zugegen waren99. 1145 griff der bisherige enge Verbündete Markgraf Otakar III. die Babenbergermark an und wurde dabei von babenbergischen Ministerialen unterstützt100. Auch wenn das Einvernehmen bald wiederhergestellt werden konnte, so bietet dies doch einen deutlichen Hinweis auf ein labiles Verhältnis zwischen Heinrich und seinen Ministerialen in der Mark. Größere Versammlungen lassen sich in diesen Jahren keine nachweisen. Die Auseinandersetzungen zwischen König Konrad III. und Herzog Heinrich einerund Welf VI. und Heinrich dem Löwen andererseits in Bayern gingen indessen unvermindert weiter und wurden nur durch den Kreuzzug unterbrochen. Der Babenberger verlor nach 1149 westlich des Inns massiv an Einfluss, wo er sich seit damals auch nicht mehr nachweisen lässt. Die Schwäche Heinrichs lag allerdings nicht nur am militärischen Druck der Welfen, sondern auch am Verlust fast aller wichtiger bayerischer Verbündeter101. Heinrich musste sich notgedrungen auf den östlichen Teil des Herzogtums beschränken, wo er 1150 eine größere Versammlung einberief, die wohl nicht grundlos verhältnismäßig weit westlich, vermutlich nämlich im bei Wels gelegenen Thalheim, stattfand, wo sich Bischof Konrad von Passau, der Bruder Heinrichs, Markgraf Otakar III. von Steier, Graf Konrad von Peilstein und seine Söhne, Graf Leutold von Plain und Graf

96  Otto von Freising, Chronica, ed. Hofmeister (wie Anm. 92) c. VII/26 S. 352; Reg. Imp. IV/1/2 (wie Anm. 93) Nr. 272; Jürgen Dendorfer, Von den Babenbergern zu den Welfen. Herzog und Adel in Bayern um die Mitte des 12. Jahrhunderts, in: München, Bayern und das Reich im 12. und 13. Jahrhundert. Lokale Befunde und überregionale Perspektiven, hg. von Hubertus Seibert–Alois Schmid (ZBLG Beih. 29, München 2008) 221–247, hier 237. 97  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 2111: Markgraf Otakar von Steier, die Grafen von Peilstein und von Schala, Graf Hermann von Poigen, Konrad von Raabs-Nürnberg, Ulrich von Deggendorf-Pernegg, Hartwig von Lengbach, die Perg-Machländer etc. Bedeutende Ministerialen werden keine vermerkt. 98  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 219: Heinricus dux Bawarię, Gebehardus comes de Purchusen, Heinricus v urbanus comes, Luitoldus comes de Plagio, Adelram de Perge et frater eius Adelbertus, Odalricus de Steine, Wernherus de Brunnen, Wernherus de Meminchouen, Pabo de Zollingin, Wernhardus iunior de Iugilbach, Willehalmus de Geppinheim, Volchmarus de Reitene. 99   Die Herren von Zulling verfügten zwar über Besitz an der Enns (NÖUB 3 [wie Anm. 49] Nr. 255). Dass ihre Anwesenheit bei diesem Taiding damit zu tun hat, ist unsicher, zumal sie sonst nicht bei österreichischen Versammlungen zugegen waren. Die Domvögte und Burggrafen von Regensburg wiesen zwar etwas mehr Besitz in der Mark auf und waren vereinzelt hier bei Versammlungen dabei (siehe Anm. 39, 56), dennoch dürfte auch ihre Teilnahme eher in den bayerischen Angelegenheiten begründet sein. 100  Zehetmayer, Babenberger (wie Anm. 80) 199f. 101  Ebd. 202–205.

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Heinrich von Wolfratshausen102 eingefunden haben103. Am ehesten in diesem Jahr kam es aber auch zu einer weiteren größeren Zusammenkunft in der Nähe Wiens mit Graf Leutold von Plain, Graf Gebhard von Burghausen, drei bayerischen Edelfreien und einigen wichtigen babenbergischen Ministerialen104. Auch dabei dürfte nicht zuletzt die Lage in Bayern erörtert worden sein105. Nach dem Tod König Konrads und der Wahl Friedrichs I. zum Nachfolger verlor Heinrich Jasomirgott schlagartig seine privilegierte Königsnähe, die nun vor allem sein größter Gegner, Heinrich der Löwe, für sich beanspruchen konnte106. An die Seite des neuen Königs war aber bald auch Markgraf Otakar gewechselt107. Nachdem bei einer Reihe von Hoftagen keine Einigung erzielt worden war, dürfte dann bei einer Unterredung zwischen Friedrich und Heinrich Jasomirgott zu Pfingsten 1156 eine Lösung gefunden worden sein108. In diesen Jahren ist keine überregionale Versammlung in der Mark nachzuweisen. Erst für Mitte August 1156 lässt sich in Klosterneuburg wieder eine größere Zusammenkunft belegen, bei der freilich keine Grafen und nur wenige wichtige edelfreie Familien zugegen waren, dafür aber die gesamte mächtige Kuenringersippe und ein Sohn des mährischen Markgrafen109; gut möglich, dass dabei die anstehende Reise nach Regensburg besprochen 102  Der mit Herzog Heinrich verwandte Heinrich von Wolfratshausen war 1146 in eine Fehde mit dem Königsneffen Friedrich Barbarossa verwickelt; J. F. Böhmer, Regesta Imperii IV. Ältere Staufer, 2. Abt.: Die Regesten des Kaiserreiches unter Friedrich I. 1152 (1122)–1190, 1. Lfg.: 1152 (1122)–1158, nach Johann Friedrich Böhmer, neubearb. von Ferdinand Opll unter Mitwirkung von Hubert Mayr (Wien–Köln–Graz 1980) Nr. 16. 103  Die Regesten der Bischöfe von Passau 1: 731–1206, bearb. von Egon Boshof (Regesten zur bayerischen Geschichte 1, München 1992) Nr. 707 (1149/51). Hier war wieder einmal auf die Niederschrift der Namen der Ministerialen verzichtet worden. 104   NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 513: Gebehardus comes de Purchusen, comes Liutoldus de Plain, Adelram de Champe, … , Adelbero de Chunringen, Wernhardus de Riede, Adelbero de Purchartsdorf, Rapoto et fratres eius Heinricus et Otto de Gundramesdorf, … . Die Urkunde ist auf 1150 datiert, die Intitulatio Heinricus dux Orientis, das ab 1159 nachweisbare Herzogssiegel und auch der 1159/60 nachweisbare Schreiber machen aber deutlich, dass die Urkunde erst 1159/60 ausgestellt worden sein kann. Die Handlung aber dürfte tatsächlich 1150 stattgefunden haben; ebd. Note *. 105   Nur ungefähr in die Jahre 1149/56 lässt sich eine in Enns ausgestellte Urkunde Heinrichs für Bischof Konrad von Passau datieren, die bei einem conventus celebris ausgestellt worden ist; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 179 (1149 Mai/1156 Sommer): Facta sunt hęc in conventu celebri in loco Anesi presentibus multis utriusque nostrum fidelibus et religiosis viris ad hęc fideliter collaborantibus. Leider werden aber die Zeugen nicht angeführt, so dass eine weitere Bewertung nicht möglich ist. 106  Etwa Knut Görich, Friedrich Barbarossa. Eine Biographie (München 2011) 67, 89f. Friedrich hat das Herzogtum Bayern vermutlich bereits bei der Königswahl Heinrich dem Löwen versprochen, ohne dass er zunächst mit dem Babenberger gebrochen hätte; etwa Dendorfer, Babenberger (wie Anm. 96) 242; Knut Görich, „Damit die Ehre unseres Onkels nicht gemindert werde …“. Verfahren und Ausgleich im Streit um das Herzogtum Bayern 1152–1156, in: Die Geburt Österreichs. 850 Jahre Privilegium minus, hg. von Peter Schmid–Heinrich Wanderwitz (Regensburger Kulturleben 4, Regensburg 2007) 23–36, hier 25, 27, 29. 107  Etwa Alheydis Plassmann, Die Struktur des Hofes unter Friedrich I. Barbarossa nach den deutschen Zeugen seiner Urkunden (MGH Studien und Texte 20, Hannover 1998) 94. 108 Etwa Görich, Verfahren (wie Anm. 106) 24–31; Dendorfer, Babenberger (wie Anm. 96) 221f.; Reg. Imp. IV/2/1 (wie Anm. 102) Nr. 135, Nr. 178, Nr. 196, Nr. 224, Nr. 364, Nr. 365; BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 773, Nr. 775, Nr. 779; Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris, ed. Georg Waitz– Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [46], Hannover 1912) c. II/42 S. 150f. 109  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 291 (1156 VIII 15): Marquardus Niwenburgensis prepositus, Erne[stus] filius Chunradi comitis Morauiensis, Otto de Lengenbach, ipse Chadoldus de Harrôz, Adelbero de Chunringen et frater eius Hainricus de Cebingen, Hainricus Canis de Mistelbach, Wernhardus de Lancendorf, Herebort de Gorse.



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wurde, bei der Heinrich von einer sehr großen Zahl österreichischer Adeliger begleitet worden ist110. Insgesamt zerfällt die Periode zwischen 1137 und 1156 in zwei Hälften. Während bis etwa 1144 eine große Zahl an überregionalen Versammlungen belegt ist (etwa neun), sind es danach deutlich weniger (drei), was zeitlich mit einer Rebellion der eigenen Ministerialen, dem Abfall wichtiger Verbündeter und dem drohenden Verlust der bayerischen Herzogswürde zusammenfällt. Das ist wohl kein Zufall und lässt den Schluss zu, dass Heinrich damals an Integrationsfähigkeit verloren hatte. Erst unmittelbar vor dem Privilegium minus ist wieder eine größere Versammlung in der Mark zu beobachten. Leopold IV. dagegen hatte offenbar stets die Möglichkeit, die Großen der Mark zu versammeln und sich mit ihnen abzusprechen. Die zahlreichen Zusammenkünfte im ersten Regierungsjahr weisen aber nichtsdestotrotz darauf hin, dass er angesichts der noch schwelenden Nachfolgerivalitäten erst den Landesadel „ins Boot holen“ musste. Dies ist ihm sichtlich gelungen. Spezifische Bezeichnungen für landesweite oder zumindest überregionale Versammlungen haben sich in den Quellen diesmal keine gefunden. Zwar wird eine Versammlung des Jahres 1137 als conventus principum tituliert, allerdings handelt es sich bei der entsprechenden Urkunde um eine 1200 angefertigte Fälschung111. In einem echten Stück ist von einem conventus celebris die Rede. Da aber keine Zeugen angeführt werden, kann die Größe der Versammlung nicht abgeschätzt werden112. Auffällig häufig bei österreichischen Taidingen war 1139–1145 und noch einmal 1150 Markgraf Otakar III. von Steier anwesend, was in erster Linie mit dem Herzogs­ amt der Babenberger zu tun hat. In seinem Fall ist zu vermuten, dass der österreichische Markgraf mit ihm abseits der großen Versammlungen Absprachen getroffen hat. Von den Grafen waren bei größeren Versammlungen der Babenberger besonders häufig Graf Leutold von Plain und Konrad von Peilstein zugegen113. Während aber Konrad sonst kaum an der Seite der Landesfürsten zu finden ist, trifft dies auf Leutold sehr wohl zu114. Er befand sich offenbar zumindest phasenweise längerfristig an der Seite der Babenberger und war zweifellos ein wichtiger Vertrauter115. Von den edelfreien Familien waren auch in dieser Periode vor allem die Perg-Machländer und die Lengbacher am häufigsten bei Versammlungen vor Ort116. Öfters als in der Vorperiode werden Ministerialen in den Zeugenlisten berücksichtigt, zuweilen werden sie von den Schreibern aber auch noch um die Jahrhundertmitte weggelassen. Mehr als früher zeigt sich in dieser Gruppe die Dominanz der Kuenringersippe. Bei diesen Zusammenkünften waren zuweilen auch einzelne bayerische   NÖUB 3 (wie Anm. 49) Nr. 2513 (1156 IX, Wiese zu Barbing).   Siehe oben S. 441. 112   Wie Anm. 105. 113  Zehetmayer, Babenberger (wie Anm. 80) 210. 114   Siehe etwa BUB IV/1 (wie Anm. 41) Nr. 714; FRA II/4 (wie Anm. 65) Nr. 263. Die wichtige Stellung Leutolds zeigen auch seine häufigeren Tätigkeiten als Salmann bei Schenkungen der Babenberger, was eine gewisse Vertrauensstellung voraussetzt; BUB IV/1 Nr. 714, Nr. 716; NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 528, siehe auch ebd. Nr. 2313. 115  Häufig an der Seite der Babenberger waren auch Graf Hermann und Graf Adalbert von Poigen zu finden; siehe zu diesen Jürgen Dendorfer, Von Edelfreien zu Grafen. Zu den Grafen von Hohenburg auf dem Nordgau, in: Bayerische Geschichte/Landesgeschichte in Bayern. Festgabe für Alois Schmid zum 60. Geburtstag, hg. von Konrad Ackermann–Hermann Rumschöttel (ZBLG 68, München 2005) 353–391. 116  Siehe neben den bereits genannten Beispielen auch NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 2115 (1139/41), Nr. 218 (1139/41). 110 111

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Verbündete zugegen. In keinem Fall aber ist es zu einer gemeinsamen „bayerisch-österreichischen“ Versammlung gekommen117. Weiterhin häufig waren die Passauer Bischöfe bei den österreichischen Versammlungen dabei, heimische Prälaten weiterhin eher selten. Öfters als in der Vorperiode stellten die Babenberger bei den überregionalen Taidingen Siegelurkunden aus und übergaben diese bei der Gelegenheit dem Empfänger118. Dies ist zum einem der Entwicklung des Siegelurkundenwesens der Babenberger geschuldet119, zeigt aber doch auch, dass große Versammlungen zunehmend für Urkundenübergaben und damit für die Inszenierung von Herrschaft genutzt wurden.

Conclusio Ausgangspunkt der vorliegenden Studie waren zum Teil neuere Forschungen, die in Erinnerung gerufen haben, dass die Abhaltung von überregionalen Versammlungen nicht zuletzt auch ein Zeichen von Stärke und ein Herrschaftsinstrument der jeweiligen Machthaber gewesen ist. Dabei stellte sich Frage, ob dies auch auf die Babenberger in Österreich zutrifft und ob eine solche Sichtweise mit der traditionellen Sicht der österreichischen Geschichtsforschung zusammengeht, wonach Landtaidinge eher dem Interessensausgleich zwischen Landesfürst und Adel dienten und als Gradmesser der Landwerdung angesehen werden können. Haben die Markgrafen überregionale Zusammenkünfte nun eher dann einberufen, wenn ihre Autorität groß war, oder eher in Schwächeperioden, in denen sie auf die Zustimmung des Adels angewiesen waren? Die Fragen sollten durch eine systematische Untersuchung der großen, überregionalen Versammlungen unter Vorsitz der Babenberger in der Mark Österreich erörtert werden. Die erste nachweisbare lässt sich auf vor 1071 datieren, der zeitlich nächste Beleg liegt für 1081 im Rahmen des Abfalls Markgraf Leopolds II. von König Heinrich IV. vor. Bei aller Vorsicht lässt sich vermuten, dass solche überregionalen Taidinge bis in die 1110er Jahre nicht allzu häufig abgehalten worden sind. In den 1120er Jahren, vor allem in den letzten Lebensjahren Markgraf Leopolds III. (gest. 1136), finden sich deutlich mehr Nachweise. Unter Markgraf Leopold IV. (gest. 1141) bleibt die Zahl sehr hoch, unter Heinrich II. nimmt sie dann zwischen 1145 und 1156 deutlich ab. Da diese Abnahme mit einer gut dokumentierten Schwächephase des Markgrafen einhergeht120, hat die Annahme, dass Herrscher solche Zusammenkünfte eher dann einberufen haben, wenn sie fest im Sattel saßen, einiges für sich. Das würde aber auch bedeuten, dass der Häufigkeit von überregionalen Zusammenkünften grundsätzlich eine Aussagekraft über die Stärke der Landesfürsten zukäme. Demnach darf spekuliert werden, ob nicht ab etwa 1120 und noch einmal 1130 Versammlungen größeren Zuspruch fanden und dies als Zeichen von Leopolds III. Integrationsfähigkeit gesehen werden kann. Viel117  Dies widerspricht Vermutungen, dass die Babenberger das Herzogtum und die Mark stärker aneinanderbinden wollten; Ferdinand Opll, „Die Regelung der bayerischen Frage 1156“. Friedrich Barbarossa, Heinrich der Löwe und Heinrich Jasomirgott. Gestalter und Mitgestalter, in: Geburt, hg. von Schmid–Wanderwitz (wie Anm. 106) 37–76, hier 49. 118  NÖUB 2 (wie Anm. 51) Nr. 242 (1137), Nr. 234, Nr. 291 (1156). 119  Mitis, Studien (wie Anm. 59) passim. 120  Es handelt sich aber vielleicht nicht um eine durchgehende Schwächephase, denn nach der Ministerialenrebellion von 1145 dürfte im Jahre 1146 wieder ein Einvernehmen hergestellt worden sein (siehe S. 443). Zu bedenken ist zudem, dass Heinrich sich 1147 auf Kreuzzug begeben hat.



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leicht war seine Stellung zu Beginn des Jahrhunderts aufgrund des Investiturstreits und seines nicht unumstrittenen unvermittelten Wechsels in das Lager König Heinrichs V. nicht völlig gefestigt. Die 1120er Jahre fallen zudem in eine Phase eines fortschreitenden Landesausbaus und einer offenkundigen politischen Stabilität121. Zu bedenken ist allerdings, dass Leopold II. die Versammlung von 1081 in einer für ihn schwierigen Phase einberufen hat, als durchaus Gefahr bestand, dass sich Teile des Landesadels gegen ihn wenden könnten. Die besonders große Zahl an Versammlungen in den letzten Lebensjahren des Markgrafen Leopold III. und zu Amtsbeginn Leopolds IV. könnte auch mit der virulenten Nachfolgefrage zu tun haben. Falls dies zutrifft, dann wären überregionale Versammlungen auch in krisenhaften Phasen einberufen worden. Voraussetzung dafür war aber vermutlich ein gewisses Quantum an vorhandener Autorität des Markgrafen. Die Abhaltung von Versammlungen wäre dennoch auch ein Hinweis auf die Integrationsfähigkeit der Markgrafen, die vielleicht so verhindert haben, dass es zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen ist. Die hohe Frequenz an Taidingen 1139/1141 hat möglicherweise auch mit den Problemen Leopolds IV. in Bayern und einem Werben um Unterstützung in der Mark zu tun. Dass Heinrich II. nach 1145 deutlich weniger Versammlungen abgehalten hat, wäre ein Hinweis, dass es in Zeiten von Bedrängnis nicht so einfach war, den Adel zu einer großen Versammlung zusammenzubringen, bzw. dass das Risiko, bei Versammlungen keine Zustimmung zu erlangen, höher war. Es war aber nicht so, dass der Markgraf in dieser Phase überhaupt keine Taidinge einberufen konnte. Einen gewissen Rückhalt dürfte er also weiterhin besessen haben122. Ein gewisser Zusammenhang zwischen der Stärke der Markgrafen und der Häufigkeit von überregionalen Versammlungen scheint demnach auch für die Babenbergermark zu bestehen. Trifft das aber auch auf den Zusammenhang zwischen Landtaidingen und der Entstehung eines Wir-Bewusstseins bzw. des Landes zu? Bevor darauf näher eingegangen werden kann, wäre noch zu klären, wann überhaupt von einem Landtaiding oder einem Landtag gesprochen werden kann. Vorausgeschickt kann werden, dass Begriffe wie conventus terre und dergleichen im Untersuchungszeitraum nicht vorkommen, einmal findet sich aber colloquium generale123, was von der Forschung als Umschreibung eines Landtaidings gedeutet wurde124. Allerdings waren lediglich einige prominente Edelfreie und mit Gebhard von Poigen nur ein Graf zugegen. Nicht uninteressant ist daher, wer nicht anwesend war, nämlich vor allem die anderen gräflichen Familien, wie die Formbacher, Plainer, die Sieghardingersippe oder die Burggrafen von Regensburg, aber auch einige wichtige Edle125. Für den Schreiber war dies aber kein Grund, die Versammlung nicht trotzdem als colloquium generale zu bezeichnen. Zu vermuten ist ohnehin, dass die Zeitgenossen keine „objektiven“ Maßstäbe kannten und die Übergänge fließend waren. Für die moderne Forschung ergibt sich daraus freilich das Problem, dass jede Definition von „Landtaiding“ aufgrund einer bestimmten Teilnehmerzahl willkürlich sein muss und stets zu bedenken ist, dass selbst bei den größten nachweisbaren Versammlungen, zu denen vier, fünf Grafen gekommen sind, immer noch mehrere Familien nicht dabei gewesen 121  Siehe zusammenfassend etwa Georg Scheibelreiter, Die Babenberger. Reichsfürsten und Landesherren (Wien–Köln–Weimar 2010) 151–179. 122  Dafür spricht auch, dass es keine Hinweise auf offene Auseinandersetzungen nach 1145 gibt. 123  Siehe S. 437. 124  Siehe etwa Weltin, Urkunden 5 (wie Anm. 12) 61. 125  Erwähnt seien lediglich die Haderiche oder Angehörige der wichtigen Traisensippe.

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sind126. Dazu kommt, dass der Bezug auf das Land bei diesen Treffen oft nur bedingt gegeben war, erschienen doch immer wieder auch Fürsten oder Adelige von außerhalb. Aus diesen Gründen wurde in der Studie häufig der Begriff überregionale Versammlung statt Landtaiding verwendet, wenn das Problem so auch nur bedingt entschärft wurde, zumal sich nun die Frage nach der Abgrenzung zu lediglich regionalen Zusammenkünften stellt. Die Bevorzugung von „überregionalen Versammlungen“ heißt nicht, dass der Begriff „Landtaiding“ für den Untersuchungszeitraum nicht verwendet werden sollte. So können zumindest jene etwa zehn Versammlungen, bei denen mindestens drei, vier Grafenfamilien und mehrere Edle und Ministerialen aus unterschiedlichen Landesteilen vor Ort sind, wohl als solche bezeichnet werden127. Man sollte sich aber dennoch wie erwähnt bewusst sein, dass selbst dabei einige wichtige Familien nicht anwesend waren. Doch zurück zur Frage nach dem Zusammenhang von Landtaidingen oder überregionalen Versammlungen und der Entstehung eines Zusammengehörigkeitsgefühls bzw. des Landes. Dies ist a priori schwer zu beurteilen, weil in der Periode, in der solche Zusammenkünfte nachweisbar sind, also ab etwa der Mitte des 11. Jahrhunderts, die Landwerdung offenkundig kontinuierlich voranschreiten konnte und keine nachhaltigen Rückschläge erkennbar sind128. Die Annahme, dass in der Zeit davor deshalb keine markenweiten Versammlungen nachweisbar sind, weil die Formierung eines Wir-Bewusstseins noch nicht genügend entwickelt gewesen wäre, ist angesichts der Quellenlage wohl nicht zulässig. Nichtsdestotrotz scheint es naheliegend zu sein, dass regelmäßige Zusammenkünfte und die Besprechung von Problemen das Zusammengehörigkeitsgefühl und damit die Landwerdung förderten. Kam es aber bei den großen öffentlichen Versammlungen überhaupt zu Beratungen und zu einem Interessensausgleich, oder konnten hier bereits in kleiner Runde gefasste Beschlüsse nur noch abgesegnet werden und führte dies nicht eher zu Unmut? Belege für solche Vorberatungen im kleinen Kreis haben sich keine gefunden. Doch ist es etwa für die Zusammenkunft von 1081 kaum denkbar, dass es nicht im Vorfeld Absprachen gegeben hat. Auch im Falle der Nachfolgeregelung unter den Söhnen Leopolds III. oder der bayerischen Angelegenheiten nach 1139 ist ein solches Vorgehen sehr wahrscheinlich. Das bedeutet aber nicht, dass die Versammlungen im großen Rahmen nicht dem Interessensausgleich dienen konnten, denn ein gewisser Meinungsaustausch wird wohl auch dabei möglich gewesen sein. Zudem war es den Teilnehmern vielleicht nicht zuletzt wichtig, zumindest gehört zu werden und zumindest das Gefühl zu haben, hinzugezogen worden zu sein. So heißt es zu einer Versammlung 1137 ausdrücklich, dass diese zur Befriedung der konkurrierenden Markgrafensöhne Leopold und Adalbert zusammengetreten ist (cum essent apud Tulnum oppidum, ubi pro reconciliatione duorum fratrum Leupoldi et Adalberti convenerat conventus principum)129. Der Schreiber hatte zumindest den Eindruck, dass die Versammlung dem Interessensausgleich dienen konnte. Andererseits hat Leopold II. zum Tullner Taiding 1081 seine Gegner augenscheinlich erst gar nicht geladen, sondern davor bereits aus der Mark vertrieben. Dass, wie es scheint, überregionale Versammlungen vor allem in Phasen einer stärkeren Stellung der Markgrafen stattfanden und zugleich als Gradmesser für die Landwerdung angesehen 126  Bei den Edelfreien und landesfürstlichen Ministerialen ist die Zahl der jeweils nicht anwesenden Familien noch beträchtlich höher. 127  Siehe Anm. 68, Anm. 77, Anm. 86, Anm. 88, Anm. 89, Anm. 94, Anm. 97, Anm. 98, Anm. 103. 128  Siehe zuletzt etwa Zehetmayer, Anfänge Landwerdungen (wie Anm. 22). 129  Wie Anm. 77.



Überregionale Versammlungen der Babenberger in der Mark Österreich 449

werden können, könnte bedeuten, dass dieser Prozess von einem starken Markgrafen begünstigt wird. Es ist noch ein Blick auf jene Männer zu werfen, die besonders häufig bei größeren Versammlungen anzutreffen sind und denen deshalb eine bevorzugte Stellung zugekommen sein dürfte, die vielleicht auch jene Personen waren, mit denen die Markgrafen im Vorfeld der Zusammenkünfte im kleinen Kreis beraten haben. Häufig waren die benachbarten und eng verwandten steirischen Markgrafen in Österreich zugegen, mit denen sich die Markgrafen häufig abgesprochen haben müssen130. Dies ist umso auffälliger, als etwa die ebenfalls eng verwandten böhmischen Herzöge kaum erschienen sind. Aber auch die Passauer Bischöfe waren oft dabei, was nicht verwundert, werden doch immer wieder auch kirchenpolitische Angelegenheiten besprochen worden sein. Die wichtigsten Berater aus dem Grafenstand waren augenscheinlich Werigand und vor allem sein Sohn Leutold von Plain, aber auch Graf Gebhard von Poigen und später Graf Konrad von Peilstein. Die wichtigsten edelfreien Familien im Umfeld der Babenberger waren die Lengbacher und die Perg-Machländer. Bei der Untersuchung der Ministerialen erwies sich der sehr große Ermessensspielraum der Schreiber bei der Berücksichtigung der Zeugen als großes Problem. So wurden bis in die 1140er Jahre Ministerialen häufig weggelassen, obwohl sie mit höchster Wahrscheinlichkeit bei den Versammlungen zugegen gewesen sind. Die Schreiber scheinen aber keine Notwendigkeit gesehen zu haben, Ministerialen zu notieren. Zumindest gegen Ende des Untersuchungsraums zeigt sich nichtsdestotrotz eine zunehmende Dominanz der Kuenringer-Sippe. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass jene Familien zum engeren Umkreis gehörten, die auch machtmäßig die größten Ressourcen hatten. Es lässt sich zumindest in den Quellen noch kein homo novus erkennen, dem der Markgraf besonders vertraut hätte. Viele Adelige und Ministerialen waren bei überregionalen Versammlungen nur fallweise präsent131. Insgesamt gesehen bleibt zu konstatieren, dass Versammlungen einiges über die Entwicklung der inneren Struktur, der Stellung der Markgrafen und einzelner Adelsfamilien und des Zusammengehörigkeitsgefühls mitteilen können, aber Aussagen über einzelne Zusammenkünfte auch nicht vorschnell getätigt werden sollen, waren sie doch durchaus vielschichtige Phänomene.

130  Die Babenberger waren dagegen kaum in der Steiermark bei steirischen Taidingen zugegen; siehe Roman Zehetmayer, Zu den steirischen Landtaidingen und zur rechtlichen Stellung der Salzburger Ministerialen im Land Steiermark bis etwa 1300. ZHVSt 94 (2003) 83–122. 131  Keine besondere Rolle zumindest gemäß den Zeugenlisten scheinen auch die Prälaten der heimischen Klöster gespielt zu haben.

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Die Autorinnen und Autoren Mag. Dr. Irmgard Becker Archivschule Marburg Hochschule für Archivwissenschaft Bismarckstr. 32 35037 Marburg [email protected] Mgr. Petr Elbel, Ph.D. Masarykova univerzita Ústav pomocných věd historických a archivnictví Arna Nováka 1 602 00 Brno [email protected] Dr. Claudia Feller, MAS Institut für Österreichische Geschichtsforschung Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected] Dr. Christoph Haidacher, MAS Tiroler Landesarchiv Michael-Gaismair-Str. 1 6020 Innsbruck [email protected] Prof. Dr. Paul-Joachim Heinig Deutsche Kommission für die Bearbeitung der Regesta Imperii e.V. bei der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz Geschwister-Scholl-Str. 2 55131 Mainz [email protected] ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Julia Hörmann-Thurn und Taxis, MAS Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie Universität Innsbruck Innrain 52d 6020 Innsbruck

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Die Autorinnen und Autoren

[email protected] Univ.-Ass. MMag. Dr. Daniel Luger Institut für Österreichische Geschichtsforschung / Institut für Geschichte Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected] emer. Univ.-Prof. Dr. Werner Maleczek Institut für Österreichische Geschichtsforschung / Institut für Geschichte Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected] ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Meta Niederkorn Institut für Geschichte Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected] Dr. Gustav Pfeifer, MAS Südtiroler Landesarchiv Armando-Diaz-Straße 8/B 39100 Bozen [email protected] Prof. Dr. Daniela Rando Dipartimento di Studi Umanistici Università degli Studi di Pavia Piazza del Lino, 2 27100 Pavia [email protected] Prof. Dr. Christine Reinle Historisches Institut Justus-Liebig-Universität Gießen Philosophikum I, Haus C Otto-Behaghel-Straße 10 35394 Gießen [email protected]



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emer. Univ.-Prof. Dr. Josef Riedmann Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie Universität Innsbruck Innrain 52d 6020 Innsbruck [email protected] Prof. Dr. Christian Rohr Historisches Institut Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte Universität Bern Länggassstrasse 49 3012 Bern [email protected] Doc. PhDr. Juraj Šedivý, MAS, PhD. Katedra archívnictva a pomocných vied historických Univerzita Komenského – Filozofická fakulta Gondova 2 814 99 Bratislava [email protected] PD Mag. Dr. Johannes Seidl, MAS Archiv der Universität Wien Postgasse 9 1090 Wien [email protected] MMMag. Dr. Stefan Seitschek Institut für Österreichische Geschichtsforschung Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected] emer. Univ.-Prof. Dr. Winfried Stelzer Institut für Österreichische Geschichtsforschung / Institut für Geschichte Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected]

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Die Autorinnen und Autoren

Univ.-Prof. Dr. Peter Štih Filosofska fakulteta, Oddelek za zgodovino Univerza v Ljubljani Aškerčeva 2 1000 Ljubljana [email protected] Mag. Dr. Maximilian Alexander Trofaier, MA Archiv des Schottenstifts Benediktinerabtei Unserer Lieben Frau zu den Schotten Freyung 6 1010 Wien [email protected] Prof. Dr. Martin Wagendorfer Historisches Seminar Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde Ludwig-Maximilians-UniversitätMünchen Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München [email protected] Univ.Prof. Dr. Marija Wakounig Institut für Osteuropäische Geschichte Universität Wien Spitalgasse 2, Hof 3 1090 Wien [email protected] PD Dr. Andreas Zajic, MAS Österreichische Akademie der Wissenschaften Institut für Mittelalterforschung, Abteilung Editionsunternehmen und Quellenforschung – MIR Hollandstraße 11–13 1020 Wien [email protected] PD Dr. Roman Zehetmayer Niederösterreichisches Landesarchiv Landhausplatz 1 3100 St. Pölten [email protected]