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German Pages 423 [424] Year 2002
Frühe Neuzeit Band 71 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Garsten Behle
»Heil dem Bürger des kleinen Städtchens« Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Meinen Eltern. Wem, wenn nicht euch ?
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Behle, Garsten: »Heil dem Bürger des kleinen Städtchens« : Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert / Carsten Behle. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Frühe Neuzeit; Bd. 71) Zugl. Kurzfassung von: Gießen, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-484-36571 -4
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt Vorwort
VII
Zitierweise und Abkürzungen
EX
Einleitung Geselligkeit und Literatur Zum methodischen Vorgehen der Arbeit Skizze des Untersuchungsverlaufs
1. Die Schäfer, der Hof und die Bürger: Sozial- und ideengeschichtliche Voraussetzungen frühneuzeitlicher Bukolik l. l Zum sozialhistorischen Ort bukolischer Dichtung in der höfischen Gesellschaft l .2 Form und Funktion der Geselligkeit im säkularen Naturrecht des 17. Jahrhunderts 1.3 Reguherungsmodelle geselliger Wirklichkeit zwischen Tradition und Innovation
2. Das Salomon-Geßner-Problem: Die Grundsätze des Natuirechts der Geselligkeit im Spannungsfeld von bürgerlicher Biographie und idyllischer Dichtung 2. l Funktionsgeschichtliche Kontinuität: Naturrecht und Idyllentheorie im 18. Jahrhundert 2.2 Der moralische Standpunkt: Zum Geltungsanspruch der aufklärerischen Idyllendichtung 2.3 Die idyllische Existenz des Bürgers: Zum Status der Idyllendichtung in der Biographie Geßners 2.4 >Kleine Gesellschaftern: Moses Mendelssohns Idyllentheorie im Lichte seiner Rousseau-Kritik
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47 47 61 72
101 103 117 138 165
VI
3. »Ihr lebt alle in Arcadien wenn ihr wollt.« Johann Georg Zimmermanns Einsamkeit und das »arkadische Modell« in der Popularphilsophie des 18. Jahrhunderts 3.1 Johann Georg Zimmermann und seine Konzeption >geselliger Einsamkeit 3.2 Die >Einsamkeitsdebatteidyllisches Epos< als poetisches Gegenkonzept zur Theorie der ästhetischen Versöhnung
288 300 330
Literaturverzeichnis Handschriftliche Quellen Gedruckte Quellen Forschungsliteratur
Namenregister
367 367 374
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Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Promotionsschrift, die im Sommer 2000 unter gleichem Titel vom Fachbereich 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde. Zu danken habe ich in erster Linie Prof. Dr. Friedrich Vollhardt, dessen Lehrstuhl nicht allein die materiellen Rahmenbedingungen schuf, die eine kontinuierliche und intensive Arbeit am Thema ermöglichten. Darüber hinaus stand er als ausgewiesener Experte der Frühen Neuzeit bei Bedarf jederzeit mit ebenso fundiertem wie freundschaftlichem Rat zur Verfügung. Gedankt sei außerdem den Leitern und Mitgliedern des Graduiertenkollegs Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext an der Universität Gießen. Namentlich Prof. Dr. Christine Lubkoll und Prof. Dr. Günter Oesterle ist zu verdanken, daß die kontroversen Diskussionen die Projekte der Graduierten produktiv unterstützten. Die Verdienste, die Dr. Michael Schlott, der langjährige Freund und >Lehrer< aus Hamburger Tagen, um die Arbeit hat, sind kaum zu überschätzen. Sie beschränken sich keineswegs auf die inhaltliche Schlußkorrektur mit ihrer ermutigenden Kritik. Mehr als alles andere war es das enge Vertrauensverhältnis, das eine Idee akademischer Zusammenarbeit kultivierte und dadurch die tägliche Motivation zur Weiterarbeit gewährleistete. Prof. Dr. Klaus Garber als Mitherausgeber der Frühen Neuzeit habe ich für die keineswegs selbstverständliche Bereitschaft zu danken, sich intensiv eines Beitrages anzunehmen, der seinen eigenen früheren Arbeiten kritisch begegnete. Dr. Heike Schweitzer danke ich für den schonungslosen fachfremden Blick, das Talent, zur rechten Zeit die rechten Fragen zu stellen - und für die Bereitschaft, sich daraufhin auf stundenlange Diskussionen einzulassen. Nicht zuletzt gilt mein Dank Bettina Behle, die sich unter schwierigen persönlichen Umständen den Mühen des Korrekturlesens unterzogen hat. Frau Soll vom Niemeyer-Verlag hat mich mit Rat und Tat bei der Erstellung der Druckvorlagen unterstützt, wofür auch ihr hiermit Dank ausgesprochen sei. Meine Eltern Karin und Horst Behle endlich haben alle Rechte, sich die Arbeit auch als eigenen Verdienst anzurechnen. Die Offenheit, mit der sie von Kinderbeinen an ermutigten, Fähigkeiten und Interessen zu kultivieren, ohne daß es die ihren waren, bildete die Basis für die Entscheidung zu einem eigenen Lebensweg und schuf zugleich ein soziales Grundverständnis, das diesen Weg auch inhaltlich prägte und weiterhin prägen wird. Ohne diese Voraussetzung gäbe es diese Arbeit nicht, die ihnen daher gewidmet sein soll. Hamburg, im Oktober 2001
Garsten Behle
Zitierweise und verwendete Abkürzungen: Quellen- und Forschungsliteratur wird bei der ersten Erwähnung im Anmerkungsapparat mit einer vollständigen bibliographischen Angabe angeführt. Von der zweiten Erwähnung an erfolgen Verweise lediglich anhand des Verfassernamens sowie des Haupttitels der Publikation. Werden Nachweise nach späteren Ausgaben geführt, wird das Originalerscheinungsjahr bei der ersten Nennung in eckigen Klammern angegeben. In Zitaten kennzeichen [... ] Auslassungen. [i] zwischen Worten, Sätzen oder Satzteilen kennzeichnet einen Absatz bzw. Verswechsel im Original, innerhalb, zu Beginn oder am Ende eines Wortes grammatische Anpassungen an den Satzzusammenhang.
Um den Anmerkungsapparat zu entlasten, werden für mehrbändige Werke, aus denen unterschiedliche Einzeltitel zitiert werden, sowie für mehrfach angegebene Zeitschriftentitel die folgenden Siglen verwendet: AA
DAJ DVS GGW
GRM HA
IASL JbDSG JPW
= Kant's gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [Unter Angabe der Abteilung in römischen, von Band und Seite(n) in arabischen Zahlen.] = Das Achtzehnte Jahrhundert = Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte = Christian Garve: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985ff. [Unter Angabe der Abteilung in römischen, von Band und Seite(n) in arabischen Zahlen.] = Germanisch-Romanische Monatsschrift = Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. 16., durchgesehene Auflage. München 1981ff. [Unter Angabe des Bandes in römischen, der Seite(n) in arabischen Zahlen.] = Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur = Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft = Jean Paul: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Norbert Miller. München 1960ff. [Unter Angabe des Bandes in römischen, der Seitein) in arabischen Zahlen.]
MGS
NA
WA
WB WW ZdP
= Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. ND Hildesheim 1976. [Unter Angabe des Bandes in römischen, von Teilband und Seite(n) in arabischen Zahlen.] = Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Hg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Weimar 1943ff. [Unter Angabe des Bandes in römischen, der Seite(n) in arabischen Zahlen.] = Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887ff. [Unter Angabe der Abteilung in römischen, von Band und Seite(n) in arabischen Zahlen.] = Weimarer Beiträge = Wirkendes Wort = Zeitschrift für deutsche Philologie
Man bilde seine Manieren in der Welt, und seinen Charakter in der Einsamkeit1
Einleitung Geselligkeit und Literatur Geselligkeit ist in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Gegenstand sozialhistorischer Fragestellungen der Aufklärungsforschung geworden. Nicht zuletzt die Beiträge zum achten Kongreß des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung, der sich 1994 den »vielschichtigen Themen und Problemfelder[n]«2 von Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter widmete, bezeugen das breite und disziplinübergreifende wissenschaftliche Interesse an frühneuzeitlichen Vorstellungen über Geselligkeit ebenso wie an den verschiedenen Formen geselliger Praxis und ihrer historischen Entwicklung. Die Themenstellung der Tagung bestätigte damit auch einen Trend sozialhistorischer Forschung, die sich seit den achtziger Jahren zunehmend von Problemstellungen und Verfahren abwandte, die eng an Fragen der aktuellen gesellschaftlichen >Relevanz< und >Kritik< orientiert waren. Statt dessen bemühte man sich verstärkt um ein genaueres Verständnis der historischen Phänomene anhand zeitgenössischer Begrifflichkeiten und Beurteilungen geselliger Wirklichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Ein Schwerpunkt der sozialhistorischen Untersuchungen zur Geselligkeit liegt bereits seit einigen Jahren in der Erforschung und Darstellung von Formen geselligen Umgangs in der gesellschaftlichen Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts.3 lieber die Einsamkeit. Von Johann Georg Zimmermann Königlich Großbritannischen Hofrath und Leibarzt in Hannover. Dritter Theil. Leipzig 1785. S. 435. Wolfgang Adam: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Einführung in die Konzeption der Tagung. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitaher. Unter Mitwirkung von Knut Kiesant, Winfried Schulze und Christoph Strosetzki hg. von Wolfgang Adam. Teil I. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28). S. 1-16, hier S. 6. Vgl. etwa Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im spaten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung l [1972]. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18). S. 174-205, 439-447; Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982; Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Hg. von Otto Dann. München 1984 (Historische Zeitschrift. Beihefte 9); Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Frankfurt/M. 1986. (Durchgesehene Neuauflage. Ebd 1996); Sociabilito et Sociote" Bourgeois« en France, en Allemagne et en Suisse, 1750-1850. Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750-1850. Sous la direction d' Etierme Francois. Travaux et Memoires de la Mission Historique Francaise en Allemagne Göttingen. Paris 1986 (Editions Recherche sur les Civilisations); Paul Münch: Lebensformen in der frühen Neuzeit Frankfurt/M., Berlin 1992, insbes. S. 273-313; Richard van Dülmen: Kuhur und AU-
Daneben haben sich jüngere Studien auch deren theoretischer Grundlegung in den Diskussionen um den Geselligkeitsbegriff als einem grundlegenden Terminus des profanen Naturrechts der Frühen Neuzeit zugewandt.4 Auch für im engeren Sinne literaturwissenschaftliche Fragestellungen ergaben sich aus den Untersuchungen zu den Grundlagen und Wandlungsprozessen einer aufklärerischen Theorie der Geselligkeit Anschlußmöglichkeiten: Die funktionale Neubestimmung der Rolle >schöner Literatun im Verlauf dieser Prozesse sowie die Tendenz zur Ästhetisierung des naturrechtlichen Geselligkeitsgrundsatzes gegen Ende des 18. Jahrhunderts eröffneten neue Perspektiven und Gesichtspunkte für die Beschäftigung mit der literarhistorischen Entwicklung/ Jüngst hat sich Emanuel Peter um eine Untersuchung des »enge[n] Zusammenhang[s] zwischen Gruppenbildung und Geselligkeitsdiskussion im 18. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich« bemüht, eines Zusammenhangs, der tag in der Frühen Neuzeit 3 Bde. München 1990-1994; Rolf Graber: Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich 1746-1780. Zürich 1993; Wolfgang Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Band 1: Vom Spatmittelalter bis zur Franzosischen Revolution. München 1997. Vgl. dz. im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen insbesondere die jüngeren Arbeiten von Friedrich Vollhardt (u. a.): Freundschaft und Pflicht Naturrechtliches Denken und literarisches Freundschaftsideal im 18. Jahrhundert In: Frauenfreundschaft - Mannerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert Hg. von Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1991. S. 293-309; Naturrecht und »schöne Literatur« im 18. Jahrhundert In: Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution. Hg. von Otto Dann und Diethelm Klippel. Hamburg 199S (Studien zum 18. Jahrhundert 16). S. 216-232; Natur, Recht, Staat Problemkonstellationen in Hölderlins Hyperion. In: Literatur im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hg. von Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Tftzmann. Stuttgart, Weimar 1998. S. 71-106; Selbstliebe und Geselligkeit Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert Tübingen 2001 (Communicatio 26). Vgl. außerdem Karl-Heinz Gottert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988; Wolfram Mauser: Geselligkeit Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert Hg. von Karl Eibl. Hamburg 1989 (Aufklärung 4/1). S. 5-36; Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland. Stuttgart 1991; Gesellige Vernunft Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag. Hg. von Ortrud Gutjahr, Wilhelm Kühlmann, Wolf Wucherpfennig. Würzburg 1993. Vgl. dz. bereits Karl Richter: Geselligkeit und Gesellschaft in Gedichten des Rokoko. In: JbDSG 18 (1974). S. 245-267; Wulf Segebrecht: Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen. In: GRM N. F. XXV (1975). S. 306-322; Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968; Ders.: Geselligkeit im Geselligen. In: Gesellige Vernunft, S. 173-185. Während die älteren Arbeiten noch weitgehend ohne Bezugnahmen auf die Bedeutung des Geselligkeitsgrundsatzes in den Theorien des profanen Naturrechts des 17. Jahrhunderts sowie den damit verbundenen gesellschaftsethischen Normierungen geselligen Umgangs auskamen, ist dieser Hintergrund für die meisten neueren Studien von erheblicher Bedeutung. Vgl. dz. (neben den o. a. Arbeiten) etwa Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart, Weimar 1993; Gerhard Kurz: Das Ganze und das Teil. Zur Bedeutung der Geselligkeit in der ästhetischen Diskussion um 1800. In: Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels. Hg. von Christoph Jamme unter Mitwirkung von Frank Völkel. Hamburg 1996 (Hegel-Deutungen 2). S. 91-113; Wolfgang Adam: Geselligkeit und Anakreontik. In: Dichter und Bürger in der Provinz. Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach. Hg. von Ernst Rohmer und Theodor Verweyen. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeh 42). S. 31-54.
sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts schließlich - nunmehr in dreipoliger Relation - als »enge[s] Wechselspiel zwischen theoretischer Reflexion, literarischer Idealisierung und praktischer Gruppenbildung«* darstelle. Der von Peter an dieser Stelle einmal mehr hervorgehobene Bedeutungsgewinn spezifisch literarischer Beschäftigungen mit dem Grundsatz der Geselligkeit am Ende des Jahrhunderts läßt umso dringlicher nach deren Rolle in den sozialanthropologischen Diskussionen der vorangegangenen Jahrzehnte fragen. Auch hierzu liegen Forschungsansätze vor, die sich jedoch bislang nicht zu einem in vergleichbarer Weise geschlossenen Bild zusammenführen lassen, wie dies für die Zeit um 1800 möglich ist. Einigkeit besteht lediglich im allgemeinen über die Bedeutung naturrechtlicher Theorien für das Verständnis zentraler literarischer Phänomene des 18. Jahrhunderts, während die hieraus entwickelten Deutungsmuster selbst sowie die anhand der naturrechtlichen Terminologie nachgezeichneten historischen Prozesse und Zäsuren mitunter erheblich differieren: So geht beispielsweise Wolfgang Adam von einem »zäsuralen Einschnitt 1730/40« aus, der mit einem »neue[n] Konzept der aufgeklärten Geselligkeit«1 verbunden sei. Dagegen betont Wolfram Mauser die Kontinuität naturrechtlicher Geselligkeitskonzepte im Zeitalter der Aufklärung, die erst um 1750 mit »ganzheitlich-volkhafte[n] Konzepten« konfrontiert worden seien, was schließlich zu einer »Ablösung des in Ansätzen aufklärerisch-progressiven Geselligkeitsbegriffes«8 geführt habe. Weniger die chronologische als vielmehr die terminologische und systematische Differenz dieser vor dem gleichen ideen- und sozialgeschichtlichen Hintergrund erarbeiteten Ansätze verweist auf eine Reihe unbeantworteter Fragen im Zusammenhang mit der Rezeption des naturrechtlichen Geselligkeitsgrundsatzes in der Literatur und Sozialphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen versucht die vorliegende Untersuchung zu leisten: Im Ausgang von Geselligkeitskonzeptionen, die an Erfordernissen der höfischen Gesellschaft des Absolutismus orientiert waren, fragt sie nach den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Adaptation in der Sozialphilosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund eines fortschreitenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses. Dabei ermöglicht der sogleich näher vorzustellende systemtheoretische Ansatz u. a. eine veränderte Phaseneinteilung, die sich von den im engeren Sinne politischen Daten des Geschichtsverlaufs löst und im Blick auf das übergreifende Phänomen gesellschaftlicher Modernisierung langfristigere Prozesse zu berücksichtigen vermag. Die angesprochene Tendenz zur Ästhetisierung des Geselligkeitsgrundsatzes bildet einen traditionellen Gegenstand im Rahmen der Romantikforschung, die sich u. a. im Blick auf Friedrich Schleiermachers Fragment gebliebenen Versuch 6 7 8
Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert Tübingen 1999 (Studien zur Deutschen Literatur 153). S. 2f. Wolfgang Adam: Geselligkeit und Anakreontik, S. 32. (Hervorhebungen im Original.) Wolfram Mauser: Geselligkeit, S. 7.
einer Theorie des geselligen Betragens (1799) den theoretischen Voraussetzungen sowie der praktischen Realisierung spezifisch romantischer Formen von Geselligkeit zugewandt hat.9 Bis in die jüngste Zeit hinein verzichten diese Arbeiten jedoch in der Regel auf die Einbeziehung des ideen- und sozialgeschichtlichen Hintergrundes, mit dessen Hilfe sich die frühromantische Geselligkeitsdiskussion als Ausläufer intensiver Auseinandersetzungen innerhalb der aufklärerischen Sozialphilosophie verstehen ließe.10 Die literar- bzw. kulturhistorisch orientierten Arbeiten zur frühromantischen Geselligkeit gingen dabei in der Regel von Schleiermachers Versuch aus, ohne zu berücksichtigen, daß sie mit diesem auf einen späten Abkömmling naturrechtlicher und aufklärerischer Geselligkeitstheorie Zugriffen, der lediglich in Absetzung von dieser Tradition angemessen zu interpretieren ist. Eine Berücksichtigung der aufklärerischen Tradition erscheint auch deshalb unverzichtbar, weil die historischen Fragestellungen mit erheblichen ideologischen Implikationen verbunden sind, denn mit Schleiermachers Versuch wurde der Begriff der Geselligkeit zur Grundlage einer von aufklärerisch-liberalen Gesellschaftskonzeptionen scharf abgegrenzten Theorie der Gemeinschaft.11 Es ist daher ein An9
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Vgl. etwa Inge Hoffinann-Axthelm: »Geisterfamilie«. Studien zur Geselligkeit der Frühromantik. Diss. Berlin/West 1970; Otto Dann: Gruppenbildung und gesellschaftliche Organisierung in der Epoche der deutschen Romantik. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hg. von Richard Brinkmann. Sonderband der DVS. Mit 49 Abbildungen. Stuttgart 1978. S. 115-131; Thomas Günther Ziegner: Ludwig Tieck - Studien zur Geselligkeitsproblematik. Die soziologisch-pädagogische Kategorie der Geselligkeit als einheitsstiftender Faktor in Leben und Werk des Dichters. Frankfurt/M., Bern, New York 1987 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 14). Bezeichnend hierfür erscheint u. a. der Artikel Geselligkeit, gesellig aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie von 1974: Wolfgang Hinrichs, der in den sechziger Jahren mit einer Arbeit über Friedrich Schleiermachers Geselligkeitstheorie promovierte (vgl. Schleiermaches Theorie der Geselligkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Weinheim/Bergstraße 1965), verfaßte diesen Artikel, der bereits mit einer Feststellung anhebt, die im Blick auf den frühneuzeitlichen ideen- und sozialgeschichtlichen Hintergrund der Geselligkeitsdiskussion kaum zu halten ist: »Als erster hat Fr. Schleiermacher mit seinem >Versuch einer Theorie des geselligen Betragens< dem Begriff zur philosophischen Geltung verhelfen.« [Art:] Geselligkeit, gesellig. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Dannstadt 1974. Sp. 456-458, hier Sp. 456. Vgl. dagegen zuletzt jedoch Emanuel Peter: Geselligkeiten, S. 222f. Vgl. dz. Manfred Riedel: [Art:] Gesellschaft, Gemeinschaft In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Band 2. Stuttgart 1975. S. 801-862, insbes. S. 830ff. Auch noch die jüngst von Detlef Gaus vorgelegte Arbeit über die Geselligkeit der Berliner Salons um 1800 versäumt es, die methodischen Konsequenzen aus diesem Problem zu ziehen: Vgl. Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800. Stuttgart, Weimar 1998. Zwar bemüht sich Gaus in einem - wenn auch äußerst knapp gehaltenen - Abschnitt um »[h]istorische Annäherungen« an die Geschichte des Geselligkeitsbegriffs von der Antike bis zur Spätaufklärung (S. 55-61). Allerdings wird im Zuge dieser »Annäherungen« wiederholt auf Herman Nohls Reklamierung eines spezifisch deutschen Geselligkeitsideals zurückgegriffen, das dieser u. a. im Blick auf Schleiermachers Gemeinschqftsbegriff formulierte (vgl. Vom deutschen Ideal der Geselligkeit [1915] In: Pädagogische Aufsätze von Herman Nohl. Zweite vermehrte Auflage. Berlin, Leipzig 1930. S. 121-134,219f.) und das Gaus selbst an späterer Stelle als »Hohelied auf das wahre >deutsche Ideal der Geselligkeit< der Volksgenossen im Kugelhagel des ersten Weltkrieges« (S. 93) qualifiziert Der Zugriff auf die Geschichte des Geselligkeitsbegriffs von einer Position aus, die sich selbst als
liegen der folgenden Studien, mit neuen Aufschlüssen über die Geschichte des naturrechtlichen Geselligkeitsgrundsatzes in seinem Verhältnis zu literarischen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts zugleich eine Grundlage für Untersuchungen spezifischer Formen romantischer Geselligkeit und ihrer Wirkungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu schaffen. Hierfür bildet insbesondere die mittlerweile erfolgte Erschließung der Werke Samuel Pufendorfs und Christian Thomasius' eine unverzichtbare Voraussetzung, die von Wilhelm Schmidt-Biggemann und Ralph Hafner unlängst als eine entscheidende inhaltliche Innovation der Aufklärungsforschung seit den achtziger Jahren festgehalten wurde.12 Mit den naturrechtlichen Begründungsund Regelungskonzepten der geselligen Ordnung rücken zugleich anthropologische Fragestellungen in den Mittelpunkt des Interesses: Die Beschäftigung mit der sozialen Natur des Menschen, mit ihren Voraussetzungen und Folgen, hatte sowohl methodisch als auch inhaltlich einen entscheidenden Beitrag für die Versuche zur Errichtung einer normativen Ordnung zu leisten, die in der Lage sein sollte, den gesellschaftlichen Frieden stabil zu gewährleisten.13 Geselligkeit als anthropologische Grundeigenschaft des Menschen stellt insofern eine Instanz dar, auf die alle Theorien zu rekurrieren hatten, in denen gesellschaftliche Pflichten des Menschen als vollkommene Pflichten, d. h. als unhintergehbare, situationsunabhängige und - vor allem - mit Hilfe staatlicher und gesellschaftlicher Sanktionen durchsetzbare Verbindlichkeiten formuliert werden sollten. Für die systematische Herleitung dieser Pflichten kam der Begründung der geselligen Natur des Menschen daher zentrale Bedeutung zu: Das natürliche Recht, die eigene Glückseligkeit zu befördern, war untrennbar an den Grundsatz der Geselligkeit zu binden, um einer jederzeit drohenden praktischen Entgegensetzung von individuellem und gesellschaftlichem Interesse a priori begegnen zu können.14 Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten einer anthropologischen Begründung der geselligen Natur unterscheiden, eine Unterscheidung,
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deren Aufhebung und Vollendung versteht, verhindert damit auch hier einen historisch adäquaten Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Ralph Hämer: Richtungen und Tendenzen der deutschen Aufkläningsforschung. In: DAJ 19 (1995). S. 163-171, hier S. 164f. Zur »anthropologiegeschichtlichen Wende in der deutschen Aufldäningsforschung« vgl. Walter Erhart: Nach der Aufklärungsforschung? In: Aufklärungsforschung in Deutschland. Hg. von Holger Dainat, Wilhelm Voßkamp. Heidelberg 1999 (Beihefte zum Euphorion 32). S. 99-128, hier S. 104ff., Zitat S. 105. Einen Forschungsbericht bietet Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL· Sonderheft 6 (1994). S. 93-157. Vgl. zudem die Tagungsbände Anthropologie und Literatur um 1800. Hg. von Jürgen Barkhoffund Eda Sagarra. München 1992; sowie Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart, Weimar 1994 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 15). Hierzu auch die Sammelrezension von Andreas Käuser: Anthropologie und Physiognomik im 18. Jahrhundert Besprechung einiger Neuerscheinungen. In: DAJ 20 (1996). S. 73-80. Vgl. hierzu ausführlich u. a. Sandra Pott: Glückseliges Zeitalter. Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland Tübingen 2002 (Frühe Neuzeh). (Im Erscheinen; für die vorläufige Überlassung des Manuskriptes sei der Verfasserin an dieser Stelle gedankt)
die nachhaltige Konsequenzen weniger für die konkreten Normen selbst zeitigte als vielmehr für den Charakter der gesellschaftlichen Ordnung, die auf dieser Grundlage zu errichten war, sowie für das soziale Selbstverstandnis des auf diese Ordnung verpflichteten einzelnen: Dem Terminus der Geselligkeit war eine gewisse Zweideutigkeit zueigen, weil er entweder als in der menschlichen Triebnatur verankerte sympathetische Neigung oder als Zweckrationalität gefaßt werden konnte, die auf der Einsicht des einzelnen in sein wohlverstandenes Eigeninteresse beruht.11 An die zu konstatierende Dominanz dieses zweiten Begründungsmodells für eine von seiner Natur nicht zu trennende Neigung des Menschen zur Geselligkeit, die gleichwohl keinen bloßen Naturtrieb darstellt, knüpft die literarhistorische Fragestellung der folgenden Untersuchung im Sinne einer ersten grundlegenden These an: In dem Maße, in dem die Begründungen des profanen Naturrechts von einer Inanspruchnahme des christlichen Grundsatzes natürlicher Nächstenliebe absahen und die Annahme einer natürlichen Sympathie des Menschen im Bereich der strengen wissenschaftlichen Normbegründung an Bedeutung verlor, konnte sie an Einfluß in den theorieentlasteten Produktionen der >schönen Literatur< gewinnen. Damit setzte die Neufassung der naturrechtlichen Begründungsstrategie einen komplexen Differenzierungsprozeß in Gang, der weitreichende Folgen sowohl für die literarische als auch für die sozialtheoretische Entwicklung im 18. Jahrhundert nach sich zog: Die Aneignung einer bestimmten, vom Verfahren der Wissenschaften abgegrenzten Perspektive auf den Menschen stellte eine wichtige Voraussetzung für die Lösung der >schönen Literatur< aus ihrer didaktischpropädeutischen Anbindung an die Wissenschaften dar. In diesem Sinne trug sie zur Reklamierung einer eigenständigen Funktion literarischer Produktion bei. Da dieser Ablösungsprozeß also eng an die Inhalte gebunden war, die in der Kunst im Unterschied zu den Wissenschaften zu thematisieren waren, wirkten die Neubestimmungen der Funktion von Kunst und Literatur in den ästhetischen Systemen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ihrerseits auf diese Inhalte, ihren systematischen Status und Geltungsanspruch zurück: Die literarische Rede über den Menschen beanspruchte schließlich - wenigstens in einigen der prominentesten Modelle der Zeit - einen Primat gegenüber den Ergebnissen wissenschaftlicher Reflexion.
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Zu den systematischen Differenzierungen innerhalb des »Naturrechts der Geselligkeit« vgl. ausführlich Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosohpie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 3). S. 62ff.; sowie Friedrich Vollhardt: Die Grundregel des Naturrechts. Definitionen und Konzepte in der Unterrichts- und Kommentarliteratur der deutschen Frühaufklärung. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Hg. von Frank Grunert und Friedrich Vollhardt Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 45). S. 129-147, insbes. S. 141f.
Die Annahme einer natürlich-sympathetischen Neigung des Menschen ließ sich jedoch zunächst neben der Einsicht in sein selbstbezügliches Streben nach eigener Glückseligkeit mit Hilfe eines Differenzierungsschrittes aufrecht erhalten: War die >schöne Literatmx offen für die Reklamierung von Formen natürlichunmittelbarer Geselligkeit, so hatten die Begründungsversuche einer verbindlichen normativen Ordnung das eigennützige Handeln des einzelnen in Rechnung zu stellen. Diese Form der Koexistenz unterschiedlicher sozialanthropologischer Modelle war jedoch daran gebunden, daß das literarisch artikulierte anthropologische Ideal nicht mit dem Anspruch auftrat, in Konkurrenz zu treten mit der wissenschaftlichen Analyse anthropologischer Wirklichkeit und ihren normativen Konsequenzen. Es blieb beschränkt auf die einzelne Familie oder den kleinen Kreis der vertrauten Freunde, jedenfalls auf eine Gruppenexistenz abseits des gesellschaftlichen Zivilisationsprozesses.16 Zu einem gesamtgesellschaftlichen Modell taugte das mit dem anthropologischen Ideal verbundene Konzept der >geselligen Einsamkeit^7 nicht.1* Auch umgekehrt war der Blick auf die gesellschaftliche Realität jedoch nicht geeignet, die literarisch artikulierten sozialanthropologischen Ideale in Frage zu stellen. Im Vorausgriff auf den Gegenstand, an dessen Entwicklung die Differenzierung der gesellschaftlichen Beurteilungskategorien im folgenden exemplarisch 16
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Noch 1797 betonte Ernst Ferdinand Klein die Kleinräumigkeit der dem gesellschaftlichen Zusammenschluß notwendig vorausgehenden natürlichen Geselligkeit, die auch innerhalb des gesellschaftlichen Zustandes fortdauert und diesem die Legitimation liefert: »So viel ist gewiß: wo ein Staat errichtet werden soll, muß das gesellige Leben schon vorhanden seyn. Familienverbindungen gingen den bürgerlichen vorher [...]. Vertrag setzet Sprache, Sprache Umgang, Umgang Gesellschaft voraus. Da also die Gesellschaft auch ohne Staat gedacht werden kann; so würde die Pflicht der Geselligkeit, die Pflicht, eine bürgerliche Gesellschaft zu errichten, nur alsdann zur Folge haben, wenn man annehmen müßte, daß entweder das gesellige Leben ohne den Schutz des Staates nicht bestehen, oder doch nicht seinen ganzen Nutzen erreichen konnte. In sofern man also die Pflicht, im Staate zu leben, aus der Pflicht der Geselligkeit herleitet, kann man sich unter einem Staate nichts anders vorstellen, als eine größere Gesellschaft, wodurch die kleinere geschützt, das gesellige Leben erleichtert, und der Zweck desselben befordert wird.« Ueber die Natur der bürgerlichen Gesellschaft. In: Kurze Aufsätze über verschiedene Gegenstände von Ernst Ferdinand Klein. Halle 1797. S. 55-80, hier S. 56. Zum Begriff der >geselligen Einsamkeit vgl. Friedhelm Kemp: Gesellige Einsamkeit In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil l, S. 181-196. Bereits Christian Thomasius hielt in seiner Auseinandersetzung mit dem christlichen Naturrecht »das bis zur Selbstverleugnung gesteigerte Liebesgebot« für einen »utopischen Gedanken, der sich vielleicht in der Poesie ausgestalten, nicht aber zur Grundlage einer Gesellschaftsethik erheben läßt«. Friedrich Vollhardt: Die christliche Liebe und das Naturrecht der Sozialhat: Problembezüge im Werk von Johann Ludwig Prasch (1637-1690). In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil I, S. 275-287, hier S. 283f. Daß dieser grundlegenden Unterscheidung durch das gesamte 18. Jahrhundert, d. h. auch nach der Französischen Revolution, im Rahmen aufklärerischer Gesellschaftstheorie zentrale Bedeutung beigemessen wurde, macht Saul Ascher noch 1802 in seinen Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen (o. O.) deutlich: Auch er unterscheidet zwischen natürlicher Geselligkeit, in der »unsere Dichter im goldenen Zeitalter unsere Vorältem am Ufer des Tigris vegetiren lassen« und die »bloß ein Trieb [ist], dessen Handlungsweise die Natur vorgezeichnet, der dem Menschen daher nicht vorzugsweise beigemessen werden kann«, und der auf Einsicht beruhenden Gesellschaft. Bei dieser handele es sich um »eine Idee, die dem menschlichen Geiste vorzugsweise eigenthümlich ist« und die erst den Menschen »das Urtheil sprechen ließ: ich bin ein Theil eines Ganzen, in und durch das Ganze lebe ich.« (ND. Kronberg/Ts. 1975. S. 21-23.)
8 nachgezeichnet werden soll, läßt sich zeigen, daß und inwiefern literarischer und wissenschaftlicher Anspruch an Reflexionen auf den menschlichen Naturzustand in der zeitgenössischen Diskussion unterschieden wurden. In seiner Rezension der dritten /i/y/fewsammlung Salomon Geßners (1772) in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und derfreyen Künste von 1773 plädierte Johann Jakob Engel dafür, daß »der Grundsatz: daß der Dichter sich in seinen Schilderungen an die wirkliche Natur halten soll, genauer eingeschränkt [...] wird«19, und stellt dann fest: Ob jemals eine solche unverdorbene Natur, wie uns Geßners Idylle schildert, in irgend einem goldnen Wehalter wirklich gewesen? ob man die Originale zu den Geßnerischen Menschen in der Schrift oder in Arkadien finden könne? ob die Einfalt der Sitten, die uns Homer schildert, noch ein Ueberbleibsel von Schufersitten sey, aus welchem sich auf ihre wirkliche Existenz zurückschließen lasse? Alle diese und ähnliche Fragen thun nichts zur Sache, und wurden wenig entscheiden, wenn sie auch aufs gunstigste beantwortet wurden. Da gewesen oder nicht da gewesen; es ist einmal wie das andere eine sehr gute, sehr interessante Art Menschen.20
In seiner gattungssystematischen und -historischen Studie über die status naturalis-Utopie stellt Frank Baudach fest, daß die dem Naturrecht Pufendorfs zugrundeliegende Auffassung vom menschlichen Naturstand keine Anknüpfungspunkte für die von ihm untersuchte literarische Tradition bot.21 Ist diesem Befund im Hinblick auf den utopischen Anspruch literarischer Reflexionen auf einen idealen Naturstand zuzustimmen, so bleibt gleichwohl daraufhinzuweisen, daß die auf Pufendorf zurückzuführende Systematik literarische Anknüpfungen keineswegs insgesamt ausschloß: Im Gegenteil bot seine Unterscheidung zwischen dem für eine dogmenfreie rechtswissenschaftliche Reflexion maßgeblichen Naturbegriff des Menschen und der - von ihm keineswegs bestrittenen, sondern lediglich systematisch ausgeschlossenen22 - Vorstellung eines idealen, durch natürliche Sympathie und Geselligkeit geprägten Urzustandes beste Voraussetzungen für eine Ausdifferenzierung der >schönen Literatun aus dem wissenschaftlichen Fächerkanon.23 19
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Johann Jakob Engel: [Rez.:] Salomon Gessners Schriften. Fünfter Band. Zürich, bey Orell, Gessner und Comp. 1772. 8. 273 S. Zit. nach: Ders.: Ober Handlung, Gesprach und Erzählung. Faksimiledruck der ersten Fassung von 1774 aus der >Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und Künstec Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1964 (Sammlung Metzler 37). S. 118-131. Hier S. 123. [Das Erscheinungsjahr der Rezension im 14. Band der Neuen Bibliothek ist hier irrtümlich mit 1772 angegeben.] Ebd., S. 124f. Vgl. dz. auch den Hinweis Fontenelles, daß die von der Dichtung zu bedienende Einbildungskraft auch »zuweilen mit einer halben Wahrheit vorlieb« nehme; s. u., S. 116. Vgl. Frank Baudach: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993 (HermaeaN.F.66). S. 95. S. dz. u., Abschnitt 1.2. Zu den systematischen Problemen einer auf empirisch nicht abzusichernden anthropologischen Grundannahmen aufbauenden naturrechtlichen Normenbestimmung am Beispiel des christlichen Naturrechts Valentin Albertis vgl. ebd., S. 103ff. Die schwindende systematische Bedeutung des status naturalis für die unterschiedlichen Modelle des säkularen wissenschaftlichen Naturrechts arbeitet Baudach zuvor im dritten Abschnitt seines einleitenden Kapitels ausführlich heraus: Vgl. S. 6 Iff. Und insbesondere die Idyllendichtung in ihrer zunächst noch verbindlichen Ausrichtung an einem vorzivilisatorischen Goldenen Zeitalter schien prädestiniert für eine Aufnahme der aus
Ihre Rolle konnte diese nun ergänzend zur Wissenschaft in der sinnlichen Ausarbeitung derjenigen Vorstellungen und Grundannahmen finden, die im Interesse strenger Allgemeinheit der Ergebnisse aus dem Rahmen der Wissenschaft herausgefallen waren. Hierzu gehörte seit der Verlagerung der naturrechtlichen Argumentation auf ein empirisch zu verifizierendes Menschenbild auch jener ideale Urzustand natürlicher Geselligkeit, den es im Interesse einer effektiven Unterstützung der verstandesbestimmten Reflexion auf das wohlverstandene Eigeninteresse< auszugestalten und als moralisch vorbildlich herauszuarbeiten galt. Auch hier zeigt sich mithin, daß es sich bei der Unterscheidung rechtswissenschaftlicher und moralischer bzw. literarischer Bezugnahmen auf den Grundsatz der Geselligkeit keineswegs um einander ausschließende Alternativen handelte, sondern vielmehr um die Konsequenzen eines funktionalen Differenzierungsprozesses, im Zuge dessen es auch zu einer Neuordnung und -Orientierung der Bereiche von Religion, Recht, Moral und Kunst kam. Vor diesem Hintergrund läßt sich das >Abwandern< der Vorstellungen von einer ursprünglich-harmonischen Geselligkeit der menschlichen Gemeinschaft in den Bereich der >schönen Literatur< ebenso verständlich machen wie die auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache, daß diese Vorstellungen nicht in einen Gegensatz zum naturrechtlichen Grundsatz des über die Reflexion auf den eigenen Nutzen herzustellenden gesellschaftlichen Friedenszustandes mündeten. Statt dessen ließen sie sich mit und neben diesem in der Literatur als einem sich herausbildenden eigenständigen Medium der Rede über den Menschen festhalten. Der Konflikt zwischen literarischem Ideal und gesellschaftlicher Wirklichkeit wurde jedoch in dem Moment unvermeidlich, in dem sich Kunst und Literatur mit ihrer Rolle als einer Instanz anthropologischer Reflexion unter anderen nicht mehr begnügten und in ihrem Namen eine Führungsrolle ästhetischer Erfahrung im Ensemble der menschlichen Erkenntniskräfte beansprucht wurde. Dieser Anspruch hatte zugleich inhaltliche Konsequenzen, insofern mit ihm auch der literarischen Rede über den Menschen ein neuer systematischer Rang der Wissenschaft ausgegliederten ursprünglich-unschuldigen, auf naturlicher Sympathie und Liebe beruhenden Geselligkeit So eignete sich etwa mit Johann Ludwig Prasch bereits im 17. Jahrhundert der Vertreter eines christlichen Naturrechts die pastorale Weh an, um im Umfeld ihrer Motivik »die geselligkeitsstiftende Macht einer das äußere Recht ersetzenden Liebe« plastisch zu gestalten. Vgl. dz. Friedrich Vollhardt: Die christliche Liebe und das Naturrecht der Sozialhät, S. 284f, Zitat S. 285. Zu den »Wunschvorstellungen« vom Goldenen Zeitalter, die bereits in der Antike »bald schon zu dem geworden [sind], was die Neuzeit daraus gemacht hat: Ein Auffangbecken für die disparatesten Wünsche und Sehnsüchte, die abstrakte Idealsphäre schlechthin, die ebenso viele Erfüllungsinstanzen besitzt, wie es unerfüllte Wünsche gibt«, vgl. u. a. Bodo Gatz: Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen. Hildesheim 1967 (Spudasmata XVI). S. 114-143, hier S. 143. Vgl. auch ausführlich die weiterhin als verbindlich anzusehende Studie Joachim Mahls: Die Idee des Goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studie zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1963 (Probleme der Dichtung 7); sowie bereits Erika Lipsker (gen. Zarden): Der Mythos vom goldenen Zeitalter in den Schäferdichtungen Italiens, Spaniens und Frankreichs zur Zeit der Renaissance. Diss. Berlin 1933; Walter Veit: Studien zur Geschichte des Topos der Goldenen Zeit von der Antike bis zum 18. Jahrhundert Diss. Köln 1961.
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zugesprochen wurde: Dessen natürliche gesellige Neigung wurde erneut zur eigentlichen Voraussetzung für seine gesellschaftliche Existenz erklärt; die auf wohlverstandenem Eigeninteresse und zweckrationaler Reflexion beruhende Gesellschaftskonzeption wurde als >mechanistisch< verworfen und lediglich als soziales Durchgangsstadium betrachtet, das es in einem teleologischen Prozeß zu überwinden galt. Der differenzierten Gesellschaft von Menschen, die in disziplinierter Form ihre je eigenen Interessen verfolgen und dabei wechselweise zur Befriedigung der Bedürfnisse anderer beitragen, wurde ein neues Konzept der Gemeinschaft entgegengestellt. Dessen Stabilität sollte statt auf der Differenz auf substantieller Gleichheit des Wesens wie der Interessen der Mitglieder beruhen. Zu Erkenntnis und Bewahrung dieser substantiellen Gemeinsamkeit hatte die Kunst selbst beizutragen, deren neuer umfassender Anspruch damit auch die Begründung und Ausgestaltung der gesellschaftlichen Existenz des Menschen einschloß.24 Die im folgenden vorzunehmende Engführung von sozialer Theorie, Funktionsgeschichte der Literatur und Gattungsgeschichte der Idylle verfolgt vor dem Hintergrund dieser übergreifenden Prozesse das Ziel der historisch-systematischen Rekonstruktion eines Diskussionszusammenhangs. Diese Diskussion zeichnet sich dadurch aus, daß ihr historischer Verlauf an den grundlegenden systematischen Grenzziehungen orientiert ist, durch die sie in Gang gesetzt wurde. Bereits zu Beginn der Diskussion standen damit genaugenommen sämtliche Möglichkeiten der im weiteren Verlauf vorgenommenen Variationen der begrifflichen Anordnung zur Verfügung. In der nachfolgenden Diskussion wurden dann auch weniger terminologische Neubestimmungen vorgenommen als vielmehr die systematische Anordnung der überlieferten Terminologie neu gefaßt. Daher sind im Zuge der Rekonstruktion historische und systematische Perspektiven auf den Diskussionsverlauf parallel einzunehmen. Daß es sich bei der begrifflichen Differenzierung, durch die der Prozeß eingeleitet wurde, um eine Abgrenzung handelt, die auch für die aktuelle gesellschaftliche Theorie und Praxis nichts an Relevanz eingebüßt hat, verschafft die Möglichkeit, sie in eine neue, trennschärfere Terminologie zu überfuhren. Anhand der Schriften Christian Thomasius' läßt sich der enge Zusammenhang historischer und systematischer Fragestellungen demonstrieren, die den sozialgeschichtlichen Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Fragen nach Bedeutung und Entwicklung von Idyllentheorie und -dichtung im 18. Jahrhundert darstellen:
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Mit den Stichworten von Gesellschaft und Gemeinschaft ist terminologisch bereits ein Fluchtpunkt des im folgenden exemplarisch zu rekonstruierenden historischen Prozesses angedeutet Dieser Horizont in der Bedeutung der Unterscheidung für die soziale Theorie und Praxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland (der sich im Blick auf aktuelle Diskussionen um Theorien des Kommunitarismus bis in die Gegenwart verlängern ließe) bleibt gleichwohl außerhalb des eigentlichen Untersuchungsverlaufe, der sich auf die historischen und systematischen Voraussetzungen beschränkt
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Systematisch vollendet sein Konzept die bereits bei Pufendorf angelegte Unterscheidung zwischen den normativen Ordnungen des Rechts und der Moral. Zudem fügt Thomasius seinem System im Rekurs auf die in der klassischen Rhetorik verankerte Lehre vom decorum eine Instanz hinzu, der eine vermittelnde und damit den gesellschaftlichen Verkehr disziplinierende Funktion zwischen den vollkommenen, staatlich erzwingbaren Pflichten der rechtlichen und denjenigen der moralischen Ordnung zugetraut werden konnte. Diese Instanz wurde umso wichtiger, als Thomasius sich in den späteren Schriften von seiner vergleichsweise optimistischen Version der Liebesethik abwandte und sie zu einer Lehre pragmatischer Affektkontrolle umbildete. Schließlich vollzog die im Zusammenhang mit dieser Neuorientierung vorgenommene Unterscheidung zwischen natürlichem und politischem decorum jene Differenzierung nach, die Pufendorf für die Grundlegung seines naturrechtlichen Systems am Begriff der socialitas vornahm. Damit verschaffte sie der abstrakten systematischen Unterscheidung eine unmittelbar und konkret auf einzelne Fragen des geselligen Umgangs anwendbare Form. Historisch verbürgen die Schriften Thomasius' nicht allein Kontinuität am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, sondern sind von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die Verbreitung naturrechtlicher und gesellschaftsethischer Grundsätze in der ersten Hafte des 18. Jahrhunderts. Seine Einbeziehung von Fragen des decorum in den universitären Lehrbetrieb, die ausdrückliche Betonung ihrer Bedeutung für die Praxis innerhalb des staatlichen Verwaltungsapparates, verschaffte den bis dahin nahezu ausschließlich an höfische Kreise gerichteten gesellschaftsethischen Regeln und Normen ein erheblich erweitertes Publikum, in das nunmehr auch die Kreise des gelehrten Bürgertums einbezogen wurden. In Verbindung mit der systematischen Unterscheidung zwischen natürlichem und politischem decorum leistete Thomasius damit einen wesentlichen Beitrag für die Rezeption und Anwendung eines für den absolutistischen Staat und den absolutistischen Hof konzipierten Regelkanons auch innerhalb solcher Kreise, die der Welt des höfischen Umgangs fernstanden oder lediglich vorübergehend mit ihr in Kontakt traten. Damit verschafft das Werk Thomasius' die Möglichkeit, die sozialhistorischen Prozesse des 18. Jahrhunderts neu zu akzentuieren und im Sinne einer zweiten grundlegenden These der folgenden Untersuchungen zuzuspitzen: Die spätestens ab der Jahrhundertmitte auch von bürgerlichen Autoren für ein ständeübergreifendes Publikum konzipierten Modelle des geselligen Umgangs entstanden weniger in Absetzung von als vielmehr in Anlehnung an die traditionellen, unter den Bedingungen absolutistischer Herrschaft formulierten Theorien. Dies gilt gleichermaßen für sämtliche Bereiche der praktischen Philosophie: ebenso für die rechtliche, für die moralische wie auch für die gesellschaftsethische Theoriebildung.23 25
Dabei soll keineswegs bestritten werden, daß im Zuge dieser Rezeption zum Teil wesentliche Variationen und Umbildungen der ursprünglichen Systemgebäude vorgenommen wurden. Aber im folgenden wird u. a. zu zeigen sein, daß sich diese weniger als originäre Neuschöpfungen
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Das von allem künstlichen Zierat ebenso wie von prudentistischen Instrumentalisierungen befreite, als >natürlich< reklamierte Geselligkeitsideal und die für seine Verwirklichung geeigneten Orte eines vertrauten Umgangs waren - um mit Niklas Luhmann zu sprechen - auf einen Bereich symmetrischer Kommunikation angewiesen. Unter den Bedingungen einer sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft der Moderne war diese jedoch nicht mehr als gesellschaftliches Modell, sondern allein noch in intimen Zirkeln vertraulicher Geselligkeit aufrechtzuerhalten.26 Das gemeinhin als >bürgerlich< apostrophierte Ideal symmetrischer Kommunikation auf der Grundlage der Gleichheit der Kommunikationspartner, der Austauschbarkeit der in der Kommunikation übernommenen Rollen und der Zweckentlastung des kommunikativen Handelns fand seine soziale Basis jedoch nicht in der sich funktional ausdifferenzierenden bürgerlichen, sondern in der stratifikatorisch gegliederten ständischen Gesellschaft: Läßt sich mit Niklas Luhmann funktionale Differenzierung als zentrales Strukturmerkrnal des gesellschaftlichen Modemisierungsprozesses am Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft festhalten, so stellt die Asymmetrie der kommunikativen Rollen und Beziehungen eine grundlegende Bedingung der Möglichkeit dieses Prozesses dar. Dagegen eröffnete die traditionelle stratifikatorische Gliederung der Gesellschaft Räume symmetrischer Kommunikation, »denn der Hierarchie der ständischen Gesellschaft korreliert - und dies gilt auch, und insbesondere, für die herrschende Oberschicht, die sich am Hof bewegt - relative Gleichheit auf den einzelnen Ebenen der Hierarchie«27. Diesem Umstand wurde auch durch die höfische Gesellschaftsethik Rechnung getragen: So sieht Manfred Hinz die von Balthasar Castiglione in dem für die frühneuzeitliche Theorie höfischen Umgangs paradigmatischen Libra del Cortegiano (1528) geforderte soziale Homogenität der Hofgemeinschaft durch die »egalisierende Wirkung [...], die eine bestimmte [...] Konversation ausübt«28, gewährleistet. Werden daher auf natürlicher Gleichheit beruhende Formen
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>bürgerlicher< Autoren, sondern vielmehr als Fortschreibung von Differenzierungen verstehen lassen, die bereits in den ursprünglichen Theorien angelegt waren: Weniger gegen die Theorie des absolutistischen Staates und der Vorbildhaftigkeit der höfischen Gesellschaft richteten sich die Neuansätze als vielmehr gegen die Wirklichkeit absolutistischer Herrschaft und höfischen Umgangs. Und gegen diese Wirklichkeit ließ sich besonders wirkungsvoll auf der Grundlage der auch für sie als verbindlich geltenden Sozialtheorien argumentieren. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1. Frankfurt/M. 1980. S. 148; Ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984 (stw 666). S. 305. Georg Stanitzek: Blödigkeit Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989 (Hermaea. Germanistische Forschungen N. F. 60). S. 98, Anm. 57. Manfrd Hinz: Rhetorische Strategien des Hofinannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992 (Romanistische Abhandlungen 6). S. 24. Vgl. auch Erich Loos: Literatur und Formung eines Menschenideales. Das Libro del Cortegiano von Baldassare Castiglione. (Zur 500. Wiederkehr des Geburtsjahres des Autors 1478-1978). Mainz, Wiesbaden 1980 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse; Jahrgang 1980, Nr. 5). S. 8. Eine ähnliche Funktion wies bereits Norbert Elias dem höfischen Zeremoniell und der Etikette zu, in denen sich die Angehörigen der höfischen Oberschicht gegenseitig ihrer Achtung und Anerkennung versicherten und die in diesem Sinne einen dem allgemeinen Interesse entsprechenden stabilisierenden Rahmen boten, innerhalb dessen sich das freie Spiel der Konkurrenz der jewei-
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von Kommunikation als wesentliches Moment einer bürgerlichen Kultur< gekennzeichnet, die der gesellschaftlichen Realität oppositionell begegnete, so gilt es gleichwohl festzuhalten, daß die vermeintlich >büfgerlichen< Strukturen bereits im Rahmen höfischer Umgangslehren vorgeprägt waren. Die Bedeutung symmetrischer kommunikativer Beziehungen insbesondere in der >schönen Literatur< des 18. Jahrhunderts wird dadurch keineswegs in Abrede gestellt. Statt um eine grundlegende Neuorientierung gesellschaftlichen Umgangs handelt es sich dabei jedoch vielmehr um die Adaptation eines vorgeprägten kommunikativen Modells und seine Anpassung an die veränderten Bedingungen eines gesellschaftlichen Umgangs, der nicht mehr - zumindest nicht mehr ausschließlich an der höfischen Praxis orientiert war. Diese Feststellung widerspricht den gängigen sozialhistorischen Modellen eines der deutschen Misere< geschuldeten bürgerlichen Eskapismus grundsätzlich. Daß sich bürgerliche Klasseninteressen< kaum in ein Ideal >geflüchtet< haben dürften, das mit ihren >objektiven< Ansprüchen aus strukturellen Gründen unvereinbar war,29 läßt sich an der doppelten sozialen Stoßrichtung literarischer Kritik an den höfischen Umgangsformen und -lehren aufweisen: Bereits im 17. Jahrhundert konnten die traditionellen Topoi des Luxus, der Ausschweifung und weltlich-materiellen Verfallenheit für die literarische Hofkritik (als dem Lebensraum des Adels) ebenso genutzt werden wie für eine entsprechende Stadtkritik (als dem Lebensraum des >WirtschaftsbürgertumsLob des Landlebens< in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981. S. 378.
14 lemisch gemeinten Antithese andererseits Strukturen und Probleme der Identität der bürgerlichen Individuen selbst gesetzt.31
Damit geriet sowohl die materielle Orientierung des wirtschaftlichen als auch die Aneignung prudentistischer Verhaltensweisen durch das gelehrte Bürgertum in den Bann der ursprünglich auf die Hofgesellschaft gerichteten literarischen Kritik. Das positive Gegenbild hingegen, das Ideal eines nicht-strategischen, handlungsentlasteten Umgangs, hatte sein Vorbild in der u. a. auf Castiglione zurückgehenden Theorie höfischer Geselligkeit. Verfügte die höfische Gesellschaft jedoch über einen sozialen Rahmen, innerhalb dessen sich der für die Aufrechterhaltung symmetrischer Kommunikation notwendige handlungsentlastete Umgang pflegen ließ, so stieß die Adaptation dieses höfischen Ideals durch eine neue gesellschaftliche Trägergruppe auf die Schwierigkeit, daß sich im Übergang von der feudalen zur funktional differenzierten bürgerlichen Gesellschaft kein sozialer Ort für seine umfassende Realisierung mehr finden ließ." Dieser sozialen Ortlosigkeit< des Ideals ließ sich begegnen, indem seine Formulierung kontrafaktisch in außergesellschaftliche Räume verlegt wurde (die Räume der phylo- wie ontogenetischen Kindheit33) und Versuche zu seiner Verwirklichung sich auf einen kleinen, übersichtlichen und vertrauten Kreis Gleichgesinnter konzentrierten. Handlungs- und Zweckentlastung ließ sich unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen lediglich noch in den risikolosen Strukturen >intimer Interaktion< verwirklichen.34 31
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Georg Stanitzek: Blödigkeit, S. 85f. Zur aufklärerisch-moralischen Kritik kluger Verstellungskunst im 18. Jahrhundert vgl. auch Ursula Gehner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert Tübingen 1992. Insbes. S. 67£f, 149ff. und 169ff. Zwar ließ sich der Stadt-Land-Gegensatz des 17. Jahrhunderts (vgl. Lohmeier: Beatus ille, passim) auch im 18. Jahrhundert fortsetzen (vgl. etwa: Friedrich Sengle: Wunschbild Land Schreckbild Stadt Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur. [1963] In: Europäische Bukolik und Georgik. Hg. von Klaus Garber. Darmstadt 1976 [Wege der Forschung CCCLV). S. 432-460). Die idyllentheoretischen Auffassungen etwa Gottscheds und Geßners (s. u., S. 164) machen jedoch deutlich, daß ein geschärfter Blick auf die soziale Wirklichkeit des zeitgenössischen Landlebens entsprechende Idealisierungen unmöglich machte. Zur Identifikation des ethnographisch aufzusuchenden ursprünglichen Naturzustands, »welchen ein grosser Schriftsteller so beneidungswürdig findet« (gemeint ist natürlich Rousseau), mit dem phylogenetischen Kindheitszustand vgl. etwa Isaak Iselin über die Geschichte der Menschheit Erster Band. Fünfte mit dem Leben des Verfassers vermehrte Auflage. Basel 1786. ND Hildesheim 1976. S. 124. (Der erste Band von Iselins Geschichte der Menschheit erschien in erster Auflage bereits 1764.) Zur Bedeutung der Ethnographie für die Begründung eines menschlichen Naturzustandes in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts vgl. zuletzt Friedrich Vollhardt: Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten. In: Vernünftige Ärzte. Hallesche Mediziner und die Anthropologie der Aufklärung. Hg. von Garsten Zelle. Tübingen 2001 (Hallesche Beitrage zur europäischen Aufklärung 19). (Im Erscheinen.) Vgl. auch Frank Baudach: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur, S. 46ff. Zu den theologiegeschichtlichen Aspekten außerdem bereits Christoph Karl Rüdiger Olearius: Die Umbildung der altprotestantischen Urstandslehre durch die Aufklärungstheologie. Diss. Bochum 1968. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 305ff„ 577. Zur Beschränkung aufklärerischer >Identitätsmoral< auf gesellschaftliche Enklaven von Freundschaft und Familie und den zahlreichen pragmatischen Versuchen, sie im Weltleben mit den Regeln der Klugheitslehren zu ver-
15 Aus diesem Umstand ergeben sich die Formen der Überführung des naturrechtlichen Geselligkeitsgrundsatzes in ein Ideal unmittelbarer Sympathie im Rahmen der Literarisierung von Naturstandsvorstellungen und -Utopien in den verschiedenen Formen der Südsee- und Robinsonaden-, der Idyllen- und Landlebendichtung33 einerseits sowie der Propagierung natürlicher Zusammengehörigkeit auf der Grundlage von Gleichheit im Freundschafts- und Liebesenthusiasmus andererseits.36 Auch in der Salongeselligkeit findet diese Suche nach einer idealen Kommunikationssituation, in der sich von der gesellschaftlichen Differenzierung in einem Raum gemeinschaftlichen, egalitären und zweckentlasteten Umgangs absehen ließ, einen sozialen Ort.37 Für den gesellschaftlichen Rahmen dieser Enklaven >einsamer Geselligkeit setzte sich dagegen, nachdem die Kantische Transzendentalphilosophie die Kluft zwischen Idealität und Realität erneut radikal vor Augen geführt hatte, in der Philosophie der Aufklärung das Modell der >ungeselligen Geselligkeit durch.38
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mitteln, vgl. Georg Stanitzek: Blödigkeit, S. 92-117. Vgl. dz. außerdem Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale, S. 113. Zur Gattungsabgrenzung s. u., S. 18f. Georg Jäger hat darauf hingewiesen, daß es sich bei Freundschaft und Liebe als den Instanzen vertraut-vertraulicher Geselligkeit im 18. Jahrhundert um »hochgradig literarisierte zwischenmenschliche Beziehungstypen« handelte: Freundschaft, Liebe und Literatur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik: Produktion, Kommunikation und Vergesellschaftung von Individualität durch »kommunikative Muster ästhetisch vermittelter Identifikation«. In: SPIEL 9 (1990). S. 69-87, hier S. 75. Daß diese idealisierende Form der Literarisierung naturrechtlichen Denkens im 18. Jahrhundert begleitet wird von weiteren, u. a. auf die Popularisierung naturrechtlicher Grundsätze gerichteten Varianten, die ihren Niederschlag wesentlich im aufklärerischen Staatsroman fanden, arbeitet Sandra Pott ausführlich heraus (vgl. Glückseliges Zeitalter, Ms. S. 204ff, 254ff.). Bereits diese Feststellung bietet Anlaß, Jägers Annahme zu relativieren, »[v]on der Aufklärung bis zur Frühromantik« werde »in sich steigernden und überbietenden Konzepten versucht, die Gesellschaft als Ganze auf (hoch)-inidividualisierte Verkehrsformen zu verpflichten« (S. 76). Neben fraglos vorhandenen derartigen Versuchen und Konzepten werden im folgenden für die Aufklärung insbesondere solche Konzeptionen zur Sprache kommen, denen im Gegenteil eine systematische Unterscheidung zwischen kleinräumiger Intimität und ausgreifender Sozialität zwischenmenschlicher Beziehungen zugrundeliegt Die Orientierung des Kommunikationsideals der Salonkultur an dem überkommenen galanten höfischen Geselligkeitsideal belegt der begriffsgeschichtliche Überblick Peter Seiberts: Der literarische Salon, S. 9-24. Mit ihrer Abgrenzung von den >pragmatischen< Geselligkeitsformen der Sozietäten und Assoziationen (Seibert spricht von einem »entpragmatisierten Raum«, S. 314) steht sich die deutsche Salonkultur des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts in die Tradition der vorrevolutionären französischen Salons. Deren ständeübergreifendes Publikum sowie deren zweckentlastet-ästhetisierte Umgangsformen lassen sie als einen der polarisierenden Differenzierung der Gesellschaft vorausgehenden (und insofern verfrühten) »Entwurf der konkreten harmonischen Gesellschaft« erscheinen (ebd., S. 86). Vgl. dz. auch Oskar Roth: Die Gesellschaft der Honnetes Gens. Zur sozialethischen Grundlegung des /lonndtef^-Ideals bei La Rochefoucauld. Heidelberg 1981 (Studia Romanica 41), der jedoch im Blick auf die französische Moralistik des 17. Jahrhunderts stärker auf das Interesse eines im höfischen Absolutismus funktionslos werdenden Adels an sozialer Distinktion abhebt Der Oberblick Seiberts läßt dagegen die sozialhistorische Rolle der ständeübergreifend strukturierten Salonkultur als Medium der Vermittlung aristokratisch-höfischer Sittlichkeit und Umgangsformen an ein gehobenes Bürgertum deutlich werden. Zur Entwicklung der französischen Salonkultur im 18. Jahrhundert vgl. auch Dena Goodman: The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenment Ithaca and London 1994. S. dz. u., S. 307ff.
16 Dabei handelt es sich um ein nicht auf Ausgleich, sondern im Gegenteil auf die fortschrittsfördemde Ausnutzung des latenten Gegensatzes von geselliger und ungeselliger Neigung des Menschen gerichtetes Konzept. Sein Ziel bestand in einer empirischen Beherrschung dessen, was als widersprüchliche Natur des Menschen nicht auf dem Wege der Idealisierung aus der Welt zu schaffen war. Daß auch diese Konzeption noch offen war für jene Enklaven >geselliger Einsamkeit^ in der sich im vertraut-vertraulichen Umkreis von Familie und Freundschaft einer natürlichen Zusammengehörigkeit versichert werden konnte, zeigen ihre popularphilosophischen Umsetzungen bei Johann Georg Zimmermann, Adolph von Knigge und Christian Garve.39 In diesem Sinne wird im folgenden zu zeigen sein, daß und inwiefern in Teilen der Literatur des 18. Jahrhunderts auch und gerade in ihrem kritischen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und den empirischen Menschen, auf den allein das säkulare wissenschaftliche Naturrecht sich zu beziehen hatte, an dem Grundsatz der Geselligkeit festgehalten, dieser jedoch von einer anthropologischen Prämisse in ein ästhetisch-moralisches Ideal verwandelt wurde. Dieses Ideal wurde zunächst komplementär zum Naturrecht aufrecht erhalten und erst am Ende des Jahrhunderts in den Rang einer Gegenposition zur Klugheit des gesellschaftlichen Handelns erhoben. Den Hintergrund dieser Dichotomisierung bilden diejenigen Positionen des nachkantischen Idealismus, in denen die systematische Trennung zwischen Idealität und Realität, die der Komplementärkonzeption zugrundelag,40 einer ästhetisch profilierten Kritik unterworfen wurde. So wird auch der von Frank Baudach nachgezeichnete Wandel bzw. Differenziemngsprozeß innerhalb der Gattung der literarischen Utopie verständlich. Dieser beruht auf der Unterscheidung zwischen Idealstaatsentwürfen, die entweder auf der verläßlichen moralischen Integrität der Bürger basieren oder der Wirklichkeit des Menschen nach dem Sündenfall (mehr oder weniger41) Rechnung tragen, und wird begrifflich als Differenzierung zwischen status naturalis- und status lega/w-Utopien gefaßt:41 Vor dem Hintergrund des skizzierten übergreifenden Differenzierungsprozesses der Disziplinen sozialen und anthropologischen Denkens vollzieht sich die Gattungsentwicklung in Richtung einer den empirischen Erkenntnissen über den Menschen nach dem Sündenfall Rechnung tragenden bestmöglichen staatlich-gesellschaftlichen Organisation einerseits und der Wei39
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S. dz. u., Kap. 3. Und die im System Kants ihre endgültige Sanktionierung erfahren hatte, das einerseits die bestmögliche Rechtsordnung dadurch gekennzeichnet sah, daß sie auch angesichts eines »Volk[s] von Teufeln« den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten in der Lage ist (Zum ewigen Frieden. In: AA, 1/8, S. 341-386, hier S. 366), andererseits das Ideal des Menschen durch einen apriorischen Rigorismus moralischer Pflichten sicherte, die sich auch dadurch auszeichnen, daß ihnen eine etwaige widersprechende Wirklichkeit menschlichen Handelns aus systematischen Gründen nichts anhaben kann. Vgl. die Rekonstruktion der differenzierenden Gattungsbestimmungen Georg Paschs bei Frank Baudach: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur, S. 129ff. Vgl. ebd., S. 121ff.
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terführung der traditionellen Versuche einer idealen Staatskonstruktion unter idealen anthropologischen Bedingungen andererseits. Aus Sicht der säkularen Naturrechtstheorien sowie der auf erreichbaren gesellschaftlichen Fortschritt gerichteten frühaufklärerischen Sozialphilosophie konnte dabei der Fiktion eines idealisierten status naturalis lediglich moralische, nicht aber rechts- und gesellschaftstheoretische Bedeutung zukommen. Was diese Entwürfe an konkret handlungsbezogener Relevanz verloren, gewannen sie an ästhetischer und moralischer Dignität. Die Integration einer bestimmten Tradition utopischer Fiktion in den Bereich der moralisch-lehrhaften Dichtung43 läßt sich somit als Teil des Differenzierungsprozesses zwischen wissenschaftlichphilosophischer und ästhetisch-literarischer Reflexion auf den Menschen und seine >Sozialnatur< verstehen. Mit der Eingliederung der status naturalis-Utopien in den Bereich der moralisch-lehrhaften Dichtung, die nicht auf konkrete Handlungsanweisungen zur sozialen Wirklichkeitsgestaltung ausgerichtet ist, sondern diesen allenfalls als >regulative Idee< unterlegt werden kann,44 verliert zugleich ein zentrales Utopiemerkmal an Relevanz: ihr pragmatischer Zukunftsbezug. Handelt es sich um die Reflexion auf einen (fiktiven) idealen Urzustand des Menschen, so ist für seine Darstellung entscheidend, daß er in vorzivilisatorischen Zuständen aufzusuchen ist und ein unüberbrückbarer Abstand zwischen dem dargestellten Ideal und der zeitgenössischen gesellschaftlichen Realität den Texten jederzeit inhärent bleibt.43 Insofern dies im folgenden als ein wesentliches Merkmal auch der Wiederaufnahme bukolischer Dichtung im 18. Jahrhundert hervorzuheben sein wird, erscheint es naheliegend, der aufklärerischen Idylle einen ähnlichen gattungssystematischen Ort zuzuweisen wie den von Baudach ausführlich analysierten status na/ura/w-Utopien. Gemeinsam mit Anke-Marie Lohmeiers ausführlicher Arbeit zur Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts44 dienen die Untersuchungen Baudachs damit auch zur gattungssystematischen Abgrenzung des Gegenstandes der folgenden Untersuchung: Beide bestimmen ihr Textkorpus jeweils durch die Absetzung von den bukolischen bzw. idyllischen Gattungen.47 Von diesen Ab43 44
45 46 47
Vgl. ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. zum letzteren Baudachs Interpretation der zweiten Episode aus Knigges Traum des Herrn Brick (in: Geschichte Peter Clausens, 1783-1785): Ebd., S. lOf. Vgl. Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Vgl. Frank Baudach: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur, S. 145; Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille, S. 61 ff. Vgl. auch Dies.: Zur Bestimmung der deutschen Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Schäferdichtung. Referate der fünften Arbeitsgruppe beim zweiten Jahrestreifen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur vom 28. bis 31. August 1976 in Wolfenbüttel. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1977 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 4). S. 123-140. Zur Abgrenzung zwischen Landdichtung und Idylle im 18. Jahrhundert in der Folge des erweiterten Nachahmungsbegrifls Johann Adolf Schlegels (s. dz. u., S. 108, Anm. 27) vgl. auch Klaus Bernhard: Idylle. Theorie, Geschichte, Darstellung in der Malerei, 1750-1850. Zur Anthropologie deutscher Seligkeitsvorstellungen. Köln, Wien 1977 (Dissertationen zur Kunstgeschichte 4). S. 3ff.
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grenzungen ausgehend, findet die Idyllendichtung ihren Platz gewissermaßen in der gattungssystematischen Mitte beider Arbeiten. Mit den von Baudach untersuchten Texten verbindet die Idyllendichtung ihre Bezugnahme auf einen fiktiven möglichen Naturzustand, mit denjenigen Lohmeiers ihre Beschränkung auf einen begrenzten ländlichen Schauplatz. Im Unterschied zu dem Textkorpus Baudachs legt die Idyllendichtung jedoch keine gesellschaftsumfassenden idealen Sozialentwürfe vor. Helmut J. Schneider spricht in diesem Zusammenhang von der »äußere[n] und innere[n], formale[n] und gehaltliche[n] Beschränktheit« der Idylle, die sie als Gattung von »der eigentlichen literarischen Utopie« unterscheide.48 Gleichwohl kann von einem »anti-soziale[n] Charakter«, den Lohmeier als Charakteristikum der von ihr untersuchten Landlebendichtung festhält,49 in bezug auf die in der Idylle des 18. Jahrhunderts formulierten kleingesellschaftlichen Ideale keine Rede sein. Daß es bei dem Versuch, auch das von Baudach und Lohmeier nicht bearbeitete Textkorpus der aufklärerischen Idyllendichtung und -theorie einer entsprechenden Neulektüre zuzuführen, zu Überschneidungen kommen wird, versteht sich angesichts der ebenso motivlichen wie strukturellen Nähe der Gattungen gleichwohl von selbst.50 Diese Nähe ergibt sich nicht zuletzt aus dem ebenso von der Landleben- wie von der Idyllen- und Südseedichtung in Anspruch genommenen Naturbegriff. Dessen Darstellung im 18. Jahrhundert widmete Burghard Dedner bereits in den sechziger Jahren eine umfassende Studie, in der er die Land- und Naturbilder aller drei Gattungen unter dem abstrahierenden Zugriff auf den »Roman des 18. Jahrhunderts« einer einheitlichen Analyse unterzog. Dabei kommt er zu dem Ergebnis einer nicht bloß parallelen, sondern aufeinander aufbauenden Motivik der Gattungen: Als vermittelnde Vorstellungen zwischen den Hirten der Poesie und den Bauern der Realität treten schließlich historische oder exotische Kulturen [...]. Was über sie seh Mitte des
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49 50
Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Mit einer Einfuhrung und Erläuterungen von Helmut J. Schneider. Tübingen 1988 (Deutsche Text Bibliothek 1). S. 8. Vgl. dz. auch bereits Gustav Schneider: Ober das Wesen und den Entwicklungsgang der Idylle. Hamburg 1893 (Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg. Ostern 1893). S. 3; sowie für die barocke Schäferdichtung Gerda Lederer: Studien zur Stoff- und Motivgeschichte der Schäferdichtung des Barockzeitalters. Diss. Wien 1970. S. 605ff. Der von Jens Tismar vorgeschlagene Begriff der »restaurative[n] Utopie« soll auf den »Widerspruch« aufmerksam machen, »daß die Hoffnung, im kleinen Umkreis glücklicher zu werden, als die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse es erlauben, zunächst die Anerkennung dieser Zustände voraussetzt«: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Waiser und Thomas Bernhard, München 1973 (Literatur als Kunst). S. 7f. Dies mag zwar auf einen sozialhistorisch interessanten Umstand verweisen (vgl. dz. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 305), wird jedoch für die vorliegende gattungshistorische Problemstellung nicht relevant Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille, S. 19. Vgl. dz. bereits Hubert Rötteken: Weltflucht und Idylle in Deutschland von 1720 bis zur Insel Felsenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Gefühlslebens. In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 9 (1896). S. 1-32,295-325.
19 18. Jahrhunderts ausgesagt wird, unterscheidet sich oft nur in Nuancen von den Idealvorstellungen, die zuvor an den illusionären Hirten herangetragen wurden.31
Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten eröffnete sich die Möglichkeit, das zu großen Teilen vorbildlich erschlossene historische Quellenmaterial zur gattungsgeschichtlichen Entwicklung idyllischer Dichtung im 18. Jahrhundert einer Neulektüre zu unterziehen. Diese konnte von einer Reihe bereits hinreichend erforschter Aspekte32 entlastet und dadurch auf die Frage nach den Sozialmodellen fokussiert werden, die im Hintergrund der gattungstheoretischen Diskussion jederzeit - wenn auch nicht immer explizit - mitverhandelt werden.
Zum methodischen Vorgehen der Arbeit Voraussetzung für die im folgenden vorzunehmende funktionsgeschichtliche Neuakzentuierung der sozial- und literarhistorischen Prozesse des 18. Jahrhunderts bildet ein Wechsel des theoretischen Standpunktes, von dem aus ihre Rekonstruktion vorgenommen wird: Die in der sozialhistorischen Forschung seit den späten sechziger Jahren dominanten Modelle einer herrschaftssoziologischen Analysepraxis haben das Bewußtsein für die sozialen Voraussetzungen der literarischen Prozesse geschärft, welche die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert begleiteten. Darüber hinaus leisteten sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Ausweitung des im Rahmen literaturwissenschaftlicher Studien zu bearbeitenden Textkorpus. Gleichwohl wurden diese wissenschaftsgeschichtlichen Verdienste erkauft um den Preis einer Beschränkung des sozialhistorischen Blickwinkels. Diese Beschränkung führte in entscheidenden Fragen
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Burghard Dedner: Topos, Ideal und Realitätspostulat. Studien zur Darstellung des Landlebens im Roman des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1969 (Studien zur Deutschen Literatur 16). S. 4f. Vgl. auch Ders.: Wege zum »Realismus« in der aufklärerischen Darstellung des Landlebens. In: WW 18 (1968). S. 303-319; Vom Schäferleben zur Agrarwirtschaft Poesie und Ideologie des »Landlebens« in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 7 (1972). S. 40-83. (Wieder in: Europäische Bukolik und Georgik, S. 347-390.) Für den Befund Dedners spricht auch die Fortsetzung von Gellerts Inkle und Yariko durch Salomon Geßner. Auch Baudach sieht in Adolph von Knigges Geschichte Peter Clausens (1783-85) einen Versuch, »die Gaöungstraditionen der Landlebendichtung, Idylle und Utopie miteinander zu verbinden«: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur, S. 605, Anm. 269. Einen ähnlichen gattungsübergreifenden Zugriff (allerdings ohne Bezug zur Südsee- und Robinsonadendichtung) auf den literarisch artikulierten Stadt-Land-Gegensatz wählt vornehmlich für die englische Literatur Raymond Williams: The Country and the City. London 1973. Zur Pastorale in der englischen Literatur vgl. auch J. E. Congleton: Theories of Pastoral Poetry in England 1684-1798. New York 1968. Zur Verbindung zwischen Idyllen-, Südsee- und Robinsonadendichtung vgl. außerdem bereits Willibald Nagel: Die deutsche Idylle im 18. Jahrhundert Diss. Zürich o. J. [1887]. S. 15ff.
Der Forschungsstand zur idyllischen Gattungsgeschichte wird nach wie vor im wesentlichen von den grundlegenden Arbeiten Helmut J. Schneiders und Renate Böschensteins repräsentiert. S. dz. u., S. lOlf., Anm. 1. Vgl. außerdem York-Gotthart Mix: Idyllik in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: DAJ 15 (1991). S. 62-85.
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zu Aporien der wissenschaftlichen Diskussion, deren Auflösung lediglich von einem neuen theoretischen Standpunkt zu erwarten ist." Zur Begründung dieses Standpunktwechsels seien statt einer methodischen Grundsatzdiskussion lediglich idealtypisch zwei prominente sozialhistorische Verfahren gekennzeichnet, von deren Vorgehensweisen im folgenden ebenso aus methodischen wie auch aus Gründen der inhaltlichen Ausrichtung der Untersuchung abzusehen sein wird.54 Die grundsätzlichen Bemerkungen an dieser Stelle werden im Laufe der Untersuchung durch konkrete Hinweise auf die Grenzen und Aporien der vorgestellten Modelle im Bezug auf Gegenstand und Untersuchungsinteresse der Arbeit zu ergänzen sein. Der >blinde Fleck< eines an Fragen der Herrschaft orientierten historischen Blickwinkels zeigt sich besonders augenfällig an dem zentralen Begriff sozialhistorischer Forschung zum 18. Jahrhundert, an dem Begriff des >BürgersBürger< bzw. >bürgerlich< verbunden sind: Das Wort, Bürger, hat im Deutschen mehr Würde, als das Französische bourgeois [...]. Und zwar deßwegen hat es mehr, weil es bey uns zwey Sachen zugleich bezeichnet, die im Französischen zwey verschiedene Benennungen haben. Es heißt einmahl, ein jedes Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft, - das ist das Französische citoyen; - es bedeutet zum ändern den unadelichen Stadteinwohner, der von einem gewissen Gewerbe lebt, - und das ist bourgeois.36
Die schon zeitgenössisch vermerkte terminologische Unscharfe des Begriffs führte in der sozialhistorischen Forschung zur deutschen Literatur im 18. Jahrhundert zu unterschiedlichen historischen Interpretationsmodellen, die sich jeweils eine der von Garve herausgearbeiteten Bedeutungen zueigen machten. Gemeinsam war diesen Modellen eine dichotomische Anlage, die den Begriff des >Bürgers< als Kennzeichen einer - wie immer näher bestimmten - fortschrittlichem Haltung in Opposition zu überkommenen Modellen sozialer Organisation verstand, die unter dem Etikett des >HöfischenAristokratischenFeudalabsolutistischen
Eigennutz< und >Geselligkeit< zueinander in ein konstruktives Verhältnis gesetzt werden konnten. Zugleich läßt sich mit Simmel jedoch deutlich machen, daß diese Einheit des frühneuzeitlichen Bewußtseins nicht stabil bleiben konnte, denn die Fragmentarisierung der Persönlichkeit in ihren sozialen Beziehungen führte auch zu ihrer >inneren Fragmentarisierungo Bei genauem Hinsehen zeige sich der ganze beschriebene Sondemngsprozess zwischen der Person und der Sache im genauen Sinne doch als eine Differenzierung innerhalb der ersteren: es sind die verschiedenen Interessen und Betätigungssphären der Persönlichkeit, die durch die Geldwirtschaft ihre relative Selbständigkeit erhalten. [...] Dies ist doch aber nur eine in das Individuum hinein fortgesetzte Tendenz der gesamten Gesellschaft: wie das Geld auf die Elemente des Einzelwesens, so wirkt es vor allem auf die Elemente der Gesellschaft, auf die Individuen.96 93
M 93 96
Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Zweite, vermehrte Auflage. Leipzig 1907. S. 312f. Zur Rolle des Geldes für die funktionale Differenzierung des Wirtschaftssystems vgl. auch Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 625f. Georg Simmel: Philosophie des Geldes, S. 314. Ebd., S. 321. Ebd., S. 371.
34 Noch 1981 schlug Wolfram Mauser eine Reformulierung des Melancholieproblems im 18. Jahrhundert auf einer ähnlichen Grundlage vor: Er konstatierte eine zeittypische Spannung zwischen dem Autonomie- und Glücksanspruch des einzelnen und der zu seiner Erfüllung notwendigen Integration in versachlichte Funktionszusammenhänge. Aus dieser Spannung erklären sich für Mauser sowohl die inflationär anmutenden Dokumente melancholischer Weltabkehr in der zweiten Hafte des 18. Jahrhunderts als auch die Uterarische Reklamierung ungebrochener ursprünglich-unmittelbarer sozialer Beziehungen, die er im expliziten Bezug auf die Idyllendichtung Salomon Geßners als Mittel zur Kompensation der grundlegenden Spannung versteht.97 Diese Funktion literarischer Produktion als Surrogat eines gesellschaftlich nicht mehr einzufordernden Glücksanspruchs weist voraus auf die Richtung, aus der sich wenig später eine Opposition zum >mechanistischen< Charakter bürgerlicher Vergesellschaftung artikulieren sollte: Noch bei Simmel ist es das »Kunstwerk«, dessen >organischer< Charakter als Gegenbild gegen die Tendenzen gesellschaftlicher Fragmentarisierung festgehalten98 und dessen Geschlossenheit an anderer Stelle mit der ehemaligen exklusiven und homogenen Geschlossenheit der gesellschaftlichen Gruppe des Adels verglichen wird.99 Die Tatsache, daß Simmel das zum Ende des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund drängende Bewußtsein einer unüberbrückbaren Dichotomic zweier alternativer Geselligkeitsmodelle durch die Übernahme der Entgegensetzung von Organismus und Mechanismus verlängert, verweist jedoch auf ein grundlegendes methodisches Problem: Noch die Wurzeln seiner eigenen Theorie sind in eben diesen Erwägungen zu suchen. Ebenso wie Ferdinand Tönnies' Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft, die auf die gleiche Dichotomic verweisen, ist daher auch der Ansatz Simmels als Ausläufer der Problematisierungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts anzusehen.100 Als solche scheinen sie zwar geeignet zu 97
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99 100
Vgl. Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing Yearbook (1981). S. 253-277; Ders.: Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. In: Melancholie in Literatur und Kunst Beiträge von Udo Benzenhöfer u. a. Hürtgenwald 1990 (Schriften zur Psychopathologie, Kunst und Literatur I). S. 48-88. S. dz. im einzelnen u., S. 138 u. 213f. Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes, S. S12f. Zu Simmels eigenem Ansatz, mit seiner organisch konzipierten Essayistik »dem philosophischen Diskurs< ein[en] genuin literarische^] gleichberechtigt an die Seite« zu stellen, vgl. Matthias Christen: Essayistik und Modernität Literarische Theoriebildung in Georg Simmels Philosophischer Kultur. In: DVS 66 (1992). S. 129-158, Zitat S. 131. Vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig 1908. S. 741ff. Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig 1887; Ders.: Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 7 (1955). S. 463-467. Zu Tönnies' Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft vgl. u. a. Karl Dunkmann: Die Bedeutung der Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft für die Geisteswissenschaften. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 5 (1925). S. 35-50; Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. 2. Auflage. Bonn 1972. [' 1924]; Ders.: Nachwort zu Ferdinand Tönnies. In: Kölner Zeh-
35 sein, die vielfältigen historischen Versuche zu einer dialektischen Aufhebung des Gegensatzes auf den Begriff zu bringen. Zugleich fassen jedoch auch sie die unterschiedlichen Formen von Geselligkeit als Dichotomie und unversöhnliche Alternative und drohen dadurch, solchen Ansätzen das Wort zu reden, die eine Ersetzung der funktionalen Differenzierung durch die feste Einbindung des einzelnen in Wesensgemeinschaften anstreben.101 Drohte bei Luhmann eine Apologie funktionaler Differenzierung, die geeignet war, den Blick auf historische Problematisierungen zu verstellen, so besteht im Rückgang auf Simmel die umgekehrte Gefahr der Propagierung einer bestenfalls nostalgischen Besinnung auf ganzheitlich einbindende Wesensgemeinschaften.
101
schrift f&r Soziologie und Sozialphilosophie 7 (1955). S. 341-347; Ren6 König: Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies. In: Ebd., S. 348-420; Rudolf Heberle: Das Theorem Gemeinschaft und Gesellschaft in der Soziologie der politischen Parteien. In: Ebd., S. 426-442; Gerhard Wurzbacher: Beobachtungen zum Anwendungsbereich der Tönniesschen Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft. In: Ebd., S. 443-462. Eine Vielzahl aktueller Beiträge bieten schließlich: Lars Clausen, Garsten Schlüter (Hg.): Hundert Jahre »Gemeinschaft und Gesellschaft«. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion. Opladen 1991. Vgl. außerdem Emanuel Peter: Geselligkeiten, S. 9ff. Niklas Luhmann macht den »Verlust des Fortschrittsvertrauens in der Manier der frühen Soziologie« für Tönnies' »an Nestwärme und an Ländlichkeit« gemahnenden Begriff der Gemeinschaft verantwortlich: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1068. Manfred Riedel verweist auf eine frühe terminologische Differenzierung, die Johann Gottfried Herder im Bezug auf das Verhältnis zwischen christlicher Religion und staatlicher Organisation vornahm: Vgl. [Art:] Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 821. Gleichwohl sei diese Unterscheidung »nicht Gemeingut geworden« (ebd.). In Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens werde dann »zum ersten Mal terminologisch explizit zwischen >Gesellschaft< und >Gemeinschaft< unterschieden« (ebd., S. 832). Für den »Aufstieg des Wortes >Gemeinschaft< [...] in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts« sowie für den »affirmativen Grundzug seines Gebrauchs, die Besetzung des Wortes mit Gefühlen und Werten prälogischen Ursprungs«, macht Riedel die »zunehmende[/] Rationalisierung aller gesellschaftlichen Lebensverhältnisse einerseits, die Positivierung und Historisierung moralischer, rechtlicher und sozialer Nonnen andererseits« verantwortlich (ebd., S. 853f). Unter diesen Bedingungen sei der Begriff der Gemeinschaft schließlich »zum sozialideologischen Leitbegriff jener national-konservativen und völkischen Bewegung [geworden], die nach dem 1. Weltkrieg Sozialismus, Kapitalismus und Industriealismus zugleich zu >überwinden< trachtete« (ebd., S. 859). Vgl. auch Ders.: [Art] Gemeinschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3. Darmstadt 1974. Sp. 239-243. Diese Tendenz wird auch an Simmels Zugriff auf den Geselligkeitsbegriff deutlich, den er nicht mehr im Sinne des frühneuzeitlichen Naturrechts als anthropologische Prämisse des gesellschaftlichen Zusammenschlusses faßt Statt dessen entsteht Geselligkeit für Simmel erst aus diesem Zusammenschluß selbst als »Spielform«, die durch ihre Selbstzweckhaftigkeit über die materiellen Beweggründe für eine gesellschaftliche Existenz hinausweise und in der im Unterschied zur sozialen Differenzierung »alles auf die Persönlichkeiten gestellt ist«: Grundfragen der Soziologie. (Individuum und Gesellschaft). 4., unveränderte Auflage. Berlin, New York 1984 (Sammlung Göschen 2103). [11917] S. 48-68: Die Geselligkeit. (Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie). Zitate S. 64, 54. Vgl. auch Simmels Vortrag unter dem Titel Soziologie der Geselligkeit auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910, in dem die Analogien zwischen »Spiehrieb[/]«,»Kunsttrieb« und »Geselligkeitstrieb« den historischen Ursprung seiner terminologischen Systematik in Friedrich Schillers Konzeption einer Ästhetischen Erziehung erkennen lassen. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber u. a. und Debatten. Frankfurt/M. 1969 (Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. I. Serie; I. Band). S. 1-16, Zitate S. 2.
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Mit einer Beschränkung auf die Systemtheorie Luhmanns ist indes auch im Bezug auf dieses Problem wenig gewonnen: Abgesehen von dem oben geschilderten Defizit der Systemtheorie zeigt die offensichtliche Nähe Luhmanns zu den Analysen Simmels in bezug auf den Begriff der sozialen Differenzierung, daß auch sein eigener Theorieentwurf sich von den soeben skizzierten Implikationen nicht vollkommen befreit hat. Daß er auf den Subjektbegriff verzichtet, läßt ihn der Gefahr entgehen, daß durch seine Texte ähnlich wie bei Simmel oder Tönnies eine gewisse Sehnsucht nach vormodemen, den einzelnen vollständig einbindenden gemeinschaftlichen Ordnungen klingt. Gleichwohl verlängert sich die Entgegensetzung von Organismus und Mechanismus auch noch in seine Konzeption: Denn Luhmann formuliert seine Thoerie analog zu Erklärungsmustern der Biologie, und zwar analog zu den Versuchen der Biologie, das natürliche Phänomen des Organismus in einem theoretischen Modell abzubilden. Damit verfolgt auch er noch das aus der idealistischen Sozialphilosophie übernommene Projekt, den Bereich des Sozialen nach dem Modell des Organismus zu bearbeiten.11" In dieses Projekt integriert er jedoch den aus der Aufklärung stammenden funktionalistischen Ansatz und erhebt so die soziale Mechanismus-OrganismusDichotomie zu einem (vermeintlich) dialektischen Gegensatz, dessen Synthese seine Superiheorie des Sozialen darstellt. Eine Formulierung aus einem 1996 erschienenen Aufsatz zur Redeskription »romantischer Kunst«, läßt diesen Hintergrund der Theorie sozialer Systeme in der idealistischen Dialektik deutlich werden: Gegen Ende des Aufsatzes geht Luhmann auf die »Frage nach der Funktion kultureller Themen« für die Gesellschaft ein und stellt zunächst fest: »Die Gesellschaft benötigt ein Gedächtnis, das es ihr ermöglicht, die Gegenwart als Resultat der Vergangenheit und als Ausgangspunkt anschließender Operationen zu akzeptieren.«103 Dies ermögliche der Transport kultureller Gehalte im Medium der Kunst. Kunst wird also als kulturelles Subsystem nicht nur unverzichtbar für das gesellschaftliche Gesamtsystem, sondern erhält auch bei Luhmann eine gegenüber den übrigen Subsystemen exponierte Position, indem ihr die Funktion eines gesamtgesellschaftlichen Gedächtnisses zugewiesen wird: Kunst verbürgt den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Sinne eines Kollektivgedächtnisses - ein Satz, der unmittelbar auf ästhetische Theorien des Idealismus zurückweist. Luhmann betont dann die der Romantik »eigentümlichen Präferenzen für Zwischentöne, für Paradoxien, für die narrativ erzeugte Glaubwürdigkeit des Unglaubwürdigen, für das Erkennbarwerdenlassen des Nichtkommunizierbaren« und stellt - offenbar im Blick auf die frühromantische Idee einer unendlichen Perfektibilität progressiver Universalpoesie - fest: »In ihrer Poesie und ihrer kritischen Reflexion werden Ideen evoziert und zugleich als unerreichbar mar-
102 103
Vgl. etwa Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 16f. Niklas Luhmann: Eine Redeskription »romantischer Kunst«. In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996. S. 325-344, hier S. 341. (Hervorhebung im Original.)
37 kiert.«104 Diese charakteristische, gegen ästhetische Ideologiebildung sichernde Offenheit der frühromantischen Ästhetik wird jedoch sogleich wieder zurückgewiesen, denn: Solche gepflegten Unentschiedenheiten in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht kann die Wissenschaft, kann auch die Systemtheorie sich nicht leisten. Sie muß auf ablehnbare Thesen zugespitzt werden.105
Die Auszeichnung der Funktion des Kunstsystems wird also wieder zurückgenommen, und seine Produktionen werden der selbstreflexiven Erfassung sozialer Phänomene im Medium der Wissenschaft untergeordnet. >Der Gedanke hat die Kunst überflügelte, der Inhalt jedoch, der nunmehr wissenschaftlich zu explizieren ist, unterscheidet sich nicht von demjenigen, der vordem in der Ästhetik seine Heimstatt hatte: die Gesellschaft als ein die Individuen übergreifender organischer Gesamtzusammenhang. Mit derartigen Aussagen droht die Theorie sozialer Systeme letztlich doch auf jene »Untiefen« aufzulaufen, die Luhmann durch die Verabschiedung des Subjekts umschiffen zu können meinte. Trotz der unbestreitbaren Defizite und systematischen Fallstricke soll im folgenden dennoch an systemtheoretischen Grundsatzüberlegungen als einem heuristischen Rahmen festgehalten werden. Dies ist im wesentlichen dem Gegenstand geschuldet, denn die Differenzierungen des Geselligkeitsgrundsatzes wurden von Autoren im 18. Jahrhundert in einer Weise reflektiert, die sich mit den aktuellen systemtheoretischen Konzeptualisierungen vergleichen läßt. In seiner Untersuchung der Wirtschaft der Gesellschaft charakterisierte Luhmann selbst seinen Ansatz als einen Versuch zur Reformulierung des Theorems der Arbeitsteilung in der Marktwirtschaftstheorie Adam Smiths unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen soziologischen Theoriebildung, die es ihm nötig erscheinen ließ, »den Faktor Arbeit [... ] durch den Begriff der Codierung von Kommunikation zu ersetzen.«106 Wird in der sozialen Theorie des 18. Jahrhunderts das Phänomen gesellschaftlicher Differenzierung im wesentlichen im Modus der Arbeitsteilung erfaßt,107 so liegt es nahe, die Reformulierung Luhmanns als Hintergrund zu nutzen, vor dem sich die Prozesse sozialer Theoriebildung im 18. Jahrhundert im Zusammenhang rekonstruieren lassen.
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Ebd., S. 342. Ebd.,S.343f. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft Frankfurt/M. 1988. S. 46. Zu Luhmanns Verständnis wissenschaftsgeschichtlicher Kontinuität »am Leitfaden von Problemstellungen, nicht unbedingt von Problemlösungen« vgl. ders.: Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie. In: Emile Durkheim: Über sociale Arbeitsteilung. Studie Ober die Organisation höherer Gesellschaften. Mit einer Einleitung von Niklas Luhmann [...]. Mit einem Nachwort von HansPeter Müller und Michael Schmid. Frankfurt/M. Z1988. S. 19-38, hier S. 21. Die Genese eines »allgemeinen, wertneutralen Begriffes] der Differenzierung« aus der Smithschen Theorie der Arbeitsteilung verfolgt Luhmann anhand des Werkes Emile Durkheims: Ebd., S. 22ff., Zitat S. 24.
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Luhmanns Prinzip der »Co-evolution« von sozialen und psychischen Systemen108 lenkt den Blick zudem auf die vom naturrechtlichen Grundsatz der natürlichen Sozialität des Menschen implizierte Gleichursprünglichkeit und wechselseitige Bedingtheit von sozialem und psychischem System. Weder das >Subjekt< noch die >Gesellschaft< steht am Anfang einer historischen Entwicklung, sondern die Konstitution der beiden systematisch geschlossenen Einheiten setzt die jeweils andere bereits voraus. Auf dieser Grundlage läßt sich gegen dialektische Konzepte mit dem Ziel einer Synthese der gesellschaftlichen Antagonismen, ihrer >Aufhebung< in einer höheren Einheit, deutlich machen, daß dieses Wechselverhältnis, insofern es zu den Konstitutionsbedingungen sowohl des einzelnen wie auch der Gesellschaft gehört, gerade nicht, bzw. nur um den Preis des tautologischen Leerlaufs bloßer Selbstreferenz, aufzuheben und in eine Einheit zu überführen ist. Ebenso wie das soziale System für seine Reproduktion auf die beständige, jeweils neu in die eigenen Selektions- und Ordnungsmuster zu integrierende Komplexität des psychischen angewiesen ist, beruht auch dessen eigene Reproduktion auf der beständigen Rezeption externer Komplexität sozialer Systeme, die immer neu mit den eigenen Orientierungsmustern zu vermitteln sind: Es sind Differenz und Ineinandergreifen von Autopoiesis und Struktur (die eine sich kontinuierlich reproduzierend, die andere sich diskontinuierlich ändernd), die für das Zustandekommen von Interpenetrationsverhähriissen zwischen organisch/psychischen und sozialen Systemen auf beiden Seiten unerläßlich sind. Das Begreifen dieser Sachlage setzt das Zusammenspiel einer Mehrheit von Distinktionen voraus. Läßt man nur eine von ihnen außer Acht, wird man zurückkatapultiert in die alte und ewig unfruchtbare ideologisch besetzte Diskussion Ober das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. [/] Mit diesen Begriffsunterscheidungen sind alle Gemeinschaftsmythologien verabschiedet [...] Wenn Gemeinschaft heißen soll: partielle Verschmelzung personaler und sozialer Systeme, so widerspricht dies dem Begriff der Interpenetration direkt'09
Darüber hinaus erhält Luhmanns systematische Unterscheidung zwischen intimer und sozialer Interpenetration sowie die Feststellung ihrer faktischen Auseinanderentwicklung, die aus dem sozialen Differenzierungsprozeß resultiert,110 Erklärungskraft in bezug auf literarische Phänomene, die sich im 18. Jahrhundert beobachten lassen: Luhmann betont die Gemeinsamkeit und das Zusammenfallen beider Formen von Intersystembeziehungen im >binären Schematismus< der Moral.111 Je weiter die gesellschaftliche Differenzierung voranschreitet, desto problematischer werden jedoch Versuche, an dieser Gemeinsamkeit festzuhalten: Die moralischen Kategorien zeichnen sich gerade dadurch aus, jederzeit den >ganzen Menschen< in den Blick zu nehmen und als Grundlage einer Entscheidung zwischen Achtung und Mißachtung zu nutzen. Die Differenzierung der Gesellschaft in Funktionsbereiche verhindert jedoch eben diese Möglichkeit, ein-
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Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 367. Ebd., S. 298f. (Hervorhebungen im Original.) Vgl. ebd., S. 303ff. Vgl. ebd., S. 317ff.
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zelne, in einem bestimmten funktionalen Zusammenhang stehende Handlungen auf den >ganzen Menschen< zu beziehen.112 Als moralischer Standpunkt findet das Konzept des >ganzen Menschern seinen Ort in der >schönen< Literatur, die dadurch einen Funktionswandel durchläuft und zum Ort der Widerspiegelung einer vergangenen, umfassenden Harmonie der gesellschaftlichen und intimen Verhältnisse unter der >Oberaufsicht< der Moralität wird. Hier ist mithin eine weitere Begründung zu finden für die Ausdifferenzierung eines Sozialsystems Literatur mit einer eigenständigen gesellschaftlichen Funktion: In literarischen Utopien und Bildern archaischer Harmonie ließ sich ein Gegenbild zur aktuell sich vollziehenden Auseinanderentwicklung von Gesellschaft und Moral etablieren, stabilisieren und weiterentwickeln.113 Dabei läßt sich anhand der Gattungsgeschichte der Idylle zeigen, in welcher Weise sich Status und Geltungsanspruch dieser Gegenbilder parallel zu der Wandlung der Funktion der Kunst in der differenzierten Gesellschaft verändern: Erst eine mit dem Anspruch gesellschaftlicher >Versöhnung< auftretende Literatur löst sich von der kontrafaktischen Darstellung schöner Geselligkeit in einer vorgeschichtlichen Zeit und strebt statt dessen nach idyllischer Gegenwart. Anhand der Unterscheidungen Luhmanns zwischen sozialer und intimer Interpenetration einerseits sowie zwischen Gesellschaft und Interaktion andererseits lassen sich somit literarische Artikulationen idealisierter sozialer Beziehungen nach ihrem Verhältnis zum historischen Prozeß sozialer Differenzierung befragen. Insofern soziale Differenzierung den Sonderfall intimer Interpenetration keineswegs ausschließt, läßt sich von der literarischen Betonung harmonischer, kleinräumiger Geselligkeit allein noch nicht auf ein oppositionelles Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit schließen. Erst wenn diese Betonung mit dem Anspruch verbunden wird, »die Perfektionsform sozialer Systeme oder gar die eigentliche >Mitte< der Gesellschaft«114 darzustellen, ist ein solches Oppositionsverhältnis gegeben. Denn Interaktion spielt zwar als »Prozessieren der Kontingenzen [der sozialen Systeme, CB] auf der Basis von Anwesenheit« eine wesentliche Rolle dafür, daß die »hohe Komplexität der Gesellschaft beibehalten werden«"1 kann. Aber »[k]eine Interaktion [...] kann in Anspruch nehmen, repräsentativ zu sein für Gesellschaft«116, und »[d]ie Differenz von Gesellschaft und Interaktion ist mithin Bedingung der Möglichkeit soziokultureller Evolution.«117
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Vgl. ebd., S. 121f; Die Gesellschaft der Gesellschaft, Teilband 2, S. 1043. Vgl. dz. auch Georg Jäger: Freundschaft, Liebe und Literatur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik. Diese Funktion der Literatur durfte sich kaum auf die von Gerhard Plumpe und Niels Werber vorgeschlagene Funktion der »Unterhaltung vor dem Hintergrund der Entstehung von Freizeit als einem gesellschaftlichen Problem ungebundener Zeh« reduzieren lassen: Literatur ist codierbar, S. 33. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 305. Ebd., S. 584. Ebd., S. 585. Ebd., S. 889; vgl. auch Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 812ff.
40 Sozialhistorisch ist die folgende Untersuchung daher in doppelter Hinsicht angelegt, insofern sie die Geschichte einer sozialen Idee (Geselligkeit) im 18. Jahrhundert rekonstruiert und diese mit einer sozialen Funktionsgeschichte der Literatur verbindet, wie sie sich exemplarisch an der Entwicklung einer bestimmten Gattung (Idylle) ablesen läßt. Dabei handelt es sich im oben angegebenen Sinne um eine wechselseitige Beleuchtung von speziellem gattungsgeschichtlichen und allgemeinem sozialgeschichtlichen Prozeß: Soziale Differenzierungen bestimmen, wie zu zeigen sein wird, einen wesentlichen Teil der Gattungsentwicklung idyllischer Dichtung im 18. Jahrhundert. Zugleich ist diese eingebunden in einen historischen Wandel der sozialen Funktion von Kunst und Literatur, der seinerseits auf Status und Geltungsanspruch der im Rahmen idyllischer Dichtung vorgeführten sozialen Konstellationen zurückwirkt. Der neue Geltungsanspruch der Kunst im Rahmen autonomieästhetischer Konzeptionen weist auch der Kleingattung der Idylle einen neuen Status innerhalb des ästhetischen Gattungssystems zu. Dieser ist wesentlich bestimmt von dem spezifischen Charakter der in ihrem Rahmen zu artikulierenden sozialen Formationen. Von diesen aus läßt sich daher auf den umfassenden Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung zurückblicken, um die Frage nach den Konsequenzen der Favorisierung dieses bestimmten Typs geselliger Strukturen für das Verhältnis zum übergreifenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozeß zu stellen.
Skizze des Untersuchungsverlaufs Auf die Folie der systematischen Differenzierungen des Geselligkeitsgrundsatzes ist im folgenden die Geschichte der Idyllentheorie und -dichtung im 18. Jahrhundert aufzutragen. Hierfür sind im ersten Kapitel zunächst die traditionellen Wurzeln der idyllischen Gattung in der Wiederaufnahme klassischer bukolischer Dichtung in der Frühen Neuzeit aufzusuchen. Um die sozialhistorische Verortung dieser Tradition wurde seit den siebziger Jahren eine Auseinandersetzung geführt, um die es in der jüngeren Vergangenheit zwar ruhig geworden sein mag. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Kontroverse einer bestimmten Lösung zugeführt wurde. Vielmehr scheint es sich um eine abgebrochene Forschungsdiskussion zu handeln, in der nach dem Austausch der Argumente ein Konsens gleichwohl nicht zu erreichen war. Die Reklamierung eines spezifisch bürgerlichen Charakters des deutschen Schäferromans, wie sie von Klaus Garber im Anschluß an ältere Forschungspositionen vorgenommen wurde, konnte sich ebensowenig als herrschende Forschungsmeinung etablieren wie deren Zurückweisung. An dieser Stelle hat sich der soeben skizzierte Standpunktwechsel daher ein erstes Mal zu bewähren: Es wird zu zeigen sein, wie die der Kontroverse zugrundeliegende Fragestellung durch eine Neubestimmung des terminologischen Inventars in einer Weise zu
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reformulieren ist, welche die ideengeschichtlichen Kontexte der Diskussionen des Geselligkeitsgrundsatzes im profanen Naturrecht der Frühen Neuzeit zu berücksichtigen vermag. Hierfür läßt sich auf einen Vorschlag Claus Conermanns zurückgreifen, der bereits in den siebziger Jahren unterbreitet wurde, dem bislang jedoch keine nennenswerte Wirkung beschieden war. Mit Conermann lassen sich die von Garber und anderen als Indiz eines entstehenden bürgerlichen Bewußtseins interpretierten Momente der Subjektivierung und Entidealisierung des deutschen Schäferromans als Folge einer allmählichen, von Christian Thomasius schließlich systematisch nachvollzogenen Differenzierung der höfischen Gesellschaftsethik lesen. Diese Differenzierung läßt sich mit einer grundlegenden Unterscheidung Niklas Luhmanns als Folge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses interpretieren, so daß die Frage nach der ständespezifischen Zuordnung der Gattung des deutschen Schäferromans als Frage nach seiner Funktion innerhalb einer sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft reformuliert werden kann. Dadurch wird die Kontinuität der Gattung bis zu ihrer Wiederaufnahme in der idyllischen Dichtung Salomon Geßners in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht länger als diejenige einer ständischen Wert- oder Lebenshaltung innerhalb des absolutistischen Staates, sondern als eine der sozialen Funktion von Literatur innerhalb des gesellschaftlichen Modemisierungsprozesses gefaßt. Dieser Kontinuität wird im zweiten Kapitel weiter nachgegangen, indem die Konzeption der Idyllendichtung Salomon Geßners auf ihre Kompatibilität mit dem für die traditionelle Bukolik aufgestellten Sozialmodell überprüft wird. Hinweise hierfür liefern zeitgenössische Rezeptionszeugnisse, anhand derer sich zeigen läßt, daß und inwiefern die literarischen Produktionen des erfolgreichen Verlegers als Fortfuhrung der traditionellen Gattungskonventionen wahrgenommen wurden. Der in der literarhistorischen Forschung allenthalben konstatierte >Bmch< der gattungstheoretischen Kontinuität, der mit dem empfindsamen Idyllenpersonal des Schweizers vollzogen werde, erweist sich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Wahrnehmung als nachträgliche Zuschreibung einer ihrerseits idyllisierenden Literaturhistoriographie. Deren interpretatorische Voraussetzungen und Konklusionen wurden mit bemerkenswerter Konstanz über die wissenschaftsgeschichtlichen Umorientierungen hinweg fortgeschrieben. Sie sind anhand der idyllischen Texte selbst ebenso wie anhand der bürgerlichen Biographie des Dichters zu überprüfen. Mit Hilfe einer Analogie zur Rezeption der sozialtheoretischen Schriften Adam Smiths und dem daraus hervorgehenden sog. >Adam-Smith-Problem< lassen sich Geltungsanspruch und Status des Idyllischen in Leben und Werk Salomon Geßners neu bestimmen. Dadurch sind zugleich die kritischen Stimmen der zeitgenössischen Geßner-Rezeption und deren Zurückweisung der idealisierenden und lebensfernen Idyllik einem genaueren Verständnis zuzuführen. Die Einordnung Geßners in die traditionelle Bukolik erfolgt dabei allein im Blick auf das hinter seiner idyllischen Dichtung identifizierbare Sozialkonzept und sieht von den Variationen der Tradition, die Geßner gleichwohl vornimmt,
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weitgehend ab. Rechtfertigen läßt sich ein solcher, die Kontinuität der Gattungstradition bis Geßner betonender Gesichtspunkt aus der Möglichkeit einer Neubestimmung des gattungshistorischen >Bruches< im Sinne der zeitgenössischen poetologischen Auseinandersetzungen: Dieser Bruch ist nunmehr erst mit der mitunter recht scharfen - Geßner-Kritik anzusetzen und dadurch in Obereinstimmung mit der zeitgenössischen Wahrnehmung des Gattungsverlaufes zu bringen. Die Neubestimmung des Idyllischen geht dabei einher mit einer Neubestimmung der Funktion von Literatur in denjenigen ästhetischen Entwürfen, die sich ab ca. 1770 verstärkt Gehör verschaffen. Bevor jedoch die Konsequenzen der funktionalen Neuorientierung für die idyllische Gattungstradition einer eingehenden Analyse unterzogen werden, soll zuvor die Verankerung der gattungstheoretischen Diskussionen im Anschluß an die Idyllen Geßners in der zeitgenössischen sozialen Theorie ausführlich belegt werden. Die Verbindung zwischen idyllischer Gattung und theoretischen Fragen der sozialen Organisation nimmt Moses Mendelssohn durch die Einfuhrung des Terminus der >kleinen Gesellschaftern in die poetologische Diskussion vor. Den Begriff entnimmt er dem von ihm unmittelbar zuvor übersetzten sowie ausführlich kommentierten (und kritisierten) Zweiten Diskurs Jean-Jacques Rousseaus und stellt damit die poetologische Fragestellung in den Zusammenhang einer übergreifenden sozialtheoretischen Diskussion. Aus diesem Grund ist der sozialanthropologische Neuansatz Rousseaus zunächst in seinem historischen und systematischen Verhältnis zur naturrechtlichen Tradition des Geselligkeitsbegriffs zu betrachten. Dabei wird - wenn auch nur am Rande - zugleich Rousseaus eigene poetische Umsetzung seines Sozialkonzepts in der Nouvelle Helolse anzusprechen sein. In den Augen Mendelssohns scheitert Rousseau u. a. an der fehlenden systematischen Trennschärfe seiner Konzeption, die zwar zwischen verschiedenen menschheitsgeschichtlichen Stadien unterscheidet, aber nicht bereit ist, die Konsequenzen für die in ihnen jeweils dominierenden geselligen Formationen zu akzeptieren. Entscheidend wird daher die Frage nach dem Status, der den >kleinen Gesellschaftern als einer vordifferenzierten sozialen Entwicklungsstufe eingeräumt wird. Indem er die Darstellung des Lebens in >kleinen Gesellschaften als genuinen Gegenstand der Literatur hervorhob und die möglichen Formen dieser Darstellung zur gattungssystematischen Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Arten der Dichtung nutzte, stellte Mendelssohn zugleich die Kontinuität der idyllischen Gattung sicher. Mit seinem Begriff der >kleinen Gesellschaftern ließen sich auch noch die von dem Geßnerschen Klassizismus der Motive und handelnden Personen Abstand nehmenden idyllischen Dichtungen etwa Maler Müllers, Johann Heinrich Voß' oder Jean Pauls in einer Gattungstradition verorten, die ihre Eigenständigkeit erst in den (unterschiedlichen) ästhetischen Konzeptionen Schillers und Goethes einbüßen sollte. Mit den Versionen idyllischer Theorie und Dichtung bei Jean Paul, Schiller und Goethe liegen schließlich gegen Ende des Jahrhunderts mehrere Entwürfe vor,
43 mit denen der neue Anspruch an die Literatur auch für den Bereich der Idyllendichtung umzusetzen sein sollte. Mit dieser Differenzierung innerhalb der idyllischen Gattungsgeschichte nach dem Ende der aufklärerischen Idyllentradition wird sich das Schlußkapitel beschäftigen. Zuvor sind jedoch die Ausführungen zur aufklärerischen Idyllentheorie zu vertiefen: Nach den systematischen Verknüpfungen zwischen aufklärerischer Idyllenund Sozialtheorie unter dem Begriff der >kleinen Gesellschaftern gilt es, deren zeitgenössische Verbreitung zu überprüfen. Die Untersuchung wird daher in einem weiteren Kapitel auf das Gebiet der aufklärerischen Popularphilosophie ausgedehnt. Mit den Schriften Johann Georg Zimmermanns zur Einsamkeit geschieht dies anhand eines zwar beschränkten Textkorpus, dem jedoch im Kontext der vorliegenden Untersuchung aus mehren Gründen zentrale Bedeutung beizumessen ist: Bei Zimmermann handelt es sich nicht allein um einen Landsmann Geßners. Aus ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft in der Helvetischen Gesellschaft entstand überdies eine langjährige freundschaftliche Verbindung. In seiner Untersuchung Ueber die Einsamkeit von 1784/85, mit der er einen rund dreißigjährigen Bearbeitungsprozeß abschließt, nimmt Zimmermann schließlich auch unmittelbar auf die Idyllendichtung Geßners in einer Weise Bezug, die es nahelegt, das von ihm - ungeachtet des anderslautenden Titels - vorgelegte Geselligkeitskonzept mit demjenigen der aufklärerischen Idyllendichtung ins Verhältnis zu setzen. Ein solcher Versuch ist bereits in früheren Untersuchungen zur Idyllendichtung Geßners unternommen worden. Wie jedoch im zweiten Kapitel bereits nachhaltige Korrekturen an dem Geßnerbild bisheriger Forschung vorzunehmen sein werden, so ist auf dieser Grundlage auch das Verhältnis zu Zimmermann neu zu bestimmen. Zimmermanns Untersuchung Ueber die Einsamkeit fand eine bemerkenswerte Resonanz unter den Zeitgenossen, die sich auch in den rasch erfolgenden Übersetzungen in mehrere europäische Sprachen widerspiegelt. Das vierbändige Werk zählt damit zu den meistgelesenen popularphilosophischen Schriften zur aufklärerischen Sozialtheorie im ausgehenden 18. Jahrhundert. Das in ihnen vertretene Konzept darf insofern als verbindliches Grundmodell der Spätaufklärung angesehen werden, was sich anhand einger Seitenblicke auf zwei weitere wichtige popularphilosophische Texte zu Themen des geselligen Umgangs erhärten läßt: Während sich Adolph von Knigges Ueber den Umgang mit Menschen (1788) einer ähnlichen Beliebtheit erfreute wie das Werk seines späteren Intimfeindes Zimmermann, legte rund zehn Jahre später Christian Garve mit seiner ebenfalls vierbändigen Abhandlung Ueber Gesellschaft und Einsamkeit (1797/ 1800) den Versuch einer systematisierenden Zusammenfassung vor, in die seine genauen Kenntnisse derjenigen sozialen Theorien Eingang fanden, die als Grundlage des spätaufklärerischen Geselligkeitsverständnisses zu gelten haben. Neben der auch aufgrund des Vergleiches mit den Texten Knigges und Garves zu konstatierenden Verbindlichkeit rechtfertigt die Stabilität der von Zimmermann vertretenen Konzeption, die sich trotz einiger Variationen im Detail
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über den gesamten Bearbeitungszeitraum konstant verfolgen läßt, eine Konzentration der Frage nach der Verbreitung des Geselligkeitsmodells der Geßnerschen Idyllendichtung auf seine Einsamkeitsschriften. Diese bieten einen popularphilosophischen Kontext aufklärerischer Sozialtheorie, der sich von der ersten Idyllensammlung Geßners bis an das Ende des 18. Jahrhunderts verfolgen läßt. Schließlich erwuchs Zimmermann in seinerm Schweizer Landsmann Jacob Hermann Obereit ein Gegner, dessen kritische Einwände zu einer ausgiebigen, mit bemerkenswerter Schärfe geführten Auseinandersetzung führten. Die Argumentation Obereits macht dabei deutlich, aus welcher Richtung bereits unter den Zeitgenossen Kritik an der aufklärerischen Theorie der Geselligkeit geübt wurde. In seiner dem aufklärerischen Modell entgegengestellten Konzeption der Einsamkeit der Weltüberwinder verweist er ausdrücklich auf deren ideengeschichtliche Wurzeln in einer mystisch-theosophischen Denktradition. Zugleich lassen sich an ihr jedoch bereits deutliche Züge der später formulierten idealistischen Kritik am aufklärerischen Geselligkeitsgrundsatz erkennen, so daß die Position Obereits zugleich auf die Inhalte und Strukturen möglicher Kritik an diesem Grundsatz verweist wie auf deren traditionellen Ort in theologischen Fragestellungen. Die Verbindung der systematischen Grundlagen seiner Zimmermann-Kritik mit den neuen spekulativen Grundsätzen des nachkantischen Idealismus vollzog Obereit später während eines Aufenthaltes in Jena und der aufmerksamen Teilnahme an der dortigen philosophischen Revolutiom selbst. Daß er seinem spekulativ-theologischen System der >All-Harmonie< in der Folge einen ästhetischen Akzent verlieh, macht deutlich, daß er sich der strukturellen Analogie seiner Position mit der ebenfalls ästhetisch profilierten Kritik aufklärerischer Geselligkeit bewußt war, mit deren Darstellung sich das Schlußkapitel der Untersuchung zu beschäftigen hat. Die poetologische Kritik an der Idyllendichtung Salomon Geßners, wie sie zunächst von Herder und Goethe vertreten und später auch von Friedrich Schiller übernommen wurde, ist geprägt von der Reklamierung eines neuen Anspruchs der Ästhetik. Kritisiert wird genau jener Aspekt, der Geßners Idyllik im Kontext der zeitgenössischen Geselligkeitstheorie als spezifisch aufklärerische Form der Idyllendichtung auswies: der begrenzte Geltungsanspruch idealisierter >kleiner Gesellschaftern. Insbesondere an der systematischen Neubestimmung der Rolle der Kunst für die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Existenz des Menschen in den theoretischen Schriften Schillers läßt sich ablesen, an welcher Stelle diese über den >pragmatischen< Geselligkeitsbegriff der aufklärerischer Sozialtheorie hinausgriffen: Der fortschrittsfördernden Wirkung des von Immanuel Kant hervorgehobenen Prinzips der >ungeselligen Geselligkeit wird nurmehr eine historische Berechtigung zugesprochen. Der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung wird dagegen die eschatologische Perspektive einer schließlich zu erreichenden, letztgültigen >Versöhnung< der entgegenstrebenden Kräfte eröffnet. Eingefordert wird in diesem Zusammenhang daher der bei Geßner bewußt ausgesparte unmittelbare Gegenwarts- und utopische Zukunftsbezug der Idee des >Goldenen Zeitalterselysischen Idylle< in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung und Goethes idyllischem Epos< Hermann und Dorothea deren idyllentheoretische Differenzen herausarbeiten: Gemeinsam ist beiden Ansätzen der Anspruch, den vorgeschichtlichen Ort idyllischer Existenz in den Geschichtsprozeß selbst zu integrieren. Was in der Konzeption Schillers, der eine poetische Realisierung versagt blieb, jedoch den Charakter einer dialektischen Synthese in der Form ästhetischer Versöhnung trägt, erscheint bei Goethe vielmehr als pragmatische Vermittlung idyllischer und epischer Momente. Die Gegenwart des Idyllischen, die Schiller erst von einer Oberwindung der historischen Dynamik und ihrer Grundlagen in den selbstbezüglichen Neigungen des Menschen erwartete, erscheint bei Goethe innerhalb dieser Dynamik selbst. Mehr noch: Den >kleinen Gesellschaftern der Idylle kommt besondere Bedeutung vor dem Hintergrund einer geschichtstheoretischen Neubesinnung zu, die den historischen Fortschrittsprozeß nicht länger von den Ideen und Taten der für die epische Dichtung tauglichen Persönlichkeiten bestimmt sieht, sondern von anonym wirkenden Kräften auf der Grundlage der anthropologischen Konstitution des Menschen. Dorotheas heldenhafter Verlobter scheitert an einer revolutionären Dynamik, in der kein Platz für einen den Lauf der Geschichte selbstmächtig bestimmenden einzelnen bleibt. An seine Stelle tritt mit Hermann nicht etwa eine beschränkte Idyllenfigur, sondern ein Charakter, der die Statik des vertraulichen Umgangs in >kleinen Gesellschaftern neben seiner Integration in die differenzierten Sozialbeziehungen des historischen Fortschrittsprozesses zu erhalten weiß. >Persönlichkeit< ist bei Goethe nicht länger an epische oder idyllische Konstellationen gebunden, sondern besteht in der tätigen, jederzeit neu zu vollziehenden Vermittlung beider. Dies hat Konsequenzen für den Schauplatz der Handlung des idyllischen EposIndividualroman< und die >GesellschaftsschäfereiIdeal des gebildeten Weltmannes< [...] stark interessiert« zeigen. »Doch modifizieren die deutschen Texte erheblich, brechen wesentliche Teile des Konzepts heraus oder beschränken sich auf oberflächliche gesellschaftliche Gewandtheit, so daß von dem genau umrissenen politisch fixierten Ideal eines d'Urfe" oder Sidney wenig übrigbleibt.« (Studien zum deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts. Diss. München 1979. S. 103.) Gleichwohl begegnet Bauer den sozialhistorischen Akzenten der Gattungsgeschichte in der Tradition der Ansätze Meyers und Kirschs aus grundlegenden Erwägungen skeptisch (vgl. S. 54ff., 215ff.). Zur Astroe-Rezepuon in Deutschland vgl. auch ausführlich Renate Jürgensen: Die deutschen Obersetzungen der »Astree« des Honore d'Urfe. Tübingen 1990 (Frühe Neuzeit 2). Herbert Jaumarm: Bürgerlicher Alltag im barocken Schäferroman?, S. 45. (Hervorhebung im Original.) In ähnlicher Weise hatte Gerhart Hoffmeister in anderem Zusammenhang den Petrarkismus als »konventionelles Gesellschaftsspiel« bezeichnet, das auch den »Antipetrarkismus als Variation desselben Bestandes« mit einschloß: Der Antipetrarkismus im deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts, S. 130. Zugleich gab Jaumarm hiermit einen Hinweis auf den sozialhistorischen Ort des am Ende des 18. Jahrhunderts schließlich von Friedrich Schiller in Anspruch genommenen Spieltriebs: Daß im Zuge der >Nobilhierung< des Ästhetischen im Zeichen des Spieltriebs gerade der Idylle zentrale Relevanz zukommen sollte, läßt sich somit nicht allein als gattungssystematische, sondern auch als sozialhistorische Konsequenz des Schillerschen Programms verstehen, das über die Differenzierungen der bürgerlichen Gesellschaft hinweg auf eben jenen Bereich entpragmatisierter Geselligkeit zurückgriff, an dem sich bereits die Bukolik der Frühen Neuzeit orientierte. (Zur Funktion der Idylle in Schillers Ästhetik s. u., Abschnitt 4. l.)
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Grundsätzlicher als Jaumann gab 1980 Dieter Breuer eine verneinende Antwort auf die Frage nach einer »bürgerliche[n] Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts«19. Mit Hilfe eines begriffsgeschichtlichen Ansatzes bemühte er sich darum, die Anwendung des Terminus bürgerliche Literatur< auf literarhistorische Phänomene des 17. Jahrhunderts als methodischen Anachronismus aufzuweisen, insofern dieser »[a]ls kritischer Begriff in der Auseinandersetzung mit einem zu Ewigkeitswerten verabsolutierten Klassenbewußtsein im 19. Jahrhundert entwickelt«10 worden sei. Breuer erwog dagegen die Möglichkeit, die vermeintliche Dichotomic ständisch geprägter kultureller Orientierungen als Differenzierung der Bereiche privaten und öffentlichen Lebens zu reformulieren.11 Ahnlich wie Jaumann betonte er in diesem Zusammenhang jedoch, daß dabei »die beiden Bereiche >privai< und >öffentlich< [...] als komplementäre bewußt gehalten«22 werden und ihre Differenzierung überdies ein ständeübergreifendes Phänomen darstelle.23 hi seiner Replik auf die Grundsatzkritik Breuers fragte Garber ebenso grundsätzlich zurück: Ist es denn wirklich so unstatthaft, das 17. Jahrhundert auch aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts zu sehen? Ist nicht noch die empfindsame Insistenz auf dem Tugend- bzw. Seelenadel gegenüber den Herrschaftsständen des ancien rogime inspiriert von den alten humanistischen Argumentationsfiguren?24
Diese zentrale methodische Frage ist keineswegs pauschal zu verneinen. Allerdings ist bei der Einnahme der von Garber favorisierten Perspektive bewußt zu halten, daß es sich um eine gezielte methodische Einschränkung des Blickwinkels handelt, die sich als experimentelle Reduktion der Komplexität von Kontextbedingungen verstehen läßt. Indem auf diese Weise soziale Konflikte des 17. Jahrhunderts als ständische rekonstruiert werden, ergibt sich eine Pointierung der sozial- und literarhistorischen Prozesse, die geeignet ist, einen bestimmten, in der vorangegangenen Forschung vernachlässigten Aspekt bukolischer Dichtung mit Nachdruck herauszustellen. 19
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Vgl. Dieter Breuer: Gibt es eine bürgerliche Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts? Ober die Grenzen eines sozialgeschichtlichen Interpretationsschemas. In: GRM N. F. 30 (1980). S. 211-226.
Ebd., S. 211. Vgl. ebd., S. 218f. Ebd., S. 219. (Hervorhebungen im Original.) Vgl. ebd., S. 218. Klaus Garber: Gibt es eine bürgerliche Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts?, S. 467. Zuvor hatte Garber die Einwände Breuers zur Konkretisierung seiner eigenen Position genutzt und nunmehr von der »adels- (nicht fursten-!)kritische[n] Komponente der Literatur des 17. Jahrhunderts« (S. 464) gesprochen. Diese sei von einem Gelehrtenstand getragen, der in die Funktionszusammenhänge staatlicher Verwaltung zunehmend integriert wurde, dessen Selbstbewußtsein jedoch ohne die »Erfahrung der Etablierung einer neuen Klasse, die dem Feudaladel ihre Dynamik autzwingt oder ihn ins gesellschaftliche Abseits verweist« (S. 465), nicht denkbar sei. Dieser Umstand verweise auf den »Zusammenhang zwischen dem Autstieg des Handels-, Finanz- und Manufakturbürgertums und der parallel dazu einhergehenden de-veranobilitate-K.onzepüaa« (ebd., Hervorhebung im Original). Eben diesem Zusammenhang sei künftig »gerade in der marxistischen Theorie« (S. 466) weiter nachzugehen.
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Auf diesen Aspekt sind auch die nachfolgenden Arbeiten Garbers zu sozialhistorischen Fragen im Zusammenhang mit der Rezeption bukolischer Tradition im 17. und 18. Jahrhundert konzentriert: So bemühte er sich in dem nur ein Jahr nach seiner Auseinandersetzung mit den Einwänden Breuers erschienenen Beitrag über Arkadien und Gesellschaft, die »europäische Bukolik [...] als genuin utopische Literaturform«23 herauszuarbeiten. Dabei wird die historische Argumentation lediglich in Nuancen variiert, wohingegen der politisch-aktualisierende Anspruch eine grundlegende Neubestimmung erfährt. Diese ist einerseits an dem kurz zuvor von Garber im Sinne einer programmatischen Einleitung seiner Textsammlung wieder abgedruckten Beitrag Ernst Blochs orientiert,2* andererseits bezieht sie die Ökologie als neues zentrales Feld politischer Auseinandersetzung der achtziger Jahre ein: Die klassischen Entwürfe der Sozialutopien sind verfallen. [...] Der Ansatz der totalen Planung des gesellschaftlichen Lebens, das Desinteresse an Spontaneität, Subjektivität, am Nichtnormierten hat sich geschichtlich diskreditiert und die negative Utopie auf den Plan gerufen. [...] Inzwischen ist die Bewahrung der Natur vor naturwüchsigem gesellschaftlichem Zugriff zu einem Gebot menschlichen Überlebens geworden. Davon vermag die kritische Aneignung einer Gattung zu profitieren, deren Glücksversprechen an die Entbindung der Kräfte in der Natur sich heftete, die dem Menschen sich zuneigten.17
Mit Salomon Geßners Idylle Der Wunsch (1756) wird schließlich selbst noch ein Text in dieses Programm einer »kritische[n] Aneignung« bukolischer Dichtung eingegliedert, dessen explizite Schlußwendung den »eitlen Traum« idyllischen Glücks verwirft und statt der Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung ausdrücklich einen moralischen Standpunkt bezieht, der von der Verbindlichkeit des gesellschaftlichen Status Quo geprägt ist.28 An diesem Versuch, »Geßners Wunsch [...] modellhaft als Indikator für das Maß an Entfremdung gegenüber der Gesellschaft des ancien rogime«29 zu lesen, bestätigt sich mithin die einleitend angesprochene Neigung herrschaftssoziologischer Hintergrundannahmen, selbst noch die ausdrückliche Zurückweisung politischer Ansprüche einer politisierenden Interpretation zuzuführen.*0 23
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Klaus Garber: Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Lheraturform Europas. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Band 2. Stuttgart 1982. S. 37-81, hier S. 37. S. o., S. 50. Klaus Garber: Arkadien und Gesellschaft, S. 41. S. dz. ausfuhrlich u., S. 129ff. Klaus Garben Arkadien und Gesellschaft, S. 70. Im Bezug auf Geßners Idyllik geht Garber wenige Jahre später noch einen entscheidenden Schritt weiter: Anhand der einzigen von Geßner verfaßten Schweizer Idylle Das hölzerne Bein (1772) entwickelt er ein Muster, das zeige, »wie die Bilder wunschlosen Glücks, liebender Eintracht, familiärer Sorge gelesen sein wollen: Als Vorgriff auf befriedete Verhältnisse, in denen der Obergriff der Mächtigen nicht mehr zu befürchten ist, mehr noch: in denen Politik ganz in die Hände der freien Menschen übergegangen ist«: Idylle und Revolution, S. 65f. Dieser interpretatorische Befund überrascht angesichts einer Idylle, die um das Motiv eines äußeren Freiheitskrieges, keineswegs um das einer revolutionären Erhebung konzipiert ist, sowie ihres Ausgangs, dessen märchenhaftes privates Glück keinerlei aktuellen Bezug zur politischen Sphäre aufweist Überdies erscheint die Übertragung dieses Befundes auf das Idyllenwerk Geßners
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Für die sozialen Konstellationen des 17. Jahrhunderts sowie die wenigstens für eine bestimmte Gruppe des Bürgertums zu konstatierende Vorbildhaftigkeit höfischer gesellschaftsethischer Normen hatte zuvor auch Garber selbst auf die Gefahr von Überinterpretationen einer vermeintlich bürgerlichen Schäferdichtung hingewiesen: Es sei »gegenwärtig [zu] halten, hier nur die durch den Humanismus präformierten Äußerungen einer exklusiven bürgerlichen Oberschicht zu greifen, die sich entschieden von den übrigen Gruppierungen des Bürgertums absetzt.«31 Diesem Aspekt ist auch Alberto Martino in seinem grundlegenden Beitrag zur »Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz« im 17. und 18. Jahrhundert nachgegangen. Dabei hob er hervor, daß die bürgerlichen Autoren ebenso wie die Leser >schöner< Literatur im 17. Jahrhundert »nicht für eine allgemeine oder den ganzen Stand [...] umfassende Bezeichnung« taugen, sondern sich auf den Teil beschränkten, »welcher [...] von den Beamten der kaiserlichen landesherrlichen oder städtischen Bürokratie gestellt wird«32. Als charakteristische Eigenschaften dieser exklusiven Gruppe bürgerlicher Gelehrter stellte er in diesem Zusammenhang »[i]hre aristokratische Auffassung der Gesellschaft, ihre Ansicht von Bildung als veredelnder >virtusVerbürgerlichung< relativierend - daraufhin, daß der aus dem europäischen Schaferroman in Deutschland hervorgehende »unhöfische[/] Individuairoman [...] seinerseits noch ein vom Landadel getragener Standesroman bleibt« Die spanische Diana in Deutschland, S. 38; vgl. auch ebd., S. 169. Alberto Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz. In: IASL l (1976). S. 107-145, hier S. 124. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. Ebd., S. 131. Für die Analyse dieser unter standischen Kategorien nicht eindeutig zu rubrizierenden Gruppe greift Martino »auf das analytische Instrumentarium zurück, welches die Theorie der Eliten ausgearbeitet hat«, und argumentiert auf dieser Grundlage »gegen die gängigen ideologischen Konstruktionen« (S. 136).
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Modell vereinbaren lassen, in dessen Rahmen der konkrete biographische Hintergrund eines bestimmten, keineswegs repräsentativen Teiles des Bürgertums im 17. Jahrhundert zu einem objektiven Klasseninteresse verallgemeinert und antinomisch von den Interessen einer arrivierten Hofgesellschaft abgesetzt wird. Daß dieses in den Konstellationen des 17. Jahrhunderts seinen Ausgang nehmende sozialhistorische Deutungsmodell der angemessenen Interpretation der idyllischen Dichtung des 18. Jahrhunderts eher abträglich war, soll im folgenden Kapitel anhand der bisherigen Forschungen zu Leben und Werk Salomon Geßners verdeutlicht werden. Doch bereits in bezug auf den sozialen Status und Anspruch frühneuzeitlicher bukolischer Dichtung ergeben sich aufgrund der methodologischen und geschichtstheoretischen Vorentscheidungen Probleme. Garbers eigene Darstellung macht deutlich, daß sich der Gegensatz zwischen den in bukolischen Texten artikulierten Idealen sozialen Umgangs und der zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht auf eine schichtensoziologische Antinomie zurückrechnen läßt, sondern entlang der Differenzierung sozialer Handlungsbereiche verläuft, die ein ständeübergreifendes Phänomen darstellt: Wendet man den Blick auf die konkreten Inhalte der wie auch immer sozial zu verortenden konkurrierenden Normmodelle innerhalb des deutschen Schäferromans, so fällt auf, daß die Welt, der ein schäferliches Dasein entgegengestellt wird, durch einen auf Selbstbezüglichkeit gegründeten strategischen Umgang geprägt ist. Garber faßt die Ausfonnungen selbstbezüglicher Handlungsorientierung zusammen als »Streben nach Macht, Ruhm, Ehre, Glanz, Geld und Wollust«, um schließlich zu resümieren: »Im Lobpreis schäferlichen und ländlichen Daseins setzte man den Anforderungen des Tages, denen man sich nur allzu willig überließ, das Bild eines den Gefährdungen der Zeit enthobenen Daseins entgegen.«36 Daß er im unmittelbaren Anschluß an diese Feststellung einer faktisch komplementären Geltung beider Normbereiche dennoch von der »Utopie des 17. Jahrhunderts« im »Schäfer und Landlebentum«37 spricht, markiert den Punkt, an dem die differenzierten historischen und philologischen Untersuchungen selbst den programmatischen Pointierungen ihrer geschichtsteleologischen Bedeutung widersprechen. Um an ersteren festhalten zu können, erscheint daher eine Revision der methodologischen Vorentscheidungen unumgänglich. Die skizzierte, quer zu möglichen klassenbedingten Auseinandersetzungen stehende Problemlage läßt ein an der Systemtheorie Niklas Luhmanns orientiertes, differenzierungstheoretisches Vorgehen angebracht erscheinen. Die offensichtlich zu thematisierende Unterscheidung zweier Modelle von Geselligkeit erhält in ihrem Rahmen einen syste3
* Klaus Garber: Der Locus Amoenus und der Locus Terribilis, S. 83f. (Hervorhebung CB.) Ebd., S. 84. Auch in dem oben angeführten Forschungsbericht ist zunächst von einer in der Schäfer- und Landlebendichtung zum Ausdruck kommenden »utopischen Lebensform« die Rede, um unmittelbar darauf jedoch die »Vermittlung zwischen den scheinbar unversöhnlichen Extremen« zu konstatieren: Diese sei »darin zu suchen, [...] daß der Preis des schäferlichen und ländlichen Lebens zwar durchweg die Kritik, ja Negation der bestehenden sozialen Wirklichkeit impliziert, sich deren Strukturen jedoch, wenngleich verhüllt, in die scheinbar zeitlose Utopie hinein fortsetzen und deren Historizität begründen.« Klaus Garber: Forschungen zur Schäfer- und Landlebendichtung, S. 238.
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56 matischen Ort, auf dessen Grundlage sich ihre langfristigere Bedeutung innerhalb des gesellschaftlichen Modemisierungsprozesses erfassen läßt. Damit sollte sich dann auch die im folgenden Kapitel herauszuarbeitende, bislang unter der Annahme eines klassenbedingten Bruches gemeinhin unterschätzte Kontinuität der bukolischen Tradition in der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts ernstnehmen und in einen sozialhistorisch akzentuierten Gattungsverlauf integrieren lassen.38 Auch hierfür läßt sich an vorhandene Forschungsansätze anknüpfen: Bereits zu Beginn der achtziger Jahre unterbreitete Klaus Conermann in einem Beitrag zum Stil des Hojmanns einen Vorschlag zur sozialhistorischen Verortung bukolischer Dichtung. Der hierbei verfolgte Ansatz eröffiiet eine Möglichkeit, die methodischen Grenzen der herrschaftssoziologischen Vorgehensweise zu überschreiten und den Blick auf die Binnendifferenzierungen der Prozesse zu richten, die Garber herausgearbeitet hat. Conermann ist darum bemüht, die Abwendung von zentralen Aspekten höfischen Umgangs im Medium der Bukolik ebenso zu berücksichtigen wie die weiterhin verbindliche Geltung von Normen höfischer Geselligkeit. Hierfür macht er zunächst deutlich, daß das Hofmanns-Ideal der Renaissance, wie es prototypisch in Balthasar Castigliones Libro del Cortegiano (1528) vorgeführt wurde, nicht ohne die zentrale Eigenschaft der »Prudenzia« denkbar ist, mit deren Hilfe der Hofmann »durch >dissimulare di bon modo< seinen sittlichen und anderen Vorzügen eine günstige Wirkung bei Hofe«39 verschafft habe. Demgegenüber bleibt der Bereich bukolischer Fiktion im Rahmen »eine[r] gewisse[n] tatsachenmäßige[n] Unerheblichkeit«, die eine »Transformation sozialer (politischer, ökonomi38
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Angesichts der einleitend vorgenommenen Problematisierungen systemtheoretischer Hintergrundannahmen versteht sich von selbst, daß der Status der im folgenden auf ihrer Grundlage zu erarbeitenden Neuinterpretationen und Umakzentuierungen des Gattungsverlaufs idyllischer Dichtung ebenso zu beschränken ist, wie dies soeben im Blick auf die geschichtstheoretischen Vorannahmen Garbers gefordert wurde: Wie die Grundsätze des Historischen Materialismus bewirken auch diejenigen einer systemtheoretischen Rekonstruktion des gesellschaftlichen Modemisierungsprozesses eine ergebnisorientierte Reduktion von Kontextbedingungen. Zu rechtfertigen hat sich ein solches Vorgehen daher einerseits über die Begründung seiner Vorannahmen, andererseits über seine Ergebnisse, die in der Lage sein müssen, bislang unterbelichtete Aspekte des untersuchten Phänomens herauszuarbeiten sowie bisherige Unklarheiten und Probleme der Forschungsdiskussion einer möglichen Lösung zuzuführen. Aus diesem Grund ist im folgenden von der Ergebnissen der systemtheoretisch akzentuierten Analyse jeweils in der gebotenen Kürze zurückzublicken auf die Forschungslage, um die vorgenommenen Neubestimmungen kontrastierend herauszustellen. Dabei gilt es jederzeit im Blick zu benähen, daß auch diese Neubestimmungen lediglich unter der Voraussetzung von Prämissen Gehung beanspruchen können, die im heuristischen Interesse der Komplexitätsreduktion angenommen wurden, so daß die Möglichkeit von Allaussagen über das Ganze des historisch-sozialen Phänomenbereichs von vornherein systematisch ausgeschlossen ist Klaus Conermann: Der Stil des Hofmanns. Zur Genese sprachlicher und literarischer Formen aus der höfisch-politischen Verhaltenskunst In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert Vorträge und Referate gehalten anläßlich des Kongresses des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockliteratur in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Hg. von August Bück u. a. Band I: Vorträge. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 8). S. 45-56, hier S. 46.
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scher) Verhältnisse in ethische oder auch künstlerische Werte« ermöglichte.40 Dadurch wurde ein Raum höfischen Umgangs eröflhet, in dem von den Regeln politischer Klugheit abgesehen und in idealisierter Form denjenigen einer nichtprudentistischen Gesellschaftsethik gefolgt werden konnte. Dieser bislang kaum rezipierte Vorschlag erscheint geeignet, die anhand von schichtensoziologischen Kategorien nur unvollständig zu rekonstruierenden sozialhistorischen Kontexte bukolischer Dichtung mit Hilfe eines differenzierungstheoretischen Ansatzes neu auszuleuchten. Vor dem Hintergrund eines ähnlichen Systematisierungsansatzes hatte wenige Jahre zuvor bereits Conrad Wiedemann davor gewarnt, »den schäferlichen Rollenentwurf allzusehr als einen Gegenentwurf zum höfisch-heroischen zu begreifen, ja gar als eine Widerstands- oder Rückzugshaltung.«41 Wiedemann wendet sich damit ausdrücklich sowohl gegen den Ansatz Garbers als auch gegen die zugrundeliegende These Arnold Hirschs, die ihm trotz allgemeiner Akzeptanz »durchaus noch einmal überprüfenswert«4i erscheint. Gegen diese Ansätze betont er, daß »schäferliche und heroische Sphäre [...] nicht antagonistisch, sondern auf eine komplizierte Weise komplementär«43 zu verstehen seien als Folge und Ausdruck von Differenzierungsprozessen im Zusammenhang mit der Stabilisierung absolutistischer Herrschaft: Koireliert [...] der heroische Rollenentwurf mit der >Öffentlichkeit< der hohen, ferngerückten Staatssphäre als dem Handlungsraum der Geschichte, so der schäferliche mit dem privaten, geschichtsenthobenen Präsentationsraum der Standeswelt. Er wäre [...] das ästhetische Äquivalent für jenen politisch entmachteten innerstaatlichen Gesellschaftsbereich, in dem das Disziplinierungsgebot des absolutistischen Gesellschaftskonzepts bewußt akzeptiert und geübt wird [.-l·44 40 41 41 43
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Ebd., S. 50,49. Conrad Wiedermann: Heorisch - Schäferlich - Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammenhang barocker Rollenhaltung. In: Schäferdichtung, S. 96-122, hier S. 106. Ebd., S. 110. Ebd., S. 107. Ebd. Für die Annahme Wiedemanns spricht zudem der Umstand, daß sich das schäferliche Maskenspiel nicht auf den Bereich literarischer Fiktion beschränkte, sondern auch auf die gesellige Kultur des Hofes ebenso wie der neuhumanistischen Gelehrtenzirkel übergriff: Vgl. dz. etwa Johann Jakob Bodmers Bericht Von den Verfassungen der römischen Arcadia. In: Neue Critische Briefe Ober gantz verschiedene Sachen, von verschiedenen Verfassern. Zürich 1749. S. 99-1 IS; sowie Richard Alewyn, Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der hofischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959 (rowohfts deutsche enzyklopädie 92). S. 15; Jane O. Newman: Pastoral Conventions. Poetry, Language, and Thought in SeventeenthCentury-Nuremberg. Baltimore, London 1990. Klaus Garber sieht den Zusammenhang zwischen den »bürgerlich-gelehrten Sozietaten des 17. Jahrhunderts und der ihr zugeordneten Hirtendichtung« darin, daß »[i]n beiden [...] institutionell und fiktional die bestehende Gesellschaft zurückgenommen und symbolisch durch ein Gegenbild ersetzt« werde: Arkadien und Gesellschaft, S. 62. Zur gelehrten Hofkritik in der Renaissance-Bukolik vgl. auch Herman Meyer Der eitle Hof aus bukolischer Sicht In: Comparative Poetics. In honour of Jan Kamerbeek Jr. Ed. by D. W. Fokkema u. a. Amsterdam 1976. S. 257-269. Die These Garbers erscheint jedoch angesichts einer schäferlichen Mustern entsprechenden höfischen Geselligkeitskultur ergänzungsbedürftig: So fand Hans-Joachim Mahl den »repräsentative[n] Charakter« in der »gesellschaftliche[n] Funktion der Schäferdichtung« bestätigt, wie sie in dem »im Freien aufgefuhrte[n] Schäferspiel aus Anlaß einer Fürstenhochzeit« oder auch in dem »geselligen Unterhaltungsspiel« des Pegnesischen Hirten- und Blumenordens zum Ausdruck komme und »eine festliche Erhöhung des eigenen Daseins [...] unter Wahrung des gesellschaftlichen Stand-
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Dieser Ansatz macht ebenso wie derjenige Conermanns deutlich, daß eine differenzierungstheoretische Reformulierung des gattungsgeschichtlichen Prozesses gute Aussichten hat, die Aporien vorgängiger sozialhistorischer Modelle zu umgehen.43 Daß sich auf diese Weise dem Forschungsgegenstand eher gerecht werden laßt, zeigt sich auch an den Quellen selbst: Noch um die Mitte des 18. Jahrhundert weist der Rechtsgelehrte Christian Friedrich Zernitz im klassizistischen Geist Winckelmanns der bukolischen Dichtung eine entsprechende soziale Funktion in der Repräsentation eines isolierten und idealisierten Teils höfischer Umgangsund Verhaltenskunst zu. In seinen kurz vor der Wiederaufnahme der bukolischen Tradition durch Salomon Geßner posthum veröffentlichten verifizierten Vernünftigen Gedenken von der Natur und Kunst, in Schäfergedichten hält Zernitz 1748 fest: Der Dichter sieht dies46 ein. Von allem abgewandt Erdenkt er ein System vom holden Schaferstand. Wo nicht gemindert Glück bey größter Muh verschwindet, Und wo er vorteilhaft Natur und Kunst verbindet. [...] Der Schäfer ist demnach ein Werk der Bildungskraft Nach kluger Möglichkeit begabt mit Eigenschaft. Sein Leben ist allein Vergnügen, Ruh und Liebe, Viel Unschuld, wenig Witz, Verstand und sanfte Triebe. Und dem gemäß wird er zufällig ausgeziert, Daß edle Schönheit uns in edler Einfalt rührt47
Zernitz macht einerseits deutlich, daß die poetische Gestaltung eines unbeschwerten Umgangs in der Schäferdichtung darauf beruhte, daß ein Teilaspekt der höfischen Geselligkeit isoliert wurde. Dabei handelte es sich um den Bereich zweckentlastet-spielerischer Geselligkeit, der auch in der Nachfolge des Cortegiano idealisierend gegen die Wirklichkeit des kalkulierend-strategischen Umgangs gestellt wurde. Daß es in der Hirtendichtung keineswegs darum gehe,
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ortes« darstelle: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 139. Zur sozialen Bedeutung höfischer Festkultur vgl. zuletzt in Absetzung vom Reprasentationsbegriff Jürgen Habermas' Axel Schmht: Inszenierte Geselligkeit Methodologische Überlegungen zum Verhältnis von >öffentlichkeit< und Kommunikationsstrukturen im höfischen Fest der Frühen Neuzeit In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil II, S. 713-734. Daß ein solcher Zugang überdies mit funktionsgeschichtlichen Erwägungen zur Literatur des 17. Jahrhunderts in Einklang zu bringen ist, zeigt die Untersuchung Werner Helmichs, der auf die zur Durchsetzung gesellschaftlicher Normen wichtige »kanontransportierende Vermittlungsinstanz« der Literatur verweist: Höfische und antihöfische Affektmodellierung im niederen französischen Roman des 17. Jahrhunderts. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil , S. 606-620, hier S. 608. Gemeint ist der Wunsch nach »Der Höfe Lustbarkeit, Spiel, Tanz, und helle [r] Pracht« ohne die Beschwernisse des Hoflebens. Christian Friedrich Zernitz: Vernünftige Gedanken von der Natur und Kunst, in Schäfergedichten. In: Ders.: Versuch in Moralischen und Schäfer=Gedichten, Nebst dessen Gedanken von der Natur und Kunst in dieser Art der Poesie. Hamburg und Leipzig 1748. S. 1-17, hier S. 9f. Zur Biographie des Verfassers vgl. den Vorbericht des posthumen Herausgebers, ebd., Bl. 2r-6v.
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wirkliche Schäfer zu schildern - seien diese nun als historische oder als zeitgenössische Vertreter ihres Standes konzipiert -, unterliegt für Zernitz keinem Zweifel. Statt dessen lebe die Gattung vom konstruktiven Zugriff des Dichters auf seinen natürlichen Gegenstand: Als aus dem Himmel einst Apollo ward verbannt, Fand er, wie Telemach ein ungesittet Land. Die Schäfer waren dort roh, störrisch und verwildert; So wird der rohe Mensch der Schäfer nicht geschildert. Das wilde Wesen trennt der Dichter von ihm ab, Er gibt ihm etwas mehr, als die Natur ihm gab. Zwar läßt er niemals sich von ihrer Einfalt leiten, Doch muß ihn auch die Kunst mit ihrem Witz begleiten.48
Zugleich verweist Zemitz auf die von dem Darstellungsziel erforderten Darstellungsmittel, in denen Natur und Kunst vermittels der »Bildungskraft« des Dichters nach »kluger Möglichkeit« zu verbinden sind - ebenso wie das Ideal der schönen Geselligkeit höfischen Umgangs in den Verhaltenslehren als Ergebnis einer sich als Natürlichkeit ausgebenden UmgangsAw«*/ gefaßt wurde.49 Dabei versteht sich diese Kunst keineswegs als Gegensatz, sondern als tätige Vervollkommnung natürlicher Anlagen: Derjenige, der uns von Schäfern will erzählen, Muß Reizungen für uns zu seinem Zweck erwählen, Und die erweckt er auch bey holder Musen Gunst Er bilde die Natur und schmücke sie durch Kunst [...] Wir werden überhaupt von der Natur ergötzet, Weil sie den Regeln folgt, die sich selber setzet Und weil an sie gewohnt, und weislich eingeschränkt, Der menschliche Verstand nicht beßre Regeln denkt. Nicht minder reizet uns die Kunst in ihren Werken, Natur sucht Rath bey ihr, sich ihren Schmuck zu stärken. Sie, die kein Werkzeug hat, das Menschen Witz erfand, Bedient sich der Kunst zum Werkzeug und zur Hand, Und lies sie sich etwan zu roh und nackend sehen, So muß ihr äussrer Putz blos von der Kunst geschehen: Ermüdete Natur entwirft oft ihren Sinn, Wie vielmals Meister thun nur schlecht und oben hin. Ein scharfes Äug entdeckt mit innigem Vergnügen, Das vorgehabte Bild in angefangnen Zügen. [...] Und soll ein Werk der Kunst ein gründlich Äug erfreun, So muß bloß die Natur in ihm die Seele seyn. Natürlich muß die Kunst ihm Reiz und Stellung geben. Die Kunst gibt ihm die Zucht, Natur muß es beleben.30 44
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Ebd., S. 12. Vgl. Richard L. Regosin: The name of the game/the game of the name: sign and self in Castiglione's Book of the Courtier. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 18 (1988). S. 21-47, Wer S. 37. Christian Friedrich Zernitz: Vernünftige Gedanken von der Natur und Kunst, in Schäfergedichten, S. 3ff.
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Zernitz bemühte sich also noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts um die gesellschaftsethische Integration bukolischer Dichtung. Dies zeigt zum einen, daß der soeben im Anschluß an Wiedemann und Conermann skizzierte differenzierungstheoretische Ansatz zeitgenössischen Bestimmungen der Funktion bukolischer Fiktion gerecht zu werden vermag. Der juristische Bildungshintergrund des Verfassers verweist zugleich auf die theoretischen Grundlagen der für diese gesellschaftsethische Funktionsbestimmung entscheidenden anthropologischen Differenzierungen in der frühneuzeitlichen Naturrechtstheorie: Die Gesellschaftsethik, aus der heraus Zernitz seine Begründung der Normen bukolischer Dichtung entwickelt, stellte einen dem juristischen Studium noch integrierten Gegenstandsbereich dar, innerhalb dessen die abstrakten naturrechtlichen Reflexionen auf die natürliche Sozialitat des Menschen mit der zeitgenössischen Wirklichkeit geselligen Umgangs zu vermitteln waren. Damit stand sie für einen Bereich sozialer Regulierung, der auch in literarhistorischer Perpektive zunehmend an Bedeutung gewann: hi der Literatur ließ sich dem anthropologischen Ideal natürlicher zwischenmenschlicher Sympathie Geltung verschaffen, dem in der Theorie eines säkularen Naturrechts lediglich noch untergeordnete Bedeutung zukam.51 Durch Integration dieser literarischen Fiktion in den übergreifenden Rahmen der Gesellschaftsethik ließ sich von illusionären unmittelbaren Überführungen eines anthropologischen Ideals in gesellschaftliche Wirklichkeit absehen, da gesellschaftsethische Reflexionen immer auch mit einem nicht-idealen Handeln der sozialen Umgebung zu rechnen hatten. Die Literarisierung des anthropologischen Ideals verschaffte somit die Möglichkeit, an seiner Behauptung auch angesichts einer entgegenstehenden sozialen Wirklichkeit festzuhalten und ihm den zum Scheitern verurteilten Test auf seine soziale Tragfähigkeit zu ersparen. In diesem Sinne betonte Zernitz den fiktiven Charakter des idyllischen Hirtenlebens: O sanfte Möglichkeit den Sinnen angenehm, O göttlich Bild allein, zur Tugendlehr bequem O Leben voller Glück, o Wollust ohne Reuen, Könnt auch der Dichter dir die Wirklichkeit verleihen.32
Der von dem bukolischen Dichter geschilderte Zustand unmittelbarer Sittlichkeit ist allenfalls »zur Tugendlehr« zu gebrauchen. Dagegen hat der Natuirechtstheo31
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Dies war gleichwohl keineswegs die einzig mögliche Funktion der Literatur vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Verhaltenslehren: Eine weitere Möglichkeit verfolgt Andreas Solbach im Blick auf die Einbeziehung gesellschaftsethischer Grundsätze in die Romantheorie des 17. Jahrhunderts: Vgl. Gesellschaftsethik und Romantheorie. Studien zu Grimmeishausen, Weise und Beer. Frankfurt/M. u. a. 1994 (Renaissance and Baroque Studies and Texts 8). Vgl. dz. außerdem Joachim Leeker: Ein europäisches Gesellschaftsideal im Wandel: Das Bild des Höflings bei Castiglione, seine Vorläufer und seine Rezeption in Novellen der Renaissance. In: Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 17 (1993). S. 51-75, insbes. S. 59ff.; Ulrich SchulzBuschhaus: Moralistik und Poetik. Hamburg 1997 (Ars Rhetorica 8). Christian Friedrich Zernitz: Vernünftige Gedanken von der Natur und Kunst, in Schäfergedichten, S. 1.
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retiker in Rechnung zu stellen, daß die »Rechte der Natur [...] [von] Thorheit überschwemmt« werden, und kommt nicht umhin, »Zwang zum Grund der Freyheit [zu] legen«.53 Zur Verdeutlichung des anhand der Gattungsbestimmung von Zernitz skizzierten Systematisierungsansatzes sowie zur Plausibilisierung der von Wiedemann und Conermann vorgeschlagenen sozialhistorischen Verortung bukolischer Dichtung innerhalb des angedeuteten funktionsgeschichtlichen Rahmens ist die Entwicklung der frühneuzeitlichen Sozialtheorie im folgenden in einigen Grundzügen zu umreißen. Im wesentlichen handelt es sich dabei um die Darstellung des angedeuteten Differenzierungsprozesses in seinen Konsequenzen sowohl für die allgemeine, im säkularen Naturrecht neu konzipierte Theorie der Gesellschaft als auch für die eher praxisbezogenen Regulierungsmodelle geselligen Verhaltens im Rahmen gesellschaftsethischer Umgangslehren.
1.2 Form und Funktion der Geselligkeit im säkularen Naturrecht des 17. Jahrhunderts Unbeschadet vielfältiger Variationen ihrer anthropologischen Begründung bildet die Frage nach der menschlichen Geselligkeit ein gemeinsames Fundament der frühneuzeitlichen Naturrechtssysteme. Hugo Grotius' De jure belli ac pacis (1625) sah diese noch in der natur- bzw. gottgegebenen sympathetischen Verwiesenheit der Menschen aufeinander, in dem »geselligefn] Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit seinesgleichen«54, begründet und entwickelte auf dieser Grundlage die fundamentalen Gemeinschaftspflichten und -rechte des einzelnen." Dagegen kam es zu konkurrierenden Modellen im Blick auf die mit Grotius' anthropologischen Grundannahmen schwerlich zu vereinbarende Realität menschlichen Handelns unter den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen des 17. Jahrhunderts: Der Mensch, wie immer er einstmals in die Schöpfungsordnung integriert gewesen sein mag, offenbarte im alltäglichen Handeln weniger seine natürliche Verbundenheit mit den christlichen Pflichten der Nächstenliebe als vielmehr eine durchgängige strategische Orientierung am eigenen Nutzen sowie am Wohl seines engsten natürlichen Umkreises. Seine affektgestützte Zuneigung zu anderen Menschen blieb auf diesen kleinen Kreis natürlicher Zusammengehörigkeit beschränkt. Diese Einsicht mußte Konsequenzen haben für normative Konzeptionen, die sich nicht an den idealen Menschen der christlichen Überliefe53 54
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Ebd,S.7. Hugo Grotius: De Jure Belli ac Pacis. Libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Paris 1625 nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707. Neuer Text und Einleitung von Dr. Walter Schätzel. Tübingen 1950 (Die Klassiker des Völkerrechts in modernen deutschen Übersetzungen 1). S. 32. Vgl. dz. u. a. Paul Ottenwälder: Die Naturrechtslehre des Hugo Grotius. Tübingen 1950. S. l Iff.
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rung richteten, sondern mit dem Anspruch aufzutreten hatten, Grundlagen eines geregelten und am gesellschaftlichen Frieden orientierten menschlichen Miteinanders unter solchen anthropologischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Wirklichkeit zu legen, die mit der idealen Ordnung ursprünglich-harmonischer zwischenmenschlicher Gemeinschaft nurmehr wenig gemein hatten. Eine mögliche Konsequenz aus dieser Situation zog Thomas Hobbes mit seiner Konzeption des Leviathan (1651), die er auf der exakt entgegengesetzten anthropologischen Grundannahme errichtete: Weit entfernt von den christlichen Normen des Zusammenlebens, ist das Handeln der einzelnen für Hobbes geprägt von einem natürlichen Egoismus und dem ständigen Versuch, das eigene Wohl auf Kosten der Mitbürger zu mehren. Gemeinsam mit der angenommenen relativen Gleichheit der natürlichen Anlagen des Menschen führt diese anthropologische Prämisse zu jenem berüchtigten permanenten Kriegszustand, dem nur durch die allseitige Unterwerfung unter einen befriedenden Gesellschaftsvertrag sowie eine absolute Autorität zu entgehen ist, die diesem zur Durchsetzung verhilft. Hobbes' Rechts- und Staatskonstruktion hatte seinem negativen Menschenbild Rechnung zu tragen und die Aufgabe der gesellschaftlichen Befriedung vor diesem Hintergrund zu erfüllen. Eine solche Aufgabe kann letztlich lediglich von einem starken und wehrhaften Staat erfüllt werden, einem Souverän, der die Durchsetzung eines Rechts verbürgt, das seine Geltung aus der gesellschaftsvertraglich kodifizierten Einsicht des einzelnen in den persönlichen Vorteil bezieht, den ihm eine sichere Rechtsordnung für die Verfolgung der eigenen Interessen bietet. Da diese Verfolgung der eigenen Interessen ungeachtet des grundsätzlichen Vorteils einer allgemeinen, vertraglich fixierten Rechtsordnung im je konkreten Einzelfall ihren Vorteil gerade aus der Übertretung dieser Rechtsordnung beziehen kann,36 ist in dem Modell Hobbes' auf eine starke Exekutive in Person eines unabhängigen und außerhalb der Verpflichtungen des Gesellschaftsvertrages handelnden Souveräns nicht zu verzichten."
36
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Gerade wenn der einzelne sicher davon ausgehen kann, daß sich alle anderen an den geschlossenen Vertrag halten, kann es von strategischem Vorteil sein, sich über ihn hinwegzusetzen, Vgi. zu dieser Argumentation Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau. Würzburg 1991 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie LXXXII). S. 28. Samuel Pufendorfs Konsequenz aus diesem Problem sei die Formulierung einer Pflicht zur Geselligkeit gewesen, die er in den göttlichen Geboten der natürlichen Religion abgesichert habe. (S. dz. u., Anm. 67) Noch Jean-Jacques Rousseau wandte sich mit einem entsprechenden Argument gegen eine auf Eigennutz gegründete Gesellschaftsordnung (s. dz. u., S. 171). Während Hobbes zur Sicherung des Gesellschaftsvertrages auf einen von diesem rechtlich nicht gebundenen Souverän und damit auf eine rechtsunabhängige Herrschaftsinstanz zurückgreifen muß, erscheint sowohl bei Grotius als auch bei Pufendorf die grundlegende, als Bedingung der Möglichkeit des Gesellschaftsvertrages anzusehende Regel des pacta sunt servanda bereits als unhintergehbare vorstaatliche Rechtsnorm; vgl. dz. Wolfgang Rod: Geometrischer Geist und Naturrecht Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert München 1970 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Abhandlungen N. F. 70). S. 75,92.
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Samuel Pufendorfs Naturrechtssytem schlägt gewissermaßen einen Mittelweg zwischen den Konzeptionen Grotius' und Hobbes' ein: Sein in den Hauptschriften De jure naturae et gentium (1672)38 und De officio hominis et civis (1673)S9 niedergelegtes Naturrechtssystem unterscheidet konzeptionell zwischen mehreren anthropologischen Grundannahmen. Eine erste historische Grenzlinie bildet dabei der Sündenfall: Der durchaus - im Unterschied zu Hobbes - mit altruistischen, sympathetischen Grundanlagen ausgestattete Mensch des ursprünglichen status integritatis erweist sich seit dem Sündenfall der erwachten >Selbstreferenz< als »verderbt«. Eine Rechtsordnung, die - mit Ausnahme des Verbots der (Selbst-)Erkenntnis - im paradiesischen Urzustand noch überflüssig gewesen sein mag, hat nun in Rechnung zu stellen, daß die naturgegebenen Gemeinschaftstugenden sich als zu schwach erweisen gegenüber den dominanten Trieben der Selbsterhaltung und -durchsetzung. Letztere bedürfen daher der rechtlich normierten Disziplinierung.60 Hinzu kommt außerdem, daß die Annahme eines theologisch begründeten Unschuldszustandes aufgrund ihrer konfessionell beschränkten Geltung keine geeignete Grundlage für die angestrebte säkulare Rechtsordnung darstellen konnte: So ist nunmehro aus angefuehrten femer auch leichte abzunehmen/ wie nothwendig es sey/ daß der Mensch in dieser unserer Disciplin der natuerlichen Rechte nicht nach dem laengst verschwundenen/ und blos uns Christen bekannten Stande der Unschuld/ sondern seinen hzigen Zustande/ und der verderbten Natur nach/ betrachtet werden muesse/ nemlich so fern/ als er von boesen Begierden eingenommen/ und gleichsam angefiiellet ist [...] Weil man denn nun in der Disciplin der natuerlichen Rechte nicht weiter gehen soll/ als unsere Vernunft von sich selbst kommen kan/ so ist leicht zu ermessen/ daß man auch den Stand der Unschuld zu dercselben Erklaerung nicht mit zuziehen dürfle [...]."
Mag es sich bei Pufendorfs Eingehen auf den natürlich-sündenfreien status integritatis nun um eine bloße »Konzession an den Zeitgeist« und ein »Relikt [...] der klassisch-christlichen Naturrechtstradition« handeln62 oder um eine im Bewußtsein des Autors dem status naturalis gleichrangige Reflexion auf einen »Stand des idealen Menschentums«63 - als systematischer Ausgangspunkt einer
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Vgl. Samuel Pufendorf: Gesammehe Werke, Bd. 4: De jure naturae et gentium. 2 Teile. Hg. von Frank Böhling. Berlin 1998. Vgl. Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2: De officio. Hg. von Gerald Härtung. Berlin 1997. Der Band bietet sowohl den Text der lateinischen Originalausgabe als auch den der deutschen Übersetzung von 1691 (Herrn Samuel von Pufendorff Einleitung zur Sitten= und Staats=Lehre [...]). Vgl. dz. Erik Wolf: Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung. Karlsruhe 1955 (Freiburger Rechts- und Staatswissenschafliiche Abhandlungen 2). S. 18ff. Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 104. Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. Göttingen 1973 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 5). S. 49. Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1958. S. 28.
64 rationalen Naturrechtskonstruktion kann dieser ebenso aus epistemologischen*4 wie aus methodischen Gründen nicht dienen.63 Hinzu kommt schließlich die fehlende aktuelle empirische Evidenz eines Zustandes der natürlichen Verwandtschaft und Liebe zwischen den Menschen, die Pufendorf auf die mangelnde Stabilität der entsprechenden altruistischen Neigungen und ihre Unterlegenheit gegenüber den eigennützigen Trieben zurückführt: Wiewohl aber die Natur selbst unter denen Menschen eine allgemeine Verwandtschaffi stiften wollen/ in Kraffl deren/ sonder offenbarer [!] Verletzung ihrer Gesetze/ keiner den ändern einiges Leid und Ungemach zufliegen/ vielmehr aber sie einander alles Liebes und Gutes erweisen sollen; so seynd doch die Kraefte dieser Verwandtschafft unter Leuten/ die in Natuerlicher Freyheit leben/ dermassen schwach/ daß man billich Ursache hat/ demjenigen/ der von einer auswaertigen Republique ist/ oder mit uns in Natuerlicher Freyheit stehet/ nicht zwar vor einen Feind/ dennoch aber fuer einen nicht gar zu sichern Freund zu halten. Ursache dessen ist diese/ weil die Menschen einander nicht allein viel Schaden zufliegen können/ sondern solches aus vielerley Ursachen oefiters auch thun wollen.** Die natürlich-ursprüngliche und vorreflexive Ausstattung des Menschen mit geselligen Neigungen entbindet die naturrechtlichen Versuche zur friedenssichernden Normierung des gesellschaftlichen Miteinanders also für Pufendorf nicht von der Notwendigkeit, den anthropologischen und gesellschaftlichen Status Quo zur Kenntnis zu nehmen und zum systematischen Ausgang der Rechts(re)konstruktion zu machen. Diese hatte daher bei Pufendorf wie bei Hobbes statt von der idealisierenden Annahme einer natürlichen Tendenz zu gegenseitigem Nutzen von der gegenteiligen, empirisch evidenten Fähigkeit des Menschen auszugehen, sich gegenseitig zu schaden. Aus dieser Parallele in der Konzeption des vorstaatlichen Zustande - wenn auch nicht des von Pufendorf ungleich differenzierter betrachteten Naturzustands -, einer Konsequenz aus der Vorbildhaftigkeit der naturwissenschaftlichen Methode für beide Rechtsdenker,*7 erklärt es sich, 64
Zum Wissen um die epistemologischen Probleme einer Rekonstruktion des natürlichen Zustande des Menschen in der Anthropologie des 17. Jahrhunderts vgl. Margaret C. Hodgen: Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Philadelphia 1964. S. 354ff. *J Vgl. Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 32f; sowie Horst Denzer Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosphie. München 1972 (Münchener Studien zur Politik 22). S. lOlf. 66 Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 188. 67 Für Wolfgang Röd steht Pufendorfs Grundlegung des Naturrechts nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch »unentschieden zwischen den beiden Richtungen der >geometrischen< Staatslehre«, d. h. zwischen einem empirisch-realistischen (Grotius) und einem resolutiv-komposftorischen Ansatz (Hobbes), indem er einerseits von empirisch zu verifizierender socialitas ausgehe, andererseits »die Vorstellung gemeinschaftsloser Individuen zum Ausgangspunkt des Staatsbegriffs« mache, also die von Hobbes in die praktischen Wissensdisziplinen eingeführte Rückführung eines komplexen Phänomens auf seine Grundbegriffe anwende: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 89, 88. Einen ahnlich »prekärefn] Status des Naturzustands zwischen Empirie und Abstraktion« konstatiert im Falle Pufendorfs auch Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 44. Hasso Hofmann spricht in diesem Zusammenhang von der »zu einer Wissenschaft von der Mechanik der Vergesellschaftung und der Physik der Macht sich wandelnden Naturrechtslehre«: Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung. In: Rechtstheorie 13 (1982). S. 226-252, hier S. 234. Zum methodischen Vorgehen Pufendorfs vgl. ferner Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Frei-
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daß beider Grundlegung des Naturrechts im 18. Jahrhundert als identisch interpretiert werden konnte. So stellte der (unbekannte) Bearbeiter der dritten Auflage von Christoph August Heumanns Politischem Philosophvs 1724 fest: Was aber die Liebe des Nechsten anlanget, so weiß ja jederman, daß sichs auf die Frage: Wo bleibt die Brüderliche Lieb? Nicht reimet: die gantze Welt ist voller ehrlichen Leute, guter Freunde, getreuer Nachbarn, und dergleichen. Ja Hobbesius und Pufendorffhaben deutlich erwiesen, daß die Menschen eine dermassen verderbte Natur haben, daß sie nicht einander zu lieben und zu heißen, sondern zu hassen und zu schaden geneigt sind: daß also von Natur ist bellum omnium inter omnes.6*
Die notwendige Disziplinierung eines den gesellschaftlichen Frieden destabilisierenden Eigennutzes kann jedoch bei Pufendorf ihrerseits - wiederum im Unterschied zur Konzeption Hobbes' - auf eine natürliche Disposition zurückgreifen, die allerdings eines Reflexionsschrittes bedarf: Sie ist bedingt durch die Einsicht in die Angewiesenheit nicht lediglich auf Schutz vor anderen eigennützig Handelnden, sondern zudem auf Unterstützung von ihnen für die Erlangung eines größtmöglichen eigenen Nutzens: Zum Exempel/ man bildet sich in der Lehre der Natuerlichen Rechte den Zustand des jenigen Menschen/ der etwa zu erst auf der Welt gewesen/ (er sey nun/ wer er wolle;) auf solche masse ein/ wie wir/ unserer blossen Vernunft nach/ ermessen moegen/ daß er muesse seyn beschaffen gewesen/ und koennen uns solchen in Wahrheit anders nicht/ als elende und duerffiig vorstellen/ indem er in die wueste Welt ausgesetzet worden/ und in derselben das geringste Ver-
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heitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderbom 1976 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 23). S. 39f; Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 42ff; Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, S. 114ff, 124ff. Pufendorfs methodische Orientierung an den Naturwissenschaften in seinem naturrechtlichen Hautpwerk bestreitet Simone Zurbuchen und geht statt dessen von einer ontologischen Grundlegung des Naturrechtssystems in der naturlichen Religion aus: »Nur weil Pufendorf die menschliche Natur und das ihr notwendig korrespondierende moralische Gesetz in Abhängigkeit vom Willen Gottes denkt, ist es ihm möglich, das Naturrecht als Wissenschaft zu begründen.« Vgl. Naturrecht und naturliche Religion, S. l Off, Zitat S. 20. Thomas Behme erkennt in diesem Umstand den »durchscheinende[n] teleologische[n] Naturbegriff der aristotelisch-scholastischen Tradition«: »Das Ziel, ein in der gemeinsamen Natur des Menschen gegründetes, gleichzeitig diese als Norm verpflichtendes Naturrecht zu entwickeln, ließ sich nur unter Einbeziehung metaphysischer Voraussetzungen erreichen, die den Rahmen des durch bloße Analyse und kausale Erklärung empirisch gegebener Phänomene Begründbaren sprengen sowie gegen einen ausschließlich in Abhängigkeit von der Methode bestimmten Begriff von Wissenschaft verstoßen.« Gegensätzliche Einflüsse in Pufendorfs Naturrecht In: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994). Hg. von Fiametta Palladini und Gerald Härtung. Berlin 1996. S. 74-82, Zitate S. 77,82. [Christoph August Heumann:] Der Politische Philosophvs, Das ist, Vernunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben/ Ehemals aufgesetzet Von C. A H. Anietzo aber Bey dieser dritten Auflage verbessert und vermehret Von A S. P. Franckfurt und Leipzig 1724. ND Frankfurt/M. 1972. S. 267. (Hervorhebungen im Original.) Der Verfasser beruft sich dabei in bezug auf Pufendorf auf: De officio hominis et civis, 1. Buch, 3. Kapitel, §4 sowie auf De jure naturae et gentium, 2. Buch, 1. Kapitel, §6 und 7. Buch, 1. Kapitel, §4. In seiner Vollständigen Geschichte Des Rechts der Vernunffl von 1739 betont auch Adam Friedrich Glafey, daß »Pufendorff gar gerne gestehet, daß er seine besten Meditationes und Wahrheiten, des Hobbesii scheinbaren Sophismatibus zuschreiben müsse«: Vollständigen [!] Geschichte des Rechts der Vemunffl [...]. Leipzig 1739. ND Aalen 1965. S. 138.
66 gnuegen und Bequemligkeif so einig und alleine von der menschlichen Gesellschaft herruehret/ nicht empfinden koennen.69 Wie bei Hobbes handelt es sich also um eine Verstandeseinsicht, die den Menschen aus dem vereinzelten Natur- in den geselligen Zustand treibt, aber für Pufendorf kann diese auf - wenn auch verschüttete und schwache - natürliche Neigungen zurückgreifen. Zudem konstituiert diese Einsicht bei Pufendorf nicht lediglich eine Gesellschaft der geregelten Konkurrenz, sondern der aus Affektregulierung und -disziplinierung hervorgehenden gegenseitigen Hilfe. Dieser Zusammenschluß zu gegenseitigem Schutz und Hilfe wird - auch dies im Unterschied zu Hobbes - bereits innerhalb des Naturzustandes nötig, so daß sich die Geselligkeit für Pufendorf also nicht erst als das Ergebnis eines die absolute Freiheit beschränkenden Gesellschaftsvertrages einstellt.70 Dies bedeutet jedoch wiederum nicht, daß Pufendorf sich gegenüber Hobbes auf den von Grotius angenommenen natürlichen Geselligkeitstrieb beruft. Diese Annahme wird von ihm zwar nicht abgelehnt, aber Pufendorf erkennt ihr nicht die notwendige Stabilität und Verläßlichkeit zu, um einen friedenssichernden Gesellschaftszustand darauf gründen zu können. Sein Prinzip der socialitas stellt dagegen wie bei Hobbes bereits eine Ableitung aus den selbstbezüglichen anthropologischen Grundeigenschaften dar, die er jedoch durch die imbecillitas ergänzt:71 Weil der Mensch als ein bedürftiges Wesen geschaffen wurde, ist sein (Ober-)Leben lediglich als geselliges möglich, und die socialitas ist daher nicht bloß eine deskriptive, sondern zugleich eine normative Kategorie, nicht bloße anthropologische Prämisse, sondern moralisches Postulat, »der allgemeinste Begriff des menschlichen Lebens«72. Pufendorf siedelt seine Modellvorstellung eines menschlichen Naturzustandes damit zwischen denjenigen Grotius' und Hobbes' an. Zu diesem Zweck führt er eine folgenreiche systematische Differenzierung der Möglichkeiten wissenschaftlicher Reflexion auf diesen Zustand ein:73 Er unterscheidet systematisch zwi69 70 71 n
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Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 102. (Hervorhebungen im Original.) Vgl. Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, S. 11 Off. Zum Begriff der imbecillitas bei Pufendorf vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 68ff., zu dem der socialitas ebd., S. 76ff. Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 42. Vgl. auch Horst Denzer: MoralPhilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, S. 93, der den Grund der socialitas bei Pufendorf jedoch weniger an den gegenseitigen Nutzen als an die »Verwandtschaft aller Menschen« gebunden sieht und sie damit fälschlich als Ableitung aus dem status integritatis versteht An anderer Stelle wird die vorvertragliche Sozialität des Menschen dann jedoch als von der »Nützlichkeit« bewirkt aufgefaßt (ebd., S. 111). Welzel spricht auch das System Pufendorfs nicht vom Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses frei, den er als den »Grundfehler aller dieser Theorien« bezeichnet, die »eine weitindifferente Seinsgesetzlichkeit unvermerkt in eine wertbestimmte Sollensgesetzüchkeit« verwandeln (Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 39f). Vgl. auch Werner Schneiders: Recht, Moral und Liebe. Untersuchungen zur Entwicklung der Moralphilosophie und Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts bei Christian Thomasius. Diss. Münster 1961. S. 28ff. Die folgende Differenzierung versteht Pufendorf nicht als historische Unterscheidung menschlicher Naturzustände im Sinne eines Ablaufmodells. Er hält es vielmehr für »offenbar/ daß das gantze menschliche Geschlechte niemals zugleich und auf einmal im Natuerlichen Stande ge-
67 sehen drei Gesichtspunkten, unter denen sich der natürliche Zustand des Menschen betrachten läßt. Dessen Betrachtung »in Ansehung GOttes des himmlischen Schoepffers« nimmt die »Beschaffenheit« in den Blick, »darein er von GOtt seinem Schoepffer gesetzet/ und vor allen ändern Thieren mit einer sonderbaren Vortrefligkeit ist begäbet worden.«74 Die Pflichten, die sich aus diesem Gesichtspunkt ergeben, hatte Pufendorf bereits einleitend als an das »geoffenbarte Wort«11 gebundene aus dem Bereich des profanen Naturrechts in denjenigen der Moraltheologie überwiesen.76 Der zweite von Pufendorf angeführte Gesichtspunkt bildet die Basis für ein Gedankenexperiment: Nach der ändern Art kan man den Natürlichen Stand eines Menschen also betrachten/ daß man sich in seinem Gemuethe füerstellig mache/ was es doch vor eine Bewandniß mit ihm haben wuerde/ wenn ein jeder sich selbst gelassen/ sich ohne einiges ändern Menschen zuthun bey demjenigen Zustande der menschlichen Natur/ als er itzo vorhanden ist/ behelffen mueste. Welchem Zustande nach er wahrhafftig viel elender/ als einige Bestie/ seyn wuerde/ wenn man nur bedencket/ mit was vor einer Armsel= und Gebrechligkeit der Mensch in die Weh koemmet/ und wie er also gleich verderben mueste/ wann ihn [!] andere Leute nicht zu Huelffe kaemen[...].77 Diese zweite Möglichkeit der Reflexion auf einen möglichen Naturstand des Menschen stellt mithin eine »deduciio ad absurdum«1* dar. Der Verweis auf die Mängelnatur des Menschen soll verdeutlichen, daß ein derart einsamer Naturzustand zwar denkbar, seine Annahme allerdings mit der Realität menschlichen Daseins unvereinbar ist, denn:
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wesen« sei (Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 186.) Die Rede vom Naturstand bildet für Pufendorf daher nicht den historischen, sondern den methodischen Ausgangspunkt der Naturrechtsreflexion. Bei der vorgenommenen Differenzierung handelt es sich also um eine wissenssystematische Unterscheidung von Zugriffsweisen der Vernunft auf das natürliche Wesen des Menschen mit dem Ziel, dessen Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft als von diesem natürlichen Wesen selbst gefordert auszuweisen. Einen Überblick über die systematische Ordnung der Möglichkeiten wissenschaftlicher Reflexion auf den menschlichen Naturzustand bei Pufendorf bietet Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 49ffi; vgl. auch Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, S. lOOff. Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 185. Ebd., S. 101. (Hervorhebung im Original.) Gleichwohl läßt sich im Sinne Thomas Behmes (s. o., Anm. 67) ein weiterhin bestehender Einfluß von christlichen Vorstellungen der göttlichen Schöpfungsordnung auf Pufendorfs Rechtfertigung der socialitas aufweisen: Vgl. etwa den Einleitungsparagraphen des fünften Kapitels des ersten Buches von De officio »Von der schuldigen Gebuehr derer Menschen gegen sich selbst«, in dem es heißt: »Denn weil er ihm alleine nicht gebohren/ sondern um deßwillen von dem allmaechtigen Schoepffer mit so herzlichen Gaben ausgeruestet ist/ damit er beydes seine Ehre preisen/ und zugleich auch ein taugliches Gliedmaß der menschlichen Gesellschaft seyn moege; Als [!] ist er schuldig/ sich also anzustellen/ damit er die Gaben GOttes nicht verlaesse/ und oede liegen laesse/ sondern/ nach seinem Vermoegen/ auch etwas zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft beytrage.« (Ebd., S. 133.) Ebd., S. 185. Thomas Behme: Gegensätzliche Einflüsse in Pufendorfs Naturrecht, S. 76. (Hervorhebung im Original.)
68 Daß er nun aber bey so vieler Gebrechligkeit gleichwohl groß gewachsen/ daß er nunmehro so unzehlige Bequemligkeiten vor sich findet/ daß er seinen Leib und Seele zu seinen eigenen und der Gesellschaft Besten so herrlich erbauen kan/ dis alles hat er derer ändern Leute Huelffe und Willfaehrigkeh zu dancken.79
Gehört die imbecillitas zu den natürlichen Grundeigenschaften des Menschen, so sind auch die Möglichkeiten ihrer Kompensation durch gegenseitige Hilfe und Unterstützung zu diesen Eigenschaften zu zählen, was allein schon dadurch hinreichend belegt erscheint, daß der Mensch eben nicht gleich nach seiner Geburt >verdorben< ist, sondern durch »derer ändern Leute Huelffe und Willfaehrigkeit« überleben konnte.80 So ergibt sich schließlich als dritter und für die Naturrechtsbegründung entscheidender Gesichtspunkt des menschlichen Naturstandes derjenige »in Ansehung [... ] gegen andere Menschen«: Nach der dritten Art betrachtet man den Natürlichen Stand derer Menschen/ aisfern sie sich bloß aus der gemeinen und von Gleichheit der Natur herruehrenden/ auch ohne einigen dergleichen Pact oder Eigenthaetigkeit/ dadurch einer den ändern sich sonst absonderlich verbunden machet/ bestehenden Verwandtschaflt gegen einander verhalten.81
Im Gegensatz zu der »erdichtete[n] Fürstellung« des vorangegangen Gedankenexperiments hat »der wahrhafftige Natur=Stand [...] diese Eigenschafft/ daß einer mit gewissen Leuten in eine besondeme Gesellschafft eintrit«82. Diese erste Form der Vergesellschaftung ist noch »von keinem ändern/ als den gemeinen Natürlichen Freundschaffts=Bande[n]« geprägt und stellt für Pufendorf den Stand der »Natürlichen Freyheit« dar, den er dadurch gekennzeichnet sieht, daß die Menschen in ihm »niemanden/ ausser GOTT/ unterthan und gehorsam seyn duerffen.«83 Daß die »Natuerlichen Freundschaffts=Bande« jedoch nicht die für einen verläßlichen gesellschaftlichen Frieden notwendige Stabilität gewährleisten, wurde bereits angemerkt.84 Pufendorf weist überdies darauf hin, daß die wachsenden Bedürfhisse des Menschen in diesem Zustand ursprünglicher Geselligkeit nicht hinreichend zu erfüllen sind: Ob nun wohl dieser Natur=Stand unter dem Verwände der Freyheit und Verschonung von aller Unterthänigkeit ein vortrefliches Ansehen bekoemmet; So ist doch derselbige/ bevor sich die Menschen in bürgerliche Gesellschaften begeben/ nicht sonder grosse Beschwerden und Ungelegenheit gewesen/ man mag sich einbilden/ daß sie entweder alle und jede in denselben gelebet/ oder nur den Zustand derer besonders wohnenden Haus=Vaeter bedencken.83
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Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 185. Neben der methodischen Funktion der Begründung der natürlichen socialitas durch die imbecillitas vermutet Wolfgang Röd hinter Pufendorfs kontrafaktischer Abstraktion auf einen ungeselligen Naturzustand ein zusätzliches pädagogisches Interesse darin, »die Vorzüge des sozialen Daseins infolge des Kontraste klarer hervortreten zu lassen und die altruistischen Neigungen zu starken«: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 97. Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 185f. Ebd., S. 186. Ebd. S.o.,S.64f. Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 187.
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Der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft kommt für Pufendorf daher dem Austritt aus einem Zustand natürlicher Geselligkeit gleich. Ist bereits die ursprüngliche Vergesellschaftung an die Reflexion des einzelnen auf seine mangelhafte natürliche Ausstattung für ein auf sich selbst gestelltes Überleben in einer feindlichen Umwelt gebunden, die jedoch noch von der »allgemeinefn] Verwandtschafft«86 unter den Menschen aufgrund der »Gleichheit der Natur«*7 unterstützt wird, so beruht auch der Übergang in den gesellschaftlichen Zustand auf einem entsprechenden Reflexionsschritt: Mangelnde Sicherheit und Stabilität der ursprünglichen >kleinen Gesellschaftern führen ebenso zur Aufgabe der natürlichen Freiheit wie die wachsenden Bedürfhisse, die sich nicht mehr allein auf das bloße Überleben beschränken lassen. So trägt Pufendorf mit der Anerkennung der »gemeinen Natürlichen Freundschafits=Bande«M der Annahme einer ursprünglichen und triebgestützten Neigung des Menschen zur Vergesellschaftung ebenso Rechnung, wie er andererseits mit dem Verweis auf die Defizite eines solchen geselligen Naturzustandes den entgegengesetzten Standpunkt Hobbes' in seine anthropologische Grundlegung des Naturrechts integriert: Zwar ist der Mensch mit ursprünglichen geselligen Neigungen ausgestattet, doch sind diese für die Errichtung einer stabilen bürgerlichen Gesellschaft nicht in Anspruch zu nehmen. Das Naturrecht muß vielmehr auf der Selbstbezüglichkeit des Menschen aufbauen und den vergesellschafteten Zustand trotz des Verlustes der natürlichen Freiheit als denjenigen herausstellen, der dem wohlverstandenen Interesse des einzelnen gemäß ist.89 Pufendorf verdankt seine erneute Betonung der klassischen Position von der sozialen Natur des Menschen90 auch im Hinblick auf einen nicht idealen, sondern im Gegenteil zu seiner Überwindung drängenden ursprünglichen Zustand also einer entscheidenden Differenzierung, die er in die Rekonstruktion des menschlichen Naturzustandes einfuhrt. Die soziale Natur des Menschen impliziert, daß der Naturzustand nicht mehr wie bei Hobbes lediglich ein Zustand des absoluten - zwar geltenden, jedoch nicht faktischen - Rechts ist, sondern zugleich einer der Pflicht: Seiner geselligen Natur entsprechend, ist der Mensch gehalten, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Dabei kommt ihm neben den zwar konstatierten, aber für nicht hinreichend erklärten geselligen Neigungen auch die Stimme des Verstandes zu Hilfe.91 86 87
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Ebd., S. 188. Ebd., S. 185. A.a.O. In diesem Sinne identifiziert Hans Medick hinter der Naturrechtskonzeption Pufendorfs ein »an Arbeitsteilung und kommerziellem Austausch orientierte [s] Gesellschansmodell«: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 61. Zu Pufendorfs Begriff der imbecillitas und seiner Funktion als »negative Beweisführung zur socialhas« in der Tradition der klassischen abendländischen Philosophie vgl. Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, S. 92ff. Wenn Adam Friedrich Glafey, »der erste bedeutende Historiker des modernen Naturrechts« (Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 54, Anrn. 11), daher trotz seines oben (Anm. 68) angeführten Urteils Ober die Abhängigkeit des Pufendorfischen Systems vom Naturrecht Hobbes' feststellt, daß Pufendorf »in seinen Schafften solche Lehren dem Publico vor-
70 Entscheidend für den Zusammenhang der vorliegenden Untersuchungen ist die integrative Leistung des Pufendorfischen Naturrechts, dem es gelingt, sich der von Hobbes in Anspruch genommenen Grundlegung im natürlichen Egoismus nicht einfach entgegenzusetzen, sondern diese in das eigene System aufzunehmen. Dabei verweist der Ausgang der Argumentation von der natürlichen imbecillitas des einzelnen auf die Abhängigkeit auch der gesellschaftsfördemden Neigungen von dem selbstbezüglichen Blick des einzelnen auf die Hilfsbedürftigkeit seiner natürlichen Existenz sowie von der Sorge um deren Erhaltung und Vervollkommnung.w Eine Umakzentuierung der Begründung natürlicher socialilas von der imbecillitas zur rationalitas nahm schließlich Christian Thomasius an dem System Pu-
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trägt, welche des Hobbesii Gmnd=Sätzen gantz unähnlich sind«, und den Einfluß Hobbes darauf beschrankt, »daß Pufendorff durch Lesung des Hobbesii Buches Gelegenheit erlanget, der Sache weher nachzusinnen« (Vollständigen [!] Geschichte des Rechts der Vernunffl [...], S. 180), so zeigt die von ihm selbst vorgelegte Hobbes-Kritik, wo er die Differenz zwischen Pufendorf und Hobbes ansetzt Glafeys entscheidendes Argument gegen Hobbes erhält eine normative Akzentuierung: Selbst unter der zugestandenen Grundannahme, »daß der status naturalis ein bellum omnium in omnes de facto sey«, bleibe es doch verwerflich, diesen »zu rechtfertigen und zu legjtimiren« (ebd.): »Solchergestalt hat Hobbes vornehmlich darinnen gefehlet, daß er aus der bösen Neigung des Menschen [...] auf ein Recht, diesem viehischen Triebe folgen zu dürffen, schliest, mithin die menschliche Unart pro fundamento juris annimt und passiren last, da er doch vielmehr dieselbe hätte corrigiren und in die Schranken der vemünfftigen Gesetze hätte weisen sollen.« (S. 155) Diese »vernünftigen Gesetze« gelten bereits im Naturzustand: In diesem müsse dem Menschen nicht allein der von Hobbes systematisch isolierte Wille, sondern auch bereits Verstandesfähigkeit zugesprochen werden, die Hobbes schließlich zwar auch in Anspruch nehme, »damit aber zuspäte kommet, indem er selbige nur in die Conclusiones eingeschoben, da er doch dem Menschen selbige auch in statu naturali hätte lassen, und zum Anführer geben sollen« (ebd., S. 156). Der Verstand stelle nämlich das geeignetere Mittel zur Selbsterhaltung dar, so »daß der Schluß sich gerade umkehre, und dahinaus falle, daß weil die Menschen einander zu schaden geneigt wären, solches aber der [...] conservation schnurstracks zuwieder lauffen, sie nicht nur von dieser zu ihrem Verderben und Untergang gereichenden Passion abzustehen [...], sondern auch noch über dieses einander alle angenehme und zu Beförderung ihres Wohlseyns gereichende Dienste zu erzeigen schuldig und verbunden seyn.« (Ebd., S. 155f.) Zu diesem Grundgedanken der Pufendorfischen status naturalis-Re&exiaa. und zu seiner Wirkung auf Literatur und Sozialethik des 18. Jahrhunderts vgl. Friedrich Vollhardt: Freundschaft und Pflicht, insbes. S. 297ff. In diesem Zusammenhang ist auch Hasso Hofmanns pauschalierende Charakterisierung neuzeitlicher Naturrechtsreflexion zu verstehen: »Sie unternimmt es, den Menschen in strengem methodischen Individualismus, der die praktische Auseinandersetzung mit konkreten sozialen und politischen Problemen in eine more geometrico betriebene Philosophie transformiert, aus seinen Herkunftsbindungen herauszudenken und ihn als Eigentümer seiner selbst sowie der Produkte seiner Arbeit und demgemäß als den unter der naturgesetzlichen Mechanik der Vergesellschaftung autonomen Produzenten seiner (Geschichte-) Welt zu definieren [...].« (Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 234; vgl. auch Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, S. 106ff.) Damit auch dem Naturrechtssystem Pufendorfs dieser Charakter zugesprochen werden kann, ist jedoch - das spricht Hofmann nicht an - die oben angeführte Unterscheidung zwischen sündenfreiem status integritatis und auf den Sündenfall folgendem status naturalis unverzichtbar: Erst sie versetzt Pufendorf in die Lage, die naturrechtlichen Deduktionen trotz der Annahme eines auf verwandtschaftlichen »Herkunftsbindungen« beruhenden geselligen Naturzustandes von der selbstbezüglichen Verfassung der Einzelmenschen ausgehen zu lassen.
71 fendorfs vor.M Dies wird in der Zusammenlegung und Hierarchisierung der bereits bei Pufendorf angelegten Argumentation deutlich: Denn weil [...] die Menschen alle einen Schöpffer haben, und von einem Menschen herkommen, von GOtt auch also an Leib und Seel zugerichtet/ daß ein Mensch des ändern nicht entbehren kann, so gehet des Menschen gantze Natur dahin, sich zu ändern Menschen zugesellen [!], nicht nur in der Zusammenfugung des Mannes und Weibes (denn dieses ist auch den Thieren gemein) auch nicht nur aus einem blossen Antrieb, wie etliche heer=weise sich samlen, sondern mit Bedacht und vernunftigem Schluß; Derohalben muß dieses fest gesetzet werden, daß nicht nur die Noth, sondern die Natur und Vemunfft des Menschen aus göttlicher Ordnung herrührende, die Geselligkeit und also eine Form und rechte Art sich in solcher Gesellschaft mit einander zu vertragen erheische.94
Auf dieser Grundlage entfaltet Thomasius sein Projekt einer allumfassenden, systematisch geschlossenen menschlichen Pflichtenlehre, in der die Pflichten von justum, honestum und decorum unter dem gemeinsamen Dach des Geselligkeitsgrundsatzes jeweils eigenen Begründungsinstanzen zugewiesen und von dort aus deduktiv entfaltet werden. Manfred Beetz faßt die Nähe des Thomasianischen Naturrechts zu den anthropologischen Prämissen Pufendorfs zusammen: Zunächst identifiziert Thomasius den natürlichen Stand des Menschen mit dem der Unschuld vor dem Sündenfall, und den gesetzlichen mit dem der verderbten Natur. Gleichzeitig lehnt er es ab, das Fundament des Naturrechts auf der utopisch-platonischen Idee eines vollkommenen Standes der Unschuld zu errichten statt auf der faktischen, d. i. verderbten, menschlichen Vernunftnatur.95
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Zur historischen Bedeutung der Naturrechtstheorie Thomasius' vgl. Klaus Garber: Gefährdete Tradition. Frühbürgerliches Erbe und Aufklärung. Arnold - Leibniz - Thomasius. In: Thomas Metscher, Christian Marzahn (Hg.): Kulturelles Erbe zwischen Tradition und Avantgarde. Ein Bremer Symposium. Köm, Weimar, Wien 1991 (Europäische Kulturstudien 2). S. 3-64, insbes. S. 30ff. Christian Thomasii [...] Institutionum Jurisprudentiae Divinae Libri Tres. [...] Halae Magdeburgiae 1720. Dissertatio Prooemilalis. S. SOf. An dieser Stelle verweist Thomasius außerdem auf die historische Quelle seines Grundsatzes der Sozialitat in der Pflichtenlehre Ciceros. Zur Begründung der socialitas über die rationalitas bei Thomasius vgl. Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 170: »Die menschliche >Natur< ist wesentlich vernünftig, die Fähigkeit des vernünftigen Denkens kann aber nur in der Gemeinschaft entwickelt werden. Die Rationalitat impliziert sonach die Sozialitat, und da Thomasius an der Vernünftigkeit der menschlichen Natur in der Zeit der >Institutiones< nicht zweifelte, gilt ihm auch die Sozialitat als erwiesen, zumal ohne Geselligkeit nicht nur ein friedliches und glückliches Leben, sondern auch die Betätigung der Vernunft unmöglich wäre.« Vgl. dz. außerdem Peter Schröder: Thomasius zur Einführung. Hamburg 1999. S. S3. Manfred Beetz: Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik. In: Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Mit einer Bibliographie der neueren Thomasius-Literatur. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 11). S. 199-222, hier S. 208. Vgl. außerdem Peter Schröder: Christian Thomasius zur Einführung, S. 38f. Schon Adam Friedrich Glafey stellte fest, Thomasius sei in seiner Naturrechtstheorie »den Principiis Pufendorffianis nachgegangen, so daß dieses Buch gar wohl ein Commentarius über Pufendorffium heissen kann«: Vollständigen [!] Geschichte des Rechts der Vernunfft [...], S. 220. Markus Fausers These, in der Ausarbeitung des kommunikationstheoretischen Argumentationsansatzes bei Thomasius sei ein Übergang »aus der Individualethik der auf Imbezillität gegründeten Systeme« zu einer »auf Sprache und Vernunft gegründete[n] Sozialethik« zu finden, erscheint im Blick auf die
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Wie Pufendorf nimmt Thomasius also eine ursprünglich unschuldige, von Sympathie und Liebe geprägte Natur des Menschen an, weist jedoch die Möglichkeit eines systematischen Ausgangs des Naturrechts von diesem sündenfreien Ursprung zurück. Wie für Pufendorf haben die Begründungen eines allgemeinen friedenssichemden Naturrechts auch für ihn von dem Status Quo des werderbten< Zustande des Menschen auszugehen; ihn gilt es zu zivilisieren, daher kann es auch nur seine >Natur< sein, die ein anwendbares, nicht-utopisches Rechtssystem zu begründen vermag. Friedrich Vollhardt zitiert diesbezüglich eine Bemerkung aus den Monatsgesprächen anläßlich der Auseinandersetzung Thomasius' mit dem christlichen Naturrecht Johann Ludwig Praschs: »[Schließlich lernen oder lehren wir >die natürliche Jurisprudenz nicht zu dem Ende/ daß wir sie auf Adams Thaten< [...] applizieren«96. Gleichwohl spielt die Annahme einer ursprünglich-natürlichen Liebe zwischen den Menschen (wenigstens zunächst) noch eine Rolle in Thomasius' Konzeption der praktischen Philosophie. Aber nicht die staatlich zur Geltung zu bringenden Rechtsnormen, sondern lediglich die Normen der Moralität sowie diejenigen des natürlichen decorum können auf die Affekte natürlicher Sympathie zurückgreifen, um auf ihrer Grundlage das gesellige Miteinander der Menschen zu steuern. Damit arbeitete die anthropologische Differenzierung in der Grundlegung des säkularen Naturrechts einer entsprechenden lebenspraktischen Differenzierung zu, wie sie u. a. im Rahmen gesellschaftsethischer Konkretion realisiert wurde und auch das Ideal einer sympathetischen menschlichen Natur in ein umfassendes anthropologisch begründetes Umgangskonzept zu integrieren verstand.
1.3 Regulierungsmodelle geselliger Wirklichkeit zwischen Tradition und Innovation In seinem Beitrag zum Symposium über Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter machte Winfried Schulze einleitend auf eine Kluft aufmerksam, deren Überbrückung er im wesentlichen als Desiderat der bisherigen historischen Forschung zur Geselligkeit der Frühen Neuzeit ansieht: auf das Abstraktionsgefälle zwischen naturrechtlicher Begründung und Inanspruchnahme der socialitas auf der einen und den gelebten Formen wirklicher Geselligkeit auf der anderen Seite.97 In der Tat - insoweit ist Schulze zuzustimmen - waren die naturrechtlichen Systeme mehr an den anthropologischen Grundlagen menschlicher Sozia-
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skizzierten Parallelen in der NaturrechtsbegrOndung nicht überzeugend: Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 47. Friedlich Vollhardt: Die christliche Liebe und das Naurrecht der Sozialitat: Problembezüge im Werk von Johann Ludwig Prasch (1637-1690), S. 283. Vgl. auch Werner Schneiders: Recht, Moral und Liebe, S. 17. Vgl. Winfried Schulze: Vom »ganzen Haus« zum »Kreislauf der geselligen Dienste und Arbeiten«. Geselligkeit und Gesellschaftsbildung im 17. Jahrhundert In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil I, S. 43-69, hier S. 44ff.
73 lität interessiert als an Fragen des geselligen Umgangs im einzelnen. Mit den Schriften Christian Thomasius', der von Schulze lediglich kurz erwähnt wird,98 liegt gleichwohl ein Quellenkorpus vor, anhand dessen zwar nicht auf die gesellige Wirklichkeit selbst, aber doch auf die zeitgenössischen Modellbildungen im Interesse einer Regulierung dieser Wirklichkeit zugegriffen werden kann. Thomasius' vielfältige Bestrebungen zur Begründung und Vermittlung von Regeln des gesellschaftlichen Umgangs, zur Beachtung der conduite im geselligen Verhalten, stellen in diesem Sinne einen Versuch zur Anwendung der naturrechtlichen Fundierung menschlicher Sozialität auf die Wirklichkeit und Wirksamkeit des geselligen Umgangs dar." Weit entfernt davon, bloß künstliches Beiwerk der höfischen Kommunikation zu sein,100 dienen die »Interaktionsrituale«101 höfischer Konversation »wesentlich dazu, zwischen Kommunikationspartneni Gemeinsamkeit, Übereinstimmung zu stiften und Konflikte oder Störungen der Eintracht zu vermeiden«102. Sie erfüllen damit eine entscheidende Funktion für die Stabilisierung einer auf Kommunikation gründenden Gesellschaft,103 und ihre Förderung stellt einen wesentlichen Beitrag zur innergesellschaftlichen »Friedensarbeit«104 dar. *
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Vgl. ebd., S. 54. Manfred Beetz hat Thomasius' Lehre vom decorum unlängst als paradigmatisch für »den Typ der kombinierten Klugheits- und Konversationslehre« im frühen 18. Jahrhundert identifiziert und auf dieser Grundlage festgestellt: »Der Decorumsystematiker kommt nunmehr auch als Lehrer konkreter Soziabilität und Conduite in Sicht« (Ein neuntdeckter Lehrer der Conduite, S. 199.) Zur zentralen Rolle, die Thomasius für eine systematische Theorie des decorum wenigstens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielte, vgl. auch Knut Forssmann: Bahasar Grecian und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung. Diss. Mainz 1977. S. 340; sowie Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 56. Ein entscheidendes Mißverständnis ihrer Rezeption nicht erst seit der Aufklärung. Vgl. dz. Manfred Beetz: Komplimentierverhalten im Barock. Aspekte linguistischer Pragmatik an einem literarhistorischen Gegenstandsbereich. In: Wolfgang Frier (Hg.): Pragmatik. Theorie und Praxis. Amsterdam 1981 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 13). S. 135-181, insbes. S. 140 u. 149. Manfred Beetz: FrOhmodeme Höflichkeit. Komplimentierverhalten und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990 (Germanistische Abhandlungen 67). S. 195 u. ö. Manfred Beetz: Leitlinien und Regeln der Höflichkeit für Konversationen. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil II, S. 563-579, hier S. 566. Vgl. dz. Christoph Strosetzki: Konversation. Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M., Bern, Las Vegas 1978 (Studia Romanica et Linguistica 7). S. 12ff. Manfred Beetz: Fruhmodeme Höflichkeit, S. 253. Diese Interpretationen Beetz' erscheinen dem historischen Gegenstand angemessener als Versuche, das Zeremoniell lediglich als »Herrschaftsmittel« im Interesse einer »Festigung und Tradierung des Herrschaftssystems« des Absolutismus zu deuten. (So etwa Hubert Ch. Ehalt: Zur Funktion des Zeremoniells im Absolutismus. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, S. 411-419, hier S. 413, 411.) Ohne seine Funktionalisierung als Herrschaftsmittel auszuschließen, bietet Beetz ein umfassenderes Verständnis des Zeremoniells als eines >InteraktionsritualsPolitik< im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert muß demgegenüber die dem heutigen Betrachter so selbstverständliche Kluft zwischen Politik und Ethik in der Art eines kaum wahrnehmbaren Risses vorstellen.106
Stanitzek weist die zeitgenössischen Überbrückungsleistungen jenes »Risses« in der Folge anhand des Zentralbegriffes seiner Untersuchung, der Blödigkeit, überzeugend nach, indem er zeigt, daß dieser sowohl als moralische Kategorie im Rahmen der naturrechtiichen Pflichtenlehre fungierte als auch als Kategorie der Klugheit innerhalb der >PrivatpolitikKaiserhofWohlfahrt< des Sprechers »als Konsequenz des fürstlichen Wohlergehens« eine Rolle spielte, Anstand und Klugheit in diesem also eine untrennbare Einheit bildeten, macht etwa Georg Braungart am Beispiel der Neujahrsrede des Höflings an den Fürsten deutlich; vgl. Hofberedsamkeit S. 225ff. Entsprechendes gUt bereits für den Hofinann Castigliones; vgl. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992 (Romanistische Abhandlungen 6). S. 148ff. Georg Stanitzek: Blödigkeit, S. 19. Ebd., S. 20, ausführlich dann S. 50ff.
75 Absetzung vom überkommenen heroischen Ritterideal108 - am Konzept des vorbildlichen Höflings orientiert.109 In dieser Perspektivierung präsentierten sie die Normen der galanten Ethik unter den Stichworten der Gefälligkeit, Anmut, Beredsamkeit sowie einer den eigenen Nutzen ohne Verletzung der Redlichkeit behutsam und doch zielstrebig verfolgenden Klugheit. Das in der gesellschaftsethischen Tradition vertretene Ideal bindet mithin zwei Momente der Umgangskunst zusammen: die spielerische Leichtigkeit und Anmut höfischen Anstände sowie die strategische Verschlagenheit einer berechnenden Klugheit.110 Die so hergestellte Einheit von - im weitesten Sinne - ästhetischen (Grazie, Anmut) und utilitaristischen Momenten des zwischenmenschlichen Umgangs hatte ihr Vorbild in der klassischen Rhetorik. Den systematischen Anknüpfungspunkt boten dabei die Regeln des decorum, insofern in ihnen die Richtlinien entwickelt wurden, welche die gewünschte Wirkung der Rede im Blick auf die Wünsche und Bedürfnisse des Adressaten sicherzustellen hatten.111 Diese Regeln ließen sich zu einem Geselligkeitsverständnis verallgemeinem, in dem die Verfolgung eigener untrennbar an die Berücksichtigung fremder Interessen gebunden und zugleich der Anspruch einer allgemeinen Gefälligkeit im Reden und Handeln erhoben wurde.112 108
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Vgl. Klaus Ley: Die »scienzia civile« des Giovanni della Casa. Literatur als Gesellschaftskunst der Gegenreformation. Heidelberg 1984 (Studia Romanica 57). S. 126; Henning Scheffers: Höfische Konvention und die Aufklärung. Wandlungen des honnete-homme-ldeate im 17. und 18. Jahrhundert Bonn 1980 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 93). S. 37f; Joachim Leeker: Ein europäisches Gesellschaftsideal im Wandel, S. 53ff. Zu den maßgeblichen Werken und Autoren dieser Tradition vgl. u. a. Barbara Zaehle: Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer. Ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaftsethik. Heidelberg 1933 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte ); Klaus Ley: Die »scienzia civile« des Giovanni della Casa; Richard Auemheimer: Gemeinschaft und Gespräch. Stefano Guazzos Begriff der >Conservatione [!] CivileGleichursprünglichkeit< von politischer Klugheit und natürlicher socialitas in stoisch-rhetorischer Tradition hin: Vgl. Weltanschauung und Ana-
76 Die Wohlanständigkeit kann durch kein Wort fuglicher ausgedrückt werden/ als durch das Lateinische Wort Decorum [...]. [...] Es ist aber das Decorum oder die Wohlanständigkeit eine moralische Beschaffenheit des Menschlichen Thun und Lassens/ nach welcher ein Mensch auff vemünfitige Art sich suchet Freunde zu machen. [Hierzu Anmerkung g):] Es ist demnach unterschieden von der Erbarkeit, alwo man den Menschen seinen innerlichen Regungen nach betrachtet/ nicht aber gegen andere Menschen näh/ dies ist auch unterschieden von der Gerechtigkeit da der Mensch dahin siebet/ daß er sich keine Feinde mache [...].m
Noch Christian Garve formulierte die allgemeinen Regeln des Umgangs in einer Weise, die deren rhetorische Wurzeln unschwer erkennen läßt: In der bereits einleitend herangezogenen Abhandlung Ueber eine Maxime Rochefaucaulis sieht er das höfische Umgangsideal von solchen Personen erfüllt, die ohne Affectation gefällig, ohne Weitschweifigkeit [!] in ihrem Vortrage deutlich, und ohne Künsteley beredet zu seyn wissen, [...] die mit ihrem Tone und mit ihrem Anstände abzuwechseln, und ihn den Personen und Umstanden, unter welchen sie stehen, anzupassen verstehen, die, nie verlegen, und nie unbescheiden dreist, aufmerksam auf anderer Wünsche, und doch unbekümmert und sorglos, - bemüht zu gefallen, und doch unbefangen und natürlich sind114.
Die Regehi des decorum sind im Unterschied zum Anspruch derjenigen desjustum und honestum von vielfältigen empirischen Bedingungen abhängig und damit einem stetigen historischen Wandlungsprozeß (den Moden, den gesellschaftlichen Veränderungen etc.) unterworfen. Zwar stellt dieser Umstand keine solide Basis dar für eine mit dem Anspruch auf systematische Geschlossenheit und strenge Allgemeinheit auftretende Pflichtenlehre. Dennoch hält Thomasius die beiden Bereiche des decorum, den Anstand und die Klugheit,113 für fähig, die Einsicht in die Notwendigkeit einer kontrollierten Verfolgung der eigenen Interessen zu fördern, bei der die Regehi des gesellschaftlichen Miteinanders nicht verletzt, sondern vielmehr genutzt werden.11* Ungeachtet der unumgehbaren und unter dem Anspruch strenger Allgemeinheit unauflösbaren Problematik einer Ableitung und Formulierung ebenso allgemein verbindlicher wie konkret handlungsbezogener Regem, ist die sowohl in
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lyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion. Leipzig, Berlin 1914 (Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften II). S. 269ff. Herrn Christian Thomasens [...] Höchstnöthige Cautelen Welch ein Studiosus Juris, der sich zur Erlernung Der Rechts=Gelahrheit Auf eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will/ zu beachten hat [...] Halle in Magdeburg 1713. S. 368. (Hervorhebungen im Original.) Christian Garve: Ueber eine Maxime Rochefäucaults, S. 311. Bereits Werner Schneiders hat daraufhingewiesen, daß man strikte Begriffsstrenge in Thomasius' Theorie des decorum aufgrund seiner systematisch uneindeutigen Position nicht erwarten darf: Vgl. Naturrecht und Liebesethik, S. 283f. So finden sich auch unterschiedliche Gliederungen des decorum, zu dem in den Cautelen beispielsweise lediglich die Anstandsregeln gerechnet werden, während diejenigen der Klugheit einen eigenständigen Bereich ausmachen: Vgl. Herrn Christian Thomasens [...] Höchstnöthige Cautelen^ S. 364ff. sowie das folgende Kapitel XVI für die »Lehre von der Kunst klüglich zu leben oder von der politic«, S. 40Sff. Vgl. dz. zuletzt auch Peter Schröder: Thomasius zur Einfuhrung, S. 9 Iff. Vgl. dz. Georg Braungart: Hofberedsamkeit, S. 28,162.
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systematischer als auch in praktischer Hinsicht zentrale Funktion des Normbereichs des decorum zu betonen: In ihm sichert sich eine im Sinne Hasso Hofmanns vom »methodischen Individualismus« geprägte Theorie der Gesellschaft117 gegen die latente Gefahr des faktischen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Frieden gefährdenden Individualismus. Die Normen des justum lassen in ihrer der strengen Allgemeinheit geschuldeten Erzwingbarkeit wesentliche, wenngleich nicht existentielle Bereiche des alltäglichen Umgangs mit Menschen unberücksichtigt; diejenigen des honestum erweisen sich in ihrer Orientierung an der zweck- und handlungsentlasteten Intimität des privaten, öffentlichen Institutionen nicht zugänglichen Umgangs unter Gleichen ebenfalls als zu beschränkt für eine Regelung des geselligen Miteinanders im Medium der gesellschaftlichen Differenz und Konkurrenz, denn: Alle wirkliche Gesellschaft wird [...] vor allem durch die in ihr wirkenden Willensverhältnisse bestimmt, nicht durch objektive Ziele oder Ordnungen. Fälschlich habe man bisher angenommen, daß vor allem die Übereinstimmung und Einigkeit in verstandesmäßiger Hinsicht gesellschaftsbildend sei [.. .]."*
Das drohende Vakuum zwischen der Allgemeinheit des Naturrechts und der intimen Privatheit der Liebesethik füllen daher die Normen des decorum. Damit tragen sie nicht allein der Sorge um einen von praktischen Normen freibleibenden Handlungsbereich Rechnung, sondern konstituieren in ihrem normativen Zugriff überhaupt erst den Raum, in dem sich Vergesellschaftung von Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Handlungsorientierungen und Zielen praktisch und faktisch vollzieht. In diesem Sinne kann Thomasius feststellen: »Das Decorum ist die Seele der Menschlichen Gesellschaften [... ].«119 In eben dieser Funktion ist das decorum zugleich der Ort der immer wieder neu zu schaffenden Kompromisse zwischen der Idealität moralischer Handlungsorientierungen und der Realität der umgebenden Verhältnisse in einer Gesellschaft, zu der auch die Thoren gehören, denen auszuweichen aus ebenso moralischen wie aus praktischen Erwägungen keine Handlungsoption darstellen kann: Es ist auch gäntzliche Absonderung von denen Thoren mehr eine Frucht der Thorheh/ als der Weißheit [...] [/] Denn/ du magst entweder die Thoren betrachten/ so kommt ja einem Weisen zu/ daß er dieselben zu der Weißheit führe/ oder ihnen in ihrem Elende auf andere Art beyspringe. [...] [/] Oder du magst den Weisen selbst ansehen; so ist er dennoch/ er sey so weise als er immer wolle/ ein Mensch/ d. i. eine Creatur/ welche die Hülfie anderer Leute/ auch sogar derer Narren offlermals bedarff.120
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S.o.,Anm.92. Irmgard Wedemeyer: Das Menschenbild des Christian Thomasius. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik. Diss. [masch.] Göttingen 1955. S. 185f. Christian Thomasens Erinnerung [...] über den Dritten Theil Seiner Grund=Lehren [...]. In: Herrn Christian Thomasens [...] Außerlesener Und dazu gehöriger Schrifften Zweyter Theil. Franckfurt und Leipzig 1714. ND als Band 24 der Ausgewählten Werke. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frank Grunert Hildesheim, Zürich, New York 1994. S. 193-220, hier S. 213f.
Herrn Christian Thomasens [...] Höchstnöthige Cautelen, S. 59.
78 Daß sich höfisches Verhalten an unterschiedlichen Normbereichen orientieren mußte, war auch der Tatsache geschuldet, daß das Leben bei Hofe den Mann zum Mitglied zweier grundlegend unterschiedlich strukturierter gesellschaftlicher Kreise machte: Einerseits gehörte er dem fürstlichen Verwaltungsapparat an, in dem er beratende oder ausführende Funktionen zu übernehmen hatte und in dem politische Klugheit ebenso den Kompetenznachweis wie die Voraussetzung für die >Selbsterhaltung< auf dem politischen Parkett bildete, ohne die auch ein Wirken zum allgemeinen Wohl nicht möglich war. Andererseits war er Teil einer spezifisch höfischen Geselligkeit, eines spielerisch-handlungsentlasteten Umgangs unter Gleichen zum angenehmen Zeitvertreib. Unter dieser Voraussetzung steht die Feststellung Klaus Conermarms, »daß der Hofmann nicht nur in der historischen Realität, sondern auch in der theoretischen Diskussion sich nicht dem Anspruch eines politischen Utilitarismus entziehen konnte«121, nicht im Widerspruch zu Georg Stanitzeks Betonung der gesellschaftlichen Voraussetzungen für symmetrische Kommunikation im höfischen Absolutismus.112 Oskar Roth erklärt dann auch die zunehmende >Entpragmatisiemng< des honnöte-homme-Ideals in der französischen Moralistik des 17. Jahrhunderts mit dem wachsenden Funktionsverlust des Adels unter Ludwig XIV., der der Einbindung bildungsbürgerlicher Schichten in den absolutistischen Verwaltungsapparat geschuldet war und zu verschärften Distinktionsbemühungen seitens des Erbadels führte. Diese äußerten sich u. a. darin, daß das Ideal nunmehr weniger am Hof als im adeligen Salon verortet und scharf gegen die Orientierung an äußeren Zwecken abgegrenzt wurde.123 Die >klassischen< höfischen Verhaltenslehren zeichnen sich dagegen zunächst noch dadurch aus, daß sie in rhetorischer Tradition die beiden Momente von Klugheit und Anstand systematisch nicht klar voneinander abgrenzen, sondern diese wie in Castigliones Cortegiono in »geradezu ästhetischefr] Vollendung in einem ausgewogenen System idealer gesellschaftlicher, politischer und persönlicher Voraussetzungen und Beziehungen«124 integrieren. In seiner Habilitationsschrift über Frühmoderne Höflichkeit wies Manfred Beetz 1990 gegen eine traditionsreiche Forschungslinie auf diese Einheit von Höflichkeits- und Klugheitsregeln in der frühneuzeitlichen Gesellschaftsethik hin: Politischer und gesellschaftsethischer Opportunismus gehören in den Diskurstraditionen des 17. Jahrhunderts enger zusammen, als man es in der jüngeren Forschung wahrhaben will. [...]
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Klaus Conermann: Der Stil des Hofmanns, S. 47. Vgl. Georg Stanitzek: Blödigkeit, S. 98, Anm. 57. Vgl. Oskar Roth: Die Gesellschaft der Honnetes Gens. Zur sozialethischen Grundlegung des honneteto-ldeals bei La Rochefoucauld. Heidelberg 1981 (Studia Romanica 41). S. 234f.; vgl. auch bereits Alexander von Gleichen-Russwurm: Das galante Europa. Geselligkeit der großen Welt 1600-1789. Stuttgart 1909 (Geschichte der Europäischen Geselligkeit in sechs Banden VI). S. 176f.; femer Oskar Roth: Höfische Gesinnung und im Frankreich des 17. Jahrhunderts. In: Europäische Hoflcultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. II, S. 239-244; Henning Scheffers: Höfische Konvention und die Aufklärung, S. 74; Dena Goodman: The Republic of Letters, S. 11 Iff. Klaus Conermann: Der Stil des Hofrnanns, S. 47.
79 Wo Politik zur angewandten Psychologie und Höflichkeit ein Mittel zu sozialem Erfolg wird, verschwimmen die Grenzen der Diskurstypen.123
Die interpretatorischen Schwierigkeiten mit dieser komplementären Anordnung unterschiedlicher Normbereiche in den prudentistisch-galanten Verhaltenslehren lassen sich allerdings keineswegs allein auf die »jüngere[/] Forschung« beschränken. Sie sind vielmehr bezeichnend für die wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte der frühneuzeitlichen Gesellschaftsethik im Grunde bereits seit der Aufklärung: Für die »Interpretationen, denen zufolge die Entwicklung der Hofmannstraktatistik vom idealen, ethisch integren Hofmann Castigliones zum immer pragmatischeren Höfling des Barockzeitalters verläuft«126, stellt die Arbeit Barbara Zaehles über Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufervon 1933 den gemeinsamen Bezugspunkt dar. Zaehles Pionierleistung besteht in der Freilegung einer bis in die mittelalterlichen Tischzuchten zurückzuverfolgenden Tradition der Gesellschaftsethik sowie in deren Verlängerung bis in die Verhaltenstraktatistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Gleichwohl weist ihre Arbeit im Bezug auf die Wurzeln der neuzeitlichen gesellschaftsethischen Reflexion in der klassischen Rhetorik ein folgenschweres wirkungsgeschichtliches Defizit auf: Der Name Ciceros etwa fällt an keiner Stelle. Statt dessen stellt sich die Autorin bewußt und demonstrativ in eine zu Beginn des 19. Jahrhunderts in polemischer Absetzung gegen die politischen »Feigheitsmaximen«127 aufklärerischer Klugheitslehren begründete Tradition der Idealisierung »[f]reie[r], durch keinen äußeren Zweck gebundene[r] und bestimmtefr] Geselligkeit«128. Folgerichtig wird dann die Frage nach der zweckdienlichen Ausrichtung der jeweils formulierten gesellschaftsethischen Ideale zur zentralen Ordnungs- und Urteilskategorie Zaehles, unter deren Maßgabe die Geschichte der Gesellschaftsethik bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts als Verfallsgeschichte eines ur-
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Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 190. Zur »plaire« als dem galanten Prinzip, in der Gesellschaft gefallen zu wollen, vgl. auch Christoph Strosetzki: Konversation, S. 103ff. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes, S. 26. Fr. D. E. Schleiermacher: Werke. Auswahl in vier Bänden. Zweiter Band Leipzig 1913 (Philosophische Bibliothek 137). S. XXVL Nr. 99. Friedrich Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. Hg. von Hermann Nohl. In: Werke, Zweiter Band, S. 1-31, hier S. 1. In diesem Sinne stellt Zaehle einleitend fest: »Grundlegend für unsere Arbeit waren Schleiermachers Gedanken zu einer Theorie des geselligen Betragens. Wir glauben, daß hier das Wesen der Geselligkeit in vollkommener Weise erfaßt worden ist, und daß die Forderungen, die hier aufgestellt sind, auf überzeitliche Gültigkeit Anspruch machen dürfen. Was Schleiermacher als Ideal des Gesellschaftsmenschen erkannte, wird immer das Ziel einer hochkultivierten, feingebildeten Gesellschaft sein. So gewannen wir an Schleiermachers Forderungen ein Kriterium, an dem die gesellschaftlichen Leistungen der Jahrhunderte zu messen und nach dem sie zu bewerten waren.« Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer, S. 3f.
80 sprünglich von »ästhetisch-formalen Richtlinien«129 bestimmten Ideals im Zuge der utilitaristischen Neuakzentuierung praktischer Philosophie erscheint.130 Einfluß und Reichweite des von Zaehle präsentierten Interpretationsrahmens lassen sich bis in die jüngere Forschung hinein verfolgen. So hält etwa KarlHeinz Göttert 1990 trotz einer ausführlichen Ausleuchtung des rhetorischen Traditionshintergrundes der Verhaltenslehren als Besonderheit des Ansatzes Gracians fest: Die stoizistische Figur des Weisen verbindet sich mit dem machiavellistischen (tacitischen) Gedanken der Selbstbehauptung und tilgt damit alle moralischen Implikationen zugunsten der >technischen< Dimension solchen Handelns; das Strategische ist das Vernünftige. Bevor der Gedanke eines von allen eingesehenen und deshalb als Regulativ wirksamen wechselseitigen Nutzenausgleichs entdeckt wird, entwickelt Gracian das Leitbild der einsamen egoistischen Persönlichkeit, die aufgrund ihrer Klugheit in der allgemeinen Instabilität nicht untergeht131
Demgegenüber hat eine Vielzahl jüngerer Forschungsbeiträge den rhetorischen Traditionshintergrund auch des von Cästiglione vorgeführten Ideals betont,137 und zuletzt hat Manfred Hinz ausführlich die systematische Relevanz der rhetorischen decorum-Lehre selbst für den wirkungsgeschichtlich zentralen Begriff der sprezzatura bei Cästiglione herausgearbeitet.133 Zuvor hatte bereits Erich Loos 129 130
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Ebd. S. 3l. Zur Rezeption dieser von Zaehle vorgelegten >Verfallsgeschichte< der Gesellschaftsethik vgl. u. a, Helmut Anton: Gesellschaftsideal und Gesellschaftsmoral im ausgehenden 17. Jahrhundert Studien zur französischen Moralliteratur im Anschluß an J.-B. Morvan de Bellegarde. Diss. Breslau 1935 (Sprache und Kultur der germanischen und romanischen Völker, Reihe C 12). S. 61 u. ö. Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale, S. 48. (Hervorhebung im Original.) Auch Ursula Geitner hält trotz ihrer ausführlichen Aufarbeitung des rhetorischen Traditionshintergrundes von Castigliones Hofmann an einer Dichotomic zwischen einer Hofliteratur >prudentistischen< (Machiavelli, Gracian) und einer solchen >ästhetischen< Zuschnitts fest: Vgl. Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert Tübingen 1992 (Communicatio 1). S. 51. Ebenso konstatiert Claus Uhlig einen »Wandel von Moral zu Politik« in der höfischen Verhahenstraktalistik in der Nachfolge Castigliones: Moral und Politik in der europäischen Hoferziehung. In: Literatur als Kritik des Lebens. Festschrift zum 65. Geburtstag von Ludwig Borinski. Hg. von Rudolf Haas u. a. Heidelberg 1975. S. 27-51, hier S. 51, 29. Vgl. dagegen Emilio Bonfatti: II Ritorno di Knigge in Italia. La Traduzione italiana di Ober den Umgang mit Menschen. In: Annali. Sezione Germanica, XXI, 3. Studi Tedeschi. Napoli 1978. S. 1-16, insbes. S. 7f. (Kommentierte Obersetzung des Aufeatzes in Wirkungen und Wertungen, S. 359-376.) Walter Spam spricht gar von einer »Instrumentalisierung der Geselligkeit« im Gefolge der Ablösung des christlichen durch das rationale Naturrecht: Christ-löbliche Fröhlichkeit Naturrechtliche und offenbarungstheologische Legitimationen der Geselligkeit in der Frühen Neuzeit In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil I, S. 71-92, hier S. 91. Spams abschließender Verweis auf »Schleiermachers Synthese von geselliger Bildung und geselliger Unterhaltung [...] in der Selbstzwecklichkeh von Kultur« (S. 92) erweist sich insofern als später Ausläufer des Fehlschlusses, der die Rezeptionsgeschichte der frühneuzeitlichen Gesellschaftsethik seit langem begleitet Bereits Wilfried Barner hatte von einem »Bündnis von Hofideal und humanistisch-rhetorischer Bildung« gesprochen: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. S. 369. Vgl. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofinannes, S. 123ff. Vgl. auch Andreas Solbach: Gesellschaftsethik und Romantheorie, S. 38ff. Für Karl-Heinz Göttert stellt die >Wende zu Natürlichkeit< in der Komplimentierkunst des beginnenden 18. Jahrhundert insgesamt
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auf den prägenden Einfluß der rhetorischen Tradition auf Castigliones Werk verwiesen und in formaler ebenso wie inhaltlicher Hinsicht gar von einer »Cicero-Imitation«154 gesprochen. Henning Scheffers faßte die inhaltlichen Parallelen des Castiglioneschen Höflings- zum Ciceronischen Rednerideal prägnant zusammen (ohne letzteres freilich explizit zu erwähnen): Die höfische Etikette steht im Cortegiano unter dem Gebot der >KlugheitLibro del Cortegianoperfekten< Hofinann ausdrücklich als »Fortsetzung und Aktualisierung von Ciceros idealem Redner«138 präsentiert. In dieser Funktion der Vermittlung und Aktualisierung klassischer gesellschaftsethischer Ideale hat Castigliones Hoßnatm in den folgenden Jahrhunderten eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet; weder der englische gentleman noch der französische honnete homme sind ohne die zahlreichen Obersetzungen des Buches zu denken,139 das auf diese Weise zum »Archetext[/]«14° einer ganzen Gattung gesellschaftsethischer Literatur wurde. Wie sich für Castiglione zeigen läßt, daß auch sein ästhetisiertes und idealisiertes Umgangsideal auf rhetorisch-strategischen Erwägungen ruht, so ist für Baltasar Graciän, der gemeinhin für die Tradition politisch-strategischen Verhaltens in Anspruch genommen wird, bereits früher hervorgehoben worden, daß sein Werk ebenfalls - möglicherweise mit anderer Schwerpunktsetzung - beide Momente der gesellschaftsethischen Tradition integriert.141 Bereits Barbara Zaehle wies Graciän »eine eigenartige Stellung« zu: »[E]r steht einerseits noch in engstem Zusammenhang mit den Renaissance-Idealen - ist ohne Castiglione nicht zu denken -, andererseits umfaßt er alles, was die Politik des 17. Jahrhunderts ausmacht.«142 Nach einem frühen Versuch zur >Ehrenrettung< Graciäns durch Karl Borinski143 wandte sich 1947 Werner Krauss gegen die These von der Entmoralisierung der Gesellschaftsethik bei Graciän.144 Schließlich arbeitete Hellmut Jansen 1958 die Einheit der sittlichen und prudentistischen Normen in der Graciänschen Umgangslehre heraus und präsentierte den Jesuiten als Vertreter des »Ideal[s] der großen Persönlichkeit als des Inbegriffs allseitiger Bildung, adeli-
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Punkt ausdrücklich gegen Ciceros eigene Position gewandt hatte« (S. 33). Diese »Verselbständigung ästhetischer Maßstäbe gegenüber religiöser und moralphilosophischer Wahrheit« sei erst »im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts unter dem Einfluß von Reformation und Gegenreformation revidiert« worden (S. 34). Vgl. J. R. Woodhouse: Baldesar Castiglione, S. 38ff., 148ff. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes, S. 13. Vgl. Erich Loos: Literatur und Formung eines Menschenideales, S. 19f. Vgl. auch Henning Scheffers: Höfische Konvention und die Aufklärung, S. 38, für den es »Farets Verdienst [ist], Castigliones Dialoge über den Cortegiano in die honneteto-Diskussion des 17. Jahrhunderts eingebracht zu haben«; außerdem Andreas Solbach: Gesellschaftsethik und Romantheorie, S. 85ff.; sowie Dena Goodman: The Republic of Letters, S. 120ff. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes, S. 31. Zu den Diskussionen der romanistischen Gracian-Forschung vgl. die Sammelrezension von Manfred Hinz: Zur Kritik einiger neuer Publikationen über Bahasar Grecian In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 11 (1987). S. 245-264. Barbara Zaehle: Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer, S. 82. Karl Borinski: Baltasar Graciän und die Hoflitteratur in Deutschland Haue/Saale 1894. Zur frühen Forschungsgeschichte vgl. Knut Forssmann: Baltasar Graciän und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung, S. 1-49. Vgl. Werner Krauss: Gracians Lebenslehre. Frankfurt/M. 1947. Insbes. S. 85.
83 ger Gesinnung und Gesittung (= das Normative), [...] des Meisters der Weltklugheit (= das Taktische) und der Lebensweisheit (= das Kontemplative).«143 Manfred Hinz hob schließlich die Bedeutung der Konversation für die Graciänsche >Lebenslehre< hervor, mithin jenes Bereichs »der hierarchisch-unverzerrten Kommunikation«, der für eine »humanistische Dialogtheorie« zu nutzen gewesen wäre, die jedoch »schon von Castiglione politisch funktionalisiert und damit in ihrer Geltung aufgelöst worden«146 sei. Zeige also bereits Castiglione Züge der pragmatischen Funktionalisierung einer vormals selbstzweckhaft konzipierten Konversationstheorie, so gehe Gracian hierin gleichwohl noch einen Schritt weiter, indem er dieser Funktionalisierung »nach dem Obsoletwerden des politischen Erziehungsanspuchs des Hofmannes gegenüber dem Prinzen bei Castiglione« kein idealisierbares und an einen spezifischen Handlungsraum gebundenes Ziel mehr unterlege. Eben dadurch arbeite Gracian einer Aufklärungsphilosophie zu, die auf der Grundlage seiner »Rationalisierungsleistung«147 in die Lage versetzt wurde, die höfische Gesellschaftsethik in eine ständeübergreifende Verhaltenslehre zu überfuhren. In welcher Weise die hierfür grundlegende Annahme einer Kompatibilität >höfischer< und bürgerlichen Handlungsräume und -Orientierungen ohne fundamentalen Bruch mit der gesellschaftsethischen Tradition aus deren eigenen Quellen entwickelt wurde,148 läßt sich an der zentralen Position aufweisen, die dem Namen Grecians in den gesellschaftsethischen Schriften Christian Thomasius' eingeräumt wird:149 Als wegweisend für die Rolle Thomasius' als Vermittler des höfischen Geselligkeitsideals im deutschen Raum gilt bis heute seine berühmte, weil erstmals nicht im gelehrten Latein, sondern auf deutsch verfaßte Ankündigung eines Kollegs Über des Orations Grund=Reguln/ Vernünfftig/klug und artig zu leben von 1687. Bereits der Titel verweist darauf, in welcher Weise Thomasius das prudentistische Regelwerk des spanischen Jesuiten verstanden wissen will: Es wird verhandelt im Zusammenhang mit der Frage, »[wjelcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle?«150 Und in dem 143
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Hellmut Jansen: Die Grundbegriffe des Bahasar Gracian. Genf; Paris 1958 (Kölner Romanistische Arbeiten N. F. 9). S. 209. Vgl. dz. auch Wilfried Barner: Barockrhetorik, S. 124-131; Helmuth Kiesel: >Bei Ho£ bei Hölk Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979 (Studien zur deutschen Literatur 60). S. 181. Manfred Hinz: Zur Kritik einiger neuerer Publikationen Ober Baltasar Gracian, S. 260. Ebd,S.263f. Karl-Heinz Göttert hält bereits als ein Charakteristikum der französischen Salonkonversation, also des vermeintlich handlungs- und zweckentlasteten Orts eines asthetisierten Geselligkeitsideals fest: »Der gesellschaftliche Ausgleich, auf den ein höflicher Umgang zielt und dem Kommunikation den Boden bereitet, ist dem Ausgleich auf dem Markt nachkonstruiert.« Kommunikationsideale, S. 84. Für Knut Forssmann stellt Thomasius die »Schlüsselfigur« der deutschen Graciän-Rezeption dar: Bahasar Gracian und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung, S. 265; vgl. auch ebd. S. 222: »Wo immer wir Gracian [in den Klugheitslehren der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, CB] begegnen, geschieht es auf Thomasius' Spuren.« Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend zu Leipzig in einem Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians Grund=Reguln/ Vemünffiig/ klug und artig zu leben. In: Christian
84 nachfolgenden Discours bemüht sich Thomasius weniger um eine strategische Klugheitslehre als vielmehr um eine Übersetzung und Adaptation der zentralen Begriffe zeitgenössischer französischer Gesellschaftsethik, so dem des honnete komme, des komme scavant, des bei esprit, des bon güot sowie der Galanterie, um schließlich festzustellen: Ich habe aber bißhero angemerckt/ daß Gracian ein bekandter und berühmter Spanier in seinem Buch/ welches er Arte de prudencia genennet/ und aus lauter Regeln geschickt und artig zu leben bestehet/ dieses seinen fürnehmsten Zweck seyn lassen/ wie er durchgehende die Menschen dahin führen möchte/ daß sie beaux esprits, hommes de bon guot & galands würden.191 Thomasius stellt Gracian also als einen vorbildlichen Vertreter der hormeteto heraus."2 Der vermeintliche Gegensatz von ästhetisch-moralischem Geselligkeitsideal und pragmatischer Klugheitslehre spielt bei seiner Graciän-Kritik keine Rolle, die sich vielmehr auf systematische Schwächen des Regelwerkes (bzw. der dem Kolleg zugrundegelegten deutschen, ausführlich kommentierten Ausgabe) richtet: So verweist Thomasius etwa darauf, »wie Gracian selbst unterschiedene Maximen hat/ die einander gantz offenbar zu contradiciren scheinen«, weil sie zu sehr auf Einzelfälle ausgerichtet seien, während doch in Politischen Dingen wegen unzehlicher variation der Umbstände von dem menschlichen Thun und Lassen nicht leicht eine Regul gegeben werden könne/ davon man nicht variantibus paulum circumstantiis ja so viel Exempel antreffen sollte/ die zur exception gehören/ und also darauff unschwer eine gantz ander [!] klingende Regel machen könte . Eine weitere Passage aus der ebenfalls in den Kleinen teutschen Schrifften veröffentlichten Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft/ Das Verborgene des Hertzens anderer auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen macht den für Thomasius unauflösbaren Zusammenhang von conduite und Klugheit unmißverständlich deutlich:
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Thomasens Allerhand bißher publicirte kleine Teutsche Schriflten/ Mit Fleiß colligiret und zusammen getragen; Nebst etlichen Beylagen und einer Vorrede. Halle 1701. (ND mit einem Vorwort von Werner Schneiders als Band 22 der Ausgewählten Werke. Hildesheim, Zürich, New York 1994.) S. 1-70. Vgl. dz. auch Emanuel Peter: Geselligkeiten, S. 37ff. Christian Thomas eröffiiet Der Studierenden Jugend [...], S. 50. Vgl. dz. auch Wilfried Bamer: Barockrhetorik, S. 148, in bezug auf die Gracian-Rezeptin Lohensteins: »Es ist nicht ohne Bedeutung, daß dort, wo zum ersten Mal ein unmittelbarer Einfluß der Lebenslehre Gracians greifbar wird, gleich auch Maß, Moralhat und >Diskretion< in den Vordergrund rücken. Denn im Einsatz für diese Ziele, gegen die amoralische Trivialisierung des >politischen Lebensidealsc, sehen ja auch die beiden wichtigsten propagatores politicae in Deutschland eine ihrer Hauptaufgaben: Weise und Thomasius.« (Hervorhebung im Original.) Zum Verhältnis von Politik und Moral im 17. Jahrhundert vgl. ebd., S. 135ff. Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend [...], S. 54f. Vgl. dz. Knut Forssmann: Bahasar Gracian und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung, S. 175ff.; sowie Salvatore Giammusso: Sprache der Macht und Macht der Sprache. Politik und Rhetorik in Bahasar Gracians Oraculo Manual. In: GRM N. F. 43 (1993). S. 302-314. Auch Giammusso erklärt sich die »Widerspruchslogik« (S. 305) des Handorakels aus der situativen Anpassung der Maximen an jeweils unterschiedliche Erfordernisse (vgl. S. 309).
85 Zu dem so schickt es sich auch im gemeinen bürgerlichen Leben nicht mit einem Menschen zu conversiren/ dem man zuvorher sagt/ daß man in der Conversation seine Geheimniß wider seinen Willen erforschen wolle/ sondern man kann alsdenn von dieser Wissenschaffl die besten Proben geben/ wenn man sich anstellet/ als gebe man auff die Personen/ die man ergründen will/ am wenigsten Achtung/ welches aus der Conduite [...] leichtlich abzusehen ist1M Conduite und Klugheit bilden für Thomasius keine Gegensätze, sondern stehen viehnehr in einem gegenseitigen BedingungsVerhältnis: Die wahre Klugheit verstößt nicht gegen die Regeln des Anstände, weil dies den Erfolg der prudentistischen dissimulatio gefährden würde. Zugleich bildet diese Klugheit die Grundlage des Anstands als eines Rahmens, in dem sich die je einzelnen Interessen und Zweckorientierungen eine den geselligen Zusammenhang nicht gefährdende, sondern diesen vielmehr befördernde Form geben. Ohne diesen stabilisierenden geselligen Zusammenhang konnte die Klugheit wiederum nicht über die für ihren Kalkül nötigen stabilen Handlungsvoraussetzungen verfügen: »Derohalben ist keiner ein guter Politicus, der nicht in seinen Verrichtungen zeiget/ daß er ein guter Ethicus sey«155. Der Anstand bildet den systematischen Ort, an dem Politik und Ethik einander angeglichen und in der Mitte zwischen der Unverschämtheit des unkontrollierten Eigennutzes und der übertriebenen >Schamhaftigkeit< der >schönen Seele< als den beiden Extremen der ungeselligen Einzelexistenz gehalten werden: Inzwischen ist es doch ausgemacht/ daß die Lehre von der Wohlanständigkeit im gemeinen Leben höchstnothwendig und nützlich sey/ denn ohne diese Lehre werden die Leute entweder unverschämt/ und verursachen durch ihre unverschämte Aufführung allerhand Unruhe in der Republique, oder sie werden gar zu schamhaffiig und blöde/ daß man im gemeinen Leben nichts mehr mit ihnen anfangen kann.156 Wenn Thomasius betont - der soeben zitierte Hinweis auf die Konversation »im gemeinen bürgerlichen Leben« verweist bereits darauf-, daß »die Affecten grosser Leute [...] eben die Principa [haben] als der geringen« und daß daher selbst »die Machiavellischen Stückgen ja so wohl unter den Bauern als bei Hoffe in Schwang gehen«,157 wird deutlich, daß er eine Ausweitung der Prinzipien höfischer Gesellschaftsethik auch auf den Umgang der unteren Stände für möglich hält. Gleichwohl habe »die rechtschaffene galanterie« nach wie vor »bey Hoffe [... ] eigentlich ihren Sitz«138, und es sei »was unanständiges [...]/ wenn man die Manieren anderer Stände nachahmet«159. Obwohl Thomasius also daran festzuhalten versucht, »daß die Sitten der Menschen nach dem Unterscheid der Stände 154
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Dem Durchlauchtigsten/ Großmächtigsten Fürsten und Herrn Friderich dem III. [...] Offeriret in Unterthänigsten Gehorsam die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen WissenschafnV Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen/ Christian Thomas. In: Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte kleine Teutsche Schrifflen [...], S. 449-490, hier S. 481. Herrn Christian Thomasens Höchstnöthige Cautelen, S. 415. Ebd., S. 367. Ebd., S. 477. Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend [...], S. 30. Herrn Christian Thomasens Höchstnöthige Cautelen, S. 380.
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auch sehr unterschieden sind/ ja auch unterschieden seyn müssen«,140 ist seine Definition des Honnete Homme offensichtlich nicht mehr allein an die Sphäre des höfischen Umgangs gebunden, wenn er feststellt: Zwar so viel un honnSte homme betrifft; halt ich wohl dafür/ daß sie gemeiniglich einen ehrlichen und gerechten Mann dadurch verstehen/ der niemand mit Vorsatz beleidiget oder vervortheilet/ sein gegebenes Wort genau beobachtet/ denen dürftigen/ so seine Hülffe vormothen haben/ willig und gerne beyspringet/ auch von seinen Gutthaten nicht viel Wesens machet/ noch dieselbe vorrücket [...].
Fragen des praktischen Umgangs werden von Thomasius ausdrücklich ständeübergreifend behandelt, und der »ungemeine Nutzen«, den er seinem Kurtzen Entwurfj'der politischen Klugheit zuspricht, bezieht sich darauf, daß dieser auch diejenigen einbezieht, »die nicht vom Studiren/ sondern vom Hofe/ vom Degen/ von der Kauffinannschaffi/ Haußwirthschafft u. d. g. Profession machen«1". Mögen also auch die Sitten und Gebräuche der einzelnen Stände unterschiedlich sein und bleiben - schließlich handelt es sich hier um Fragen des politischen, d. h. des zeitlich und räumlich veränderlichen decorum161 -, so lassen sich dennoch die Grundlagen einer gescheiden Conduite allgemein formulieren und ableiten, denn der Mensch befinde sich auch/ wo er wolle [...]: Er wird in kleinen und grossen Städten so wol als auch in Dörflern zulängliche Exempel der Klugheit und Thorheit/ wiewohl jener nur etwa Fünffe gegen Hunderten von diesen antreffen; aus beyden aber/ wenn ihm seine Selbstbesserung ein Ernst ist/ viele tausend nützliche Anmerckungen ziehen können164.
Dabei gilt es festzuhalten, daß die außerhöfischen Lebensbereiche nach den Kategorien der höfischen conduite abgehandelt werden. Damit hat sich zwar der Kreis der Adressaten erheblich erweitert, von einer »Ablösung« höfischer durch - wie immer genau zu fassende - >bürgerliche< Normen kann jedoch keine Rede sein. Angemessener ließe sich von der Übertragung höfischer Geselligkeits- und Umgangsnonnen auf außerhöfische Bereiche sprechen, d. h. statt um eine Be160 161
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Ebd Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend [...], S. 9f. Von diesem überständischen Anspruch, den Thomasius für seine eigene Aonnetefä-Konzeption reklamiert, sieht Knut Forssmarm auch seine Kritik am Titel der ersten deutschen Gracian-Übersetzungen von Johann Leonhard Sauter bestimmt, den dieser aus der französischen Übersetzung Amelots übernommen hatte (L'Homme De Cour Oder Baltasar Grecians Vollkommener Staats= und Wett= Weise mit Chur=Sächsischer Freyheit. Leipzig 1686): Homme de Cour bedeutet für Thomasius eine »Einschränkung der gesellschaftlichen Geltung des Handorakels«, dessen Regeln er »für jedermann, mindestens für den gebildeten Bürgerstand bereitgestellt wissen« wollte: Knut Forssmann: Baltasar Gracian und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung, S. 153. Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit/ sich selbst und ändern in allen menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen/ und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen [...]. Franckfurt und Leipzig 1710. ND Frankfurt/M. 1971. Bl. X2V. Das lateinische Original erschien 1705 unter dem Titel: Primae linae de jure consuttorum prudentia consultatoria; die erste deutsche Auflage folgte 1707. S. dz. u., S. 90ff. Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit, Bl. X2V.
87 schränkung ihres Geltungsanspruchs handelt es sich gerade umgekehrt um dessen Ausweitung.163 Diese Ausweitung ist zudem bereits bei Graciän angelegt, der den Hof als Abbild der Welt verstand, so daß seine Hofklugheit zugleich als Weltklugheit gelten konnte.166 Allerdings - und dies mag zur ständeübergreifenden Wirkung seines decorwn-Konzepts beigetragen haben - schafft Thomasius' Klugheitslehre eine systematisch kontrollierte Explikation des Ineinandergreifens von Klugheit und Moral, wie es in den traditionellen höfischen Umgangslehren lediglich implizit angelegt und erst im Zuge der historischen Rekonstruktion ihrer Genese aus der klassischen Rhetorik zum Vorschein zu bringen war: Das erste Kapitel seines Kurfzen Entwurffs der Politischen Klugheit ist unter der Überschrift »Von der Klugheit insgemein« im wesentlichen der Explikation und Systematisierung der zentralen Begriffe von Weißheit, Klugheit und Tugend gewidmet. Thomasius konstruiert einen unaufhebbaren Zusammenhang zwischen diesen Begriffen unter dem naturrechtlichen Grundsatz der Geselligkeit, indem er die Klugheit als Kunst der Beseitigung der äußeren Hindemisse auf dem Weg zur Glückseligkeit bestimmt, dabei jedoch nicht auf die Widrigkeiten der Natur, sondern auf diejenigen der menschlichen Umgebung abhebt und feststellt, daß die Klugheit eine Lehre sey/ die da zeiget/ wie ein Schüler der Weißheit auf dem Wege der Tugend dergestalt fortgehen solle/ daß er sich weder durch die Exempel der Thorheh [...] auf Irrwege verleiten/ noch durch ihre betrugliche oder gewaltsame Widersetzung an seinem tugendhafiten Wandel hindern lasse.167
Die Weißheit stellt in Thomasius' Systematik keine moralisch indifferente Perfektion lediglich der theoretischen Vernunft dar, sondern »eine Lehre/ welche vornemlich auff das Gute siehet«168, indem ihre Würde von dem Nutzen abhängig gemacht wird, den sie für die Beförderung der eigenen wie der allgemeinen Glückseligkeit zu stiften vermag.169 Daher ist sie als eine Wissenschaft, die auch auf die Zwecke des Handelns zugreift, unter den gegebenen Bedingungen einer Wirklichkeit, die diesen Zwecken nicht von sich aus adäquat ist und in der »sich überall Böses unter dem Guten findet«170, nicht zu trennen von der Klugheit als 169
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Eine Ausweitung des höfischen zu einem »ständeübergreifende[n] Verhaltensideal« weist Wilhelm Voßkamp unter Verweis auf Thomasius (und etwa zehgleich) auch für Christian Friedrich Hunold nach: Das Ideal des Galanten bei Christian Friedrich Hunold In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Band II, S. 61-66, hier S. 62. Vgl. Helmuth Kiesel: >Bei Hof, bei HöllWeißheit und Klugheit«, die guten Ziele und die (bloß) erfolgreichen Mittel aufeinander zu beziehen und so einen uneingeschränkten Machiavellismus durch Moral zu limitieren«: Die Sprache der Verstellung, S. 29. Daß dies jedoch einen Traditionsbruch gegenüber den höfischen Verhaltenslehren seit der Renaissance bedeute, läßt sich im Blick auf den oben herausgestellten gemeinsamen rhetorischen Traditionsbezug der höfischen Gesellschaftsethik kaum aufrecht erhalten. Was Thomasius in der angeführten Begriffsbestimmung unternimmt, ist keine Neuverortung der Klugheit im Bereich des praktischen Wissens, sondern lediglich die Explikation ihres durchaus traditionellen, wiewohl bis dahin in der Regel implizit vorausgesetzten Ortes. Zur systematischen Verknüpfung der Ideen »des Nützlichen und des moralisch Guten« bei Thomasius vgl. auch Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht, S. 153ff.; sowie Knut Forssmann: Bahasar Gracian und die deutsche Literatur zwichen Barock und Aufklärung, S. 180.
89 Vermittlung des esprit de conduits als Ziel der nachfolgenden Umgangsregeln hervorgehoben wird.172 Die von Markus Fauser anhand der ästhetisierenden Kritik des pragmatischen Umgangs im ausgehenden 18. Jahrhundert getroffene Feststellung, daß sich von »Anfang an [... ] zwei völlig verschiedene Lebensauffassungen gegenüber« standen,173 ist mithin zu präzisieren: Für den überwiegenden Teil des >geselligen Jahrhunderts< läßt sich - wenigstens im Blick auf das zeitgenössische Bewußtsein - durchaus von einer Vermittlung aristokratisch-höfischer und bürgerlicher Geselligkeitsvorstellungen sprechen. Fausers eigener begriffsgeschichtlicher Befund, daß im deutschen Terminus >Gespräch< die im romanischen Sprachraum zum Ausdruck kommende Unterscheidung zwischen zweckgebundener und zweckentlasteter Kommunikation nicht realisiert werde,174 verweist auf die von Beginn an integrative Tendenz der deutschen Rezeption einer auf kommunikativen Strukturen aufbauenden gesellschaftsethischen Umgangslehre. Daß die auf den Bereich höfischer Pragmatik zurückgreifenden Modelle >bürgerlicheix Geselligkeit dann gegen Ende des Jahrhunderts einer wesentlich ästhetisch profilierten Kritik unterzogen werden, und zwar einer Kritik, die ihrerseits mit der Betonung symmetrischer Kommunikation auf ein Moment der höfischen Umgangslehren zurückgriff, muß dabei keineswegs bestritten werden. In der Tat stehen sich zu diesem vergleichsweise späten Zeitpunkt jene »völlig verschiedene[n] Lebensauffassungen« gegenüber, die ebenso fundamental verschiedene Geselligkeits- und Gesellschaftsauffassungen implizieren.175 Für den hier in Frage stehenden frühen Zeitpunkt ist jedoch festzuhalten, daß die Integration moralischer, ästhetischer und pragmatischer Aspekte des geselligen Umgangs sich zunächst stabil von der rhetorischen Tradition der gesellschaftsethischen Quellen bis in deren deutsche Rezeption fortsetzte und die von Fauser betonte
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S. dz. u., S. 243f. So ist der Feststellung Georg Stanitzeks aber dessen eigene zeitliche Einschränkung hinaus zuzustimmen, wenn er betont, daß das frühneuzeitliche, an den Bedingungen der höfischen Gesellschaft orientierte »Politik-Konzept mit einer in der aristotelischen Tradition fundierten Theorie und einer von dieser eingefaßten, womöglich leicht an das machiavellistische Erbe anklingenden Pragmatik zunächst ein auch der bürgerlichen Lebensführung weitgehend kompatibles effektives Orientierungsmodell bot«: Blödigkeit, S. 20. Vgl. auch Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 29ff; außerdem Wolfram Mauser: Geselligkeit, S. 11 ff., der die Etablierung der Tugenden, die den bürgerlichem Wandel bestimmen (Ausdauer, Fleiß, Pünktlichkeit, Verläßlichkeit, Redlichkeit, Sparsamkeit), u. a. auf die GracianRezeption Thomasius' zurückfuhrt, denn damit »war das Ideal einer galanten Lebensführung zwar nicht überwunden, es konnte aber eine dem Bürger angemessene Kontur finden.« (S. 15) Vgl. auch bereits Norbert Elias' Bemerkungen zur Kompatibilität von »berufsbürgerlichkapitalistische [m]« und »höfische[m] Konkurrenzraum«: Die höfische Gesellschaft, S. 160. Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhunderts. 32. Vgl. ebd., S. 27ff. Allerdings zeichnet sich die ästhetisch profilierte Umgangskritik des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts durch eine doppelte, die >höfische Dekadenz< ebenso wie die bürgerliche Versachlichung< angreifende Stoßrichtung aus, so daß sich auch hier jeder Versuch einer ständespezifischen Zuordnung dieser > Lebensauffassungen< in unlösbare Widersprüche verwickeln muß.
90 Unversöhnlichkeit zweier Umgangsmodelle sich erst durch die spätere Auflösung dieses integrierenden Zusammenhangs ergab.176 Was sich in der gesellschaftsethischen Literatur bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in einer Weise überlagerte und ineinandergriff,177 daß es den Rezipienten schwerfiel, das geschilderte wechselseitige Bedingungsverhältnis von Anstand und Klugheit als Grundlage all dieser Konzeptionen zu erkennen, erfahrt bei dem »Decorumsystematiker«178 Christian Thomasius eine zukunftweisende Neukonzeptualisierung. In seiner Lehre vom decorum unterscheidet dieser grundlegend zwischen einem natürlichen und einem politischen decorum: Diese. äuserliche [!] Zeichen aber sind entweder allen Menschen gemein/ oder es finden sich dieselben nur bey einigen insonderheit Jene gehören zur natürlichen Wohlanständigkeit/ diese aber zu denen im engem Verstande genommenen höfflichen Sitten oder dem Decoro politico
Diese Unterscheidung erfolgt im Hinblick auf die zugrundeliegenden Verhältnisse zwischen den Beteiligten: Während das natürliche decorum »eben wie das in engerm Verstande genommene Recht der Natur/ oder wie die Regeln der Gerechtigkeit/ aus der gemeinen Gleichheit aller Menschen hergeführet werden« muß, setzt das politische decorum »eine Ungleichheit derer Menschen zum voraus«.180 Thomasius nutzt die systematische Differenzierung im folgenden zu einer grundlegenden Trennung zweier gesellschaftlicher Handlungsbereiche, wenn er feststellt, »daß der Mensch in einem einsamen Leben/ oder wo er alleine ist/ in dergleichen Thun leben könne wie er wolle« sowie »daß in sehr gleicher 176
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Vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 9f. Dieser Zusammenhang zwischen einer neuen bürgerlichen und der traditionell-höfischen Gesellschaftsethik kommt bei Autoren des 18. Jahrhunderts gelegentlich auch explizit zur Sprache: In der »[z]weyte[n] und vermehrte[n] Auflage« seiner Philosophischen und patriotischen Träume eines Menschenfreundes sucht etwa Isaak Iselin nach einer Möglichkeit, die »der Gesellschaft vorträglich[en]« Leistungen von Handel und Kaufmannschaft von ihren der allgemeinen Sittlichkeit abträglichen Folgen, »der unedeln Gewinnsucht, dem Neide und der Mißgunst«, zu trennen. Statt der Aufstellung eines neuen, bürgerlichen normativen Kodex verpflichtet er die »Kaufleute« jedoch auf die Regeln der überkommenen aristokratischen Gesellschaft und verweist sie auf »die Tugenden, die man vom dem Adel, den sie verdringen [!]«, gefordert hatte: Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes. Zweyte und vermehrte Auflage. Zürich 1758. S. 183f, 188. (Hervorhebung im Original.) Ein Umstand, der weniger auf ein Bewußtseins- oder Systematisierungsdefizit zurückzuführen ist, sondern vielmehr dem Stil- und praktischen Wissenschaftsideal der Autoren entsprach: Vgl. dz. u. a. Sebastian Neumeister: Höfische Pragmatik. Zu Baltasar Gracians Ideal des >DiscretoGroßsystemen< in die Räume der von diesen ausgelagerten >Kleinsysteme< und hebt damit ihren privaten, nicht auf gesellschaftliches Handeln insgesamt zugreifenden Charakter hervor. Intime Interpenetration findet also nach wie vor einen legitimen gesellschaftlichen Ort; dieser ist jedoch bedingt durch die ihn umgebende funktionale Ausdifferenzierung und zugleich gebunden an die Kleinräumigkeit sowie die quantitative Begrenztheit der Teilnehmer, die gleichermaßen für die Einbeziehung der vollen Komplexität einzelner Individuen notwendig sind: Im Gegensatz zu einer langen Tradition, die unter dem Titel der Freundschaft bis weh ins 18. Jahrhundert hinein fortgeschrieben wurde, ist es nicht möglich, in der Intimität persönlicher Beziehungen die Perfektionsform sozialer Systeme oder gar die eigentliche >Mhte< der Gesellschaft zu sehen. Die Steigerung von Intimität ist durch eine funktionale Ausdifferenzierung entsprechender Kleinsysteme bedingt Sie erfordert in wesentlichen Hinsichten untypisches oder sogar [...] nicht auf Dauer zu stellendes Verhalten. Intimität kann, wegen ihrer Abhängigkeit von spezifischen Formen der Zurechnung, nicht routiniert werden.212
Ansätze zu einer theoretischen Unterscheidung zwischen sozialer und intimer Interpenetration finden sich bereits in der frühen Sozialphilosophie Thoma-
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Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 324. Die Nähe dieses Befundes zu dem oben zitierten, den Simmel in seiner Philosophie des Geldes vorlegte (s. o., S. 33), ist evident Ebd., S. 305. Die Bedeutung der grundlegenden Unterscheidung Luhmanns für die literarhistorische Analyse und Interpretation macht etwa ein Beitrag Michael Schillings deutlich, in dem dieser sich um die Herausarbeitung des politisch-utopischen Anspruchs des Pegnesischen Schäfergedichts bemüht: Schilling macht zwar deutlich, daß die »Formen des auf Ausgleich und Anerkennung des jeweiligen Partners bedachten Umgangs, den die Schäfer miteinander pflegen, [...] auch für die politische Ebene als Vorbild und Orientierung dienen könnten«. Gleichwohl werde das eigentliche politische Anliegen, die Beförderung des innergesellschaftlichen wie des äußeren Friedens, auf einer mit dieser intimen Harmonie nur mittelbar zusammenhängenden Ebene formuliert: Gesellschaft und Geselligkeit im Pegnesischen Schäfergedicht und seiner Fortsetzung. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil I, S. 473-482, hier S. 478f.
98 sius',213 insbesondere in seiner Theorie des decorum. Sie wurden, ungeachtet der Revision, der er seinen früheren Entwurf der Liebesethik unterziehen sollte, am Beginn des 18. Jahrhunderts in einer Weise rezipiert, die geeignet war, von den literarisch artikulierten Entwürfen empfindsamer Moral- und Sozialphilosophie aufgenommen und verwertet zu werden. Thomasius' Theorie des decorum stellt mithin den systematischen Ort dar, an dem die theoretische Unterscheidung des säkularen Naturrechts in bezug auf seine anthropologischen Prämissen als eine Unterscheidung zweier unterschiedlicher Formen gesellschaftlicher Kommunikation realisiert wird: Natürliche Sympathie und über Selbstbezüglichkeit vermittelte Geselligkeit bilden nicht mehr nur historisch und systematisch streng voneinander zu unterscheidende anthropologische Grundeigenschaften, sondern konstituieren nach Thomasius' Theorie des decorum ebenso grundlegend zu unterscheidende Räume geselligen Handelns. Indem auch die strategisch ausgerichteten Klugheitslehren an der Möglichkeit der Annäherung an eine Form des vertrauten und auf der Grundlage natürlicher Liebe operierenden Umgangs festhalten, schaffen sie die Voraussetzungen für die nicht mehr ihren eigenen systematischen Ansprüchen unterworfene literarische Reklamierung dieser Möglichkeit. Für eine auf diese Weise zu einer eigenständigen Funktion findende Literatur bot neben Thomasius' Systematik des decorum die Differenzierung der status wa/wra/w-Reflexion, wie sie oben anhand der Konzeption Pufendorfs nachvollzogen wurde, einen besonders geeigneten Anknüpfungspunkt: Indem die Reflexion auf den status integritatis als historisch vergangenen und epistemologisch nicht wieder einholbaren Zustand aus dem Bereich des wissenschaftlichen Naturrechts ausgegliedert wurde, wurde sie zugleich für literarische, nicht allein der Wirklichkeit, sondern auch der Möglichkeit des menschlichen Wesens verpflichtete Bearbeitungen >freigestelltscienza civile< des Giovanni della Casa, S. 89f, 147. Dagegen betont Norbert Elias die fehlende Trennung zwischen öffentlicher und privater Lebenssphäre in der vorbürgerlichen Gesellschaft (Die höfische Gesellschaft, S. 175f), die jedoch vorausgesetzt werden muß, um die Bereiche intimer und sozialer Interpenetration systematisch klar voneinander unterscheiden zu können. Dir Fehlen mag insofern einen Grund darstellen für die mangelnde systematische Trennschärfe zwischen beiden Bereichen in den frühen Verhaltenslehren.
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liehe Verlegung des Schauplatzes einer derart idealisierten Geselligkeit in eine uneinholbare Vergangenheit wurde dabei der drohende Konflikt mit der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer naturrechtlichen Begründung vermieden: Die idealisierte Gleichheit wurde an einen historischen Ort verlegt, der vom säkularen Naturrecht ausdrücklich für die anthropologische Grundlegung seiner Normen zurückgewiesen, zugleich jedoch als denkmöglich und gar aus moralischer Perspektive wünschenswert ausgewiesen worden war. Eine funktionsgeschichtliche Rekonstruktion der zuvor im wesentlichen nach herrschaftssoziologischen Kategorien angeordneten sozial- und ideengeschichtlichen Prozesse im Zusammenhang mit der bukolischen Dichtung der Frühen Neuzeit ermöglicht mithin eine Neuakzentuierung, in deren Rahmen sich die Aporien der älteren sozialhistorischen Deutungsansätze vermeiden lassen. In diesen Rahmen lassen sich auch die Ergebnisse bisheriger Forschung integrieren, obwohl diese auf einer anderen methodischen Grundlage gewonnen wurden: hu Anschluß an die von Garber vorgenommene Zuordnung der Variationen »weltlichefr] Schäferdichtung« zu den unterschiedlichen sozialen Trägerkreisen der »höfische[n] Welt«, »des Landadels« sowie des »gelehrten Bürgertum[s]«214 ließe sich etwa die soeben aufgestellte These zur sozialen Funktion bukolischer Dichtung noch erweitem: Aufgrund ihrer Vielfalt und Variationsbreite, die sich dennoch um einen einheitlichen inhaltlichen Kem gruppierte, boten die bukolischen Gattungen nicht nur inhaltlich ein besonders geeignetes Medium des Transportes bislang ständisch gebundener gesellschaftsethischer Ideale, sondern brachten für deren ständeübergreifende Verbreitung darüber hinaus besonders gute Voraussetzungen mit.213 Die Überprüfung des terminologischen Analyseinstrumentariums legt daher im Blick auf die eingangs skizzierten Auseinandersetzungen in der Forschung einen Verzicht auf konkrete ständische Zuordnungen nicht nur literarischer Gattungen, sondern auch der von diesen transportierten Inhalte nahe. Statt dessen läßt sich der beschriebene Prozeß im Blick auf die Kategorien von Selbstbezüglichkeit einer- und Zweckentlastung andererseits in systemtheoretischer Perspektive reformulieren. Er erscheint dann als Folge des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses unter dem Leitbegriff der funktionalen Differenzierung selbstbe214 213
Klaus Garber: Der Locus Amoenus und der Locus Terribilis, S. XIVf. Eine ähnliche Funktion wies Erich Köhler dem höfischen Schäferroman in Gestalt derAstrae bereits für den Übergang zum absolutistischen Ordnungsstaat zu, um grundsätzlich darauf aufmerksam zu machen, daß »[0]berlieferte Formen [...], deren Schicksal mit dem Ende einer bestimmten Epoche besiegelt zu sein schien, [...] überleben und sogar eine neue Epoche programmatisch einleiten [können], wenn sie die historische Dialektik der vorausgehenden Epoche in ihren Uterarischen Konflikten zum äußersten Punkt vorangetrieben haben und sie daher selbst zum Austragungsort des Umschlags in neue Inhalte werden.« Ober die Möglichkeiten historisch-soziologischer Interpretation (aufgezeigt an französischen Werken verschiedener Epochen). In: Ders.: Esprit und arkadische Freiheit Aufsätze aus der Weh der Romania. Frankfurt/M., Bonn 1966. S. 83-103, hier S. 91. Diese für eine sozialhistorische Interpretation der Bukolik zentrale Position durfte Garber bewegen haben, auch den Aufsatz Köhlers unter dem Titel Absolutismus und Schäferroman: Honora D 'Urfes >Astr&e< in seine Textsammlung zur Europäischen Bukolik und Georgik (S. 266-270) zu integrieren.
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züglicher Prozesse im Interesse der Komplexitätsreduktion und Effektivierung. Dessen Auswirkungen auf die literarhistorischen Prozesse des 18. Jahrhunderts lassen sich unter Berücksichtigung der beschriebenen gesellschaftsethischen Differenzierungen rekonstruieren. In diesem Sinne wird im folgenden auch für die weitere Entwicklung im 18. Jahrhundert zu fragen sein, welcher Status und welche Funktion der gegenbildlichen Präsentation idealisierter Sozialbeziehungen in der Literatur und Sozialphilosophie der Aufklärung zukamen.™
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Wertvolle neue Aufschlüsse, auf deren Grundlage möglicherweise auf eine Zusammenfuhrung des hier vorgelegten Analyseansatzes mit einem historisch deutlicher konturierten Bürgerbegriff hinzuarbeiten wäre, sind von dem für die kommenden Jahre angekündigten Arkadienbuch Klaus Garbers zu erwarten. Die besondere Beleuchtung, die in diesem Zusammenhang die Prosaekloge im Kontext der Sozietätenbewegung des 17. Jahrhunderts erfahren wird, durfte der Frage nach dem bürgerlichen Gehalt der Gattung wichtige neue Impulse verleihen. Insofern es gelingt, von hier aus konkrete Verbindungen zur Wiederaufnahme der Gattung in der idyllischen Dichtung des 18. Jahrhunderts zu knüpfen, wäre die Entwicklung unter diesem Blickwinkel gegebenenfalls noch einmal neu aufzurollen. Bei dieser Gelegenheit sei Prof. Garber als Mitherausgeber der Schriftenreihe zur Frühen Neuzeit noch einmal ausdrücklich für seine Aufgeschlossenheit und Kooperationsberehschaft gegenüber einem Analyseansatz gedankt, der seinen eigenen Arbeiten mit grundlegender Kritik begegnet. Diese Offenheit äußerte sich auch darin, daß er dem Verfasser bislang unpublizierte Teile des Arkadienbuches zur Verfügung stellte, die sich als geeignete Grundlage erweisen könnten, die Dichotomic der Forschungsansätze in ein gemeinsames Untersuchungsinteresse zu überführen.
2. Das Salomon-Geßner-Problem Die Grundsätze des Naturrechts der Geselligkeit im Spannungsfeld von bürgerlicher Biographie und idyllischer Dichtung Läßt sich die soziale Funktion bukolischer Dichtung in der Frühen Neuzeit im Zusammenhang der Wandlungsprozesse der Gesellschaftstheorie in den Disziplinen von Naturrecht und Gesellschaftsethik bestimmen, so erscheint auf dieser Grundlage auch die gattungsgeschichtliche Entwicklung in einem neuen Licht, die den Obergang zur Idyllik des 18. Jahrhunderts bestimmt. Der Rückgriff auf die zeitgenössische bzw. unmittelbar vorhergehende soziale Theoriebildung ermöglicht eine ausführliche Aufarbeitung der sozialhistorischen Zusammenhänge im Umkreis idyllischer Dichtung. Die Verlagerung des theoretischen Standpunktes von einem am Begriff der Emanzipation orientierten Ansatz auf eine differenzierungstheoretische Position bietet hierfür zudem ein Verfahren an, das die aus herrschaftssoziologischen Dichotomisierungen hervorgehenden Aporien zu umgehen vermag. Um dies zu demonstrieren, bildet die Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts auch deshalb einen geeigneten Gegenstand, weil das hohe Maß an philologischer Erschließung der relevanten Texte und Kontexte1 in einem auffälligen MißverFederfÜhrend sind hierbei weiterhin Renate Böschenstein und Helmut J. Schneider: Vgl. dz. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 1977 (Sammlung Metzler, Realien zur Literatur, Abt E: Poetik 63). (In der ersten Auflage erschien diese nach wie vor verbindliche, wenn auch recht knapp gehaltenen Darstellung bereits 1967.) Dies.: Arbeit und Muße in der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts. In: Goethezeit Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Festschrift für Stuart Atkins. Hg. von Gerhart Hoffmeister. München 1981. S. 10-30; Dies.: Idyllischer Todesraum und agrarische Utopie: zwei Gestaltungsformen des Idyllischen in der erzahlenden Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. von Hans Ulrich Seeber und Paul Gerd Klussmana Bonn 1986 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 372). S. 25-40; Dies.: Die Lotosesser. Beobachtungen zu den psychischen Implikationen der Gattung Idylle. In: Johannes Cremerius (Hg.): Zur Psychoanalyse literarischer Form(en). Würzburg 1990 (Freiburger titeraturpsychologische Gespräche 9). S. 153-177; Helmut J. Schneider: Einleitung; Ders.: Die sanfte Utopie. In: Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen. Hg. von dems. Frankfurt/M. 1978. S. 353-423; Ders.: Naturerfahrung und Idylle in der deutschen Aufklärung. In: Erforschung der deutschen Aufklärung. Hg. von Peter Pütz. Königstein/Ts. 1980 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 94). S. 289-315; Ders.: Gesellschaftliche Modernität und ästhetischer Anachronismus. Zur geschichtsphilosophischen und gattungsgeschichtlichen Grundlage des idyllischen Epos. In: Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, S. 13-24. Für den Bereich der Kunstgeschichte vgl. u. a. Klaus Bernhard: Idylle. Theorie, Geschichte, Darstellung in der Malerei, 1750-1850. Zur Anthropologie deutscher Seligkeitsvorstellungen. Köm, Wien 1977 (Dissertationen zur Kunstgeschichte 4); Rolf Wedewer, Jens Christian Jensen: Die Idylle.
102 hältnis zu deren nach wie vor recht vager sozialhistorischer Einordnung steht. Ablesen laßt sich diese Diskrepanz beispielhaft an der im Gefolge der philologischen Erschließungsarbeit Renate Böschensteins und Helmut J. Schneiders entstandenen Studie von Gerhard Hämmerling über Die Idylle von Geßner bis Voß: Auf der Grundlage flächendeckender Quellenstudien ist der Verfasser in der Lage, eine ausführliche Geschichte der Idylle als literarischer Gattung im 18. Jahrhundert zu schreiben, die sich ebenso Fragen literarischer Produktion wie denjenigen der Rezeption idyllischer Literatur zuwendet. Die Bemühungen um eine sozialhistorische Verortung der Gattung beschränken sich dabei jedoch auf Problemstellungen, die nicht über die traditionelle Eskapismustheorie hinauszuführen vermögen. Diese bildet die Grundlage für eine Würdigung des Gegenstandes nach moralischen statt nach genuin literaturwissenschaftlichen Kriterien: So ist etwa von dem »bedenklich schwach entwickelten Verantwortungsgefuhl[/]«2 derjenigen Idyllendichter die Rede, deren poetische Produktionen sich nicht an die soziale Wirklichkeit des zeitgenössischen Landlebens hielten. Ergänzt wird diese Einschätzung lediglich durch Hinweise auf den funktionsgeschichtlichen Aspekt einer gegenbildlichen Bedeutung idyllischer Dichtung.3 Die sozialen Referenzen der idyllischen Gegenbilder werden dabei jedoch kaum differenziert,4 geschweige denn mit der Tradition bukolischer Dichtung und ihrer funktionalen Integration in den sozialen Rahmen des Hofes ins Verhältnis gesetzt.3 An den von diesem - nicht allein für die Idyllenforschung weithin repräsentativen - sozialhistorischen Vorgehen offen gelassenen Fragen insbesondere der gattungshistorischen und funktionsgeschichtlichen Kontinuität am Obergang von der höfischen Bukolik zu den verschiedenen Spielarten der >empfindsamenrealistischen< und bürgerlichem Idyllik des 18. Jahrhunderts wird sich daher der vorgestellte systemtheoretische Ansatz zu bewähren haben. Damit ist zugleich dem jüngst von Günter Häntzschel konstatierten Desiderat bisheriger IdylEine Büdform im Wandel. Zwischen Hofmung und Wirklichkeit 1750-1930. Köln 1986 (DuMont-Dokumente); Salomon Gessner. [Hg. von] Martin Bircher, Bruno Walter unter Mitwirkung von Bernhard von Waldkirch. Zürich 1982. Zu den neueren Publikationen vgl. auch den Forschungsbericht von York-Gothart Mix: Idyllik in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Zur Alteren, vornehmlich positivistisch orientierten Idyllenforschung vgl. neben den im vorangegangenen Kapitel angesprochenen Arbeiten auch Oskar Netoliczka: Schäferdichtung und Poetik im 18. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte 2 (1889). S. 1-89; sowie Nikolaus Müller: Die deutschen Theorien der Idylle von Gottsched bis Geßner und ihre Quellen. Diss. Straßburg 1911. Gerhard Hämmerling: Die deutsche Idylle von Geßner bis Voß. Theorie, Kritik und allgemeine geschichtliche Bedeutung. Frankfurt/M., Bern 1980 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 398). S. 29. Vgl. insbes. ebd., S. lOOff. Vgl insbes. ebd., S. 75ff. Ebenso wenige neue Aufschlüsse bietet die Arbeit Norman Gronkes über die Idylle als literarisches und soziales Phänomen (Diss. Frankfurt/M. 1987): Auch der reklamierte »historisch-kritischef/] Ansatz[/]« (S. 5) sowie der Versuch, »Idylle nicht als besondere Uterarische Gattung, sondern als spezifischen Uterarischen Ausdruck eines gesellschaftlichen Bewußtseins« zu lesen (S. 9), ermöglichen vor dem Hintergrund eines an seiner politischen Machtlosigkeit verzweifelnden Bürgertums lediglich eine zugespitzte Neuauflage der Eskapismustheorie. Bei der literarischen Idylle handelt es sich für Gronke daher um nichts weiter als um »Uterarische Manifestationen von Kompensationsstrategien des bürgerlichen Individuums« (S. 10).
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lenforschung Rechnung zu tragen und »eine[r] sozialgeschichtlich fundierte[n] Gattungs- und Kulturgeschichte der Idylle«* zuzuarbeiten. Ähnliches wie für die Forschung zur aufklärerischen Idyllendichtung insgesamt gilt auch für diejenige zu Leben und Werk Salomon Geßners, dessen Idyllik dem weiteren Gattungsverlauf im 18. Jahrhundert das Paradigma vorgab: Wo in den siebziger Jahren die (wirtschafts-)bürgerliche Existenz des Idyllendichters und -maiers als Forschungsproblem >entdeckt< wurde,7 erschien deren Verhältnis zur >ästhetischen Existenz< Geßners als Ausdruck von sozialen Antagonismen auf dem Weg zur Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft. Dies bedeutete ohne Frage einen Fortschritt gegenüber der vorangegangenen Identifikation der wirklichen Biographie mit der fiktiven Idealität der idyllischen Szenerie, die nicht allein das wissenschaftliche Geßner-Bild beherrscht hatte. Gleichwohl handelte es sich bei der Deutung von Leben und Werk im Sinne eines latenten Widerspruchs um eine nicht vom Gegenstand, sondern von einem umfassenden geschichtstheoretischen Modell abgeleitete Vorentscheidung. Diese implizierte zugleich die Annahme eines fundamentalen Bruches zwischen der traditionellen Bukolik und Geßners Idyllendichtung sowohl bezüglich ihrer formalen und inhaltlichen Innovationen als auch und gerade im Hinblick auf ihren sozialen Geltungsanspruch und den daraus abzuleitenden sozialhistorischen Status. Im Bezug auf diesen vermeintlichen sozialhistorisch zu rekonstruierenden Bruch sind mit dem vorgestellten theoretischen Standpunktwechsel grundlegende Neubestimmungen verbunden. Von diesen wird zu zeigen sein, daß sie zur Lösung der in den vorangegangenen sozialhistorischen Deutungsansätzen verbleibenden Interpretationsprobleme dienen können. Zugleich werden sie sich als geeignet erweisen, die zeitgenössische Wahrnehmung der Geßnerschen Idyllik sowie die daran anschließenden poetologischen Diskussionen ernster zu nehmen, als dies bislang möglich war.
2. l Funktionsgeschichtliche Kontinuität: Naturrecht und Idyllentheorie im 18. Jahrhundert Vor dem Hintergrund der im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Begründung des sozialhistorischen Neuansatzes ist im folgenden auch für die Idyllik des 18. Jahrhunderts nach der Bedeutung eines naturrechtlichen Standpunktes für deren soziales Selbstverständnis zu fragen. Damit fällt der Blick auf einen historischen Kontext idyllischer Dichtung, der in den bislang vorliegenden gattungsgeschichtlichen Darstellungen eine eher marginale Rolle spielte: Helmut J. SchneiGflnter Häntzschel: [Art.:] Idylle. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Band 2, S. 122-125, hier S. 125. VgL etwa Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte der Idylle. Kronberg/Ts. 1976 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft 18).
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der konstatierte zwar aus Anlaß von Johann Adolf Schlegels Abhandlung Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie* (zuerst 1751) einen »Umbruch von der humanistischen zur naturrechtlichen Vergangenheitsutopie«9 innerhalb der Theorie der Idylle, verzichtete jedoch auf eine genauere Spezifizierung dieses neuen Bezugsrahmens. Dies blieb nicht ohne Folgen für seine Interpretation des noch im 18. Jahrhundert mehrfach neu aufgelegten »bedeutendste^] theoretische[n] Entwurfes] zwischen Fontenelle und Schiller«10: Schlegel kommt an einer Stelle seiner Abhandlung explizit auf das Naturrecht zu sprechen, an der er mehrere Verfahrensvorschläge macht, wie der Idyllendichter »den Stand der Natur wiederfinden« könne, »nachdem derselbe (Dank sei es unsern so fein ausgearbeiteten Sitten!) sich so ganz verloren hat«11. Als eine erste - allerdings ausdrücklich nicht, wie Schneider anzunehmen scheint, auf die Idyllen Salomon Geßners bezogene12 - Möglichkeit schlägt Schlegel vor, daß er, gleich dem Philosophen, welcher uns das Naturrecht lehren will, von dem Menschen die verschiednen Verhältnisse absondere, die aus der bürgerlichen Gesellschaft ihren Ursprung haben, und zusehe, in was für eine Lage derselbe dadurch versetzet werde.13
Schneider knüpft an diesen Vorschlag Schlegels die Feststellung, damit werde »die Schäferdichtung zum Paradigma des >allgemein-menschlichen< Gehaltes der jungen bürgerlichen Literatur«14, fragt jedoch nicht weiter nach der Identität des von Schlegel in Anspruch genommenen »Philosophen«. Damit umgeht er allerdings eine entscheidende Frage, denn Schlegel formuliert an dieser Stelle keineswegs ein der naturrechtlichen Naturstandsreflexion insgesamt zugrundelie8
In: Batteux, Professors der Redekunst an dem königlichen Collegio von Navarra, Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen Obersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Leipzig 1751. S. 391-408. Jeweils erweitert in der zweiten und dritten Auflage der Obersetzung, die 1759 bzw. 1770 unter leicht verändertem Titel erschienen. Im folgenden wird die Abhandlung Schlegels nach ihrer ausführlichsten Version im »zweyten Theil« der »[d]ritte[n] von neuem verbesserte[n] und vermehrte[n] Auflage« (Leipzig 1770, S. 343-430) zitiert, weil der Verfasser sich hier sowohl mit Salomon Geßners Idyllen als auch mit Moses Mendelssohns Idyllendefinition von 1760 auseinandersetzt, denen für die nachfolgenden Überlegungen zentrale Bedeutung zukommt Wesentliche Veränderungen gegenüber den ersten beiden Auflagen werden dabei in den Anmerkungen vermerkt. 9 Helmut J. Schneider Einleitung, S. 48. Vgl. dz. auch Klaus Garber, der im Unterschied zu Schneider deutlich macht, daß allenfalls das Naturrecht Rousseaus in diesem Zusammenhang in Anspruch zu nehmen wäre: Zu einer Naturform der Poesie im Zeitalter des Naturrechts. In: »Sei mir, Dichter, willkommen!« Studien zur deutschen Literatur von Lessing bis Junger. Kenzo Miyashha gewidmet Hg. von Klaus Garber u. a. Köm, Weimar, Wien 1995. S. 7-15, insbes. S. llf. 10 Helmut J. Schneider Einleitung. S. 48. Zu Schlegels Poetik im Anschluß an Batteux und ihrer zeitgenössischen deutschen Rezeption vgl. auch Joyce S. Rutledge: Johann Adolph Schlegel. Bern, Frankfurt/M. 1974 (German Studies in America 18). S. 197ff. 11 Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 402. Der gesamte Abschnitt wurde von Schlegel erst von der zweiten Auflage an in die Abhandlung eingefügt (dort S. 492ff.). 12 Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 50; dagegen Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 420ff. Eine Auseinandersetzung mit Geßners Idyllen war Schlegel selbstverständlich erst von der zweiten Auflage an möglich. " Ebd., S. 403. 14 Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 51.
105 gendes Verfahren, sondern vielmehr dasjenige eines bestimmten populären Zeitgenossen: Gemeint ist Jean-Jacques Rousseau, der seine Methode bereits in den ersten Absätzen des Diskurses Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen von 1755 (dt. 1756) entsprechend vorstellte: Indem ich dieses so geartete Wesen aller empfangenen übernatürlichen Gaben und aller künstlichen Fähigkeiten, die es nur infolge großer Fortschritte erwerben konnte, entblöße, indem ich es also betrachte, wie es aus den Händen der Natur hervorgegangen sein mußte, sehe ich ein Tier, weniger stark als die ändern, weniger beweglich als die ändern, aber, alles in allem genommen, am vorteilhaftesten von allen ausgerüstet11
Mit der Berufung auf Rousseau rückt Schlegel jedoch eher von den wissenschaftlich anerkannten naturrechtlichen Reflexionen ab, als daß er an diese anknüpft. Ein - wie auch immer zu begründender und zu beurteilender - ursprünglichvorreflexiver Zustand des Menschen konnte keinerlei streng verallgemeinerbare, normative Begründungsfunktion für eine verbindliche Regelung der sozialen Beziehungen zwischen solchen Menschen übernehmen, die diesen phylogenetischen Kindheitszustand unwiderruflich verlassen hatten. Diesen differenzierten Argumentationsstand hatte das säkulare Naturrecht bereits mit der Systematik Samuel Pufendorfs erreicht, und auf dieser Grundlage ruhten die naturrechtlichen Nonnmodelle, die sich durch einen strengen Gegenwartsbezug auszeichneten: Ebensowenig wie einem möglichen, von ursprünglicher Sympathie geprägten, vergangenen Naturzustand systematische Bedeutung zukam, richteten sich die naturrechtlichen Normen auf eine ideale gesellschaftliche Zukunft. Ihr Gegenstand war der gegenwärtig lebende Mensch, wie ihr Handlungsrahmen durch die zeitgenössischen sozialen Bedingungen bestimmt wurde. Als wesentliches, auch von Rousseau nicht in Frage gestelltes Merkmal der Natur des Menschen galt deren dynamischer Charakter. Nicht Natur im Sinne von Ursprünglichkeit, sondern Natur im Sinne der Allgemeinheit und Unhintergehbarkeit bestimmter menschlicher Eigenschaften bildete daher die zentrale, normativ in Anspruch zu nehmende Instanz des säkularen Naturrechts. Schneiders Annahme einer - gar noch im Singular formulierten - »naturrechtliche[n] Vergangenheitsutopie« grenzt daher an eine contradictio in adjecto. Dies gilt um so mehr, als sie, soweit sie sich wenigstens aus der Konzeption Rousseaus herleiten ließe,16 kaum zur Konstitution eines idyllischen Naturzustands verwendet werden kann: Denn Rousseau hatte - was sich offenbar auch Schlegel nicht hinreichend klarmacht - auf ihrer Grundlage seine These vom un13
Jean-Jacques Rousseau: Diskurs Ober den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. In: Ders.: Schriften zur Kurturkritik. Eingeleitet, übersetzt und hg, von Kurt Weigand. Hamburg S1995 (Philosophische Bibliothek 243). S. 61-269, hier S. 85. Nicht zuletzt aus dem Erscheinungsjahr von Rousseaus Zweitem Diskurs erklärt es sich daher auch, daß ein entsprechender Verweis auf das Naturrecht in der ersten Auflage der Abhandlung von 1751 noch fehlt und erst 1759 aufgenommen wird. Zur Bedeutung der Sozialtheorie Rousseaus für die Theorie der Idylle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts s. u., Abschnitt 2.4. '* Was gleichwohl unter Berücksichtigung von dessen Äußerungen zur Unmöglichkeit einer Rückkehr in den glücklichen Mittelzustand des Goldenen Zeitalters (s. dz. u., S. 172£, Anm. 283) ebenfalls problematisch erscheint
106 geselligen Naturzustand des in natürlicher Umgebung auf sich allein gestellten Wilden entfaltet, mit dem er sich gegen die naturrechtlichen Rekonstruktionen nicht nur Thomas Hobbes', sondern auch Samuel Pufendorfs abgrenzte.17 Daß dagegen ebenso fur Salomon Geßner wie auch noch für Maler Müller, der seinem idyllischen Vorgänger in mancher Beziehung kritisch gegenüberstand,18 der Geselligkeitsgrundsatz verbindlich blieb, macht ein Blick auf deren Patriarchaden deutlich, die der Idyllendichtung in den hier interessierenden Aspekten an die Seite gestellt werden können.19 In Geßners Der Tod Abels (1758) ermöglichen erst die »melancholische Trauer« und der »einsame)/] Fußtritt« Kains die teuflische Einwirkung Anamelechs auf dessen träumende Einbildungs-
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S. dz. u., S. 167f. S. dz. u., S. 120ff. Die enge Beziehung zwischen Idyllen- und Patriarchadendichtung machen die Christoph Martin Wieland zugeschriebenen und in Johann Georg Sulzers Artikel zum Hirtengedicht im ersten Teil seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771) aufgenommenen Gedanken über die Idille deutlich, in denen Geßner als dem »ersten wahren und glücklichen Nachahmer des Theokrit« lediglich ein Vorschlag zur Vervollkommnung seiner Idyllen gemacht wird: »Er ist würklich in die Schäferweh, in das goldne Alter eingedrungen, und seine Willen würden vielleicht ganz vollkommen seyn, wenn er die Scene derselben nach Mesopotamien oder Chaldäa versetzt, und anstatt der ungereimten Vielgötterey der Griechen, seinen Hirten die natürliche Religion, mit einigem unschuldigen Aberglauben vermischt, gegeben hätte.« In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinander folgenden, Artikeln abgehandelt, von Johann Georg Sulzer, Mitglied der Königlichen Academic der Wissenschaften zu Berlin [etc.]. Erster TheU, von A bis I. Leipzig 1771. S. 538£ Zitiert nach: Wielands gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke. Vierter Band Prosaische Jugendwerke. Hg. von Fritz Homeyer und Hugo Bieber. Berlin 1916. S. 702-704, hier S. 703. Ähnlich hatte auch bereits Schlegel von der zweiten Auflage (S. 514f.) seiner Abhandlung an argumentiert: Vgl. Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 427ffi Fritz Bergemann macht die »persönliche Einwirkung Bodmers und Wielands« Ar Geßners Patriarchadendichtung verantwortlich: Vgl. Salomon Geßner. Eine literarhistorisch-biographische Einleitung. München 1913. S. 67. In einem Schreiben an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 18.6.1757 gibt Geßner gleichwohl keinen Hinweis auf eine derartige Einflußnahme, sondern bezeichnet seinen Tod Abels als Versuch, »ob mir die ernsthaftem Musen auch günstig seyen,« anhand einer »Materie, wo die grössesten Leidenschaften und die wunderbarsten und traurigsten Situationen vorkommen«. Zft. nach Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims Uterarischem Nachlasse, hg. von Wilhelm Körte. Zürich 1804. S. 288-290, hier S. 289. Zur Tradition der Verbindung christlicher und pastoraler Inhalte in der Schaferdichtung des 17. Jahrhunderts vgl. Ernst Günter Carnap: Das Schäferwesen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts und die Hirtendichtung Europas. Diss. Frankfurt/M. 1939. S. 58ff.; sowie Martina Eicheldinger: Friedrich Spee - Seelsorger und poeta doctus. Die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 110). S. 287ff. Zum Zusammenhang zwischen Idyllen- und Patriarchadendichtung bei Geßner vgl. zuletzt Robert M. Maniquis: Salomon Gessner's Der Tod Abels and the Gentle Death of Sacrifice. In: Reconceptualizing Nature, Science, and Aesthetics. Contribution a une nouvelle approche des Lumieres helvetiques. Proceedings of the Conference organized by the Center for 17* & 18* Century Studies (University of California, Los Angeles William Andrews Clark Memorial Library). February 27-March 2, 1997. Ed. by Patrick Coleman u. a. Geneve, Paris 1998 (Travaux sur la Suisse de Lumieres 1). S. 167-180.
107 kraft,20 die ihn schließlich zum Brudermord treibt. Maler Müller hat Geßners Tod Abels für seine erste zusammenhängende, von ihm selbst als Idylle bezeichnete21 Veröffentlichung »zum Vorbild gedient«22. In. Adams erstes Erwachen und erste seelige Nächte (1777) zeichnet auch er seinen Cain zur Motivierung der bevorstehenden23 Tat als einsamen Melancholiker, während sich die erstgeborene Familie darum bemüht, ihn in ihre gesellige Abendrunde zu integrieren: Da sie nun so liebreich sitzen, [...] kommt Cain der Laube vorbei [...] und schauet wie ein Fremdling herein. Eva ihn erblickend, ruft liebevoll ihm gleich also zu: komm herein mein gesegneter Sohn, [...] sitze nieder zu mir, du bist müde und hungrig. [...] Cain nickt ihr zu und spricht auf Sehe: thu nicht so viel Mutter, laß seyn, ich bin nicht müde, hab auch kein Hunger - Adam spricht jetzt auch: Cain mein erstgebohraer, komm herein, sitze zu deiner Mutter, oder dort zu deiner geliebten, oder hier neben mir, wenn du wilt, Abel wird dir Platz machen Schnell winkt Eva ihrem Sohne Abel, da rückt Abel freundlich hinunterwarts und spricht: lieber Bruder, komm, sitz wieder einmal zu mir her, komm mein gesegneter Bruder, aber Cain schießt trotzige Blicke aus seinen Löwenaugen auf ihn, und geht murmelnd wieder ohne umzuschauen zur Thüre hinaus.24
Einsamkeit und Ungeselligkeit bilden bei Geßner wie auch bei Müller die Grundlagen für eine folgenschwere Fehlentwicklung, an deren Ende der Mensch erstmals Hand an seinesgleichen legte. Dagegen schützt allein eine ursprüngliche, auf Unmittelbarkeit und Sympathie gründende Geselligkeit, die sich jedoch bereits in diesen frühen Tagen der Menschheit als zu schwach erweist, um die bevorstehende Tat zu verhindern. Der ursprüngliche Naturmensch Rousseaus könnte dagegen allenfalls von seiner der Ungeselligkeit korrespondierenden Vereinzelung vor einer solchen Tat bewahrt werden. Allerdings integrierte Rousseau das Ideal des Goldenen Zeitalters schließlich doch noch in seinen Entwurf und verlegte es in den von der natürlichgeselligen Tugend des Mitleids bestimmten Mittelzustand zwischen Natur- und 20
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Salomon Geßner: Der Tod Abels. In: Geßners Werke. Auswahl. Hg. von Prof. Dr. Ad. Frey. Berlin, Stuttgart o. J. (Deutsche National-Litteratur. Historisch-kritische Ausgabe 41). ND Hildesheim, New York 1973. S. 99-186, hier S. 149f Vgl. O. Heuer: Einleitung. In: Mahler Müller: Idyllen. Vollständige Ausgabe in drei Banden unter Benutzung des handschriftlichen Nachlasses. Hg. und eingeleitet von O. Heuer. Erster Band. Leipzig 1914. S. XI-LXXI, hier S. XXXVffl. Im Vergleich zu den zeitgenössischen religiösen Epen Klopstocks, Bodmers und Wielands hält Emil Ermatinger auch für Geßners Patriarchade an der Zuordnung zur idyllischen Gattung fest: Vgl. Salomon Gessner. Der Mensch und der Dichter. In: Salomon Gessner 1730-1930. Gedenkbuch zum 200. Geburtstag hg. vom Lesezirkel Hottingen. Zürich 1930. S. 1-52, hier S. 38. O. Heuer Einleitung, S. . Und in der drei Jahre zuvor erschienenen »Skizze« Der erschlagene Abel bereits vorweggenommenen. Maler Müller Adams erstes Erwachen und erste seelige Nächte. In: Ders.: Idyllen, Erster Band, S. 3-118, hier S. 78f. Vgl. auch Adams Klage Ober die Einsamkeit angesichts einer geselligen Tierweh: Ebd., S. 102f. Nicht allein diese Parallele weckt Zweifel an der These Helmut J. Schneiders, die Kain-Figur sei bei Maler Müller gegenüber derjenigen Geßners »aufgewertet« worden: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, S. 153, Anm. 6. VgL außerdem Den.: Die sanfte Utopie, S. 39 If. Zur Ablehnung des Melancholicus auf der Grundlage des naturrechtlichen Geselligkeitsgrundsatzes s. o., S. 91, Anm. 185; zur Rolle der Melancholie in der Auseinandersetzung um Johann Georg Zimmermanns Einsamkeit s. u., S. 200f, 213ff. u. 230ff.
108 depravierter Gesellschaftsexistenz des Menschen. Dies war - u. a. von Moses Mendelssohn - als zentrale systematische Inkonsequenz seines zweiten Diskurses kritisiert worden,23 für die auch Rousseaus emphatische Rezeption der Geßnerschen, seinem ungeselligen Naturzustand widersprechenden Idyllen spricht.26 Seine systematischen Schwierigkeiten mit der theoretischen Begründung des vergangenen Idealzustands können somit ebenso wie die neueren naturrechtlichen Begründungen menschlicher Geselligkeit die >Berufung< der Kunst begründen, sich auf die darstellende Bearbeitung desjenigen zu richten, das aus epistemologischen Gründen aus dem Rahmen wissenschaftlicher Betrachtung herausfallen mußte.27 So kann auch Johann Georg Sulzer unter dem Stichwort Hirtengedichte im ersten Teil seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771) betonen: Was RouBeau mit seiner bezaubernden Beredsamkeit nicht ausrichten konnte, die Welt zu überzeugen, daß der Mensch durch übelausgedachte, unnatürliche Gesetze, lasterhaft und unglücklich werde, das kann der Hirtendichter uns empfinden lassen.28 Die Dichtung läßt empfinden, wovon die Theorie nicht zu überzeugen vermag: Die Idealität der ursprünglichen Natur des Menschen wird zum Gegenstand der ästhetischen Geschmacks-, nicht mehr der theoretischen Verstandes- bzw. Vernunftbildung. In seiner Untersuchung über die Genese des neuzeitlichen Geschmacksbegriffs hat Hans-Jürgen Gabler ausfuhrlich dessen Hervorgehen aus
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Zu Mendelssohns Rousseau-Kritik s. u., Abschnitt 2.4. In dem Sendschreiben an den Herrn Magister Leßing in Leipzig, das Mendelssohn seiner Obersetzung des Zweiten Diskurses Rousseaus anhängte, führt er Rousseaus Zueignungsschrift an die Republik Genfan, die ihn davon überzeugt habe, daß Rousseau nicht ernsthaft die Ungeselligkeit als den der menschlichen Natur angemessenen Zustand ausweisen wollte. Seine »angebohrne Liebe zur Geselligkeit« sei lediglich von einer »mürrische[n] Laune in ihm unterdrücket« worden: MGS, , S. 81-109, hier S. 85. Vgl. dz. das Schreiben Rousseaus an Geßners französischen Obersetzer Michael Huber vom 24.12.1761, das Johann Jakob Hottinger im Anhang seiner frühen Geßner-Biographie wiedergibt: Salomon Geßner. Zürich 1796. S. 156f. (Hottingers Biogaphie erschien gleichzeitig noch in einer aufwendigeren Ausstattung mit Titelvignette und großzügigerem Druck in deutschen Lettern.) Was auch die häufig betonte Erweiterung des Mimesis-Begrifis in der Poetik Johann Adolf Schlegels im Sinne einer >schöpferischen Nachahmung< zu erklären vermag, die sich nicht wie die Wissenschaft allein auf das empirisch unmittelbar Gegebene zu richten hat Diese Erweiterung bestimmt beispielsweise in der oben angesprochenen Abhandlung Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie deren Abgrenzung zum »Landgedicht«, das »ganz auf das Wahrscheinliche gebauet ist« und als »Poesie der Malerey« bestimmt wird, um sie von der »den Empfindungen gewidmeten]« Ekloge abzusetzen, die lediglich noch »hypothetisch wahrscheinlich« ist, weil sie eine »Weh« zur Darstellung bringt, »die unter die möglichen gehört, weil sie zusammenstimmt«, also zwar nicht unbedingt mit der empirischen Wirklichkeit korrespondiert, aber dennoch innere Konsistenz aufweist: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 356,373,405f. Diese Unterscheidung bildet bereits den Schwerpunkt der ersten Auflage der Abhandlung (S. 391-399) und wird, lediglich in einigen Formulierungen verändert, in die spateren Fassungen übernommen. Vgl. dz. etwa Hugo Bieber: Johann Adolf Schlegels poetische Theorie in ihrem historischen Zusammenhange untersucht Berlin 1912 (Palaestra CXTV). S. 87ff., 170ff. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste [...], Theil l, S. 539. (Hervorhebungen CB.)
109 den Regelwerken der Rhetorik verfolgt.M Dabei verweist er ausdrücklich auf Differenzierungen innerhalb der gesellschaftsethischen Traktatistik im Zusammenhang mit der Rezeption und bürgerlichem Adaptation der politischen Klugheitslehre Baltasar Grecians: Die Antinomie, bürgerliche Konkurrenz und gleichzeitige soziale Verbundenheit miteinander in Einklang bringen zu wollen, sucht man dadurch aufzuheben, daß man den politisch taktierenden Geschmack Gracians an einen ihm übergeordneten >ethischen Geschmackx mit der Verpflichtung auf das moralisch Gute und dem Mitmenschen Förderliche bindet10
Die Regelung der differenzierten sozialen Zusammenhänge wird damit unterschiedlichen Instanzen zugeordnet: Der Verstand und Klugheit erfordernden Gesellschaft wird eine Instanz zur Seite gestellt, die auf effektive gesellige Dispositionen zuzugreifen vermag. Die von Gabler nahegelegte Hierarchisierung dieser Instanzen ist dabei insofern nicht notwendig, als die unmittelbar geselligen Neigungen nurmehr bedingt mit dem Anspruch verbunden werden mußten, die Einsichten des wohlverstandenen Eigeninteresses< zu regulieren. Diese vermochten vielmehr aus sich selbst heraus den stabilen Zusammenhang einer auf wechselseitiger Beförderung des eigenen Nutzens beruhenden Gesellschaft zu begründen. Dadurch ließen sich die Aspekte natürlicher Sympathie von im engeren Sinne staatsrechtlichen Begründungsfunktionen entlasten und ihre Bedeutung auf die Regelung des privaten und persönlichen Umganges einschränken. Von diesem Differenzierungsprozeß naturrechtlich fundierter Geselligkeitsbegründung >profitierte< die >schöne Literatun (und mit ihr die Idyllendichtung) insofern, als sich ihr mit der Beförderung der Geschmacksbildung eine eigene genuine Aufgabe zusprechen ließ, die sich nicht auf ein affektives, für VernunftOperationen lediglich empfänglich machendes Propädeutikum beschränkte. Daß es sich bei den literarischen Operationen zur Beförderung des Geschmacks im Rahmen idyllischer Dichtung jedoch keineswegs um einen utopischen Ansatz, gar um den einer »Vergangenheitsutopie« handelte, machte Sulzer in dem folgenden Absatz deutlich, indem er fragte: Aber ist es nicht eine Grausamkeit, den Menschen eine Lebensart und eine Glükseeligkeh, die sie unwiederbringlich verlohren haben, wieder kennen zu lehren? Nein. Der Unglükliche bäh es nicht für ein Unglük, wenigstens angenehme Träume zu haben. Und dann ist das Urtheil der Verdammniß vielleicht noch nicht so unwiedeiruflich, wenigstens nicht über alle einzele [!] Menschen ausgesprochen. Vielleicht daß auch die sanften Eindrüke der Hirtenpoesie überhaupt manches nur durch Vorurtheile verwilderte Gemüth wieder zubesänftigen [!] vermögen.31
Individuelle Geschmacks- und »Gemüth[s]«bildung im Interesse einer möglichen Wiedergewinnung moralischer Integrität unterscheidet den literarischen Anspruch grundsätzlich von einer wie immer gearteten naturrecM/cA fundierten 29
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Vgl. Hans-Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt/M., Bern 1982 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 549). Ebd., S. 44. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste [...], Theil l, S. 539f.
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utopischen Spekulation. Eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustande ist auf dieser Grundlage allenfalls für den einzelnen zu erwarten - und dies nicht aufgrund erneuerter Strukturen des Zusammenlebens, sondern unter der Bedingung persönlicher moralischer Läuterung. Eben diesen Umstand sollte sich Friedrich Schiller nach dem - aus seiner Sicht - Scheitern einer gesellschaftlichen Erneuerung allein durch die Veränderung der gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen in der Französischen Revolution zunutze machen: Die Perspektive der Idyllendichtung ist auf den einzelnen Menschen gerichtet, dessen natürliche Moral durch das idyllische Vorbild möglicherweise reaktiviert werden kann. Daher erhält die Idylle in seinem ästhetisch-geschichtsphilosophischen Programm die prominente Stelle einer Gattung, mit deren Hufe sich die anthropologischen Voraussetzungen für die Errichtung des >moralischen Staates< schaffen lassen sollten.32 Erst hier macht sich mithin der »utopische[/J Charakter« der Idyllendichtung geltend, den auch Paul LeemannVan Elck bereits Geßner zuzuschreiben geneigt ist, wenn er feststellt, als »erziehender Dichter« füge sich dieser in ethischer Hinsicht an den Bodmerischen Kreis [an], und sein moralischer Einfluß auf die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit darf nicht zu gering eingeschätzt werden. Dieser war großer als derjenige Bodmers, da Gessner, indem er den Zeitgeschmack traf, eine viel grössere Volkstümlichkeit erlangte als jener und in alle Schichten des Volkes vieler Länder eindrang.33
Ähnlich wie Sulzer hatte rund 40 Jahre zuvor bereits Johann Christoph Gottsched im Biedermann argumentiert, die Schäferdichtung könne in ihrem Absehen von »Obrigkeit und Gesetze[n]«, von »Stolz und Pracht der Höfe«, von der »Wollust der Städte« sowie von »Geitz und Wucher« »der Tugend den Dienst thun, daß sie in ihrer wahren Schönheit vor den Menschen erscheinen, und durch ihre Reitzungen selbst die Augen ihrer Feinde an sich ziehen wird«34. 32 33
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S. dz. u., Abschnitt 4.1. Paul Leemann-Van Elck: Salomon Gessner. Sein Lebensbild mit beschreibenden Verzeichnissen seiner literarischen und künstlerischen Werke. Zürich 1930 (Veröffentlichungen der Schweizer Bibliophilen Gesellschaft 6). S. 33, 41. (Einige kurze Passagen dieser »Jahresgabe« der Bibliophilen Gesellschaft erschienen zugleich unter dem Titel: Salomon Geßner im Kreise zeitgenössischer Freunde. In: Das Bodenseebuch 17 [1930]. S. 67-72.) Mögen diese Ausführungen auch zutreffen, so reichen sie doch nicht hin, im engeren Sinne von einem »utopischen Charakter« der Idyllen zu sprechen. 1982 bemüht sich Helmut J. Schneider dann um eine angemessenere Terminologie und bezeichnet die idyllische Dichtung des 18. Jahrhunderts im Blick auf Schillers Neubestimmung als »utopielatent«: Utopie und Landschaft im 18. Jahrhundert In: Utopieforschung, Bd. 3, S. 172-190, hier S. 172. Diese Konkretisierung macht zugleich deutlich, daß es sich bei dem Versuch, der aufklärerischen Idyllendichtung utopische Potenz zuzusprechen, um eine nachträgliche und in der normativen Perspektive der Weimarer Klassik vorgenommene Auszeichnung handelt In ähnlicher Weise verfuhr bereits Rolf Geißler Versuch über die Idylle. In: WW 11 (1962). S. 271-278, hier S. 278. Vgl. dz. auch die grundsätzlichen Einwände Renate Böschenstein-Schäfers gegen die Verwendung des Utopiebegriffi zur Kennzeichnung idyllischer Gegenbilder: Arbeit und Muße in der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts; außerdem diejenigen, die York-Gothart Mix im Anschluß an Norbert Elias äußert: Idyllik in der Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 75ff. Der Biedermann. Fünf und sechzigstes Blatt 1728 den 2 August S. 58. (Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727-1729 mit einem Nachwort und Erläuterungen hg. von Wolf-
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Die Idyllendichtung vertritt damit in der aufklärerischen Poetologie jenen moralischen Standpunkt, der sich durch die Einbeziehung des >ganzen Menschern auszeichnet und den Niklas Luhmann von dem Standpunkt der funktionalen Differenz unterscheidet, der den gesellschaftlichen Zusammenhang (auch im Naturrecht) konstituiert.35 Daß dieser moralische Standpunkt einst seinerseits gemeinschaftskonstitutiv gewirkt haben mag, ändert nichts daran, daß er unter den Bedingungen der unumkehrbaren gesellschaftlichen Entwicklung lediglich noch als Urteilskategorie zu dienen vermochte, die den indivdiduellen, nicht mehr den gesellschaftlichen Umgang bestimmte. Ebenso wie die auf ihn rekurrierende Kunst konnte er daher (wenigstens bis zu Friedrich Schillers idealistischer Neubestimmung des Idyllischen) keinerlei im engeren staatsrechtlichen Sinne utopische Bindungskraft mehr beanspruchen. Dies sei auch als differenzierende Ergänzung zu Reinhart Kosellecks bekannten und wirkungsmächtigen Thesen zur Pathogenese der bürgerlichen Welt verstanden, in denen er »[d]as Moralische, das danach trachtet, politisch zu werden,« als »das große Thema des achtzehnten Jahrhunderts« bezeichnet und damit das >bürgerliche< von dem im wesentlichen ordnungsrechtlich bestimmten absolutistischen Staatsverständnis unterscheidet36 Keineswegs soll bestritten werden, daß - und zwar im wesentlichen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Anschluß an die Philosophie Rousseaus - reformerische oder gar revolutionäre Staatstheorie auch auf dem Versuch aufbaute, die Differenzierung zwischen Recht und Moral aufzuheben. Allerdings macht eine eher systemtheoretisch als herrschaftssoziologisch akzentuierte Rekonstruktion dieser Auseinandersetzungen nicht nur auf die strukturellen Gründe für den illusionären Charakter dieser Aufhebungsversuche aufmerksam. Auf ihrer Grundlage wird deutlich, daß die problematisierte Differenzierung nicht lediglich Kennzeichen der absolutistischen Staatsorganisation war, sondern sich in der Entwicklung zur bürgerlichen als einer sich funktional differenzierenden Gesellschaft gar noch verschärfte. Dadurch läßt sich zudem ein genauerer Zugriff auf die bürgerlichem Reformbestrebungen im 18. Jahrhundert erlangen, der zeigt, daß literarischen Thematisierungen der moralischen Defizite staatsrechtlicher Organisation nicht notwendig das Ziel einer Aufhebung der gesellschaftlichen Differenzierungen unterlegt werden muß. Vielmehr lassen sich diese literarischen Rekurse auf eine ursprüngliche Sittlichkeit im Gegenteil als Realisierungen des Differenzierungsprozesses nun auch für den Bereich der Ästhetik verstehen, in deren Rahmen mit der Darstellung eines bewußt »kontrafaktischen Vernunftideal[s]«37 ein zwar äs-
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gang Martens. Stuttgart 1975 [Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts].) Zur Theorie und Praxis der Schäferdichtung bei Gottsched vgl. bereits Oskar Netoliczka: Schaferdichtung und Poetik im 18. Jahrhundert, S. 7ff. S.o.,S.96f. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Weh. Freiburg, München 1959 (Orbis Academicus. Geschichte der politischen Ideen in Dokumenten und Darstellungen). S. 31. Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 49.
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thetischer und moralischer, aber nicht notwendig auch staatsrechtlicher Geltungsanspruch verbunden wurde. Der Bereich der >schönen Künste< rungiert dabei gewissermaßen als Statthalter der vorgesellschaftlichen, unmittelbar-geselligen Natur des Menschen innerhalb der >künstlich< vermittelten Geselligkeit der zeitgenössischen Gesellschaft. Der idyllische Rekurs auf die ursprüngliche Natur des Menschen steht somit nicht in Konkurrenz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit funktionaler Differenzierung, sondern fugt sich in diese ebenso ein wie ihr Medium, die Kunst, sich in das Zusammenspiel gesellschaftlicher Subsysteme einfügt.38 Erst in der idealistischen Ästhetikkonzeption Friedrich Schillers wird der Kunst (und mit ihr der Idylle) dann ein im engeren Sinne utopischer Auftrag zuteil, weil der - allerdings erst noch zu schaffenden - etysischen Idylle die Aufhebung der zuvor realisierten funktionalen Differenzierung zugetraut wurde.39 Gesellschaftlicher Fortschritt - darauf hatte vor Schiller ausdrücklich Immanuel Kant hingewiesen, den Schiller in der Ästhetik daher idealistisch zu überbieten sucht - gründet statt auf harmonischer Gleichheit vielmehr auf Differenz und Konkurrenz: Denn nur die Arbeit des Menschen an gesellschaftlichen Differenzen und Gegensätzen vermag eine historische Dynamik zu entfalten, die zu einem gesellschaftlichen Fortschrittsprozeß führt und eine nicht bloß ideale, sondern mit der empirischen Wirklichkeit des Menschen kompatible, bestmögliche Gesellschaftsordnung verwirklicht. Hier liegen die Ursachen für Kants Ablehnung von Vorstellungen idyllischer Realität im vierten Satz seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in 'weltbürgerlicher Absicht (1784):
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Diese komplementäre Rolle der >schönen Lheratun entspricht derjenigen anderer Vergegenwärtigungen ursprünglicher Sympathie etwa in Freundschaftsbünden o. ä. So betonte beispielsweise Johannes Zellweger in seiner Fortsetzung der Kurzen Geschichte der Helvetischen Gesellschaft 1775: »So wie die meisten [...] bey Hause mit wichtigen Geschäften und Sorgen beladen, hier in dem Wohnsitz schweizerischer Freundschaft, Eintracht und Vertraulichkeit, eine angenehme Erholung suchten, und sie an dem persönlichen Umgang mit lieben Eidgenossen fanden, so kehrten sie auch wieder jeder an seinen Ort und an seine Geschäfte zurück, wo das nicht geringere Vergnügen, das durch diese Abwechslung neuen Werft bekommt, das Vergnügen nützlich zu seyn, auf sie wartet« In: Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach, Im Jahr 1775. S. 3-6 [recte 9], hier S. 5. Zur Helvetischen Gesellschaft s. u., S. 15 Iff. Als Kennzeichen für diese Rolle der aufklärerischen Idyllendichtung läßt sich deren Zeitbezug heranziehen, der ebenso von Geßner wie auch von Gottsched ausdrücklich auf eine ferne, unwiederbringliche Vergangenheit gerichtet wurde (s. dz. u., S. 154). Brigitte Peucker verfolgte die Gattungsgeschichte der Idylle im 18. Jahrhundert anhand des von den einzelnen Texten jeweils zum Ausdruck gebrachten Zeitbezuges und stellte eine Entwicklung vom ausschließlichen Vergangenheits- über die Einführung eines Gegenwartsbezuges bis zur programmatischen Einforderung utopischer Qualitäten durch Schiller fest: Vgl. Arcadia to Elysium. Preromantic Modes in the 18tii Century Germany (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 81). Bonn 1980. S. 48ff. Dabei komme den Idyllen Geßners eine Mittelstellung zu, insofern seine idyllischen Szenen unmittelbar nach dem Goldenen Zeitalter einsetzten und sich bei ihm bereits eine deutliche Tendenz zur >realistischen< Naturschilderung finden lasse. Inwiefern der kaum bestreitbare Weg zur realistischem Idyllik im 18. Jahrhundert jedoch einer Annäherung an die Landlebendichtung gleichkommt (S. 50; ähnlich auch Gerhard Hämmerling: Die Idylle von Geßner bis Voß, S. 109ff.), erscheint insbesondere im Blick auf die gattungstheoretischen und -historischen Studien Anke-Marie Lohmeiers (s. o., S. 17f.) diskussionsbedürftig.
113 Ohne jene, an sich zwar eben nicht liebenswürdige, Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen nothwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat [...]. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht40
Die soziale Konfliktlinie im Zusammenhang idyllischer Dichtung verläuft damit weniger entlang zeitgenössischer Standesgrenzen als vielmehr zwischen natürlich-harmonischer Gemeinschaft einerseits und einem auf Differenzierung gerichteten gesellschaftlichen Prozeß andererseits. Im Rahmen dieser systemtheoretisch akzentuierten Reformulierung des Phänomens läßt sich zugleich verständlich machen, weshalb die der bürgerlichen Opposition zugeschriebenen Sozialmodelle zurückgreifen konnten auf solche einer idealisierten höfischen Geselligkeit unter den Bedingungen symmetrischer Kommunikation, wie sie im Anschluß an Castigliones Hoßnonn dem zunehmend funktionalisierten absolutistischen Herrschaftssystem entgegengesetzt und in literarisierter Form innerhalb der bukolischen Dichtung artikuliert wurden. Dies bedeutet zugleich, daß der Einfluß der bukolischen Gattungstradition wenigstens für die Bestimmung der sozialen Funktion idyllischer Dichtung grosser anzusetzen ist, als bislang angenommen: Handelt es sich bei dem gegenbildlichen Charakter idyllischer Dichtung weniger um eine Kontrafaktur absolutistischer Herrschaft als vielmehr um eine komplementäre Ergänzung sozialer Differenzierungs- und Funktionalisierungsprozesse, so blieb für diese - ungeachtet der formalen wie inhaltlichen Innovationen der Tradition - der soziale Ort bukolischer Dichtung verbindlich, wie er im vorangegangenen Kapitel für die höfische Gesellschaft der Frühen Neuzeit entwickelt wurde. Wie die traditionelle Bukolik richtete sie sich auf die Darstellung eines Handlungsraumes, der den gesellschaftlichen Differenzierungen entzogen war. Dieser war nunmehr jedoch nicht mehr allein auf die graziösen Formen höfisch-handlungsentlasteten Umgangs zu beschränken, sondern angesichts der Ausweitung des sozialen Differenzierungsphänomens von der Organisation des Hofes auf diejenige der bürgerlichen Gesellschaft als ständeübergreifende Existenzmöglichkeit zu reklamieren. Vertreten wurde dieser vordifferenzierte Handlungsraum jedoch in beiden Fällen von der in einer idealen Vergangenheit liegenden schäferlich-handlungsentlasteten Welt. 40
Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht In: AA, 1/8, S. 15-31, hier S. 21. Von diesem Standpunkt aus lehnt schließlich auch Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik das Geßnersche Idyllenwerk ab: »Denn eine in dieser Weise beschrankte Lebensart setzt auch einen Mangel an Entwicklung des Geistes voraus. [...] Der Mensch darf nicht in solcher idyllischer Geistesarmut hinleben, er muß arbeiten.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M. 1986 (Werke 13). S. 336. Zu Hegels Geßner-Kritik vgl. u. a. Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 176ff.
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Aufgrund dieser Zusammenhänge entstehen nicht allein aus Schneiders Reklamierung eines naturrechtlichen, sondern zudem eines spezifisch »bürgerlichen« Gehaltes der Idyllendichtung41 erhebliche interpretatorische Probleme: Diesen identifiziert er für die deutsche Idyllentheorie seit Gottsched ebenfalls auf der Grundlage der Abhandlung Schlegels und der dort unterschiedenen Wege zur Darstellung des idyllischen Naturzustandes. Hatte er jedoch den oben zitierten, an Rousseau orientierten Verfahrensvorschlag gegen Schlegels ausdrückliche Zuordnung auf das »Geßnerschef/] Charakteristikum« der »empfindsame[n] Tugend«42 bezogen, so setzt er nunmehr offenbar einen Bruch an zwischen der von Schlegel im Blick auf Fontenelle formulierten »kombinatorischefnj« Idyllenkonzeption und derjenigen »der jungen bürgerlichen Literatur«43. Die von Schlegel unterschiedenen Verfahren gruppieren sich jedoch um einen einheitlichen Gehalt der Schäferpoesie. Die auf diese Weise zustandekommende Einteilung in »drey verschiedne Gattungen von Schäfergedichten«." erscheint daher nicht als inhaltliche, sondern als formale Differenzierung. Somit sind die Bemerkungen zu Fontenelles allegorisierendem Verfahren in ihren inhaltlichen Konsequenzen - wenigstens aus Schlegels Sicht43 - auch auf den Gehalt der Idyllen Geßners anzuwenden: Schlegel nimmt Fontenelle gegen den Vorwurf in Schutz, daß er nicht eigentliche Schäfer, wie die Poesie sie kennet, sondern Hofleute gebildet Wenn er das gethan hätte; so würde er freylich nicht zu den Schäferdichtem gerechnet werden können. Aber dadurch wird der Schäfer noch kein Hofinann werden, daß er die feinen Sitten der Hofleute, insofern sich dieselben mit Unschuld und Fröhlichkeit vertragen, an sich hat Das ist ein Vorzug, den auch andre Leute von guter Erziehung sich eigen machen können.46
Sowohl »die feinen Sitten der Hofleute« als auch - wie Schlegel wenige Seiten zuvor anführt - die »[i]n der Stadt« zu findenden Umgangsformen, wo sich »unter den Leuten von einer gesittetem Erziehung die natürlichen Triebe des Herzens viel ausgearbeiteter, viel einnehmender, viel wohlanständiger, als auf dem Lande«47 finden, sind also für Schlegel mit dem »wesentlichefn] hinhält« der Gattung vereinbar, den er zuvor bestimmt hat als
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S. o., S. 104. Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 50. Ebd. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 403. (Hervorhebung im Original.) Die Unterscheidung fehh ebenso wie die Ausführungen zum Verfahren in der ersten Auflage der Abhandlung, ist von der zweiten (S. 493ff.) zur dritten Auflage jedoch nicht maßgeblich verändert worden. Geßner selbst sieht das gleichwohl anders; s. dz. u., S. 117. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 414. (Hervorhebung CB.) Die Verteidigung Fontenelles bestimmt bereits in der ersten Auflage den zweiten Teil der Abhandlung; das Zitat findet sich bereits dort (S. 399) und wurde für die zweite und dritte Auflage lediglich sprachlich leicht verändert. Zu der von Schlegel an dieser Stelle angesprochenen Kritik Remond St Mards an Fontenelle vgl. Nikolaus Müller: Die deutschen Theorien der Idylle von Gottsched bis Geßner und ihre Quellen, S. 58f, 65f. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 405f. Auch dieser Hinweis findet sich bereits in der ersten Auflage der Abhandlung (S. 398).
115 die sanften Empfindungen einer glückseligen Lebensart, denen eine einfache, weder heroische noch lächerliche, sondern natürliche Handlung zum Grunde liegt; und die in der für siegehörigen Scene, in der reizenden Scene der Natur, aufgestellt werden.** Für die Festlegung des Inhalts der Schäferdichtung rekurriert Schlegel also nicht auf die ursprüngliche Natur des Menschen. Ein solcher möglicher Rekurs bildet nur eine von mehreren Möglichkeiten der Darstellung. Die »sanften Empfindungen eines glückseligen Lebens« und »natürlichen Triebe des Herzens« vertragen sich dagegen durchaus mit einer »gesitteten Erziehung«, wie sie sich ebenso unter Hof- wie unter Stadtmenschen finden läßt, ja unter den gegenwärtigen Voraussetzungen kommen sie überhaupt erst auf deren Grundlage zum Vorschein. Diese Einschätzung verträgt sich problemlos mit derjenigen Fontenelles, der in seinem Discours sur la nature de l'aclogue (1688, dt. von Johann Christoph Gottsched in der zweiten Auflage der Obersetzung von Fontenelles Gesprächen von Mehr als einer Welt, 1730) festgehalten hatte: Die Anmut etfodert Gemüter, die imstande sind, sich über die unentbehrlichen Notwendigkeiten des Lebens zu erheben; und welche durch einen langen Gebrauch der Gesellschaft artiger geworden sind.4' Fontenelle verdeutlicht in der Folge, daß sich die künstliche Idealisierung, die der Schäferdichter mit den >natürlichen< Vorbildern seiner Texte vorzunehmen hat, analog verhält zu der Idealisierung ihrer sozialen - in seinem Falle höfischen - Referenzen: Der idealsierte, seiner »Niederträchtigkeit« entkleidete Schäfer repräsentiert einen idealisierten, von der Wirklichkeit seiner »mühsamen und gezwungenen Ergetzlichkeiten« entlasteten Höfling.30 Dies stelle keinen Verstoß
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Ebd., S. 378. (Hervorhebung im Original.) Den Begriff der »Lebensart« fuhrt Schlegel erst in der dritten Auflage seiner Abhandlung ein. Zuvor war schlicht von »Leben« die Rede gewesen (S. 492; in der ersten Auflage fehlte diese lehrsatzhafte Zusammenfassung der inhaltlichen Bestimmung noch vollständig). Aber »die Einwürfe, welche die berlinischen Lhteraturbriefe dawider gemacht, haben mich belehret, daß dieses Wort hier zweydeutig sey« (ebd., Anm.). Den Begriff der »Lebensart« hatte Moses Mendelssohn Schlegel im 85. Brief, die neueste Litteratur betreffend nahegelegt; vgl. MGS, IV/2, S. 19f. Bernard De Fontenelle: Abhandlung Ober die Natur der Schäfergedichte. Zitiert nach: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, S. 75-93, hier S. 76. Zur Abhängigkeit der Abhandlung Schlegels von der Idyllentheorie Fontenelles vgl. Nikolaus Müller: Die deutschen Theorien der Idylle von Gottsched bis Geßner und ihre Quellen, S. 58ff.; Oskar Netoliczka: Schäferdichtung und Poetik im 18. Jahrhundert, S. 48. Vgl. dz. auch die Position Bodmers und Brehingers, die im zweiten Teil ihrer Discourse der Mahlern (1722) ebenfalls Fontenelles »vernünftige[n] und delicate[n] Discours« auch »unsere[n] Deutschen« als Vorbild empfehlen: Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Vier Theile in einem Band. ND Hildesheim 1969. Zweyter Theil. V. Discours. S. 35. Auch Richard Krüppel betonte, daß »[d]ie theoretischen Ausführungen über die Schäferdichtung [...] bis etwa 1750 durchaus unter dem Einflüsse des galanten französischen Hofidylls« standen: Schillers Verhältnis zur Idylle. Leipzig 1909 (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte N. F. 8). S. 32. Die wiederholte Neuauflage der Abhandlung Schlegels verweist überdies darauf, daß dieser Einfluß noch bis weit in die 1770er Jahre hineinreichte. Bernard De Fontenelle: Abhandlung über die Natur der Schäfergedichte, S. 80f. Vgl. dz. auch die Bestimmung Zernitz': S. o., S. 58ff.
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gegen das Mimesis-Gebot dar, denn die von der Dichtung zu bedienende Einbildungskraft nehme auch »zuweilen mit einer halben Wahrheit vorlieb«: Woher kömmt es denn, daß die Schäfereien uns gefallen, ungeachtet der Falschheit ihrer Abbildungen, die uns allezeit zuwider sein sollten? Wollten wir es wohl lieber haben, daß man uns die Hofleute mit einer solchen Grobheit vorstellen möchte, die wahrhaften Sitten so ähnlich wäre: als die Zärtlichkeit und Artigkeit, die man den Schäfern zuschreibt, mit den Manieren der Hof leute übereinkömmt?11
Ausgeschlossen werden auch von Schlegel, der sich diesbezüglich durchaus mit dem >höfischen< Vorbild Fontenelles verträgt, die keineswegs standesspezifisch bestimmten, sondern unter dem Oberbegriff der »menschliche[n] Torheit« zusammengefaßten Eigenschaften der »Eitelkeit«, des »Ehrgeizes«, des »Eigennutzfes]« sowie der »Sinnlichkeit«.32 Schneiders Berufung auf die Abhandlung Schlegels für seine These vom »indirekt politische[n] Anspruch« der »jungen bürgerlichen Literatur« in Gestalt der Schäferdichtung33 erscheint im Bück auf diesen Textbefund daher wenigstens erläuterungsbedürftig. Unter Berücksichtigung der Differenzierungen höfischer Gesellschaftsethik sowie der soeben skizzierten Idealisierungstechnik Fontenelles wird deutlich, daß auch der von Schlegel der Schäferdichtung zugesprochene Gehalt an die zweck- und handlungsentlastete Geselligkeit eines Hofinann-Ideals anknüpft, das in idealisierender Funktion von den strategischen Implikationen höfischen Umgangs isoliert wurde. Auch für die Idyllik der ersten Hafte des 18. Jahrhunderts bleibt das Ideal symmetrischer Kommunikation verbindlich, das angesichts des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses seinen sozialen Ort lediglich noch in entpragmatisierten Enklaven zu finden vermochte,54 zu deren Konstitution die >schöne Literatur< (und in ihrem Rahmen die Idyllendichtung) ihren Beitrag leistete.
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Bernard De Fontenelle: Abhandlung Ober die Natur der Schäfergedichte, S. 80f. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 375. Wenig später werden dann noch »Neid«, »Haß«, »Üppigkeit und Prahlerei«, »Schmeichelei und Verstellung« sowie »Sklaverei und Herrschsucht« hinzugefügt (S. 376). Diese Zusammenstellung bleibt Ober alle drei Auflagen hinweg konstant. Zur Bedeutung dieser Formen selbstbezüglichen Fehlverhaltens für die Idyllik Salomon Geßners s. u., S. 130. Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 51. In diesem Sinne charakterisiert beispielsweise Gerhard Kaiser die Geßnerschen Figuren zutreffend als »sozial ortlos«: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. S. 25.
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2.2 Der moralische Standpunkt: Zum Geltungsanspruch der aufklärerischen Idyllendichtung Vor dem skizzierten Hintergrund läßt sich nunmehr auch die Frage nach dem >bürgerlichen< Charakter der Idyllendichtung Salomon Geßners anhand der insgesamt drei Sammlungen von Idyllen (1756/1762/1772) sowie seines zuvor veröffentlichten Schäferromans Daphnis (1754)55 neu stellen. In einem Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim verweist Geßner auf die klassischen Vorbilder seines Schäferromans: Ich suchte meine Regeln allein im Theokrit und Virgil, und las den Longus. Oft begeisterten mich Anakreon und Ihre Lieder, zuweilen auch Homer, und wenn es mir gelungen ist, meiner kleinen Piece die Mine des Alterthums zu geben, so bin ich recht froh.56
Geßner suggeriert damit, er habe die Wiederaufnahme der Gattungstradition in der europäischen Renaissance- und Barockliteratur nicht berücksichtigt, was gewöhnlich mit seiner Ablehnung der höfischen Orientierung dieser allegorischen Dichtungen begründet und als erstes Argument für den neuen, bürgerlichen Charakter seiner Idyllendichtung angeführt wird." In seiner Vorrede zum ersten 33
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Zuvor hatte Geßner lediglich ein einzelnes idyllisches »Prosagedicht« veröffentlicht: Die Nacht (1753 - recte 1752); vgl. dz. den zweiten Teil des Editionsberichts in: Salomon Geßner Idyllen. Kritische Ausgabe von Ernst Theodor Voß. 3., durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart 1988 (RUB 9431). S. 221-290, hier S. 221. In Ermangelung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe werden Geßners Werke im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert Der in diesem Band nicht enthaltene Schäferroman Daphnis sowie die Patriarchade Der Tod Abels werden dagegen nach dem 41. Band der Deutschen Nationalliteratur zitiert: Salomon Gessner Werice. Hg. von Adolf Frey. Berlin und Stuttgart o. J. ND Hildesheim, New York 1973. Geßner an Gleim vom 29. 11. 1754. Zit nach: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 216-219, hier S. 218. Fritz Bergemann gibt eine französische Übersetzung von Longos' Daphnis und Chloe von J. Amyot als Referenztext Geßners an: Salomon Geßner, S. 53, 104. Vgl. dz. auch Johann Jakob Hottinger: Salomon Geßner, S. 61. In der Vorrede An den Leser seiner ersten Idyllensammlung von 1756 unterdrückte Geßner selbst die Referenz auf Vergil, der als Vorbild höfisch-galanter Bukolik galt: Vgl. Idyllen, S. 15-18. Ernst Theodor Voß hält dieses Vorgehen für eine bewußte strategische Maßnahme, mit der sich Geßner selbst als Erneuerer einer bis dahin höfisch vereinnahmten Gattung habe präsentieren wollen: Vgl. Salomon Geßner. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. von Benno von Wiese. Berlin/ West 1977. S. 249-275, insbes. S. 261. Daß diese von Geßner favorisierte Rezeptionsweise auch im 18. Jahrhundert Anhänger fand, zeigt der Versuch über das bukolische Gedicht, den Friedrich Ludwig Carl Graf von Finckenstein 1789 veröffentlichte. Zunächst steine dieser fest: »Theokritus arbeitete [...] nach der Natur, als dem Urbilde; Vergil nach dem Theokritus, aber darneben auch nach dem Ideal seiner Einbildungskraft, welches ihm der Geschmack seiner Zeitgenossen allem Anschein nach nothwendig machte«. Zu Geßner heißt es dann: Messner fohlte zuerst das Reizende der Theokritischen Hirteneinfalt, welche durch die Italiäner und Franzosen aus der Idylle verdränget worden war, und setzte sie in ihre ahen Rechte wieder ein.« Versuch Ober das bukolische Gedicht In: [Ders. (Hg.):] Arethusa oder die bukolischen Dichter des Alterthums. Erster Theil. Berlin 1789. S. 1-55, hier S. 50f. (Hervorhebung im Original.) Zur Theokrit-Nachfolge Geßners vgl. auch Klaus Garber: Zu einer Naturform der Poesie im Zeitalter des Naturrechts, S. lOf. Zu den klassischen Vorbildern der neuzeitlichen Schäferdichtung vgl. u. a. Viktor Pöschl: Die Hirtendichtung Virgils. Heidelberg 1964; Sebastian Posch: Beobachtungen zur Theokritnachwirkung bei Vergil. München 1969 (Commentationes Aenipontanae XIX); Günter Wojaczek: Daphnis. Untersuchungen zur griechischen
118 Band von Franz Xaver Bronners Fischergedichten und Erzählungen, die 1787 in seinem Zürcher Verlag erschienen, gibt Geßner jedoch einen Hinweis, der gegen diese grundlegende Ablehnung der frühneuzeitlichen Gattungstradition spricht: Der Verfasser hat diese Gedichte in einsamen Stunden der Müsse verfertigt; vom Fenster seiner Kloster-Zelle, wo er die Jahre seiner Jugend auch mit ernsten Studien der Mathematik und Naturkunde hinbrachte, hatte er die ausgebreitete Aussicht auf einen Fluss, und seine schattenreichen Ufer, und auf die anmuthigen Inseln, die er umschwamm. Bey der Lektur des Theokrit, Virgil und Sanazar staunte er diese Scenen an, beobachtete die manigfattigen Schönheiten, die vor ihm lagen, und die Bewohner der Gegend, deren meiste Beschäftigung der Fischfang ist, ward begeistert, und so entstanden seine ersten Fischergedichte.38 Die gattungsgeschichtlichen Vorbilder werden hier um einen entscheidenden Namen ergänzt: lacopo Sannazaro schuf mit seiner L 'Arcadia (1502) den Prototyp des europäischen Schäferromans59 und hatte in seinen neulateinischen Eclogae Piscatoriae (1526) erstmals das traditionelle schäferliche Personal der Gattung durch Fischer ersetzt.60 1794 gab Bronner dann selbst in seinen Neuen Fischergedichten und Erzählungen einen gattungshistorischen Abriß, in dem er Sannazaros Fischergedichte als »wohl angelegte Idylle, voll glücklicher natürlicher Bilder und sanfter Wärme« ausdrücklich und lobend erwähnt und keinerlei Anstoß an deren »Schmeicheleyen« nimmt.*1 Im Gegenteil stellte er fest, daß auch »unsre Schäfer und Hirten durch Idealisierung erst veredelt werden [müssen], um in der Idylle erträglich zu seyn.«62 Gleichwohl markiert seine Präferenz für das Fischer- gegenüber dem Hirtengedicht einen Schritt zur Lösung der Gattung vom Ideal zweck- und handlungsentlasteter Geselligkeit:
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Bukolik. Meisenheim am Glan 1969 (Beiträge zur Klassischen Philologie 34); Bernd Eflfe: Die Genese einer literarischen Gattung: Die Bukolik. Konstanz 1977 (Konstanzer Universitätsreden 95); Theokrit und die griechische Bukolik Hg. von Bernd Effe. Dannstadt 1986 (Wege der Forschung 580); Die antike Bukolik. Eine Einführung von Bernd Effe und Gerhard Binder. München, Zürich 1989 (Artemis Einfuhrungen 38); Karl-Heinz Stanzel: Liebende Hirten. Theokrits Bukoklik und die alexandrische Poesie. Stuttgart, Leipzig 1995 (Beiträge zur Altertumskunde 60). Zur Diskussion um den Wirklichkeitsbezug klassischer Bukolik vgl. außerdem Gerhard J. Baudy: Hirtenmythos und Hirtenlied Zu den rituellen Aspekten der bukolischen Dichtung. In: Poetica 25 (1993). S. 282-318. Vorrede von Gessner. In: Fischergedichte und Ezählungen. Von Bronner. Zürich 1787. Bl. 2rf., hier Bl. 2r. (Hervorhebungen CB.) Vgl. dz. Klaus Garber: Der Locus Amoenus und der Locus Terribilis, S. 60f. Wogegen im übrigen Johann Christoph Gottsched noch 1730 in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst einwandte, daß »die Fischerarbeit viel zu beschwerlich [ist], gegen das ruhige und glückselige Leben, das wir uns im Schäferstande vorstellen. Die See ist bey weitem so angenehm nicht, als eine schöne Aue: und die Schnecken und Austern geben solche beliebte Geschenke nicht ab, als Blumen und Früchte.« Ausgewählte Weike. Hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke. Sechster Band, zweiter Teil: Versuch einer critischen Dichtkunst: Anderer besonderer Theil. Berlin, New York 1973 (Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVm. Jahrhunderts). S. 81. Zu Gottscheds Idyllentheorie im Verhältnis zu seinen Vorgängern in der französischen und deutschen Poetik des 17. Jahrhunderts vgl. Nikolaus Müller: Die deutschen Theorien der Idylle von Gottsched bis Geßner und ihre Quellen, S. 9ff. Versuch einer kurzen Geschichte des Fischergedichtes. In: Neue Fischergedichte und Erzählungen. Von F. X. Bronner. Zweytes Bändchen. Zürich MDCCXCIV (Franz Xaver Bronners Schritten 2). S. 5-25, hier S. 20,19. Ebd., S. 9.
119 Ruhe und Müsse sind ohne Arbeitsamkeit keine Züge des wahren Glücks, sie sind vielmehr Quellen der Unzufriedenheit und der langen Weile, wenn jemand unthätig und allzu anhaltend ihrer geniesst: nur nach vollendeten Geschäften haben sie ihre Annehmlichkeit. [...] Das Glück der Hirten gründet sich eigentlich auf Geschäftslosigkeit, das Glück der Fischer aber auf frohe Thätigkeit: das erste liegt von uns zu entfernt, und hat weniger moralischen Werth, obschon es für die meisten reitzender seyn möchte; das andre aber liegt uns nahe, ist erreichbar, spornt mehr zur Anstrengung unsrer Kräfte an, und hat hiemit grössem moralischen Werth, obschon es vielleicht weniger Reitze hat63
Bronner wie Geßner waren sich also offenbar der Gattungstradition sehr genau bewußt. Die Tatsache, daß sich Bronners Fischeridyllen lediglich im Personal von den Idyllen Geßners unterscheiden, legt daher nahe, daß der angenommene Gegensatz zwischen der bukolischen Tradition und der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts von Geßner selbst nicht in der gleichen Ausschließlichkeit empfunden wurde, wie ihn die Geßner-Forschung des 20. Jahrhunderts herausstellte - wenn auch möglicherweise erst im Rückblick über eine Distanz von rund dreißig Jahren. Zu diesem neuen Selbstverständnis mag die Rezeption seiner Idyllen beigetragen haben, ihr immenser Erfolg auf dem europäischen, insbesondere (und noch vor dem deutschen) auf dem französischen Buchmarkt,*4 sowie der Umstand, daß sie diesen parallel zu weiterhin florierenden Obersetzungen und Neubearbeitungen
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Ebd., S. 8ff. Bereits Hottinger betonte, daß Geßners »Ruhm [...] von der Hauptstadt Frankreichs in sein Vaterland und alle kultivierten Länder Europas ausstratte«: Salomon Geßner, S. 94. Zur Rezeption Geßners vgl. die Bibliographie der Ausgaben und Übersetzungen bei Paul LeemannVan Elck: Salomon Gessner, S. 157-260; sowie Gabrielle Bersier: Arcadia Revitalized. The International Appeal of Gessner's Idylls in the 18th Century. In: Reinhold Grimm, Jost Hermand(Hg.): From the Greeks to the Greens. Images of Simple Life. Madison, Wisconsin 1989. S. 34-47; Thomas Bürger: Auch er war in Arcadien! Stimmen für und wider Gessner. In: Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner 1730-1788. Wolfenbüttel 21982 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek ISO). S. 181-191; zuletzt auch Uwe Hentschel, der mit Nachdruck daraufhinwies, daß die mitunter recht scharfe und durchweg grundsätzliche Kritik an Geßner in den folgenden poetologischen Diskussionen in einem auffälligen Widerspruch zur Beliebtheit seiner Idyllen beim Publikum stand: Salomon Geßners Idyllen und ihre deutsche Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert In: Orbis Lhterarum 54 (1999). S. 332349. (Entsprechendes hatte bereits Johann Jakob Engel in seiner gegen die Besprechung Goethes gerichteten Rezension festgestellt, in der er es der Eitelkeit des Rezensenten zuschreibt, »an einem Manne Fehler zu finden, den die Weh in ihrer Einfalt als einen der größten Schriftsteller bewundert hatte.« Salomon Geßners Schriften, S. 118.) Ausführlich zur französischen GeßnerRezeption vgl. auch bereits Hans Brogle: Die französische Hirtendichtung des 18. Jahrhunderts dargestellt in ihrem besonderen Verhältnis zu Salomon Gessner. I. Idyll und Conte Champetre. Diss. Leipzig 1903. Zur Geßner-Rezeption in Italien vgl. außerdem Rita Lüchinger: Salomon Gessner in Italien. Sein literarischer Erfolg im 18. Jahrhunderts. Bern u. a. 1981 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 443); zuvor bereits Jörg-Ulrich Fechner: »Toujours passiono pour vous et pour la Nature ...«. Schöpferische Begeisterung eines italienischen Zeitgenossen. In: Maler und Dichter der Idylle, S. 176-178; zahlreiche Hinweise außerdem schon in Ders.: Erfahrene und erfundene Landschaft. Aurelio de' Giorgi Bertölas Deutschlandbild und die Begründung der Rheinromantik. Opladen 1974 (Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 52).
120 traditioneller höfisch-allegorischer Schäferromane*5 errangen. Als neu wurde weniger die Wiederaufnahme der klassischen Tradition wahrgenommen. Neu und aufsehenerregend erschien vielmehr, daß dies in deutscher Sprache geschah. So stellte etwa die Besprechung in der französischen Correspondence Litteraire im Januar 1762 heraus, Geßner besitze, »was allen Deutschen fehle: le goüt, la souplesse, la grace«,46 schrieb ihm also die idealen Qualitäten eines honnete komme zu. Der Gegensatz zwischen einer neuen bürgerlich-empfindsamen Qualität der Idyllendichtung und der höfischen Tradition des europäischen Schäferromans, wie ihn die literaturwissenschaftliche Forschung regelmäßig herausarbeitet, wurde also in der zeitgenössischen Rezeption offenbar nicht wahrgenommen, wenn dies dem ursprünglichen Selbstverständnis ihres Autors auch nicht entsprochen haben mag. So widmete Geßners erster Biograph, Johann Jakob Hottinger, seinem Freund im Blick auf dieses - aus seiner Sicht - rezeptionsgeschichtliche Mißverständnis die resignativ anmutenden Verse: Da eilte, deinen Ruhm durch den Olymp zu tragen, Der Fama rascher Flug zuvor dem Sonnenwagen Des feinen Galliers entzücktes Ohr verschlang Mit durstender Begier den himmlischen Gesang; Des deutschen Geistes Kraft in deinem Lied zu ehren, Mußt' er, des deutschen Geists Verächter, Deutsche lehren. [...] Doch glaubt, was lesen kann - warum nicht? - zu verstehen; Und wer es glaubt, der hält sich würdig, dich zu sehen. Weißt du, daß jener Narr, der in dem Sessel gähnt, Durch den Besuch dich mehr, als sich zu ehren wähnt? Die Fräulein, die sich ihm zur Seite ziert und windet, Mißt dich und deine Frau mit gnädgem Blick, und findet Dich gut, und sie gescheut genug; nur Eines ist Ihr nicht so recht - daß du nicht Herr von Geßner bist67
hi Hottingers Nekrolog auf Geßner heißt es dann nur ein Jahr später ähnlich: Tausende drängten sich zu ihm hin, welche für edle Simplicität und wahre Größe keinen Sinn hatten, und welche in ihm nichts als den Dichter, den sie jedoch auch nur dem Klange nach kannten, oder den witzigen Kopf, oder Phomme charmant, oder was weiß ich wen? suchten68.
Diese Rezeption, in der die Idyllendichtung Geßners bruchlos in die höfischpastorale Tradition integriert wurde, beschränkte sich keineswegs auf Frankreich: hi Deutschland begründete etwa Maler Müller seine Distanz zu Geßner in den pfälzischen Idyllen ebenfalls mit der künstlichen Geziertheit von dessen Fi63 66 67
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So verweist beispielsweise Gerhard Kaiser auf den »ungeheure[n] Publikumserfolg« von Guarwis Pastorßdo »bis weit ins 18. Jahrhundert«: Wandrer und Idylle, S. 17. Zit nach Heinrich Wölfflin: Salomon Geßner. Mit ungedruckten Briefen. Frauenfeld 1889. S. 90. Der Ruhm. Eine Epistel an Geßner. In: Berlinische Monatsschrift. Herausgegeben von F. Gedicke und J. E. Biester. Neunter Band. Januar bis Junius 1787. S. 334-345, hier S. 334, 336f. Salomon Gessner, geboren 1730; gestorben d. 2. März 1788. In: Ebd. Eilfter Band. Januar bis Junius 1788. S. 459-471, hier S. 462.
121 guren, deren Verteidigung in der Schaaf=Schur (1775) dem stutzerhaft-pedantischen Schulmeister übertragen wird.69 »Ha, wie ganz anders sind die Menschen auf dem Lande. Welch ein Unterschied - Wenn man sie aus unsren Operetten und Idyllen besiht«, zitiert der Herausgeber O. Heuer einen »Jugendbrief« Müllers,70 womit die kritische Stoßrichtung angegeben ist, aus der heraus sich auch dessen Bauer Walter über den Schulmeister - und mit ihm über Geßner - vor seiner Tochter Guntel lustig macht: Weiß immer so saubere Zeug vorzubringen der Narr, [...] Hab ihn des Henkers wild gemacht - Saß da bey meinen Bienen im Garten; da bringt er mir, weiß der Guckuck was für ein Buch, heißt Idyllen, gedrucktes, so von Schäfern, schreyt, lermt und jubilirt und gaudirt sich wegen des Zeugs so drinnen steht; ließt mir dann auch hin und wieder etliches vor, das ich nicht wohl verstund und lobt so hoch und so scharf daß mir mein Seel die Geduld ausgieng und ich ihm frey heraus gestand: Possen Herr Gevatter, nur Possen! [...] Was? das Schafer, das sind mir curiose Leute, die weiß der Henker wie leben, fühlen nicht wie andre Menschen Hitze oder Kälte; hungern oder dursten nicht; leben nur vom Rosenthau und Blumen und was des schönen süßen Zeugs noch mehr ist, daß sie bey jeder Gelegenheit einem so widerlich entgegen plaudern, daß einem mein Seel wider den Mann geht [...] Aber sein Pack da ist nicht von Herzen lustig, nicht von Herzen traurig, schwätzen wie die Schulmeistere von Großmuth und hundert Sachen, die einen Schäfersmann nichts angehn, und das, Herr, was uns alle Tage vor Augen kommt, und ans Herz geht, davon pipsen sie kein Wort [...]."
Müllers Bauer Walter widerspricht mit diesen und ähnlichen Einlassungen zugleich den idealisierenden Regeln, die Schlegel noch wenige Jahre zuvor für die Schäferdichtung widerholt hatte und denen Geßners Idyllen noch entsprachen: Wenn der Poet unserm Landmanne sein natürliches Grobes nicht nähme: so würde er sich genöthiget sehen, in den Handlungen, darinnen er ihn zeiget, in den Reden, die er ihm in den Mund leget, dasselbe zu zergliedern. Wer würde ihm das verzeihen? Denn hieße das nicht, dasjenige, was unsern Blicken entzogen werden sollte, mit Vorsatz noch fühlbarer zu machen, daß wir ihm nirgendhin entfliehen können? Nimmt er es ihm nur zum Theil; was wird er dadurch thun? Er wird eine schöne Nymphe in eine zottichte Bärenhaut hüllen. Die Grobheit wird alle69
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Müllere Figur des Schulmeisters läßt sich zugleich als eine vorausgreifende Karikatur der »Träger städtischer Bildung« lesen, die wenig später von Johann Heinrich Voß als neue soziale Trägerschicht des Idyllischen eingeführt werden sollten: Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 24. O. Heuer: Einleitung, S. Lllf. Mahler Müller: Idyllen, Dritter Band, S. 9ff. C. v. Langsdorff findet die Tendenz zur »absichtlichen Verhöhnung der sentimentalischen Richtung« Geßners bereits in Müllers antiker Idylle Bachidon und Milon, die er als Satire auf Geßners Der zerbrochne Krug (Idyllen, S. 35ff.) liest: Die Idyllendichtung der Deutschen im goldenen Zeitalter der deutschen Literatur. Heidelberg 1861. S. 18. Die Annahme von York-Gotthart Mix, Müllere »Unmut« richte sich nicht gegen Geßner, »sondern gegen die einfallslose Motivik und Eintönigkeit unzähliger lyrischer Kleinigkeiten zum Lob des ländlichen Lebens, der schäferlichen Liebe und des vergnügten Landmannes«, kann dagegen umso weniger überzeugen, als sie im unmittelbaren Anschluß hieran u. a. Hagedorn, Uz und Gleim als Vertreter dieses Vorgehens nennt Auf die Vorbildlichkeit von deren Dichtungen für seine Idyllen hatte Geßner sich wiederholt ausdrücklich berufen (s. u., S. 131): Komm schöne Galatee! Die Lämmer ruhn im Klee... Zum Problem des Realismus in Friedrich (Maler) Müllere Idylle Die Schafschur. In: Gerhard Sauder, Rolf Paulus, Christoph Weiß (Hg.): Maler Müller in neuer Sicht Studien zum Werk des Schriftstellers und Malere Friedrich Müller (1749-1825). St Ingbert 1990 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 24). S. 49-63, hier S. 53. Zu Müllers »Idyllentheorie in der Idylle« vgl. auch Norman Gronke: Idylle als literarisches und soziales Phänomen, S. 58ff.
122 zeit zuerst ins Auge fallen, und die angenehmsten Bilder, die rührendsten Empfindungen dadurch, daß sie ihnen eingewebet ist, uns verekeln.72 Dieser Bestimmung fühlt sich auch Geßner ausdrücklich verpflichtet, wenn er etwa in der Vorrede An den Leser seiner ersten Idyllensammlung von 1756 im Blick auf die »Sitten des Landmanns« bemerkt, »Züge« aus ihnen seien »mit feinem Geschmak« auszuwählen. Überdies sei es unverzichtbar, »ihnen ihr Rauhes zu benehmen«.73 Es ist die Auseinandersetzung über Natur und Kunst in der Idyllendichtung,7'' die hier angesprochen wird, und Geßner wird nicht allein von Müller eindeutig auf der Seite eines gekünstelten Gefühls verortet, als Vertreter einer Dichtung, welche die als idyllisch reklamierte Natürlichkeit des Landlebens zerstört, indem sie diese mit Attributen aus der Welt der Kunst und Bildung verziert. Vollends wirkt dann der Versuch des Schulmeisters entlarvend, auf diese Anschuldigungen zu reagieren. Seine Replik weist ihn als pedantischen Vertreter einer überkommenen, den Herzensbedürfnissen der Kunst nicht entsprechenden Regelästhetik aus. Nachdem Walter seine Tochter Guntel zum Vortrag eines von ihm als natürlich gepriesenen - gleichwohl von Müller selbst gedichteten, also ebenfalls künstlichen - Ritterliedes genötigt hat, reagiert der Schulmeister auf die vermeintliche Natürlichkeit mit den Worten: Eben darum ist es nichts nutz; (lächelnd) Denn sieht er, mein lieber Herr Gevatter, warum wäre die Poesie eine so erhabene wichtige Wissenschaft von Göttern erfunden, und Königen und Kaisern ausgeübet [...] Warum [...] wären Schulen angeleget, Regeln festgesetzt, warum so viele gelehrte Bücher drüber geschrieben worden? Wenn die Poesie, wie er es meynet, eine so natürliche gemeine leichte Sache war, (noch lächelnder) ey da dürfte ja mancher, der Gaben in sich fühlt, nur sich umschauen in der Natur, hier und da Achtung geben, und wie mans zu nennen pflegt, die Menschen studiren; er dürfte ja nur niederschreiben, grad wie er sich ums Herze fohlet [...] Wo blieb denn das Edle? he, he, he! - das Geschmackvolle, das Schöne, das Gelehrte, Herr Gevatter? wo blieb das? he, he, he!73
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Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 371f. Auch diese Aussage wurde von Schlegel seit der ersten Auflage seiner Abhandlung nicht verändert Seinen Idealisierungsgrundsatz hatte er bereits 1746 in einer anonym erschienenen satirischen Schrift ausführlich vorgeführt, in der er einen fiktiven Schäfer die Aufrahme typischer Insignien zeitgenössischen Landlebens in die Schäferdichtung fordern und selbst entsprechende Versuche vorlegen ließ. In diesem Zusammenhang machte er zugleich auf die aus seiner Sicht fortbestehende Kontinuität der von Fontenelle vertretenen Grundsätze auch für die zeitgenössische Schweizer Literatur aufmerksam (zu der Geßners Idyllen zu dieser Zeit gleichwohl noch nicht zu zählen sind): »Doch der Mangel wirthschaftlicher Stellen ist nicht allein der Fehler [...]; er weiß auch gar nicht, wie sich Leute zanken, es ist alles so Fontenellisch, so gestopft, so Hallerisch, so Schweitzerisch«: [Johann Adolf Schlegel:] Vom Natürlichen in Schäfergedichten wider die Verfasser der Bremischen neuen Beiträge verfertiget vom Nisus einem Schäfer in den Kohlgärten einem Dorfe vor Leipzig. Zweyte [recte erste] Auflage, besorgt und mit Anmerkungen vermehrt, von Hanns Görgen gleichfalls einem Schäfer daselbst Zürich 1746. S. 102. Salomon Geßner: Idyllen, S. 17. Zur Position Geßners in dieser Auseinandersetzung vgl. auch Ernst Theodor Voß: Salomon Geßner, S. 26Iff.; sowie Hans-Joachim Mahl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 146f. Mahler Müller: Idyllen, Dritter Band, S. 36f. Der Schulmeister erweist sich in der erst 1811 veröffentlichten Idylle Das Nuß=Kernen auch als mit den Winkelzügen des publizistischen
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Trifft diese Kritik Müllers auch gleichzeitig ein gelehrtes Bürgertum, insofern dieses sich den aus der höfischen Tradition überkommenen Regeln anpaßt, so bedeutet die Kontroverse um Kunst oder Natur in der Schäferdichtung doch im wesentlichen eine Auseinandersetzung über ihre Bindung an ein höfisches Normsystem. Wie oben anhand der Ausführungen Fontenelles deutlich wurde, handelt es sich nicht lediglich um die Frage, inwiefern der Dichter berechtigt sei, seinen Gegenstand künstlich zu verschönem, sondern darüber hinaus um die Natürlichkeit oder Künstlichkeit des Gegenstands selbst. Die Aufgabe des Schäferdichters besteht insofern traditionell darin, einen bereits nicht mehr natürlichen, sondern durch Kunst verschönerten bzw. in ihrem Rahmen idealisierten Gegenstand, den wohlanständig-gesitteten Menschen, in einer ebenfalls nicht natürlichen, sondern kunstgerechten Weise zur Darstellung zu bringen - und dies mit dem Gestus der Natürlichkeit. So rühmte auch Johann Joachim Eschenburg in der Allgemeinen deutschen Bibliothek besonders Geßners »Bearbeitung« des an sich »kunstlos[en]« Stoffes, denn »diese ist es vornehmlich, worauf bey dieser Dichtungsart alles ankömmt.« Als Arbeiten des »wahren Genies« zeichnen sich die Idyllen demnach dadurch aus, daß man Oberall [...] die deutlichsten Spuren eines durch die feinste Kritik geläuterten Geschmacks, und einer prüfenden, sorgfältigen Wahl wahrnimmt Selbst überdachten, und von allen Auswüchsen befreyten Wendungen, selbst mühsam, aber zwangfrey, geformten Perioden, das Ansehen der größten Leichtigkeit und einer ungefähren Entstehung zu geben, ist Antheil und Merkmal des wahren Genies. *
Auch Karl Wilhelm Ramler erklärte sich in der zweiten, Geßner ausdrücklich (und ohne einen Bruch zwischen ihm und der barocken bukolischen Tradition zu konstatieren) lobenden Auflage seiner Batteux-Übersetzung für die »lieblichfe]« »Schreibart« der Schäferdichtung, für »eine gewisse Weichheit mit Delikatesse und Simplicität gemischt, entweder in den Gedanken, oder in den Wendungen, oder in den Worten«77. Bereits Goethe spricht im 18. Buch von Dichtung und
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Geschäfts vertrauter kluger Stratege, was Müller gegen die von den Landleuten erhobene Forderung nach Offenheit und Ehrlichkeit absetzt: Vgl. ebd. S. 121. [Rez.:] Salomon Geßners neue Idyllen. [...] In: Allgemeine deutsche Bibliothek. Des neunzehnten Bandes zweytes Stück. Berlin und Stettin 1773. S. 567-572, hier S. 568. Die Rezension ist mit »Mo.« unterzeichnet, was G. Parthey als Zeichen Eschenburgs in der AdB von 1773 bis 1778 ausweist: Vgl. Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai's Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842. S. 44. Die Betonung der »Leichtigkeit« erinnert hierbei gewiß nicht zufällig an den Begriff der sprezzatura als einem wesentlichen Bestandteil idealisierter höfischer Gesellschaftsethik (s. o., S. 80). Einleitung in die schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehret von Karl Wilhelm Ramler. Erster Band. Zweyte und verbesserte Auflage. Leipzig 1762. (' 1756) S. 320. Zur Charakteristik Geßners vgl. ebd., S. 395flf. Zur Stellung von Ramlers Batteux-Übersetzung in der Geschichte der deutschen Idyllentheorie des 18. Jahrhunderts vgl. Nikolaus Müller: Die deutschen Theorien der Idylle von Gottsched bis Geßner und ihre Quellen, S. 46ff.
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Wahrheit von der »poetischen Prosa«™ Geßners. Ramler, der Geßner empfohlen hatte, sich von dem strengen Versmaß der traditionellen Bukolik zu lösen, gab 1787 seinerseits eine versifizierte Version Geßnerscher Idyllen heraus.79 Unter der Überschrift Ramler an seinen Freund Gessner™ charakterisiert er einleitend dessen poetische Versuche während ihrer gemeinsamen Berliner Zeit: Noch gedenk' ich der Zeit da Berlin uns als Jünglinge kannte, Du bald reizende Fluren erschufst, bald Oden versuchtest; Ich baldfremdeLiederchen, bald eigene - wegschliff. Damahls wusstest Du sehen dein Lied in Bande zu zwingen: Immer floss es frey durch mannichfahige Strophen, Jede melodisch, und jede von selbst erfundenem Versmass. — Nach zu schnell verlaufenden Monden kehrtest du wieder Zu den Arkadischen Alpen zurück, und erfandest Idyllen, Ohne metrische Fesseln, doch alle von seltenem Wohllaut.81
Den zeitgenössischen Bemerkungen und Erklärungsansätzen zum Stil Geßners folgte auch die Forschung: So führt noch Eric A. Blackall den Stil Geßners neben den naheliegenden Einflüssen Klopstocks auf dessen eigene »sehr locker gefügte, ungereimte Verse« und den Einfluß Ramlers auf ihre prosaische Umgestaltung zurück.*2 m seiner Untersuchung über Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache räumt er Geßner einen prominenten Platz ein, denn: »Mit Geßners Idyllen haben Klang und Rhythmus als bedeutsame Elemente Einzug in die deutsche Prosa gehalten.«83 Dies sei nicht allein »der Grundstein für die Prosa des >Werther< und des ^yperiom«84 gewesen, sondern habe zugleich auch zur Anerkennung des Deutschen als Sprache der Dichtung beigetragen. Als Beleg führt Blackall eine Würdigung Geßners im Critical Review von 1769 an, die 78
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HA, X, S. 121. Zuvor hatte bereits Johann Gottfried Herder trotz seiner an anderer Stelle geäußerten inhaltlichen Bedenken gegen die Idyllik Geßners (s. u., S. 28 Iff.) lobend von dessen »poetische[r] Prose oder prosaischen Poesie« gesprochen: Briefe zur Beförderung der Humanität Achte Sammlung, Brief 102. [1796] In: Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernd Suphan. 18. Band. Berlin 1883. S. 120. Vgl. auch Erich Schmidt: Salomon Geßners rhythmische Prosa. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Lhteratur N. F. 9 (1877). S. 303-306, der an einigen wenigen Beispielen zeigt, »dass es die damals beliebtesten metra der lyrischen, beschreibenden und erzählenden poesie sind, welche hier in der ungebundenen rede bewust oder unbewust durchklingen« (S. 303). Vgl. Salomon Gessners auserlesene Idyllen in Verse gebracht von Karl Wilhelm Ramler. Berlin 1787. Bey Übersendung einiger von ihm in Verse gebrachten Idyllen desselben: Ebd., S. 5-7. Ebd., S. 5f. Zu Ramlers Rat an Geßner, »seine Verse in eine wohlgefugte, harmonische Prose umzugiessen«, vgl. bereits Johann Jakob Hottinger: Salomon Geßner, S. 43; sowie Gustav Albert Andreen: Studies in the Idyl in German Literature. Rock Island, 111. 1902 (Augustana Library Publications 3). S. 44. Zweifel an der Version Hottingers wurden jedoch schon früh von Heinrich Wölfflin (Salomon Geßner, S. 119) und Carl Schüddekopf (Aus dem Briefwechsel zwischen Gessner und Ramler. In: Zeitschrift für Vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 5 [1892]. S. 96-117, hier S. 98) angemeldet Vgl. Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700-1775. Mit einem Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955-1964. Von Dieter Kimpel. Stuttgart 1966. S. 288f., Zitat S. 288. Ebd,S.286f. Ebd., S. 287.
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dem oben zitierten Urteil aus der Correspondence Litteraire** an die Seite gestellt werden kann und die aus der Geßner-Lektüre den Schluß zieht, »that Germany can produce poets as well as Great Britain, France or Italy«86. Der Nachhall der Werke Geßners auf dem europäischen Buchmarkt dürfte daher zu wesentlichen Teilen auf dem von ihm in die deutsche Literatur eingeführten neuen Prosastil gründen, dessen »Legierung, stilgeschichtlich gesprochen, von Rokoko und Empfindsamkeit« auch Helmut J. Schneider als maßgeblich für diesen »immensen Erfolg« festhält.87 Zugleich ist mit dem Stil Geßners jedoch ein Anlaß für zeitgenössische Kritik benannt: Maler Müller nimmt nicht allein an dem idealisierten Personal von Geßners Idyllen Anstoß, sondern ebenso an dessen >gekünstelter< Präsentation: Auch in seinen weiterhin in der traditionellen bukolischen Szenerie angesiedelten und mit den entsprechenden Figuren ausgestatteten Texten ist Müller offenbar im bewußten Gegensatz zu Geßner um einen möglichst authentischen Tonfall bemüht. Dies zeigt sich nicht nur in der Wortwahl, sondern auch in den häufig eingestreuten Invektiven, Satzabbrüchen, fehlenden Satzteilen und emphatischen Zwischenrufen. So läßt er beispielsweise in seinem Satyr Mopsus, der im ersten Teil motivisch dem Geßnerschen Vorbild in der Idylle Die ybel belohnte Liebe (1762) folgt,88 den Protagonisten ein Spottlied auf die von ihm geliebte »Quellen=Nymphe« Persina singen, in dem die Sätze fallen: Pfui tausend! wie mag man sich so auffuhren! — Pfui tausend! wie mag man nur einen Mund küßen, wie dieser garstigen Nymphe Persina ihren! Die ist das häßlichste Ding das unter der Sonne lebt — Pfui, um alles, alles nicht! Ja da käme mir einer recht, der mir sowas zumuthen wollte; mich peitschen laßen aufs Blut woh ich lieber, mein Seel! als diese Quellen= Nymphe Persina nur einmal küßen. [...] Heißt wohl: Küßgen glitschen so süß von Mund zu Mund, wie Honigthau=Tröpfgen in einer Rose von Blatt zu Blatt; - aber bey so einer! - Ey! ich wolle die Knotteln an meinem Ziegenfuß nicht einmal darum kämmen, ließ sie mir auch von ihren Kußmäulern tausendweis, wie Feigen in einem Sack zukommen. Ja! ich kann andere Mädgen haben, - andere, als ein gelbhautiges Ding!89
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S. o., S. 120. Zh. nach Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, S. 291.
Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 37. Vgl. dz. auch ausführlich John Hibberd: Salomon Gessner. His Creative Achievement and Influence. Cambridge u. a. 1976. S. SOf. und 75ff. Vgl. Salomon Geßner: Idyllen, S. 77-80. Renate Böschenstein weist zudem auf die 11. Idylle Theokrits hin, die Geßner variiere, sowie auf Vergils 6. Ekloge, auf die Müller außerdem zurückgreife: Grotte und Kosmos. Überlegungen zu Maler Müllers Idyllen-Mythologie. In: Gerhard Sauder, Rolf Paulus, Christoph Weiß (Hg.): Maler Müller in neuer Sicht, S. 9-29, hier S.U. Mahler Müller: Idyllen, Dritter Band, S. 227. Derartige Passagen bei Müller dürften Gertrud Possaimer dazu veranlaßt haben, in Absetzung von Geßners »graziöse[r] Darstellung« und in offensichtlicher Anlehnung an Friedrich Nietzsches Dionysos-Bild von der »sinnlichen Urkraft der Antike« bei Müller zu sprechen: Die deutsche Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts. Allgemeine, soziale und politische Voraussetzungen. Diss. Wien 1938. S. 51f. Zum Vergleich zwischen den Satyr-Figuren Geßners und Müllers vgl. auch Brigitte Peucker: Arcadia to Elysium, S. 63f.
126 Schließlich wechselt Müller auch Schauplatz und Personal aus, verlegt seine Idyllen in die zeitgenössische Pfalz, bevölkert sie mit ebenso zeitgenössisch-realistisch anmutenden bäuerlichen Familien - allen voran dem polternden und fluchenden Bauern Walter90 - und übt zum Teil offene, zum Teil satirische91 Kritik an der all dies verwerfenden >künstlichen< Tradition. Darüber hinaus weisen Müllers pfalzische Idyllen auch einen weiteren, mit der künstlichen Zurichtung des idyllischen Gegenstandes zusammenhangenden Grundsatz Schlegels als gattungstheoretischen Anachronismus aus: Während dieser sich noch in der dritten Auflage seiner Abhandlung mit Moses Mendelssohn über die Zulässigkeit »schmerzhafte[r] Leidenschaften« in der Idyllendichtung auseinandersetzt,92 läßt Müller in seiner in den siebziger Jahren entstandenen - wenngleich erst 1811 veröffentlichten - pfälzischen Idylle Das Nuß=Kernen die gesellig versammelten Landleute mit großem Interesse Erzählungen von gewalttätigen Zigeunern sowie von einer tragischen Kindsmörderin folgen.93 90
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Wiewohl Friedrich Sengle die berechtigte Frage stellt, »ob ein Bauer, der Literaturkritik betreibt, >natürlicher< ist als ein enthusiastischer Schäfer«: Wunschbild Land und Schreckbild Stadt Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur. [1964] In: Europäische Bukolik und Georgik, S. 432-460, Wer S. 440. Mag man den Kommentar Walters auch nicht unbedingt als »Literaturkritik« bezeichnen, so läßt er doch gemeinsam mit Müllers Nachdichtungen vermeintlich authentischer Ritterlieder berechtigte Zweifel an der Zuordnung Renate Böschenstein-Schäfers aufkommen, die Müller unter der Überschrift »Die realistische Idylle« behandelt: Vgl. Idylle, S. 94ff. Diese Zuordnung wurde in der späteren Forschung häufig übernommen: Vgl. etwa Klaus Bernhard: Idylle, S. 116; Gerhard Hämmerling: Die Idylle von Geßner bis Voß, S. 130ff.; dagegen aber auch York-Gothart Mix: Komm schone Galatee! Die Lämmer ruhn im Klee..., S. S2f., 57ff. In diesem Zusammenhang weist Dieter Kafitz auf die »Vorliebe des Pfalzers für sprachliche Übertreibungen« hin und bemerkt gar: »Müllers Idyllen könnten als volkskundliche Quellen für die Neigungen des Pfalzers zu grellen und derben Ausdrücken [...] gelten.« Kafitz hält Müllers Idyllen weder für ein »idealisiertes Wirklichkeitsbild« noch f&r ein »Sehnsuchtsbild, das >die gute alte Zeit< verherrlicht«, sondern für die »lehbildliche Darstellung eines möglichen, wenn auch durch gesellschaftlich-soziale Einflüsse stets gefährdeten Gemeinschaftslebens«: Gattungskonvention und Dorfmilieu in den »Pfalzer Idyllen« Friedrich Müllers. In: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 3 (1977). S. 96-122, Zitat S. 104f. Vgl. etwa die Parodie des galanten Werbungsliedes eines Ritters, der »im Korb sich zur schönen Cunigunde hinaufhaspeln ließ«, aber auf halber Strecke hängenblieb, im Nuß=Kernen: »Ach Schätzchen, thu' dein Fensterlein auf [/] Und zieh mich armen Schlucker hinauf! [/] Das Herz im Busen knarret mir, [/] Die Seel' im Leib verfheret schier. [/] Ach Schatzchen, zieh' mich schnell hinauf, [/] Sonst geht dein armer Schlucker drauf.« Idyllen, Dritter Band, S. 108f. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 380; vgl. dagegen Mendelssohns 86. Brief, die neueste Litteratur betreffend. In: MGS, IV/2, S. 21-28, hierS.23f. Vgl. Mahler Müller: Idyllen, Dritter Band, S. 57-149, hier S. 85ff., 91ff. Auch Ramler hatte noch daran festgehalten, allenfalls gemäßigte Leidenschaften in der Idyllendichtung zuzulassen: Verwicklungen der Liebe seien zwar erlaubt, aber »[e]in Schäfer, der sich vor der Thüre seiner Schäferinn erhenkt, ist kein arkadisches Schauspiel, weil man in dem Schäferleben solche starke Leidenschaften nicht kennen muß, die zu einer solchen Ausschweifung Anlaß geben können.« (Einleitung in die schönen Wissenschaften, S. 317.) Auch Joseph Freiherr von Penkler schließt sich 1767 noch der traditionellen Auffassung - und ausdrücklich Schlegel an, daß sich mit den »Vorzügen« der natürlichen Unschuld »stürmende und verderbliche Leidenschaften unmöglich vertragen können.« Abhandlung vom Schäfergedichte. Von Joseph Freyherm von Penkler. Augsburg 1767. S. 53. Dagegen dürfte auch dieser Zug der Idyllen Müllers, der eher an den geselligen Erzählrahmen der Nachtstücke E. T. A. Hoffinanns als an
127 Auch das formale Vorgehen Müllers kennzeichnet einen markanten und, wie der zitierte Geßner-Kommentar des Bauern Walter deutlich macht, bewußten Gegensatz zu dem kurzen und überschaubaren, gleichwohl mit einer Häufung charakterisierender Attribute*4 gespickten parataktischen Satzbau Geßners, wie er sich beipielhaft etwa in der Erfindung des Saitenspiels und des Gesanges, einem zentralen Text der ersten Sammlung Geßnerscher Idyllen, findet. Geßner läßt ein »Mädchen« den »Gesang der Vögel im nahen Hain [...] behorchen« und ihren eigenen nach diesem Vorbild verfeinem. Mit »singenden Worten« spricht sie schließlich: O lehrt mich die wechselnden Töne, dann sing' ich mein sanftes Entzüken, mit euch, dem frühen Sormen-Stral. So sang sie, und unvermerkt schmiegten ihre Worte sich harmonisch in süßtönendem Maaß nach ihrem Gesang; voll Entzüken bemerkte sie die neue Harmonie gemessener Worte. Wie glänzt der Gesang-volle Hain! so fuhr sie erstaunt fort, wie glänzt die Gegend umher im Thau! Wo bist du, der diß alles schuf? Wie bin ich entzükt! izt kann ich mit lieblichem Tönen dich loben, als meine Gespielen. So sang sie, und die Gegend behorchte entzükt die neue Harmonie, und die Vögel des Haines schwiegen und horchten. An diesem kurzen Ausschnitt lassen sich entscheidende Strukturmomente der »höchst künstlichen Idyllen Salomon Geßners«96 ablesen: Die Verfeinerung der Sprache, wie sie Geßners eigenen Texten zu der großen internationalen, von der deutschen Literatur zuvor lediglich von Sebastian Brants Narrenschiff'und dann bis zu Goethes Werther nicht wieder erreichten Resonanz verhelfen haben dürfte, gehört zugleich zum inhaltlichen Programm seiner Idyllen. Eher als die Ursprünge der menschlichen Natur kommen diejenigen der menschlichen Kunst zur Darstellung, wie sie Wieland in seinen Gedanken über die Idille beschrieb: Dieses war ohne Zweifel der erste Ursprung des Gesangs, welcher bald auch die Dichtkunst hervorbrachte [...]. Der Wetteifer mußte diese Erfindungen der Natur, schnell zu immer höhe-
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die realistische Dorfgeschichte erinnert, für die hohe Anerkennung gesorgt haben, die Müller bei den deutschen Romantikern fand und die sich nicht zuletzt in der Herausgabe seiner Werke durch Ludwig Tieck äußerte. Zu Müllers Idyllen als Auftakt zur Gattung der Dorfgeschichte vgl. bereits Gustav Albert Andreen: Studies in the Idyl in German Literature, S. 59. Die These von der Genese der Dorfgeschichte aus der Schäfer- und Idyllendichtung findet sich bereits bei Louis Läßer: Die deutsche Dorfdichtung von ihren Anfangen bis zur Gegenwart Im Zusammenhang dargestellt Salzungen 1907. Gegen diese mittlerweile weit verbreitete These wandten sich jedoch Ignaz Feuerlicht: Die deutsche Idylle seit Geßner. In: Modem Language Quarterly 11 (1950). S. 58-72; sowie Dieter Kafitz: Gattungskonvention und Dorfmilieu in den »Pfalzer Idyllen« Friedrich Müllers, S. 118f. Vgl. dagegen auch Brigitte Peucker: Arcadia to Elysium, S.69ff. Die überdies eine satirische Kennzeichnung erfahren, wenn sie im Nuß=Kernen als beispielhafte Dichtung des Schulmeisters vorgeführt werden, »[u]m zu zeigen, wie man das Adjectivum dem Substantivum anständig vermählen soll«: Mahler Müller: Idyllen, Dritter Band, S. 197ff., Zitat S. 198. Vgl. dz. auch noch die Geßner-Kritik Willibald Nagels: »[WJenn er einmal angefangen hat, Beiwörter zu gebrauchen, so lässt er kaum ein Hauptwort unverschont«: Die deutsche Idylle im 18. Jahrhundert, S. 34. Zum Sprachstil der Prosa Geßners vgl. neben den angeführten Arbeiten von Schmidt und Blackall auch Rudolf Strasser: Stilprobleme in Geßners Kunst und Dichtung. Diss. Heidelberg 1936. Insbes. S. 34ff. (Syntax), S. 43ff. (Semantik) und S. 48ff. (Rhythmus). Salomon Geßner: Idyllen, S. 53f. Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 20.
128 ren Graden der Vollkommenheit forttreiben. Was anfangs regellose Versuche, oder vielmehr Würkungen des Instinkts waren, wurde nach und nach zur Kunst; man fieng an, über den Ausdruck der Empfindungen zu rqffiniren, die Gemähide der schonen Gegenstände, wovon man gerührt war, besser auszubilden, den geheimen Schönheiten derselben nachzuspühren, und die Worte auf eine wohlklingende Art zusammen zu ordnen.97
Nicht nur die Verfeinerung des Gesanges widerspricht der Darstellung einer ursprünglich-naiven Natur. Mehr noch verdient der von Wieland angenommene und auch bei Geßner deutlich zum Ausdruck gebrachte Anlaß zu dieser Perfektionierung hervorgehoben zu werden: »Wetteifer« und Konkurrenz, »mit lieblichem Tönen« loben zu können als die »Gespielen«. Es handelt sich hierbei um diejenigen Momente, die Immanuel Kant unter dem Stichwort der ungeselligen Geselligkeit zum Ursprung der gesellschaftlichen Fortentwicklung machen sollte und die auch für Rousseau den idyllischen Zustand des Goldenen Zeitalters unweigerlich und unwiderruflich zerstörten.98 Die von Markus Winkler jüngst hervorgehobene »inner fragility« der Geßnerschen Idyllenwelt99 läßt sich mithin auch daran ablesen, daß sie nur in Ausnahmefällen in der Lage ist, ihre als natürlich reklamierten Strukturen ohne Aufnahme bestimmter, über die natürliche Einfachheit hinausweisender Momente zu präsentieren. So erscheint bei Geßner etwa das traditionelle bukolische Motiv das Sängerwettstreits als soziales Fortschrittsprinzip der Konkurrenz. Weit entfernt von einem naiv-vorreflexiven Charakter, wissen die Geßnerschen Figuren sich ihren glücklichen Zustand auch jederzeit bewußt zu machen: »Wie bin ich entzükt!«, derartige Ausrufe begegnen bei Geßner zu häufig, als daß noch von ursprünglich-naiver Natürlichkeit seiner Figuren die Rede sein könnte.100 In dieser Beziehung ist Gerhard Kaiser uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er festhält: »Eine Idyllenfigur, die sich als solche erkennt und ausspricht, ist keine mehr.«101 Noch deutlicher als Maler Müller wird schließlich einige Jahre später Jean Paul in der Einschätzung Geßners, wenn er in seiner Satire auf die höfische Idyllendichtung im Komischen Anhang zum Titan »die poetischen Prosaisten Moser, Geßner und Ebert« als Vorbilder für Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben 97
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Christoph Martin Wieland: Gedanken über die Idille, S. 702£ (Hervorhebungen CB.) Noch 1789 berief sich Friedrich Ludwig Carl Graf von Finckenstein in seinem Versuch über das bukolische Gedicht auf »die alte Sage, welche den Daphnis zum Erfinder des Hirdengedichts macht« (S. 7). S. dz. u., S. 187 (Rousseau) sowie S. 307ff. (Kant). Markus Winkler: The Poetics of Enlightenment and Salomon Gessner's Idylls. In: Reconceptualizing Nature, Science, and Aesthetics, S. 185-197, hier S. 197. Nicht nur auf ihren persönlichen Glückszustand, auch auf ihre Tugendhaftigkeit vermögen die Idyllenfiguren Geßners in aller Regel zu reflektieren; s. dz. u., S. 156. Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 31. Kaiser bezieht diesen Einwand gleichwohl lediglich auf die Schlußwendung in Müllers Schaqf=Schur. Müller selbst hat dieses Problem in Adams erstes Erwachen bearbeitet, wo er deutlich macht, daß das paradiesische Glück der idyllischen Existenz erst nach dem Erwachen von Sinnen und Bewußtsein überhaupt erlebbar wird, daß mit diesem jedoch zugleich Fragen und Furcht entstehen, welche die ungebrochene Vollkommenheit des Glücks trüben: Vgl. Idyllen, Erster Band, S. 17ff., insbes. S. 21, sowie 40fE
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(1801) nennt, die »das Schäferleben und das goldne Zeitalter nur im Stadt- und Hofleben« antrifft und mit dem Ausruf endet: »Nie fliehe diese Unschuld und Freude aus dem Hirtenlande der Hofmänner und Hofweiber, sondern sie wachse!«102 Diese eindeutige Zuordnung Geßners bestätigt er später in der zweiten Auflage der Vorschule der Ästhetik (1813) im Verweis auf dessen Rezeption in Frankreich: In Goethens Jen und Bäteli lebt mehr Schweizer-Idylle als im halben Geßner. Daher haben letzten die Franzosen schmackhaft gefunden und übertragen als guten frischen SennenMilchzucker zu Fontenelles idyllischen superfin. Es ist überhaupt kein gutes Zeichen, wenn ein Deutscher ins Französische gut zu übersetzen ist [.. .].103
Eine wohl eher unfreiwillige Bestätigung dieses Befundes bietet Johann Jakob Hottinger in seiner Geßner-Biographie. Dort betont er die besondere Qualifikation Heinrich Meisters, der die französische Übersetzung der dritten Idyllensammlung Geßners besorgte, für dieses Geschäft: Meister, »ein Mitbürger des Verfassers«, habe im Umgange mit den grösten Männern der [französischen, CB] Nation, und durch täglichen Verkehr mit der feinen Welt sein glückliches Genie zu jener Politur und Urbanität ausgebildet, welche man ausserhalb Frankreich [!] mit so gründlichen Kenntnissen selten gepaart findet104
Der Cicero-Übersetzer Hottinger lobt nicht lediglich »Politur« und »Urbanität« der »feinen Welt«, sondern hebt sie zudem hervor als Voraussetzung für eine adäquate Übersetzung Geßners, der »unmöglich [...] die zarten Gefühle seines tugendathmenden Gesanges unverfälschter zurückschallen hören [konnte], als durch das Organ eines an Geist und Herzen ihm so nahe verwandten Mannes.«103 Eine mögliche Erklärung für die widersprüchliche Rezeption Geßners bietet die Idylle Der Wunsch, die den Abschluß der ersten Sammlung von 1756 bildete. An ihr läßt sich beispielhaft deutlich machen, daß es sich bei den Figuren seiner Dichtung um Vertreter einer als allgemein-menschlich verstandenen Sehnsucht handelt, die standesübergreifend gedacht ist und sich der Zuordnung zu bestimmten sozialen Gruppen grundsätzlich entzieht. Der Text fällt jedoch so deutlich aus dem Rahmen der Sammlung heraus, daß Schlegel ihn wegen der »satirischen Züge wider das Stadtleben« und der »genaue[n] Schilderung unsrer Landleute«106 nicht als Idylle gelten ließ, sondern zu den Landgedichten zählte. Diese Sonderstellung ermöglicht es zugleich, ihn als programmatischen Text zu lesen, der nähere Auskunft über den Charakter der Geßnerschen Idyllendichtung zu 102
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JPW, 1/3, S. 869, 871. Zur Hafteldorn-Idylle vgl. auch Jens Tismar: Gestörte Idyllen, S. 34f, der diese jedoch ohne Bezug zur allegorisierenden Pastoralentradition behandelt, sowie bereits Ralph-Rainer Wuthenow: Gefährdete Idylle. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft l (1966). S. 79-94, hier S. 91f. Zu Jean Pauls Geßnerkritik vgl. außerdem Norman Gronke: Idylle als literarisches und soziales Phänomen, S. 179ff. JPW, 1/5, S. 261. Johann Jakob Hottinger: Salomon Gessner, S. 105. Ebd. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 353.
130 geben vermag.107 Einleitend äußert der Erzähler seine idyllische Sehnsucht in Absetzung von der Realität des Stadtlebens: O könnt' ich unbekannt und still, fern vom Getümmel der Stadt, wo dem Redlichen unausweichliche Fallstrike gewebt sind, wo Sitten und Verhältnisse tausend Thorhehen adeln, könnt' ich in einsamer Gegend mein Leben ruhig wandern, im kleinen Landhaus, beym ländlichen Garten, unbeneidet und unbemerkt!108 Im weiteren Verlauf folgen dann Abgrenzungen gegenüber anderen, von Geßner ebenfalls aufs Land verlegten, der idyllischen Sehnsucht jedoch entgegenstehenden Lebensweisen: Aber fern sey meine Hotte von dem Landhaus, das Dorantes bewohnt, ununterbrochen in Gesellschaft zu seyn. Bey ihm lernt man, daß Frankreich gewiß nicht kriegen wird, und was Mops thäte, wenn er König der Britten wäre, und bey wohlbedekter Tafel werden die Wissenschaften beurtheih, und die Fehler unsere Staats, indeß daß majestätischer Anstand vor der leeren Stime schwebt Weit von Oronten weg sey meine einsame Wohnung; fernher sammelt sich Wein in seinem Keller, die Natur ist ihm nur schön, weil niedliche Bissen für ihn in der Luft fliegen, oder den Hain durchirren, oder in der Flut schwimmen. [...] Noch weiter von dir, hagrer Harpax, dessen Thüre hagre Hunde bewachen, die hungernd dem ungestühm abgewiesenen Armen das bethränte Brod rauben.109 Hedonistisch-selbstgefällige Gelehrsamkeit, ausschweifender Luxus, hartherziger Egoismus - dies sind die Gegenbilder der erträumten idyllischen Ersatzrealität, und all diese Gegenbilder werden keinem besonderen Stand zugeordnet, sondern beschreiben umfassend und ständeübergreifend den Charakter rücksichtslos selbstbezüglich handelnder Menschen.110 Vor diesen zieht der Erzähler sich zurück, betrachtet ebenso wohlgefällig den »nützliche[n] Staat der Bienen« als »ein liebliches Schauspiel«111 wie den Gärtner, der »die Beeten umgräbt, um schmakhafte Garten-Gewächse zu säen«112. Er besucht »den Landmann, wenn er beim furchenziehenden Pflug singt, oder die frohen Reihen der Schnitter, wenn sie ihre ländlichen Lieder singen«113, und an trüben Tagen lädt er eine Gesellschaft zu sich ein, »die edelste Gesellschaft, der Stolz und die Ehr' eines jeden Jahrhunderts, die grossen Geister, die ihre Weisheit in lehrende Bücher ausge107 108 109 110 111
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Eine Sonderstellung kommt dem Text neben seinem offenbar auf die Gegenwart verweisenden Zeitbezug auch aufgrund seiner Position am Ende der Idyllensammlung zu (s. dz. u., S. 154C). Salomon Geßner: Idyllen, S. 66. Ebd.,S.67f. Deren Eigenschaften decken sich exakt mit jenen, die Schlegel unter dem Oberbegriff »menschliche[r] Torheit« zusammenfaßte, ohne sie ständespezifisch zuzuordnen: S. o., S. 116. Salomon Geßner: Idyllen, S. 66. Zur Bedeutung der Bienen in Geßners Idyllen vgl. Markus Winkler: The Poetics of Enlightenment and Salomon Gessner's Idylls, S. 196. Ob Geßner diesbezüglich unmittelbar auf die Abhandlung Mandevilles zurückgreift, erscheint unwahrscheinlich. Eher dürfte ihm das Bild über Isaak Iselins Philosophische und patriotische Träume eines Menschenkenners vermittelt worden sein: Iselin begründet dort seinen Vorschlag, die Staatsgeschäfte einer Gruppe von »Patriciem« zu überlassen, diese jedoch nicht zu besolden, sondern sie ihren Unterhalt auf zugeteilten Erbgütern selbst erwirtschaften zu lassen: »Der Staat würde aus einer Gesellschaft von Wespen, wie die meisten izigen Republiken sind, zu einer Gesellschaft von Bienen werden [...].«(S. 15 If.) Salomon Geßner: Idyllen, S. 67. Ebd., S. 69.
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gössen haben«114. Nirgends wird diese bloß betrachtende und besuchende Existenz unterbrochen; lediglich dem »fromme[n] Landmann«, dem »Nachbar[n]«, wird »liebreiche Hülfe und freundschaftlicher Rath« zuteil.113 Was Geßner mit sehnsüchtig-wehmütigem Unterton besingt, ist nicht mehr und nicht weniger als das stände- und gesellschaftsübergreifende Reich der Tugend, Der Wunsch (wenigstens zunächst) nichts anderes als die Reklamierung eines Außergesellschaftlichen schlechthin, einer lediglich von einer natürlichen, auf Moral und gegenseitige Unterstützung gebauten, eng umgrenzten Geselligkeit umfaßten Einsamkeit.116 Geselligkeit beschränkt sich in dieser erträumten ländlichen Existenz auf einige Besuche bei der arbeitenden Landbevölkerung sowie auf jene »edelste Gesellschaft« hervorragender Schriftsteller.117 Gegenüber diesen passiven Formen wird lediglich die Beziehung zum Nachbarn als aktive, soziale Interaktion implizierende gesellige Beziehung hervorgehoben. Die Sozialität des Menschen ist somit im Rahmen des erträumten Glücks auf moralische Beziehungen reduziert. Weder verrechtlichte noch auf wirtschaftlicher Austauschbeziehung beruhende Verhältnisse werden erwähnt; sie gehören offenbar zu den »tausend Thorheiten«, die einleitend das »Getümmel der Stadt« prägen, »wo dem Redlichen unausweichliche Fallstrike gewebt sind«. Wer diese »Fallstrike« webt und auslegt, bleibt bei Geßner offen. Die PassivKonstruktion, die der Autor an dieser Stelle wählt, steht in auffälligem Kontrast zu der Personifizierung der verhaßten Laster, die auch die friedliche Ruhe des Landlebens bedrohen. Statt einzelner, namhaft zu machender Personen, die den moralischen Ansprüchen nicht genügen, sind es in der Stadt in anonymisierter Form »Sitten und Verhältnisse«, die jene »tausend Thorheiten adeln«.118 Die städtischen »Fallstrike« hat nicht das unmoralische Handeln einzelner zu verantworten. Ein solches findet sich auch auf dem Land, ohne daß es doch in der Lage wäre, die Präferenz für diese Lebensform in Frage zu stellen. Vielmehr haben sich im »Getümmel der Stadt« Strukturen herausgebildet, die ein Handeln allein nach moralischen Kategorien scheitern lassen. So sind es auch genaugenommen nicht die Stadtbewohner, die das poetische Ich auf das Land treiben, sondern »Sitten und Verhältnisse«, die den Bewohnern ein bestimmtes Verhalten abnötigen.119 114
Ebd., S. 70.
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Ebd., S. 68. Dieser tugendhafte Beistand begründet für Geßner zugleich die einzig legitime Form des Selbstbezugs im Rahmen moralischer Selbstreflexion. S. dz. u., S. 156. Die sozialen Voraussetzungen für eine derartige Lebensweise, die nötige materielle Unabhängigkeit für eine von Muße bestimmte Existenz inmitten der im Sinne eines englischen Landschaftsgartens gestalteten Natur, verweisen auf den traditionellen sozialen Ort von Geßners Wunsch. Diesen traditionellen sozialen Ort der Bukolik reklamiert Geßner dann abschließend als ständeübergreifende Möglichkeit einer moralischen Existenz in der Gesellschaft. An dieser Stelle wird mithin die Vermittlungsfunktion der Geßnerschen Idyllik, ihre Verbreitung traditioneller gesellschaftsethischer Ideale, besonders augenfällig. Ausdrücklich genannt werden im folgenden: Klopstock, Bodmer, Breitinger, Wieland, Kleist und Gleim: Vgl. Idyllen, S. 70. Ebd., S. 66. Zur schwindenden Bedeutung des moralischen Standpunktes für die Begründung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge s. o., S. 38ff. u. 97.
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132 Geßners Reklamierung eines außer- und vorgesellschaftlichen Standpunktes stellt jedoch keinen Eskapismus dar: Der sich in die Weite des menschenarmen Landes Begebende biegt abrupt zurück in die Realität des vergesellschafteten Zustandes. Er verwirft seinen »eitelen Traum« und seine illusionäre Glückseligkeitsphantasie, die ihm den Blick auf das wirkliche Glück versperrte, das - weniger umfassend möglicherweise, aber dafür um so realer - die Wirklichkeit jedem zu bieten hat: Unser wahres Glük ist die Tugend Der ist ein Weiser, und glüklich, der willig die Stell' ausfüllt, die der Baumeister, der den Plan des ganzen denkt, ihm bestimmt hat Ja du, gottliche Tugend, du bist unser Glük, du streust Freud' und Seligkeit in jedem Stand auf unsre Tage.120
Der moralische Standpunkt, der allein wahres Glück verheißt, ist ein Standpunkt über den Ständen, über der Gesellschaft, ohne Stände und Gesellschaft jedoch in Frage zu stellen. Er beruht auf der angemessenen Perspektive,121 die den Menschen nicht als Vertreter eines Standes, eines Interesses, einer Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft wahrnimmt, sondern - das macht die Szene mit dem Nachbarn unübersehbar klar - als Menschen im Sinne seiner natürlichen Ratund Hilfsbedürftigkeit. Diese ist es, welche die Menschen ursprünglich zusammenführt, und auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe erhebt sich das Reich der Tugend, ohne daß Geßner dieses Urverhältnis menschlicher Geselligkeit zu einem naturrechtlichen122 oder poetischen123 Gesellschaftsentwurf weitertrieb. Spätestens die Glücksperspektive, die der moralische Standpunkt dem einzelnen laut Geßner verheißt, markiert jedoch einen wesentlichen Unterschied gegenüber den neueren naturrechtlichen Grundlegungen menschlicher Geselligkeit: »Gott belohnt seine Bemühung gluklich zu seyn [...] mit ewigem Glük«124. Im Blick auf den hilfsbedürftigen Nachbarn formuliert Geßner die traditionellen Tugendpflichten der christlichen Nächstenliebe. Zwar hatte ein solcher, von ursprünglicher Tugend gekennzeichneter vorgesellschaftlicher Zustand christlicher Prägung auch in den Konzeptionen eines säkularen Naturrechts noch seinen Platz, ohne jedoch systematisch im Sinne einer Rechtsbegründung in Anspruch genommen werden zu können. Das tut auch Geßner nicht, indem er ihn nicht als Ersatz für die gesellschaftliche Existenz empfiehlt, sondern zusätzlich zu einem Leben, das »willig die Stell' ausfüllt, die der Baumeister, der den Plan des ganzen denkt, ihm bestimmt hat«125. Ausdrücklich verweist Geßner in diesem Zu-
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Salomon Geßner: Idyllen, S. 71. Die Nähe dieses moralischen zum ästhetischen Standpunkt auch bereits vor Schillere Versuchen zu ihrer systematischen Verknüpfung verdeutlicht Hottingers Wiedergabe eines Ausspruchs Geßners: »>Ich sehe den Menschern, sagte er einst zu seiner Gattin, >nicht anders an, als wie ein Gemälde; wenn das Gute darin überwiegt, so kann ich es mit Vergnügen betrachten. höfischer< und bürgerlichen Geselligkeitsideale markiert die Idyllik Geßners wohl einen Übergang, keineswegs jedoch einen radikalen Bruch zwischen der alten höfischen und der sich aus dieser entwickelnden neuen bürgerlichen Ordnung.146 Dies zeitigt weitreichende Folgen für die im Anschluß an das idyllisch-ländliche Ideal bis ins 20. Jahrhundert hinein formulierten Sozialkonzepte, auf die Raymond Williams ebenso aufmerksam macht wie auf ihre enge Verbindung mit den traditionellen Tugenden christlicher Nächstenliebe: These celebrations of a feudal or an aristocratic order [...] have been widely used, in an idealist retrospect, as a critique of capitalism. These emphases on obligation, on charity, on the open door to the needy neighbour, are contrasted, in a familiar vein of retrospective radicalism, with the capitalist thrust, the utilitarian reduction of all social relationships to a crued moneyed order.147
Geßners moralischer Standpunkt wird ausdrücklich als privater Rückzugsraum ohne jeden politisch-gesellschaftlichen Anspruch gekennzeichnet. Eben deshalb ließ er sich als idealisierte Vorstellung ursprünglich-natürlicher Moralität grundsätzlich jedem gesellschaftlichen System entgegenstellen - ein Verfahren, das Geßner selbst gleichwohl ausdrücklich ablehnte und statt dessen die Integration des moralischen Standpunktes in differenzierte gesellschaftliche Verhältnisse forderte.
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Raymond Williams: The Country and the City, S. 23ff. Durch diese Einordnung ließen sich auch die latenten Widersprüchlichkeiten innerhalb des Geßnerschen Idyllenwerkes erklären, die Markus Winkler konstatiert und als »important factor of their initial success« herausstellt - eben weil es Geßner gelang, die Nonnen einer überkommenen mit denen einer sich neu durchsetzenden Ordnung zu verbinden: The Poetics of Enlightenment and Salomon Gessner's Idylls, S. 197. Raymond Williams: The Country and the Chy, S. 35. Zur Verlängerung dieser Charakterisierung bis ins 20. Jahrhundert vgl. ebd., S. 36. Friedrich Sengle sieht das scharfe Verdikt, das Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik gegen die Geßnerschen Idyllen aussprechen sollte (s. o., S. 113, Anm. 40) in dem Umstand begründet, »daß im Biedermeier die Idylle, einschließlich Geßner, noch hohes Ansehen genoß.« Auch er konstatiert eine »lückenlose literarische Tradition von Geßners Idyllik bis zum Bauemroman aus >Blut und Bodem«, betont dabei jedoch, »daß sich der menschliche Sinn des Schäfer- und Bauemkultes geradezu ins Gegenteil verkehrt hat«: vom »Bild der Unschuld« zum »Primitivismus«: Formen des idyllischen Menschenbildes, S. 157,170.
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2.3 Die idyllische Existenz des Bürgers: Zum Status der Idyllendichtung in der Biographie Geßners In einem Beitrag über Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts machte Wolfram Mauser 1990 im Anschluß an die soeben ausführlicher angesprochene Idylle Der Wunsch auf ein Problem aufmerksam, das er in die Frage kleidete, warum sich ein Bürger wie Geßner, der über alle materiellen Voraussetzungen für erfolgreiches Wirken verfügte, im Gedanken in die ideale Welt der Idylle begibt und dafür auch erhebliche Zeit aufwendet, anstatt konsequenter und wirkungsvoller den Geschäften nachzugehen; läge darin nicht eine größere Chance, auf widrige Umstände Einfluß zu nehmen?148
Im Anschluß an die Feststellung, daß die Idyllen für Geßner »neben einer sehr wirkungsvollen und im ganzen erfolgreichen bürgerlich-gewerblich-kaufmännischen Tätigkeit«149 standen, wählt Mauser - was der Ort seiner Veröffentlichung nahelegt - einen psychologischen Erklärungsansatz und macht einen »Zustand innerer Glücksunfähigkeit« für die in den Idyllen exemplarisch gezeichneten »bildhaft-szenische[n] Vorstellungen von Glückseligkeit«130 verantwortlich.131 Die von Mauser auf dieser Grundlage gewonnenen interpretatorischen Aufschlüsse sind im folgenden um eine sozialhistorische Akzentuierung zu ergänzen. Daß die Biographie Salomon Geßners über alle einleitend angesprochenen terminologischen Probleme hinweg als bürgerlich zu bezeichnen ist, erscheint auf den ersten Blick so selbstverständlich, daß es verwundern muß, wie spät dieser Tatsache in der Geßner-Rezeption und -Forschung Rechnung getragen wurde. Als Mitglied im Rat der Stadt Zürich sowie als erfolgreicher Verleger und Buchhändler lassen sich in seinem Fall beide eingangs anhand der Unterscheidung 148
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Wolfram Mauser: Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Ein Versuch. In: Melancholie in Literatur und Kunst. Beiträge von Udo Benzenhöfer u. a. Hürtgenwald 1990 (Schriften zur Psychopathologie, Kunst und Literatur I). S. 48-88, hier S. 79f. Ebd., S. 80. (Hervorhebung im Original.) Ebd. Psychoanalytische Interpretationsansätze wurden bereits 1933 von Ignaz Feuerlicht in die Idyllenforschung eingeführt: Feuerlicht nutzte hierfür die Parallelisierung von Phylo- und Ontogenese und diagnostizierte (zunächst im Blick auf Jean Pauls Wute-Figur) einen »psychohygienischen Zweck der Idylle« in der »lustbefonte[n] Rückwendung zur eigenen Kindheit«: Analyse des Idyllischen. In: Psychoanalytische Bewegung 5 (1933). S. 167-186, Zitate S. 168, 171. (Hervorhebung im Original.) Auf dieser Grundlage bestimmte Feuerlicht dann noch 1947 das »Wesen der deutschen Idylle«: Vom Wesen der deutschen Idylle. In: The Germanic Review XXII (1947). S. 202-217. Später hat Renate Böschenstein-Schäfer wiederholt psychoanalytische Kategorien und Fragestellungen in der Idyllenforschung zur Anwendung gebracht: Vgl. etwa Gessner und die Wölfe. Zum Verhältnis von Idylle und Aggression. In: Maler und Dichter der Idylle, S. 71-73; sowie Die Lotosesser. Nur wenig später legte Mauser für die Freundschaftsdichtung des 18. Jahrhunderts einen vergleichbaren Interpretationsansatz vor, in dem er diese von dem aus der neuzeitlichen Sozialphilosophie hervorgehenden Gegensatzpaar von Freundschaft und Verführung geprägt sah: Vgl. Freundschaft und Verführung. Zur inneren Widersprüchlichkeit von Glücksphantasien im 18. Jahrhundert Ein Versuch. In: Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft, S. 213-235.
139 von Christian Garve herausgestellten Bedeutungen des Bürgerbegriffs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Anwendung bringen. Bis in die siebziger Jahre hinein ist das Bild des Idyllendichters gleichwohl bestimmt vom »Gessnennythos«, dessen Entstehen Burghard Dedner »in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« beobachtet: Das Publikum schließt entweder aus Gessners Schriften auf dessen >arcadischen Charakten oder auf die zur Bewahrung eines sittlichen Bauerntums besonders günstigen Umstände der Schweiz.132 Neben Albrecht von Hallers Die Alpen (1729), die einem als natumah idealisierten Schweiz-Bild bereits vorgearbeitet, sowie Rousseaus Schilderungen des Wallis-Tales, die dieses befestigt hatten, mag Geßner hierzu auch selbst beigetragen haben:133 Am 29. November 1754 wies er in dem bereits angeführten und schon früh bekannt gewordenen Schreiben an Gleim daraufhin, er traue sich zu, »auf unsern Alpen Hirten zu finden, wie Theokrit zu seiner Zeit, denen man wenig nehmen und wenig leihen dürfte, um sie zur Ekloge zu bilden.«134 Dieser für das Selbstverständnis der Geßnerschen Idyllendichtung aufschlußreiche Brief wird in der Forschung häufig herangezogen. Der Zusammenhang, in dem die soeben zitierte Betonung der idyllischen Natur zeitgenössischer Alpenhirten steht, darf hierbei jedoch nicht vernachlässigt werden. Aus ihm ergibt sich ein etwas anderes Bild von Geßners Einschätzung des Wirklichkeitsbezugs seiner Idyllen: ET setzt sich hier zunächst von dem an anderer Stelle als Vorbild herangezogenen Theokrit133 ab, der zwar »göttlich« sei, aber »für Leute von an-
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Burghard Dedner: Topos, Ideal und Realhätspostulat, S. 15. Gabrielle Bersiers Verweis auf »two Parisian stage shows, Lisbeth (1797) and Gessner (1800)«, zeugt überdies vom Reimport der idyllisierten Dichterbiographie in die Literatur: Arcadia revitalized, S. 37. Zum Philhelvetismus im 18. Jahrhundert vgl. bereits Eduard Ziehen: Die deutsche Schweizerbegeisterung in den Jahren 1750-1815. Frankfurt/M. 1922 (Deutsche Forschungen 8). Insbes. S. 17-64; Ders.: Philhelvetism. Marburg/Lahn 1925 (Die neueren Sprachen Beiheft 4). Zuletzt auch: Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770-1830. Hg. von Hellmut Thomke u. a. Amsterdam, Atlanta 1994 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 109). Insbes. die Beiträge von Rainer Gruenter: Der Mythos der Schweiz im 18. Jahrhundert Ein Landschaftsbild (S. 7-19); Gonthier-Louis Fink: Die Schweiz im Spiegel deutscher Zeitschriften (1722-1789). Bild und Wirklichkeit (S. 57-78) sowie Günter Oesterle: Die Schweiz - Mythos und Kritik. Deutsche Reisebeschreibungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (S. 79-100). Zum Anteil von Geßners Idyllen am zeitgenössischen Philhelvetismus vgl. Ulrich Im Hof: Aufklärung in der Schweiz. Bern 1970. S. 84£; zur Bedeutung >schöner Literatun für die Konstitution des Schweiz-Mythos zuletzt auch Martin Bircher: Arkadien in Helvetien. Gesundheit und Krankheit in der Idylle. In: Euphorien 89 (1995). S. 349-366, insbes. S. 355ffi Geßner an Gleim, 29. 11. 1754, a. a. O., S. 218. Vgl. dz. auch das Schreiben Ramlers an Geßner vom 16.10. 1755, in dem er dessen Berufung zur Idyllendichtung begründet: »Sie wohnen in einem Lande, welches zum Theil wahre arcadische Einwohner hat, und haben selbst den wahren arcadischen Geist« Zh. nach Carl Schüddekopf: Aus dem Briefwechsel zwischen Gessner und Ramler, S. 101. Zur Geßner-Rezeption im Zusammenhang mit dem Philhelvetismus im 18. Jahrhundert vgl. zuletzt auch Uwe Hentschel: Salomon Geßners Idyllen und ihre deutsche Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, S. 33 5f, 340ff. S. o., S. 117.
140 dem, vielleicht bessern Sitten gesungen«156 habe. Aus dem Abstand der zeitgenössischen Verhältnisse des Landlebens von denjenigen, die Theokrit noch in der ländlichen Wirklichkeit vorgefunden haben mochte, ergebe sich eine veränderte Rezeptionshaltung gegenüber der detaillierten Schilderung ländlichen Lebens. Diese wird von Geßner nicht näher spezifiziert, läßt sich jedoch als früher Ansatz zu der Unterscheidung Schillers zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung lesen: »Es ist kein Fehler, aber wir empfinden etwas dabey, das bey so ganz veränderten Sitten nicht ausbleibt.«157 Daher sei in der Nachfolge Theokrits von der realitätsgerechten Darstellung des wirklichen Landlebens ein gewisser Abstand zu nehmen, der jedoch nicht so weit gehen dürfe wie bei denjenigen, »die aus allzugroßer Gefälligkeit für ausschweifend zärtliche Leute, die Bilder und Gemälde aus dem Landleben wegweisen, und die Schäferwelt nur zu einer poetischen machen wollen«138. Hier schließt sich der zitierte Hinweis auf die idyllische Wirklichkeit der Schweizer Alpen an, der als Kontrast angeführt wird zur vorhergegangenen Charakterisierung der Verhältnisse in einem Land, »wo ein hochgräflicher Herr Graf, oder ein gnädiger Herr Baron den Landmann zum armen Sclaven macht«15*. Die Betonung einer möglichen idyllischen Wirklichkeit in den Schweizer Alpen dient Geßner also zur Begründung seines Weges der idealisierenden, auf Kennzeichnungen der zeitgenössischen Wirklichkeit des Landlebens weitgehend verzichtenden Theokritnachfolge, den er offenbar als Mittelweg versteht zwischen realistischer Landleben- und poetisierend-idealisierender Idyllendichtung.1*0 Mag in den Schweizer Alpen also auch der eine oder andere idyllische Charakter in der Wirklichkeit zu finden sein, so ändert dies doch nichts an der grundlegend veränderten Situation eines Idyllendichters im 18. Jahrhundert gegenüber derjenigen des antiken Dichters: Wo dieser unmittelbar aus der Natur schöpfen konnte, muß jener gestaltend eingreifen. Die vereinzelte idyllische Wirklichkeit auf den heimischen Hängen kann ihm dafür zwar eine gewisse Richtschnur an die Hand geben, die eine allzu künstliche Zurichtung verhindert. Gleichwohl taugt sie nicht als Vorlage für eine Idyllendichtung, deren >Realismus< nicht an ihrem Verhältnis zu einzelnen ländlichen Szenen, sondern an dem zur gesamten Wirklichkeit zeitgenössischer ländlicher Existenz zu messen ist. hi seiner Vorschule der Ästhetik (1804/1813) sollte Jean Paul es Geßner dann ausdrücklich zum Vorwurf machen, daß er seine Idyllen von möglichen Insignien lokaler idyllischer Wirklichkeit in den Schweizer Alpen freihielt. Statt sich 156 157 158 139
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Geßner an Gleim, 29. 11. 1754, a. a. O., S. 217. Ebd., S. 218. Ebd. Ebd. Vgl. dz. auch Gotthardt Frühsorge: »Nachgenuß der Schöpfung.« Über die Wahrheit des Gesellschaftsentwurfs Gessnerscher Idyllendichtung. In: Maler und Dichter der Idylle, S. 74-80, insbes. S. 75. Zur Anlage des Idyllenmodells Schillers bei Geßner vgl. auch die Charakterisierung seiner Schäfer durch Hottinger als »Menschen einer besseren Art als wir Menschen sind. Sie haben alle Einfalt des kindischen Alters der Welt, und dabey doch das Gefühl aufgeklärter Menschheit« Salomon Geßner, S. 67f.; zu Geßners Theokrit-Nachfolge vgl. ebd., S. 65f.
141 an die »unbestimmten duftigen Allgemeinheiten« der traditionellen bukolischen Charakterdarstellung zu halten, hätte ein Blick in die eigene unmittelbare Umgebung genügt, um der Forderung nach den »hellsten örtlichen Farben nicht nur rar Landschaft, auch für Lage, Stand, Charakter« genüge zu tun: Schon welche köstliche Naturfarben hätte sich nicht Geßner von seinen Alpen - von den Sennenhütten - den Schweizerhörnem - und aus den Tälern holen können.161 Daß die Rezeption Geßners - im Sinne der ersten von Dedner angeführten Version des »Gessnermythos« - bereits im 18. Jahrhundert von der Identifizierung von Werk und Biographie geprägt wurde, läßt sich an zeitgenössischen Quellen aufweisen: So stilisierte Leonard Meister Geßner in seinen Neuen schweizerischen Spaziergängen von 1790 gar zu einem das Chaos ordnenden Schöpfergott, der die wilde, schroffe Natur der Schweizer Alpen in jenes freundlich lächelnde idyllische Szenario verwandelt habe, das Voraussetzung des in den Idyllen besungenen idealen Schäfertums war. Zugleich verlegte Meister die Existenz des Dichters selbst in diese seligen, von ihm selbst geschaffenen Gefilde: Mitten in der chaotischen Wüste lacht ein reizendes Wiesenthal, mit Obstbäumen bekrönt An dem Ufer des Flusses erhebt sich eine Wohnung von schäferischer Einfalt Hieher flüchteten sich aus dem Wirbel der Welt die Freundschaft und die Liebe; hieher die Musen und der Genius des patriarchalischen goldenen Alters. Seit langen Jahrhunderten rauschten die Fluthen des Sihlstrohms, und wer hörte ihr Rauschen als das Gewild in der Kluft oder der Raubvogel im Felsnest? Unberühmt wälzten sie sich Ober die Klippen: und seit wann sind sie berühmt, wie Vauclüsens Quelle? Du, göttlicher Geßner, bists, der dem verborgenen Sihlstrohm einen Namen gab, indem du sein Ufer zum Aufenthalt wähltest! Du, neuer Orpheus, bezähmest mit deinem Liede die Fluthen, daß sie sanfter rauschen und schonend bey deiner Flur vorübergehn! [...] Fröhlich drängten sich zu deinem Flötenspiele die befiederten Sänger des Haynes, die Dryaden der Bäume, und die Nymphen des Flusses. Traulich hörten sie dich, wenn du ihnen aus deinen Idyllen ihre eigene Geschichte erzähltest162 Die Rede ist von Geßners sommerlicher Residenz im Sihlwald, wo er seit 1781 das Amt eines Verwalters versah163 und die er gelegentlich selbst als Voraussetzung seiner künstlerischen Tätigkeit bezeichnet hat.164 Sie bildet wohl auch deshalb das Fundament für eine Rezeption, die noch 1977 von Gerhard Kaiser fortgeschrieben wird, wenn er darauf beharrt, Geßner habe »im ländlichen Forsthaus das anmutige, heitere, naturverbundene Freizeitleben seiner Idyllenfiguren« 161
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JPW, 1/5, S. 260f. Allerdings liegt dieser nachträglichen Empfehlung Jean Pauls ein anderes Verständnis idyllischen Glücks zugrunde, das nicht mehr auf die abstrakt-vergangene Glückseligkeit des Goldenen Zeitalters gerichtet ist, sondern auf das berühmte »Vollglück in der Beschränkung". Dieses ist eben aufgrund der Aufnahme der »Beschränkung« in die Definition grundsätzlich in jedem beschränkten Stand, als auch in dem des Schweizer Alpenbauem oder -Hirten zu gestalten: Vgl. ebd., S. 261. Leonard Meisters neue schweizerische Spaziergänge. St Gallen 1790. S. 211f. Vgl. dz. auch Jörg-Ulrich Fechner: Gelebte Idylle. Literarische Funktionen des Idyllischen im Alltag. Überlegungen im Hinblick auf den Dresdner Spätromantiker Karl Förster (1784-1841). In: Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, S. 60-79, hier S. 63fF. Vgl. u. a. Ernst Theodor Voß: Salomon Geßner, S. 253. Vgl. den Brief Geßners an Aurelio de' Giorgi Bertola vom 24. 6. 1789, den Jörg-Ulrich Fechner zitiert· Gelebte Idylle, S. 66f.
142 geführt. Diese seien daher »>realistisch< darin, daß ihr Autor eine literarische Existenz lebt wie sie«.165 Diese Bemerkung Kaisers zeigt, daß die Idyllisierung der Biographie Geßners auch in der aktuelleren ernstzunehmenden Idyllenforschung betrieben wurde und keineswegs auf die Kreise der >poetischen Geßnerrezeption< beschränkt blieb. Auch Goethe hatte sich an der Idyllisierung des von Meister und Kaiser angesprochenen Schauplatzes beteiligt: Im 19. Buch von Dichtung und Wahrheit schildert er eine Episode, die den Aufenthalt der Brüder Stolberg in der Schweiz unfreiwillig beendet habe. Diese waren auf ihren weitschweifenden Spaziergängen in das düstere Tal gelangt, wo hinter dem Albis die Sihl strömend herabschießt, um sich unterhalb Zürich in die Limmal zu ergießen. Entfernt von aller Wohnung, ja von allem betretenen Fußpfad, fanden sie es hier ganz unverfänglich, die Kleider abzuwerfen und sich kühnlich den schäumenden Stromwellen entgegen zu setzen; dies geschah freilich nicht ohne Geschrei, nicht ohne ein wildes, teils von der Kühlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen, wodurch sie diese düster bewaldeten Felsen zur idyllischen Szene einzuweihen den Begriff hatten. Goethe äußert dabei durchaus Verständnis für diesen Versuch, »ihre frische Jünglingsnatur zu idyllisieren. Hatten doch Geßners zarte Gedichte, sowie seine allerliebsten Radierungen hierzu am entschiedensten berechtigt.«166 In diesem Sinne hielt schließlich noch Hermann Hesse in der Einleitung zu einer 1922 erschienenen Auswahlausgabe der Idyllen fest, Geßner habe »vielleicht [... ] das Beste seines Lebens nicht gedichtet, sondern gemalt, und vielleicht auch nicht gemalt, sondern unmittelbar gelebt«167.
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Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 25. Diese Einschätzung rindet sich in nahezu wörtlicher Übereinstimmung bereits 1930 bei Emil Ermatinger, der die Idyllenfiguren zu »Abbildern von Geßners eigener Persönlichkeit« erklärte und schließlich festhielt: »Geßner hat das harmonische und glückliche Leben selber geführt, das er in den Idyllen seine sannen und heitern Menschen leben läßt« Salomon Gessner, S. 14,25. HA,X,S. 152f. Hermann Hesse: Einleitung. In: Salomon Geßner: Dichtungen ausgewählt und eingeleitet von Hermann Hesse. Leipzig 1922 (Die Schweiz im deutschen Geistesleben. Eine Sammlung von Darstellungen und Texten 2). S. 5-21, hier S. 20. Auch dieses Urteil findet sich bereits in einer biographischen Skizze Leonard Meisters vorgeprägt, der 1799 betonte, in Geßners Charakter »herrschen die Naivität und Einfalt, wodurch uns die Schäfer in seinen Idyllen entzücken.« Helvetians berühmte Männer in Bildnissen von Heinrich Pfenninger, Mahler, nebst kurzen biographischen Nachrichten von Leonard Meister. Zweyte Auflage besorgt von J. C. Fäsi. Zweyter Band Zürich 1799. S. 159. Im folgenden findet dann zwar Geßners öffentliches Engagement im Rat seiner Vaterstadt, nicht jedoch seine berufliche Verlegertätigkeit Erwähnung. Auf einen möglichen Grund für die Anknüpfung an diese naiv idyllisierende Rezeption im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts weist Hans Timotheus Kroeber in einer Neuausgabe der ersten IdyllenSammlung Geßners hin: »[WJenn auch anfänglich der schrecklichste aller Kriege, den je die Erde gesehen hat, die Entwicklung aller kulturellen und künstlerischen Interessen lahmzulegen drohte, so hat doch schließlich in allen deutschen Landen ein starkes und normales ReaktionsgefQhl allmählich die Herrschaft über die Gemüter wiedergewonnen, und manche suchen [...], aus dem Strudel der angst- und sorgenschweren Tage [...] sich in Gedanken in glücklichere Zeiten und andere, bessere Welten zu versetzen.« Nachwort. In: Idyllen von Salomon Geßner. Mit 4 Abbildungen der Kupfer von Salomon Geßner hg. von Hans Timotheus Kroeber. 6.-11. Tausend Weimar 1917 (Der Liebhaberbibliothek Dreißigster Band). S. 130-144, hier S. 132.
143 Dagegen treten die öffentlichkeitswirksamen Tätigkeiten des Bürgers Geßner in der Regel in den Hintergrund. Insbesondere der beachtliche ökonomische Erfolg des Buchverlages, auf den Mauser verweist und der durch den 1770 erfolgten Zusammenschluß von Orell, Geßner & Comp. mit Füssli & Comp. gesichert wurde,168 findet auffällig selten Berücksichtigung. Eher passen offenbar die auf Kosten erster Versuche in Poesie und Malerei abgebrochene Buchhändlerausbildung in Berlin169 sowie das geschäftliche Scheitern bei der 1763 erfolgten Beteiligung an einer Porzellanmanufaktur170 in das vorgefaßte Bild vom Dichter, der den Realitäten des bürgerlichen Alltags standzuhalten weder gewillt noch in der Lage gewesen sei. Das Scheitern an der profanen Wirklichkeit nobilitiert den Dichter, der eine bürgerliche Existenz verweigert.171 Ein differenzierteres Bild zeichnet dagegen die - bislang leider nur in recht fragmentarischen Auszügen verstreut veröffentlichte - Korrespondenz des Idyllendichters, in der Geßners Fähigkeit, unterschiedliche Rollen im Rahmen einer sich differenzierenden Gesellschaft auszufüllen, deutlich zutage tritt. Darauf, daß der Rückschluß von der Dichtung auf die Persönlichkeit des Dichters nur ein unvollständiges Bild zu liefern vermag, weist er selbst den von ihm verehrten Gleim hin und betont dabei zugleich die Bedeutung des persönlich-geselligen Umgangs, in dem allein die >ganze Person< zum Vorschein zu kommen vermag: Aber, mein Freund! Sie müssen uns ganz kennen lernen. Aus dem, was wir drucken lassen, da kennt man uns nicht halb! Man muß mit uns essen, trinken und lachen, um unsern ganzen Werthzusehn!172
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Zu Geßners Rolle als Verleger sowie zur Geschichte des Verlagshauses vgl. Thomas Bürger: Der redlichste Buchhändler seit Adams Zeiten. In: Maler und Dichter der Idylle, S. 87-94; sowie zuletzt ausführlich Ders.: Aufklärung in Zürich. Die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761-1798. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 48 (1997). S. 1-277. Zuvor erschien bereits eine knappe Skizze von Max Rychner: Salomon Gessner als Verleger. In: Salomon Gessner 1730-1930, S. 127-135. Materialien zur bürgerlichen Existenz Geßners liegen als bereits seit geraumer Zeit vor. In die maßgeblichen Monographien zur Geßner- und Idyllenforschung sind diese gleichwohl kaum eingeflossen. Vgl. u. a. Ernst Theodor Voß: Salomon Geßner, S. 253. Vgl. Paul Leemann-Van Elck: Salomon Gessner, S. 62; sowie Karl Frei: Salomon Gessner und die Porzellan-Manufaktur im Schooren. In: Salomon Gessner 1730-1930, S. 149-158. Vgl. als ein besonders prägnantes Beispiel etwa Rudolf Strassers Dissertation über Stilprobleme in Geßners Kunst und Dichtung, in der zwar anhand einiger sogleich anzusprechender Briefe Geßners an Johann Georg Zimmermann auf dessen geschäftliche Fähigkeiten verwiesen, als charakteristisch gleichwohl festgehalten wird, daß er »[m]it dem größten Teil seines Vermögens [...] die aus künstlerischer Neigung erfolgte Beteiligung an der Porzellanfabrik« bezahlt habe; vgl. S. 6f, Zitat S. 7. Die Marginalisierung des Geschäftsmannes Geßner findet sich bereits in der Biographie Hottingers, der diesem ebenso das für die »Rolle des Geschäftsmannes« nötige »festef/J Vertrauen auf sich selbst« abspricht wie auch die Fähigkeit zur »leichten Entwirrung verwickelter Gegenstände« sowie die »Vielseitigkeit und schnelle[/] Gewandtheit, die er haben muß, um auf jeden unvorhergesehenen Fall gefaßt zu seyn«: Salomon Geßner, S. 121. Geßner an Gleim, 16. 6.1767. Zit nach: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 370-373, hier S. 373.
144 Das Lob handlungsentlasteter Geselligkeit, das Geßner hier zum Ausdruck bringt,173 steht gleichwohl im Zusammenhang mit seinen literarischen Bestrebungen, mit denen er Gleim bereits einige Jahre zuvor vertraut gemacht hatte. Diese zielten darauf, »den guten Geschmack in Deutschland allgemeiner zu machen«, denn es sei »viel daran gelegen, daß eine Nation Geschmack habe, wenn's wahr ist, daß derselbe genaue Verbindung mit dem Herzen und den Sitten der Menschen habe!«174 Die Einsicht in die Bedeutung der Geschmacksbildung für die »Herzen« und die »Sitten« konnte bereits vor Immanuel Kants systematischer Begründung eines empirischen Interesses am Schönen, mit der er der ästhetischen Theorie Schillers ein zentrales Stichwort gab,173 zur Aurweitung der Ästhetik genutzt werden. Als eine die gesellschaftliche Differenzierung übergreifende Leitdisziplin erscheint sie etwa in einem weiteren Schreiben Geßners wiederum an Gleim aus demselben Jahr. Hier kommt er auf die Schwierigkeiten Bodmers zu sprechen, die von ihm entdeckten »alten deutschen Poesien« zu veröffentlichen: Dergleichen Unternehmungen müssen verspart werden, bis die schönen Wissenschaften in Deutschland eine herrschende Wissenschaft sind; aber wie lange wird das noch dauern? So lange, bis die Grossen theils nicht mehr ihre eigene Nation verachten, theils selbst Geschmack haben; bis die Lehrer auf den hohen Schulen nicht mehr Pedanten sind, und bis der Staats= Kau£= und reiche Bürgersmann dieselben für wichtiger, als für einen bloßen Zeitvertreib halten.176 Geßner begnügt sich allerdings keineswegs damit, diesen Zustand zu erwarten und mit seinen idyllischen Dichtungen zu befördern, bis dahin jedoch seine eigene idyllische Existenz zu pflegen. Selbst seine literarischen Tätigkeiten haben 173
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Und dessen Begründung er in einem bereits zwei Jahre zuvor an Johann Georg Zimmermann adressierten Brief lieferte, in dem er anläßlich ihrer gemeinsamen Teilnahme an der Gründungsversammlung der Helvetischen Gesellschaft (s. dz. u., S. 15 Iff.) darauf hinwies, daß auch die auf einen gemeinsamen Zweck gerichtete Geselligkeit die selbstbezüglichen Neigungen der Mitglieder befördere: »[M]an heiße dann dieses Zusammengeläuf Gesellschaft, Academie, Magistrat oder Kirchgemeinde, es ist allemahl 100 an eins zu wetten, daß sie zusammenlaufen, um Narren zuseyn [!]. [...] Indeß waren wir doch nie größere Narren, als in der feyerlichen Seßion. Bey dergleichen Feyerlichkeiten gehts fast immer so, wir wollen mehr Schemen als wir sind. Der natürliche Gang unsrer Seelenkräfte wird fieberhaft, und Ehrgeiz und Eigenliebe führen uns am tiefsten in den Park, wenn wir auf der schönsten Heerstraße uns glauben, wo alles erstaunt und mit Fingern auf uns weist, und sich zuruft, ey seht, seht doch diesen fürtreflichen Herrn!« Geßners Urteil sollte gleichwohl den Wert dieser gesellschaftlichen Zusammenkünfte nicht bestreiten. Er hat hier lediglich einen Aspekt isoliert, um »eine Sache von der lächerlichen Seithe anzusehen, deren schöne Seithe die weit übersteigendere ist« Geßner an Zimmermann, 22.6.1765. Niedersächsische Landesbibliothek Hannover: MS XLII, 1933, A II, 26. Die Briefe Geßners an Zimmermann wurden veröffentlicht unter dem Titel: Briefe von Salomon Gessner an J. G. Zimmermann. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1862. Hg. von Salomon Vögelin. Dritter Jahrgang. Zarich 1862. S. 143-174. Aufgrund einiger Ungenauigkeiten in der dortigen Transkription wurden für dieses sowie für die unten folgenden Zitate die Originale zugrundegelegt, die von der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover im Rahmen des Zimmermann-Nachlasses verwahrt werden. Geßner an Gleim, 14.1. 1755. Zit nach: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 228-231, hier S. 228,230. S.dz.u.,S.314f. Geßner an Gleim, 2. 10. 1755. Zit. nach: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 244-251, hier S. 247f.
145 wenig zu tun mit jenem naiv-vorreflexiven Zustand ursprünglicher Tugend, der strategische Überlegungen fremd bleiben müssen: Geßner betreibt wohldurchdachte, strategisch kontrollierte Literaturpo//#£, wie aus dem bereits angeführten Schreiben vom 14. Januar 1755 unmißverständlich hervorgeht, mit dem er Gleim »ein Paar Piecen« zukommen läßt, »um durch Sie dem Druck übergeben zu werden«. Zur Begründung führt er an: Nehmen Sie es nicht übel, daß wir auf den Einfall kamen, Sie zu bemühen; es geschieht darum, weil es besser ist, wenn jene Piecen aus ändern Gegenden Deutschlands herkommen, als aus der Schweiz; denn die Herren sind gewohnt Gift zu speien, wenn sie nur Zürich auf dem Titel lesen, und ausserdem muß ihnen bange werden, wenn sie sich auch von ändern Orten her angegriffen sehen. Es würde darum noch besser seyn, wenn jedes jener beiden Werkchen aus einer besondem Stadt herkäme.177 Ist also bereits der Literat Geßner weit davon entfernt, das idyllische Leben seiner Figuren zu teilen,178 so legten die Herausgeber des Zürcher Taschenbuchs bereits 1862 ein Auswahl seiner Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann vor, die »unsern Dichter [... ] sowohl von seiner lustigen als von seiner geschäftlichen Seite anschaulich zeichnen, welche beide Seiten denen, die sich noch heute um ihn bekümmern, weniger vor Augen sind als die zarte Anmuth seiner Gedichte und Zeichnungen.«179 Dem Versuch, das Geßnerbild mit Hilfe dieses Ausschnitts aus seiner geschäftlichen Korrespondenz zu komplettieren, war gleichwohl bis heute nur mäßiger Erfolg beschieden. Das Bild vom idyllischen Leben des Idyllendichters konnte dadurch nicht wesentlich beeinflußt werden und er177
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Geßner an Gleim, 14. 1. 1755, a. a. O., S. 230f. (Hervorhebungen in der Vorlage.) Gleim meldet wenige Wochen später, er habe das erhaltene Manuskript an »Herrn Lessing« wertergegeben, »den ich kürzlich in Berlin habe kennen lernen, und der mir sehr gefallen hat; wahrlich besser, als einige Stellen seiner Schriften es denken lassen.« Dessen Verleger Voß habe es schließlich »mit Vergnügen zum Verlag angenommen«: Gleim an Geßner, »Im Februar 1755«. Zit nach: Ebd., S. 231-235, hier S. 234. Vgl. zu diesem Vorgang, bei dem es sich um die Drucklegung zweier Schriften Wielands (Edward Grandisons Geschichte in Görlitz sowie Ankündigung einer Dunciadeßr die Deutschen) handelt, auch Carl Schüddekopf: Aus dem Briefwechsel zwischen Gessner und Ramler, S. 97, sowie die Briefe Geßners an Ramler vom 4. 9.1755 (ebd., S. 99f.) und vom 10. 2. 1756 (ebd., S. 102). Zur Verlagspolitik und überregionalen Bedeutung von Orell, Geßner, Füßli & Comp. vgl. auch Thomas Bürger: Die Aufklärung in der deutschen Schweiz aus buchhandelsgeschichtlicher Sicht In: Helvetien und Deutschland, S. 105-113. Wenn er auch - dies sei den idyllisierenden Biographien zugestanden - seine zeitweise Abgeschiedenheit von weltlichen Geschäften im Sihlwald verschiedentlich als Voraussetzung für seine Idyllensammlung von 1772 gekennzeichnet hat; vgl. neben dem o. a. Schreiben an Aurelio de' Giorgi Bertola auch Geßner an Gleim, 18. 4. 1772. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 403-405. Allerdings hat Geßner nahezu zeitgleich in einem Schreiben an Johann Georg Zimmermann zu verstehen gegeben, daß seine Lebensumstände zu dieser Zeit weniger idyllisch denn je, sondern vielmehr von der materiellen Verantwortung des Familienvaters geprägt gewesen seien. Geßner bittet Zimmermann, seine neuen Idyllen mit den bereits erschienenen zu vergleichen: »Damahls ein junger Schwärmer, izt ein glücklicher Ehmaim, damahls für alles unbekümmert, izt ein Mann, der für die seinigen zusorgen [!] hat; das alles muß doch seinen Einfluß haben, und diese Untersuchung ist doch ihres Blickes werth.« Geßner an Zimmermann, 3. 4.1772. Briefe von Salomon Geßner an J. G. Zimmermann, S. 144. Zu Geßners Korrespondenz mit Zimmermann vgl. auch Fritz Bergemann: Salomon Geßner, S. 81.
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wies sich als bemerkenswert standhaft,180 was angesichts der deutlichen Sprache der veröffentlichten Briefe erstaunen muß. Bereits der erste dokumentierte Brief Geßners an Zimmermann schließt mit einer Betonung der Bedeutung des Verlags- und Buchhandelsgewerbes für die Distribution des von den Autoren Gelieferten, mit der Geßner vom Standpunkt des Verlegers auf- aus seiner Sicht - überzogene Honorarforderungen reagiert: Aber ihr seyd theuer, ihr Herren, verzweifelt theuer. Was wäret Dir Herren Verfasser ohne uns Buchhändler, wir nehmen Eure Lieder mit Sorgfalt auf, und zerstreuen Eure Ehre durch die ganze Welt, daß der süße Rosengeruch des Ruhmes aus allen Enden Euch entgegen dünstet, aber das rechnet Ihr, als hätten wir nichts gethan, und laßt Euch so gottlos bezahlen.
Bemerkenswert erscheint nicht nur, daß Geßner hier seine Rolle als Verleger mit allen Konsequenzen der Vertretung eigener wirtschaftlicher Interessen ausfüllt und offensiv vertritt. Mehr noch fällt die Schlußwendung des Briefes ins Auge, in der Geßner eine Differenzierung des Adressaten vornimmt und damit auch die Persönlichkeit Zimmermanns von seiner zeit- und umständeweise eingenommenen Position als Autor unterscheidet: Geßner beendet das zitierte Plädoyer für den Buchhandel mit der Aufforderung: »Merken Sie sich das Herr Doktor«, um im unmittelbaren Anschluß daran seinen Brief mit den Worten zu schließen: »Leben sie [!] wohl, mein liebster Freund«.182 Daß Geßner sich in der Lage zeigte, der gesellschaftlichen Differenzierung funktional orientierter Handlungsrollen und den sich daraus ergebenden differenzierten Urteilskategorien Rechnung zu tragen, macht auch ein weiteres Schreiben an Zimmermann deutlich, in dem er diesem einen Vertragsvorschlag seiner Verlagsgesellschaft für die dritte Auflage von dessen Schrift Vom Nationalstolze (zuerst 1758)183 unterbreitet. Nach einigen Bemerkungen über die Möglichkeiten, 180
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Eine Ausnahme bildet die Arbeit Heidemarie Kesselmanns, in der als »ein entscheidendes Moment der Geßner-Legende« festgehalten wird, »daß diese geschäftliche Tüchtigkeit des Dichters von den Verehrern und Zeitgenossen unterschlagen und von den Lfteraturwissenschaftlern nicht weiter beachtet worden ist« Die Kenntnisnahme der »geschäflliche[n] Tüchtigkeit des Dichters« führt in Kesselmanns Interpretationsrahmen jedoch zu dem »Paradoxon, daß diese an sich gegen die bestehenden Wirtschaftsverhältnisse oppositionelle Idylle erst auf der Basis dieser Verhältnisse zu popularisieren war.« (Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 163, 165.) Ein solches »Paradoxon« ergibt sich jedoch erst auf der Grundlage des von Kesselmann angenommenen »absoluten Wahrhehsanspruch[s]« der Idyllendichtung (ebd., S. 182), auf deren Unangemessenhert die Berücksichtigung der vielschichtigen biographischen Wirklichkeit Geßners hätte aufmerksam machen können. Geßner an Zimmermann, 22. 5. 1761. Ebd. Insbesondere diese Schlußwendung läßt sich so verstehen, daß hier keineswegs »die Seele des Geschäftsmannes mit der des Künstlers ringt«, wie Paul Leemann-Van EIck nahelegt (Salomon Gessner, S. 58). Weniger pathetisch verweist sie vielmehr auf die Fähigkeit Geßners, unterschiedliche soziale Handlungsrollen pragmatisch aufeinander zu beziehen. S. dz. auch u., S. 21 Off. Die 1768 von Geßner verlegte Auflage ist mittlerweile in einer Neubearbeitung erschienen: Johann Georg Zimmermann: Vom Nationalstolz. Über die Herkunft der Vorurteile gegenüber anderen Menschen und anderen Völkern. Nach der Ausgabe Zürich,
147 durch kluges Verhalten die Zensur zu umgehen, über Drucktertnin, Format und Titelvignette der geplanten Publikation kommt er unter Punkt sechs auf Zimmermanns Honorarvorstellungen zu sprechen, angesichts derer sich »die löbliche Societal [...] hintern Ohren gekratzt« habe: Geßner unterscheidet zwischen dem »innere[n] Werth« des Werkes und dem auf dem Buchmarkt zu erzielenden wirtschaftlichen Wert der Handelsware. Dieser sei u. a. wegen der schlechten Solvenz der deutschen Buchhändler sehr viel geringer zu veranschlagen, denn: Die dortigen Buchhändler haben weit die mehreren kein Geld u hingegen einen Quark an Waare, wormh sie statt des ersteren handeln wollen. Werke, die nach proportion sehr kostbar sind, sind in Deutschland sehr gefährlich, Geld bekomt man nur von wenigen, gegen schlechte Bücher tauschen, und die meisten haben schlechte, ist Verlust, und über das steht man bey Werken, die allgemeinen Beyfall haben und zugleich theuer sind, alle Augenblicke in Gefahr des Nachdruckes, worgegen die Privilegia aller Potentaten nicht helfen.184
Nachdem er zusätzlich noch die Tatsache angeführt hat, daß es sich um eine dritte Auflage handle, während die vorigen Auflagen weiterhin auf dem antiquarischen Buchmarkt erhältlich seien, um Zimmermann zu bewegen, Abstriche von seinen Forderungen zu machen, schließt Geßner mit der bemerkenswerten Wendung: Das war izt der Buchhändler. Ich bin mOde. Von der Seite haben sie mich noch nie gesehen, sagen sie mir, obs mir nicht gut steht183
Nicht allein der »Doktor« Zimmermann wird also anders angesprochen als der »Freund«. Zugleich spricht der »Buchhändler« Geßner eine andere Sprache als der Freund oder das Mitglied der Helvetischen Gesellschaft. Dieser ständige Rollenwechsel mag ermüden;186 dennoch übernimmt Geßner jeweils die Rollen, die ihm aufgrund der jeweiligen Umstände zukommen, und weiß sehr genau zu unterscheiden zwischen dem gesellschaftlichen Umgang mit sozialen Rollenträgern und dem persönlichen mit dem >ganzen MenschenSonntags-Urlaubs-< oder >FeierabendexistenzenGeschäfte< erfolgreich zu betreiben hatte. Eben dies sollte der Idyllik Geßners aus Richtung der neuen literarischen Bewegungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgeworfen werden, die ihre Kritik an der aufklärerischen Poetologie mit der Erhebung eines neuen Geltungsanspruchs literarischer Reflexion und Darstellung verbanden.190 Geßner zeigt sich nicht nur in der Lage, seine eigene Persönlichkeit auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Teilexistenzen zu verteilen, in jeweils eigenen Funktionsbereichen den für diese angemessenen Handlungsorientierungen zu folgen. Er versteht es zugleich, die unterschiedlichen Rollen in strategischer Absicht aufeinander zu beziehen. Die in der Geßner-Biographik geradezu sprichwörtliche Ruhe und Gelassenheit, mit der er sein Leben führte, erscheint insofern nicht länger als Ergebnis seiner Fähigkeit, sich von den >Geschäften< der >großen Welt< fernzuhalten. Vielmehr handelt es sich um die Konsequenz einer - wenn auch nirgends explizierten, vermutlich intuitiven - Einsicht in die gesellschaftlichen Funktionsmechanismen und ihrer souveränen Beherrschung. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer im Interesse der Regeneration wenn auch nur besuchsweise - immer wieder aufzusuchenden, harmonisch die ganze Persönlichkeit in die Gesamtheit der natürlichen Ordnung integrierenden Freizeitexistenz. Hierfür stehen Geßners idyllische Dichtungen, die jedoch vor dem geschilderten biographischen Hintergrund nicht den Anspruch erheben, das Ganze der sozialen Existenz ihres Verfassers zu repräsentieren - ebensowenig wie sich dessen biographische Wirklichkeit auf ein idyllisches »Freizeitleben«191 beschränkte. Die Funktion einer solchen idyllischen >Freizeitexistenz< erschöpft sich insofern nicht in der Kompensation von Mangelerscheinungen, die der bürgerlichen Existenz geschuldet sind. Vielmehr stehen bürgerliche Alltags- und idyllische Freizeitexistenz in einem wechselseitigen Verhältnis komplementärer Ergänzung, in dessen Rahmen die Defizite des einen durch die Vorzüge des jeweils anderen Zustande ausgeglichen werden:192 Wie die bürgerliche Existenz ihren Erfolg auch den Möglichkeiten temporärer idyllischer Ersatzexistenzen verdankt, so ruhen diese auf der - dem Dichter durchaus bewußten - materiellen Voraussetzung erfolgreicher bürgerlicher Geschäftstätigkeit. 190 191
191
S. dz. u., S. 278ff. Gerhard Kaiser, a. a. O. Vgl. dz. auch das oben (S. 144) angeführte Zitat aus dem Briefwechsel mit Gleim, in dem Geßner die >schöne Literature nicht als >bloßen Zeitvertreib< verstanden wissen will. Zur genaueren Bestimmung der sozialen Funktion arkadischer >Einsamkeit< im 18. Jahrhundert s. u., Kap. 3.
150 Erst der sozialhistorische Anspruch, der die literaturwissenschaftliche Forschung seit dem Ende der sechziger Jahre kennzeichnet, hob die wirtschaftsbürgerliche Biographie des Idyllendichters Geßner mit Nachdruck ins Bewußtsein. Paradoxerweise ist es jedoch auch hier die >romantisierende< Perspektive, wie sie bereits bei Meister, deutlicher bei Hesse zum Ausdruck kam, die den programmatisch konzipierten Neueinschätzungen das Stichwort gab. Für Hesse streben die Geßnerschen Idyllen »vom Leben des Tages hinweg, ihr ganzer Sinn und Antrieb, aus dem sie geboren sind, ist Flucht vor dem Wirklichen«. »[Wjeggekehrt von Tag und Markt« sei zugleich das Wesen ihres Schöpfers gewesen: »Denn sein ganzes Leben [... ] zielte weg vom Kampfund vom Aktuellen, und strebte nach Idylle«.193 In diesem Sinne bewegen sich auch noch die sozialhistorisch verfahrenden Geßner-Interpretationen der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung zwischen den Polen von Flucht und Utopie: Einerseits erscheinen die Geßnerschen Schäfer als »Sprachrohre, die die Bewegungsgesetze einer besseren Gesellschaft verkünden«194, oder gar als »ontologisches Modell der Überwindung der gesellschaftlichen Disharmonie«1'5. Andererseits geben sie den Anlaß zur »resignativen Selbstbeschränkung«194 angesichts der realen gesellschaftlichen Machtlosigkeit des Bürgertums. Werden die Idyllen Geßners (ebenso wie die Einsamkeits-Schn&ea Johann Georg Zimmermanns) als »das ästhetische Zeichen einer freiheitlich-republikanischen Hoflhung«197 verstanden, so verstellt der - von den Quellentexten ebensowenig wie von den biographischen Kontexten gedeckte - politisierende Zugriff die Möglichkeit einer sozialhistorisch angemessenen Verortung. Die familiäre Existenz wird ebenso von Geßner wie von Zimmermann als Möglichkeit verstanden, der Reklamierung eines ganzheitlich-moralischen Standpunktes auch im Rahmen sich differenzierender Sozialbeziehungen einen - wenn auch nur temporären - Ort zuzuweisen. Vor dem Hintergrund eines politisierenden Zugriffs erscheint dieser Zusammenhang als idyllische Ersatzexistenz, in der das »aufstrebende[/] Bürgertum in Deutschland [...] seine politisch weiterhin unbefriedigende und inaktive Rolle durch eine Flucht in ästhetische Formen zu kompensieren suchte.«198 Doch damit nicht genug: Diese ästhetische Scheinharmonisierung von objektiv als falsch verstandenen materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen sei schließlich noch ergänzt und unterstützt worden von einer »affir193 194
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Hermann Hesse: Einleitung, S. 8ff. Berthold Burk: Elemente idyllischen Lebens. Studien zu Salomon Geßner und Jean-Jacques Rousseau. Frankfurt/M., Bern 19S1 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 426). S. 3 L Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 85. Wie sie Berthold Burk Johann Georg Zimmermanns Geßner-Rezeption unterstellt: Elemente idyllischen Lebens, S. 36. Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 194. Ebd., S. 140.
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mative[n] Gesellschaftspraxis«199, die den ursprünglich politisch-emanzipativen Gehalt idyllischer Dichtung unter sich begraben habe. Erst die methodische Vorentscheidung, materiell verfestigte Machtverhältnisse anstatt des Prozesses sozialer Differenzierung als sozialhistorische Ordnungskategorie anzuwenden, fuhrt mithin zu jenem eklatanten Widerspruch von >emanzipatorischem< Anspruch und kompensierender Wirkung,200 der sich dann wahlweise als »Paradoxon«201 oder als >tragische Dialektik< eines deutschen Sonderweges interpretieren ließ. Wäre auch bereits an dieser Stelle einiges durch eine systemtheoretische Reformulierung der sozial- und literaturgeschichtlichen Prozesse zu gewinnen, so ist hierfür zunächst neben der bürgerlich-kaufmännischen Existenz Geßners auch sein öffentliches Wirken als Bürger der Schweizer Republik zur Kenntnis zu nehmen. Als angesehenes Mitglied seiner Vaterstadt bekleidete Geßner öffentliche Ämter. Sein Verwalteramt im Sihlwald wurde ihm gar zur Voraussetzung seiner Idyllendichtung - im wesentlichen wohl ihrer immer wieder hervorgehobenen charakteristischen malerischen Naturschilderungen. Doch neben diesem Verwalteramt war Geßner auch Mitglied des »täglichen Raths« seiner Vaterstadt Zürich, in den er gewählt wurde, »als er kaum das gesetzmässig bestimmte Alter erreicht hatte«.202 In dieser Funktion nahm Geßner regen Anteil am öffentlichen Leben, was sich mit den angeführten Idyllisierungen seiner Biographie nicht recht vertragen will (und entsprechend selten Erwähnung findet).203 Wichtiger noch erscheint Geßners Mitgliedschaft in der Helvetischen Gesellschaft™ über die in der Forschung zwar häufiger informiert wird, ohne daß sich 199 200 201 202 203
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Ebd., S. 144. Den Kesselmann überdies als »Präzedenzfall für die Problematik und die Krise der bürgerlichen Ästhetik des 18. und 19. Jhs.« versteht: Ebd., S. 141. Kesselmann, a. a. O. Johann Jakob Hottinger: Salomon Geßner, S. 139. Zu Geßners Tätigkeit im Zürcher Rat vgl. auch Heinrich Wölfflin: Salomon Geßner, S. 48. Vgl. dz. die Kennzeichnung des in öffentlichen Angelegenheiten das Wort führenden Geßner in Hottingers Nekrolog: S. u., S. 165. Zu Geßners amtlichen Tätigkeiten vgl. außerdem Leo Weisz, der auch bezüglich der Funktion als Sihlherr die »große Geschäftsgewandtheit« Geßners hervorhob: Der Rats- und Sihlherr Salomon Gessner. In: Salomon Gessner 1730-1930, S. 136-148, Zitat S. 145. Vgl. zum folgenden neben der ausführlichen Studie von Ulrich Im Hof und Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft. Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz. 2 Bde. Frauenfeld, Stuttgart 1983; Die Bestrebungen der Helvetischen Gesellschaft des XVIII. Jahrhunderts. Eine nationale Bewegung. Von Dr. Heinrich Flach, Professor am Kantonalen Lehrerseminar in Küsnacht-Zürich. Zürich 1916; Hans Nabholz: Die Helvetische Gesellschaft 17611848. Mit einem Nachwort von Georg Thürer. O. O. 1961; Emil Erne: Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz. Zürich 1988. S. 35ff.; auch bereits Karl Morell: Die Helvetische Gesellschaft. Aus den Quellen dargestellt Winterthur 1863; Ulrich Im Hof: Aufklärung b der Schweiz, S. 49ff.; Ders.: Salomon Gessner und die Helvetische Gesellschaft. In: Maler und Dichter der Idylle, S. 62-66; Ders.: Die Helvetische Gesellschaft im Kontext der Sozietätsbewegung des 18. Jahrhunderts. In: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Band II. Hg. von Klaus Garber und Heinz Wismann unter Mitwirkung von Winfried Siebers. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 27). S. 1527-1549; Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geß-
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das idyllisierende Geßner-Bild dadurch jedoch entscheidend gewandelt hätte: Er gehörte - ebenso wie Johann Georg Zimmermann - zu den Gründungsmitgliedern der Helvetischen Gesellschaft, die sich nach einer ersten Zusammenkunft im Mai 1761 schließlich am 15. März 1762 unter dem Vorsitz von Hans Caspar Hirzel förmlich konstituierte und sich von da an zu jährlichen Versammlungen zusammenfand.203 Der Zusammenschluß, von Salomon Hirzel, Isaak Iselin und Salomon Geßner bereits 1760 zunächst nur im Sinne einer »freundschaftlichen Tagsatzung«20* geplant, erscheint als eine für die zweite Jahrhunderthälfte durchaus als charakteristisch zu bezeichnende Mischform, die zugleich Züge eines empfindsamen Freundschafts-, eines Geheimbunds sowie einer gemeinnützigen Gesellschaft trägt. Am 1. Juli 1760 schreibt Iselin an Hirzel, auf den gemeinsamen Plan Bezug nehmend: Wir sollten darauf bedacht sein, demselben [Entwurf der freundschaftlichen Tagsatzung, CB] eine gewisse Gestalt und gewisse Absichten zu geben, daß etwas recht Gemeinnütziges daraus würde. Unter dem Schein einer bloßen Ergötzlichkeit sollten wir den Grund zu Verhältnissen legen, dadurch unserm gemeinsamen Vaterlande große sittliche und politische Vortheile erworben werden könnten. [...] Es gehen mir deßhalb allerhand Gedanken im Kopf herum; eine eidgenössische Gesellschaft ist der vornehmste. Diese sollten wir stiften und sie sollte ihre ganze Absicht auf die Einigkeit der Stände und die Tugend und Glückseligkeit ihrer Bürger richten. Man müßte die Sache Anfangs geheim halten [.. .].207
Fand die Gesellschaft ihre »Hauptaufgabe darin, den verschwundenen Gemeinsinn wieder aufzuwecken, den fast erstorbenen öffentlichen Geist wieder zu entflammen«208, so kam unter den von ihr betriebenen Projekten dem pädagogischen einer nach Plänen von Johann Jakob Bodmer ähnlich dem Basedowschen Philanthropin konzipierten »eidgenössischen Pflanzschule«209 besondere Bedeutung zu. m dieser galt es nach dem Vorbild des von Martin Planta - seinerseits Mitglied der Helvetischen Gesellschaft - geleiteten Seminars, »junge Leute erstlich zum Christenthum zu bilden, hernach zu dem politischen, öconomischen, militar= [!] und Kaufmanns=Berufe vorzubereiten«210.
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ners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 102ff.; sowie Berthold Burk: Elemente idyllischen Lebens, S. 36ff. Trotz dieser herausgehobenen Position als Gründungsmitglied zeugen die seit 1763 veröffentlichten Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft lediglich von fünf Teilnahmen Geßners an den alljährlichen Versammlungen. Vgl. auch Ulrich Im Hof, Francois de Caphani: Die Helvetische Gesellschaft, Bd. 2: Die Gesellschaft im Wandel. Mitglieder und Gäste der Helvetischen Gesellschaft. S. 124. Für eine gleichwohl weiter bestehende enge Verbundenheit der Gesellschaft mit Geßner sprechen jedoch die 1789 als Nekrolog in den Verhandlungen erschienenen Verse: Vgl. Geßners Denkmal bey Ariesheim. Ein Gedicht von Herrn Candida! Petersen von Basel. In: Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Ölten, im Jahr 1789. S. 51-60. Karl Morell: Die Helvetische Gesellschaft, S. 195.
Isaak Iselin an Salomon Hirzel, 1.7. 1760. Zft, nach ebd., S. 196. (Hervorhebungen in der Vorlage.) Morells Quelle durften die Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Ollen. Im Jahr 1784 gewesen sein, in denen das Schreiben Iselins zitiert wird (hier S. 24f.). Karl Morell: Die Helvetische Gesellschaft, S. 204. Ebd., S. 226. [Martin Planta:] Geschichte und Beschreibung des Seminarii, in der Frey=Herrschaft Haldenstein, nahe bey Chur, in Bündten. In: Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinz-
153 Gemeinsinn, Christentum, bürgerliche Berufsqualifikation - die Zusammenstellung macht deutlich, daß die Verfolgung moralischer, politischer, religiöser, sozialer und schießlich auch den persönlichen Nutzen befördernder Zwecke von den Mitgliedern der Helvetischen Gesellschaft keineswegs als Widerspruch verstanden wurde, sondern daß diese sich als komplementäre Ziele eines auf den gemeinen Nutzen gerichteten Zusammenschlusses von Bürgern vereinigen ließen. Der von Geßner in seinen Idyllen bezogene moralische Standpunkt einer idealisiert-natürlichen Geselligkeit, die ihre moralische Qualität durch die Eigenschaften der Beschränkung und Begrenzung erhält, dürfte also auch vor dem Hintergrund seiner Mitgliedschaft in der Helvetischen Gesellschaft weniger als (ob nun eskapistische oder utopische) Alternative zur bürgerlich-gesellschaftlichen Existenz zu verstehen sein, sondern vielmehr als deren Komplement. Er hat insofern nicht als resignativer oder revolutionärer Gegenentwurf gegen den Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung zu gelten, sondern im Gegenteil als deren Realisierung auf den Gebieten von Moral und Ästhetik.211 Auch Thomas Lange konstatierte die parallelen Erscheinungen von physiokratischer Bewegung, Idyllendichtung und gleichzeitiger Idealisierung des wirklichen Musterbauern Kleinjogg*11 — allesamt Bestrebungen von Mitgliedern der
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nach, im Jahr 1766. S. 25-64, hier S. 42. Zu den Erziehungsprogrammen der Helvetischen Gesellschaft vgl. auch Ulrich Im Hof, Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft, Bd. l: Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Struktur und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft. S. 3 Iff. und 166ff. Die Bedeutung des im folgenden anzusprechenden moralischen Selbstbewußtseins im Rahmen des Ehrbegriffs (und mit ihm diejenige eines kontrollierten selbstbezüglichen Handelns) für dieses eidgenössische Erziehungsprogramm betonte wenige Jahre spater Ulysses von Salis: In einer Rede vor der Helvetischen Gesellschaft lobte er 1772 das Institut Plantas, in dem es »gelungen sey, das große Triebrad der menschlichen Handlungen, die Ehrbegierde, dessen mächtige Schnellkraft so schwer einzuschränken und zu mäßigen ist, zu Beförderung und Belebung des Unterrichts zu gehrauchen, ohne daß wir zu befürchten haben, daß die moralische Seite unsrer Jugend verderbe«: »Es sollte folglich die Begierde sich hervorzuthun [...], unsre junge [!] Leute darzu vermögen, aus eigenem Trieb allen bürgerlichen und geselligen Tugenden nachzutrachten [...].« Anrede des Herrn Ulysses von Salis. In: Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach. In den Jahren 1771. 1772. und 1773. S. 23,26. Im Rahmen der Helvetischen Gesellschaß wurden gleichwohl auch andere, eher in Richtung der Positionen Rousseaus weisende Vorstellungen über die vorbildliche soziale Organisation vertreten: Die Akten der Helvetischen Gesellschaft informieren ausführlich über die verschiedenen sozialphilosophischen Standpunkte ihrer Mitglieder. Einen differenzierten Überblick auf der Grundlage der Verhandlungen bieten zudem Ulrich Im Hof, Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft, Bd. l, S. 23ff, 11 Iff. Vgl. darüber hinaus meinen Beitrag: »Ich will Euch jetzt nicht betrüben mit meinen Nachrichten aus der Welt.« Johann Georg Schlosser und die Helvetische Gesellschaft. In: Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800. Hg. von Achim Aurnhammer und Wilhelm Kühlmann. Erscheint Freiburg 2002. Keineswegs soll daher die im Zusammenhang mit der »Pflanzschule« skizzierte Position als verbindlich für sämtliche Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft herausgestellt werden. Lediglich die Möglichkeit, eine komplementäre Konzeption, wie sie für Geßners Biographie zuvor herausgearbeitet wurde, in ihrem Rahmen auch theoretisch zu rechtfertigen, war im vorliegenden Zusammenhang zu bestätigen. Der von Hirzel explizit in eine Verbindung mit den idyllischen Schäferfiguren Geßners gebracht wurde: Vgl. Thomas Lange: Idyllische und exotische Sehnsucht, S. 83. Zum Verhältnis von physiokratischer Bewegung und idyllischer Dichtung vgl. auch Burghard Dedner: Topos, Ideal und Realitätspostulat, S. 24; Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geßners im
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Helvetischen Gesellschaff13 - und stellte fest, die »bürgerliche Intelligenz« habe »in ihren Zeitschriften mit dem gleichen Eifer über die moralischen Qualitäten, die ein Bauer haben sollte, wie über den Wert der verschiedenen Arten von Dünger«214 diskutiert. Allerdings besteht kein Grund, im Blick darauf pauschal von einer »nostalgischejn] Idealisierung der verlorenen Ganzheit bäuerlichen als >natürlichen< Lebens«215 als Anlaß idyllischer Dichtung zu sprechen. Die angeführten biographischen Zeugnisse lassen es indes berechtigt erscheinen, statt von >Nostalgie< vielmehr von einem bemerkenswerten Realitätssinn des Idyllendichters auszugehen. Dieser äußert sich auch darin, daß Geßner den vielfältigen Forderungen, seine Schäfer näher an das wirkliche Leben zu rücken, nicht entsprach. Statt dessen stellte er durch die offen nach außen gekehrte idealisierende Isolierung eines bestimmten, der Realität offensichtlich nicht entsprechenden Zustands dessen kontrafaktischen Charakter unmißverständlich heraus. Nach Geßners eigenen Worten An den Leser erhielten seine Hirten durch ihre Verlegung »in ein entferntes Weltalter [...] einen hohem Grad der Wahrscheinlichkeit«216 nicht nur, weil das zeitgenössische Landleben den erwünschten Idealisierungen nicht mehr entsprach. Überdies bestand sein Darstellungsinteresse nicht in der Vergegenwärtigung vergangenen oder zeitgenössischen Landlebens, sondern vielmehr in der Reklamierung der Möglichkeit eines moralischen Standpunktes, der sich aus der literarisch zu vergegenwärtigenden moralischen Natur des Menschen ergibt. Daß die idyllisierend zur Darstellung gebrachte moralische Idealität keinerlei gesellschaftlich-politische Ansprüche erhebt, verdeutlichen somit nicht allein die letzten Worte der Idyllensammlung in Der Wunsch,211 sondern auch die einleitenden An den Leser, die Wahrscheinlichkeit bewußt im Kontrafaktischen suchen.218 Mit diesen beiden Texten verschaffte Geßner seiner ersten Idyllensammlung mithin einen reflektierenden Rahmen, der ebenso einen Versuch ihrer sozialen Rechtfertigung wie eine Leseanleitung für ihre angemessene Rezeption darstellt. Markus Winkler, der jüngst eine latente Widersprüchlichkeit der Geßnerschen Idyllik diagnostizierte und auf deren Spannungsverhältnis gegenüber den poetologischen Prinzipien der Aufklärung zurückführte,219 scheint diese als eine unbe-
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Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 122ff; sowie Norman Gronke: Idylle als literarisches und soziales Phänomen, S. 123ff. Diese Verbindung ermöglicht die von Renate Böschenstein (neben der »Tendenz zur Mortifikation der Idylle«) als »zweite [...] Gestaltung des Idyllischen« im 19. Jahrhundert vorgestellte Weiterentwicklung der idyllischen Gattung zur »agrarische[n] Utopie«: Vgl. Idyllischer Todesraum und agrarische Utopie, S. 29-32, Zitate S. 29f.
Vgl. Thomas Lange: Idyllische und exotische Sehnsucht, S. 77ff. Zum Zusammenhang von sozialer, moralischer und ökonomischer Reflexion in der Helvetischen Gesellschaft vgl. auch Ulrich Im Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft, Bd. l, S. 15Iff. Thomas Lange: Idyllische und exotische Sehnsucht, S. 69. Ebd., S. 68. Salomon Geßner: Idyllen, S. 16. S. o., S. 132f. Vgl. dz. auch Gotthardt Frühsorge: »Nachgenuß der Schöpfung.«, S. 75. Vgl. Markus Winkler: Salomon Gessner's Idylls and the Poetics of Enlightenment
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wußte ansprechen zu wollen. Dagegen verweisen die beiden angeführten rahmenden Texte darauf, daß Geßner die Gefahr möglicher Fehllektüren seiner Idyllen bewußt war, die sie in einen Widerspruch zum Nutzenpostulat aufklärerischer Poetik gebracht hätten. Dieser Gefahr begegnete er mit der erläuternden Rahmung seiner Dichtungen, die u. a. zu verhindern hatte, daß sie als Begründungen eines gesellschaftlichen Eskapismus in Anspruch genommen wurden. Vergleichbar den interpretatorischen Problemen, die sich angesichts des vermeintlichen Bruches zwischen der Ethik und der Sozialphilosophie Adam Smiths ergaben und die unter dem Namen des sog. Adam-Smith-Problems Einzug in die sozialhistorische Forschung zum 18. Jahrhundert hielten,220 läßt sich in bezug auf eine vermeintliche Kluft zwischen bürgerlicher Existenz und idyllischer Dichtung Geßners von einem Salomon-Geßner-Problem sprechen: Das Spannungsverhältnis zwischen der Biographie und der Dichtung Geßners, auf das Wolfram Mauser in dem eingangs zitierten Beitrag hinwies, läßt sich als die praktische Seite eines Problems betrachten, das seine theoretische Gestalt in der Spannung zwischen der Gesellschafts- und der Moraltheorie einer Konzeption fand, die zu recht zu den Gründungsurkunden der modernen bürgerlichen Gesellschaft gezählt wird. Und wie sich im Falle Smiths der Rekurs auf den theoretischen Hintergrund seiner Konzeption im säkularen Naturrecht für eine Auflösung der Spannung nutzen ließ,221 so bietet der gleiche Hintergrund die Möglichkeit, Leben und Werk des Schweizer Verlegers und Idyllendichters sinnvoll aufeinander zu beziehen. Dabei lassen sich die kurzschlüssigen Hilfskonstruktionen umgehen, die entweder im Sinne des »Gessnermythos« von der Dichtung auf die Biographie des Dichters oder umgekehrt im Sinne einer ideologiekritisch geschulten Interpretationspraxis von seinem bürgerlichen Gewerbe auf die leitenden Kategorien seiner Dichtung schlössen. Die ausgesprochen sparsamen theoretischen Einlassungen Geßners sowie sein vergleichsweise geringer Bildungshintergrund verdeutlichen in diesem Zusammenhang die weite Verbreitung grundlegender Kategorien naturrechtlichen Denkens auch jenseits ihrer expliziten Thematisierung. Neben dem historischen bewährt sich auch der theoretische Hintergrund der vorliegenden Untersuchungen am Gegenstand Geßners: Seine Existenz als Verleger, Buchhändler und Dichter sowie seine bereits angeführte Fähigkeit, die von diesen Funktionen erforderten sozialen Rollen einzunehmen, bieten einen Beleg ebenso für die einleitend hervorgehobene Überschneidung sozialer Systeme im Subjekt wie auch 220
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Vgl. dz. u. a. bereits Richard Zeyss: Adam Smith und der Eigennutz. Eine Untersuchung über die philosophischen Grundlagen der älteren Nationalökonomie. Tübingen 1889; Wilhelm Hasbach: Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von Francois Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie. Leipzig 1890; August Oncken: Das Adam-SmithProblem. In: Zeitschrift für Sozialwissenschaft l (1898). S. 25-33,101-108,276-287; Diederich Lange: Zur sozialphilosophischen Gestalt der Marktwirtschaftstheorie bei Adam Smith. München 1983 (Volkswirtschaftliche Forschung und Entwicklung 2); Wolfgang Riedel: »Die unsichtbare Hand«. Ökonomie, Sittlichkeit und Kultur der englischen Mittelklasse (16501850). Tübingen 1990. S. 77ff. Vgl. dz. zuletzt Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 39ff.
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für die entproblematisierte Praxis des Umgangs mit diesem Phänomen in einer bestimmten Phase der Aufklärung. Ein Spannungsverhältnis zwischen bürgerlicher Biographie und idyllischer Dichtung ergibt sich lediglich unter der vorausgesetzten Forderung nach einer Literatur, in der die gesamte Persönlichkeit des Autors widergespiegelt wird. Wo diese Forderung nicht erhoben wird, erscheinen Unterschiede zwischen sozialer und literarischer Praxis hingegen keineswegs als Problem oder gar als Widerspruch. Im Zusammenhang der Diskussion um die Natürlichkeit oder Künstlichkeit der Geßnerschen Idyllendichtung im vorangegangenen Abschnitt fiel der Blick auf die auffällige und bei Geßner häufig zu findende Reflexion seiner Idyllenfiguren auf ihren eigenen glücklichen Zustand.222 In dem bereits zum Abschluß dieses Abschnittes als >programmatisch< interpretierten Text Der Wunsch wird schließlich deutlich, daß sich diese Reflexion - auch dies ist kein Einzelfall bei Geßner - ebenso auf die eigene Tugendhaftigkeit bezieht: Der Geßnersche Schäfer genießt sein Glück der Existenz in einer auf Sympathie gegründeten Gemeinschaft, die er als Folge seiner eigenen Tugend versteht. So heißt es in Der Wunsch zur Charakterisierung der einzigen nicht bloß besuchsweise erfahrenen, sondern fester geknüpften sozialen Beziehung: Der fromme Landmann sey mein Nachbar, in seiner braunen beschatteten Hütte; liebreiche Hülfe und freundschaftlicher Rath machen dann einen dem ändern zum freundlich lächelnden Nachbar, denn, was ist seliger als geliebet zu seyn, /s der frohe Gruß des Mannes, dem wir Gutes gethani133
Die Liebe, die an dieser Stelle als Grundlage der sozialen Beziehung gepriesen wird, erhebt sich auf der zugrundeliegenden Basis der Selbstbezüglichkeit. Diese erscheint ebenso als Voraussetzung wie als Folge der »liebreiche[n] Hülfe«: Der Nachbar entbietet seinen »frohefn] Gruß«, nachdem ihm die Hilfe zuteil geworden ist; der Erzähler genießt seine Seligkeit als Folge dieses Grußes. Daß Geßner dieses Verhältnis anhand einer Nachbarschaftsbeziehung schildert, erscheint vor dem Hintergrund säkularer Naturrechtsreflexion geradezu paradigmatisch: Auf diese Weise wird deutlich, daß die ursprünglichen, auf Moralität beruhenden Sozialbeziehungen bereits über einen unmittelbaren Familienzusammenhang hinausreichen. Damit nehmen sie neben ursprünglicher Sympathie bereits weitere Handlungsmotive auf, die auf der beiderseitigen Einsicht in die Hilfsbedürftigkeit des einzelnen gründen. Dringt damit bereits ein nicht zu unterschätzendes Moment der Selbstbezüglichkeit in die idealisierten Sozialbeziehungen ein, so zeigt sich, daß sich diese nur graduell von einer selbstbezüglichen Gesellschaftskonstitution im Sinne eines >Systems der Bedürfnisse< unterscheiden. Gleichwohl ist dieser graduelle Unterschied zu betonen, insofern er die Voraussetzung darstellt für eine literarische Artikulation idealisierter Sozialbeziehungen, die jedoch aufgrund zentraler struktureller Analogien den verwirklichten gesellschaftlichen Beziehungen eher zur Seite als gegenübergestellt werden. 222
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S. o., S. 128. Salomon Geßner: Idyllen, S. 68. (Hervorhebung CB.)
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Die Reflexivität des Bewußtseins, die Fähigkeit, sich seiner eigenen Tugendhaftigkeit bewußt zu werden, bildete auch für Adam Smith, folgt man seiner Theory of Moral Sentiments (1759, dt. 1770), gewissermaßen den konstitutiven Akt zur Inaugurierung des menschlichen Selbstbewußtseins. Tugendhaftes Handeln, im allerersten Vollzug möglicherweise von einer natürlichen Moralität bestimmt, verwandelt sich nach der Konstitution des Selbstbewußtseins im Zuge des Genusses der eigenen, über die bloße tierische Natur erhabenen Handlung in einen selbstbezüglichen Akt. Fremd- und Selbstbezug, Eigen- und »Wechselliebe«124 treten in eine stabile, nunmehr im analytischen Zugriff zu trennende Verbindung, in der sich künftig jeweils eine Seite als Bedingung der Möglichkeit der anderen festhalten läßt und die den Menschen zu einem sozialen, d. h. ebenso sozial handelnden wie auf soziales Handeln angewiesenen Wesen macht. Denn das im Zuge der Reflexion auf die eigene moralische Handlung entstandene positive Selbstbild sucht nach Bestätigung in der Außenwahmehmung; moralisch begründete Selbstliebe verlangt danach, sich in der Anerkennung ihrer Handlungen durch andere, ebenso selbstbezüglich konstituierte Wesen zu spiegeln: Ein Verhältnis moralischer Konkurrenz entsteht. Da für Smith »die menschliche Glückseligkeit vor allem aus dem Bewußtsein entspringt, geliebt zu werden«225, richtet sich das Handeln des Menschen nach dem Maß an Anerkennung, das von einem potentiellen Beobachter zu erwarten ist. So handelt für ihn auch derjenige, »der sein Leben einsetzt, um das seines Freundes zu verteidigen«, keineswegs aus »Menschlichkeit oder weil er mit grösserer Feinfllhligkeit empfindet, was jenes anderen als was ihn selbst angeht«.226 Statt dessen ist es auch hier das Urteil eines beobachtenden Dritten, das in den Augen Smiths den Ausschlag gibt: Jedem Zuschauer mag der Erfolg oder die Erhaltung des Lebens dieses anderen mit Recht wichtiger sein als ihr [i. e. der Handelnden] Erfolg oder ihr Leben; aber ihm selbst kann es nicht wichtiger sein. Wenn sie daher ihr eigenes Interesse denjenigen dieser anderen Personen opfern, passen sie sich den Gefühlen des Beobachters an und handeln in großherziger Anstrengung entsprechend jener Ansicht der Dinge, die, wie sie empfinden, sich naturgemäß jeder dritten Person aufdrängen muß.227
Das auf diese Weise aus den notwendigen Wechselwirkungen von Fremd- und Selbstbeobachtung begründete Ideal des gentleman steht somit keineswegs im Widerspruch zu der auf dem selbstbezüglich-eigennützigen Handeln aufbauenden marktwirtschaftlichen Theorie des Wealth of Nations (1776). Vielmehr bildet es im Gegenteil dessen anthropologische Voraussetzung in der Identifizierung des Selbstbewußtseins als einer von gesellschaftlicher Anerkennung abhängigen Instanz. Eigennutz und gemeines Wohl sind daher im Bereich eines auf 224 123
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Immanuel Kant, a. a. O. Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle oder: Versuch einer Analyse der Grundveranlagungen, mit deren Hilfe die Menschen natürlicherweise das Verhalten und den Charakter zunächst ihrer Mitmenschen und sodann ihrer selbst beurteilen. Bearbeitet nach der letzten Auflage von Hans Georg Schachtschabel. Frankfurt/M. 1949 (Civitas Gentium 7). S. 65. Ebd.,S.241f. Ebd., S. 242.
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materielle Interessen gegründeten Handelns ebenso aufeinander verwiesen wie Selbst- und »Wecheselliebe« in dem des moralischen Handelns.128 Gleichwohl bleibt eine systematische Trennung beider Ebenen festzuhalten: Zeichnen sich moralisches und ökonomisches Handeln auch durch eine analoge Organisationsform aus, die in beiden auf einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Selbst- und Fremdbezug des Handelns aufbaut, einem Bedingungsdas zugleich ein Konkurrenzverhältnis begründet, so wird die Vermittlung dieser beiden Referenzpunkte doch jeweils unterschiedlichen Instanzen zugewiesen. Das moralische Gefühl, das vorbewußt wirkt und seinen Zugriff auch deshalb auf die Gesamtheit des menschlichen Handelns ausdehnt, steht dem auf Reflexion angewiesenen Bewußtsein des wohlverstandenen Interesses zwar in strukturanaloger Funktion gegenüber. Aber der Bereich des auf wohlverstandenem Interesse gründenden Handelns behauptet sich nunmehr als einer eigenen Gesetzgebung folgendes, von der Instanz des moralischen Gefühls unabhängig funktionierendes >SystemSysteme< von Moral und Wirtschaft - und zwar als eine Realisierung, die auf der vorgängigen naturrechtlich fundierten Trennung der Bereiche von Recht und Moral aufbaute. Damit erscheint die bereits problematisierte These Reinhart Kosellecks von dem Bestreben nach einer Aufhebung der im Absolutismus realisierten Trennung von Recht und Moral als Charakteristikum bürgerlichen Denkens im 18. Jahrhundert230 nunmehr nicht allein aus empirischen, sondern auch aus systematischen Gründen ergänzungsbedürftig. Was sich im Falle der theoretischen Konzeption Adam Smiths explizit nachweisen läßt, gilt implizit auch für die literarischen Artikulationen ursprünglichnatürlichen sozialen Umgangs, wie sie in der Idyllendichtung Salomon Geßners vorliegen: Auch das vermeintlich vorreflexiv-naive Goldene Zeitalter der Geßnerschen Idyllen weist nicht allein Züge einer fortschrittsfördemden Konkur228
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Diesen Zusammenhang von Fremd- und Selbstbeobachtung erhob Christian Garve später in den theoretischen Rang eines fundamentalen Prinzips jeglicher Selbsterkenntnis: Vgl. lieber Gesellschaft und Einsamkeit Erster Band. Breßlau 1979. In: GGW, II, S. 6f. Zum »prinzipiell unendlichen [...] Regreß von Selbst- und Fremdbeobachtung« bei Garve vgl. auch Helmut Zedelmaier: Christian Garve und die Einsamkeit In: Aufklärung in Schlesien im europäischen Spannungsfeld. Traditionen - Diskurse - Wirkungen. Hg. von Wojciech Kunicki. Wroclaw 1996 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1757; Germanica Wratislaviensia CXTV). S. 133149, insbes. S. 138ff. (Zitat S. 138). Zu Garves Rezeption der schottischen Sozialphilosophie des 18. Jahrhunderts vgl. Claus Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St Ingbert 1992 (Saarbrücken Beitrage zur Literaturwissenschaft 36). S. 217ff. Zu Garves Abhandlung lieber Gesellschaft und Einsamkeit s. auch u., S. 194f. u. 267ff. Neben der funktionalen Selbstorganisation dürfte Niklas Luhmann auch diesen Aspekt der systematischen Abkopplung von anderen sozialen Systemen im Blick gehabt haben, als er seine Konzeption der Systemtheorie als zugleich differenzierende und abstrahierende Reformulierung der Marktwirtschaftstheorie Adam Smiths bezeichnete: S. o., S. 37. S. o., S. 111.
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renz,231 sondern auch solche einer Reflexion des tugendhaften Handelns auf, die das moralische Bewußtsein konstituiert. Eine explizite Referenz auf den für die Theorie Smiths zentralen Ehrbegriff findet sich allerdings erst in Geßners Schweizer Idylle Das hölzerne Bein von 1772: Ausdrücklich betont der Alte, der auf dem ehemaligen Schlachtfeld einem Jüngling die Verdienste seiner Generation für die nunmehr zu genießende Freiheit preist, daß ihm das aus der Schlacht davongetragene Holzbein »ehrenhafter [ist] als manchem seine zwey guten«232. Daß allein diese Idylle Geßners dem strengen Urteil Goethes standhielt,233 ist daher möglicherweise nicht allein aus einer gegenwartsbezogenen Handlung zu erklären, die aktuelle >Nationalinteressen< ansprach. Mit der Integration des Ehrbegriffs in ein idyllisches Szenario hatte Geßner zudem die Kompatibilität der Idyllentugenden mit den Erfordernissen aktuellen Handelns herausgestellt und dadurch die von Goethe kritisierte wirklichkeitsferne Idealisierung wenigstens in diesem einen Fall durchbrochen. Goethes eigenes Modell zur Verbindung von statischem idyllischem Glück und historischer Fortschrittserfahrung sollte gleichwohl einen anderen Weg beschreiten.234 Darüber hinaus kennen die Idyllen Geßners auch die bereits angesprochene, auf Selbstreflexion gründende und die Dynamik des Fortschritts der menschlichen Kunst bedingende Konkurrenz: So hebt Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs an mit einer für die Idyllentheorie und -dichtung dieser Zeit typischen Kennzeichnung einer »Jugend der Tage«, die geprägt gewesen sei von den »wenigen Bedürfhiße[n] der Unschuld«,233 wie sie nahezu zeitgleich Jean-Jacques Rousseau ebenso in Anspruch nehmen sollte, um auf diese Weise einen idealisierten vorzivilisatorischen von einem degenerierten zivilisatorischen Zustand abzugrenzen.236 Doch so natürlich und unschuldig diese Bedürfhisse auch gewesen sein mögen, so legen sie doch auch bereits in diesem Zustand die Grundlage für einen auf die Konkurrenz der Bedürfnisbefriedigung gegründeten Fortschrittsprozeß. Der Unterschied zwischen einer durch ursprünglich-unschuldige und einer durch vervielfältigte und verfeinerte Bedürfhisse geprägten Gesellschaft erscheint somit keineswegs als qualitativer, sondern lediglich als quantitativer. Der Wunsch, »in lieblichem Tönen [...] loben« zu können als die Gespielen,237 setzt einen Prozeß der Perfektionierung der menschlichen Künste in Gang, dessen weiterer Verlauf von Geßner im Rahmen seiner Idylle nicht verfolgt werden kann. Statt der Statik einer idealisierten ursprünglichen Geselligkeit wäre mit diesem eher die Dynamik eines auf Konkurrenz beruhenden Fortschrittsprozesses zur Darstellung gekommen. Daß Geßner jedoch eine literarische Naturstandskonzeption vorlegt, die diesem Fortschrittsmodell keineswegs widerspricht, 231 232 233 234 231 234 237
S. o., S. 128. Salomon Geßner: Idyllen, S. 133. S. dz. u., S. 279f. S. dz. u., Abschnitt 4.2. Salomon Geßner: Idyllen, S. 53. S. dz. u., S. 180ff. A.a.O.
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sondern vielmehr als dessen Grundlage genutzt werden kann, zeigt, daß für ihn und seine Idyllenkonzeption zwischen dem idealen Naturmenschen und dem von Kultur und Zivilisation geprägten Zeitgenossen kein fundamentaler qualitativer Sprung anzusetzen ist.238 Daher vertragen sich auch die natürlichen Normen des Unschuldszustands mit den aktuellen Anforderungen des moralischen Standpunktes, wie Geßner sie beispielhaft zum Abschluß dieser Idyllensammlung vorführte. Daß auch Geßner eine den kulturellen Fortschritt antreibende Dynamik gesellschaftlicher Konkurrenz nicht im Widerspruch sah zu seinem Ideal ursprünglich moralischer Integrität, muß keineswegs auf die Rezeption der Schriften Smiths zurückgeführt werden. Vielmehr stellte das dort vertretene Modell eine in vielfältigen Versionen auftretende communis opinio aufklärerischer Gesellschaftstheorie dar, von der selbst die radikale Kulturkritik Jean-Jacques Rousseaus nicht unbeeinflußt blieb.239 Dies sei abschließend lediglich an zwei Beispielen aus dem engeren Umkreis von Geßners Idyllendichtung demonstriert: So legte etwa Isaak Iselin mit seinen Philosophischen und patriotischen Träumen eines Menschenfreundes von 1755 unmittelbar vor der ersten Idyllensammlung Geßners eine dem späteren Modell Smiths verwandte Konzeption vor, die auch Geßner bekannt gewesen sein dürfte. Stellt Iselins Schrift in ihrer systematischen Anlage und ihrem eklektischen Vorgehen auch ein Beispiel dar für eine noch nicht trennscharf realisierte Unterscheidung verschieden strukturierter gesellschaftlicher Handlungsbereiche,140 so hebt er doch die Reflexivität des mo258
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Dies sei gegen die Annahme Brigitte Peuckers angemerkt, die in Geßners Idyllen »no progressive principle« zu finden vermag: Arcadia to Elysium, S. 57. Diese Ergänzung läßt sich zur Begründung ihrer eigenen Obergeordneten These nutzen, die den »bourgeois« Charakter von Geßners Idyllenfiguren u. a. mit deren »ingenuity as an inventor« begründet (ebd., S. 65). Angesichts von Geßners (allerdings nicht in die Idyllensammlung aufgenommener) Erzählung Der erste Schiffer (1762; Werke, S. 209-232) betonte auch Hans-Joachim Mahl die »Unentschiedenheit« des Verfassers, der daher »nicht einseitig als Wegbereiter Rousseaus und seiner kulturkritischen Tendenzen interpretiert werden darf«: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 162f. S. dz. u., S. 174ff. Und insofern für die soeben relativierte These Kosellecks: So wird beispielsweise ausdrücklich die »Wechsel=Hülfe der Menschen« gelobt als ein von der Weisheit der Natur durch die ungleiche Verteilung ihrer Gaben angelegter Weg zur Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft. (Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, S. 21, vgl. auch S. 102.) Iselin begründet dies zunächst mit einer natürlichen Anlage, sich der »Notwendigkeit der Hülfe des ändern« aufgrund der eigenen »Schwachheit« zu versichern, die dem Menschen durch eine »innerliche Stimme« als »das einfältigste Geseze der Natur« stets in Erinnerung gerufen werde. (S. 20f.) Von dieser natürlichen Verbindung, durch die »der Trieb zu unserm eignen Wolseyn [...] mit dem zu unsere Nächsten seinem auf das genaueste verschwistert« ist, zeugt »[ujnser Herz, wenn es nicht verderbet ist«. (S. 65) Aber auch »wenn wir ein wenig nachdenken wollen, so finden wir unzehlbare Beweistümer, daß unsere Glückseligkeit mit unsers Nächsten seiner in dem engsten Verhältnisse stehet.« (Ebd.) Ja, die von Reflexion bestimmte Unterstützung ist der unmittelbaren im Grunde gar vorzuziehen, »weil er mit dem Verstande und Willen, weil er aus Freyheit sich selbst zu einem Werkzeuge unsere Besten, zu einem Gute für uns machet« (S. 66) Hieraus zieht Iselin jedoch nicht die naheliegende Konsequenz, den gesellschaftlichen Umgang nicht länger an moralischen Kategorien zu messen, sondern beharrt darauf, daß »die Liebe [...] so wol die Feder der bürgerlichen, wie der natürlichen
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rauschen Bewußtseins nachdrücklich hervor, um auf diesem Wege den Begriff der »Ehre« als Brücke zwischen den selbstbezüglichen und den geselligen Trieben des Menschen herauszustellen: Denn die Ehre wird [...] der Gegenstand eines eben so mächtigen Triebes als immer alle die übrigen sind, von denen wir oben geredet haben. Kein Gut wird von ihm [dem Menschen, CB] so schäzbar gehalten ab das Zeugniß von seiner Vollkommenheit und Tugend, welches ihm sein Nächster schuldig ist [/][...] [/] In ihrem ersten und reinsten Ursprünge besteht sie [die Ehrbegierde, CB] aus denjenigen Trieben, die die Menschheit am meisten adeln, der Liebe und dem Triebe zur Vollkommenheit Kein Vergnügen ist so fein, so rein, und der Vortrefflichkeit der menschlichen Natur so würdig, als dasjenige das aus dem Gefühle fremder Glückseligkeit, davon man das Werkzeug ist, entspringet, und das man genießt indem man an andrer Wolfart arbeitet141
Daß ein idyllisierender Blick auf die ursprünglichen Formen menschlicher Geselligkeit weder Selbstbezüglichkeit des einzelnen noch Konkurrenz der Menschen untereinander negieren mußte, macht schließlich auch Leonard Meister deutlich. Dessen neue schweizerische Spaziergänge wurden eingangs bereits als prägnantes Beispiel für die Idyllisierung der Dichterbiographie herangezogen.242 Von dieser leitet er schließlich nahtlos zu einer Geschichtstheorie über, die als »historisches Faktum« von bloßer »poetische[r] Galanterie« unterschieden wird243 und als kombinierende Paraphrase von Rousseau und Tacitus erscheint (wenngleich lediglich auf letzteren explizit Bezug genommen wird): In mythologischem Gewand wird der Ursprung der menschlichen Geselligkeit geschildert. Die Stabilisierung der ursprünglichen Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau, wie sie zuerst von dem Gründerpaar Woldemar244 und Freya geleistet und von Freya dann als Kunst an die Frauen der Umgebung weitergegeben wird, bedingt den ersten sozialen Fortschritt von der Jäger- und Sammler- zur Bauern- und Hirtenexistenz: Bey mondvoller Nacht versammelte die weise Frau um sich her die Töchtern des Waldes und weihte sie in die Geheimnisse der Schönheit und Liebe. Von diesem Augenblick an wetteiferten alle um den Vorzug der Anmuth; sie reizten die Aufmerksamkeit der Männer durch Geberden und Bewegungen; sie fesselten ihre Sinnen wechselweise durch Nachgeben und Widerstand; sie forderten zum Preise ihrer Gunstbezeugungen [...] Anbau des Bodens, Pflanzungen, Wartung derHeerde.243
Der Gründungsakt der Gesellschaft läßt sich damit zwar auf »Liebe« zurückfuhren. Allerdings handelt es sich schon nicht mehr um eine naiv-unmittelbare Liebe, sondern um eine bereits im Zeichen des Eigennutzes (die Frauen wünschen sich einen ebenso beständigen Haushalt wie Freya) fortgeschrittene Liebeskunst.
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Gesellschaft seyn« solle (S. 74), denn: »Das politische und ökonomische Elend und Verderbniß kann nicht gehoben werden, man hebe denn das sittliche [...].« (S. 99) Ebd., S. 20,130.
S. o., S. 141. Leonard Meisters neue schweizerische Spaziergänge, S. 222, Anm. Ob es sich bei dieser Namensgebung um eine Anspielung auf Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar (1779) handelt, kann im vorliegenden Zusammenhang offenbleiben. Leonard Meisters neue schweizerische Spaziergänge, S. 220f.
162 Hieraus entwickelte sich schließlich eine frühe rechtliche Konstitution auf dem Fundament gegenseitiger Abhängigkeit und Unterstützung: Je mehr der Mensch semes gleichen zu sehen gewohnt war, desto mehr entwickelten sich seine Kräfte und Triebe. Um sich der ändern Beyhülfe zu versprechen, mußte er auch ihnen Beyhülfe leisten. Um in dem Besitze seiner Geliebten und seiner Gartenflur geschonet zu bleiben, schonte er auch den Besitz seines Nachbars. [...] So schützte jedes einzelne Glied die ganze Gemeine, und so ward es schließlich von der ganzen Gemeine beschützt244 Endlich führte die wachsende Größe und dadurch steigende Komplexität der Gesellschaft durch das »Zusammendrängen der Menschen«247 zunächst zur Einführung des Tauschhandels, schließlich zur arbeitsteiligen Diffenzienmg der Berufe,248 und erst auf dieser Grundlage entstand die idyllische Welt Geßners: Auf solche Weise wurde jede Klasse von der ändern abhänglich; jede näherte sich der ändern; in öfterm Verkehr schliffen sie sich ab, und jedermann wurde empfindsamer, thätiger, geselliger. So blühte aus der Wildniß ein Arkadien hervor, so näherte sich das junge Menschengeschlecht jener Veredlung, womit es in idealischem Lichte unserm Geßner erschien.249 Selbst die eingangs gekennzeichnete idyllisierende Rezeption von Leben und Werk Geßners stand im zeitgenössischen Bewußtsein also offenbar nicht im Widerspruch einer Eigennutz und Konkurrenz nicht bloß in Rechnung stellenden, sondern als zentrale Bestandteile sozialer Dynamik nutzenden Sozialtheorie. Auch Immanuel Kants im vorangegangenen Abschnitt angeführte Ablehnung der arkadisch-idyllischen Existenz aufgrund ihrer Statik230 darf insofern nicht als Ablehnung des literarischen Werkes Geßners verstanden werden.231 Statt einer problematischen Idyllisierung der Biographie wäre daher angemessener von dem
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Ebd,S.223f. Ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 224£ Ebd., S. 225f Der für die effektive und fortschreitende Erschließung und Nutzung eigener Ressourcen notwendige Selbstbezug wird von Meister an anderer Stelle auch im Hinblick auf das vorbildliche Mustergut des in der Helvetischen Gesellschaft verehrten Bauern Jakob Gujer, genannt Kleinjogg, betont: Nachdem er in einer biographischen Skizze hervorgehoben hatte, Kleinjoggs Hauswesen biete »das schönste Bild der grossen Haushaltung des Staates«, machte Meister deutlich, daß er hiermit nicht etwa die Ausweitung des Geltungsbereichs häuslicher Tugenden im Blick hatte. Im Gegenteil betonte er im folgenden den Einfluß öffentlicher, auf Ehre gründender Ordnung auf den privaten Haushalt: »Gleichwie für die öffentliche Ehrbegierde Curia und Forum, Academ und Olympischer Spielplaz, so sind für die häusliche Ehrbegierde Haus und Meyerhof und Werkstätte das schönste Theater.« Helveticas berühmte Männer, S. 134. S.o.,S. 112f. Vgl. dagegen jedoch Ludwig Stockinger, der u. a. den »im 18. Jahrhundert entstehenden modernen Arbeitsbegriff« zur Begründung des von ihm angenommenen radikalen gattungshistorischen Bruchs zwischen der arkadischen Tradition der Schäferpoesie und der Idylle des späten 18. Jahrhunderts heranzieht, denn »Müßiggang, Stillstand der Zeit und die Vorstellung einer vom Menschen unbearbeiteten Natur haben in diesem Kontext keinen positiven Wert mehr und taugen nicht mehr als Normen guten und richtigen Lebens.« Entwicklungsprobleme der Schäferpoesie vom 17. zum 18. Jahrhundert im Lichte zeitgenössischer poetologischer Äußerungen. In: Schäferdichtung, S. 141-160, hier S. 147f.
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Einfluß gesellschaftlicher Wirklichkeit auf die Konstitution des idyllischen Personals der Geßnerschen Dichtung zu reden. Idyllische Dichtung, Kaufinannsberuf und Mitgliedschaft in der Helvetischen Gesellschaft bezeichnen für Geßner lediglich unterschiedliche, sich komplementär zueinander verhaltende Seiten einer Liebe und Eigennutz, Moral und ökonomischen Erfolg, eigenes und gemeines Wohl als Handlungsmotive gleichermaßen rechtfertigenden und auch selbst verfolgenden Existenz. Die Strategien des Umgangs mit diesen vermeintlich gegensätzlichen Motiven lassen sich in bezug auf Geßner mit Georg Stanitzek als Temporalisierung und Literarisierung bezeichnen."2 Stanitzek unterscheidet auf diese Weise zwei im 18. Jahrhundert verfolgte Strategien der Vermittlung zwischen empfindsamer Moral und bürgerlicher Klugheit. Zugleich handelt es sich um Verfahrensweisen, auf deren Grundlage unterschiedliche Sozialmodelle, eine idealisierte natürlich-unmittelbare sowie eine künstlich-vermittelte Geselligkeit, Geltung zu beanspruchen vermochten, ohne sich gegenseitig in Frage zu stellen. So erscheint nunmehr auch ein Satz, der in Ermangelung ausführlicherer poetologischer Einlassungen Geßners immer wieder als zentrale programmatische Aussage ausgewertet wurde, in einem neuen Licht. In der Vorrede den Leser, die er seiner ersten /^//ew-Sammlung voranstellte, bezog Geßner das Ideal des »goldnen Weltalter[s]« aufsein eigenes Leben: Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzOkt, ganz Empfindung Ober ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Wehalter und reicher als ein König.233
Sowohl den Interpretationen seiner Idyllen als Ausdruck der Flucht vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit als auch der Tendenz zur Idyllisierung seiner eigenen Biographie hat Geßner mit dieser Erklärung das Stichwort geliefert. Im Zuge dieser Anschlüsse wurde jedoch in der Regel ein für den vorliegenden Zusammenhang entscheidender Teil der Aussage unterschlagen: Wer sich >>[o]ft« losreißt, um sich »dann glücklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter« zu fühlen, lebt erstens offensichtlich nicht durchgehend in einer mit seinen idyllischen Phantasien identischen Wirklichkeit und muß zweitens ebenso oft zurückgekehrt sein von dem Ort seines Asyls an den Ausgangspunkt einer neuerlichen Flucht. Mag es sich daher bei dieser Textstelle auch im Sinne Helmut J. Schneiders um einen »locus classicus für die Flucht in die Natur«154 handeln, so bleibt doch festzuhalten, daß der betont temporäre Charakter dieser Flucht sich nicht der zuvor von Schneider ein weiteres Mal präsentierten Alternative von Utopie und Eskapismus fügt. Was Geßner an dieser Stelle offenlegt, ist weder eine beständige idyllische Wirklichkeit noch eine durchgehende Flucht aus der Gesellschaft in die »Schön252 253 254
Vgl. Georg Stanitzek: Blödigkeit, S. 152ff Salomon Geßner: Idyllen, S. 15. Helmut J. Schneider: Utopie und Landschaft im 18. Jahrhundert, S. 173.
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heit der Natur«, sondern eine Doppelexistenz, die das gesellschaftliche Leben und Wirken zeitweise eintauscht gegen einen allein von »Empfindung« bestimmten Zustand außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhanges. Der Ort der Empfindung wiederum kann entweder wirklich aufgesucht werden, oder der Fliehende bedient sich der Erinnerung an seine »seligsten Stunden«253. Letztere wird unterstützt durch die Dichtkunst Geßners,236 die ausdrücklich keine Wirklichkeit zu beschreiben beabsichtigt, sondern »die Scenen in ein entferntes Weltalter sezt«, um ihnen »dadurch einen höhern Grad der Wahrscheinlichkeit«157 zu verschaffen - denn die Wirklichkeit der zeitgenössischen ländlichen Existenz entspricht nicht mehr den Anforderungen der schönen Erinnerung.158 Die für ihre poetologische Rechtfertigung wesentliche Wahrscheinlichkeit der arkadischen Idyllik begründet sich für Geßner mithin gerade aus der Beschränkung des sozialen Geltungsanspruchs ihrer Idealisierung: Nur als bewußt kontrafaktisches Idealbild ohne den Anspruch einer umfassenden Ersatzexistenz war der unmittelbaren Sozialität des Menschen angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch Relevanz zuzusprechen. Nur unter den Voraussetzungen von Temporalisienmg und/oder Literarisierung konnten Geßners Schäfer einen vorbildhaften Status beanspruchen, der komplementär zu den anerkannten Fortschrittsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft zu konzipieren war. Geßner verstand es, Stimmung und Verhalten gemäß den Anforderungen unterschiedlicher sozialer Zusammenhänge zu verändern; die Wirklichkeit seiner Biographie ist weder allein in der idyllischen Existenz im Sihlwald noch in der öffentlichen des engagierten Zürcher Bürgers und erfolgreichen Kaufmanns zu finden, sondern umfaßte alle diese Sphären - und zwar in einer Harmonie, die als Voraussetzung zu gelten hat für die Möglichkeit auch einer nur zeitweise gepflegten idyllischen Existenz. Dies hätten seine Interpreten wie seine Biographen bereits aus dem Nekrolog erfahren können, den ihm sein Freund Johann Jakob 153 234
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Salomon Geßner: Idyllen, S. 15. In diesem Sinne ist Markus Winkler zuzustimmen, wenn er feststellt: »reading an idyll shall itself be idyllic« - wenn auch nur in dem von Geßner im Ausgang von Der Wunsch angegebenen Sinne: The Poetics of Enlightenment and Salomon Gessner's Idylls, S. 191. Zur »Identifikation von Leser und Dichter« in der »wirkungsästhetischen Absicht« Geßners, im Medium der Idylle vergangene Glückserfahrungen neu zu beleben, vgl. auch Gotthardt Frühsorge: »Nachgenuß der Schöpfung.«, S. 78. A a. O. Die auffällige Parallele dieser Bemerkung Geßners zu Johann Christoph Gottscheds Begründung für das Absehen der zeitgenössischen Idyllendichtung von der Wirklichkeit des Landlebens ist häufig hervorgehoben worden (vgl. dz. Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 76). Burghard Dedner verweist jedoch darauf, daß Geßner aus der »Summe religiöser, ethischer, sozialer und ästhetischer Momente«, mit der Gottsched die »schroffe Trennung zwischen schäferlicher Idealität und bäuerlicher Wirklichkeit« begründete, lediglich den sozialen Aspekt übernehme: Topos, Ideal und Realitätspostulat, S. 18. 1746 hatte auch Christlob Mylius gegen die »Ochsen- Kuh- und Schweinehirtengedichte« polemisiert, denen »unsere Bauerkerls« zugrundegelegt wurden: Gedanken über die Verbesserung der Schäferpoesie. In: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks. Fünfzehntes Stück. Anderer Band. [d. i. Anderer Band. 15. Stück] Halle 1746. S. 641-647, hier S. 643. Vgl. auch die oben zitierte Satire Vom Natürlichen in Schäfergedichten von Johann Adolf Schlegel.
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Hottinger in der Berlinischen Monatsschrift gewidmet hatte. Hottinger würdigte ebenso den »liebenswürdigen, angenehmen Gesellschafter« wie auch die »Magistratsperson« ausdrücklich und im Verweis auf die Fähigkeit, den jeweils richtigen Ton zu treffen: Den liebenswürdigen, angenehmen Gesellschafter, und den Mann voll heitern Witzes und origineller Laune, lernten [...] seine Freunde in ihm bald kennen und lieben. Sein jovialischer Geist entfaltete sich bei Gelegenheit in ihren vertraulichen Zirkeln. [...] Aber den Mann, der von seinen großen Talenten, als Mensch und Bürger, die beste und gewissenhafteste Anwendung machte, kannten selbst viele von seinen Freunden nicht genug. [...] Aber wer ihn einmal öffentlich reden hörte, der fand es schon der Mühe werth, zu horchen, und verlor nicht gerne ein Wort Wer sein Beisitzer in einem engem Kollegium war, der fand in ihm einen Mann, der mit tiefer Einsicht und warmer Theilnehmung über jeden wichtigern oder geringern Gegenstand der Berathschlagung urtheilte, und mit Mut und Festigkeit zu seiner Meinung stand.219
2.4 >Kleine Gesellschaftern: Moses Mendelssohns Idyllentheorie im Lichte seiner Rousseau-Kritik Ließ sich die bukolische und idyllische Gattungsgeschichte bis hin zu den Idyllen Salomon Geßners parallel zu den Differenzierungen einer aufklärerischen Theorie der Geselligkeit in naturrechtlicher und gesellschaftsethischer Tradition rekonstruieren, so sind in diese Parallelisierung nunmehr auch die fundamentalen Veränderungen einzubeziehen, denen beide Bereiche im Verlauf des 18. Jahrhunderts ausgesetzt waren. Zu fragen ist, inwiefern sich die These von der Kompatibilität und funktionsgeschichtlichen Komplementarität von idyllischer Gattungs- und aufklärerischer Sozialtheorie auch für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufrecht erhalten läßt. Zentrale Bedeutung ist hierbei der Sozialphilosophie Jean-Jacques Rousseaus beizumessen:2*0 Nicht allein die radikale Kritik der bis dahin im Rahmen des säkularen Naturrechts vorgelegten Konzeptionen für eine Theorie der menschlichen Geselligkeit, mit der Rousseau seinen ersten publizistischen Auftritt einleitete und die als Grundlage seines gesamten sozialphilosophischen Werkes anzusehen ist, läßt ihm diese Position zukommen. Überdies zeugt gerade sein Werk von der nach wie vor zu konstatierenden engen Verbindung zwischen Geselligkeitsreflexion und idyllischer Literatur. Rousseau war zum einen ein leidenschaftlicher Anhänger der Idyllendichtung Geßners.261 Seine Sozialtheorie wurde sowohl in methodischer wie auch in inhaltlicher Hinsicht von einflußreichen Positionen idyllischer Gattungstheorie aufgenommen: Johann Adolf Schlegel empfahl dem Idyllendichter Rousseaus kul239
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[Johann Jakob Hottinger:] Salomon Gessner, geboren 1730; gestorben d. 2. März 1788, S. 465, 467. Zum Lob des »lichtvollen, faßlichen, zweckmäßig geschmückten Vortrag[s]« Geßners, der »Deutlichkeit und Bestimmtheit der Gedanken, verbunden mit der Aussersten Präcision des Ausdruckes«, durch den Cicero-Obersetzer Hottinger vgl. auch dessen Biographie: Salomon Geßner, S. 122f. Vgl. dz. auch ausführlich Emanuel Peter: Geselligkeiten, S. 116ff. S. o., S. 108.
166 unkritisches Vorgehen zur Rekonstruktion des menschlichen Naturzustandes;242 Johann Georg Sulzer wies der idyllischen Dichtung die Aufgabe zu, ihre Leser diejenigen Grundsätze »empfinden« zu lassen, von denen die theoretischen Texte Rousseaus nicht zu »überzeugen« vermochten.243 Auch die dem Bestimmungsversuch Schlegels kritisch gegenüberstehende gattungstheoretische Position Moses Mendelssohns kommt - wie im folgenden zu zeigen sein wird - in kritischer Auseinandersetzung mit dem sozialphilosophischen Neuansatz Rousseaus zustande. Schließlich hat Rousseau in der Nouvelle selbst Szenen gestaltet, die sich als Fortführung der idyllischen Gattungstradition verstehen und nach ihrem Verhältnis zu dieser Tradition befragen lassen. Für Karl-Heinz Göttert war es Rousseaus »neuer Begriff der >NatürlichkeitEntfremdung< des Menschen von sich selbst den gesellschaftlichen Verfallsprozeß bedingt und einleitet.268 Und dieser fundamentale Dissens bezüglich der gesellschaftlichen Praxis gründet tatsächlich - um auf die Einschätzung Götterts zurückzukommen - in einer noch grundsätzlicheren Meinungsverschiedenheit bezüglich der Natur des Menschen: Seine Theorie von der ungeselligen Natur des Menschen entwickelt Rousseau ausführlich im Rahmen des Zweiten Diskurses, in dem er den vorangegangenen naturrechtlichen Rekonstruktionsversuchen einleitend vorwirft, einen entscheidenden Fehlschluß zu begehen, indem sie »die Begriffe, die sie in der Gesell246
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Jean Jacques Rousseau: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 169. Zur Tradition der Begriffe vgl. - wenn auch äußerst knapp gehalten - Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Dritte überarbeitete Auflage. Frankfurt/M. 1980 (stw 143). S. 65ffi; sowie zuletzt ausführlicher und differenzierter unter Einbeziehung der moraltheologischen Zusammenhänge Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 137ff.; kurze Hinweise außerdem bei Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft Zur Affektmodellierung im franzosischen Roman von Rousseau bis Balzac. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 35). S. 32f., 37f. Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang. Unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Sckommodau. Stuttgart 1963. S. 445. Vgl. u. a. Ernst Cassirer: Das Problem Jean-Jacques Rousseau. In: Archiv für Geschichte der Philosophie XLI (1932). S. 177-213, 479-513, hier S. 185. Zum Problem der »Entfremdung« bei Rousseau vgl. außerdem Hans Barth: Ober die Selbstentfremdung des Menschen bei Rousseau. In: Zeitschrift für philosohische Forschung XIII (1959). S. 16-35; Jakobus Wössner: Sozialnatur und Sozialstruktur. Studien über die Entfremdung des Menschen. Berlin 1965 (Ders.: Soziologische Schriften 4). S. 26ff.; Bruno Schmid: Sittliche Existenz in »Entfremdung«. Eine Untersuchung zur Ethik Jean-Jacques Rousseaus. Düsseldorf 1983 (Moraltheologische Studien. Historische Abteilung 8). S. 94f; sowie Renate Berief: Selbstentfremdung als Problem bei Rousseau und Schiller. Idstein 1991 (Wissenschaftliche Schriften im Wissenschaftlichen Verlag Dr. Schulz-Kirchner. Reihe 11: Beiträge zur Philosophie 102).
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schaft aufgenommen haben, auf den Naturzustand übertragen. Sie sprachen vom Wilden und zeichneten den Zivilisierten.«269 Um sich gegen diesen diagnostizierten Fehlschluß abzusichern, wählt Rousseau den Weg, vom aktuell erscheinenden Wesen des Menschen all diejenigen Eigenschaften abzuziehen, die ihm aufgrund der für ihre Ausbildung notwendigen Transzendierung des unmittelbaren Selbstbezugs erst im vergesellschafteten Zustand zuzusprechen sind. Mag ein solches Vorgehen auch im Sinne Schlegels als geeignetes Verfahren für die literarisch-fiktive Rekonstruktion eines idyllischen Naturzustandes gelten,270 so handelt es sich doch strenggenommen um eine fundamentale petitio principii: Rousseau setzt voraus, daß der vergesellschaftete Zustand dem Naturzustand nachgeordnet werden müsse, zieht daher alle Eigenschaften des vergesellschafteten Menschen von dessen ursprünglichem Wesensbegriff ab und gelangt konsequent zu dem Ergebnis, daß der Naturzustand ungesellig gewesen sei: Ohne Fertigkeit, ohne Sprache, ohne Wohnstätte, ohne Feindschaft und ohne Freundschaft, ohne jedes Verlangen nach seinesgleichen wie ohne jeden Trieb, ihm zu schaden, ohne vielleicht jemals jemand darunter als Individuum wiederzuerkennen, irrt der Wilde in den Wäldern umher.171 269
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Jean-Jacques Rousseau: Ober den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 79. Zu Rousseaus Verhältnis zur Tradition des säkularen Naturrechts vgl. auch ausführlich Robert Derathe: Jean-Jacques Rousseau et la Science Politique de son Temps. Seconde edition raise a jour Sixieme tirage. Paris 1995 (Bibliotheque d'Histoire de la Philosophie). Insbes. S. 66ff. S. o., S. 104. Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 183. Zur logischen Unnahbarkeit des Schlusses vgl. - wenn auch in nicht unproblematischer Generalisierung - Dieter Beyerle: Rousseaus zweiter Discours und das Goldene Zeitalter. In: Romanistisches Jahrbuch XII (1961). S. 105-123, hier S. 105. Günter Figal betrachtet Rousseaus Naturzustand dagegen als »Ergebnis einer naturwissenschaftlich-ethnographischen Rekonstruktion«, die von einem faktischen »Zustand der Umweltnatur« auf den natürlichen Zustand des Menschen schließe: Die Rekonstruktion der menschlichen Natur. Zum Begriff des Naturzustandes in Rousseaus »Zweitem Discours«. In: neue hefte fur philosophic 29 (1989): Rousseau und die Folgen. S. 24-38, hier S. 32. Zwar läßt sich nicht bestreiten, daß dies einen Aspekt von Rousseaus Rekonstruktionsversuchen zutreffend wiedergibt; allerdings lassen sich die für eine praktische Orientierung entscheidenden Eigenschaften seines Naturmenschen nicht eindeutig aus dem »Zustand der Umweltnatur« ableiten. Dies gilt beispielsweise für die perfectibility. Im Falle der naturlichen Ungeselligkeit scheint Rousseau dann gar von den Forderungen der »Umweltnatur« abzusehen, denn daß ein sich lediglich durch perfectibilivor den natürlichen Konkurrenten auszeichnendes Wesen aus dem Zusammenschluß mit Artgenossen entscheidende Vorteile für Nahrungsbeschafiung und Verteidigung gewinnen würde, läßt sich allein mit einen Hinweis auf die (überdies ihrerseits unbegründete) Selbstgenügsamkeit kaum von der Hand weisen. Im Blick auf die Argumentation des Zweiten Diskurses erscheint es ohnehin nicht sinnvoll, den Verfasser auf eine einheitliche Methode festlegen zu wollen und damit den voluntaristischen Kern des Vorgehens zu verstellen. Auch Figal bestreitet allerdings nicht das zweite entscheidende methodische Problem des Vorgehens Rousseaus in dem Versuch, einen als vergangen gekennzeichneten Naturzustand normativ für aktuelles Handeln in Anspruch nehmen zu wollen (vgl. ebd., S. 34). Zu Rousseaus Naturstandskonzeption in Absetzung von der Tradition des profanen Naturrechts im 17. und 18. Jahrhundert vgl. zuletzt auch Reimar Müller: Anthropologie und Geschichte. Rousseaus frühe Schriften und die antike Tradition. Berlin 1997 (Aufklärung und Europa. Beiträge zum 18. Jahrhundert). S. 49ff. Bezüglich des methodischen Vorgehens Rousseaus schließt Müller
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Rousseau betont zwar wiederholt, daß es sich bei dieser Natur des Menschen nicht um einen historischen Zustand handele, sondern um eine Abstraktion in methodischer Absicht,272 aber die Unterstützung dieser Abstraktion durch Argumente aus der empirischen Anthropologie und ihre Integration in das historische Modell einer fortlaufenden Depravation der menschlichen Natur lassen den Leser an der Ernsthaftigkeit dieser Hinweise zweifeln. Selbst wenn es sich lediglich um eine methodische Abstraktion handeln sollte, so bleibt sie doch gebunden an ein entscheidendes methodisches Defizit. Wissenschaftliche Beweiskraft kann einem solchen Verfahren nicht zukommen, und nicht von ungefähr dürfte Rousseau sich zur Kompensation dieses Defizits auf die unmittelbare Selbsterfahrung berufen, die für die mangelnde wissenschaftliche Evidenz einstehen muß.273 Die erheblichen systematischen Defizite von Roussaus Naturstandsreflexion wurden bereits unter den Zeitgenossen ausgiebig diskutiert. Stellvertretend sei lediglich auf Moses Mendelssohns Kritik des Mitleidsbegriffs verwiesen, weil auf dessen Rousseau-Rezeption sogleich zurückzukommen sein wird: Mendelssohn besteht in seinem an die Übersetzung des Zweiten Diskurses angehängten Sendschreiben an den Herrn Magister Leßing in Leipzig darauf, daß das Mitleid, das Rousseau auch seinem ursprünglichen Menschen zuspreche, keine unabhängige Empfindung darstelle, sondern vielmehr in der ihm vorgängigen Liebe wurzele. Damit setzt seine Kritk an einem entscheidenden systematischen Problem Rousseaus an: Liebe ist eine an Sozialität gebundene Empfindung; einem als vollständig isoliert gekennzeichneten Wesen läßt sich daher weder Liebe noch Mitleid zusprechen, ohne die selbstgesetzten Voraussetzungen zu verletzen: Ist der Wilde fähig - und dieses läugnet Rousseau nicht - mit seinem Nebenmenschen Mitleiden zu haben; so muß er ihn lieben. Liebet er ihn; so wird er sich an seinen Vorzügen vergnügen, so wird er ungern von ihm weichen, das heist, er wird gesellig seyn.274
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sich der Auffassung Figals an: Vgl. S. 55f. Vgl. dagegen auch bereits Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Gottingen 1959. S. l ISff. Vgl. etwa Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 67, 81; sowie Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, S. 27fF. Dagegen treibt Bruno Schmid die Parallele zum Naturrecht wohl zu weit, wenn er feststellt, Rousseau schließe sich »rein formal Pufendorfs Konzeption vom Naturzustand an« (Sittliche Existenz in »Entfremdung«, S. 159). Vgl. seine Berufung auf die »Seele« als zu aktivierendes Medium der Selbsterkenntnis in der einleitenden Anmerkung b): Ober den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 63. Hierzu durfte überdies auch die Indentifizierung von onto- und phylogenetischer Entwicklung im Bild der unschuldigen Kindheit zu zählen sein: Vgl. u. a. Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff. München 1988. S. 23, 34. Starobinski versteht Rousseaus Naturzustand dann auch als eine »Gewißheit, die poetischer Natur ist« (ebd., S. 28). Vgl. dz. auch Otto Vossler: Rousseaus Freihehslehre. Göttingen 1963. S. 57; sowie Borislaw Baczko: Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft Wien, Frankfürt, Zürich 1970. S. 94,10 If. MGS, II, S. 87. Vgl. dz. auch Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beitrage zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin, New York 1995. S. 79-100, hier S. 89. Zur Rezeption
170 An der immensen Wirkung Rousseaus auf Literatur und Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dürfte kein ernsthafter Zweifel bestehen.273 Diese Wirkung entfaltete sich nicht zuletzt auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit Inhalt und Begründung seiner zivilisationsskeptischen Thesen: Sowohl die Radikalität seines an den Fundamenten des naturrechtlichen Menschenbildes grabenden Ansatzes als auch seine systematisch unbefriedigende Ausführung mußte als Provokation empfunden werden. So erschien der Autor als Freund des Paradoxen, der die Vernunft denunzierte und sich der Entrüstungsstürme der aufgeklärten Öffentlichkeit der Republique des Lettres sicher sein konnte.276 Zu dieser Wahrnehmung Rousseaus als paradoxen Autor mag ebenso beigetragen haben, daß er neben der oben zitierten eine weitere Kritik der zeitgenössischen geselligen Wirklichkeit vorlegte, deren Begründung der dort in Anspruch genommenen geradezu entgegengesetzt werden kann. Erneut im Kontrast zum Ansatz Smiths und seinem Hintergrund im Naturrecht Pufendorfs erscheint diese Kritik im Rahmen der zentralen Anmerkung i) des Zweiten Diskurses: Man bewundere die menschliche Gesellschaft so viel man will, es wird doch nicht weniger wahr bleiben, daß sie mit Notwendigkeit die Menschen dazu fuhrt, sich gegenseitig in dem Maße zu hassen als ihre Interessen sich kreuzen und sie sich gegenseitig scheinbar Dienste erweisen, in Wirklichkeit aber sich alle nur vorstellbaren Übel zufügen. Was soll man von einem Zusammenleben denken, bei dem die Vernunft jedes einzelnen ihm Maximen eingibt, die den von der öffentlichen Meinung der gesamten Gesellschaft gepredigten Maximen genau entge-
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von Rousseaus Mitleidsbegriff bei Lessing vgl. Ulrich Kronauer: Der kühne Wettweise. Lessing als Leser Rousseaus. In: Ebd., S. 23-45; sowie Ders.: Rousseaus Kulturkritik. Zwei Studien zur deutschen Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1978. S. l Iff. Angesichts der Auseinandersetzung zwischen Mendelssohn und Lessing um den Mitleidsbegriff im Anschluß an Rousseaus Zweiten Diskurs muß neben der schematisierend-ideologischen methodischen Anlage als inhaltliches Defizit der Arbeit von Claus Süßenberger festgehalten werden, daß das Sendschreiben in ihr mit keinem Wort erwähnt wird: Vgl. Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte. Bern, Frankfurt/M. 1974 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Literatur und Germanistik 95). Wenn es auch im einzelnen oft ungeahnte Schwierigkeiten bereitet, diese Wirkung im Sinne eines eindeutig belegbaren Einflusses nachzuweisen, wie in der Erforschung der Rezeptionsgeschichte Rousseaus regelmäßig betont wird Vgl. bereits Karl S. Guthke: Zur Frühgeschichte des Rousseauismus in Deutschland. In: ZdP 77 (1958). S. 384-396, hier S. 384. Doch erscheint es im Falle Rousseaus nicht entscheidend, unmittelbare Einflüsse nachzuweisen; vielmehr ist davon auszugehen, daß es gerade die unsystematische Anlage seines Werkes und die dadurch bedingte Fähigkeit war, sämtliche kuftur- und gesellschaftskritischen Topoi der Zeit (von der Scheinhaftigkeit des höfischen Umgangs bis zur Arbeitsteilung) in sich aufzunehmen, die dazu führte, daß es in der Folge kaum eine kritische Position zu geben scheint, die nicht auf die eine oder andere Weise mit diesem Werk in Verbindung steht. So führt beispielsweise auch Georg Stanhzek den Erfolg Rousseaus in Deutschland im 18. Jahrhundert darauf zurück, »daß er im deutschen Kontext bereits vorliegende Entwicklungen zusammenfaßt und zuspitzt«: Blödigkeit, S. 186. Dies mag - der Verdacht wurde bereits damals geäußert - durchaus im Kalkül Rousseaus gelegen haben. Was als methodisches Defizit erscheint, mag daher vielmehr der rhetorischen Rafinesse des Autors entsprungen sein. Jedenfalls wurde die Diskussion durch diesen Umstand - in zustimmenden wie ablehnenden Positionen - vom Werk auf den Autor verlagert Vgl. dz. u. a. Herbert Jaumann: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven. In: Ders. (Hg.): Rousseau in Deutschland, S. 1-22, hier S. 8f.
171 gengesetzt sind, wobei des einen Tod des anderen Brot ist? [...] Wenn man mir antwortet, die Gesellschaft sei so organisiert, daß jeder davon gewinnt, daß er dem anderen dient, so werde ich erwidern, es wäre sehr trefflich, falls nicht jeder noch mehr verdiente, wenn er dem anderen schadete. [...] Es handelt sich also nur darum, Mittel ausfindig zu machen, um sich der Straflösigkeit zu versichern.277
Den Hintergrund der Kritik Rousseaus bildet der Übergang des legitimen und überlebensnotwendigen >amour de soi< in den verderbten >amour proprec Eine auf Selbstsucht aufbauende Gesellschaft, so das Argument, kann aus strukturellen Gründen keinen stabilen sozialen Frieden garantieren, weil jeder jederzeit ein Interesse daran finden kann, die allgemeine Ordnung zu verletzen, wenn er sicher ist, daß die anderen sich daran halten und daß seine Übertretung des Ordnungsrahmens unentdeckt, wenigstens ungesühnt bleibt.278 War der Mensch in der zunächst zitierten Argumentation im höflichen Umgang nicht mehr >bei sichIdeal< und >Natur< in der Studie Götterts, die sie jeweils bestimmten geistesgeschichtlichen Positionen zuordnet (Ideal: Moral Sense; Natur: Rousseau),282 bereits im Allgemeinen recht schematisch, so droht sie sich in diesem Fall zu einem altbekannten Mißverständnis auszuwachsen, das geeignet ist, Rousseaus Perspektive auf den möglichen oder wenigstens anzustrebenden Ausgang des historischen Verfallsprozesses zu verstellen. Denn auf der Grundlage einer solchen Anordnung ist kaum über das altbekannte Mißverständnis Voltaires hinauszugelangen. Um nicht auf dem Standpunkt eines hilflosen und von Rousseau ausdrücklich zurückgewiesenen »Zurück zur Natur« zu verharren, ist sein Bild von der Natur des Menschen daher etwas genauer zu betrachten.283
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tische Schriften. München 1981. S. 905-939, hier S. 908). In ähnlicher Weise isoliert Robert Spaemann - wenn auch im Bezug auf den Ersten Diskurs - Rousseaus Kritik an der »europäischen bürgerlichen Revolution« und bezeichnet den Marxismus als »die konsequente Fortschreibung des Rousseauschen Gedankens« (Von der Polis zur Natur, S. 587,595). Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale, S. 130. Eine Zuordnung, die sich überdies problemlos umkehren ließe. So spricht auch Göttert selbst Rousseau nur wenige Seiten später - wenn auch in einfacher Anführung - das >»Ideal< eines wortlosen Einverständnisses« zu (ebd., S. 134). Im Blick auf die politische Perspektive des Rousseauschen Werkes kommt Iring Fetscher zu einem vergleichbaren Befund, wenn er als »Hauptaufgabe« des »Gesetzgebers« festhält, »die Menschen zu >denaturierenkonzeptuelle Aporie< des Emile, daß die Orientierung des Erziehungsprogramms ebenso auf den natürlichen komme wie auf den politischen citoyen gerichtet sei: Vgl. »Un Livre Paradoxa!«. J.-J. Rousseaus »Emile« in der deutschen Diskussion um 1800. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland, S. 101-113, hier S. 102. Die interpretatorischen Schwierigkeiten dürften auch hier der unsicheren systematischen Anlage des Naturbegrifis bei Rousseau selbst geschuldet sein, insofern er zwar auf einen auch normativ verbindlichen Wesensbegriff abzielt, dieser jedoch zugleich als historischer (und zwar als historisch vergangener) gefaßt wird. Vgl. dz. Günter Figal: Die Rekonstruktion der menschlichen Natur, S. 34. Dieser Umstand war bereits Gegenstand der zeitgenössischen Auseinandersetzung, wie beispielsweise das Bild Mendelssohns im Sendschreiben zeigt, daß ein Maler, der auf den »unglücklichen Einfall« geriete, beim Malen der »schicklichste[n] Haltung des menschlichen Körpers [...] sich ein Kind, wie es ohne alle Kleider auf die Welt kömmt, zum Muster vorzustellen und sein männliches Bild nach dieser Idee zu schildern [...] gantz gewiß eine Misgeburth zeichnen« würde: »Eben so lächerlich verfahrt der Wehweise, der [...] sich einbildet, uns, die wir jetzt von einer bessern Natur sind, nach diesem ungleichen Urbilde am besten schildern zu können.« (MGS, II, S. 92f.) Zur zeitgenössischen Kritik an Rousseaus Naturstandskonstruktion vgl. auch Walter Erhart: »Was nützen schielende Wahrheiten?« Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland, S. 47-78. Vgl. dz. auch Mendelssohns Patriotischen Entwurf, den Zustand der Menschen überhaupt glückseeliger zu machen in: MGS, , S. 140-143. Dagegen Rousseaus eigene, unmißverständliche Aussage im Zweiten Diskurs: »Was aber Menschen wie mich angeht, in denen die Leidenschaften für immer die ursprüngliche Einfalt untergraben haben, die sich nicht mehr von Gras und Eicheln nähren können -[...] alle, die davon überzeugt sind, daß die göttliche Stirn-
173 Zwar stattet Rousseau seinen »Wilden«, wie bereits angemerkt, sowohl mit selbst- (amour de soi) als auch mit fremdreferentiellen (pitie) Neigungen aus, die in einem bestimmten harmonischen Verhältnis zueinander stehen müssen und natürlicherweise auch stehen. Die Potenzierung der Bedürfnisse und der dadurch notwendig gewordene gesellschaftliche Zusammenschluß, dessen Umfang von einem auf die Vorstellungskraft angewiesenen Gefühl nicht mehr erfaßt werden kann, haben dieses harmonische Verhältnis jedoch zerstört - und zwar, daran läßt Rousseau keinen Zweifel, unwiderruflich zerstört. Deshalb »muß die Vernunft [die aus diesen beiden naturlichen Eigenschaften fließenden Regeln des Naturrechts, CB] sofort auf anderer Grundlage neu errichten, sobald sie es infolge ihrer allmählichen Fortschritte fertig gebracht hat, die Natur zu ersticken.«284 Formulierungen wie diese dürften es gewesen sein, die zu den prominenten Versuchen einer dialektischen Interpretation Rousseaus veranlaßt haben, in denen ihm die Perspektive auf eine Wiederherstellung ursprünglicher Harmonie in einer versöhnenden Synthese der gegensätzlich wirkenden Triebkräfte des Menschen zugesprochen wird.283 Keineswegs soll bestritten werden, daß die idealistischen Geschichtsentwürfe ihre Idee einer reflektierten Rückkehr in einen harmonisch-bewußtlosen Urzustand u. a. aus den geschichtstheoretischen Andeutungen Rousseaus gewinnen konnten.286 Dennoch gilt es, auf die verbleibenden, z. T.
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me das ganze Menschengeschlecht zur Erkenntnis und zum Glück der himmlischen Geister berufen hat, werden sich bemühen, durch Ausübung der Tugenden [...] den ewigen Preis zu verdienen, den sie sich davon erwarten dürfen. Sie werden die heiligen Bande der Gesellschaft achten, deren Mitglieder sie sind, sie werden ihresgleichen lieben und ihnen mit all ihrer Kraft dienen.« (S. 127.) Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 73. Einen informativen Oberblick über die Geschichte der Rousseau-Interpretation bis in die achtziger Jahre bietet Bruno Schmid (Sittliche Existenz in »Entfremdung«, S. 40ff.), der zugleich selbst ein besonders prägnantes Beispiel für die Rückprojektion von Positionen idealistischer Dialektik auf das Werk Rousseaus liefert (vgl. ebd., S. 198, 296 u. ö.). Zur alteren Forschung, die ebenfalls bereits von der Alternative >Genese< oder >Synthese< geprägt war vgl. Paul Sakmaim: Das Rousseauproblem und seine neuesten Lösungen. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen N. F. XXX (1913). S. 205-227. Für dialektische Interpretationsansätze vgl. bereits Johann Heinrich Füssli: Remarks on the Writings and Conduct of J. J. Rousseau. [Zuerst anonym London urn 1767.] Mh Einführung, deutscher Obersetzung und Kommentar hg. von Eudo C. Mason. Zürich 1962 (Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaften Zürich. Kleine Schriften 4); außerdem die Arbeiten von Ernst Cassirer (Das Problem Jean-Jacques Rousseau), Hans Barth (Ober die Idee der Selbstentfremdung des Menschen bei Rousseau), Jean Starobinski (Rousseau, bes. S. 139f, dagegen aber auch 172f), Otto Vossler (Rousseaus Freiheitslehre), Harald Höffding (Rousseau und seine Philosophie. Stuttgart 2 1902 - mit lebensphilosophischem Akzent) sowie Karl S. Guthke (Zur Frühgeschichte des Rousseauismus in Deutschland, bes. S. 393). Vgl. aber auch die Gegenargumentation bei Jürgen Link: »Traurender Halbgott, den ich meine!« Hölderlin und Rousseau. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 63 (1986): Rousseau und Rousseauismus. S. 86-114, hierS.98f. Vgl. dz. u. a. Bernhard Böschenstein: Die Transfiguration Rousseaus in der deutschen Dichtung um 1800: Hölderlin - Jean Paul - Kleist In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft l (1966). S. 101-116; Egon Reiche: Rousseau und das Naturrecht, S. 83 (zur Verbindung zwischen Rousseaus general und dem »Volksgeist der romantischen Rechtsphilosophie«); Jakobus Wössner: Sozialnatur und Sozialstruktur, S. 31 ff. (zu Schiller, ScheUing, Fichte und Hegel); Hans Barth: Ober die Idee der Selbstentfremdung bei Rousseau, S. 32ff. (zu Kant und
174 erheblichen methodischen Unterschiede zwischen den Positionen hinzuweisen: Zwar geht es in den auf (mehr oder weniger) konkrete praktische Fragen gerichteten Einlassungen Rousseaus um eine Harmonisierung der entgegenstrebenden Neigungen von Selbst- und Fremdbezug. Im Blick auf das jeweilige Verfahren dürfte allerdings eher von einem vermittelnden Kompromiß als von einer die Gegensätze aufhebenden >Versöhnung< die Rede sein - und zwar von einem pädagogisch oder politisch inszenierten Kompromiß. So greift beispielsweise der in den Briefen der Nouvelle als vorbildlich beschriebene Haushalt der Familie von Wolmar zurück auf die überkommene Tradition der patriarchalischen Großfamilie, die nicht allein durch individuellpragmatischen Kalkül jedes einzelnen Mitglieds zusammengehalten wird, sondern auf einer ursprünglicheren Verbindlichkeit der Menschen gegeneinander beruht: Gleichwohl gibt es noch ein anderes Mittel, das einzige, an das wirtschaftliche Erwägungen nicht denken lassen und welches eher Frau von Wolmar eigen ist; es besteht darin, daß sie sich dieser guten Leute Zuneigung erwirbt, indem sie ihnen die ihrige schenkt Sie glaubt nicht, daß die Mühe, die man sich für sie gibt, mit Geld allein bezahlt sei, sondern daß sie jedermann Dienste schuldig sei, der ihr solche erwiesen hat Taglöhner und Bedienstete, alle, die ihr gedient haben, und wäre es auch bloß für einen einzigen Tag gewesen, werden sämtlich zu ihren Kindern; sie nimmt an ihren Freuden, ihrem Kummer, ihrem Schicksal teil, sie fragt nach ihren Umständen, ihre Wunsche sind die ihrigen [.. ,].287
Da dieses Verhältnis unter den Mitgliedern des >ganzen Hauses< jedoch nicht mehr dem zeitgenössisch üblichen entspricht, beruht es wesentlich auf der pädagogischen Qualifikation des Hausvorstandes und ist das Produkt einer sorgfältigen, von festen Prinzipien geleiteten Erziehung der Bedienten: Man achtet aber schon frühzeitig darauf) sie so zu erziehen, als man sie haben will. Man hat hier nicht den Grundsatz, den ich zu Paris und London habe gelten sehen, schon fertig ausgebildete Bediente zu wählen, das heißt fertig ausgelernte Spitzbuben, die fortwährend die Stellung wechseln, die in jedem Haus, in dem sie für kurze Zeit dienen, zugleich der Herren und der Bedienten Fehler annehmen und sich ein Gewerbe daraus machen, jedermann zu bedienen, ohne jemals jemandem aus Zuneigung ergeben zu sein. Unter solchen Leuten kann weder Ehrlichkeit noch Treue noch Eifer herrschen, und in allen bemittelten Häusern richtet dieser Auswurf des Pöbels die Herrschaft zugrunde und verfuhrt die Kinder. Hier ist die Wahl der Dienstboten eine Sache von großer Wichtigkeit Man betrachtet sie nicht bloß als Mietlinge, von denen man nichts als pünktliche Dienste erwartet, sondern als Mitglieder der Familie, deren schlechte Wahl schädliche Folgen für dieselbe haben kann.288
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Schiller); Sebastian Neumeister: Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland, S. 163-180; Wilhelm Schmidt-Biggemarm: Die Freiheit, der Wille, das Absolute. Fichte als Aus-denker Rousseaus. In: Ebd., S. 197-219; Borislaw Baczko: Rousseau, S. 97f. (zu Schiller) sowie Renate Berief: Selbstentfremdung als Problem bei Rousseau und Schiller. Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Hololse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Mit 12 Kupferstichen. Vollständig überarbeitet und ergänzt nach der Edition Rey, Amsterdam 1761, sowie mit einer Zeittafel von Dietrich Leube. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhard Wolff. München 1988. S. 464. Ebd., S. 465. In dieser Beziehung läßt sich auch in spätaufklärerischen Schriften gelegentlich eine gewisse Sehnsucht nach traditionellen Lebensformen finden: So klagte etwa Adolph von
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Wahl und Erziehimg der Bedienten schließlich erfolgen nach unterschiedlichen Kriterien: Die Auswahl beschränkt sich im wesentlichen auf die unmittelbare ländliche Umgebung, um die dort noch intakten Familienstrukturen auf den eigenen Haushalt übertragen zu können, so daß sie »gleichsam nur ihre Eltern getauscht und dafür wohlhabendere bekommen«289 haben. Dennoch ist die erwünschte natürliche Sittlichkeit auch auf dem Land offenbar nicht mehr hinreichend verwurzelt, so daß zusätzliche pädagogische Maßnahmen nötig sind, um die Bedienten eng genug an das als Gemeinschaft konzipierte Hauswesen zu binden. In der Einrichtung des pädagogischen Konzepts - das im Unterschied zur oben erwähnten natürlichen Zuneigung dem Mann als dem den öffentlichen Geschäften zugewandten Teil der häuslichen Herrschaft zugewiesen wird290 trägt man dagegen der neuen, durch Reflexion auf den eigenen Nutzen bestimmten Handlungsorientierung Rechnung. Eine über das ökonomische Interesse hinausgehende Verbindung des Hauswesens soll mit Hilfe eines genau kalkulierten Systems der Entlohnung, d. h. auf dem Weg über das individuelle wirtschaftliche Interesse, erreicht werden: Wenn ein Bedienter bei ihnen auftritt, empfängt er seinen gewöhnlichen Lohn; dieser Lahn aber steigt jedes Jahr um den zwanzigsten Teil; nach zwanzig Jahren wäre er also mehr als doppelt so hoch, und der Bedienten Unterhalt würde alsdann bald ungefähr im richtigen Verhältnis zu den Mitteln der Herrschaft stehen. Man muß jedoch kein großer Rechenkünstler sein, um einzusehen, daß die Ausgaben für diese Erhöhung des Lohns mehr scheinbar als wirklich sind, daß sie nur wenig doppelten Lohn zu zahlen haben werden und daß, selbst wenn sie ihn allen bezahlten, der Vorteil, zwanzig Jahre lang gut bedient worden zu sein, diese Mehrkosten reichlich vergüten wurde. [...] [D]as ist ein sicheres Mittel, der Bedienten Sorgfalt ohne Unterlaß zu vermehren und sie sich in dem Maße verbundener zu machen, in dem man sich ihnen verbindlich erweist In einer solchen Einrichtung beweist sich nicht nur Klugheit, sondern auch Billigkeit291
Die >Gemeinschaft< des ländlichen Haushaltes soll also bei Rousseau auf dem Fundament strategischer Selbstbezüglichkeit rekonstruiert werden. Die Reflexion auf den eigenen Nutzen bildete jedoch ihrerseits die Grundlage für die Überfuhrung ursprünglicher Gemeinschaften in eine >Gesellschaft S. 112. Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Heloise, S. 466f. Zur Anwendung der Begrifflichkeit Ferdinand Tönnies' auf Rousseaus sozialphilosophische Unterscheidungen vgl. bereits Egon Reiche: Rousseau und das Naturrecht, S. 44ff.; sowie später Jakobus Wössner: Sozialnatur und Sozialstruktur, S. 28. Für Jean Starobinski stellen die >Erziehungstricks< der Herrschaft von Ciarens das Projekt einer künstlich neu erschaffenen Gleichheit grundsätzlich in Frage (vgl. Rousseau, S. 149ff.), was für Rousseau letztlich zur eigenen Entfernung aus der Gesellschaft in die Einsamkeit geführt habe (vgl. ebd., S. 59f.). Die Ermöglichung dieser einsamen Existenz - als Vorwegnahme des abseits der Gesellschaft ste-
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mutieren: Selbst Rousseau bedient sich der Mittel einer aus der >modemen< Einsicht in die Selbstbezogenheit der menschlichen Handlungsorientierung entstehenden >Sozialtechnologiegroßen Gesellschaft konzipiert werden, sondern ausdrücklich alternativ und zudem exklusiv: Der Staat des Control Social ist im Idealfall ein kleiner Stadtstaat, der eines möglichst starken Patriotismus als Existenzbedingung bedarf,293 das Wolmarsche Gut hält seine Idealität aufrecht durch sorgfältige Auswahl der Kandidaten, die in den geselligen Kreis aufgenommen werden. Bereits Max Kommerell identifizierte in der ländlichen Geselligkeit der Nouvelle 5€ »noch viel von dem leis romantischen Hauche der verwöhnten Adelsge-
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henden Künstlers des 19. Jahrhunderts - häh der an Rousseaus Paradoxien offenbar geschulte Leo Strauss gar für die »höchste Rechtfertigung der borgerlichen Gesellschaft« bei Rousseau: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956. S. 30Sf. Zur Künstlichkeit der idealen Gesellschaft von Ciarens vgl. auch Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft, S. 78ff., der diese gar als »Ulusionsmaschinerie« bezeichnet (S. 79). Und dies nicht allein im Erziehungsverhähnis der Herrschaft zu ihrem Gesinde, sondern auch in der Erziehung der Kinder, die sich ebenfalls der natürlichen Eigenliebe als Mittel bedient: Vgl. Ebd., S. 599. Vgl. außerdem die entsprechenden Ausführungen im Emile, in denen dem Zögling »Lebenskunst« vermittelt werden soll, die keineswegs allein auf ein natürlich-unmittelbares Miteinander ausgerichtet ist, sondern den Zustand der Gesellschaft in Rechnung stellt und in das Konzept einer idealen Erziehung zu integrieren versucht: »Um in der Weh zu leben, muß man mit den Menschen umgehen können, man muß die Mittel erkennen, sie in die Hand zu bekommen; man muß die Wirkung und Gegenwirkung des Einzelinteresses in der bürgerlichen Gesellschaft berechnen können und die Ereignisse so genau vorausbestimmen, daß man in seinen Unternehmungen selten fehlgeht oder wenigstens immer die besten Wege zum Erfolg gewählt hat« Emile oder Ober die Erziehung, S. 514. Iring Fetscher stellt auch für die politische Konzeption Rousseaus fest, daß die »Motive, deren sich [...] Rousseau als politischer Erzieher bedient, [...] diejenigen der >Selbstsuchtdialektische Aufhebung< der umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu lesen: Vgl. etwa Bruno Schmid: Sittliche Existenz in »Entfremdung«, S. 317. Vgl. dz. Robert Spaemann: Von der Polis zur Natur, S. 596; Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, S. 75ff.
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Seilschaft, die sich keineswegs aus urtümlichen Trieben, sondern aus der Sucht nach unverbrauchten Reizen in ländlichen Festen und dünner Arkadik gefiel«296. Angesichts der im vorangegangenen Kapitel vorgenommenen Neubestimmung des sozialen Status höfischer Bukolik ist jedoch auf eine entscheidende Veränderung hinzuweisen, die Rousseau am Geltungsanspruch idealisierter ländlicher Geselligkeit vornimmt: Handelte es sich im Rahmen der höfischen Gesellschaft ebenso wie noch in Salomon Geßners bürgerlichen Adaptation des bukolischen Sozialmodells um eine lediglich temporäre Existenzform, so fällt die Altemativlosigkeit ins Auge, die der ländlich-abgeschiedenen Gemeinschaft für Rousseaus Gesellschaftsideal zukommt: Das Ideal ländlich-entdifferenzierter Sozialbeziehungen gilt ihm nicht länger als arkadisch-festliche Sonntagsexistenz, sondern als einzige den Menschen zur Sittlichkeit zurückführende Seinsweise. Zwar handelt es sich also bei der möglichen Perspektive, die Rousseau angesichts des unaufhaltbaren Verfallsprozesses aufrecht erhält, um ein Modell zur Vermittlung von selbstbezüglichen und geselligen Neigungen des Menschen. Aber anders als in den aus dem frühaufklärerischen Naturrecht hervorgehenden Modellen wird dem wohlverstandenen Eigeninteresse hier kein Vertrauen entgegengebracht. Statt dessen unternimmt Rousseau den Versuch, sich nicht nur unter den Bedingungen, sondern auch mit den Mitteln einer sich differenzierenden Gesellschaft den idealisierten Verhältnissen symmetrischer Kommunikation wieder anzunähern.297 Rousseaus Sozialtheorie nimmt damit eine entscheidende Aufwertung von intimer Interpenetration und der für diese vorauszusetzenden begrenzten Geselligkeit vor. Die Einschränkung ihres Geltungsanspruchs mit den Mitteln von Temporalisierung und Literarisierung, die noch zu den Grundsätzen der aufklärerischen Idyllendichtung gehörte, wird von ihm zurückgewiesen. Statt dessen ist er bemüht, Wege aufzuzeigen, um die ursprüngliche Unmittelbarkeit intimer Interpenetration aus den >entfremdenden< gesellschaftlichen Verhältnissen erneut hervorgehen zu lassen und als Zentrum gesellschaftlicher Kommunikation zu rekonstituieren. Löste sich die Idyllendichtung nach Geßner von dessen offen kontrafaktischer Darstellung,29* so bot die Sozialtheorie Rousseaus ein mögliches Fundament für die poetologische Begründung und Aufwertung idyllischer Gegenwartsbezüge. Zugleich legte Rousseau seinerseits idyllische Texte vor, in denen er die aus seiner Sicht notwendigen Neubestimmungen idyllischer Dichtung umzusetzen versuchte.
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Max Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau. Nach den Haupt=Romanen dargestellt Marburg 1925 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 23). S. 39. Daß Rousseau sein Ideal einer auf substantieller Gleichheit beruhenden Geselligkeit nicht im Sinne einer komplementären Konzeption, sondern in dem einer Überwindung der auf Differenz gründenden Gesellschaft formuliert, macht Wilhelm Schmidt-Biggemann anhand des Contrat Social unter nachdrücklichem Hinweis auf die politischen Folgekosten deutlich: Vgl. Die Freiheit, der Wille, das Absolute, S. 218f. Eine strukturelle Analogie der Gemeinschaft von Clarens mit der des Gesellschaftsvertrages findet Jean Starobinski in der jeweils gewahrleisteten Sicherheit, daß »kein Sonderwille sich vom Gemeinwillen isolieren kann«: Rousseau, S. 129. S. dz. u., Kap. 4.
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Daß Rousseau sich mit dem von Geßner gestalteten kontrafaktischen Blick in die Vergangenheit nicht begnügt, läßt sich in seinen späteren Werken verschiedentlich beobachten. Mehrfach ist versucht worden, Teile dieses Werkes unter dem Leitbegriff des Idyllischen zu interpretieren.299 Neben den in Auszügen erstmals als Anhang zu den Bekenntnissen veröffentlichten Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1782) handelt es sich dabei im wesentlichen um zwei zentrale Passagen aus der Nouvelle Haloise, um St. Preux' Schilderung der ursprünglichen Gemeinschaft des Wallis-Tales im ersten sowie seine Beschreibung des vorbildlichen Landgutes der Familie Wolmar im letzten Teil des Briefromans. Abgesehen von einigen frühen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Arbeiten, die eindeutig in der Tradition pastoraler Dichtung stehen und zum Teil von dem Einfluß der Lektüre der Idyllen Geßners zeugen,300 weisen jedoch alle Interpreten auf die charakteristische Umgestaltung der Gattungsvorgaben durch Rousseau hin: Es handelt sich um >Metamorphosen< (Temmer)301 bzw. um >extravagante< Rezeptionen (Mc Donald Vance)302 der Idyllentradition, die schon aus Gründen der Chronologie keinen Einfluß auf die Wiederaufnahme der Gattung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts durch Geßner ausgeübt haben können, wohl aber auf deren Weiterentwicklung gewirkt haben dürften. Stellt die bäuerliche Gemeinschaft des Wallis-Tales in Analogie zur zeitgenössischen Südseedichtung einen Rest archaisch-idealer Vergemeinschaftung dar, der sich durch die relative Abgeschlossenheit der Region in die Zeiten der Zivilisation hinüberretten konnte, so dient die Organisation des Wolmarschen Landgutes dem Versuch der Wiedererlangung eines idealen Gesellschaftszustandes innerhalb der Zivilisation. Die Wiederherstellung einer Harmonie zwischen geselligen und ungeselligen Neigungen verlangt dabei nach einer »happy balance between life in society and total isolation«303. Auch für diesen Versuch bildet Abgeschlossenheit daher eine notwendige Voraussetzung, die sich hier jedoch nicht auf geologische Gegebenheiten verlassen kann. Sie muß vielmehr künstlich hergestellt werden, indem die väterlichen und mütterlichen Leiter des Gemeinwesens eine strenge Auswahl der zur Gemeinschaft Zugelassenen treffen und diese überdies in den Genuß einer ausgefeilten Pädagogik kommen lassen.304 299
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Vgl. u. a. Berthold Buik: Elemente idyllischen Leben; Mark J. Temmer: Rousseau's Idylle des Cerises - A Metamorphosis of the Pastoral Ideal. In: Ders.: Art and Influence of Jean-Jacques Rousseau: The Pastoral, Goethe, Gottfried Keller, and other Essays. Chapel Hill 1973 (University of California. Studies in comparative Literature 56). S. 17—40; Christie Mc Donald Vance: The Extravagant shepherd. A study of the pastoral vision in Rousseau's Nouvelle Helolse. Banbury, Oxfordshire 1973 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century CV); Horst Brunner: Kinderbuch und Idylle. Rousseau und die Rezeption des Robinson Crusoe im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2 (1967). S. 85-116. Vgl. Christie Me Donald Vance: The Extravagant shepherd, S. 16ff. »Rousseau was the first european writer to have succeeded in modernizing the pastoral idyll«: Mark J. Temmer: Rousseau's Idylle des Cerises, S. 18. »As he turns away from the formal genre he embraces it as a more general vision of man and society«: Christie Mc Donald Vance: The Extravagant shepherd, S. 34. Ebd., S. 139. Auch Burk verweist auf die Künstlichkeit der Rousseauschen Idylle, wenn er feststellt: »Die Idylle entsteht [...] durch regulierendes Eingreifen in den Gesellschaftsprozeß, wodurch dessen gröbste Auswirkungen [...] verhindert werden« (Elemente idyllischen Lebens, S. 79). Wie er
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Kriterien und Wirkung dieser Auswahl wurden bereits beschrieben. Zur Begründung des im Vergleich zu Geßner veränderten Status, den Rousseau der idealen idyllischen Gemeinschaft zuweist, ist zudem der veränderte Zeitbezug als wesentliches Merkmal von Rousseaus Umgang mit der Idyllentradition hervorzuheben, auf den MC Donald Vance hinweist: [...] Ciarens [...] is a society whose locus, both geographical and moral, is pastoral. [...] In the description of Clarens, the pastoral elaborates the integration of man in society through a bucolic setting, but in so doing it looses its specifically pastoral character and tends toward pure Utopia,30*
Einem strengen Utopiebegriff vermag das von Rousseau gezeichnete vorbildliche Sozialmodell angesichts seiner Abgeschiedenheit von der umgebenden Gesellschaft gewiß nach wie vor nicht zu entsprechen.306 Gleichwohl stellt der hervorgehobene Zukunftsbezug einen entscheidenden Schritt über die Gattungskonventionen idyllischer Dichtung hinaus dar: Liegt auch in der Mythologie des Goldenen Zeitalters ein gewisser Zukunftsbezug, indem sie seit Vergil mit der Idee einer Rückkehr zum unschuldig-idealen Ursprungszustand verbunden wird,307 so ist dies doch im wesentlichen ein transzendenter Bezug, der zudem in Geßners Wiederaufnahme der idyllischen Tradition nicht mehr ernsthaft vertreten und zugunsten eines komplementären Konzepts der idyllischen Gemeinschaft innerhalb der >Welt der Geschäfte< suspendiert wurde. Rousseau schildert das modellhafte Landgut dagegen als diesseitige Möglichkeit der Wiederannäherung an die ursprünglich-ideale Gemeinschaft und geht damit über den Rahmen der idyllischen Gattung in ihrer bisherigen Gestalt hinaus. Gleichwohl bleiben auch in der utopischen Umdeutung wesentliche Gatrungsmerkmale der Idylle erhalten, die es dennoch nicht abwegig erscheinen lassen, den Text weiterhin in dieser Tradition zu verorten. Zu diesen zählt MC Donald Vance im Anschluß an Fontenelle »tranquillity« und »idealization of nature«,308 zwei Merkmale, die jedoch durch eine dritte Beobachtung der Verfasserin ergänzt werden sollten, die den Text Rousseaus an das für den vorliegenden Un-
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auf dieser Grundlage jedoch zu der These gelangt, »daß tendenziell kaum ein Unterschied zwischen Geßner und Rousseau besteht, was die favorisierte Lebensweise anbelangt« (ebd., S. 82), bleibt unklar. Christie Me Donald Vance: The Extravagant shepherd, S. 133. (Hervorhebung im Original.) Neben diesem utopischen Zug (den Starobinski zum Anlaß nimmt, die Einordnung als »Idylle« insgesamt abzulehnen: Vgl. Rousseau, S. 139) sei als ebenfalls bedeutsame Neuerung beispielsweise für die Idyllen Jean Pauls zudem auf Rousseaus Verlegung des Goldenen Zeitalters in das Innere des Subjekts hingewiesen - »we should find an image of the golden age within ourselves« -, die von Me Donald Vance als »compensation through imaginative creation« bezeichnet wird: The Extravagant shepherd, S. 22, 27. Vgl. dz. auch Rousseaus Briefen Malesherbes von 1762; zit bei Ernst Cassirer: Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 482. Auf die Unangemessenheit eines auf den Bereich des Politischen reduzierten Utopiebegrifis für die Rousseau-Interpretation wies nachdrücklich Bernhard Lypp hin: Rousseaus Utopien. In: Utopieforschung, Band 3, S. 113-124, insbes. S. 114. Zu Rousseaus Rezeption der Idee vom Goldenen Zeitalter vgl. Reimar Müller: Anthropologie und Geschichte, S. 159ff. Christie McDonald Vance: The Extravagant shepherd, S. 32.
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tersuchungszusammenhang entscheidende Idyllenmerkmal und damit zugleich an die vorhergegangenen Ausführungen zum Zweiten Diskurs zurückbindet: Thus the morality of Paris opposes not only primitive nature but the conventional morality of small societies; in Paris order has broken down and corruption reigns. Through his differentation of small (innocent) societies from large (corrupt) societies, Rousseau attempts to show that the virtues of the social world (and hs compensations) can flourish only in small societies, while in the large city there are no compensations as there are no virtues.309
Die poetologische Bedeutung der von Rousseau favorisierten kleinen Gesellschaften für eine Theorie idyllischer Dichtung nach Geßner hat Moses Mendelssohn in kritischer Auseinandersetzung mit den gattungstheoretischen Bestimmungsversuchen Schlegels bereits 1760 hervorgehoben. Bevor er sich im 85. und 86. Brief, die neueste Litteratur betreffend mit der Idyllentheorie befaßte, hatte Mendelssohn 1756 eine Übersetzung von Rousseaus Zweitem Diskurs angefertigt und in dem angefügten Sendschreiben an den Herrn Magister Leßing Rousseaus Neuansatz in der Sozialtheorie einer ausgiebigen Kritik unterzogen.310 Rousseaus Rückblick auf die ursprünglichen Formen menschlicher Sozialitat übersetzt Mendelssohn mit den Worten: Aus diesem neuen Zustande, den [!] Mann und Frau, Vater und Kinder, in eine gemeinschaftliche Wohnung versammelte, entsprungen die ersten Entwickelungen des menschlichen Gemüths. Die Gewohnheit, welche sie erlangten mit einander zu leben, erzeugten [!] die allerangenehmsten Empfindungen, die die Menschen je gekannt haben, die eheliche und vaterliche Liebe. Aus einem jeden Geschlechte war eine kleine Gesellschaft [geworden, CB], die nicht anders als in Einigkeit leben konnte, weil sie blos durch das Band der Freyheit und der gegenseitigen Zuneigung verknüpft gewesen ist311
Im 86. Brief, die neueste Litteratur betreffend heißt es dann zur Idyllendichtung: Der allgemeinste Gegenstand der Landgedichte sowohl als der Idylle sind also die kleinem menschlichen Gesellschaften, ungefähr so, wie sie der Weltweise in der öconomik moralisch betrachtet! [/] [...] [/] Was ist nunmehr die Idylle? Nichts anders, dünkt mich, als der »sinnlichste Ausdruck der höchst verschönerten Leidenschaften und Empfindungen solcher Menschen, die in kleinern Gesellschaften zusammen leben«.312
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Ebd., S. 104. (Hervorhebungen CB.) Zur Bedeutung des »Leben[s] im kleinen Kreis« für die Konzeption der Nouvelle Halolse vgl. auch Bruno Schmid: Sittliche Existenz in »Entfremdung«, S. 312; sowie Jean Starobinski: Rousseau, S. 153f. Allgemeiner zu Rousseaus »Ideal der Übersichtlichkeit der Beziehungen zwischen den Menschen« und dessen strukturellen Konsequenzen für die gesellige Gruppenexistenz (Einfachheit und Unmittelbarkeit durch Abgeschlossenheit und Exklusivität) vgl. Borislaw Baczko: Rousseau, S. 45ff. Den elitären (»superior individuals«) und zugleich provinziellen Zug von Rousseaus Geselligkeitsideal betont auch Arthur M. Melzer: The Natural Goodness of Man, S. 22f. Vgl. Johann Jacob Rousseau Bürgers zu Genf Abhandlung von dem Ursprünge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe: ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den Herrn Magister Leßing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret Berlin 1756. In: MGS, VI/2, S. 62-202. Ebd., S. 129. MGS, IV/2, S. 22f.
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Helmut J. Schneider vermutet Aristoteles hinter der Figur des ungenannten Weltweisen.313 Nicht nur aus Gründen chronologischer und terminologischer Parallelen liegt jedoch ein Bezug auf die Sozialtheorie Rousseaus näher: Es gehört nicht allein zu den Kennzeichen von Rousseaus Sozialphilosophie, politisch-ökonomische Zusammenhänge mit moralischen Kategorien zu bearbeiten. In der Diskussion der Frage nach der angemessenen »Scene« für die Darstellung der »kleinern Gesellschaften« macht Mendelssohn zudem darauf aufmerksam, daß diese an einen beliebigen Ort zu verlegen sei. Einzige Voraussetzung sei, daß es sich um einen Ort handle, »wo sich Menschen aufhalten, die von dem Joche der willkührlichen Ungleichheit befreit sind.«314 Damit macht Mendelssohn nicht allein auf die Quelle seines Begriffs der >kleinen Gesellschaftern313 im Zweiten Diskurs Rousseaus aufmerksam, sondern hebt zugleich das zentrale Strukturmoment dieser Gesellschaften hervor: Die Idylle bemüht sich um die Darstellung vordifferenzierter, natürlicher Gemeinschaften, um die Orte >symmetrischer Kommunikation. Die geforderte Gleichheit dürfte dabei wie bei Rousseau ebenso im hierarchischen wie auch im funktionalen Sinne gemeint sein.316 Ob nun im Rahmen der traditionell stratifikatorisch oder in dem der modern funktional differenzierten Gesellschaft kümmert sich die Idyllendichtung um die Enklaven natürlicher Geselligkeit. Diese Enklaven ließen sich sowohl in der alten höfischen wie auch in der neuen bürgerlichen Gesellschaft finden. Im Zuge des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses wurde ihr sozialer Ort jedoch von der schönen Geselligkeit einer idealisierten, handlungsentlasteten Hofgesellschaft in die familiäre Hausgemeinschaft sowie in strukturell verwandte Räume begrenzter Geselligkeit verlegt.317 Vorbild für die Literarisierung dieser >kleinen 313 314
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Vgl. Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, S. 153, Anm. 12. MGS, TV/2, S. 25f. Zum Begriff der >kleinen Societätem im profanen Naturrecht vgl. auch Klaus Garben Gefährdete Tradition, S. 31. Allerdings blieben die Prozesse sozialer Differenzierung nicht ohne Folgen für die Bedeutung, die dieser Kategorie klassischer Sozialphilosophie zuzusprechen war: So verweist Mendelssohns Anweisung zu ihrer Literarisierung ebenso wie die noch anzusprechende Cicero-Kritik Christian Garves (s. u., S. 185f.) darauf; daß den >kleinen Gesellschaftern im Rahmen einer auf fortschrittsfördernde Differenzierung ausgerichteten Sozialtheorie keine Vorbildfunktion für die gesamtgesellschaftlichen Strukturen beizumessen war. Im Gegenteil konnten sie nunmehr aufgrund ihrer spezifischen strukturellen Unterschiede gegenüber der >großen Gesellschaft jenen Status temporarer Enklaven erhalten, wie er ihnen etwa in den Idyllen Salomon Geßners zugesprochen wurde. Zum Zusammenhang von Sozietatsbewegung und frühneuzeitlicher Bukolik vgl. Ders.: Sozietat und Geistesadel: Von Dante zum JakobinerClub. Der frühneuzeitliche Diskurs de vera nobilitate und seine institutionelle Ausformung in der gelehrten Akademie. In: Europäische Sozietatsbewegung und demokratische Tradition, Bd. I (Frühe Neuzeit 26), S. 1-32, insbes. S. 18ff.; zur Literarisierung der >kleinen Gesellschaftern im 18. Jahrhundert S. 30ff. Gegen die Annahme eines utopischen Hintergrundes spricht jedoch Mendelssohns ausdrückliche Zurückweisung eines gesamtgesellschaftlichen Anspruches an kleingesellschaftliche Strukturen, die im folgenden anhand seiner Rousseau-Kritik herauszuarbeiten sein wird. Zur Parallelerscheinung von Hierarchisierung und - im Modus der Arbeitsteilung erfaßter funktionaler Differenzierung vgl. MGS, VI/2, S. 132£, 135f. Vgl. dz. außerdem Reimar Müller: Anthropologie und Geschichte, S. 180ff., 193ff. Zur Familie als einer zentralen Form >kleiner Gesellschaftern im 18. Jahrhundert vgl. u. a. Günter Säße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und RealhAtsbe-
182 Gesellschaftern blieb jedoch weiterhin ein archaischer Zustand des Menschen, den Rousseau als Mittelzustand zwischen der vorsozialen Wildheit und der folgenden, bereits angesprochenen kulturellen Degeneration des Menschen verstand. Dieses »jugendliche Weltalter«318, von dem Rousseau kurz nach seiner Auszeichnung ursprünglicher >kleiner Gesellschaftern spricht, stellt für ihn die eigentliche Bestimmung des Menschen dar, denn: Die Wilden, die man meistens in diesem Punkte angetroffen, scheinen durch ihr Beispiel zu bestätigen, daß der Mensch bestimmt war, in diesem Zustande zu verbleiben, [...] und daß ein jeder Tritt, den man weiter that, allem Anscheine nach, der Vollkommenheit eines einzeln [!] fortgeholfen hat, aber ein Schritt näher zur Verderbniß seines Geschlechts gewesen.319 Die emphatische Auszeichnung dieses vergangenen, aufgrund seiner Kleinräumigkeit noch von den ursprünglichen moralischen Neigungen geprägten Zustands320 durch Rousseau markiert jedoch zugleich den Punkt, an dem sich die dem aufklärerischen Fortschrittsgedanken verpflichtete Position Mendelssohns von dessen Kulturkritik abwenden mußte. Der bereits angesprochene Vorwurf, Rousseau messe den erwachsenen Menschen mit den Kategorien, die allein für die Betrachtung eines Kindes angemessen seien,321 führt insofern in das Zentrum der Auseinandersetzung:322 Wenn die Gelehrten zu allen Zeiten es für nöthig erkannt haben, den Menschen in seinem natürlichen Zustande zu betrachten, um ein Recht der Natur auf sichere Grunde bauen zu können; so müssen sie es ganz anders genommen [...] haben. [...] Sie werden den Menschen genommen haben, wie er iezt ist, mit allen Kräften, mit welchen er sich ausgerüstet, und auf der Stufe der Vollkommenheit, auf die er sich nach langer Zeh erhoben hat Hätten sie ihm seine Fähigkeiten geraubet; so würden sie ihn zu dem Viehe herunter gesetzt haben, und das Recht der Natur, das auf solche Gründe gebauet wäre, würde sich eher für Thiere, als für ihre Beherrscher, die Menschen schicken.323
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zogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen 1988 (Studien zur Deutschen Literatur 95). MGS, W2, S. 132. Ebd. Vgl. dz. Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, S. 42. S. o., Anm. 282. Vgl. zum Folgenden auch Alexander Altmann: Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand. In: Ich handle mit Vernunft... Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung. Hg. von Norbert Hinske mit Beiträgen von Alexander Altmann u. a, Hamburg 1981. S. 45-84, insbes. S. 7 Iff. Zu den naturrechtlichen Grundsätzen Mendelssohns vgl. außerdem Oswald Bayer: Der Mensch als Pflichtträger der Natur. Naturrecht und Gesellschaftsvertrag in der Kontroverse zwischen Hamann und Mendelssohn. In: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit Hg. von Michael Albrecht u. a. Tübingen 1994 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 19). S. 175-189. MGS, , S. 92. Diesem Befund schließt sich selbst Johann Adolf Schlegel in der dritten Auflage seiner Abhandlung Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohns Idyllendefinition an, wenn er feststellt: »Diejenige Natur nämlich, die von Erziehung, politischen Grundsätzen, bürgerlichen Gewerben, üblichen Gebräuchen, den Regeln eines willkührlichen Wohlstandes, oder den menschlichen Thorheiten und Lastern in eine andere Form umgegossen worden, kann hier in gar keine Betrachtung kommen. Natürliche Handlungen sind vielmehr die, worinnen die unverfälschte Natur, die sich selber überlassen ist, sich sonderlich ausnimmt; Handlungen, die der Menschheit nach der Lage, darinnen sie sich eben itzt befindet, vorzüglich gemäß sind.« (S. 386f. - Diese Argumentation,
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Mendelssohn betont zudem, daß die Fortentwicklung des menschlichen Geschlechts nicht lediglich zu konstatieren, sondern zu begrüßen sei und überdies in dessen natürlicher »Lust an Vollkommenheit«324 wurzele. Allerdings stelle der Fortschritt des Menschen in der Vervollkommnung seiner natürlichen Fähigkeiten einen Prozeß dar, in dessen Verlauf beständig neue Schranken dieser Fähigkeiten zum Vorschein kommen, die als menschliche Schwächen erscheinen und von Rousseau irrtümlich und einseitig der vermeintlichen moralischen Vollkommenheit des Naturzustandes gegenübergestellt wurden: In dem gesitteten Leben entwickeln sich bey uns neue Kräfte und erlangen ihre Wirklichkeit, da sie in dem Stande der Wildheit nicht mehr, als möglich, gewesen sind [...] Daher müssen nothwendig neue Mängel, neue Schwachheiten entstehen, wenn wir unsem Zustand verbessern, wenn wir gesitteter werden. Soll uns dieses aber bewegen, die Verbesserung selbst zu unterlassen? Keineswegs!323
Selbst Rousseau habe in seiner »misanthropische[n] Beredsamkeit«326 die naturgegebene Anlage des Menschen zur Selbstvervollkommnung nicht leugnen können und in seinem Begriff der perfectibilita untergebracht: »O! was für siegreiche Waffen hat er durch dieses Eingeständnis seinen Gegnern in die Hände gegeben!«327 Denn - wie Mendelssohn im folgenden ausführt - die Annahme einer solchen Anlage könne nicht auf die »thierischen Fähigkeiten« des Menschen beschränkt bleiben, sondern müsse auf »die Seele, diesen herrlichsten Theil des Menschen«,328 ausgedehnt werden. In der Nachschrift zieht Mendelssohn den Schluß aus dieser Forderung einer allseitigen Vervollkommnung des Menschen, indem er deutlich macht, daß sich Rousseaus Verachtung der menschlichen Vernunft mit dem zugrundeliegenden natürlichen Gebot nicht vertragen könne, denn: Der Mensch, der der edelsten Gabe des Himmels, der dem Gebrauche seiner Vernunft absagt, erniedriget seine eigene Natur, machet sich den Sclaven des blinden Instincts, den Thieren gleich, und beleidiget den Urheber seines Daseyns.329
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die auf Mendelssohns Kritik von 1760 reagiert, wurde der Abhandlung in der dritten Auflage hinzugefügt) Der Widerspruch, in den er mit dieser Feststellung mit dem »Philosophen, welcher uns das Naturrecht lehren will« (s. o., S. 104), gerät, scheint Schlegel gleichwohl nicht klar zu sein, denn an dessen technischer Vorbildlichkeit wird keine Korrektur vorgenommen.
MGS, II, S. 86. Ebd., S. 87. Ebd., S. 102. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89. Ebd., S. 98. Zum Bildungsgedanken in der Anthropologie Mendelssohns, von dem aus Kant seine Geschichtsphilosophie mit ihrem Zentralbegriff der >ungeselligen Geselligkeit< entwickelte, vgl. Norbert Hinske: Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant In: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, S. 135-156. Mendelssohns Kritik des geschichtsphilosophischen Fortschrittskonzepts Kants macht deutlich, daß er noch radikaler als dieser an der Unaufhebbarkeit eines zur Fortentwicklung drängenden Moments in der menschlichen Natur festhielt (vgL ebd., S. 152fE> Damit setzte seine Kritik an der entscheidenden systematischen Schwachstelle des Entwurfes an und widerspricht dem idealistischen Versöhnungsgedanken Schillers noch deutlicher als die Position Kants (s. dz. u., S. 307ff.). Zu den geschichtsphilosophischen Grundsätzen Mendels-
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Der idealisierte Zustand der >kleinern Gesellschaftern, wie ihn die Idyllendichtung nach Mendelssohn zum Gegenstand hat,330 kann in seinem Verständnis daher nicht den gleichen Status beanspruchen, der ihm von Rousseau zugebilligt wird. Die vorreflexive Unmittelbarkeit des Naturzustandes ist in die vernünftige Einsicht in die sozialen Zusammenhänge zu überfuhren, zu denen auch die Erkenntnis der wechselseitigen Bedingtheit von Eigennutz und Gemeinwohl gehört.311 Mendelssohns Rousseaukritik weist ihn selbst als Vertreter eines differenzierten Standpunktes bezüglich der menschlichen Geselligkeit aus. Daß es sich hierbei auch am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch um einen gängigen Standpunkt aufklärerischer Sozialtheorie handelte, verdeutlicht ein abschließender Seitenblick auf einen weiteren Zeitgenossen. Christian Garve wird im folgenden Kapitel ein wenig ausführlicher zur Sprache kommen, weil seine Position von der Konstanz und Stabilität spätaufklärerischer Sozialtheorie zeugt und zugleich geeignet ist, deren traditionelle Wurzeln freizulegen. Bereits hier läßt sich anhand dieser Position zeigen, daß die Verbindlichkeit des aufklärerischen Sozialmodells auch zu einer einheitlichen Haltung gegenüber Rousseau führte. Einige Jahre nach Mendelssohn begründete Garve im posthum veröffentlichten zweiten Teil seines Essays U eher Gesellschaft und Einsamkeit (1800) Rousseaus eigenes gesellschaftliches Scheitern auf der Grundlage der auch von Mendelssohn in Anspruch genommenen gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen. Das kleingesellschaftliche Ideal Rousseaus war wesentlich von dessen Beharren auf einem moralischen Standpunkt geprägt, dessen schwindende Geltung »infolge der Auszeichnung der Talente und der Herabwürdigung der Tugend«332 (mithin infolge der gesellschaftlichen Differenzierung) er bereits in seinem Ersten Diskurs mit Emphase beklagt hatte. Die Verlagerung der gesellschaftlichen Urteilskategorien im Sinne eines mit dem Gemeinwohl vermittelten Eigennutzes, der Rousseau daher ebenso ablehnend begegnen mußte,333 hat dann nach Garve notwendig dazu geführt, daß er sein Leben in misanthropischer Einsamkeit beenden mußte: Aber eine weniger bemerkte Ursache des gleichen Erfolges ist, wenn Männer von allen, mit welchen sie umgehen, nicht bloß geschätzt, sondern innig geliebt zu werden begehren. Kein größeres Beyspiel von dem Menschenhasse und der Einsamkeit, welche durch jene Gesinnungen hervorgebracht werden, hat je ein Mensch gegeben, als Rousseau. [/] [...] Als ein Mann von ebenso überspannter Empfindung, als seine Ideen zuweilen ausschweifend waren, wollte er nicht bloß von allen, mit denen er umgieng, bewundert seyn [...], [...] sondern er wollte auch
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sohns vgl außerdem Christoph Bohr: Johann Jakob Engel und die Geschichtsphilosophie Moses Mendelssohns. In: Ebd., S. 157-174. Zur Abgrenzung der Idylle von verwandten Gattungen (u. a. dem Landgedicht), die sich ebenfalls der Darstellung >kleiner Gesellschaftern widmen, vgl. Mendelssohns 86. Brief, die neueste Litteratur betreffend: MGS, IV/2, S. 22f. Vgl. dz. Alexander Altmann: Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand, S. 83. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung [...] über die [...] Frage: Ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat, S. 47. S. dz. o., S. 170f.
185 von allen innig geliebt werden; und diese Forderung ist noch weit größer und weit unmöglicher zu erfüllen.314
Dieses Urteil über Rousseau findet sich bereits 1787 im zweiten Teil von Garves Philosophischen Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero 's Büchern von den Pflichten, deren Übersetzung er selbst wenige Jahre zuvor (1783) abgeschlossen hatte.3" Die Unterscheidung zwischen Recht und Moral als eine zwischen verschiedenen Formen menschlicher Geselligkeit stellt Garve an anderer Stelle seiner Anmerkungen auch gegen Cicero selbst als Differenzierungserfolg neuerer sozialphilosophischer Reflexion heraus: Die neuere Philosophie, sondert die Pflichten der Gerechtigkeit, von den Pflichten der Wohlthätigkert ab. Der Inbegriff von jenen, macht ihr Recht der Natur, die Sammlung von diesen, macht die eigentliche Moral aus. Die ahe Philosophie vermischt beyde, und handelt von ihnen in derselben Wissenschaft334
Die mangelnde Zuverlässigkeit eines moralischen Gefühls, die Garve wenig später ausführhch begründet,337 ist vor diesem Hintergrund als Rechtfertigung zu verstehen für die gleich zu Beginn vorgenommene Modifikation der Geselligkeitsbegründung Ciceros: Die Menschen brauchen Antriebe, um die Gesellschaft zu suchen, und ein Werkzeug, um sie zu errichten oder unterhalten zu können. Jene sind die Bedürfhisse des Lebens: dieses ist die Sprache. [...] Im Orginal scheint Cicero den Umgang, und das Gespräch, als einen der ersten Beweggründe zur Errichtung der Gesellschaft anzugeben. Nach der Erfahrung aber scheint dasselbe eine Folge der schon errichteten Gesellschaft zu seyn. Die Menschen redeten anfangs nur um ihrer Geschäfte willen. Das Vergnügen an Mittheilung der Gedancken, konnten sie erst alsdann empfinden, da sie Muße, und einen hinlänglichen Vorrath von Begriffen gesammlet hatten.338
Verfügt der Mensch also auch über einen doppelten Antrieb zur Geselligkeit,339 so beharrt Garve - gemäß den Festlegungen des neueren Naturrechts - darauf, daß im engeren Sinne gesellschaftsbegründend allein das Interesse jedes einzelnen an der Befriedigung seiner natürlichen Bedürfhisse wirken könne. Nur das 334
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Christian Garve: Ueber Gesellschaft und Einsamkeit. Zweyter Band. Breslau 1800. In: GGW, /1, S. 308ff. Zur systematischen Unterscheidung politischer und moralischer Urteilskategorien bei Garve vgl. Michael Stolleis: Die Moral in der Politik bei Christian Garve. Diss. München 1967; sowie allgemeiner Ders.: Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des spaten 18. Jahrhunderts. Meisenheim am Glan 1972 (Monographien zur philosophischen Forschung 86). Vgl. GGW, /10, Tl. II, S. 108. Zu den Umstanden des Zustandekommens dieser im Auftrag Friedrichs des Großen erfolgten Übersetzung vgl. Karl Eduard Bonelli: Friedrichs des Großen Verhältnis zu Garve und dessen Uebersetzung der Schrift Ciceros von den Pflichten. In: Programm, womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums [...] die Beschützer, Gönner und Freunde des Schulwesens und des Gymnasiums ergebenst einladet Karl Eduard Bonelli, Director und Professor. Berlin 1855. S. 1-21. Vgl. außerdem Kurt Wölfel: Vorrede. Zu Garves Übersetzungen. In: GGW, Iiy9, S. I-XLK, insbes. S. XXXVI-XLV. GGW, /10, Tl. l, S. 89. Vgl. ebd., Tl. l, S. 105ff. Ebd., Tl. l, S. 45. (Hevorhebungen im Original.) Vgl. auch ebd., Tl. 2, S. 88.
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auf diese Bedürfhisse bezogene wohlverstandene Eigeninteresse ist in der Lage, für einen verläßlichen, hinreichend stabilen rechtlichen Handlungsrahmen für den geschäftlichem Umgang zu sorgen. Diesen vorausgesetzt, mögen sympathetische Triebe sodann auch kleinere, auf unmittelbaren Genuß des menschlichen Miteinanders gerichtete gesellige Formationen hervorbringen. Doch diese - bei Garve in bezeichnender Weise sowohl ästhetisch als auch moralisch qualifizierten340 - Formen von Geselligkeit werden der normativen Relevanz einer Gesellschaft ausdrucklich nachgeordnet, die auf wechselseitiger Beförderung des eigenen Nutzens beruht. Angesichts dieser für das aufklärerische Naturrecht zentralen Unterscheidung sowie der bei Garve zum Ausdruck kommenden mangelnden Trennschärfe zwischen ästhetischen und moralischen Kategorien wird die Verpflichtung idyllischer Dichtung auf die Darstellung eines idealisierten Lebens in >kleinen Gesellschaftern verständlich. Die Strukturmerkmale der >kleinen Gesellschaftern Rousseaus ebenso wie die zentrale Bedeutung, die in ihnen dem moralischen Standpunkt für die Regelung des sozialen Umgangs zukommt, dürften Mendelssohn dazu veranlaßt haben, den Begriff zur Kennzeichnung der wesentlichen Merkmale der neueren Idyllendichtung zu übernehmen. Wenn die Schäfer Geßners auch bereits Züge einer Selbstreflexion aufweisen, mit der sie die ursprünglich-naive Unmittelbarkeit der Sozialbeziehungen hinter sich lassen, so orientiert sich ihr idyllischer Zustand doch noch an den von Rousseau den >kleinen Gesellschaftern zugesprochenen Eigenschaften. Das selbstreflexive Moment ihres Bewußtseins ebenso des eigenen Glückszustands wie der für diesen verantwortlichen natürlichen Tugend ermöglichte es Geßner, die Erreichbarkeit idyllischen Glücks auch unter den Bedingungen einer auf Selbstreferentialität beruhenden Gesellschaft zu behaupten. Es stellt somit ein besonderes Merkmal seines idyllischen Komplementärkonzeptes dar, ohne dadurch den übergreifenden sozialen Definitionsansatz Mendelssohns in Frage zu stellen. Ablesen läßt sich diese entscheidende Differenz zwischen den Konzeptionen Rousseaus und Geßners an deren unterschiedlicher Einschätzung der fortschrittsfördemden Konkurrenz: Bezüglich der Geßnerschen Idyllenwelt ließ sich zeigen, daß ihre selbstgenügsame Geschlossenheit kontrastiert wird durch die Aufnahme und Integration von Momenten strategischer Selbstbezüglichkeit.341 Diese widersprechen dem idyllischen Zustand mit seiner ausschließlichen Betonung unmittelbarer Sympathie zwischen den Menschen und bilden die Voraussetzung für den Prozeß der Vervollkommnung der menschlichen Künste, der aus der Statik der idyllischen Lebensweise herausfuhrt. Erfuhr der Prozeß bei Geßner auch keine nähere Beschreibung, so war er gleichwohl mit dem Status des Idyllischen, den Geßner mit seinen Texten verband, offenbar problemlos zu vermitteln. 340
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Die Verschränkung ästhetischer und moralphilosophischer Kategorien bei Garve verfolgt Doris Bachmann-Medick ausführlich anhand des Begriffe des Interessierenden: Vgl. Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989. Insbes. S. 164-241. S. o., S. 158ff.
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Ganz anders Rousseau: Auch er konstatiert die aufkommende Konkurrenz als Motor des beginnenden gesellschaftlichen Fortschritts. Im Gegensatz zu Geßner verweist er in diesem Zusammenhang jedoch ausdrücklich darauf, daß dies zugleich den Anfang vom Ende des idealisierten Zustande der >kleinen Gesellschaftern bedeute: Singen und Tantzen, die ächten Kinder der Liebe und Muße werden ein Zeitvertreib [...]. Ein jeder bemerkte allen andere [!], und hatte Lust wiederum von ihnen bemerkt zu werden. Die öffentliche Hochachtung erlangte einen Werth. Der am besten singen, der am besten tantzen konnte, der Schönste, der Stärkste, der Geschickteste, oder der Beredsamste war am meisten bemerket Dieses war der erste Schritt zum Laster. Der erste Vorrang, den man einigen einräumete, erzeugte hier Stoltz und Verachtung, dort Scham und Neid, und aus dem Gähren dieses ungewohnten Sauerteigs entstunden schädliche Vermischungen für die Glückseligkeit der Menschen und für ihre Unschuld.342
Was Rousseau als Quelle des Lasters und daher als erste Ursache der gesellschaftlichen Depravation identifizierte, störte in der Version Geßners in keiner Weise die Dignität des von ihm gezeichneten idyllischen Charakters. Daher boten die Idyllen Geßners Mendelssohn die Möglichkeit, Rousseaus Ideal der >kleinen Gesellschaftern als wünschenswert herauszustellen, ohne zugleich auch dessen kompromiß- und alternativloser Auszeichnung dieses Idealzustands zustimmen zu müssen. Die Literarisierung des Ideals ermöglichte es dem aufklärerischen Denker, an ihm festzuhalten, ohne dadurch jedoch die wirklichen Kategorien gesellschaftlichen Umgangs in Frage zu stellen. In diesem Sinne legte Mendelssohn mit seiner Einführung des Terminus der >kleinern Gesellschaftern in die Idyllentheorie sowie durch Kritik der Sozialtheorie Rousseaus die gattungstheoretische Explikation des bei Geßner lediglich implizit aufzuweisenden sozialen Komplementärkonzepts der aufklärerischen Idyllendichtung vor.343 Aus grundsätzlichen Erwägungen in Frage gestellt wurde der Bestimmungsversuch Mendelssohns allerdings von Johann Adolf Schlegel, der sich in der dritten Auflage seiner Batteux-Übersetzung ausführlich damit auseinandersetzte: Um aber die Sache noch deutlicher ins Licht zu stellen nehme man einmal Kohlenbrenner, Bergleute[,] einen Trupp Zigeuner, eine Räuberbande. Auch das sind kleine Gesellschaften. Werden sie aber wohl in Idyllen sich aufführen lassen? Man schildre sie nicht nach der Natur, sondern nach einem Ideale, an welchem man keine Kunst gesparet! Man verschönere ihre Empfindungen und Leidenschaften auf den höchsten Grad [...]! Und man sehe, ob nicht alle Mühe, schöne, und zwar wirkliche, Idyllen von ihnen zu liefern, ganz verloren seyn werde.344
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343
344
MGS, VT/2, S. 131. Vgl. dz. auch Reimar Müller: Anthropologie und Geschichte, S. 169ff. Zur Abgrenzung der Naturstandskonzeption Rousseaus von derjenigen idyllischer Dichtung vgl. bereits Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 13 Iff. Dies läßt die Auszeichnung der Idyllendefinition Mendelssohns durch Gerhard Hämmerling berechtigt erscheinen, der dieser eine »überragende Rolle« zubilligt, ohne dies jedoch im Blick auf den Terminus der >kleinern Gesellschaftern zu explizieren: Die Idylle von Geßner bis Voß, S. 19. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 400f.
188 Der Begriff der >kleinern Gesellschaftern stelle daher lediglich einen Nebenbegriff des Standes der Natur dar, der die eigentliche Grundlage der Schäferdichtung sei.345 Auch dieser Standpunkt Schlegels sollte jedoch bald von der weiteren Gattungsentwicklung überholt werden, als diese sich nicht mehr mit der Darstellung kontrafaktisch idealisierter Ländlichkeit begnügte, sondern die Möglichkeit umfassender idyllischer Wirklichkeit in der gesellschaftlichen Gegenwart behauptete.346 Zwar sollten auch jetzt noch keine »Idyllen von Räuberbanden«347 entstehen, aber die kleine Gesellschaft der Räuber wurde doch als mögliche, die Unmittelbarkeit der Sozialbeziehungen erhaltende bzw. wiederherstellende gesellige Wirklichkeit festgehalten.348 So erscheint der Begriff Mendelssohns auch geeignet, den Übergang des Idyllischen vom eigenständigen Gattungsbegriff zu einem in unterschiedliche Gattungen zu integrierenden Motiv und Strukturmoment zu bezeichnen. In diesem Sinne markiert er einen entscheidenden Wendepunkt in der Idyllentheorie des 18. Jahrhunderts, die Helmut J. Schneider dadurch gekennzeichnet sieht, »daß der Gattungsbegriff zunehmend von seinem traditionellen Bestimmungen befreit wird, die man als einengend empfand und schließlich so gut wie völlig fallenließ«349. Geßners idyllisches Konzept der >kleinem Gesellschaftern bettet diese jedoch noch als temporäre Teilexistenzen in den Rahmen der durch sie nicht in Frage gestellten bürgerlichen Gesellschaft ein. Daß sich dieses im vorliegenden Kapitel 343 346
347 143
349
Vgl. ebd., S. 402. S. dz. u., Kap. 4. Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 402. Vgl. dz. etwa Wolfgang Riedels Interpretationsansatz von Schillers Die Räuber im Zusammenhang mit dessen Helvetius-Kritik: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Wurzburg 1985 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft XVII). S. 179f. Ähnlich bereits Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. »Die Räuber« im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I). In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81). S. 71-95. Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 12. Vgl. dz. auch Ulrich Eisenbeiss' Einschätzung, daß dieser Umstand »die Übertragung in andere Dichtungsaiten ermöglichte und rechtfertigte und daß dann die Dichter der Folgezeit die durch Klassik und Romantik entwickelte Form der Prosanovelle bis zu einem beliebigen Grad mit idyllischen Momenten anreichem konnte [!]. Der Typus der >Idyllnovelle< ist dann die letzte Stufe des [...] Idyllisierungsprozesses.« Das Idyllische in der Novelle der Biedermeierzeit Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1973 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 36). S. 45. Auf der Grundlage der »Verwandlung« der Idylle »von einer Form in ein Formelement, einer Gattung in einen Teilaspekt« verfolgt Gert Sautermeister den »Ideenkreis des Idyllischen« bis ins 20. Jahrhundert: Dieser lebe »beispielsweise fort in Beschwörungen der Kindheit als eines Paradieses sowohl in der Lyrik wie im Roman des 19. und 20. Jahrhunderts, er ist aber auch utopischen VorausgrifTen neuerer geschichtsphilosophischer Konstruktionen anverwandelt worden; prinzipiell geht er modifiziert in geschichtsphilosophische Entwürfe ein, die nach dem Triadenschema von erstem Paradies, Geschichte, zweitem Paradies gebildet sind.« Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers. Zum geschichtlichen Ort der klassischen Dramen. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 17). S. 15f. Für die angeführte geschichtsphilosophische Bedeutung des Idyllischen bildete jedoch neben der Erweiterung formaler Anschlußmöglichkeiten die theoretische Neufassung Friedrich Schillers eine weitere Voraussetzung, die mit einer entscheidenden Modifikation von Status und Anspruch der Idylle einherging (s. dz. u., Abschnitt 4.1).
189
ausführlich entwickelte idyllische >Komplementännodell< im Zuge der weiteren Gattungsentwicklung zum Teil scharfen Angriffen ausgesetzt sah und durch unterschiedliche, u. a. von Rousseau eingeleitete neue Modelle der Vermittlung von idyllischer und gesellschaftlicher Existenz abgelöst wurde, soll Thema des abschließenden Kapitels sein. Zuvor sei jedoch anhand eines zeitgenössisch ausgesprochen einflußreichen, in der aktuellen Forschung gleichwohl lediglich am Rande berücksichtigten popularphilsophischen Textes noch einmal genauer nach der Bedeutung der >kleinem Gesellschaftern für die aufklärerische Sozialtheorie sowie für die Funktion idyllischer Dichtung im Zusammenhang dieser übergreifenden Konzeptionen gefragt.
3.
»Ihr lebt alle in Arcadien wenn ihr wollt.« Johann Georg Zimmermanns Einsamkeit und das »arkadische Modell« in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts
Die im vorangegangenen Kapitel aufgezeigte Verknüpfung der poetologischen Bestimmungsversuche der Idylle und des Idyllischen mit zeitgenössischen Reflexionen auf die soziale Natur des Menschen und ihren gesellschaftstheoretischen Konsequenzen läßt sich anhand eines weiteren, für die Diskussion dieser Zusammenhänge zentralen Textes näher bestimmen. Hierzu ist den Filiationen des Begriffs der >kleinem Gesellschaftern nachzugehen, den Mendelssohn für eine sozial akzentuierte Theorie der Idylle nutzte. Die Bemühungen, den geselligen Neigungen des Menschen ebenso gerecht zu werden wie einer gesellschaftlichen Tätigkeit, die auf Beförderung des eigenen Nutzens gerichtetet ist, münden in einen Gleichschritt von poetologischer und sozialer Theorie. Auf dieser Grundlage konnte der literarischen Rede über die soziale Natur des Menschen eine fest umrissene Funktion zugesprochen werden. Im Mittelpunkt steht dabei das bereits vorgestellte komplementäre Sozialkonzept, das im folgenden näher zu betrachten sein wird. In seinem Rahmen ließen sich auf der Basis jeweils unterschiedlicher anthropologischer Grundannahmen verschiedene Modelle des geselligen Umgangs errichten. Deren Verhältnis zueinander hatte dem anthropologischen Ideal ebenso Rechnung zu tragen wie der gesellschaftlichen Realität. Hierfür ließ sich auf die Differenzierung bezüglich der sozialen Natur des Menschen zurückgreifen, wie sie im säkularen Naturrecht vorgenommen worden war. In diesem Sinne wird diese komplementäre Konzeption von sozialer und intimer Interpenetration im folgenden als spezifisch aufklärerische Sozialtheorie anzusprechen sein. Deren Dominanz auch noch in den popularphilosophisch ausgerichteten Reflexionen auf die soziale Natur des Menschen im ausgehenden 18. Jahrhundert läßt sich anhand der Schriften Johann Georg Zimmermanns zur Einsamkeit nachweisen.1 Hierfür ist zu verdeutlichen, daß und inwiefern dort auch noch die Entfernung aus dem Rahmen der Gesellschaft aus dem Blickwinkel der geselligen Pflichten des Menschen gerechtfertigt wird. Gestalt und Umfang der von Johann Georg Zimmermann veröffentlichten Einsamkeitsschriften legen ebenso wie das literaturwissenschaftlich bislang kaum erschlossene Werk Jacob Hermann Obereits eine sehr viel weiter ausgreifende Untersuchung nahe. Auf diese war im vorliegenden Zusammenhang jedoch zu verzichten, in dem ausschließlich nach Verbindungen zwischen idyllischer Gainings- und spätauSdärerischer Sozialtheorie gefragt werden soll. Zahlreiche Kontexte der Werke Zimmermanns und Obereits können daher lediglich am Rande angesprochen werden.
192
Zimmermanns Einsamkeitstexte bieten sich auch deshalb für einen solchen Nachweis an, da sie über einen Bearbeitungszeitraum von rund dreißig Jahren zustandekamen und sich daher von der unmittelbaren Zeitgenossenschaft mit den ersten idyllischen Veröffentlichungen Geßners bis an das Ende des Jahrhunderts erstrecken. So zeugen sie von der Stabilität des zugrundeliegenden Modells jenseits seiner poetologischen Problematisierungen im Rahmen der Idyllentheorie, die im folgenden Kapitel anzusprechen sein werden. Die Unterscheidung Georg Stanitzeks zwischen Vermittlungsstrategien von empfindsamer Moral und bürgerlicher Klugheit unter den Leitbegriffen von Literarisierung und Temporalisierung* läßt sich für eine systematische Verbindung der Schriften Geßners und Zimmermanns nutzen. Dem Vorgehen Salomon Geßners, in dem idyllische Dichtung und bürgerliche Biographie das gemeinsame Fundament einer nicht einseitig festgelegten sozialen Existenz bildeten, läßt sich vor diesem Hintergrund mit den Einsamkeitsschriften Zimmermanns eine entsprechende popularphilosophische Variante an die Seite stellen: Für Geßner eröffnete die Literarisierung ursprünglich-sympathetischer Geselligkeit die Möglichkeit, idealisierten Sozialbeziehungen auch unter den Bedingungen einer nichtidealen gesellschaftlichen Praxis einen fest umrissenen Ort zu sichern. Um eben diesen Ort kreisen auch Zimmermanns Reflexionen über die Einsamkeit mit dem Ziel, unter Anerkennung der geselligen Pflichten dennoch die zeitlich beschränkte Abkehr von dem selbstbezüglichen Getriebe des > Systems der Bedürfhisse< zu rechtfertigen.3 Zugleich entspann sich um diese Schriften eine lebhafte Kontroverse des Verfassers mit seinem Schweizer Landsmann Jacob Hermann Obereit, die deutlich macht, daß das aufklärerische Sozialkonzept keineswegs unumstritten blieb. Anhand des Werkes Obereits läßt sich zeigen, aus welcher Richtung Kritik angemeldet wurde: Seine Einwände gegen Zimmermann gründen auf dem spekulativtheosophisch begründeten System einer Geister- und Körperwelt umfassenden »All=Harmonie«. Diese Grundlegung verschafft seinem Denken eine eschatologische Perspektive, die ihn an die Möglichkeit einer letztendlichen >Versöhnung< gegeneinander strebender Kräfte glauben läßt. Obereit selbst hat sich in seinen letzten Lebensjahren um einen Anschluß seines >Systems< an den nachkantischen Idealismus bemüht. Sein Werk kann daher in exemplarischer Weise auf die Analogien aufmerksam machen, die mystisch und theosophisch inspirierte Harmonievorstellungen des 18. Jahrhunderts mit den idealistischen Systementwürfen an der Wende zum 19. Jahrhundert verbinden.4 S. o., S. 163. Goethes Kritik am bloßen Besuchscharakter der Geßnerschen Idyllik (s. u., S. 278ff.) macht darüber hinaus die am Ende des vorangegangenen Kapitels angedeutete enge Verknüpfung der von Stanhzek unterschiedenen Verfahrensweisen deutlich, indem sie Geßners Literarisierung als Version von Strategien der Temporalisierung identifiziert und auf dieser Grundlage zurückweist Zum Zusammenhang von Mystik und Literatur vgl. auch die grundsätzlichen Überlegungen von Ekkehard Bornes: Mystik und Texte. Überlegungen zur philologischen Mystikforschung. In: Euphorion 86 (1992). S. 333-346.
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Die Bedeutung idealistischer Geschichtstheorie für die Neubestimmung des Idyllischen in der Ästhetik um 1800 wird im folgenden Kapitel ausführlich anzusprechen sein. Vor diesem Hintergrund bietet es sich daher an, die Position Zimmermanns im vorliegenden Kapitel anhand der Auseinandersetzung mit Obereit systematisch zu rekonstruieren.3 Die Einsamkeitsschriften Zimmermanns zählen zu den erfolgreichsten populärphilosophischen Texten zu sozialen Fragestellungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.6 Gelingt es, die in ihnen vertretenen Positionen in weiteren prominenten spätaufklärerischen Texten nachzuweisen, die sozialphilosophischen Reflexionen gewidmet sind und sich zentralen Fragen des gesellschaftlichen Umgangs stellen, so ergeben sich die Konturen einer verallgemeinerbaren Grundsatzposition der späteren Aufklärung. Mit dieser gilt es, das im vorangegangenen Kapitel vorgestellte Idyllenkonzept ins Verhältnis zu setzen. Adolph von Knigges Ueber den Umgang mit Menschen (1788) gehört ebenso wie Zimmermanns Ueber die Einsamkeit zu den populärsten Texten der Spätaufklärung, die sich mit der sozialen Lebensführung beschäftigen. Knigges berühmter Traktat wurde bereits von Georg Stanitzek herangezogen, um an ihm die Grenzen einer aufklärerischen Vermittlung von gesellschaftlicher Klugheit und empfindsamer >Identitätsmoral< zu demonstrieren.7 Das komplementäre Sozialmodell, das auch den Hintergrund dieses Vermittlungsversuches bildet, ist repräFür eine historische Rekonstruktion vgl. ausführlich Werner Milch: Die Einsamkeit Zimmermann und Obereit im Kampf um die Oberwindung der Aufklärung. Frauenfeld, Leipzig 1937 (Die Schweiz im deutschen Geistesleben 83-85). Eine knappe Skizze der Auseinandersetzung findet sich außerdem bei Gerhard Hay: Darstellung des Menschenhasses in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1970. S. 74ff. Zu Johann Georg Zimmermanns Einsamkeitsschriften hat Markus Zenker jungst eine ausfuhrliche Studie angekündigt, die unter dem Titel Literatur und Anthropologie. Johann Georg Zimmermann und seine Schrift >Über die Einsamkeit im Kontext der deutschen Spätaufklärung der PhilosophischHistorischen Fakultät der Universität Basel 1999 als Habilitationsschrift vorgelegt wurde. Vgl. die durchweg lobende Aufnahme, die Zimmermanns vielbändiges Werk Ueber die Einsamkeit (1784/85) in den zeitgenössischen Rezensionsorganen gefunden hat: Die Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen etwa zahlen es zu den »angenehmsten schriftstellerischen Geschenke[n], die wir seit geraumer Zeit erhalten.« Lediglich »das stete gegen die Beleidigung fast unproportionirte Zuschlagen« gegenüber »Herrn Obereit, der, so viel wir wissen, weiter nichts gethan, als gegen ihn geschrieben hat (eine sehr menschliche Sünde !X wird in der Regel kritisch vermerkt (s. dz. u., S. 217f.; dort auch weitere Besprechungen): [Anoa:] [Rez.: Ueber die Einsamkeit] In: Hallische Neue Gelehrte Zeitungen. 64tes Stück, Donnerstags den 12. August 1784. S. 505-509, hier S. 506,509. Vgl. Georg Stanitzek: Blödigkeit, S. 112f. Zur Einordnung der Umgangslehre Knigges in die rhetorische Tradition höfischer Gesellschaftsethik vgl. Barbara Zaehle: Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer, Max Rychner: Adolph von Knigge. In: Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Eingeleitet von Max Rychner. Bremen 1964. S. IXXLVni; Gert Ueding: Rhetorische Konstellationen im Umgang mit Menschen. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik IX (1977). S. 27-52; Karl-Heinz Göttert: Nachwort In: Adolf von Knigge: Ober den Umgang mit Menschen. Hg. vondems. Stuttgart 1991 (RUB 1138). S. 455477; Ders.: Knigge oder: Von den Illusionen des anständigen Lebens. München 1995. S. 138ff. Eine systemtheoretische Rekonstruktion von Knigges Umgangskonzept bietet Thomas Pittrof: Knigges Aufklärung über den Umgang mit Menschen. München 1989 (Literatur in der Gesellschaft N. F. 15).
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sentativ für die spätaufklärerische Geselligkeitskonzeption. Knigges Versuch, zwei unterschiedliche Ebenen geselligen Umgangs zugleich zu bedienen, wurde daher von Vertretern der Aufklärung - bei aller Kritik im Detail - noch nicht als grundlegender Widerspruch gelesen. Erst Friedrich Schleiermacher sollte ihm dann in seinem Tagebuch vorwerfen, er habe »wie ein schlechter Wirth gehandelt, und das wenige Artige in seinem Buche in übelste Gesellschaft gebracht«8. Christian Garves weit ausgreifende Untersuchung Ueber Gesellschaft und Einsamkeit (1797/1800)9 läßt sich schließlich als Versuch einer systematischen Zusammenfassung der Differenzierungen lesen, die der aufklärerische Geselligkeitsgrundsatz im Laufe des 18. Jahrhunderts erfahren hatte. Vor wenigen Jahren hat Helmut Zedelmaier eine Behandlung von Garves Text im Rahmen des hier vorliegenden historischen und systematischen Zusammenhangs angeregt, indem er ihn in den Kontext der Einsamkeitsdebatte zwischen Zimmermann und Obereit stellte. Dabei wies er darauf hin, daß für Garve »die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte wachsender Differenzierung der Geselligkeitsformen zu lesen« sei und »im Horizont dieser Betrachtungweise der moderne Gesellschaftsbegriff wahrnehmbar und von Garve beschrieben«10 werde. Zuvor hatte bereits Claus Altmayer in einer ausführlichen Studie die Bedeutung herausgearbeitet, die den popularphilosophischen Schriften Garves für die »Bemühungen bürgerlicher Autoren« beizumessen sei, »das alteuropäische Adelsideal bürgerlich anzueignen«.11 8
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Fr. D. E. Schleiermacher: Werke, Zweiter Band, S. XXVII, Nr. 119. Zur Wirkung Knigges vgl. ausführlich Michael Schlott: Einleitung. In: Wirkungen und Wertungen, S. XV-LXXXVni; Ders.: Zur Wirkungsgeschichte Knigges. In: Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Hg. von Martin Rector. Gottingen 1998 (Das Knigge-Archiv 2). S. 207-230; sowie Karl-Heinz Göttert: Knigge, S. 283ff. Die Schrift gehört zu den späten Veröffentlichungen Garves; der zweite Band erschien bereits posthum. Die unverkennbaren Redundanzen erklärte Garve selbst mit seinen nachlassenden Geisteskräften. So zitiert Siegismund Gottfried Dittmar aus einem Schreiben Garves an Spalding vom 17.3. 1796: »Sie werden [...] in meiner Schrift häufige Wiederholungen finden. Denn das Gedächtniß ist diejenige Fähigkeit, welche am meisten bei mir verloren hat« Erinnerungen an meinen Umgange mit Garve, nebst einigen Bemerkungen Ober dessen Leben und Charakter von Siegismund Gottfried Dittmar. Berlin 1801. S. 179. Helmut Zedelmaier: Christian Garve und die Einsamkeit In: Aufklärung in Schlesien im europäischen Spannungsfeld. Traditionen - Diskurse - Wirkungen. Hg. von Wojciech Kunicki. Wroclaw 1996 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1757; Germanica Wratislaviensia CXIV). S. 133-149, hier S. 144. Claus Ahmayer: Aufklärung als Popularphilosophie, S. 201. Vgl. dz. auch bereits Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale, insbes. S. 144f. Daß Altmayer jedoch lediglich auf eine »dünne Linie« dieser »Bemühungen« in der Literatur des 18. Jahrhunderts trifft (S. 201), dürfte seinen systematischen Vorentscheidungen für die Erfassung der sozialhistorischen Prozesse des 18. Jahrhunderts geschuldet sein: Durch die enge Bindung seiner Untersuchung an den Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit (vgl. etwa S. 208ff.) verstellt er sich selbst den Blick auf die strukturellen Analogien zwischen >kleingesellschaftlichen< Modellen, die sich gerade dadurch auszeichnen, daß sie unterhalb der Ebene einer - wie immer repräsentativem oder bürgerlichem - Öffentlichkeit angesiedelt werden. Der Gegensatz, der sich für Altmayer zwischen Zimmermann und Garve ergibt, ist unschwer als Folge dieser Vorentscheidung zu identifizieren, die daher im vorliegenden Zusammenhang durch die systemtheoretische Unterscheidung zwischen sozialer und intimer Interpenetration ersetzt wird. Altmayers eigener heuristischer Ansatz, Garves Ueber Gesellschaft und Einsamkeit »als Antwort auf Zimmermann zu lesen,
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Garve bezieht sich einleitend ausdrücklich auf das »Werk[/J von vier Bänden, das [... ] von einem berühmten Manne über die Einsamkeit geschrieben worden ist«". Den vier Bänden Zimmennanns setzte er zwei weitere Bände zur Seite, die sich inhaltlich - wie sich im folgenden erweisen wird - lediglich in Nuancen von diesen unterscheiden. Allerdings legte Garve der Anordnung des Stoffes eine andere Systematik zugrunde: Folgt diese bei Zimmermann der causa efßciens, indem sie von zwei zu unterscheidenden Trieben zur Einsamkeit bzw. zur Geselligkeit ausgeht, so richtet sich die Gliederung Garves nach der causa fmalis und ist auf die Wirkungen von Einsamkeit und Geselligkeit auf die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens gerichtet.13 Ungeachtet dieser systematischen Vorentscheidungen kommt jedoch Zimmermann ebenso auf die Folgen von Einsamkeit und Geselligkeit zu sprechen, wie Garve auch die Fragen der Motivation zum einsamen bzw. geselligen Leben anspricht. Garve hatte sich zuvor bereits mit zahlreichen Schriften als Experte auf dem theoretischen Feld der Geselligkeit ausgewiesen. Dies zeigt sich u. a. an seiner Übersetzung von Ciceros De officiis und dessen ausgiebiger Kommentierung sowie an seiner intensiven Beschäftigung ebenso mit den Texten der französischen Moralistik wie mit den Schriften Adam Smiths.14 Sein Wort ist daher von kaum zu überschätzendem Gewicht für die soziale Theorie der Spätaufklärung, wenn seinem Werk auch keine annähernd vergleichbare Wirkung beschieden war wie denjenigen Zimmermanns und Knigges. Dieser Umstand läßt es als hinreichend begründet erscheinen, die Parallelen zwischen den Positionen Zimmermanns, Knigges und Garves als gemeinsame Position der spätaufklärerischen Sozialphilosophie insgesamt festzuhalten.
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um ihn auf diese Weise historisch angemessen im Rahmen der deutschen Aufklärung zu verorten« (S. 259), ist auf diese Weise präziser zu verfolgen. Ueber Gesellschaft und Einsamkeit von Christian Garve. Erster Band. Breßlau 1797. ND Hüdesheim, Zürich, New Yoik 1985: GGW, 1/2, Originalband I, S. 1. (Da der Nachdruck die Paginierung der Erstausgabe beibehält, dabei jedoch beide Bände in einem wiedergibt, erfolgen Verweise im folgenden nach der Originalpaginierung unter Angabe des Bandes in römischer und der Seite in arabischer Zählung.) Der zweite Band erschien 1800 posthum auf der Grundlage vorliegender Manuskripte: Vgl. die Einleitung der Herausgeber Manso und Schneider in: Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, II, S. IVff. U. a. diese Anlage des Werkes durfte neben seinem empirischen Vorgehen Lutz Geldsetzer dazu bewogen haben, es ausfuhrlich als Beleg für seine These vom Beginn der deutschen Soziologie in der späteren Aufklärung anzuführen: Vgl. Zur Frage des Beginns der deutschen Soziologie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 15 (1963). S. 529-541, insbes. S. 533ff. Zu Garve und Smith bezüglich der »Gleichheit ihrer Grundsätze und Lehren« vgl. bereits I. E. Grüner: Smith und Garve. In: Neue Berlinische Monatsschrift. Julius 1801. S. 38-61, Zitat S. 38.
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3. l Johann Georg Zimmermann und seine Konzeption >geselliger Einsamkeit 1785 vollendete Johann Georg Zimmermann mit der Vorlage des dritten und vierten Teiles der umfangreichen Abhandlung Ueber die Einsamkeit seine Schriften zu diesem Thema, die er nahezu dreißig Jahre zuvor, noch als Stadphysikus in Brugg beschäftigt, mit den Betrachtungen über die Einsamkeit begonnen hatte.16 Zimmermann war zu diesem Zeitpunkt kein unbekannter Autor mehr. Er hatte sich durch die Veröffentlichung nicht allein theoretisch-grundlegender, sondern auch popularisierender medizinischer17 und allgemeinerer po-
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Vgl. Ueber die Einsamkeit Von Johann Georg Zimmermann Königlich Großbritannischen Hofralh und Leibarzt in Hannover. Vier Theile. Leipzig 1784 (Theil 1; Theil 2), 1785 (Theil 3; Theil 4). Verweise auf Zimermanns >große Einsamkeitsschrifix im folgenden unter der Sigle UdE mit Angabe des Bandes in römischer und der Seitenzahl in arabischer Zahlung. Vgl. Betrachtungen über die Einsamkeit von D. Johann Georg Zimmermann Stadtphysikus in Brugg. Zürich 1756. (Verweise auf diese Schrift im folgenden unter dem Kurztitel Betrachtungen.) Im Januar 1773 veröffentlichte Zimmermann im Hannoverischen Magazin in vier Teilen eine weitere Abhandlung Von der Einsamkeit (Erstes bis viertes Stück, Spähe 1-60), die noch im gleichen Jahr auch als selbständige Publikation erschien (Leipzig 1773). (Verweise hierauf im folgenden unter der Sigle VdE nach der Ausgabe im Hannoverischen Magazin.) Vgl. dz. Klaus Sproedt: Analyse von Zimmermann's Werk: »Von der Erfahrung in der Arzneykunst«. Diss. med Münster 1970. S. 15ff. Zur wissenschaftshistorischen Bedeutung von Zimmermanns medizinischen Schriften sowie seiner ärztlichen Praxis vgl. in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift (Nr. 49; 8. 12. 1928) die Beiträge von Aug. Bouvier (S. 1197-1299), H. E. Siegrist (S. 1200-1202), J. Karcher (S. 1202-1212), A. Kielholz (S. 1212-1215) sowie Owsei Temkin (S. 1215-1220); außerdem Richard Toellner: Johann Georg Zimmermann (1728-1795). Der Arzt als Genie oder über die Gewißheit der Vorhersage in der Heilkunst In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2 (1979). S. 13-24; Ders.: Medizin in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht hg. von Rudolf Vierhaus. Mit 5 Tafeln. Göttingen 1985. S. 194-217, insbes. S. 212ffi; Urs Böschung: Medizinische Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770 bis 1830. In: Helvetien und Deutschland, S. 195-217, insbes. S. 204ff; Martin Dinges: Medizinische Aufklärung bei Johann Georg Zimmermann. Zum Verhältnis von Macht und Wissen bei einem Arzt der Aufklärung. In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. von Martin Fontius und Helmut Holzhey. Berlin 1996 (Aufldärung und Europa; Beiträge zum 18. Jahrhundert). S. 137-150; Urs Böschung: Von »... dem ersten Schritte, den ich als Arzt in die Weh that...«. Die Anfange von Johann Georg Zimmermanns ärztlicher Praxis, Bern 1752-1754. In: Johann Georg Zimmermann, königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795). Hg. von Hans-Peter Schramm. Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Forschungen 82). S. 31-48; Udo Benzenhöfer, Gisela vom Bruch: Zu Johann Georg Zimmermanns Plänen für den dritten Teil seiner Erfahrung in der Arzneykunst. In: Ebd., S. 49-60; sowie Wilfried Heinecke: Zimmermann als Arzt der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Die medizinhistorische Bedeutung der Korrepondenz. In: Ebd., S. 61-73. Vgl. auch meine ausführliche Rezension des Sammelbandes in Scientia Poetica 4 (2000). S. 222-230. Zur Bedeutung popularisierender Schriften in der Medizin der Aufklärung vgl. u. a. Gunter Mann: Medizin der Aufklärung: Begriff und Abgrenzung. In: Medizinhistorisches Journal l (1966). S. 63-74, insbes. S. 69ffi; Erna Lesky: Medizin im Zeitalter der Aufklärung. In: Lessing und die Zeit der Aufklärung. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 10. und l I.Oktober 1967. Göttingen 1968 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg). S. 77-99, insbes. S. 89ff.
197 pularphilosophischer18 Schriften über das medizinische Fachpublikum hinaus einen Namen gemacht. Als Mentor und Beiträger für Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente19 hatte er sich darüber hinaus an zeitgenössischen literarischen Auseinandersetzungen beteiligt und sich durch dieses Engagement nicht zuletzt Georg Christoph Lichtenberg zum Gegner gemacht. Lavaters Aussichten in die Ewigkeit (Zürich 1768ff.) erschienen im Untertitel als »Briefe[/] an Hrn. Joh. Georg Zimmermann«, der auch den ersten Versuch Von der Physiognomik 1772 im Hannoverschen Magazin drucken ließ und zudem gesondert mit einer eigenen Vorrede herausgab.20 Bereits Jacob Hermann Obereit erschien Zimmermanns scharfe, u. a. gegen ihn selbst gerichtete Schwärmerkritik jedoch als das »handgreifliche Gegentheil von Lavaters gebilligten Aussichten und deren Grundsätzen«21. Am 3. März 1778 bemühte sich Zimmermann gegenüber Moses Mendelssohn um eine Erklärung seiner Auseinandersetzung mit Lichtenberg: Mein Streit mit Lichtenberg ist, im Grunde betrachtet, ein lächerlicher Streit. Sie wissen, was ich von sehr vielen Meinungen Lavaters denke: Sie wissen daß kein Mensch in der Weh mehr mit Lavater gezankt hat, als ich: Sie wissen daß ich für seine Physiognomie [!] auf keine Weise enthusiastisch eingenommen bin, und zum Ex. unsers Freundes Nicolai dagegen geäußerten Meinungen mehrentheils beypflichte. Worüber streitet also Lichtenberg mit mir, und ich mit ihm? Mir deucht wir zanken zusammen, weil wir gegen einander aufgebracht sind; und unser 18
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Dies gilt insbesondere von seiner noch im 18. Jahrhundert mehrfach aufgelegten Schrift Vom Nationalstolze, s. dz. o., S. 146£. Zur Bedeutung der Schriften Zimmennanns für die Ausbildung eines kritischen Schweizer Nationalbewußtseins vgl. Simone Zurbuchen: Berliner »Exil« und Schweizer »Heimat«: Johann Georg Zimmermanns Reflexionen Ober die Rolle des Schweizer Gelehrten. In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, S. 57-68. Allein für den ersten Teil hat Zimmermann nach eigenen Angaben für 10.600 Taler Subskriptionen verschafft: Vgl. sein Schreiben an Georg Ludwig Schmid vom 19. 5.1775. In: Johann Georg Zimmermann's Briefe an einige seiner Freunde in der Schweiz. Hg. von Albrecht Rengger. Mit einem Bildnisse von Abraham Rengger. Aarau 1830. S. 216f., hier S. 217. Zu Zimmennanns Verhältnis zu Lavater vgl. u. a. die Briefauszüge in Ulrich Hegner Beiträge zur näheren Kenntniß und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater's. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang. Leipzig 1836. ND Bern 1975; Rudolf Ischer Nachträge zu J. G. Zimmermann. In: Euphorien 4 (1897). S. 550-557, hier S. 552ff.; Heinrich Funck: Zimmermann als Charakterologe. Sein Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten. In: Euphorien 27 (1926). S. 521-534; sowie zuletzt Siegfried Michael Gatz: »Ein solcher Freund wie du bist, deine bisweiligen Lobsprüche abgerechnet, ist mir unentbehrlich.« Der Briefwechsel Johann Georg Zimmermanns mit Johann Caspar Lavater 1764-1793. In: Johann Georg Zimmermann, königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795), S. 93-107; August Ohage: Zimmennanns Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten. In: Ebd., S. 109122. Vgl. außerdem die Briefe Lavaters an Zimmermann, die Gisela Luginbühl-Weber wiedergibt: Johann Kaspar Lavater - Charles Bonnet - Jacob Benelle. Briefe 1768-1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. 1. Halbband: Briefe. Bern 1997. S. 201ffi; sowie im Kommentar (2. Halbband) insbes. S. 278ff. [Jacob Hermann Obereit:] Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens gegen Herrn Leibarzt Zimmermann in Hannover von Jakob Hermann Obereit, Doktor der Philosophie im Bodensee. Frankfurt am Mayn 1775. S. 112. Vgl. dz. auch Reno von Niederhäusern: Die »heiligen Halunken«. Einsamkeit und Eremhentum bei Johann Georg Zimmermann (1728-1795). In: Eremiten und Eremitagen in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert Hg. von Rudolf Velhagen mit Beiträgen von Hans-Rudolf Heyer u. a. Öffentliche Kunstsammlung Basel. Kunstmuseum. 28. März-23. Mai 1993. Basel 1993. S. 38-46, insbes. S. 39.
198 Streit sey weiter nichts als eine affaire d'honneur, wobey es einzig und allein, wie bey dem Englischen Hahnengefechte darauf ankömmt, dem ehrenden Publicum zu zeigen, welcher von beyden Hahnen der mannhafteste und kampflustigste sey?22 Mendelssohn, der Zimmermann für »de[n] angreifende[n] Theil« in dieser Auseinandersetzung hielt, riet diesem in seiner Antwort, »auch den ersten Schritt zur Wiederaussöhnung zu thun«.23 Dieser Schritt unterblieb jedoch. Statt dessen machte Zimmermann sich auch den Kreis der Berliner Spätaufklärung um Friedrich Nicolai, mit dem er zuvor in freundschaftlichem Briefkontakt gestanden hatte, zum Gegner.14 Bleibenden Ruhm erwarb sich Zimmermann gleichwohl erst durch jenes vierbändige Werk Ueber die Einsamkeit, das nicht nur unter den Zeitgenossen einen erheblichen Eindruck hinterließ, sondern auch in den folgenden Jahrhunderten Gegenstand einer bisweilen kontroversen Rezeption bleiben sollte. Dabei läßt sich die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes - als ein Seitenstück zu derjenigen
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Zimmermann an Mendelssohn vom 3. 3. 1778. In: MGS, XII/2, S. 110-114, hier S. 113f. (Hervorhebungen im Original.) Mendelssohn an Zimmermann vom 12. 5.1778. Ebd., S. 122-125, hier S. 122f. Zur Auseinandersetzung Zimmermanns mit Lichtenberg vgl. auch August Ohage: »Raserey für Physiognomik in Niedersachsen«. Lavater, Zimmermann, Lichtenberg und die Physiognomik. In: Georg Christoph Lichtenberg 1742-1799. Wagnis der Aufklärung. Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt 28. Juni bis 30. August 1992; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 18. Oktober bis 18. Dezember 1992. München 1992. S. 175-184; Ulrich Joost: Eine »Physiognomik des Stils« gegen »Don Zebra Bombast«. Lichtenbergs Polemiken gegen Johann Georg Zimmermann. In: Johann Georg Zimmermann, königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795), S. 123-137. Vgl. außerdem Johann Gottfried Herder an Johann Caspar Lavater im Juli 1779. In: Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803. Vierter Band. Oktober 1776-August 1783. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Gunter Arnold. Weimar 1979. S. 97-99, hier S. 97. Sigrid Habersaat macht Nicolais Kritik an den Physiognomischen Fragmenten für das Ende der freundschaftlichen Beziehungen verantwortlich: Zimmermann und die Berliner Aufklärung: Friedrich Nicolai. In: Johann Georg Zimmermann, königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795), S. 179-184, hier S. 181. Zu den später dominierenden politischen Hintergründen der Auseinandersetzung vgl. Christoph Weiß: »Deutschlands Hohn und Schmach«. Der Beginn des Briefwechsels zwischen Johann Georg Zimmermann und Heinrich August Ottokar Reichard. In: Ebd., S. 185-210. Zimmermann hatte die Auseinandersetzung u. a. durch abfällige Bemerkungen über die »Thaten der berlinischen Aufklärungssynagoge« provoziert: Fragmente über Friedrich den Großen zur Geschichte seines Lebens, seiner Regierung, und seines Charakters. Von dem Ritter von Zimmermann [...]. Band 3. Frankfurt und Leipzig 1790. S. 169. Vgl. auch bereits Ueber Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode. Von dem Ritter von Zimmermann Königlich Großbritannischen Leibarzt und Hofrath. Leipzig 1788. S. 236f. Vgl. dz. auch Ute Schneider: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium des Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 1). S. 65f. Zur Kritik Zimmermanns an der politischen Aufklärung insgesamt vgl. etwa Memoire an Seine Kaiserlichkönigliche Majestät Leopold den Zweiten über den Wahnwitz unsere Zeitalters und die Mordbrenner, welche Deutschland und ganz Europa aufklären wollen. Nach der Handschrift im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien mit einem Nachwort hg. von Christoph Weiß. St Ingbert 1995 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 24). Die Umstände der Entstehung dieser Denkschrift im Auftrag des Kaisers schilderte Zimmermann in einem Schreiben an Georg Ludwig Schmid vom 26. 5. 1792. Vgl. Johann Georg Zimmermann's Briefe an einige seiner Freunde in der Schweiz, S. 366.
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von Adolph Freiherr Knigges Ueber den Umgang mit Menschen, die aus einer gesellschaftlichen Klugheitslehre ein Lehrbuch pedantischer Anstandsregeln machte25 - als die Geschichte eines Mißverständnisses lesen: Bereits Novalis' Apologie der Schwärmerey1* konnte sich lediglich aufgrund äußerst selektiver Lektüre auf ein Werk berufen, dessen Verfasser auffällig darum bemüht war, den Primat der geselligen Existenz des Menschen vor dem titelgebenden Zustand der Entfernung aus den geselligen Verbindungen der Welt zu betonen. Der »Beytrag zu einer praktischen Untersuchung über menschliche Glückseligkeit«27, den Zimmermann mit seinen Ausführungen zu liefern beansprucht, ist zwar darauf ausgerichtet, den Menschen zur Beschränkung seiner Bedürfhisse zu bewegen, um durch Selbstgenügsamkeit eine höchstmögliche Unabhängigkeit zu erreichen. Diese läßt sich nutzen, um sich möglichen schädlichen Einflüssen der Gesellschaft zu entziehen. Aber auch alle die berühmten Systeme von gänzlicher Flucht aus der Welt fallen als Lebensregel in Trümmer, wenn man bedenket, daß es zwar edel ist, sich unabhängig von den meisten Menschen zu machen, um doch zuweilen absehe gehen zu können; aber gewiß eben so gut, daß man auch zwischendurch gesellig und freundlich mit allen lebe.28
Im zwölften Kapitel, das einen zusammenfassenden Abschluß der gesamten Untersuchung bildet, sieht Zimmermann schließlich Anlaß, einem offenbar bereits unter den Zeitgenossen kursierenden Mißverständnis entgegenzutreten: Hatte er seine Ausführungen bewußt unter den Titel Einsamkeit gestellt, um sie von den üblichen, gesellschaftliche Zerstreuung und Privatpolitik propagierenden Traktaten abzusetzen, so galt es gleichwohl - nicht zuletzt angesichts der Auseinandersetzung mit Obereit - klarzustellen, daß ihr Verfasser keineswegs gewillt war, den Grundsatz der Geselligkeit insgesamt fallenzulassen. Zimmermann ging es um eine Differenzierung dieses Grundsatzes, nicht um seine Aufhebung. Dennoch hatte es Vorwürfe gegeben, daß sein Werk »das stille Privatleben zu sehr anpreise«. Dadurch »vernichte [...] [es] nicht nur jede gesellschaftliche Tugend, sondern [... ] zerstöre jede Achtung für Landessitte, Lebensart, Urbanität, Galanterie und guten Ton«.29 Darauf reagierte Zimmermann mit der unmißverständlichen Klarstellung: Es war indessen nie meine Absicht, irgend eine gesellschaftliche Tugend bey irgend einem Menschen zu schwächen. Aus Liebe zur häuslichen Glückseligkeit erlöschet gewiß in keiner guten Seele die Liebe zur allgemeinen Wohlfait Giebt auch eine gewisse Erhebung des Gemüths dem speculativen Einsamen, einige Gleichgültigkeit gegen die Weh, so macht dann doch dieselbe wirksame Denkart, durch die so mancher Mensch schon in der Einsamkeit gut und nutzlich werden kann, ihn auch für das gesellschaftliche Leben zu ausgebreiteter Geschäftigkeit fähig. [...] Ein völlig einsames Geschöpf ist ein elendes Geschöpf.30 25 24
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Zur Knigge-Rezeption vgl. ausführlich Wirkungen und Wertungen. Zur Zimmermann-Rezeption Novalis' vgl. Hermann Kurzke: Friedrich von Hardenbergs >Apologie der Schwärmereyphilosophischen Arztes< aus dieser anthropologischen Grundfrage ab: Vgl. Die »heiligen Halunken«, S. 39. Zu diesem Begriff vgl. außerdem Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 22f. Friso Melzer: J. G. Zimmermanns »Einsamkeit« in ihrer Stellung im Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Diss. Breslau 1930. S. 72f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82.
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»Einsamkeit« und »Gemeinschaft«40 anzuschließen, deren Ergebnisse bei Melzer lediglich angedeutet werden. Wenn Zimmermanns Behandlung der Einsamkeit diesen Ansprüchen auch nicht genügen kann, so habe die Aufklärung mit seiner Rechtfertigung der »Alleinheit« gleichwohl ihr geistesgeschichtliches Ende erreicht: »Sie tritt von der geistigen Bühne ab. Tiefere Bereiche des menschlichen Lebens melden sich.«41 Melzer kennzeichnet die Position Zimmermanns auf diese Weise als Symptom eines zentralen ideengeschichtlichen Übergangs im 18. Jahrhundert: Zwar noch mit den Mitteln der Aufklärung verfolgt, richte sie sich letztlich bereits gegen deren >fragwürdigen< Geselligkeitsgrundsatz.42 Nur wenige Jahre später erschien die von Melzer geforderte phänomenologische Untersuchung. Doch in seiner posthum veröffentlichten Studie über Das Problem der Einsamkeit im 18. Jahrhundert im besonderen bei J. G. Zimmermann widerspricht Leo Maduschka dessen Befund, denn Zimmermann unterscheide »die Geisteseinsamkeit ganz richtig von der bloß zuständlichen Entfernung von den Menschen, der Allein-heit [!]«43. Dies ändert jedoch nichts an der geistesgeschichtlichen Einordnung der Position Zimmermanns: Dessen »großer Protest gegen Gesellschaft und Geselligkeit ist letztlich unaufklärerisch; denn der Geist der Aufklärung war im Grunde der Geist dieser Lebensformen«44. 1937 legte Werner Milch dann unter dem Titel Die Einsamkeit eine »Doppelbiographie«43 vor, die Zimmermann und Obereit im Kampf um die Überwindung der Aufklärung zeigt. Auch er betonte einleitend die Grenzen von Zimmermanns aufklärerischem Standpunkt, während Obereit »ein Empfinden für säkulare Probleme«44 zugesprochen wird. Die Auseinandersetzung über die Einsamkeit versteht auch Milch lediglich als »Vorstufe einer anderen [...], die an 40 41 42
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Ebd., S. 83. Ebd., S. 82. Eine genaue Analyse dessen, was Zimmermann unter dem Etikett der Einsamkeit präsentierte, hätte gleichwohl darauf aufmerksam machen können, daß er - wenn auch noch nicht in der Terminologie Ferdinand Tönnies' - die von Melzer geforderte Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft durchaus im Blick hatte. Allerdings faßte er diese noch nicht kontradiktorisch, sondern war - und dies weist seine Position in der Tat als aufklärerische aus darum bemüht, der auf Sympathie beruhenden Gemeinschaft einen Ort innerhalb einer Gesellschaft zu sichern, die Ober die Selbstbezüglichkeit ihrer Mitglieder integriert wurde. Leo Maduschka: Das Problem der Einsamkeit im 18. Jahrhundert im besonderen bei J. G. Zimmermann. Weimar 1933 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte LXVI). S. 109. Vgl. auch bereits Herman Schmalenbach: Die Genealogie der Einsamkeit In: Logos VIII (1919/ 20). S. 62-96. Ebd., S. lOSf. Dieser Einschätzung widerspricht Maduschka dann jedoch wenige Seiten später selbst, wenn er daraufhinweist, Zimmermanns Intention sei in dem Versuch zu finden, »Weltbürger- und Klausnerdasein sinnvoll zu verbinden« (S. 112f; Hervorhebung im Original). Doch dieser vergleichsweise differenzierte Textbefund, den Maduschka als »tiefe Lebenssynthese« (ebd.) ausdrücklich mit der Haltung Goethes analogisiert (vgl. ebd., S. 114f.), vermag der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise nicht standzuhalten, so daß auch diese Arbeit zum Bild Zimmermanns als Gegner von Gesellschaft und Geselligkeit beigetragen haben dürfte. Werner Milch: Die Einsamkeit, S. 7. Ebd., S. 9.
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der Wende zum neuen Jahrhundert eine Grundfrage menschlichen Daseins werden sollte: Persönlichkeit und Gemeinschaft.«47 Und auch die Position Zimmermanns wird in diesem Zusammenhang als ausgesprochen zwiespältig beurteilt: Er sei »Aufklärer« gewesen, gleichzeitig jedoch »verachtete [er] die Aufklärung«.48 Dieser Zwiespalt bestimme auch den Umgang mit dem Thema seines Hauptwerkes: Zwar stehe dort die »Erkenntnis« im Mittelpunkt, »daß Einsamkeit nicht Weltscheu bedeuten dürfe, sondern besinnliche schöpferische PauseÜber die Einsamkeit^ sie wurde in fast ebenso viele europäische Sprachen übersetzt wie nachher der Werther. [...] Solch gefühlvoller Solipsismus, aus Untätigkeit und Enthusiasmus seltsam gemischt, verband sich mit dem Individualismus der durchbrechenden bürgerlichen Gesellschaft, mit dem Freiheitsdrang der kapitalistischen Wirtschaftspersoa33
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Ebd., S. 31. Ebd., S. 33. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd. Ebd., S. 22. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffiiung. In fünf Teilen. Kapitel 43-55. Frankfurt/M. 1985 (Werkausgabe 5). S. 1126f. (Hervorhebungen im Original.)
204 Die philologischen Ungenauigkeiten dieser Interpretation verdeutlichen, daß eine Differenz von immerhin rund dreißig Jahren für Blochs hochabstrakte, materialistisch unterlegte Sicht der deutschen Geschichte keinen großen Unterschied zu machen scheint: Keineswegs war bereits Zimmermanns Betrachtungen über die Einsamkeit von 1756 [!] ein europäischer Erfolg zuteil geworden, der sich mit demjenigen des Werther vergleichen ließe. Erst die vierbändige Abhandlung von 1784/85 entfaltete eine entsprechende Wirkung, die außerhalb des deutschen Sprachraumes maßgeblich von der französischen Übersetzung durch J. B. Mercier bestimmt wurde.54 Wie die aufklärerische Idyllendichtung Geßners ließ sich auf diese Weise auch das Hauptwerk Zimmermanns im Sinne einer geschichtsphilosophischen Vorentscheidung als Ausdruck einer vermeintlichen >Dialektik< von Eskapismus und Anpassung deuten. Diese hatte zudem noch als symptomatisch zu gelten für eine sozialhistorische Konstellation, die als Bestätigung des vorgefaßten geschichtstheoretischen Rahmens in Anspruch zu nehmen war.35 Spielte dies für Bloch auch offenbar keine maßgebliche Rolle, so lassen sich hingegen an dem Standpunkt Zimmermanns im Vergleich der Versionen von 1756 und von 1784/85 einige charakteristische Veränderungen aufweisen. Zwar sieht dieser offenbar bereits in den fünfziger Jahren die Notwendigkeit, sich mit einer einleitenden Klarstellung gegen mögliche Fehlinterpretationen und Erwartungen zu schützen, die der Titel seiner Schrift nahelegen könnte: Von den »seltenen Männer [n] [...], die angefangen haben die Welt bey ihrem Leben zu verlassen, um in Höhlen, und Klüften, und einsamen Gellen [...] schärfere Blicke auf sich selbst und die Natur der Dinge werfen zu können«36, sei in derselben nicht die Rede, denn: Mein GemOth ist allzu sehr von der Notwendigkeit und der moralischen Nutzbarkeit eines geschäftigen und thäligen Lebens eingenommen, als daß ich mich unterstehen durfte, wider die Stimme meines Gewissens, diese Art von Einsamkeit anzupreisen. Soll der ein Weiser seyn, der die Kräfte seiner Seele in einer Einöde verschlummert? Soll der ein Mensch seyn, der sich dem Dienste der Gesellschaft entziehet, der seine Gaben verschmähet, und dieselben in der Einsamkeit versiegen läßt? Soll der ein Christ heissen, der ein Feind der moralischen Ordnung, und ein
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Vgl. dz. auch die Rückübersetzung der Übertragung Merciers: Mercier über die Einsamkeit und ihren Einfluß auf Geist und Herz, nach Zimmermann; Ein Buch für die reifere Jugend beyderley Geschlechts. Uebersetzt und mit psychologischen Reflexionen begleitet von Professor Heydenreich in Leipzig. Leipzig 1797. Heydenreich rechtfertigt seine Rückübersetzung mit der»Weitschweifigkeit« des vierbändigen Originals, von dem Mercier einen »Auszug« biete, »welcher gleichsam den Geist jenes Werkes in sich concentrirt« (S. 301f.). Mercier verzichtete nicht allem auf die Wiedergabe der kirchenhistorischen Passagen sowie der Polemik gegen Obereft, sondern ließ auch die ausführlichen Kapitel über die Nachteile der Einsamkeit wegfallen und bot auf rund 300 Seiten lediglich die von Zimmermann hervorgehobenen Vorteile der Einsamkeit Vgl. dz. zuletzt auch: Hans-Ulrich Seifert: J. B. Merciers Übersetzung von Ueber die Einsamkeit und K. H. Heydenfeichs Rückübersetzung. Zur Zimmermann-Rezeption in Frankreich. In: Johann Georg Zimmermann, königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795), S. 211-220.
Auf die literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich diesem Ansatz anschlössen und in entsprechender Weise den Zusammenhang zwischen Idyllendichtung und den Einsamkeitstraktaten Zimmermanns herausarbeiteten, wird nach der Vorstellung von dessen gesellschaftstheoretischer Position zurückzukommen seb; s. dz. u., S. 263f. Betrachtungen, S. 12.
205 Fremdling unter seinen Brüdern, sie seyen noch so böse, sie seyen noch so verdorben, will genennet seyn?57
Um seine eigene Einsamkeitsvorstellung von derjenigen eines weltfernen Eremitentums abzugrenzen, versieht Zimmermann sie bereits an dieser Stelle mit dem Hinweis, daß »diese Art von Einsamkeit [...] mitten in den Geschäften des bürgerlichen Lebens, an einem Hofe, und in einer grossen Stadt, bey mühsamen Aemtem, und ansehnlichen Bedienungen, so leicht, als in der Thebaischen Wüste«38 genossen werden könne. Ein solcher Hinweis scheint in der Fassung von 1756 gar noch eher angebracht gewesen zu sein als in derjenigen von 1784/85, in der die Auseinandersetzung mit Jacob Hermann Obereit Gelegenheit gab, den eigenen Standpunkt gegen denjenigen religiöser >Weltüberwindung< abzusetzen (s. dz. den folgenden Abschnitt). Zudem war die Schrift von 1756 noch auf weltabgewandt-religiöse Besinnung konzentriert. Dieser religiöse Schwerpunkt, der auch Zimmermanns im gleichen Jahr erschienenes Lehrgedicht Die Zerstörung von Lissabon prägte,59 wird zwar auch an dieser Stelle bereits von den Aspekten gelehrter Einsamkeit sowie häuslicher Eingezogenheit flankiert, steht aber noch 37
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Ebd., S. 13. Auch J. B. Mercier hält es als französischer Obersetzer von Ueber die Einsamkeit für nötig, naheliegenden Mißverständnissen vorzubeugen und in einem »Vorbericht« zu betonen, der deutsche Verfasser gehöre »nicht unter jene aberspannten Menschenfeinde, welche die Menschen, die für die Gesellschaft gebohren, und durch unauflösliche Bande an sie gekettet sind, in die Holen und Wälder zu den wilden Thieren verweisen«. Vielmehr sei er »auf das innigste von der Ueberzeugung durchdrungen, daß der Mensch zu gesellschaftlicher Verbindung mit seinen Mitwesen bestimmt ist, und niemand kann die Pflichten, welche daraus entspringen, lebhafter fühlen, als er.« Mercier Ober die Einsamkeit, S. 3. Betrachtungen, S. 18. Zimmermann beruft sich hierfür auf den »grosse[n] Lord Shaftesbury«, tder nicht nur selbst »bald in dem Glänze des Englischen Hofes, bald in dem Dunkel seines Studierzimmers gelebt«, sondern eine derartige »Notwendigkeit der Entfernung von der Weh« darüber hinaus in seinen Moralisten auch theoretisch begründet habe, woraus Zimmermann im folgenden ausfuhrlich zitiert (ebd., S. 19ff.): Horaz und Vergil werden als historische Vorbilder einer Lebensweise angeführt, auf die »selbst die Leute, die sonst allein in der großen Welt leben«, angewiesen seien (ebd., S. 20): »Was für ein Vergnügen könnte dann die Welt, diese zusammengestossene und oft so ungleiche Gesellschaft, ohne einiche [!] Einsamkeit empfinden, ohne von Zeit zu Zeit seitwerts zu treten, und die gemeine Bahn des Lebens, diesen ekelhaften Cirkel von Gelerme und falschem Schimmer zu verlassen [...]?« (Ebd., S. 21f.) Vgl. Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus. Die Moralisten. In der Übersetzung von Max Frischeisen-Köhler mit einer Einleitung neu hg. von Wolfgang H. Schrader. Hamburg *1980 (Philosophische Bibliothek 111). S. 66f. Vgl. auch ebd., S. 122ff., wo Shaftesbury eine auf imbecillitas beruhende Theorie natürlicher Geselligkeit vorträgt, die den theoretischen Hintergrund des Primats der gesellschaftlichen Existenz bildet, was von Zimmennann jedoch nicht eigens angeführt wird. Das Gedicht erschien jüngst in einer Neuedhion: Johann Georg Zimmermann: Die Zerstörung von Lissabon. Die Ruinen von Lissabon. Gedanken bey dem Erdbeben. 1755-1756. Mit einer Nachbemerkung neu hg. von Martin Rector und Matthias Wehrhahn. Hannover 1997 (Vergessene Texte des 18. Jahrhunderts 5). Martin Rector wies daraufhin, »daß der innere Aufbau seines Lissabon-Gedichts dem Muster des pietistischen Erweckungserlebnisses verblüffend nahesteht«: Johann Georg Zimmermanns Gedicht Die Zerstörung von Lissabon (1756). In: Johann Georg Zimmermann, königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795), S. 83-92, hier S. 92. Zu dem Gedicht vgl. auch Albert M. Debrunner: Ein Ersatz für Haller. Bodmers und Brehingers Verhältnis zu Zimmermanns literarischem Schaffen. In: Ebd., S. 75-81, hier S. 76f. Zu Zimmermanns unveröffentlichten poetischen Texten vgl. außerdem Carz Hummel: Johann Georg Zimmermanns nachgelassene Gedichte. In: Brugger Neujahrsblätter 83 (1973). S. 61-106.
206 in einer Weise im Vordergrund, die in den Fassungen von 1773 und 1784/85 einem Nebeneinander unterschiedlicher Aspekte temporärer Einsamkeit wich: Die Einsamkeit, von der ich rede, diese vernünftige Entfernung von der Welt, ist es endlich, die uns an der Lehre der Religion, der Wissenschaft, die alles andere unter sich zurücke läßt, die einzig Ruhe, die einzig Vergnügen, die einzig die wahre Stille und Zufriedenheit der Seele bewirket, einen unwiderstehlichen Reitz zu finden macht60 Hans-Jürgen Schings identifizierte noch in der Fassung von 1784/85 »ausgesprochen pietistische Züge«, die das Motiv einsamer religiöser Einkehr und Selbstbesinnung als »Reflex des pietistischen Büß- und Trauergebots«*1 auswiesen. Daß dies keineswegs im Widerspruch zu der im folgenden vorzunehmenden - und bereits bei Schings angelegten - Interpretation des Zimmennannschen Einsamkeitskonzepts steht, macht die Untersuchung Hans Leubes über die Sozialideen des kirchlichen Pietismus deutlich: Leube rekurriert auf den pietistischen »Vorsehungsglaube[n]«, auf dessen Grundlage trotz der naheliegenden »Neigung zur Weltverachtung und -entsagung« das »ganze gesellschaftliche Leben mit seiner feinen Berufsgliederung [...] vom Pietismus als Gottes Ordnung hingenommen« worden sei: Daher »darf keiner seinen Beruf aufgeben, um vielleicht in aller Stille ein zurückgezogenes Leben zu führen.« So gehöre selbst »eine Rationalisierung der Arbeit im stärksten Grad« zu den Forderungen Speners an seine Gemeinde.62 In einer ausführlichen Untersuchung über die Rezeption mystischen Gedankenguts im protestantischen Separatismus des 17. und 18. Jahrhunderts hob auch Ernst Benz deren »bewußte[/] Abweichung von dem altkirchlichen Einsiedlerideal« hervor, das sich nicht mehr durch eine Flucht in die äußere Wüste den Verpflichtungen gegenüber dem Nächsten zu entziehen trachtet, sondern das sich seinen Ort der Zuflucht, der Sammlung, der Betrachtung und des Gebets mitten in der Weh und mitten im Leben der menschlichen Gesellschaft gründet63 60 61 62
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Betrachtungen, S. 75£ (Hervorhebung im Original.) Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 22 If. Hans Leube: Die Sozialideen des kirchlichen Pietismus. [1928] In: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien von Hans Leube. Mit einem Geleitwort von M. Schmidt und einer Bibliographie hg. von Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 13). S. 129-152, hier S. 145f., 148. Vgl. dz. auch Gerhart von Graeverütz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit Ernst Benz: Die protestantische Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika. Wiesbaden 1963 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse; Jahrgang 1963, Nr. 1). S. 68. Gleichwohl sei dann »in der pietistischen Erneuerungsbewegung des endenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts« das Moment der Abkehr von der Welt und der Gesellschaft erneut in den Vordergrund getreten (S. 74). In diesem Sinne verfolgt Martin Brecht Geselligkeitskonzepte des frühen Pietismus im Anschluß an Hartmut Lehmann unter den Stichworten »Absonderung« und »Gemeinschaft« und schließt sich der Auffassung an, »daß dem Pietismus zumeist die Tendenz zu einer eigenen Gemeinschaftsform eigne, wodurch er sich zugleich von der großen Gesellschaft distanziere«: Pietismus als alternative Geselligkeit In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil I, S. 261-273, hier S. 261. Vgl. auch Hartmut Lehmann: »Absonderung« und »Gemeinschaft« im frühen Pietismus. Allgemeinhistorische und sozialpsychologische Überlegungen zur Entstehung und Ent-
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Gegen Ende der Betrachtungen fällt Zimmermann gar in den Tonfall eines Gebetes, an das er ein religiöses Bekenntnis anschließt: Allerheiligste Religion, du bist mein höchstes Gut! Allerheiligste Religion, dir ist mein Hetz geweyht! Allerheiligste Religion, ich glühe mit der reinsten Zuversicht, in deine so deutlich empfundene göttliche Kraft! Allerheiligste Religion, du kanst mich bewahren in den Wüsten von Africa, du kanst mich bewahren an Laplands gefromen Ufern, bey dem Gebrülle des Löwen, und des Tygers, bey den stürmischen Bewegungen der Wallfische [!], und dem fürchterlichen Geschrey der Hippotamen. Du bewahrst mich täglich, von dem, was schrecklicher ist, von den drohenden Nachstellungen, von den immerwährenden Fallstricken des Neides, der der größte Feind von aussen ist, den ich kenne; du setzest mich sicher vor der Tyrannic [!] hobbesischer Menschen, die mächtiger, als ich, sind, die mich an Verstand, die mich an Witz, die mich an Einsicht, aber nicht an der Grosse des Herzens übertreffen.64
Die Bemerkung über die »Tyrannie hobbesischer Menschen, die mächtiger, als ich, sind« und vor denen der Verfasser Schutz in der Religion sucht, dürfte Wolf Lepenies bewegen haben, einen ähnlichen Interpretationsansatz zu wählen, wie er zuvor bereits von Ernst Bloch an den Zimmermann-Text herangetragen worden war.63 Anders als Bloch bezieht sich Lepenies ausdrücklich auf die vierbändige Fassung von 1784/85, scheint den vorherigen Versionen allerdings keinerlei Beachtung geschenkt zu haben: Wenn das Motiv einsamer religiöser Einkehr und Besinnung jedoch auch in den nicht mehr in der Schweiz, sondern bereits in der Funktion eines königlich-großbritannischen Leibarztes in Hannover verfaßten Schriften zurücktritt, so kann gleichwohl von einer Ersetzung religiöser durch »profane Einsamkeit«66 bei Zimmermann nicht die Rede sein. Dieser macht zwar nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit Obereit deutlich, daß für ihn der angemessene »Ort der Einsamkeit nicht länger das Kloster, sondern die Kleinstadt«67 ist, doch erscheint dies weniger - wie Lepenies nahelegt - als Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses. Vielmehr handelt es sich um eine Konsequenz der Einsichten Zimmermanns in die persönlichen und sozialen Folgen einer religiös begründeten Lossage »von allen Pflichten der Geselligkeit«68, in der sich aus seiner Sicht »[ajlle Einsamkeitsschwärmer in allen Religionen« gleichen:
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wicklung des Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 4 (1977/78). S. 54-82, insbes. S. 67ff. Dagegen nimmt Irina Modrow im Bezug auf eine These Thomas Nipperdeys eine Differenzierung zwischen verschiedenen Gesellungsformen des Pietismus vor, die sie auf diese Weise in dem Feld zwischen frühbürgerlichem Vereinswesen und religiösem Sektentum verortet: Die sozialreligiösen Gruppenbildungen des Frühpietismus - eine Variante von Vorformen des modernen Assoziationswesens? In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil I, S. 309-320. Vgl. dz. zuletzt auch Wolfgang Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. l, S. 175ff. Betrachtungen, S. 98f. Vgl. Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1972 (stw 63). S. 86ff.
Ebd., S. 87. Ebd. Vgl. jedoch auch die pejorativen Kennzeichungen kleinstädtischen Lebens durch Zimmermann (s. u., S. 343). UdE,LS.259.
208 Alle machen sich die Einsamkeit lästig, und alle suchen dadurch Seligkeit im Himmel, Vereinbarung mit Gott, und Anbetung auf Erden. Alle drehen sich um einen gemeinsamen Thorheitspunkt*9
Doch Zimmermann unterscheidet sorgfältig zwischen »Religion und Schwärmerey«: Jene führet uns in Stille aus den edelsten und erhabensten Beweggründen, der tiefsten Ueberzeugung des Verstandes, und dem wahrhaftesten und innigsten Herzensbedürfhiß. Diese ist Ausartung jener hohen Beweggründe aus Schiefsinn, verkehrtem Eifer, Aberglauben und Thorheit™
Diese Unterscheidung eröffiiet die Möglichkeit, die Motive religiöser Weltabkehr selbst in dem von ihm ausgiebig mit Polemik bedachten Klosterleben anzuerkennen, ohne sie zu einem allgemein gültigen Vorbild zu erklären: Darum giebt Mönchen und Nonnen diese Sinnesart, die nicht allgemeine Religion seyn soll, und auch nicht meine Religion ist, doch zuweilen eine Hoheit des Herzens und der Gesinnungen, vor der ich oft in der Stille meiner Kammer mit Beschähmung, Wehmuth und Thränen niederfalle.71
Daß religiöse Einkehr neben dem gelehrten Studium sowie dem häuslich-intimen Umgang weiterhin einen wesentlichen Aspekt der Einsamkeitskonzeption darstellt, den Zimmermann in deren Spätfassung ergänzt, keineswegs jedoch ersetzt,72 macht er schließlich gegen Ende des 11. Kapitels im vierten Band von 1785 deutlich, in dem es um die Vorteile der Einsamkeit für das Herz geht: Einem Menschen, der sich gewöhnt hat seinen Geist in der Stille zu sammeln, sind die Stunden die er Gott in der Einsamkeit weiht, die schönsten Stunden seines Lebens. So wie jede Vorbereitung zum heiligen Abendmal, eine Uebersicht des Lebens seyn soll, eine Prüfung unsers Wandels, ein neuer Reitz und ein fester Entschluß nach dem Willen Gottes zu leben, so wird jede einsame Erhebung des Herzens zu Gott eine Auffoderung zu genauem und unzerstreuten Blicken in uns selbst [.'..] Jede gute That bringt unstreitig Ruhe ins Herz; aber ist diese Ruhe immer rein? Ist sie nicht etwa nur Befriedigung weltlicher Absichten, oder flüchtiger Enthusiasmus, oder Selbstliebe eher als Liebe des Nächsten? Solche Erforschungen unserer Sinnesart, unserer Handlungen, und unserer Wege, machen wir gewiß weit besser, wenn wir uns ruhige und abgesonderte Zeit dazu nehmen, uns zur Prüfung dieser grossen Wahrheiten einsame Stunden wählen, wo wir alleine sind vor Gott71
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Ebd., L S. 352. Ebd., I, S. 116. Susanne Knoche hat jüngst gezeigt, in welcher Weise Zimmermanns Ueber die Einsamkeit die Schwännerkritik Karl Philipp Moritz' beeinflußt hat: Vgl. Der Publizist Karl Philipp Moritz. Eine intertextuelle Studie über die Vossische Zeitung und die Denkwürdigkeiten. Frankfurt/M. u. a. 1999 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 52). S. 256ff. Zu Moritz' Zimmermann-Rezension s. auch u., Anm. 297. UdE,LS. 117f. Auch diese ergänzenden Aspekte waren gleichwohl keineswegs neu, sondern finden sich bereits in der Fassung von 1756, in der sie jedoch offensichtlich noch von nachgeordneter Bedeutung sind. UdE, IV, S. 288ff.
209 Religiöse Besinnung und Selbstreflexion unterscheiden sich von der alltäglichen Geselligkeit durch die strikt moralischen Beurteilungsmaßstäbe, denen sie das gesellschaftliche Handeln des Menschen unterwerfen. Genügt im weltlichen Verkehr die gute Wirkung einer Tat, um »Ruhe« im »Herz[en]Salomon-GeßnerProblems< vorschlug.97 Zugleich weist er in eine ähnliche Richtung, wie sie im folgenden für die Interpretation des Einsamkeitskonzepts Zimmermanns eingeschlagen werden soll: Glückseligkeitsstreben und Autonomiepostulat betrachtet Mauser als die grundlegenden Faktoren eines Spannungsverhältnisses, das den Menschen des 18. Jahrhunderts insofern präge, als es ihn einerseits zur disziplinierten Integration in versachlichte Handlungszusammenhänge im Interesse der Beförderung materieller Wohlfahrt anhalte. Andererseits gelte es jedoch, den subjektiven Autonomieanspruch auch gegenüber diesen Zusammenhängen zu behaupten. Melancholie lasse sich dann auch als das Phänomen einer nicht bzw. nicht vollständig geglückten Auflösung dieses Spannungsverhältnisses verstehen.98 91 92 93
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Johann Georg Zimmermann vom Nationalstolze, 41768, S. 319. UdE,IILS. 121. S. u., S. 265. Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing Yearbook XIII (1981). S. 253-277, Zitat S. 266. Ebd., S. 267. Ebd., S. 268. S. o., S. 138. Vgl. aber auch die abschließende Warnung Mausers vor der einseitigen Annahme seines Erklärungsansatzes: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik, S. 274.
214 Bezieht man in diese Überlegungen ein, daß die Behauptung der Autonomie des >ganzen Menschen< keineswegs solipsistisch konzipiert war, sondern dessen natürliche Neigung zur Geselligkeit einschloß, so zeigt das von Mauser in diesem Zusammenhang hervorgehobene Modell der bürgerlichen Kleinfamilie, daß der Ausgleich der melancholieträchtigen Spannung die Vermittlung unterschiedlichen Formen von Geselligkeit implizierte: Die fortschreitende Trennung von Beruf und Familie [...] wirkte sich nachhaltig aus. Während im Beruf nach Grundsätzen des Zweckrationalismus aktive Arbeit geleistet wurde, wurde der Bereich der Familie in zunehmendem Maße der Ort, wo Emotionen gepflegt werden konnten, wo man sich gesichert fühlen konnte, wo Muße möglich war, wo die Besinnung des Menschen auf seine Bestimmung erfolgen konnte.99 In bezug auf Zimmermann hatte Hans-Jürgen Schings bereits in den siebziger Jahren gegen den »Systemzwang«100 Lepenies' hervorgehoben, daß dessen Einsamkeitsschriften trotz der Bedeutung, die in ihnen der »gemäßigtefn] Einsamkeit«101 und der »vemünftige[n] Entfernung von der Welt«102 zugesprochen wird, »mit Eskapismus wenig zu tun«103 haben: Der »Rückzug in die Einsamkeit« werde bei Zimmermann »illegitim«, sobald er »den Rückweg in die Gesellschaft ausschließt«.104 In diesem Sinne repräsentiere »der philosophische Arzt den moralisch fundierten Reformismus der gemäßigten deutschen Aufklärung«103 und sei für den Prozeß einer >Nobilitierung< der Melancholie am Ausgang des 18. Jahrhunderts schwerlich in Anspruch zu nehmen.106 Was Schings im Bezug auf die Melancholiediskussion feststellt, gilt gleichermaßen von Zimmermanns Festhalten an dem Grundsatz der Geselligkeit. Denn nicht nur die Ursachen für die Entstehung und Beförderung eines melan99 100 101 102
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Ebd., S. 271. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 223. Betrachtungen, S. 28. Ebd., S. 75. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 222. Ebd. Ebd. Die im folgenden hervorzuhebende Komplementarität von Einsamkeit und Geselligkeit bei Zimmermann betonte zuletzt auch Martina Wagner-Egelhaaf: »Einsamkeit hat eine Funktion im Hinblick auf die Geselligkeit, und Geselligkeit erfüllt einen Zweck für die Einsamkeit« Unheilbare Phantasie und heillose Vernunft Johann Georg Zimmermann, Ober die Einsamkeit (1784/85). In: Einsamkeit Archäologie der literarischen Kommunikation VI. Hg. von Aleida und Jan Assmann. München 2000. S. 265-279, hier S. 268. Keineswegs entsteht auf dieser Grundlage jedoch eine »Kippfigur von Einsamkeit und Geselligkeit« und damit ein Bild des Menschen »als zutiefst sich selbst entzweites Wesen« (ebd., S. 268f.) Als Konzeption der >Selbstentzweiung< erschien das Werk Zimmermanns bereits seinem Kontrahenten Obereit, der ihm gegenüber daher an einem ganzheitlichen anthropologischen Standpunkt festzuhalten beanspruchte (s. dz. den folgenden Abschnitt). Diese Perspektive ergibt sich jedoch lediglich auf der Grundlage, daß die systematischen Differenzierungen der frühneuzeitlichen Naturrechtsund Gesellschaftsethikkonzeptionen, denen Zimmermann unter den Bedingungen fortschreitender sozialer Differenzierung Rechnung zu tragen beabsichtigt, als einem ursprünglich-harmonischen »Wesen« des Menschen widersprechend betrachtet werden. Statt einer latent selbstwidersprüchlichen »Kippfigur« legte Zimmermann jedoch vielmehr eine - wenn auch nicht streng systematische - sozialanthropologische Konzeption vor, die auf idealisierende Harmonisierungen sowohl der anthropologischen als auch der sozialen Realität verzichtete.
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cholischen Temperaments, die abseits der Gesellschaft auf einen besonders fruchtbaren Boden fallen, beschäftigen den an Phänomenen der Psychosomatik besonders interessierten Mediziner.107 Auch den Folgen melancholischer Weltabkehr und Misanthropic, wie sie - aus seiner Sicht - in den Klöstern gedeihen und dort zudem noch vom Bewußtsein der eigenen Gottgefälligkeit unterstützt werden, geht er nach. Und diese Folgen beschränken sich keineswegs auf das persönliche Seelenheil der melancholisch Einsamen. Vielmehr drohen diese die gesellige Ordnung nicht allein theoretisch und durch ein falsches Vorbild, sondern auch handgreiflich und praktisch zu untergraben. Deshalb widmet Zimmermann den gesellschaftsgefährdenden und umstürzlerischen Umtrieben, die in den Klausen der Einsiedler und den Klöstern ihren Ausgang nahmen, ausgiebige historische und biographische Betrachtungen.108 Der >schwarzgallichte< melancholische Einsame und der religiöse Schwärmer bilden eine unheilvolle Allianz, die aus Misanthropic und falsch verstandenen religiösen Pflichten eine gesellschaftliche Ordnung untergräbt, die auf der Pflicht des Menschen zur Geselligkeit gründet.109 Daraus erklärt sich zugleich der scharfe, polemische und vor persönlichen Beleidigungen nicht zurückschreckende Ton der Auseinandersetzung Zimmermanns mit Jacob Hermann Obereit, den er gewissermaßen als einen Wiedergänger neuplatonisch-mystischer Religiosität versteht, weshalb die »Konfrontation [...] alles andere als eine private Episode«110 darstellt. Die neuere Zimmermann-Forschung hat die Einschätzung Sellings' weitgehend bestätigt, dabei jedoch betont, daß Zimmermann als einer der »führenden antimelancholischen Denker[/] der deutschen Aufklärung«111 über eine unübersehbare eigene »Affinität zum melancholischen Formenkreis«112 verfügte. Thomas Rütten greift als Beleg für diese Affinität auf Briefäußerungen ebenso zurück wie auf ein nachgelassenes Gedicht des neunzehnjährigen Zimmermann und die Fragment gebliebene Schrift Von der Diät für die Seele, die als Bestandteil des unvollendeten dritten Teiles der popularisierend-medizinischen Schrift Von der Erfahrung in der Armeykttnst (1763/64) konzipiert war und erst unlängst he107
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Zu Zimmermanns »Interesse an Krankheitsfällen, die nach heutigem Verständnis ins Gebiet der psychosomalischen Leiden gehören« vgl. Urs Böschung: Von »... dem ersten Schritte, den ich ab Arzt in die Weh that...«, insbes. S. 39. Vgl. insbes. UdE, I, S. 139ff.; II, S. 103ff., 249ff. Zum Zusammenhang medizinischer, religiöser und ästhetischer Gesichtspunkte des frühneuzeitlichen Melancholieverständnisses vgl. auch Gunter Schmilz: Das Melancholieproblem in Wissenschaft und Kunst der frühen Neuzeit In: Sudhoffs Archiv 60 (1976). S. 135-162. Zur Differenzierung der frühaufklärerischen Theorie der Melancholie im Schnittpunkt von Medizin und Morahheologie vgl. Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Fruhaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur Deutschen Literatur 119).S.340ff. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 223. Ebd. Thomas Rütten: Johann Georg Zimmermann im Zeichen der Melancholie. In: Johann Georg Zimmermann, königlich großbritannischer Leibarzt (1728-1795), S. 155-168, hier S. 165.
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rausgegeben wurde.113 All diese Belege weisen die »antimelancholische Rhetorik« von Ueber die Einsamkeit aus als einen »hilflos-verzweifeltefn] Abwehrgestus vor der eigenen bedrohlichen Disposition zur Melancholie.«114 Diesem Befund ist auch insofern zuzustimmen, als Zimmermann selbst in seiner großen Einsamkeitsschrift kaum einen Hehl aus seiner eigenen Disposition macht und das Verfassen der Schrift einleitend als einen Akt der Selbsttherapie vorstellt: Dieses Buch über die Einsamkeit sollte in meinen TrObsalen Muth bey mir anfachen, mich wegreissen von Allem was ich sah und dachte, mich in fremde Länder versetzen, Bilder aus entferntesten Jahrhunderten in mir hervorrufen, vielleicht auch meine Seele hie und da befreyen von einem drückenden Gedanken.115
Zimmermann hatte zur Zeit der Niederschrift von Ueber die Einsamkeit allen Grund zu melancholischer Traurigkeit, war ihm doch kurz zuvor das gegen drohende misanthropische Melancholie empfohlene Mittel eines liebreich-vertrauten häuslichen Umgangs verlorengegangen: Bereits 1770 war seine Frau verstorben; sein einziger Sohn, Jakob Zimmermann, verfiel 1777 einer vom Vater selbst als unheilbar eingeschätzten »Affektstörung«, die Zimmermann als »mania periodica« bezeichnete, was Rolf Hartwig 1948 als »[mjanisch-depressives Irresein« übersetzte.116 1781 erlag schließlich seine Tochter einer Lungentuberkulose, gegen die Zimmermanns eigene medizinische Kunst machtlos war. Der Tod der Tochter bildete schließlich auch den unmittelbaren Anlaß für die als Selbsttherapie geplante Wiederaufnahme der Arbeit am Einsamkeitsthema.117
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Vgl. Johann Georg Zimmermann: Von der Diät für die Seele. Hg. von Udo Benzenhöfer und Gisela vom Bruch. Hannover 1995. Thomas Rotten: Johann Georg Zimmermann im Zeichen der Melancholie, S. 167f. Bereits 1948 kam Rolf Hartwig in seiner medizinischen Dissertation über Die hypochondrisch-depressive Grundstimmung im Leben und in den Werken des Arztes und Popularphilosophen Johann Georg Zimmermann (1728-1795) (Diss. med. Gera 1948) zu dem Befund einer »konstitutionelle^] Depression (Dysthymie) [...], die mit einer ungeheueren Schwere auf der Persönlichkeit ZlMMERMANNs lastete und sich mit einer trüben Beurteilung der Zukunft, Hemmung und Insuffizienzgefühl mit nur wenigen Ausgleichungen als Dauerform durch sein ganzes Leben zog. Dieser dysthyme Dauerzustand ZlMMERMANNs hat sich aber nicht auf gleichbleibender Höhe gehalten, sondern wurde durch das Auftreten von Melancholien im Laufe des Lebens noch starker verdunkelt« (S. 48f.) Bereits die Zeitgenossen Zimmermanns, wenigstens das ärztliche Fachpublikum, nahm regen Anteil nicht allein am körperlichen, sondern auch am Geistes- und Gemütszustand des Leibarztes: Vgl. etwa Beschreibung der Krankheit des Herrn Leibarzt Zimmermann, und der dabey glücklich angewandten Operation und Cur von Herrn Professor Meckel. Aus dem Lateinischen von E. G. Baidinger. Berlin und Stettin 1772. Diese Übersetzung des ursprünglich in gelehrtem Latein lediglich für ein Fachpublikum geschriebenen Textes erschien sowohl für die nicht lateinkundigen Wundärzte als auch ausdrücklich »für eine ansehnliche Zahl der Freunde und Verehrer des Herrn Leibarztes Zimmermann selbst, denen diese Nachrichten interessant seyn möchten« (»An die Leser«, Bl. 3"). UdE, I, S. XIII. Rolf Hartwig: Die hypochondrisch-depressive Grundstimmung im Leben und in den Werken des Arztes und Popularphilosophen Johann Georg Zimmermann (1728-1795), S. 48. Vgl. Ebd., S. 30ff.
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3.2 Die >Einsamkeitsdebattehöheren Aufklärung< hervor, der sich mit zeitgenössischen literarischen Konzeptionen etwa der Moralischen Wochenschriften vergleichen lasse: Christliche Moral und civiles Ethos. Mosheims Sitten=Lehre der Heiligen Schriffl. In: Ebd., S. 347-372. [Anon.:] [Rez.: Ueber die Einsamkeit] In: Leipziger Gelehrte Zeitungen. Drey und sechzigstes Stück. Donnerstags, den 5. August 1785. S. 509-512, hier S. 510.
224 Man nähret in der Stille seinen Geist, damit er wirksam werde für die Welt, und tritt von den Weltgeschäften in die Stille zurück, damit er ausruhe und wieder zu neuem Kampfe sich rüste.150 Auch Obereit hält an dem Grundsatz der Geselligkeit fest. Zu Beginn der Einsamkeit der Weltüberwinder bestätigt er Zimmermanns Version zweier komplementär wirkender Triebe, radikalisiert sie in gewisser Weise gar noch, indem er den vermeintlichen Trieb zur Einsamkeit als Variation desjenigen zur Geselligkeit faßt: Allein wie wäre es, wenn der Trieb zur Einsamkeit und zur Geselligkeit gar Eins oder einerley, und nur in seiner Aeußerung von verschiedener Gestalt wäre? [...] Nicht wahr, wenn alle Menschen wären, wie sie seyn sollten: so wäre Geselligkeit überall vollkommen vergnügend; die sogenannte Einsamkeit würde am wenigsten nöthig seyn, und sie zu verlangen und zu brauchen, wäre am wenigsten Grund vorhanden? Der Trieb zur Geselligkeit treibt freylich Menschen zu Menschen; doch wo er sich nicht vergnügen kann unter ihnen: so treibt eben derselbe davon weg zu blossen Geistes=GeselIschaften, oder zur Natur außer uns; wenigstens zum Versuch, sich mit sich selbst allein zu vergnügen in verschiedenen Kräften, Beobachtungen und Arbeiten.131 Der ungenannt bleibende Herausgeber152 weist kurz darauf in einer Anmerkung daraufhin, daß dieses Streben »zu bloßen Geistes=Gesellschaften« seine Berechtigung habe, »[w]enn keine nothwendige [!] Pflichten dagegen streiten«: Es ist hier aber blos von der Gesellschaft des Vergnügens die Rede, und da ist klar, daß, wenn jemand seine freie Zeit der Geselligkeit nicht auf die Art widmen kann, daß er den wesentlichen Bedürfhissen seines Geistes und Herzens dadurch eine würdige Nahrung verschafft, er das Recht habe, darauf Verzicht zu thun.133 Mit der Unterscheidung zwischen einer gesellschaftlichen Pflicht zur Geselligkeit einerseits und einem Recht auf Einsamkeit unter der Voraussetzung der Erfüllung dieser Pflicht andererseits scheint Obereit sich vollständig in den Bahnen einer differenzierten Rezeption des naturrechtlichen Geselligkeitsgrundsatzes zu bewegen. Auch seine Position weiß sich offenbar ebenso den materiellen Bedürfnissen und sozialen Pflichten wie auch den >Bedürfhissen des Herzens< verpflichtet. Ober diesen Grundsatz, der auch der Konzeption Zimmermanns zugrundeliegt, geht er im folgenden allerdings insofern hinaus, als er an der Möglichkeit religiöser Ausnahmenaturen festhält. Ihm geht es um die Existenz einer religiösen und moralischen Elite, der eine auf wechselseitigem Eigennutz grün130 131
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UdE, , S. 485f. Die Einsamkeit der Weltüberwinder, S. 5f. Daß nicht alle Menschen sind, »wie sie seyn sollten«, stellt für Zimmermann keine Rechtfertigung der Einsamkeit dar. Vielmehr komme es in Gesellschaft darauf an, die Menschen zu ertragen, wie sie sind, und trotz ihrer zugestandenen Schwächen nicht auf gesellschaftliches Handeln zu verzichten (s. dz. u., S. 240f). Werner Milch identifiziert den »Konrektor[/] Kleuker in Lemgo« als Herausgeber: Die Einsamkeit, S. 125. Von diesem ist bereits bei I. Minor die Rede, der den Wohnort jedoch mit Osnabrück angibt: Vgl. Einleitung, S. 342. Auch Zimmermann selbst hatte Kleuker als Herausgeber namhaft gemacht: Vgl. UdE, III, S. 25. Vgl. dz. außerdem Frank Aschoff: Der theologische Weg Johann Friedrich Kleukers (1749-1827). Frankfurt/M. u. a. 1990 (Europäische Hochschulschriften. Reihe : Theologie 436). S. llOff. Die Einsamkeit der Weltüberwinder, S. 8, Anm.
225 dende menschliche Gesellschaft nicht genügen kann und der daher ein Recht auf eine nicht nur zeitweise, sondern dauerhafte Entfernung von dieser zuzusprechen sei. Ein solches »Naturrecht« behauptet er bereits in seinem Schreiben vom 12. März 1775: Nur ein bischen von den Anachoreten zu gedenken, so hat der, der nichts von ändern bedarf; und sich in solchem Stande erhalten kann, allerdings schon das Naturrecht, alleine zu bleiben; kann er sich ganz redlich mit dem Geiste an Gott, mit dem Leibe an naturam paucis contentam halten, so kann er das Recht der natürlichen Unabhängigkeit mit augenscheinlich gutem Grunde völlig gebrauchen; bedürfen andre seiner, so mögen sie zu ihm kommen [.. .].154
Unter Berufung auf »das Naturrecht« ist Obereit darum bemüht, die in dessen Rahmen gewöhnlich begründete Pflicht zur Geselligkeit durch ein - wenn auch nur in Ausnahmefällen anzuwendendes - Recht auf Einsamkeit zu begrenzen. Zimmermann hatte in der Grundlegung seiner Abhandlung die Verpflichtung des Menschen zur Geselligkeit anthropologisch begründet und dabei den Differenzierungen der Begründung des profanen Naturrechts Rechnung getragen. Dabei hatte er jedoch auf Belege aus der naturrechtlichen und gesellschaftsethischen Literatur verzichtet: Nicht nur unzählige Bedürfhisse, sondern ein natürlicher und angebohmer Vereinigungstrieb knüpfen die Bande der Gesellschaft, und bestimmen uns wahrlich nicht zur Einsamkeit Gesellschaft ist des Menschen erste Nothdurft.1"
Zimmermanns Unterscheidung zwischen dem »Vereinigungstrieb« und der »unzählige[n] Bedürfnisse[n]« geschuldeten »Nothdurft« weist seine Ausführungen Ueber die Einsamkeit als popularphilosophische Aneignung jener naturrechtlichen Systematik aus, in der zwar weiterhin von sympathetischen Neigungen des natürlichen Menschen ausgegangen wurde, die gesellschaftlichen Pflichten (wenigestens die vollkommenen Pflichten) jedoch aus seiner Bedürfhisnatur abgeleitet wurden. In diesem Sinne begründet auch Zimmermann die Pflicht zur Geselligkeit mit der Notwendigkeit, zur materiellen Wohlfahrt der Gesellschaft beizutragen. Dagegen bestimmen die sympathetischen Neigungen die sozialen Strukturen der von ihm geschätzten >geselligen Einsamkeit^ Ihnen kommt mithin keine gesellschaftsbegründende Funktion zu. Den einschlägigen naturrecht-
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Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens, S. 118f. Eine entsprechende These dürfte Obereit Moses Mendelssohn bereits zu Beginn des Jahres 1779 brieflich unterbreitet haben. Jedenfalls antwortet ihm dieser in einem Schreiben vom 13. 3. 1770 auf die Frage, »[o]b es wohlgethan sei, daß so mancher rechtschaffene Patriot die stillen Schatten seines Hauses den öffentlichen Marktplätzen vorzieht«, mit dem Hinweis, daß dies lediglich in Ausnahmefallen zuzugestehen sei: »Mich dünkt: nicht anders, als wenn man moralisch versichert ist, im Stillen das meiste Gute wirken zu können. Sonst hat Reden sowohl als Schweigen seine Zeit, wie der Weise spricht Wenn die Redlichgesinnten immer den Mund verschließen, so kommt das große Wort an feile Demagogen, die es zum Verderben mißbrauchen.« Mendelssohn an Obereit vom 13.3. 1770. In: MGS, XU/1, S. 214-217, Wer S. 216. Für Mendelssohn genügt es also offenbar nicht zu warten, bis man von den Hilfsbedürftigen aufgesucht wird, sondern die »Redlichgesinnten« müssen den »Demagogen« auch von sich aus entgegentreten. UdE,I,S.20.
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liehen Hintergrund seiner Argumentation meinte Zimmermann offenbar als allgemein bekannt und selbstverständlich voraussetzen zu dürfen."6 Mit der Unterscheidung zwischen natürlichen Neigungen und Bedürfhissen, die den Menschen gleichermaßen zu einem gesellschaftlichen Zustand disponieren, ist offenbar auch Obereit vertraut. Und wie das angeführte Argument zeigt, versteht er es, diese naturrechtliche Unterscheidung für seine eigenen Zwecke zu nutzen: Gibt es Menschen, deren Neigungen nicht in die Gesellschaft drängen, und sind diese Menschen in der Lage, ihre natürlichen Bedürfnisse auf ein Maß herabzumindern, das sie auch ohne die Unterstützung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs zu befriedigen vermögen, so kann die anthropologische Begründung des Geselligkeitsgrundsatzes für ihren besonderen Fall keine Geltung beanspruchen.137 Obereit bestreitet keineswegs, daß es sich hierbei nicht um die allgemeine Natur des Menschen handelt, sondern um Ausnahmeexistenzen. Deren Recht auf ein Leben abseits des gesellschaftlichen Zusammenschlusses rechtfertigt er, ohne dem Geselligkeitsprinzip damit die allgemeine normative Geltung abzusprechen, die es für die menschlichen >Normalnaturen< besitzt, und ohne »Weltüberwindung [... ] für die größte Tugend«138 erklären zu wollen. Zimmennanns Fehlschluß - und damit kommt Obereit zum Kern seiner Argumentation - sei ein grundsätzlicher: Als ein Vertreter der »Vernunft=Platzhalter« messe er diese Ausnahmenaturen mit den Kategorien der »Mittelmäßigkeit, die sich ganz in ihre Welt, in ihren nach sich selbst abgemessenen Schlußzirkel, wie aristotelis Moralmuster schickt; ausserdem ist bey ihnen kein Tag und kein Heil«.139 Obereits »Idealzweck« zielt daher nicht auf die eine oder andere historische oder biographische Korrektur der Darstellung Zimmermanns, sondern grundsätzlich auf den Standpunkt, von dem aus diese Darstellung vorgenommen wird: Diese zur Einsamkeit natürlich geschickten Menschen in aller Welt sind bestimmt, der Gesellschaft und ihren Geschäften und Annehmlichkeiten zum Theil, oder auch gänzlich, auf einige Zeh zu entsagen, [...] Sie sind schon von Natur geneigt, sich über das gemeine Leben der Menschen zu erheben. [...] Daher die unaufhaltbare Erhebung über die gemeine, niemals aber über die ganze Natur des Menschen. Die gemeine Natur der gesellschaftlichen Menschen ist bey weitem noch nicht die ganze Natur des Menschen, wie die kurzsichtigen Geselligkeitsweisen meynen.160
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Die Besprechung im Anzeiger des Teutschen Merkur sah den Zweck von Zimmennanns Werk dann auch weniger darin, »die Wahrheit zu finden, als längst gefundene und heutzutag ziemlich allgemein bekannte Wahrheiten mit jenem Nachdrucke vorzutragen, der mehr als gleichgültige Oberzeugung wirken soll.« Anzeiger des Teutschen Merkur, August 1784, S. CXVI. Die Argumentation Obereits trägt gleichwohl nur unter der Voraussetzung, daß Pufendorfs anthropologische Grundannahme der imbecillitas als empirische Annahme mißverstanden wird. Das Ideal der Bedürfnislosigkeit verweist ebenso auf das unmittelbar angesprochene Prinzip religiöser Askese wie auch auf Rousseaus Konzeption eines idealen Naturzustandes, der durch unangemessene Steigerung der materiellen Bedürfhisse zerstört worden sei (s. o., S. 182). Supplike an Philosophische Damen, S. 20. Verfheidigung des Mystik und des Einsiedlerlebens, S. 92. Die Einsamkeit der Weftüberwinder, S. 73ff.
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Die Konsequenzen, die hieraus für die Beurteilung dieser Menschen folgen, formuliert der Herausgeber Kleuker in zwei Anmerkungen: Der Mensch ist freilich zum Thun, aber nicht blos im Gewirr dieses Schauplatzes: er hat auch Sorgen für die Ewigkeit Auch kann es gewisse besondere göttliche Bestimmungen geben, die freilich in den gewöhnlichen politischen und moralischen Calcül nicht passen, aber in der göttlichen Oekonomie einen Platz finden, die größer als die unsrige ist [...] [/] [...] Die ganze Entwicklung und Bestimmung der besten menschlichen Natur muß nicht nach der gemeinen Politik, Psychologie und dem crassen Naturrechte gemessen werden, sondern nach der ganzen reinen und ins Unendliche sich ausdehnenden Anlage derselben.161
Die Beurteilung des Menschen als eines »Gesellige[n] des Himmels«1" hat nach anderen Maßstäben zu erfolgen als denjenigen einer zergliedernden Vernunft, durch die »alles aus dem tiefsten Ordnungs=Zusammenhange herausgerissen« und »vor lauter ewiger Zerstreuung und Zertheilung [...] in unzählige Gegenstände«163 einem angemessenen Verständnis entzogen werde. Statt dessen kann den Menschen »das lautere Gewissensgefühl vor Gott allein unendlich besser und mehr lehren als alle Kraft, Vernunft und Gelehrsamkeit, wie weit er es möchte gebracht, oder noch zu bringen haben, um vor Gott und dem Richterstuhl Christi recht und aufs beste als möglich in göttlicher Lauterkeit, in der Kraft Christi selber zu bestehen«164, denn: Christus hat freylich die ganze Religion überall zur Hauptsache des Herzens und der redlichen Einfalt vor Gott gemacht Die Weltweisen machen sie aber mit aller Gewalt zur Hauptsache des Kopfes, des Wissens, und ihrer gekünstelten und Vielfältigkeit liebenden Vernunft, die nichts weniger als die göttliche gerade Einfalt liebet169
Vollends zu kurz greifen müsse in diesem Zusammenhang jener »medicinische[/j Gesichtspunkt«166, von dem aus Zimmermann seine Urteile über den vermeintlich pathologischen Gemütszustand der christlichen >Weltüberwinder< fälle und der ihn lediglich zu einem »lebhaft historische[n] und physisch=mechanische[n] Hogarth«167 werden lasse. In der Tat zeichnet sich Zimmermanns Blick auf die Eremiten- und Anachoretenbiographien durch einen medizinisch-pathologischen Zugang aus, dessen terminologische Konsequenzen er im ersten Band von Ueber die Einsamkeit einleitend zu rechtfertigen versucht: Ein Arzt denkt aber auch nichts Arges, bey manchem Worte, das kein anderer Mensch in guter Gesellschaft ausspricht Manches muß man darum dem Arzte verzeihen, der gewohnt ist, den Menschen von allen Seiten auszuspähen, Alles zu Hülfe zu nehmen was jede Fähe seiner Natur entwickelt, nichts vorbeyzugehen von dem was die Seele mit dem Körper gemein hat, und was dieser in die Seele wirket [...] Manche Erzählung mußte ich wagen, die das feine moralische Gepräge der guten Conversationssprache nicht hat Aber ich mußte entweder meine Materie 161 162
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Ebd., S. 73, Anm. u. 75f., Anm. Ebd., S. 77. Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens, S. 60,63. Ebd., S. 45. Die Einsamkeit der Weltüberwinder, S. 152. Supplike an Philosophische Damen, S. 53. Ebd., S. 19.
228 gar nicht abhandeln, oder doch sehr oft Dinge sagen, die man unter weiblichen Augen nur lateinisch denkt168 Medizinische Fachkommunikation läßt sich als Folge eines Differenzierungsschrittes verstehen, der diese von der üblichen »Conversationssprache« unterscheidet und Maßstäben unterwirft, die denjenigen anderer kommunikativer Situationen nicht entsprechen. Insbesondere die - wenn auch nur temporäre Abkopplung medizinischer Kommunikation von den Kriterien, die Moral und Sittlichkeit an den zwischenmenschlichen Umgang knüpfen, bildet die Voraussetzung für eine effiziente Diagnose- und Therapiepraxis.169 Es handelt sich um eine Reduktion von Komplexität durch die gezielte Beschränkung des Blickfeldes, in deren Folge nurmehr wahrgenommen und ins Kalkül gezogen wird, was dem physiologischen, psychophysischen oder pathologischen Interesse entspricht. Aus dem Blick gerät dabei die Komplexität des moralischen Charakters einer Person, dessen Beurteilung sich dadurch auszeichnet, daß sie unter der Voraussetzung der Freiheit der Willensentscheidung von funktionalen Determinanten sozialer, physischer oder psychischer Art abzusehen und statt auf einzelne Funktionszusammenhänge auf die Persönlichkeit als ganze zuzugreifen hat. Dagegen verschafft die Abkopplung einzelner, systematisch geschlossener Bereiche von Interaktion und ihre Beurteilung nach funktionalen Kriterien unter Absehung von voraussetzungsreichen moralischen Kategorien die Möglichkeit eines von Wertentscheidungen unabhängigen Urteils, das sich allein an der Angemessenheit für einen bestimmten, von der moralischen Persönlichkeit unabhängigen Funktionszusammenhang orientiert.170 168
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UdE, I, S. XVf. Im Anzeiger des Teutschen Merkur werden gleichwohl Zweifel angemeldet, »ob diese Bilder nicht manchmal zu getreue Copien natürlicher Dinge sind, die eine Dame in einem Buche so wenig als im Umgange gerne vor ihr Anschaun bringen läßt« Anzeiger des Teutschen Merkur, August 1784, S. CXVII. Hier zeigt sich das Dilemma des philosophischen Arztesganzen Menschern konnte jedoch zugleich den Effekt einer satirisch zugespitzten moralischen Kritik erzielen: Vgl. etwa die in Anlehnung an zeitgenössische biologische Klassifikationsverfahren konzipierte Neueste Naturgeschichte des Mönchthums (1783), in der einleitend die Parallelen biologischer Insekten- und historischer Mönchsforschung vorgestellt werden: »Was das Insekt in dem Geschlechte der unvernünftigen Thiere ist, ist der Mönch in dem Geschlechte der vernünftigen Thierart Er ist eben so häßlich, Grauen erweckend, einnistend, höckartig, im Finstem schleichend, und wie sonst die Eigenschaften der Insekten heissen mögen, als das eigentlich genannte Ungeziefer, nur mit dem einzigen Unterschiede, daß letzteres im Kleinen, und der Mönch im Ganzen schädlich ist«: Neueste Naturgeschichte des Mönchthums beschrieben im Geiste der Linnäischen Sammlungen und mit drei Kupfertafeln erkläret von P. Ignaz Kuttenpeitscher, aus der ehemaligen Gesellschaft Jesu.
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Diese Differenzierung der Urteilskategorien läßt sich auch aus der Richtung des moralischen Standpunktes betrachten, dem sie trotz seines umfassenden Zugrirfsbereiches ebenso zur Reduktion von Komplexität zu dienen vermag: Wie das Handeln in gesellschaftlichen >Geschäften< von Fragen der Moral entlastet wird, so läßt sich auch das moralische Bewußtsein von den Fragen seiner empirischen Bewährung trennen. Zimmermann greift auf »eine schöne Bemerkung eines vortrefliche[n] Schottländischen Menschenbeobachters und Menschenlehrers« zurück, um die Unabhängigkeit des moralischen Selbstbewußtseins vom tatsächlichen Ertrag tugendgeleiteten Handelns herauszustellen: Tugend habe die ihr eigenthümliche Wirkung, daß sie eines Menschen angenehmste Glückseligkeit aus seinem Verhalten entspringen lasse. Ein böser Mensch, sey ganz und gar Geschöpf der Weit Er hänge von ihrer Gunst ab, lebe von ihren Freundlichkeiten, und sey glücklich oder elend, je nachdem es ihm in derselben gelingt oder fehlschlägt Bey einem Tugendhaften aber sey der glückliche Fortgang seiner wehlichen Unternehmungen, nur immer von untergeordneter Absicht Habe er, wie ihm gebühre, seine Schuldigkeit gethan, so sey sein Gemüth in Ruhe; den Ausgang überlasse er der Fürsehung. [...] Zufrieden mit dem Beyfall Gottes, und dem Zeugniß eines guten Gewissens, geniesse er seiner eigenen Unschuld, und verachte die Triumphe der Bosheit171
Die Differenzierung der Urteüskategorien als Folge der funktionsgeleiteten Differenzierung unterschiedlicher Bereiche zwischenmenschlicher Interaktion erfaßt auch den Standpunkt der Moral. Erscheinen deren Maßstäbe nicht langer als handlungsleitend auf der Ebene des gesellschaftlichen Umgangs, der statt dessen an Fragen der Effektivität und der von der Persönlichkeit unabhängigen Fähigkeit zur Integration in versachlichte Rollen- und Funktionsbeziehungen gemessen wird, so behalten sie ihre Geltung für die persönliche Gewissensprüfung. So erwünscht eine solche moralische Selbstprüfung für Zimmermann auch fraglos ist - die von ihm favorisierte gemäßigte Einsamkeit ist wesentlich von diesem Aspekt geprägt -, wird ihr eine Relevanz für den alltäglichen gesellschaftlichen Umgang doch ausdrücklich abgesprochen. Dieser erfolgt nach anderen Regem, weil er sich nicht mit der Idealität des von ursprünglicher Sympathie geleiteten Menschen, sondern mit der Realität seines interessenbestimmten Handelns auseinanderzusetzen hat. Statt die außer Kraft gesetzte Geltung der Normen sensualistischer Moral für die gesellschaftlichen >Geschäfte< zu beklagen, gelangt Zimmermann zu einer Beruhigung des moralischen Selbstbewußtseins: Erweist sich der Bereich gesellschaftlichen Umgangs als resistent gegenüber dem moralgesteuerten Handeln, so genügt der persönlichen moralischen Selbstprüfung das »Zeugniß eines guten Gewissens«, um die eigene Unschuld genießen zu können,
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[...] In Oesterreich auf Kosten der Exmönche im Jahre des Lichts 1783. Bl. *3V. In einer wenig später erschienenen, nach dem gleichen biologistischen Muster vorgehenden Schrift kommt dem Mönch die Funktion zu, »die so große Ritze zwischen dem Menschen und Affen aus[zu]fullen«: Johann Physiophilus's Versuch einer Mönchologie nach Liimäischer Methode [...]. Neueste, rechtmäßige, mit der Erläuterung der Fastischen Sätze vermehrte Übersetzung und Auflage. Augsburg 1786. S. 10. Zu diesen Schriften vgl. Wolfgang Proß: Mönch und Nonne in der europäischen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. UdE, IV, S. 236f; vgl. dz. auch ebd., III, S. 144ff.
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ohne daß der tatsächliche Erfolg der Gewissensgrundsätze in den moralischen Kalkül einbezogen werden müßte.172 Dabei bleibt es für Zimmermann gleichwohl entscheidend, daß dieser Standpunkt des moralischen Gewissens nicht als Ersatz für das Handeln in Gesellschaft eingenommen wird, sondern lediglich dessen Defizite zu kompensieren hat. Die gesellschaftlichen Pflichten bleiben von der Möglichkeit des Selbstgenusses des moralischen Gewissens unberührt. Wird dieser Grundsatz mißachtet, so diagnostiziert der Mediziner Zimmermann einen pathologischen Defekt. Dieser ist für ihn auch dort zu konstatieren, wo die Erhabenheit der moralischen Grundsätze außer Frage steht. Deutlich wird der »medicinische[/] Gesichtspunkt« Zimmermanns unter anderem an seinen Ausführungen über Rousseau: Dieser hatte die differenzierungskritische Position ausdrücklich mit der Verteidigung eines ganzheitlichen moralischen Anspruchs verbunden.173 Doch der Moralist Rousseau wird von Zimmermann nicht anhand der aus seinem eigenen Standpunkt abzuleitenden moralischen Kriterien beurteilt, sondern mit dem Blick des Pathologen betrachtet. Entscheidend für die Beurteilung sowohl seines Spätwerkes wie seiner persönlichen Misanthropic seien »[fjürchterliche Keime von Hypochondrie und Melankolie«, die »seit früher Jugend in seinen [Rousseaus, CB] Eingeweiden und Nerven«174 lagen.
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Diesbezüglich lassen sich in der spätaufklärerischen Sozialphilosophie unterschiedliche Positionen finden: Im Unterschied zu Zimmermann stand etwa Adolph von Knigge einem auf das persönliche Gewissen beschränkten moralischen Standpunkt skeptisch gegenüber. Vgl. dz. seine Rechtfertigung gegen »einige Zweifel« »über den moralischen Werth« seiner Verhaltensregeln, die er der zweiten Auflage seines Umgangstraktates in einer Anmerkung anfügt: »Es ist kein eigentlicher Unterschied unter dem, was wahrhaftig klug, weise, tugendhaft handeln heisst Ob eine Handlung gut, schön, anständig sey, oder nicht, das kann nur nach der Nützlichkeit der Handlung beurtheilt werden, und nützlich ist nichts, was nicht edel ist Es giebt keine Moral, als die uns lehrt, was wir uns und Ändern schuldig sind, und keine practische Weisheit, als die uns thun heisst, was gut ist« (Adolph Freiherr Knigge: Sämtliche Werke. In Zusammenarbeit mit Ernst-Otto Fehn u. a. hg. von Paul Raabe. Band 24: Erläuterungsband München u. a. 1993. S. 88f.) Vgl. dz. auch Christian Garves Anmerkungen zu seiner Obersetzung von Ciceros De offlciis: GGW, 111/10, Tl. II, S. 16. Für Knigge bleibt der empirische Erfolg gemeinnütziger Vorsätze entscheidendes Kriterium moralischer Urteile. Zwar kennt auch er den tröstenden Wert des moralischen Selbstbewußtseins und empfiehlt den Rückzug darauf, wenn dem Handeln in der Weh kein Erfolg beschieden sei: »Es giebt eine Größe - und wer die erreichen kann, der steht hoch über Alle [!] - Diese Größe ist unabhängig von Menschen, Schicksalen und äusserer Schätzung. Sie beruht auf innerem Bewusstseyn; und ihr Gefühl verstärkt sich, je weniger sie erkannt wird.« Ueber den Umgang mit Menschen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band 10. Nendeln/Liechtenstein 197S. Teil I. S. 135. (Die Reprint-Edition bietet den Text der Ausgabe letzter Hand, die 1796 in drei Teilen erschien. Seitenverweise im folgenden unter Angabe des Teiles in römischer und der Seite in arabischer Zählung.) Doch Knigges Werk verfolgt einen anderen Zweck, und der Rückzug auf das moralische Selbstbewußtsein ist lediglich anzutreten, wenn auch seine vielen erfahrungsgesättigten Hinweise nicht zum gewünschten Erfolg fuhren. S. o., S. 184. UdE, , S. 189.
231 Man sagt, er war ein Narr, oder höchstens, er war ein erhabener Narr, aber nie sagt man, er war krank. [...] Macht man aber ohne die allergeringste Rücksicht auf menschliche Natur dem armen Rousseau jede körperliche Angst, alles was er aus Angst glaubte und that zum Verbrechen, so hat man nie bedacht wie das Buch entstand, das er in seiner Melankolie unter dem Schutz der Fürsehung auf den hohen Altar der Hauptkirche in Paris niederlegen wollte. Man hat nicht bedacht, daß dieses fürchterlich melankolische Buch, und die seinen Bekenntnissen angehängten Reverien eines einsamen Wanderers, am Fusse von Rousseaus Statue ein demüthigendes und rührendes Beyspiel menschlicher Schwachheit sind, und für alle Zeiten schauderhafte Beweise wie schwarz und falsch auch ein solcher Geist, wenn er krank ist, in der Einsamkeit sieht173
Der medizinische Standpunkt kann also auch zur moralischen Entlastung dienen: Lassen sich »körperliche Angst« und »menschliche!/] Schwachheit« als Ursachen identifizieren, so erscheint es nicht länger angemessen, eine Tat ihrem Urheber als »Verbrechen« anzurechnen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß ein solches Verhalten daher zu akzeptieren sei. Misanthropische Ungeselligkeit stellt für Zimmermann weiterhin einen eklatanten Normverstoß, die Mißachtung grundlegender und unhintergehbarer Regeln der gesellschaftlichen Existenz des Menschen, dar. Doch das Argument, das Zimmermann aus seiner differenzierten Bestandsaufnahme gegen eine misanthropisch bedingte einsam-zurückgezogene Lebensweise ableitet, läuft folgerichtig nicht auf ein moralisches Urteil hinaus, sondern auf eine medizinisch-diätetische Empfehlung:176 Selbst ein großer, mit vorbildlichen moralischen Grundsätzen ausgestatteter Geist drohe in der Einsamkeit von seinen körperlichen Leiden und psychosomatischen Beschwerden beherrscht zu werden. Eine möglicherweise in Gesellschaft lediglich latente Neigung zu Hypochondrie und Melancholie werde durch die ausschließliche Beschäftigung mit sich selbst in der Einsamkeit endlich akut und nehme verhängnisvollen Einfluß auf die Gedanken. Nicht die pathologisch begründbare Neigung zur Melancholie selbst vermag also zur Grundlage eines moralischen Urteils zu dienen, sondern allenfalls ein unangemessener Umgang mit dieser Disposition: Wer sich mit melancholischer Neigung aus der Gesellschaft zurückzieht, erweist seine mangelnde Bereitschaft, eine Veranlagung zu bekämpfen, die den geselligen Pflichten des Menschen entgegensteht.177 Der Mensch ist in der Einsamkeit wie ein stehendes Wasser, das keinen Abfluß hat, und fault. Durch geschäftlose Ruhe und durch allzugrosse Anstrengung werden Leib und Seele ungesund.178 173 176
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Ebd., II, S. 190ff. I. Minor bezeichnet die gesamte Schrift als eine »Diätetik der Seele«: Einleitung, S. 344. Unter ähnlichem Titel wurde unlängst der von Zimmermann selbst nicht zum Druck beförderte dritte Teil seiner Erfahrung in der Arzneykunst herausgegeben; s. o., S. 215f. Rudolf Ischer konstatierte eine »nahe Geistesverwandtschaft« zwischen Zimmermaim und Rousseau, weshalb »er ihm denn auch gerecht werden, seine herrlichen Vorzüge würdigen und das, was den meisten als Bosheit und Verkehrtheit erschien, [...] als Symptome einer beklagenswerten Krankheit« auffassen konnte: J. J. Rousseau und J. G. Zimmermann, S. 263. Festzuhalten bleibt gleichwohl, daß die misanthropische Einsamkeit Rousseaus von Zimmermann möglicherweise gerade wegen seiner eigenen vergleichbaren Neigung, zu deren Bekämpfung die Abhandlung dienen sollte - ausdrücklich nicht als »Muster zur Nachahmung« anerkannt wird (UdE, , S. 194). Ebd., , S. 4.
232 Zwar werde »Melankolie [...] zuweilen ebenso gut durch Einsamkeit geheilet, als in vielen ändern Fällen durch Einsamkeit erzeuget«,179 in den meisten Fällen handele es sich jedoch um einen Teufelskreis, in dem die krankhafte Disposition zur Einsamkeit in dieser noch verstärkt werde: Mit gesunden Nerven und irgend einem schönen und edlen Zweck, kann man Einsamkeit lange aushallen. Mit grossen Anlagen zu Kränklichkeit und Melankolie, wird Einsamkeit bald gefährlich, wenn man nicht irgend eine rehzende Arbeit vor sich hat, die den Geist in beständigem Fortschritte von Gedanken zu Gedanken treibt [...][/][···] So wenig ein Melankoliker unter Menschen leben mag, die ihn gar nicht verstehen, so wenig taugt ihm doch mehrentheils alleiniger Umgang mit sich selbst Größtentheils wird doch durch Abneigung gegen alle Zerstreuung Melankolie in der Einsamkeit schlimmer.180
Wie auf die letzten Jahre Rousseaus blickt Zimmermann auch auf die Lebensläufe der Eremiten und Mönche, die er als Beispiele für die verderblichen Folgen der Einsamkeit anführt. Auch sie wurden aus Hypochondrie und Melancholie in die Einöden getrieben, wo sich ihr Zustand jedoch keineswegs verbesserte. Im Gegenteil verstrickte die Einsamkeit sie immer weiter in ihren krankhaften Zustand, der schließlich in Wahnwitz mündete oder ihrem Leben ein frühes Ende bereitete, denn »Melankolie und Wahnwitz waren nicht nur, in Egypten zumal und in den Morgenländern, Veranlassungen des Triebes zur Einsamkeit, sondern auch gar nicht seltene Wirkungen der Einsamkeit.«181 Zur Kennzeichnung der körperlichen Ursachen dieser Zusammenhänge bedient Zimmermann sich einer recht drastischen Ausdrucksweise, der die zitierte Rechtfertigung des medizinischen Standpunktes gegolten haben dürfte: 1784 macht er auf den »sehr sonderbaren Zusammenhang zwischen den Ideen der Schwänner und ihren Geschlechtstheilen«182 aufmerksam. Noch deutlicher war er 1773 geworden, als er feststellte: Unser Körper ist gar zu oft die nächste Ursache unserer Denkungsart Größtentheils floß der schwarze Seelenschwung der Egyptischen, Syrischen, und Mesopotamischen Einsamen aus dem Unterleibe. [/][...] In den Nerven liegen die Krankheiten, die den nächsten Einfluß auf die Seele haben, und folglich auf unsere ganze Denkungsart; der Barometer dieser Denkungsart ist im Unterleibe. Wir denken und handeln immer verhähnißmäßig mit unserer Dauung.183
An diesem Punkt konkretisiert Obereit seine grundsätzliche Kritik am Vorgehen Zimmermanns, indem er deutlich zu machen versucht, daß der medizinische Standpunkt, wie Zimmermann ihn präsentiere, auf einen Materialismus hinauslaufe, auf dessen Grundlage insbesondere die von ihm verteidigten religiösen Ausnahmenaturen nicht angemessen zu verstehen seien:
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Ebd., II, S. 182. Ebd., II, S. 181,187. Ebd., H, S. 125. Ebd., , S. 154. VdE,S.32.
233 Also zum gesunden Denken und gesunden Handeln, was braucht's? Nur gesunde Dauung! [...] [/] Allein, lasse man auch die verschiedene Dauung selbst auf die Seele einigen verschiedenen Einfluß machen: so kann sie doch die Freyheit des menschlichen Geistes nicht verdrängen noch aufheben. Sonst waren die Menschen, die Seelen selbst, bloße Maschinen ihres Leibes. Und wo mag wohl ein größerer Streit, eine stärkere Wirksamkeit der Freyheit des Geistes seyn, als wo er Herr über seinen Leib werden soll? [/] Die größten Einsamen Egyptens und des Morgenlandes haben [...] sich die völlige Herrschaft über ihren Leib erworben [...]. Haben sie also ihre Freyheit nicht aufs stärkste zu dieser Bezwingung gebrauchen müssen? Sind sie nicht demnach von ihren Körpern und körperlichen Ursachen am wenigsten abhängig, folglich auch am wenigsten hypochondrisch gewesen?184
Die Kritik am philosophischen Materialismus bildete einen wesentlichen Bestandteil des mystisch-metaphysischen Systems der >Allharmonieganzen Menschen< sowohl seiner physischen wie seiner transzendenten Natur nach in seinem Verhältnis zu Gott betrachtet.191 Genaugenommen kreist die Auseinandersetzung zwischen Zimrnermann und Obereit also um die angemessene Erfassung des Gegenstandes. Aus diesem Umstand erklärt sich auch die beiderseitige Klage, ihre Position werde von ihrem Kontrahenten mißverstanden.192
3.3 Gesellige Einsamkeit und einsame Geselligkeit Abgesehen von der Differenz der jeweils bezogenen Standpunkte könnte es scheinen, als seien sich Zimmermann und Obereit in ihrer Beurteilung der religiös motivierten Einsamkeit näher, als der scharfe Ton der Debatte nahelegt: Wie Obereit »Weltüberwindung noch lange nicht für die größte Tugend«193 hielt und die von ihm verteidigten »Heldengeister« lediglich als Beispiele verstanden wissen wollte, »wie weit es die menschliche Natur bringen könne, nicht wie weit sie es überall bringen soll«,194 so wenig war es seine Absicht, »alle Einsiedler, Mönche, Nonnen [zu] vertheidigen, oder auch nur [zu] entschuldigen [...], so wenig als der Herr Leibarzt alle Mediziner«193. Auf der anderen Seite zollte Zimmermann der »Sinnesart« »[e]rhabene[r] religiöse[r] Seelen«, »die nicht allgemeine Religion seyn soll, und auch nicht meine Religion ist«, die bereits angesprochene Anerkennung.196 Gegen Ende des vierten Bandes weitet er diese Anerkennung gar noch auf die »[wjahre Mystik«197 aus, die er als einen möglichen »unfehlbarefn] Weg zur höchsten menschlichen Glückseligkeit«19* bezeichnet, um schließlich festzustellen: 189 190 191
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Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens, S. 43f. A.a.O. Woher Erhart hob im Anschluß an Hartmut Böhme hervor, daß die Einnahme eines anthropologischen Standpunktes mit holistischem Anspruch bereits als Krisensymptom zu deuten sei: »Je mehr wahrend des 18. Jahrhunderts der >ganze Mensctu ins Blickfeld rückt, desto schneller und bedrohlicher scheint seine >Ganzheit< und >Einheit< auch schon uneinholbar aufgelöst« Nach der Aufklärungsforschung?, S. 109. Im Blick auf das gleiche Phänomen (und ebenfalls im Anschluß an Böhme) stellt Andreas Käuser fest, daß »wohl generell in der Goethezeit beide Denkweisen zu einer widersprüchlichen Einheit zusammengezwungen werden«: Anthropologie und Physiognomik im 18. Jahrhundert, S. 77f. Vgl. UdE, I, S. Vü£; Supplike an Philosophische Damen, S. 21. A.a.O. Die Einsamkeit der Weltüberwinder, S. 79. Supplike an Philosophische Damen, S. 33. A.a.O. UdE, IV, S. 379. Ebd., IV, S. 387.
235 Was einen Menschen zum Mystiker macht, findet sich überaus selten bey dem ändern. Kein Mensch, der bey Sinnen ist, kann auch darum die mystischen Sätze, zu allgemeinen Lebensregeln machen wollen; aber erlaubt ists, ein Mystiker zu seyn, wie es erlaubt ist, unverheurathet zu bleiben.1"
Die abschließende rechtfertigende Wendung übernahm Zimmermann wörtlich aus einem Schreiben Wielands vom 2. September 1756. Ahnlich wie Obereit, den er Zimmerman dann auch als Experten und Autorität auf diesem Gebiet empfahl, hatte Wieland bereits im Blick auf Zimmermanns Betrachtungen über die Einsamkeit Anstoß an dessen pauschaler und polemischer Mystik- und Anachoretenkritik genommen und ihm zu der schließlich auch umgesetzten Konkretisierung geraten: Mich dünkt, was sie stößt, sey dieses, daß Sie meynen, man wolle die auf ihren höchsten Grad getriebnen mystischen Sätze zu allgemeinen Lebens=Regeln machen. Dieses ist gar nicht Man will nur, daß es einem erlaubt sey eben sowohl ein Eremit zu seyn, als es erlaubt ist unverheurathet zu bleiben, und daß man eben sowohl Gott über alles und in Allem mit der reinsten Liebe deren ein redliches Herz fähig ist, lieben dürfe, als wir ändern kleinen Seelen Geschöpfe von Staub lieben, deren Liebenswürdiges doch im eigentlichen Sinn nur ein matter gebrochner Stral oder [...] eine mißgestaltete Caricatura der Göttl. Vollkommenheit ist.200
Da Wieland vermutete, Zimmermann kenne »die wahren Mysticos nicht durch sich Selbst und aus ihren Schriften«™1, empfahl er ihm neben den Kenntnissen Obereits auch die Lektüre mystischer Originalschriften, mit denen er ihn dann auch selbst versorgte. Den Erfolg dieses Vorgehens konnte Wieland schließlich am 5. Dezember 1758 konstatieren: Wie wäre es wenn Sie ein paar Briefe wieder suchten, worinn ich Ihnen vor einem oder zween Jahren über die Mystiker schrieb. Sie würden finden, daß Sie itzt naturellemerrt auf eben die Gedanken gefallen sind, die ihnen damals nicht einleuchten wollten.202
Einig scheinen sich Zimmermann und Obereit schließlich auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Pflichten zu sein, von denen sich der einzelne durch den Schritt in die Einsamkeit nicht dispensieren darf.203 Obereit nimmt die Pflicht, zum gemeinen Nutzen beizutragen, gar als Argument für seine Verteidigung der geistlichen Orden in Anspruch:
199 200
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202 203
Ebd., IV, S. 390. Wielands Briefwechsel, Bd. l, S. 279f. (Hervorhebungen im Original.) Vgl. auch bereits Wielands Schreiben vom 25726. 6. 1756. Ebd., S. 262-266, in dem er das gleiche Argument anfuhrt (S. 262) und Zimmermann abschließend die herausfordernde Frage vorlegt, »ob es keine Wüste in Ihren Gegenden hat; ich habe schon seit manchem Jahr grosse Lust ein Eremit zu werden.« (S. 266) Ebd., S. 279. (Hervorhebungen im Original.)
Ebd., S. 390. Daß dies keineswegs im Widerspruch zu der soeben hervorgehobenen Anerkennung der Mystik stehen mußte, verdeutlichte jüngst Hanspeter Marti: Vgl. Gesellschaftliches Leben und >unio mystica< am Beispiel der Mystiktheorie des Jesuiten Maximilian Sandäus (1578-1656). In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Teil I, S. 199-209.
236 Denn die ersten Grundleger und Gesezgeber der grösten gemeinnüzigen Activität, im Alterthume aller Zeiten, sind insgemein aus der Einsamkeit, aus einer verborgenen Tiefsinns=vollen Stille hervorgekommen.204
Daß schließlich die Geltung der »erhabensten und thätigsten christlichen Geselligkeitstugenden« nicht allein auch fern des gesellschaftlichen Miteinanders fortbesteht, sondern daß diese überhaupt erst »aus den feurigen Entzückungen der himmlischen Liebesschwärmerinnen [...] entsprungen«103 seien, macht jedoch zugleich auf eine weitere tiefgreifende Differenz der Positionen Obereits und Zimmermanns aufmerksam. Dieser Dissens verdeutlicht, daß auch die soeben angesprochene, vermeintlich theoretische Auseinandersetzung über den geeigneten Standpunkt für die Beschäftigung mit anthropologischen Fragestellungen im Zusammenhang mit praktischen sozialen Differenzierungsprozessen zu betrachten ist: Wie bereits deutlich wurde, behauptet auch Zimmermann einen Primat der gesellschaftlichen Pflichten und legt fest, man dürfe »die Welt nicht fliehen, als bis man nichts Gutes mehr darinn thun kann.«206 Auch er formuliert diesen Grundsatz in Anlehnung an religiöse Gebote und führt den »Heiland der Welt« selbst als Vorbild an, denn: »Er selbst gab uns das Beyspiel, daß wir uns nur zu gewissen Zeiten in die Einsamkeit begeben, und da die Geschäfte und die Angelegenheiten dieses Lebens ruhen lassen.«107 Doch macht die gewählte Terminologie auf eine Wandlung aufmerksam, denen die christlichen Geselligkeitstugenden inzwischen unterworfen waren und die Zimmermann im Unterschied zu Obereit realisiert: Die geselligkeitsfördemden Vorschriften der christlichen Sittenlehre werden von Zimmermann den »Geschäfte[n]« zugeordnet. Das Gute, das der Mediziner Zimmermann in der Welt für die Wohlfahrt der Gesellschaft ebenso wie diejenige ihrer einzelnen Glieder zu stiften vermag, gehört - wie auch im Falle des »Geschäftsmanne[s]« - zu dem »handwerksmässigen Theil seiner Verrichtungen«208. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, daß der Pflicht auch unabhängig von sympathetischen Neigungen Genüge getan wird: In Gesellschaft ist es für Zimmermann entscheidend, »dem Wunsche, daß die Menschen seyen, was sie nicht seyn können«, zu entsagen und die Menschen zu nehmen, »wie sie sind« .209 Die medizinische Profession Zimmermanns dürfte einigen Anteil an dieser Einsicht haben. Die erfolgreiche Praxis des Mediziners ist entscheidend davon abhängig, daß er in der Lage ist, von idealisierten Zuschreibungen an die Natur des Menschen abzusehen. Statt dessen hat er die Realität der auch durch die phy104 209 206 207 208 209
Gespräch im Traume über eine neue Reformation der geistlichen Orden und der Kirche, S. 17. Die Einsamkeit der Weftüberwinder, S. 150. UdE,I,S.93. Ebd., I, S. 16. Vgl. auch S. 146,243. Ebd., I, S. 55. Zimmermann konkretisiert hier seine Kennzeichnung von 1773, in der noch recht unspezifisch von dem »dürre[n] Theil seiner Verrichtungen« die Rede war: VdE, S. 13. UdE,I,S.90.
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sische Natur bedingten Abweichung von dem Ideal nicht allein zur Kenntnis zu nehmen, sondern zur Grundlage seiner diagnostischen und therapeutischen Tätigkeit zu machen. Der von Obereit kritisierte »medicinischef/] Standpunkt«110 Zimmermanns wurde bereits als Folge dieser Professionalisierung innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs identifiziert. Die Fähigkeit der Konzentration auf einen Teilaspekt menschlicher Existenz, der sich mit Hilfe überschaubarer Ursache-Wirkungs-Verhältnisse operationalisieren läßt, bildet eine Voraussetzung des beruflichen Erfolges des Mediziners. Und der berufliche Erfolg ist es, durch den er zum Besten der Gesellschaft zu wirken vermag. Daß es sich dabei um eine Reduktion der menschlichen Natur handelt, scheint Zimmermann durchaus bewußt zu sein, wenn er etwa dem Widerwillen der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau begegnet, die er im Rahmen eines ausgedehnten Briefwechsels medizinisch beriet: Diese hatte die Notwendigkeit als unstandesgemäß empfunden, dem ärztlichen Rat durch Offenlegung intimer Details ihrer körperlichen Konstitution eine hinreichende Informationsgrundlage zu verschaffen.211 Überdies schien Louise Bedenken zu haben, daß die professionelle Beziehung zum Leibarzt Zimmermann ihrer übergeordneten sozialen Position nicht gerecht werden könnte. Diesen Bedenken begegnete Zimmermann mit einem ausdrücklichen Vorschlag zur Differenzierung: Ich überlasse Euer Königlichen Hoheit das geistige und geistliche Departement Ihrer schönen Seele gantz, und sie machen mich nicht zum Herrn und Meister, aber doch zum Premier=Minister Ober ihr körperliches Departement Ist von diesem allein die Rede, so behalte ich recht, wenn ich recht habe.112
Der Mediziner Zimmermann nimmt also bewußt Abstand von einem >ganzheitlichen< Standpunkt. Auf der Grundlage der Differenzierung eines umfassenden Persönlichkeitsbildes nach Maßgabe der zu unterscheidenden Wirkungsbereiche der Person beschränkt er seine Tätigkeit auf das »körperliche[/] Departement«. Die therapeutische Praxis des Mediziners erfolgte damit weder aus Sympathie oder gar Liebe, die sich gleichermaßen auf den persönlichkeitsbestimmenden Charakter insgesamt beziehen, noch mit Hilfe der Sympathie.213 Sie beruhte auf einem diagnostischen Blick auf die Defekte und Defizite des wirklichen, statt auf die idealen Potentiale eines bloß möglichen Menschen.
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A.a.O. Vgl. Wilfried Heinicke: Zimmermann als Arzt der Fürstin Louise von Anhalt Dessau, S. 64. Zimmermann an Louise von Anhalt-Dessau vom 25. 8. 1786. Zit nach dem reprographischen Nachdruck ebd., S. 69. In der bereits 1925 vorgelegten Transkription der Briefe Zimmermanns an die Fürstin fehlt diese Passage: Vgl. Hermann Wäschke: Aus klassischer Zeh. In: Anhaltische Geschichtsblätter. I.Heft (1925). S. 127-137, hier S. 131f. Entsprechend fern hielt sich Zimmermann von Verfahren der in der zweiten Jahrhunderthälfte um sich greifenden sympathetischen Heilkunst: »Mir ekelt vor dem ganzen magnetischen Wesen«, heißt es daher 1787 in seiner Erklärung gegen eine Unwahrheit. In: Berlinische Monatsschrift. Zehnter Band. Julius bis Dezember 1787. S. 77-79, hier S. 78. In der von Heinz Schott herausgegebenen Textsammlung zur Medizin im 18. Jahrhundert findet Zimmermann daher in den titelgebenden Abschnitten keine Berücksichtigung: Vgl. Der sympathetische Arzt Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert. Hg. von Heinz Schott München 1998.
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Tugend und Liebe spielten hierfür allenfalls eine untergeordnete Rolle: Umfassende Tugendkonzepte werden herabgestuft auf eine situationsbezogene Berufsethik. Diese hat die Stelle zu vertreten, die eine sensualistische Moral in dem Moment nicht mehr auszufüllen vermag, in dem sich der Blick auf Zusammenhänge der körperlichen wie der affektiven Natur richtet, die einer idealisierten Konzeption des Menschen widersprechen. Selbst das für Akte der christlichen Nächstenliebe verantwortliche Mitleid hält diesem Blick auf die Wirklichkeit des in der Gesellschaft handelnden Menschen nicht stand. Es zeichnet Zimmermann aus, daß er sich in der Lage zeigt, die Konsequenzen seines illusionslosen Blikkes auf diese Wirklichkeit auch auf sich selbst anzuwenden: Viel Gutes geschieht in der Welt von Amts wegea Der Geistliche lehret und tröstet, der Rechtsgelehrte verschaffet Recht, der Arzt macht seine Besuche, seufzt und schwitzt oft Blut dabey, und curirt gut oder übel; alles aus Menschenliebe, sagen die Herren. Davon ist kein Wort wahr. Man tröstet, verschaffet Recht, und curirt, nicht immer aus Trieben des Herzens, sondern weil man muß; weil man dazu aufgefordert ist; weil man einen schwarzen Rock trägt, in diesem Collegio sitzt, oder diesen und jenen Schild aushängt. [...] Menschenliebe ist Tugend, Adel der Seele vom ersten Range; und woher weißt du, daß ich das oder dieses aus Tugend thue, und nicht weil ich muß?214
Der Geschäftsmann ist im täglichen, seinen Berufsgeschäften gewidmeten Umgang ebenso auf die Verfolgung des eigenen Interesses ausgerichtet, wie er eine entsprechende Selbstbezüglichkeit des Verhaltens seiner jeweiligen Geschäftspartner in Rechnung stellen muß. Diesen Notwendigkeiten der Selbstbehauptung mag der in höfischen Diensten stehende Mediziner enthoben sein. Dennoch sieht auch dieser in seinem beruflichen Umgang von einem tugendgeleiteten Verhalten ab. Er orientiert sich zwar an der »Pflicht«, diese leitet sich jedoch nicht aus allgemeiner Menschenliebe, sondern aus den normativen Vorgaben einer funktionsbezogenen gesellschaftlichen Organisation her, einer Organisation, die auf der wechselseitigen Beförderung von Einzelinteressen gründet und aus deren Addition den gesellschaftliche Nutzen hervorgehen läßt. Daß das Gebiet der Heilkunst besonders geeignet war, eine funktionale Versachlichung sozialer Beziehungen zu befördern, macht auch Adolph von Knigge deutlich, der im Unterschied zu Zimmermann aus der Perspektive des Patienten argumentiert: Ich gestehe, daß in schweren Krankheiten mir die Aufwartung bezahlter Wärter immer angenehmer gewesen ist, als die sorgfältige, liebevolle Zudringlichkeit werther Freunde. Jene sind durch Erfahrung mit den kleinen Handgriffen bekannt, und leisten ihre Dienste, mit unverdrossener Geduld, Kaltblütigkeit und strenger Pünctlichkeit [...]; Diese hingegen [...] machen unser Leiden, durch zu warmes Mitgefühl, das wir in ihren Augen lesen, doppelt schwer, wozu denn noch kömmt, daß der Gedanke, sie zu häufig zu bemühn, und die Furcht, sie zu beleidigen, wenn wir über etwas unzufrieden sind, uns einen peinlichen Zwang auflegen.21i
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UdE,IV,S.231f. Adolph von Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen, II, S. 219.
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Die Professionalisierung des Dienstverhältnisses zwischen Krankem und Pfleger ist demnach nicht allein der größeren Perfektion der Dienstleistung geschuldet, die als Folge der Spezialisierung eintrat. Knigge hält eine auf sympathetischem Mitgefühl beruhende Beziehung darüber hinaus gerade wegen der emotionalen Bindung nicht für geeignet, einer Situation zu begegnen, in der die natürliche Gleichheit und damit das Fundament der freundschaftlichen Beziehung nicht gegeben ist. Das entstehende Hierarchiegefälle läßt sich durch die persönlichen Neigungen nicht hinreichend kompensieren. Im Gegenteil: Das Mitleiden, das der Kranke in den Augen des Freundes erblickt, verstärkt noch das eigene Leid,21' die Unbefangenheit und Offenheit des freundschaftlichen Umgangs wird zu einem »peinlichen Zwang«, wenn die ehrliche Klage aus Dankbarkeit unterdrückt werden muß. Um »dem Leidenden so wenig wie möglich lästig zu werden«, kommt es daher darauf an, »alles mechanisch so zu machen, wie er es gern zu haben scheint.«217 Mechanische, streng funktionsbezogene »Handgriffe«218 sind von einem professionellen Krankenwärter eher zu erwarten als von dem vertrauten Freund. Persönliche Dankbarkeit wird durch vertragsgemäße Bezahlung ersetzt, und die Gewissenhaftigkeit des Pflegers hängt nicht von seiner moralischen, sondern allein von seiner funktionalen Qualität ab. Die Entlastung der Beziehung von persönlichen Gefühlen verschafft unabhängig von Wohlwollen und Mitleid eine stabile und der Situation angemessene soziale Beziehung. Doch die funktionale Versachlichung zeitigt Nebenfolgen, auf die Knigge ebenfalls im Bezug auf die Heilkunst zu sprechen kommt: Ist der Krankendienst des Arztes unabhängig von seiner Menschenliebe, so muß er sein eigenes Interesse durch die Behandlung befriedigt finden. Wird dieses eigene Interesse durch die Zahlung eines Honorars bedient, so entsteht aus der moralischen Entlastung das Problem, daß der behandelnde Arzt ein »Interesse dabey habe, Dich mit allerley Krankheiten zu versehn, oder Deine Herstellung aufzuhalten«219, um das Honorar in die Höhe zu treiben. Knigge empfiehlt daher, die Bezahlung von der speziellen Dienstleistung unabhängig zu machen und »ihm jährlich etwas Festgesetztes zu zahlen, Du mögest unpaß oder gesund seyn«220. Als methodischen Schwerpunkt von Knigges Umgangstraktat hebt Thomas Pittrof hervor, daß in diesem »in erster Linie nicht Probleme des Umgangs mit Menschen, sondern umgekehrt Techniken des Umgangs mit Problemen«?11 ab216
217 218 219 220
221
Vgl. dz. auch Knigges Argumentation gegen den Grundsatz, »daß es ein Trost sey, Gefährten oder Mitleidende im Unglücke zu haben«, im Abschnitt über den Umgang mit Freunden: »Ist es nicht genug, selbst leiden, und dabey überzeugt seyn zu müssen, daß in der Weh noch viel eben so redlich gute Menschen, wie wir sind, nicht weniger Elend zu tragen haben? Sollen wir noch die Summe dieser Unglücklichen muthwilligerweise dadurch vermehren, daß wir Andre zwingen, auch unsre Last mitzutragen, die dadurch um nichts leichter wird?« Ebd., II, S. 142f. Ebd., II, S. 219f. (Hervorhebung CB.) Vgl. dz. Zimmermanns Kennzeichnung des »handwerksmassigen Theil[s]« seiner »Verrichtungen« (a. a. O.). Adolph von Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen, III, S. 134f. Ebd., III, S. 135. Thomas Pittrof: Knigges Aufklärung über den Umgang mit Menschen, S. 43. (Hervorhebungen im Original.)
240 gehandelt werden. Deren Diagnose sei von der »Optik des illusionsfreien Blicks«222 getragen, die dasjenige in Rechnung zu stellen und in den eigenen strategischen Handlungskalkül einzubeziehen vermag, was ein Handeln nach idealisierten Überzeugungen von der Natur des Menschen zum Scheitern verurteilt: Denn wer bevölkerte die Welt? Doch nicht Figuren, die den abstrakten Begriff der > Individualität wie reine Emanationen einer kristallenen Idee verkörperten! Sondern zänkische Schwiegermütter, unehrliche Postkutscher, diebische Gastwirte, verschlagene Trödeljuden, unzuverlässige Handwerker und intrigante Hofleute - daraus bestand die Staffage, die den Hintergrund zu den Auftritten des taglichen Lebens lieferte, und diese Gestatten waren es, die Knigges Buch belebten.223
Der entidealisierte Blick auf die Wirklichkeit des selbstbezüglichen Handelns der Menschen fuhrt bei Knigge zur Überführung der traditionellen Umgangsregeln in eine Sozialtechnologie, die davon lebt, daß statt natürlicher Sympathie Selbstbezüglichkeit unterstellt und das eigene - ebenso selbstbezügliche - Handeln daran ausgerichtet wird. Zimmermann sucht nach einem Ausweg aus dem drohenden Widerspruch zwischen einem idealen Begriff menschlicher Geselligkeit und der von Knigge hervorgehobenen Wirklichkeit interessengeleiteten Handelns. »Dessen Herz, der sich von Weltgeschäften vollends nie losreisset, verwildert oft für alles Gute.«224 Daher muß der empirisch geschulte Blick auf den wirklichen Menschen und seine Umgangspraxis für Zimmermann nicht allein von positiven Affekten entlastet, sondern darüber hinaus auch gegen negative Affekte gesichert werden. Unser Umgang mit der Welt, ist eine Erziehung zum Laster. [...] Vielleicht sind wir des morgens in unserer Kammer, eh der Wirbel unserer Geschäfte herankommt, noch ganz gut, noch ganz unparteyisch, und frey, niemand setzt sich da uns entgegen. Aber mit der größten Wachsamkeit und Vorsicht, bleibt man nie den ganzen Tag ganz Herr Ober sich selbst, wenn man mannigfaltig geneckt ist von Bekümmemiß und Verdruß, wenn man mit Widerwillen vielerley Geschäfte betreiben muß, mit vielen Menschen zu thun hat und einem hundert unerwartete und abgeschmackte Dinge täglich an den Kopf prellen.22*
Taugt die Liebe nicht als Kategorie für den gesellschaftlichen Umgang, so droht dieser andererseits gar Haß zu erzeugen, den die »schiefefn] und falsche[n] Urtheile der Menschen« ebenso hervorrufen können wie »der verkehrte Gang, den so oft alles in ihren Köpfen hat und nimmt«.22* Dies gilt umso mehr für denjenigen, der den gesellschaftlichen Verkehr mit den Ansprüchen eines anthropologischen Ideals konfrontiert, eine ideale Gesellschaft allseitiger Liebe und Sympathie fordert und diese durch das selbstbezügliche Verhalten der Menschen ver-
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Ebd., S. 44. Ebd,S.44f. UdE, IV, S. 232. Ebd., IV, S. 234f. Ebd., 1,8.96.
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hindert sieht.227 »[L]eme sie ertragen«228, empfiehlt Zimmermann daher statt allgemeiner Menschenliebe, [ajber hassen muß man sie nicht Schiefe Köpfe und ihre Urtheile muß man verachten, aber sie hassen ist der Mühe nicht werth. Haß vertilget die Liebe, und was ist ohne Liebe das Leben!229
Verzichtet der praktische Mediziner Zimmermann auch auf einen moralischen Standpunkt für die Beurteilung des gesellschaftlichen Umgangs, so hält der Popularphilosoph Zimmermann gleichwohl an den Grundsätzen sensualistischer Ethik fest: Zwar stellt der soeben zurückgewiesene »Adel der Seele« keine Kategorie dar, anhand der sich das professionelle Handeln eines gesellschaftlichen Funktionsträgers messen ließe. Doch die Beschränkung des moralischen Geltungsanspruchs fuhrt keineswegs dazu, daß diesem die normative Verbindlichkeit insgesamt abgesprochen würde. Im Gegenteil: Das Einsamkeitskonzept, das Zimmermann vorlegt, ist darum bemüht, dem Umstand der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Umgangsregeln Rechnung zu tragen, indem es der Tugend einen ebenso systematischen wie lebenspraktischen Ort sichert, an dem sie ihren übergreifenden Geltungsanspruch uneingeschränkt zu entfalten vermag: Wer »lange und zumal mit Widerwillen ausser sich gewirkt hat«, der empfindet eine »Sehnsucht nach Ruhe und Rückkehr in sich selbst«.230 Die Befriedigung dieser Sehnsucht vermag einem aus der entidealisierten Sicht möglicherweise hervorgehenden Menschenhaß vorzubeugen und dadurch zu verhindern, daß »wir an Menschenliebe [verlieren], was wir vielleicht an Menschenkenntniß gewinnen«231. Die als Konsequenz sozialer Differenzierung zu verstehende »Sehnsucht« stellt eine von Zimmermann nicht allein akzeptierte, sondern ausdrücklich empfohlene Motivation zur Einsamkeit dar. Unter Verweis auf ihre geselligkeitsfbrdernden Auswirkungen wird diese Sehnsucht daher ausführlich von anderen, misanthropisch begründeten Veranlassungen für eine gesellschaftsferne Existenz unterschieden. Gesellschaftsfördemd vermag eine auf diese Weise hervorgehende »gemäßigte Einsamkeit«232 insofern zu wirken, als sie einen von den Klugheitsregeln des allgemeinen gesellschaftlichen Verkehrs entlasteten sozialen Erfahrungsraum eröffnet. Die von Zimmermann empfohlene »Einsamkeit« meint keineswegs »völlige Entfernung von der Welt und wahres Eremitenleben«233. Die mit ihr verbundenen 227 228 229 230 231
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Eben dies hat wenig später Christian Garve in seiner Rousseaukritik zum Ausdruck gebracht: S. o., S. 184f. UdE,I,S. 93. Ebd., L S. 96f. Ebd., L S. 53. Ebd., IV, S. 340. A.a.O. UdE, I, S. 7. Das handschriftliche Manuskript weist an dieser Stelle (B 13,13), an der die Definition für alle folgenden Ausführungen vorgegeben wird, deutliche Spuren wiederhoher Korrekturen auf, die zwar nicht mehr restlos zu rekonstruieren sind, sich jedoch offensichtlich auf Fragen der Formulierung beschränken.
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Vorteile werden dann auch nicht im Rahmen des ersten, den »Trieb zur Einsamkeit« verhandelnden, sondern im zweiten Kapitel vorgestellt, das den »Trieb zur Geselligkeit« zum Gegenstand hat. Die Unterscheidung, die Zimmennann dort zwischen den »Bedürfnissen«, die eine soziale Existenz erfordern, und einem »angebohrne[nj Vereinigungstrieb« vornimmt, wurde bereits angeführt.234 Konkretisierend fahrt er fort: Trieb zu häuslicher Geselligkeit und vertrautem Umgänge ist uns angeschaffen. Bey beiden bleiben wir in unserer Natur, aber bey dem Triebe zum Weltumgange müssen wir schon auf unserer Hut seyn. Jener ist unvertilgbar, so lange der Mensch seine Natur nicht auszieht; dieser wird uns angewöhnt, er ist eine Kunst, ein Handwerk, und viele bleiben darinn immer große Stümper.2"
Zimmennanns »Einsamkeit« hält sich also fern von aller gesellschaftlichen Isolation und richtet sich statt dessen auf den für einen »vertraute[n] Umgange« nötigen begrenzten Rahmen »häuslicher Geselligkeit«. In diesem bietet »[l]iebreicher Umgang [...] eine unerschöpfliche Quelle von Glückseligkeit«, die aus der Möglichkeit des »Ausdrucke[s] unserer Empfindungen«, der »Mittheilung unserer Begriffe« sowie »ihrer freymüthigen Auswechslung mit den Empfindungen und Begriffen unserer Freunde« gespeist wird.23* »Güte, Wohlwollen, Neigung zur Mittheilsamkeit und Liebe«237 binden den Menschen an den vertrauten Umgang mit seinesgleichen, der jedoch auf einen handlungsentlasteten Rahmen angewiesen ist, um von den >künstlichen< Verhältnissen des gesellschaftlichen Umgangs absehen zu können. Dort bildet die empirische Menschenkenntnis eine unverzichtbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Ausübung der »Kunst« der Geselligkeit. Dagegen stellt die >gesellige Einsamkeit« des vertrauten häuslichen Umgangs einen Ort für die Neigungen dar, die der Gesellschaftskunst geopfert wurden und die hier unter der Maßgabe vorausgesetzter moralischer Integrität »im engen Vertrauen des persönlichen Umganges«238 unter »gleichgestimmten Seelen«239 befriedigt werden können. Auch Adolph von Knigge, dessen Regeln für den geschäftlichem Umgang auf dem dargestellten schonungslosen Blick auf die selbstbezüglichen Handlungsmotive der Menschen aufbauten, kennt noch eine andere Form des Umgangs. Dieser verschafft er wie Zimmermann einen Rahmen, in dem von den >künstlichem Verhältnissen abgesehen werden kann: In friedlicher häuslicher Eingezogenheit, im Umgange mit einigen edeln, verständigen und muntern Freunden, ein Leben zu fuhren, das unsrer Bestimmung, unsern Pflichten, den Wissen234
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S. o., S. 225. UdE,I,S.21. Ebd., I, S. 21f. Aus der Unterstützung einer solchen »Auswechslung« von Empfindungen durch die ästhetische Erfahrung sollte Kant wenig später ein »empirisches Interesse am Schönen« ableiten, das den folgenden Ästhetisierungen des Geselligkeitsgrundsatzes einen entscheidenden systematischen Anknüpfungspunkt geliefert haben dürfte (s. dz. u., S. 314f). UdE,I,S.27.
Ebd., IIL S. 8. Ebd., IV, S. 92.
243 schaflen und unschuldigen Freuden gewidmet ist, und dann zuweilen einmal mit Nüchternheit an öffentlichen Vergnügungen, an großen, gemischten Gesellschaften Theil zu nehmen, um für die Phantasie, die doch auch nicht leer ausgehn will, neue Bilder zu sammeln und die kleinen, widrigen Gefühle der Einförmigkeit zu verlöschen, - Das ist ein Leben, das eines weisen Mannes werth ist!240
Doch im Unterschied zu Zimmermann umreißt Knigge an dieser Stelle weniger einen temporären Rückzugsraum. Vielmehr stellt sein Plädoyer für eine »fiiedliche[/] häusliche[/j Eingezogenheit« offenbar eine idealisierte Alternative zu der Notwendigkeit eines pragmatisch orientierten und strategisch planenden Umgangs dar. Daß diese Alternative an die soziale Voraussetzung gebunden ist, nach »seinen Verhältnissen [...] unabhängig seyn«241 zu müssen, und daß sie innerhalb des Kapitels »[ü]ber den Umgang mit Hofleuten und ihresgleichen« geliefert wird, macht deutlich, wo dieses Ideal sozial anzusiedeln ist: Knigge formuliert diese Alternative für einen materiell unabhängigen Adelsstand, der sich dem unmittelbar zuvor drastisch geschilderten höfischen Intrigenspiel242 durch den Rückzug auf seinen hoffemen Landsitz zu entziehen vermag. Nicht die Notwendigkeit, sich in die differenzierten Umgangsformen einer Welt der Geschäfte ebenso im eigenen wie auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu integrieren, unterbricht die vertraute Geselligkeit dieser >kleinen Gesellschaft^ sondern die gelegentliche Teilnahme an »öffentlichen Vergnügungen« wird gegen die drohende »Einförmigkeit« der zurückgezogenen Lebensweise aufgeboten. Die häufig allzu pauschale Qualifizierung des Adressaten von Knigges Umgangsregeln als >bürgerlichganze Mensch< in Gestalt seines umfassenden moralischen Charakters in Erscheinung zu treten und die Grundlage einer Beurteilung der Persönlichkeit zu bilden vermag."9 Dies ist jedoch nur an einem Ort jenseits der Welt der Geschäfte möglich, an dem sich eine von den strategischen Erfordernissen ebenso wie von den funktionalen Einseitigkeiten gewöhnlicher gesellschaftlicher Tätigkeit freie, handlungsentlastete Geselligkeit formieren kann. Darauf verweist wenig später ausdrücklich auch Christian Garve: 254
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Ebd., U, S. 171. Ebd., II, S. 172. Diese Kennzeichnung durfte auch durch die Idealisierung des vorbildlichen Hauswesens von Ciarens in Rousseuas Nouvelle Helolse geprägt worden sein. Zu dessen {Constitutions- und Erziehungsprinzipien s. o., S. 174ff. Diese Doppelperspektive auf den Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung durfte erheblichen Anteil an der Feststellung Thomas Pittrofs haben, in Knigges Versuch zu einem Regelwerk Ueber den Umgang mit Menschen, das den differenzierten sozialen Verhältnissen angemessen ist, liege etwas »ganz Untröstliches: das Unerldstsein der eigenen Person durch Gesellschaft, nämlich die Gesellschaft des anderen.« Knigges Aufklärung über den Umgang mit Menschen, S. 52. Vgl. dz. neben den bereits angeführten Belegen auch UdE, IV, S. lOOff., 23 Iff.
246 Ja da in jedem ändern Verhältnisse der Mensch, nie ganz nach seiner gesammten Persönlichkeit, sondern nur nach einer seiner Seiten und Eigenschaften zum Vorschein kommt, und nur nach einer geschätzt und geehret wird, [...] so ist in der That der Umgang und die des Vergnügens wegen zusammen kommende Gesellschaft, der einzige Ort, wo er den Total=Eindruck, welchen er auf andere Menschen macht, kennen lernen, und die Stimmen über diejenigen seiner Vollkommenheiten und Mängel sammeln kann, die aus allen seinen geistigen und körperlichen Eigenschaften zusammen genommen entspringen.250 Die den Ausführungen zum Geselligkeitstrieb vorangestellte Unterscheidung zwischen >Trieb< und >Notdurft< bestimmt die Systematik des von Zimmermann vorgelegten Einsamkeitskonzepts: Ist sowohl der Vereinigungstrieb als auch die natürliche Notdurft anthropologisch in Rechnung zu stellen, wenn nach der Begründung der Geselligkeit gefragt wird, so ist systematisch zwischen den sozialen Formationen zu unterscheiden, innerhalb derer den jeweiligen anthropologisch begründeten Ansprüchen Genüge getan werden kann. Zimmermanns Plädoyer für eine >gesellige Einsamkeit erhebt daher aus systematischen Gründen nicht den Anspruch, als Ersatz für den auf Befriedigung der Notdurft gerichteten gesellschaftlichen Zusammenschluß zu fungieren. Der Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt, die Beteiligung »an den Geschäften und Gewerben der bürgerlichen Welt«261, bleibt auch in seiner Konzeption unhintergehbare Pflicht, und »man wäre eigennützig und Gott misfällig, wenn man allen seinen Pflichten gegen die Welt entsagte«2'2. Die Fähigkeit zum klugen Weltumgang soll von der Einsamkeit lediglich zeitweise außer Kraft gesetzt, nicht aber auf Dauer suspendiert werden: Stärke des Charakters erlanget man in der Einsamkeit, aber Geschicklichkeit zur Anwendung dieser Stärke, aller Vortheile der Einsamkeit ungeachtet, doch nur in der Weh. [...] Einsamkeit giebt Taubeneinfalt aber nicht Schlangenklugheit. Es ist nicht genug, daß man auch Menschen, vor denen andere zittern, keck in die Augen sieht; man muß auch die Kunst kennen diesen Menschen das Herz abzugewinnen; auch die Schliche des Neides, dessen Plane, Hofhungen, und Ränke; auch die Schliche und Pfiffe von allen, die immer eigene Plane haben, und also doch gerne jedem ändern den seinigen zerstören. Der Einsame und der Welt Unkundige geht in allem gerade durch; der Weltmann weiß wo er stille stehen, wo er ausbeugen, wo er nachgeben soll, und ergreift den Augenblick zum Durchsetzen nicht eher, als bis er ihn hat263 260
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Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, I, S. 350f. Zur Einschränkung der Berufstätigkeit »auf die bloße Wiederholung einfacher Operationen« und ihren Einfluß auf »das Fortschreiten der untern Classen in Einsichten und Sittlichkeit« vgl. auch ebd., I, S. 40f. Zur Problematisierung der Arbeitsteilung bei Garve im Zusammenhang mit seiner Rezeption schottischer Sozialphilosophie vgl. Claus Ahmayer. Aufklärung als Popularphilosophie, S. 246ff. UdE,IV,S.310. Ebd. Ein entsprechendes Modell, in dem »Einsamkeit und Gesellschaft, Umgang mit uns selbst und Umgang mit ändern, miteinander abwechseln müssen«, vertritt auch Christian Garve (Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, I, S. 233f), der wie Zimmermann (s. o., S. 199) auch daraufhinweist, daß »ein eingezogenes Leben [...] nicht immer ein einsiedlerisches Leben« sei (ebd., I, S. 330; Hervorhebungen im Original). UdE, IV, S. 35 If. Eben dieser Umstand, daß »Personen, die wahrlich allen guten Willen und treue Rechtschaffenheit mit mannigfaltigen, recht vorzüglichen Eigenschaften und dem eifrigen Bestreben, in der Weh fortzukommen, eigenes und fremdes Glück zu bauen, verbinden, [...] dennoch mit diesem allem verkannt, übersehn werden, zu gar nichts gelangen«, veranlaßt Knigge, den unter dem Begriff des »esprit de conduite« zusammengefaßten Eigenschaften eine grössere Verbreitung Ober die Standesgrenzen hinweg zu verschaffen. Seine Kennzeichnung dieser
247 Die Notwendigkeit, das abseits der Gesellschaft Erreichte in den geselligen Verkehr der Menschen einzubringen, bestimmt auch die Einschränkungen, die Zimmermann bezüglich der von ihm besonders geschätzten gelehrten Einsamkeit vornimmt: Nicht nur beraube sich derjenige, der meint, »in Büchern alles zu finden, was wissenswerth ist[J [... ] des Gewinnes [...], den wir aus dem Umgang mit weisen und erfahrnen Menschen ziehen könnten.«264 Zudem bewirken »Gelehrsamkeit, Philosophie und Einsamkeit [...] zusammen etwas Widriges«265, das allein durch die Klugheit gesellschaftlichen Umgangs behoben werden kann, um dem zurückgezogenen gelehrten Studium eine angemessene Wirkung in der Welt zu verschärfen. Dies erfordert ein praktisches Wissen anderer Art: Viele Gelehrte, die für Menschen schreiben und auf die Menschen wirken könnten und sollten, fliehen darum die Menschen, und dieß mit Unrecht Die einzigen Quellen ihres Unterrichts sind doch nicht hinreichend zur Menschenkenntniß und Weiterfährung.2*6 Hierfür bedarf es statt dessen der »Lust [... ] die Menschen zu studiren, so wenig Freude man auch am Ende davon hat, sie zu kennen.«267 Dieser »Durchblick« wird nicht durch »Philosophie« erlangt, nicht durch »das Federlesen, [...] das langsame Abwickeln von Gedanken, [...] das Zweifeln und Schwanken, [...] woran sich oft der größte philosophische Denker in der Einsamkeit so sehr gewöhnet.«268 Daher gilt es, das gründliche Studium nicht auf Kosten der Men-
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Eigenschaften macht deren Verwurzelung in der Lehre vom rhetorischen decorum deutlich: Es handelt sich um »die Kunst, sich bemerken, gehend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden; sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu seyn; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigenthümlichkeit des Characters zu verliehren, noch sich zu niedriger Schmeicheley herabzulassen [...], eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, zu rechter Zeh Verleugnung, Gewalt Ober heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüths.« Ueber den Umgang nah Menschen, I, S. 8. Entsprechend hat auch Christian Garve seine Geselligkeitsvorstellungen an die Regeln des decorum gebunden; s. dz. o., S. 76. Das Wesen der Gesellschaftskunst besteht mithin in der Verbindung der eigenen Tugendhaftigkeit mit der Fähigkeit »in der Weh fortzukommen« (a. a. O.). UdE, IV, S. 306. Auch Christian Garve beharrt trotz der Bedeutung, die er dem einsamen Studium zubilligt, darauf, daß dieses nicht erst für die Umsetzung des Erkannten, sondern bereits wahrend des Erkenntnisprozesses durch geselligen Umgang zu ergänzen sei: Vgl. Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, I, S. 117ff., 140f. Zu Garves Gelehrsamkeitsbegriff vgl. Günter Schulz: Christian Garve und Immanuel Kant Gelehrten-Tugenden im 18. Jahrhundert In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Univershät zu Breslau V (1960). S. 123-188; sowie Gotthardt Fruhsorge: Vom »Umgang« und von den Büchern. Zu Christian Garves Reflexionen bürgerlicher Existenz. In: Euphorien 81 (1987). S. 66-80. Zu Garves Verhältnis zu Kant vgl. außerdem bereits Albert Stern: Ueber die Beziehungen Chr. Garve's zu Kant Nebst mehreren bisher ungedruckten Briefen Kant's, Feder's und Garve's. Leipzig 1884; sowie Klaus Petrus: »Beschrieene Dunkelheit« und »Seichtigkeh«. Historisch-systematische Voraussetzungen der Auseinandersetzung zwischen Kant und Garve im Umfeld der Göttinger Rezension. In: Kant-Studien 85 (1994). S. 280-302. UdE, , S. 32f. Ebd., II, S. 24. Ebd., IL, S. 24f. Ebd.. IL S. 33f.
248 schenkenntnis zu betreiben, die allein die Klugheit des Umgangs vermittelt und ohne die das einsam erlangte Wissen wirkungs- und folgenlos bleiben muß: Weltumgang ist eine unerschöpfliche Quelle von Gedankenprüfung und neuen Gedanken. Er giebt dem Geist den Charakter, und den Sitten die Biegsamkeit, die Schlankheit und die Kraft, durch die man [...] die Herzen hinreisset, und die Gemüther Oberzeuget [...][/][...] Umgang mit Menschen in allen möglichen Fällen und Verwicklungen des Lebens, aber nicht Einsamkeit führet auf diesen Weg. [...] Willst du die Menschen recht kennen, so mußt du sehen wie sie handeln, und selbst in ihre Geschäfte verwickelt seyn und dein Bisgen Weltklugheit schrecklich theuer kaufen.1"
Ein historisches Vorbild dieser den Gelehrten empfohlenen Lebensweise stellt rar Zimmermann Petrarca dar.170 Keiner zweiten historischen Persönlichkeit werden ausführlichere Betrachtungen gewidmet als ihm. Lediglich der Name Rousseaus findet in vergleichbarem Maße Verwendung. Wie bereits dargelegt, taugt dessen misanthropische Weltflucht jedoch nicht zum Vorbild und wird statt dessen zur Illustration von Zimmermanns Pathologie der Einsamkeit verwendet. So interessiert ihn auch an Petrarca nicht »der weiche und weibische Ton, in welchem Er zu den Füssen seiner Laura seufzte.«271 Petrarcas Liebesklagen dienen vielmehr als weiterer historischer Beleg für Zimmermanns These, daß die durch Melancholie motivierte Einsamkeit, statt als besänftigendes Therapeutikum zu wirken, nur immer tiefer in Melancholie verstrickt, denn auch »Petrarcha erfuhr, mehr als jemals, die Schmerzen der Liebe, in seinem neuen Aufenthalt zu Vauclüse.«272 269
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Ebd., H, S. 26f., 34f. Zur gelehrten Einsamkeit vgl. außerdem ebd., U, S. 241ffi, 429ffi Auch hierin ist sich Zimmermann mit Christian Garve weitgehend einig. Selbst bezüglich der Reflexion moralischer Grundsätze sowie der moralischen Selbstprüfung, die auf die »Stimme des Gewissens« angewiesen sei, »die sich in dem Geräusche der Weh schwerlich huren laßt« (Lieber Gesellschaft und Einsamkeit, I, S. 237), erscheint Garve »eine Abwechslung geselliger Thatigkeh mit einsamer Samlung des Gemüths« angezeigt (ebd., I, S. 252). Vor diesem Hintergrund durften auch die Bedenken zu verstehen sein, die Garve gegenüber der Form der Kantischen Moralphilosophie äußerte, als er auf die Gefahr hinwies, daß »die abstractesten Speculationen [...] den Philosophen noch mehr von dem Geschäfts- und Wehmanne [...] entfernen« könnte: Brief an Christian Weiße vom 12.12. 1789. Zit. nach Günter Schulz: Christian Garve und Immanuel Kant, S. 148. Vgl. dz. auch Gotthardt Frühsorge: Vom »Umgang« und von den Büchern, S. 66ff., 80; Claus Atonayer: Aufklärung als Popularphilosophie, S. 279ff., 29 Iff.; sowie Helmut Zedelmaier: Christian Garve und die Einsamkeit, S. 138ff. Vgl. dz. auch Ren6 von Niederhäusern, der einen dem vierten Band Ueber die Einsamkeit vorangestellten Kupferstich als Bildnis Petrarcas identifiziert, in dem Zimmermann das »höchste Ideal einer >schöpferischen Einsamkeit< [...] verkörpert« gesehen habe: Die »heiligen Halunken«, S. 44£, Zitat S. 44. (Allerdings legt von Niederhäusern seinen Überlegungen ein Exemplar des Karlsruher Nachdruckers Schmieder von 1786 zugrunde. Der Stich ist jedoch mit dem der Originalausgabe identisch.) Auf Petrarca wurde Zimmermann ebenfalls von Wieland hingewiesen, der ihn am 12.7.1756 auf dessen De vita solitaria (entstanden 1346) aufmerksam machte, das er selbst allerdings »nie zu sehen bekommen« habe: Wielands Briefwechsel, Bd. l, S. 270. Am 18./19. 10. 1756 erhält Zimmermann dann von Wieland »den Petrarca« - allerdings mit dem Hinweis: »Sie werden ihn aber schwerlich zu etwas brauchbar finden.« (Ebd., S. 287.) Ob es sich hierbei um die besagte Einsamkeitsschrift Petrarcas handelte, geht aus dem Schreiben nicht hervor, ist jedoch angesichts des Urteils anzunehmen, mit dem Zimmermann selbst den mangelnden Wert dieser Schrift herausstellte (s. u.). UdE, HI, S. 491. Ebd., IV, S. 189; vgl. auch , S. 269.
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Diese Beurteilung Petrarcas durch Zimmermann erscheint symptomatisch für die »Petrarcarenaissance« im 18. Jahrhundert, zu deren Voraussetzungen zählte, »das landläufige, einseitige Bild des Laurasängers zu korrigieren«273: Auch für die Neubewertung Petrarcas in der Poetik war die Unterscheidung des Originals von der künstlichen Maniriertheit seiner petrarcistischen Nachfolger entscheidend, um in ihm den »Ausdruck eines empfindsamen, phantasiereichen Gemütes«174 wiederfinden zu können. Auf diese Weise wurde es möglich, den »Einsiedler von Vaucluse und de[n] Einsiedler auf der Petersinsel [... ] zu einer inneren Einheit«273 zu verschmelzen. Allerdings gereicht diese >Verschmelzung< Petrarca in Zimmermanns Augen keineswegs zum Vorteil. Vielmehr unterwirft sie auch ihn der gleichen Pathologisierung, die Rousseau erfahren mußte. Dennoch boten die biographischen Parallelen die Möglichkeit einer Personalisierung des von Zimmermann vertretenen temporären Einsamkeitsideals: Auf ihrer Grundlage ließ sich die an Rousseau vermißte Fähigkeit Petrarcas betonen, den Gefahren krankhafter Melancholie durch Stärke des Charakters zu entgehen. Zugleich bildete dieser Charakter, der sich zu keiner totalen Absage an die Welt hatte entschließen können, die Grundlage ftlr die auch von Zimmermann favorisierte und programmatisch vertretene Lebensweise, die den Bedürfhissen des Herzens in der Einsamkeit, den weltlichen Interessen jedoch in der Gesellschaft nachgeht. Auch Petrarcas Schrift De vita solitaria (1346) begründet daher nicht die herausgehobene Stellung, die Zimmermann diesem im Rahmen seiner Erörterung einräumt.176 Im Gegenteil zahlt er sie zu den »schlechtesten seiner Schriften«177. Für vorbildlich hält er dagegen die Biographie, an der er insbesondere die Fähigkeit hervorhebt, die Rolle des Gelehrten und des Beförderers der schönen Künste mit derjenigen des politisch tätigen »Staatsmann[es], Abgesandten, und Minister[s]«178 zu verbinden. Dadurch habe Petrarca über »einen Ruhm, ein Ansehen, einen Wirkungskreis, und einen Einfluß [... ] [verfügt], wie in unsem Zeiten kein einzige Gelehrter«179.
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Werner Handschin: Petrarca als Gestalt der Historiographie. Seine Beurteilung in der Geschichtsschreibung vom Frühhumanismus bis zu Jacob Burckhardt Diss. Basel 1964. S. l IS, 118. Vgl. auch Petrarca. Hg. von August Bück. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung CCCLffl) Zur Rezeption außerdem Petrarca 1304-1374. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. von Fritz Schalk. Frankfurt/M. 1975. Werner Handschin: Petrarca als Gestalt der Historiographie, S. 112. Ebd. Zur Bedeutung von Rousseaus eigener Petrarca-Rezeption für dessen »noch kaum durchschaute Wirkungsgeschichte« vgl. Karlheinz Stierte: Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung. Krefeld 1979 (Schriften und Vortrage des Petrarca-Instituts KölnXXIX).S.67ff. Zu Petrarcas De vita solitaria als Versuch zu einem »possible compromise, life whhin society that was morally directed", vgl. Charles Trinkaus: The Poet as a Philosopher. Petrarch and the Formation of Renaissance Consciousness. New Haven, London 1979. S. 72f£, Zitat S. 85. Zu Petrarcas Einsamkeitsschriften vgl. zuletzt auch Peter von Moos: Petrarcas Einsamkeiten. In: Einsamkeit, S. 213-237, insbes. S. 219ff UdE,IV, S. 121, Anm. Ebd., m, S. 490. Ebd.
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»Petrarcha der Philosoph« rechtfertigte ein den Gegenständen des Geistes und der Religion gewidmetes Leben in der Einsamkeit; »Petrarcha der Mensch gieng, kurze Zeit nachher, wieder nach Avignon; und dann ab und zu, auch nach Vauclüse!«280 Daher sei seine Biographie besonders geeignet zu »zeigen, was man in der Welt vermag, wenn man lange genug seine Kräfte in der Einsamkeit geübet hat, und wie diese dann auch in Weltgeschäften Freyheit und Festigkeit giebt, Ausdruck und Selbständigkeit, Würde und Adel, und durch dieses Alles Nerv zu Allem.«281 Damit dürfte auch Zimmermanns vielgelesenes Werk dazu beigetragen haben, Petrarca nicht »nur als Wiedererwecker der klassischen Sprache und Literatur, sondern vielmehr als Vater der gesamten neuzeitlichen Kultur und [... ] als frühe Verkörperung der Eigenarten des modernen Menschen«2*2 zu sehen. Recht verstandene Einsamkeit beeinträchtigt die Fähigkeit zum Weltumgang also keineswegs; Zimmermann traut ihr sogar zu, diese Fähigkeit zu unterstützen: Giebt auch eine gewisse Erhebung des Gemüths dem speculativen Einsamen, einige Gleichgültigkeit gegen die Welt, so macht dann doch dieselbe wirksame Denkart, durch die so mancher Mensch schon in der Einsamkeit gut und nützlich werden kann, ihn auch für das gesellschaftliche Leben zu ausgebreiteter Geschäftigkeit fähig. Je mehr er in der Stille seine Denkkraft übet, desto nützlicher wird er in der Folge, wenn er seinen ganzen Beruf gehörig versehen lernt, für sich und die Weh.283
Zimmermanns Einsamkeit wird also weder als Alternative des gesellschaftlichen Interessenverbandes konzipiert, noch ist sie bloß Ort der Kompensation. Zwar vermag sie das in der Gesellschaft verlorengehende anthropologische Ideal zu bestätigen und zu befördern und dadurch den möglichen Verdruß über den gesellschaftlichen Menschen zu kompensieren, der sich nicht diesem Ideal gemäß verhält. Doch Zimmermann ordnet ihr noch weitergehende Aufgaben zu: Über die Kompensation hinaus vermag die Einsamkeit als Ort der Reflexion den Menschen zu einem kontrollierten gesellschaftlichen Verhalten geschickt zu machen, 280
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Ebd., IV, S. 204. Ebd., , S. 494. Nur mit Einschränkungen stellt Zimmermann Petrarca, der »dachte und schrieb, wie ein Bürger des alten und noch nicht unterjochten Roms« (ebd., , S. 489), die Lebensläufe zweier römischer Bürger an die Seite: Cicero und Horaz zogen sich erst nach ihren Wehgeschaften und keineswegs freiwillig in ihr Asyl im »schattigten Tusculum« bzw. im »öden Tibur« zurück (ebd., I, S. 59£). Mochte dies auch noch einigen Einfluß auf ihr persönliches Seelenheil nehmen, so kehrten sie doch aus ihrer Einsamkeit nicht in die Weh zurück, um ihren dort erlangten Einsichten Wirkung zu verschaffen. Cicero besaß überdies zwar »alle Schätze der Seele, [...] um Einsamkeit zu benutzen, aber nicht Kraft genug um Verbannung zu ertragen.« (Ebd., IV, S. 258f.) Auch er habe über eine entsprechende körperliche Disposition verfügt und wurde daher »in seinem Exilio hypochondrisch; und sobald man das ist, so ist man nichts, so verschwindet alles Vermögen der Seele zu großen Entschlüssen und kühnen Thaten.« (Ebd., IV, S. 259) Werner Handschin: Petrarca als Gestalt der Historiographie, S. 109. Ähnlich - und durchaus im Einklang mit Zimmermanns Einschätzung - beurteilt auch Peter von Moos die Rolle Petrarcas im Bezug auf intellektuelle Einsamkeit, wenn er zunächst festhält, dieser sei »alles andere [...] als ein apolitischer Eigenbrötler« gewesen, um ihm sodann »Pionierarbeit [...] für eine bestimmte gesellschaftlich desintegrierte Intellektuellenschicht« zuzuschreiben: Petrarcas Einsamkeiten, S. 218. UdE, IV, S. 302.
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so daß über den Umweg der >geselligen Einsamkeit< schließlich doch das gesellschaftliche >System der Bedürfhisse< von den geselligen Neigungen unterstützt wird, denn: »Wohlbenutzte Einsamkeit macht [...] auch, in manchem Betracht, zu Weltgeschäften nicht nur nicht unfähig, sondern wirklich geschickt.«284 Im Ergebnis legt Zimmermann damit lediglich eine leichte Variation der bekannten komplementären Konzeption vor, die sich im Anschluß an die Geselligkeitsbegründung des profanen Naturrechts durchsetzte: Einsamkeit und Wehleben wird man also nützlich genießen, wenn man dort seine Tage gewissenhaft hinbringet, hier mit Verstand und Würde des Betragens; wenn man in beyden seine Rolle gut spielet, die Nachtheile der Einsamkeit durch Weltumgang mildert, und die Nachtheile der Geselligkeit durch Einsamkeit Aber übertrieben und einseitig soll man überhaupt weder die Einsamkeit loben, noch das gesellschaftliche Leben. [...] Immer wird es, wenn die Erziehung nicht ganz einseitig ist, Menschen genug geben, die vermögend sind auf jede Weise nützlich zu werden; wie ein sanfter Fluß, der nicht nur durch einsame Thäler und zwischen Heerden und Hirten hinfliesset, sondern auch volkreiche Städte in seinem Lauf besuchet, und diesen zugleich zur Zierde dienet und zum Vortheil.283
Von dieser komplementären Geltung und gegenseitigen Beförderung der Welt der Geschäfte einerseits und einer von dieser unabhängigen >geselligen Einsamkeit andererseits unterscheidet sich die von Obereit vorgelegte Einsamkeitskonzeption nicht lediglich in einzelnen Nuancen, sondern grundsätzlich. Zwar wurde bereits daraufhingewiesen, daß auch er darum bemüht ist, die religiöse Einsamkeit im Blick auf den gesellschaftlichen Nutzen zu rechtfertigen, den sie zu stiften vermag. Doch anders als Zimmermann hält er an dem christlichen Grundsatz der Nächstenliebe in einer Weise fest, die den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang als dessen weltliches Surrogat nicht einbezieht. Obereit knüpft im Gegensatz zu Zimmermann unnmittelbar an jenen Begriff der »Liebe« an, für den der »medicinische[/] Gesichtspunkt« keinen Maßstab zu liefern vermochte. Die Liebe als »eine anschauende Erkenntnis der Vollkommenheit, die nicht in kalten Schulschlüssen besteht«286, hat für ihn nicht allein das Verhältnis des Menschen zu Gott zu bestimmen: Wie »[diejenigen, die sich, von der Welt unbefleckt bewahren, die nur Gott anhangen, denen nur Gott ihr Gott und ihr Alles ist, [... ] Ein Geist mit Dim«287 werden, so soll unter den Menschen eine »Vereinigungszärtlichkeit« herrschen, die darauf ausgerichtet ist, »ein ewiges seliges Ganzes«288 aus ihnen zu machen. Obereits >Gesellschaft der Einsamem gründet sich weniger auf natürliche Unmittelbarkeit des menschlichen Miteinanders als vielmehr auf die versöhnende Kraft der christlichen Offenbarung. Daher rekurriert er nicht auf den idealisierten vorreflexiven Urzustand, sondern 284 285 280 287
2M
Ebd., IV, S. 352. Ebd., IV, S. 332f. Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens, S. 49f. Die Einsamkeit der Weltüberwinder, S. 78. Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens, S. 77f. In diesem Sinne trägt das Geselligkeitsideal Obereits deutliche Züge jenes >Einhertsdenkensbürgerlichen< politisch-moralischen Überzeugungen. Vielmehr erfolgt seine Reklamierung im Rückgriff auf eine mystisch-hermetische Tradition, die in krassem Gegensatz zu den sozialen Theorien einer sich funktional ausdifferenzierenden bürgerlichen Gesellschaft stand. Das in ihrem Rahmen artikulierte Sozialmodell unterscheidet sich entsprechend fundamental von demjenigen einer kleinräumigen Geselligkeit, die der gesellschaftlichen Existenz an die Seite gestellt wird. Die Exklusivität der von Obereit als vorbildlich herausgestellten Gemeinschaft der Heiligen macht aus dem von Zimmermann vorgelegten Konzept geselliger Einsamkeit eine gesellschaftsfern gepflegte einsame Geselligkeit. Für die Vertreter der Aufklärung begründete eben dieser Anspruch einer begrenzten Gemeinschaft, die ihre eigenen Organisationsprinzipien als vorbildlich versteht und für sich das Recht beansprucht, auf eine entsprechende gesamtge294
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Ebd., S. 100. Zur Kennzeichnung seiner idealen Gemeinschaft greift Obereit auf Topoi der Kritik an der Konzeption des Natur- als Zwangsrechts zurück, die am Ausgang des 18. Jahrhunderts nicht allein in frühromantischen Kreisen vebreitet war (vgl. z. B. auch Zimmermanns eigene, spater geänderte Forderung nach Ersetzung der Gesetze durch Moral in der ersten Auflage vom Nationalstolze; s. o., S. 211f). Oberehs Rekurs auf religiöse Gemeinschaftsfonnen verweist auf den Hintergrund dieser spater ästhetisch akzentuierten Kritik am bürgerlichen >Not- und Verstandesstaatkleinen Gesellschaftern zu etablieren vermag. Wie schon im Hinblick auf seine Cicero-Kritik deutlich wurde,300 betont Garve vielmehr, daß die von unmittelbaren geselligen Neigungen des Menschen geprägten >kleinen Gesellschaftern der Gesamtgesellschaft nicht zum Vorbild dienen können. Diese muß vielmehr auf Integrationsfaktoren zurückgreifen, die gesellschaftliche Stabilität auch unabhängig von den zwar wünschenswerten, aber nicht erzwingbaren Gefühlen zu gewährleisten vermögen. Die natürlichen sympathetischen Neigungen finden ihren Ort auch bei Garve in den >kleinen Gesellschaftern, die sich innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Rahmens zusammenfinden. Doch diese dienen lediglich zur Ergänzung der gesellschaftlichen Existenz und stellen in dem Moment eine Gefahr für die soziale Stabilität dar, in dem sie den Anspruch erheben, die übergreifenden Strukturen in ihrem Sinne zu ändern oder gar zu ersetzen.301 Entsprechendes gilt auch für Zimmermann, der bereits in seiner Abhandlung vom Nationalstohe ein ähnliches Problem formuliert hatte, als er auf die Selbstüberschätzung zu sprechen kam, die den in >kleinen Gesellschaftern Lebenden gegen die Menschen außerhalb seines Kreises aufzubringen drohe: Unheilbar sind diese Mängel bey jedem grossen Manne auf einem kleinen Fleck, wenn sein Geist nicht grosser ist als dieser Fleck. Wer sich in eine kleine Gesellschaft völlig einschränkt, wird allemal ganz gewiß der Feind aller Leute von einer ausgebreitetem Denkungsart seyn
Dagegen hält Obereit gerade die kleinen Gemeinschaften der religiös-moralischen Eliten für fähig, die »Denkungsart« der Menschen zu erweitem und ihren Blick auf die Zusammenhänge zu lenken, die über ihre materielle Existenz hin300 301
302
S.o.,S. 185f. Von einem ähnlichen Standpunkt aus wandte sich Garve in seiner Abhandlung Lieber die öffentliche Meinung gegen alle Formen von parteilichen Zusammenschlössen: »Je mehr man Achtung ittr die öffentliche Meinung hat, desto mehr Widerwillen muß man gegen das Stiften von Parteyen haben.« In: Versuche Ober verschiedene Gegenstände aus der Mond, der Lhteratur und dem gesellschaftlichen Leben von Christian Garve. Fünfter Theil. Breslau 1802. S. 291-334, hier S. 323. (GGW, 1/3) Damit ist Garve nicht im Sinne Gerd Kieps in Anspruch zu nehmen, der ihm im Anschluß an Reinhart Kosellecks Thesen zur Pathogenese des Bürgertums die Intention unterstellt, der politischen Ordnung die Kritik des moralischen Standpunktes entgegenzusetzen, so daß seine Position getragen sei »von der das Politische korrigierenden moralischen Kritik«: Literatur und Öffentlichkeit bei Christian Garve. In: Aufklärung und Uterarische Öffentlichkeit Mit Beiträgen von Reinhart Meyer u. a, hg. von Christa Bürger u. a. Frankfurt/M. 1980 (Hefte für kritische Literaturwissenschaft 2). S. 133-161, hier S. 139. Zur Trennung von Politik und Moral bei Garve vgl. auch Michael Stolleis: Die Moral in der Politik bei Christian Garve. J. G. Zimmermann vom Nationalstolze, 41768, S. 41f. Diese Verbindung von eingeschränktem gesellschaftlichen Umgang und eingeschränkter »Denkungsart« findet sich nicht in der dem Modell der >kleinen Gesellschaftern Rousseaus noch näherstehenden ersten Auflage von 1758. Dort ist zwar auch von »einem verächtlichen Cirkel von kleinfÜgjgen Begriffen« die Rede (S. 52), der zu Eigendünkel und Selbstüberschätzung führe, ohne daß dieser jedoch mit Fragen kleinräumiger oder ausgebreiteter Geselligkeit in Zusammenhang gebracht würde.
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ausweisen. Die gesellschaftliche Utopie speist sich dabei aus seinem spekulativen metaphysischen System der »Allharmonie«, dessen ausführliche Rekonstruktion im vorliegenden Zusammenhang zu weit fuhren würde.301 Die folgende Darstellung konzentriert sich daher lediglich auf die wesentlichen Grundzuge: Bereits 1776 veröffentlichte Obereit seine spekulative Erstlingsschrift unter dem programmatischen Titel Ursprünglicher Geister^ und Körperzusammenhang nach Newtonischem Geist. In diesem schmalen, knapp dreißig Seiten umfassenden Bändchen formulierte er erstmals seine metaphysische Grundüberzeugung, die er in den folgenden rund 20 Jahren in unterschiedlichen Zusammenhangen und unter Aufbietung zahlreicher Begründungsvarianten vertreten sollte: Wann eine beständige Gradation ohne Sprünge in der ganzen Ordnung der sichtbaren Natur und ihres Laufes zu finden, und durch genauere Beobachtungen immermehr [!] erwiesen und augenscheinlich wird, so wird es wenigstens höchstwahrscheinlich, daß nicht weniger, wo nicht noch vielmehr, vollkommen ordentlich schattirende Gradation in dem Geister= und Seelenreich sey, [...] und daß selbst der bisher ungeheuer geschienene Absprang vom Geisterreich zur Körperwelt als vom vermeyntlich unausdehnbaren zum leblos ausgedehnten Wesen [...] unmöglich im All der weisheitsvollen Schöpfung statt haben könne, ohne wesentlich wirklich und ganz ordnungsvoll ausgeführt zu werden [.. .].104
Die von Newton entwickelten Gesetze der Gravitation galt es für Obereit in diesem Zusammenhang per Analogieschluß auf die nichtkörperliche Welt zu übertragen, um sowohl ihnen selbst eine nicht lediglich empirische Begründung zu verschaffen als auch Einsicht in die Wirkgesetze der >Geisterwelt< zu erlangen. Dies meinte er durch die Verbindung newtonischer Grundsätze mit der Leibnizschen Monadologie leisten zu können: Wenn nun die Monade in ihrer ersten natürlichen Lichtsfreude sich ausbreitet, damit ein freudenvolles Lichtscentrum aller ändern wird, sich vollkommen, klar ausgedrückt gern allen ändern mittheilet, zu dem Ende so weh ihr auf einmal möglich, ihre Ausbreitungstendenz entzükkend auf alle andere Monaden erstrecket, sie zu ihrer Vollkommenheitsmittheilung an sich zu ziehen und zusammen in ihren klaren Ausbreitungs=Kreis einzulocken, so wird sie hiemit zugleich ein Liebescentrum mit Liebesanziehungskraft für alle von ihr zu bewirken mögliche und beziehe Weh.305
Hans-Jürgen Schings hat bereits vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, daß ein Auszug aus diesem Traktat Obereits in der gleichen Ausgabe des Schwäbischen Magazins abgedruckt wurde, in der auch Friedrich Schillers erste Ge-
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Vgl. zum Folgenden ausführlich meinen Aufsatz: »Allharmonie von Allkraft zum All-Wohl«. [Jacob Hermann Obereit:] Ursprünglicher Geister= und Körperzusammenhang nach Newtonischem Geiste. An die Tiefdenker in der Philosophie. Augsburg 1776. S. 22f. Zur Tradition des Prinzips der »beständige[n] Gradation ohne Sprünge in der ganzen Ordnung der sichtbaren Natur« vgl. nach wie vor (mittlerweile in deutscher Übersetzung) Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übersetzt von Dieter Turck. Frankfurt/M. 1985. [Jacob Hermann Obereit:] Ursprünglicher Geister= und Körperzusammenhang nach Newtonischem Geiste, S. 21. (Hervorhebungen im Original.)
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dichtveröffentlichung zu finden ist.30* Schings nahm dies zum Anlaß, die »Jugendphilosophie« Schillers im Kontext der »hermetischen Tradition und ihrer Newton-Rezeption«307 zu untersuchen, deren Spuren er ausführlich in den Karlsschulreden, der Theosophie des Julius sowie den Räubern nachging.308 Neben bekannteren Namen wie Friedrich Christoph Oetinger309 oder Franz Hemsterhuis310 zählt Schings auch Obereit zum Umkreis dieser spezifischen hermetischen Newton-Interpretation und kann sich dabei auf die vorangegangenen Forschungen Rolf Christian Zimmermanns stützen.311 Obereits eigener ausdrück306 307
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Vgl. Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses, S. 81. Ebd. Zu Schillers »Vereinigungsphilosophie« im Zeichen der »Liebe« als einer das gesamte Universum umfassenden »zusammenhaltende[n] Urkraft« vgl. auch Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979. S. 33ffi, Zitat S. 36; sowie ausführlich Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Vgl. dz. u. a. bereits Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immamiel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs. Nach neuen Quellen bearbeitet Frankfurt/M. 1947; Ders.: Die Naturtheologie Friedrich Christoph Oetingers. In: Antoine Faivre, Roh0Christian Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik- Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter des In- und Auslandes. Berlin 1979. S. 256-277; Ders.: Der Philosoph von Sans-Souci im Urteil der Theologie und Philosophie seiner Zeit (Oetinger, Tersteegen, Mendelssohn). Mainz, Wiesbaden 1971 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistesund sozialwissenschaftlichen Klasse; Jahrgang 1971, Bd. 10). S. 8-51; Henry F. Fullenwider: Friedrich Christoph Oetinger. Wirkungen auf Literatur und Philosophie seiner Zeit Göppingen 1975 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 174). Vgl. dz. u. a. Ferdinand Bulle: Franziskus Hemsterhuis und der deutsche Irrationalismus des 18. Jahrhunderts. Diss. Jena 1911; Klaus Hammacher: Unmittelbarkeit und Kritik bei Hemsterhuis. München 1971; Heinz Moenkemeyer: Francois Hemsterhuis. Admirers, Critics, Scholars. In: DVS 51 (1977). S. 502-524; Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, S. 143151; Erich Trunz: Hemsterhuis' Reise nach Weimar 1785 und die Klauersche HemsterhuisBüste. [1970] In: Ders.: Weimarer Goethe-Studien. Weimar 1980. S. 218-250; Klaus Hammmacher: Hemsterhuis und seine Rezeption in der deutschen Philosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte 75 (1983). S. 110-131. Vgl. Rolf Christian Zimmermann: Das Wettbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Band I: Elemente und Fundamente. München 1969. Insbes. S. 29ff. und 135ff. Im zweiten Band (Interpretation und Dokumentation. München 1969) bringt Zimmermann dann auch einen Ausschnitt aus Obereits Schrift Das offene Geheimnis aller Geheimnisse [...] (Meiningen 1788) zum Abdruck und versieht diesen mit einer ausgesprochen pejorativen, der historischen Stellung Obereits kaum gerecht werdenden Einleitung (vgl. S. 405). Panajotis Kondylis machte darauf aufmerksam, daß es sich bei der Interpretation Newtons im Sinne einer »neue[n] Idee vom Ganzen« auf der Grundlage einer »ebenso vagen wie flexiblen Vorstellung von einer pulsierenden Fülle, einer inhaltsreichen Harmonie oder einem dynamischen Gleichgewicht« um eine im 18. Jahrhundert durchaus gängige und angesichts der »Strömungen« einer »hermetisch-kabbalistischen Tradition« und ihres Einflusses auf Newtons »Gedankenwelt« keineswegs überraschende Ausweitung des Geltungsbereiches der Gravitationsgesetze handelte: Vgl. Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. S. 213-257, Zitate S. 245, 214. Vgl. außerdem Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 155, Anm. 191, der neben Oetinger, Hemsterhuis und Obereit noch Dalberg, Pope, Hirtcheson und Ferguson in diese Tradition einreiht Zu der gelegentlich bereits im 18. Jahrhundert geführten Diskussion um den Einfluß okkulter Wissenschaften auf das naturwissenschaftliche Werk Newtons vgl. u. a. Karin Figala: »Die exakte Alchemie von Isaac Newton«. Seine »gesetzmässige« Interpretation der Alchemic - dargestellt am Beispiel einiger ihn beeinflussender Autoren. In: Verhandlungen der Naturforschenden Ge-
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lieber und emphatischer Verweis auf die Schriften Johann Heinrich Lamberts,312 mithin auf einen Autor, der gewiß nicht in Hermetismus-Verdacht zu nehmen ist, zeigt überdies, wie unübersichtlich und uneindeutig die Frontverläufe zwischen rationalistischem und hermetischem Gedankengut im Zeitalter der Aufklärung verliefen.313 Allein die Quantität der Schriften Obereits, die diesem Gegenstand gewidmet sind, macht deutlich, daß hier der eigentliche Schwerpunkt seines Interesses zu suchen ist und daß die Position, die er in der Auseinandersetzung mit Zimmermann vertrat, ihre tiefere Begründung in diesem spekulativen Zusammenhang findet.314 Sein hermetischer Hintergrund verweist auf ein Erkenntnisideal, das der
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Seilschaft in Basel 94 (1983). S. 157-227; Richard S. Westfall: Newton and alchemy. In: Occult and scientific mentalities in the Renaissance. Ed. by Brian Vickers. Cambridge u. a. 1984. S. 31S-33S. Bereits 1756 hatte Johann Georg Zimmermann darauf hingewiesen, daß die »Gleichförmigkeit« der Planetenbewegung Newton als Beweis für die Existenz eines harmoniestiftenden Gottes gegolten habe: Betrachtungen, S. 33. Vgl. etwa [Jacob Hermann Obereit:] Aufklärungs=Versuch der Optik des ewigen Natur=Lichts bis auf den ersten Grund aller Gründe, zur tiefsten Grund=Critik des reinen Verstandes. Berlin 1788, die Obereit ausdrücklich »[d]em Leibniz der nächstverblichenen Zeit, Dem Geist des unsterblichen Lambert« widmet (Bl. 2r; Hervorhebungen im Original). Gleiches gilt für die nur ein Jahr spater erschienene Schrift: Die spielende Universal=Kritik der ganzen Welt=Vernunft in einem Gleichgewichts=Spiel über alles zum höchsten Zweck=RechL Ein Götter=Gespräche, gesellig eröfhet durch alte Musensöhne, Gotthard Nulle und ungenannte Brüder des alten architectonischen Orients. Friedberg, Leipzig 1790. (Vgl. S. 38). Zu Lamberts Versuch, Newtons Gesetz der Attraktion mit Hilfe eines Analogieschlusses auf andere Bereiche einschließlich der »Intellectualwelt« zu übertragen vgl. Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Ersten und Einfachen in der philosophischen Erkenntniß. Zweyter Band. Riga 1771. S. 170ff. (ND Hildesheim 1965: Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. Hg. von Hans-Werner Arndt IV: Anlage zur Architectonic. 2. Bd.) Zu Lambert vgl. außerdem u. a. Johannes Lepsius: Johann Heinrich Lambert Eine Darstellung seiner kosmologischen und philosophischen Leistungen. München 1881; Gerhard Jackisch: Johann Heinrich Lamberts »Cosmologische Briefe« mit Beiträgen zur Frühgeschichte der Kosmologie mit einem Vorwort von Akademiemitglied Hans-Jürgen Treder. Mit 7 Abbildungen. Berlin/DDR 1979; Günter Schenk, Fritz Gelhar: Der Philosoph, Logiker, Mathematiker und Naturwissenschaftler Johann Heinrich Lambert In: Wolfgang Förster (Hg.): Aufldärung in Berlin. Berlin/DDR 1989. S. 130-164. Das macht nicht zuletzt auch die Arbeit Gesine Lenore Schiewers zur Lambert-Rezeption bei Herder, Jean Paul und Novalis deutlich: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 22). Jörg Paulus interpretiert den >Zeitgeist< des späteren 18. Jahrhunderts insgesamt als einen der Ambivalenz von aufklärerischem Rationalismus und hermetischen >Wissenschaftern: Vgl. Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800. Berlin 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 13). Obereits spekulative Arbeit an dem metaphysischen Grundproblem des Zusammenhangs von materieller und ideeller Welt wurde durch die Kontroversschriften gegen Zimmermann nur vorübergehend unterbrochen. Nach dieser Unterbrechung widmete er sich erneut seinem eigentlichen Thema, für das durch die Transzendentalphilosophie Kants eine grundlegend neue Situation entstanden war, der Obereit sich mit unverminderter Streitlust stellte: Vgl. Der wiederkommende Lebensgeist der verzweifelten Metaphysik. Ein kritisches Drama zur Grund=Critik vom Geist des Cebes. Berlin 1787; Aufklärungs=Versuch der Optik des ewigen Natur=Lichts; Critische Spaziergänge zum Ziele der Vernunft in elysäischen Feldern. Vom Geist der verzweifelten Metaphysik Meinigen 1789; Erz=Rathsel der Vemunft=Kritik und der verzweifelten Metaphysik; In der Unmöglichkeit eines Beweises oder Nichtbeweises vom Daseyn Gottes aus Wesens=Beeriffen. Meinineen 1789; Die spielende Universal=Kritik der ganzen WeH=Ver-
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von Zimmennann in der Aufklärungstradition hervorgehobenen Vorstellung entgegensteht: An die Stelle eines >diskursivenAll=Harmonie< ist das Schlüsselwort des spekulativen Systems Obereits, das auch das in seinem Rahmen artikulierte Geselligkeitsideal prägt. Der Gesellschaft, deren Stabilität auf der Verschiedenheit ihrer Mitglieder, sowohl der Interessen wie der Fähigkeiten, beruht und aus der für Zimmermann lediglich eine temporäre >gesellige Einsamkeit hinausfuhren darf, stellt Obereit das Ideal einer Gemeinschaft der Gleichen entgegen. Dieses Ideal begnügt sich nicht mit dem temporären Status der Meinen Gesellschaftern, sondern wird dem gesellschaftlichen >System der Bedürfnisse< als Utopie gegenübergestellt. Später, nachdem er sich ausgiebig mit der Kritischen Philosophie Kants auseinandergesetzt und seinen Wohnort in Jena im Hause Johann Gottlieb Fichtes genommen hatte, überführte Obereit dieses System in eine Form, die er an die nachkantischen idealistischen Systembildungen anzulehnen versuchte.313 Dabei läßt sich unter anderem die Tendenz beobachten, den zuvor als religiösen reklamierten ganzheitlichen Standpunkt nunmehr als einen ästhetischen zu reformulieren. Hierzu diente Obereit auch der für die idealistische Nachfolge Kants zentrale Begriff der >intellektualen Anschauung Verschmelzung< von Kunst und Leben in Schlegels Lucinde sowie im Gespräch über Poesie (1800) vgl. zuletzt auch Emanuel Peter: Geselligkeiten, S. 305ff S. dz. ausführlich u., Abschnitt 4.1.
262 Die gemeinsamen metaphyischen Überzeugungen Obereits und des jungen Schiller machen ebenso wie deren Überführung in den Zuständigkeitsbereich der Ästhetik unter dem Eindruck der Kantischen Transzendentalphilosophie deutlich, daß zwischen den sozialen Aspekten der aufklärerischen und der idealistischen Idyllentheorie ein fundamentaler Bruch zu konstatieren ist: Der Gegenstand der Auseinandersetzung, die Zimmermann mit Obereit führte, entspricht demjenigen, der die idealistische Kritik an der Idyllendichtung Geßners bestimmte. Bevor diese abschließend zur Sprache zu bringen sein wird, gilt es jedoch zunächst, die enge Verbindung der aufklärerischen Idyllik mit dem von Zimmermann vertretenen Geselligkeitskonzept noch einmal zusammenfassend herauszustellen. Die eigentümliche Rezeptionsgeschichte des berühmtesten Werkes Zimmermanns, die schließlich ihn selbst statt seines die >Weltüberwindung< rechtfertigenden Kontrahenten zum Kronzeugen einer aus der Opposition zu den sozialen Verhältnissen hervorgehenden Abwendung vom gesellschaftlichen Leben werden ließ, verdiente - wie bereits angedeutet - eine eigene Untersuchung. Darauf muß im vorliegenden Zusammenhang verzichtet werden. Die Folgen dieser fehlgeleiteten Rezeption verdienen gleichwohl Beachtung, insofern sie auch die literarischen Artikulationen >kleiner Gesellschaftern betreffen: Der prominente Ort, an dem Wolf Lepenies seine Interpretation Zimmermanns formulierte, dürfte für deren lang anhaltende Wirkung verantwortlich sein, die sich auch auf die literaturwissenschaftliche Beschäftigungen mit der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts erstreckte. Lepenies' Einordnung Zimmermanns in die sozialhistorische Eskapismustheorie ließ dessen Hauptwerk zu einem beliebten Kontext literarhistorischer Untersuchungen zum 18. Jahrhundert werden. Insbesondere solche Arbeiten, die sich mit der Idyllendichtung Salomon Geßners und ihrer sozialhistorischen Bedeutung und Aussagekraft beschäftigten, griffen auf die vermeintliche Einsamkeitsapologie Zimmermanns zurück. Dies bot sich an, weil es sich nicht allein um das Werk eines ebenfalls aus der Schweiz stammenden Zeitgenossen handelte. Überdies ließen sich angesichts der gemeinsamen Mitgliedschaft in der Helvetischen Gesellschaft sowie des freundschaftlichen Briefwechsels enge Verbindungen zwischen dem Idyllendichter und dem popularphilosophischen Verfechter der Einsamkeit unterstellen. Auch Obereit stammte aus der Schweiz; wie gezeigt werden konnte, entspricht das von ihm in Opposition zu Zimmermann vertretene Sozialmodell der >Weltüberwinder< eher der These einer Flucht aus der Wirklichkeit der materiellen Verhältnisse in eine moralisch unanfechtbare und von gemeinsamer Gottesfurcht getragene Enklave.312 Mehr noch: Obereits Bestehen auf einem jenseits der wissenschaftlichen Analyse zu beziehenden ganzheitlichen Standpunkt ließ sich für die Reklamierung einer neuen Führungsrolle ästhetischer Erfahrung im En322
In diesem Sinne versuchte etwa Werner Milch Obereits »Empfinden für säkulare Probleme« als Vorausdeutung auf die idealistische »Überwindung« des aufklärerischen Materialismus gegenüber den Einsamkeitsschriften Zimmermanns aufzuwerten (s. o., S. 202f.).
263
semble der menschlichen Erkenntniskräfte nutzen, wie sie im Zuge der Ästhetisierung dieses ehemals religiösen Standpunktes in der idealistischen Ästhetik und Literatur um 1800 gefordert wurde. Biographische Daten, insbesondere Obereits Aufenthalt in Jena zur Zeit der Konstitution des Kreises der Jenaer Frühromantik und seine aufmerksame und engagierte Rezeption der nachkantischen kritischen Philosophie, unterstützen die Annahme einer Verbindung der mystisch begründeten Einsamkeitsapologie Obereits mit literarischen Konzepten, die in vergleichbarer Weise einen über die Verhältnisse der materiellen Welt erhabenen Standpunkt des Künstlers und der Kunst behaupten. Allerdings fehlt der Argumentation Obereits der für die schichtensoziologisch angelegte Eskapismustheorie entscheidende gesellschaftliche Akzent: Die Rechtfertigung des gesellschaftlichen Ausstiegs erfolgt bei ihm nicht im Blick auf eine bestimmte staatliche und gesellschaftliche Ordnung. Vielmehr ist sein Standpunkt bestimmt von der Kontingenz des Materiellen insgesamt sowie von der Betonung der über die >Normalnatur< hinausgehenden besonderen Eigenschaften der menschlichen Natur. Diese verschaffen dem Menschen einen transzendenten Bezug zur Unendlichkeit, dem in der Kontingenz des Diesseitigen niemals, auch nicht in einer wie immer perfektionierten Gesellschaftsordnung vollständig gerecht zu werden ist. Ein sozialer Akzent ließ sich dagegen in der Argumentation Zimmermanns unschwer nachweisen. Daß seine Einsamkeitsschriften und Geßners Idyllendichtung vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Sozialkonzeptes zu verstehen sind, soll keineswegs bestritten werden. Im Gegenteil erfolgte die vorangegangene Analyse von Zimmermanns Einsamkeitskonzept auch im vorliegenden Zusammenhang im Hinblick auf eben diese Verbindung. Doch die von Lepenies vorgelegte Zimmermann-Interpretation führte dazu, daß die bisherigen Übertragungsversuche, die sich von ihr leiten ließen, den vermeintlichen gesellschaftlichen Eskapismus des philosophischen Arztes< auf die Idyllendichtung des Schweizer Freundes übertrugen und sich dadurch in ihrer Auffassung des eskapistischen Charakters der idealisierenden Idyllendichtung Geßners bestätigt fanden. Der Fehlschluß, der dieser Auffassung zugrundeliegt, beruht darauf, daß dem literarisch bei Geßner oder popularphilosophisch bei Zimmermann artikulierten Modell der >kleinen Gesellschaftern einerseits eine utopische Intention unterlegt wird, um andererseits festzustellen, daß dieser Anspruch aus strukturellen Gründen nicht habe eingelöst werden können. Auf diese Weise argumentiert beispielsweise Heidemarie Kesselmann, die sich u. a. unmittelbar auf Lepenies bezieht323 und nach den »Auswirkungen der erkenntnistheoretischen Kollision von fiktionalem Weltentwurf und der Realität des Faktischen«324 fragt, die einen vermeintlichen dialektischen >Umschlag< produziere:
323
324
Vgl. Heidemarie Kesselmann: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 170, Anm. 79. Ebd., S. 136.
264 In der idyllischen Familienharmonie wird das auf die Gesellschaft bezogene erkenntniskritische Potential nicht weiter aktualisiert. Erkennen schlagt in Vergessen um und führt zu einer fiktiven Scheinharmonisierung gesellschaftlicher Antagonismen.
Nur unter der Vorannahme eines »auf die Gesellschaft bezogene[n] erkenntniskritische[n] Potentials]« der Texte Zimmennanns und Geßners läßt sich jedoch beklagen, »daß bei der Konfrontation ästhetischer Selbstbestimmung und bürgerlich-geschichtlicher Existenzerfahrung die ästhetischen Erfahrungen in einem Sinne übersetzt werden, der das erkenntniskritische Potential nur verinnerlicht aktualisiert«326. Daß Zimmermanns Einsamkeitsschriften von einem kritischen Blick ihres Verfassers auf die zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse zeugen, ist in den vorangegangenen Analysen wiederholt zur Sprache gekommen. In Untersuchungen, die sich von schichtensoziologischen Prämissen leiten lassen, ist jedoch kaum angemessen zu berücksichtigen, daß dieser kritische Blick keineswegs auf einen bestimmten Stand beschränkt blieb, sondern vielmehr auf die schichtenübergreifende Neigung abhob, innere Einkehr durch äußere Zerstreuung zu ersetzen. Adeliger Müßiggang bildet dabei zwar einen zentralen Anknüpfungspunkt der Kritik Zimmermanns, wenn er etwa die »Mode« als Motivation rar einen zeitweisen Rückzug in die Einsamkeit anspricht: Leute von Stande ziehen in die Einsamkeit, der Mode wegen. Diese will, daß am Anfang des Sommers alles, was vornehm ist, oder sich für vornehm hält, auf das Land gehe und sich alsdann einbilde, nun sey kein Mensch mehr in der Stadt327
Auch diese Mode des Adels wird vor dem Hintergrund des mittlerweile bekannten komplementären Konzepts thematisiert, in dem sich ausgebreitete Geschäftigkeit in der großen mit vertrautem Umgang in kleiner Gesellschaft abwechselt: Der »adeliche[/J Marsch« begründe sich weder aus »Ermüdung von der Arbeit, noch [aus] Begierde nach Wissenschaft«.328 Statt dessen gehe es lediglich darum, 325 326
327 328
Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Eine vereinfachte Version dieser Argumentation legte wenig später Berthold Burk vor, der Kesselmanns Annahme, »Zimmermann [...] sehe in der Idylle ein Modell ständeüberwindender ogaliti«, zurückweist Gleichwohl legt er diesen Anspruch nicht als deskriptiven, sondern nunmehr als normativen zugrunde: Zimmermann hätte angesichts der sozialen Situation einen solchen Anspruch formulieren müssen. Da er dies jedoch nicht tat, tauge sein Modell nur zu »einer schlechten Utopie, die nicht zur handelnden Veränderung drängt« und »die politisch-soziale Dimension der Idyllen doch wieder zurücknimmt] und [...] in das Innere« verlegt: »Eine typische resignative Reaktion des Bürgers im 18. Jahrhundert« Berthold Burk: Elemente idyllischen Lebens, S. 36. In das gleiche historische Interpretationsmuster ordnet Gerd Kiep auch die Schriften Christian Garves ein: Er unterstellt dem moralischen Standpunkt der >kleinen Gesellschaftern einen politischen Anspruch (s. o., Arm 301) und kann unter dieser selbst geschaffenen Voraussetzung feststellen: »Das >Ganzheits-Denken< tritt [...] in idealistischer Unterschätzung der determinierenden Potenz der Ökonomie selbstherrlich gegen deren Folgen an und trägt damit Momente des Scheiterns bereits in sich.« Literatur und Öffentlichkeit bei Christian Garve, S. 143. UdE,LS. 119. Ebd., I, S. 120.
265 »eine Scene von Müßiggang mit der ändern zu vertauschen, und in der Stille zu schlafen, anstatt öffentlich ihre Nächte durchzurasen.«329 Die bürgerliche Vergnügungssucht wird von Zimmermann allerdings nicht weniger scharf kritisiert, denn: »Alle Zerstreuungen der grossen Welt werden in allen niedrigen Ständen nachgeäffet«330, wozu Zimmermann im wesentlichen den städtischen »Club« und die »Assemblee«331 rechnet. Zwar wird der Rückzug des »verständige[n] Unadels« aus einer Gesellschaft gerechtfertigt, in der er seinen Wert aufgrund ständischer Vorurteile nicht hinreichend geachtet sieht und deren »unkluge[m] Stolz« er dadurch mit einem »zehnfach edlerm Stolze«332 begegnet. Doch Zimmermann gibt gleichwohl zu bedenken: Hasset man auch den Umgang noch nicht, den man fliehet, so ärgert man sich doch zuweilen über das, was diesem Umgange mangelt, und erfüllet dadurch sein Herz mit immer größerer Unlust; und so verfällt man in Mismuth und Melankolie: also in einen Zustand der Seele, in welchem man sich selbst oft verächtlicher und schlechter vorkommt, als aller Adel und Unadel, den man fliehet333
Ist einem solchen Rückzug also auch aus der Sicht Zimmermanns die Berechtigung nicht abzusprechen, so führt die Strategie doch nicht zum gewünschten Erfolg. Der Rückzug darf daher kein vollständiger sein, sondern sollte sich auf die von Arbeit und Geschäften freien Stunden beschränken und eine auf das gesellschaftliche Wohl gerichtete Tätigkeit nicht ersetzen: Der emsige Bürger, ist des Abends nach seiner redlich vollbrachten Arbeit, mit seiner Gattinn und seinen Kindern, so ruhig und neidlos, wie kein Hofcavalier. Läßt dem Manne in Geschäften die Welt, lassen ihm seine Mitbürger, nicht die Gerechtigkeit widerfahren, die er verdient; wird ihm sein Diensteifer, werden ihm seine Wohhhaten, mit Kaltsinn und Undank vergolten; wie bald wird Er [!] diesen Mangel, diese Leiden vergessen, wenn er in den Schos der Seinigen zurückkommt, mit offenen Armen und Herzen von ihnen empfangen wird, und in ihrer Mitte das gilt was er wirklich ist, den Beyfall und das Lob erhält, die Er [!] wirklich verdient, und den ganzen Werth ihrer Liebe und Zuneigung empfindet!334 329 330
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Ebd. Ebd., L S. 29. Ebd., I, S. 30. Vgl. aber auch ebd., IV, S. 314, wo Zimmermann im Rahmen des abschließenden Überblicks mehr Verständnis aufbringt - unter der Voraussetzung, daß den Vergnügungen Geschäftigkeit vorausgeht: »Die Geschäftigkeit des Lebens, und die Geschäftigkeit im Stillen, wird auch schon gehörig mit einander verbunden, wenn wir die Zeitvertreibe und geringem Freuden der Welt, als Erhohlungen nach Arbeit und Sorge betrachten. Alles ist gut, was die Menschen vereiniget, was sie durch Mittheilung ihrer Empfindungen und Begriffe aufgeklärter, weiser, tugendhafter, und sich selbst liebreicher, zutraulicher, und einträchtiger macht; und in so weit lege ich einen sehr hohen Werth auf Assembleen und Clubs. Sinnliche Vergnügungen müssen immer mit geistigen abwechseln, wenn auch gleich diese reiner, edler, und dauerhafter sind.« Vgl. dz. auch Zimmermanns Schreiben an Georg Ludwig Schmid vom 26. 11.1769, in dem er mit offensichtlichem Stolz berichtete, wie regelmäßig er zu den Assembleen der führenden Kreise Hannovers geladen werde, und seine Teilnahme mit den Worten rechtfertigt: »Aber Langeweile habe ich in meinem Leben genug gehabt, und hier habe ich wichtige Geschäfte genug, um itzt meine kurzen Abende auf eine angenehme Art vertändeln zu dürfen«: Johann Georg Zimmermann's Briefe an einige seiner Freunde in der Schweiz, S. 122f, Zitat S. 123. UdE,IV,342. Ebd., IV, S. 343. Ebd., IV, S. lOOf.
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Zimmermann artikuliert an dieser Stelle keine ständisch orientierte Gesellschaftskritik. Vielmehr fuhrt er die Möglichkeit mangelnder Anerkennung im Rahmen differenzierter und funktionalisierter Sozialbeziehungen vor Augen. Auch diesen gegenüber wird keineswegs ein Rückzug auf Moral und Innerlichkeit empfohlen. Eher scheint Zimmermann einem differenzierungskritischen Lamento begegnen zu wollen, indem er auf den Ort verweist, an dem der einzelne einen Ausgleich der Defizite zu erfahren vermag, die dem erwünschten, weil »nützlichen* Differenzierungsprozeß geschuldet sind. Die soziale Struktur dieses Ortes entspricht dem handlungsentlasteten Teil der höfischen Geselligkeit, der zugleich den gesellschaftlichen Ort bukolischer Dichtung darstellte. Dieser handlungsenlasteten Geselligkeit wird von Zimmermann ein Platz zugewiesen, den er in der gesellschaftlichen Situation des ausgehenden 18. Jahrhunderts für angemessen hält: Sein kritischer Blick auf die adelige Vergnügungssucht weist diese als degenerierte Verwirklichung höfischer Umgangsideale aus. Gleichwohl führt diese verfehlte Umsetzung nicht zur Verabschiedung der Ideale durch Zimmermann. Vielmehr geht es ihm darum, ihnen einen neuen sozialen Ort zuzuweisen. Die Inhalte des Ideals werden dabei nicht kritisiert, sondern lediglich transponiert: Weiterhin geht es um die Prozesse intimer Interpenetration, d. h. um eine gesellige Integration, für die moralischer Charakter und Persönlichkeit die Grundlage bilden und in der die natürlichen Neigungen von Liebe und Sympathie zur Geltung kommen. Innerhalb einer sich differenzierenden Gesellschaft bedurfte diese besondere Form der Geselligkeit eines Rahmens, der von den strategischen und funktionalen Erfordernissen des üblichen weltlichen Umgangs entlastete. Diesen Rahmen findet Zimmermann nicht länger in einer idealisierten schönen Geselligkeit höfischen Umgangs, der ihm im Gegenteil von dekadentem Müßiggang und ständischen Vorurteilen geprägt schien. Statt dessen verlegt er ihn an einen Ort, der auch für den Bürger verfügbar erschien, der zu den höfischen Vergnügungen keinen Zugang fand:3" in die häusliche Geselligkeit, die einen vertrauten, auf Familie und Freunde beschränkten Umgang ermöglicht, der daher den natürlichen Neigungen gefahrlos Raum zu bieten vermag. Die Abgrenzung dieses Raumes erfolgt dabei nicht lediglich gegen eine als ungerecht eingeschätzte Hofgesellschaft, sondern grundsätzlicher gegen die Kategorien, nach denen die gesellschaftlichen Geschäfte organisiert sind, die auf der Selbstbezüglichkeit der Handelnden beruhen, was dem nach moralischer Anerkennung Suchenden als »Kaltsinn« und »Undank« erscheinen muß.33* 333
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Den ständeübergreifenden Charakter betont etwa die Staats^ und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, die hervorhebt, der Inhalt der Schrift könne »Theologen und Juristen, Aerzte[n] und Philosophen, Hofleute[n] und Bürgersleute[n], Frauen und Jungfern, Mönche[n] und Nonnen reichen Stoff zum Nachdenken, zur frohen oder Übeln Laune, zur Aufmerksamkeit auf sich selbst, und, wenn sie wollen, zu ihrer eigenen Selbsterkenntniß« geben: Staats= und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten. Anno 1784. (Am Freytage, den 18. Junii.) Num. 97. BL 2V. Es war Adolph von Knigge, der aus diesem Umstand sowohl die praktischen als auch die systematischen Konsequenzen für eine Moralphilosophie zog, die den empirischen Handlungsmoti-
267 Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Tätigkeiten bleibt es dagegen dabei, daß auf einen möglichst umfassenden geselligen Umgang für die Angehörigen aller Stände nicht verzichtet werden kann: Weltumgang ist von unaussprechlichem Nutzen zur Bildung junger Leute, und für jedes Alter die beste Schule der Menschenkenntniß und der Menschenliebe, des Nachgebens und der Bescheidenheit Für Fürsten und Grosse und alle Personen von Stande ist ausgebreiteter Weltumgang eine Schule der Menschlichkeit, der Weisheit, und der Kenntniß ihrer selbst. Leute von geringer Herkunft sogar erwerben sich durch feine Lebensart und den wahren guten Ton der Weit gewiß mehr Glück und Beyfall bey Fürsten und Vornehmen, als durch alle unterthänigst abgeschmackte Dienerey.337
»Weltumgang« bleibt also unverzichtbarer Bestandteil der gesellschaftsethischen Grundsätze Zimmermanns. Die strategischen Erfordernisse einer erfolgreichen Behauptung in der Welt der Geschäfte, die auch in der Anpassung an den im Grunde nicht achtenswerten »guten Ton der Welt« bestehen können, werden keineswegs abgelehnt. Sie sind unverzichtbar für ein Konzept, das gesellschaftliche Wirksamkeit mit den Möglichkeiten privaten Glückserlebens338 zu verbinden beabsichtigt und das Zimmermann programmatisch von den »Vortheilen der Einsamkeit für Mönche und Nonnen«339 abgrenzt: Meine Betrachtungen über die Vortheile der Einsamkeit haben jedoch einen grössem, und ausgebreiteten Zweck. Das Gute was ich von der Einsamkeit denke, möchte ich der Weh anpassen, in der ich lebe, mit der ich in mancherley Verbindung stehe, die am meisten auf mich wirket, auf die ich auch wol wirken kann [...].
Die Genese des auch von Zimmermann vertretenen Geselligkeitskonzepts aus der gesellschaftsethischen Tradition läßt sich schließlich anhand der Abhand-
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538 339 340
ven Rechnung zu tragen beanspruchte: In seiner letzten größeren Schrift Ueber Eigennutz und Undank (1796), die u. a. einer Auseinandersetzung mit der strikten Zurückweisung empirischer Motive für moralisches Handeln durch Kant gewidmet war, begründet Knigge ausführlich sein auch dem Umgangsbuch zugrundeliegendes Konzept einer Vermittlung von persönlichem und allgemeinem Nutzen nach Maßgabe des wohlverstandenen Interessesganze Mensch< als allseitige Persönlichkeit in Betracht gezogen wird. Daß es »die Tradition der philosophischen Moralistik der Franzosen aus der vorrevolutionären Epoche« war, »die Garve offensichtlich die Richtung wies, in der er unter den spezifischen Bedingungen seiner Existenz weitergehen konnte«,542 hatte nicht zuletzt seine Abhandlung Ueber die Maxime Rochefaucaults deutlich gemacht, die 1792 im ersten Band seiner Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben erschienen war. Garve berief sich hier einleitend auf Pascal, um seinen Anspruch an die Gesellschaft zu formulieren, nicht »wegen einer besondern Eigenschaft von ihr gelobt, sondern, nach seiner ganzen Persönlichkeit, als braver und artiger Mann, (honnete et galant-homme) geliebt«343 zu werden. Im zweiten Band von Ueber Gesellschaft und Einsamkeit verwies er dann - im Anschluß an eine Bemerkung Goethes in Wilhelm Meisters Lehrjahren"* - auf den sozialen Ort, an dem eine gesellige Formation traditionell möglich war, in der diesem Anspruch genüge getan werden konnte: Bisher ist es in Europa nur der Adeliche gewesen, von welchem man eine durchgängige Ausbildung der ganzen Person, so wie sie vornehmlich zum Umgange gehört, gefordert, und bey welchem man sich mit einer solchen Ausbildung begnügt hat. Von Unadelichen verlangte man vorzüglich Brauchbarkeit zu irgend einem bestimmten Geschäfte: und der Unadeliche war, b Vorbereitung auf dieses Geschäft, seine übrige Ausbildung zu vernachlässigen, beynah genöthigt345
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Was zugleich eine Erklärung für den von Zimmermann selbst als »sonderbar« empfundenen Umstand bietet, daß sein Werk »am meisten in der großen Welt gefällt«: Zimmermann an Georg Ludwig Schmid vom 10. 6.1785. In: Johann Georg Zimmermann's Briefe an einige seiner Freunde in der Schweiz, S. 336-339, Zitat S. 339. Gotthardt Frühsorge: Vom »Umgang« und von den Büchern, S. 70. GGW, 1/1, S. VIII. Wenn Garve auch keinen genauen Stellenbeleg anfuhrt, so ist der Antwortbrief Wilhelms an Werner im dritten Kapitel des fünften Buches unschwer als Quelle zu ermitteln: Im Anschluß an die Formulierung der handlungstragenden Maxime, »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«, kommt Wilhelm auf die von der »Verfassung der Gesellschaft« abhängigen Bedingungen ihrer Umsetzung zu sprechen und stellt fest: »Ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf, personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. [...] [/] [...] Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbarer zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß.« HA, VII, 290f. (Hervorhebung im Original.) Vgl. dz. Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Ts. 1977. S. 9ff. Paul Menzer weist auf einen Brief Garves vom 23. 1. 1795 hin, in dem dieser zudem ein besonderes Interesse an der vorhergegangenen Verteidigung des Handels durch Werner zeige: VgL Christian Garves Ästhetik. In: Gedenkschrift für Ferdinand Josef Schneider (1879-1954). Hg. von Karl Bischoff. Weimar 1956. S. 83-97, hier S. 94. Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, II, S. 5 If.
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An dieser Stelle wird deutlich, daß Garve noch der von Zimmermann nicht mehr geteilten Auffassung zuneigte, daß es unter dem Geltungsanspruch der >ganzen Persönlichkeit darauf ankomme, deren Qualitäten gehörig in Szene setzen zu können. Hierzu war die Kunst der schönen Geselligkeit zu beherrschen, die eine besondere, allseitig ausgerichtete Ausbildung verlangte. Die Anpassung an den >guten Ton< der Gesellschaft galt Zimmermann lediglich noch als Mittel zum Zweck des persönlichen Fortkommens. Die >Persönlichkeit< war hierfür gerade nicht einzubringen, sondern im Gegenteil zurückzustellen. Für sie blieb der vertraute Kreis häuslicher Geselligkeit sowie die einsame moralische Gewissensprürung reserviert. Das ganzheitliche Persönlichkeitskonzept Garves verfolgt dagegen inhaltlich noch einen anderen Schwerpunkt: Die Natürlichkeit des moralischen Charakters, die Zimmermann reklamiert, ist bei Garve noch nicht zu trennen von den Regeln seiner Präsentation im geselligen Rahmen, die von der allseitigen Ausbildung der Persönlichkeit abhängen.34* Diese traditionelle Auffassung mit den neuen gesellschaftliche Anforderungen konfrontierend, findet er »das größte Problem« angesichts des »Gleichheitssystem[s], welches die Franzosen einführen wollen, und welches die Stimme des gesitteten Mittelstandes und der Gelehrten fast in ganz Europa für sich hat«, in der Frage, wie sich die zu den Arbeiten und Aemtem des bürgerlichen Lebens nothwendüge Anhahsarnkeit eines einförmigen, mechanischen Fleißes, mit der mehr superficiellen, aber ausgebreiteten und vielseitigen Ausbildung des Körpers und Geistes, der den Mann wie er seyn muß, (l'komme comme ilfaut) macht, sich verbinden lasse; wie es angestellt werden müsse, daß der Mensch zugleich ein Stubengelehrter, ein Actenschreiber, ein Künstler, ein Kaufmann, und zugleich ein feiner Mann sey347.
Helmut Zedelmaier sieht Garve an dieser Stelle auf die grundsätzlichen »Grenzen seines Erklärungsmodells« verwiesen, »das Sozialisation und Vergesellschaftung als einen über Geselligkeit und Konversation vermittelten Prozeß wahrnimmt und beschreibt, der an repräsentative Interaktion und sinnliche Präsenz gebunden ist.«348 Garve selbst macht eine mögliche Lösung dieses Problems von einer Reihe von Faktoren abhängig, zu denen er u. a. die »Vereinfachung der Höflichkeitsregeln«, die »Verbannung bloß willkührlicher Ceremonien« sowie das »feststehende[/] Princip einer allen zukommenden Würde« zählt.349 Auch im folgenden hält er an dem der Hofgesellschaft eigenen Charakter fest, in der die handlungsentlastete Struktur schöner Geselligkeit mit dem Interesse verbunden bleibt, in der Gesellschaft zu gefallen.330 346 347 348 349 310
Zur Verbindung von »Schönheit« und »Zweckmäßigkeit« als »Wesen des guten AnStandes« vgl. ebd., II, S. 16; zur Begründung des Anstandsbegrifis in Ciceros Lehre vom decorum S. 27£ Ebd., II, S. 52. (Hervorhebungen im Original.) Helmut Zedelmaier: Christian Garve und die Einsamkeit, S. 147. Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, II, S. 53f. Zu der »nur bei Hofe zu beobachtenden Eigenart, daß Vergnügungen - im Zeremoniell - als Geschäfte und die ernsthaftesten Auftritte als Sinne reizende Lustbarkeiten erscheinen«, und ihrer Bedeutung für Garve vgl. Gotthardt Frühsorge: Vom »Umgang« und von den Büchern, S. 76. (Hervorhebungen im Original.)
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Die Differenzierung der Lehre vom decorum., wie sie bereits von Thomasius vorgenommen wurde,351 ist in dieses Bild höfischer Geselligkeit noch nicht eingegangen,332 weshalb Garve es der häuslich-familiären Geselligkeit als Defizit anrechnet, daß sie »von vielen ganz geflissentlich, nur um auszuruhen, [...] besucht wird.«"3 Gleichwohl deutet sich auch vor diesem Hintergrund der Schritt an, den Zimmermann bereits vollzogen hatte und der die Bedeutung häuslicher Geselligkeit unter der Maßgabe einer nunmehr auf unterschiedliche Ebenen des sozialen Umgangs verteilten komplementären Geselligkeitskonzeption hervorhebt: Ohne Zweifel ist die Gesellschaft, die in Privathäusern zusammenkommt, die beste. Wohl der Nation, welche sie mit Frugalitäi zu verbinden weiß! Nirgends lebt man angenehmer, als da, wo man auf wenige Schüsseln, oft, in kleinen Gesellschaften, und nur auf wenige Stunden zusammenkommt.
Lediglich für den jenseits dieser »wenigefn] Stunden« einer handlungsentlasteten >Freizeitgeselligkeit< befindlichen Bereich gibt Garve in der Folge konkrete strategische, die Kunst der Geselligkeit betreffende Umgangsregeln.3" Die zentrale systematische Zäsur setzt er mithin nicht zwischen bürgerlichen und >höfischer< Gesellschaft, sondern zwischen »Gesellschaften zum Vergnügen«33* und der »Gesellschaft in Geschäften«337. Zur letzteren zählt er die »Regierung des Staates«358 und den »Umgang der Minister«339 ebenso wie den »Umgang des Gewerbsstandes«360. Diese Einteilung macht deutlich, daß aus der Sicht der Geselligkeitstheorie die strukturellen Analogien zwischen >höfischer< und bürgerlichen Gesellschaft deren herrschaftstechnische Unterschiede überwogen: Beide erforderten einen an strategischen Kalkülen orientierten und durch feste soziale Rollen organisierten Umgang mit Menschen, für den sich daher aus der Erfahrung und Menschenkenntnis geschärfte Handlungsregeln formulieren ließen.361 331 332 333
354 333 336 337
358 339 360 361
s.o.,s. 90ff. Vgl. dz. auch Claus Altmayer: Aufldärung als Populaiphilosophie, S. 298fF. Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, II, S. 65. Ebd., II, S. 69. Vgl. ebd., , S. 99ff. Ebd., , S. 57ff. Ebd., II, S. 99ff. Ebd., II, S. 10 Iff. Ebd., , S. 120ff. Ebd., II, S. 149ff. Auf eine entsprechende Analogie verweist auch die zitierte Präferenz für die Monarchie, die Zimmermann in Vom Nationalstolze über die Beförderung des kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritts zu rechtfertigen versuchte (s. o., S. 211): Das gemeinhin als spezifisch bürgerlich etikettierte Moment fortschrittsfordernder Konkurrenz erschien bei Zimmermann als »Kampfplatz« unter den Augen eines geistvollen Potentaten, auf dem sich durch besondere Leistungen hervortun mußte, wer sich forstliche Gunst und gesellschaftlichen Einfluß erwerben wollte. Auch Knigges Erweiterung des »esprit de conduite« als Grundbegriff für den »Umgange mit Menschen aller Gattung« (Ueber den Umgang mit Menschen, I, S. 9) weist in diese Richtung.
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Neben diesem durch Selbstbezüglichkeit und Zweckrationalität geprägten Bereich wird über die Standesgrenzen hinweg ein zweiter Bereich handlungsentlasteter Geselligkeit etabliert. Standesunterschiede haben keinerlei Einfluß auf dessen gesellige Struktur, die im Gegensatz zur >Welt der Geschäfte durch symmetrische kommunikative Verhältnisse und eine Hinwendung zum anderen geprägt ist, die nicht über selbstbezügliche Reflexion vermittelt ist. Die Durchsetzung sensualistischer Moralkonzepte mag einigen Einfluß im wesentlichen auf die Verkleinerung des handlungsentlasteten Rahmens genommen haben, insofern der vertraute, gefühlsbetonte Umgang auf einen kleineren geselligen Kreis angewiesen war. Sie änderte gleichwohl nichts an den Strukturen handlungsentlasteter Geselligkeit. Bereits im ersten Band der Abhandlung wird von Garve vielmehr auf die Bedeutung vertrauter häuslicher Geselligkeit zur Beförderung der »Fertigkeit zu lieben« hingewiesen. Der von dem Umgang mit der >großen Welt< ausgeschlossenen bürgerlichen (wie im übrigen auch der bäuerlichen) Existenz wird sie ausdrücklich als Surrogat empfohlen: Der Gelehrte mag immerhin seinen Büchern und den Wissenschaften alle geselligen Freuden aufopfern; der Kaufmann mag seine Tage auf der Schreibstube, der Handwerker in seiner Werkstätte zubringen; [...]- in einem noch so abgelegenen Dörfchen mag ein Landmann der Weh unbekannt, und in ihren Künsten und Vergnügungen unwissend werden: wenn jeder von diesen nur ein Weib und Kinder hat [...]; wenn sich zu diesem Familien=Kreise nur noch ein oder der andere gute Nachbar, Freund und Verwandte gesellt: so ist er nicht in Gefahr, durch seine Entfernung von der Welt, sein Herz unempfindlich werden zu sehen.362
Die traditionelle, gesellige Natur und materielles Interesse integrierende Form höfischen Umgangs war unter den Bedingungen sozialer Modernisierung nicht aufrechtzuerhalten, die geselligen Neigungen daher einer zwar jedem zugänglichen, in ihrem Geltungsanspruch jedoch auf >kleine Gesellschaftern beschränkten Sphäre zuzuweisen. Deren Eigentümlichkeiten waren jedoch - das machte Garve in seiner Cicero- ebenso wie in seiner Rousseau-Kritik unmißverständlich deutlich363 - daran gebunden, daß an ihrer Trennung von dem Bereich öffentlichen Umgangs unbedingt festzuhalten war.364 362
363 364
Ueber Gesellschaft und Einsamkeit, I, S. 330ff. Dieser Schritt Garves in Richtung des vertrautvertaulichen Umgangs der >kleinen Gesellschaftern läßt den Vorwurf Claus Altmayers unbegründet erscheinen, »daß Garve auf die Frage, wie die Realisierung dieses Modells [höfischer Geselligkeit, CB] unter bürgerlichen Bedingungen zu denken wäre, die Antwort letztlich schuldig bleibt« (Aufklärung als Popularphilosophie, S. 407) Seine Annahme, daß hierfür eine Veränderung »in den sozio-ökonomischen Lebenbedingungen« zu fordern gewesen wäre, vor deren »revolutionäre[r] Konsequenz« Garve jedoch »angesichts der Erfahrungen der Französischen Revolution zurückschreckt« (S. 409), unterstellt, daß die zugrundeliegende Problematik primär Fragen der gesellschaftlichen Macht geschuldet ist Garve selbst geht es jedoch auch an dieser Stelle vielmehr um den Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung, den er einschließlich seiner Folgen im Modus der Arbeitsteilung auffaßt S.o.,S. 184f. Dieser Umstand entgeht Ahmayer, wenn er das Ziel Garves darin zu finden vermeint, eine »zu erneuernde öffentliche Orientierung an die weitgehend privatisierten bürgerlichen Individuen zu vermitteln« (Claus Ahmayer: Aufklärung als Popularphilosophie, S. 407), und dies als Entgegnung auf Zimmermanns Einsamkeitsschriften versteht Anders als nach ihm Friedrich Senil-
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Die Stellung der spätaufklärerischen Geselligkeitstheorie zur Tradition der höfischen Gesellschaftsethik setzt zugleich das Verhältnis in ein schärferes Licht, in dem Zimmermanns popularphilosophische Geselligkeitskonzeption zur Idyllendichtung seines Schweizer Landmannes Salomon Geßner steht. Dessen Beziehung zur bukolischen Tradition, insbesondere zur ihrer Wiederaufnahme in der Frühen Neuzeit, ließ sich im vorangegangenen Kapitel in ähnlicher Weise rekonstruieren wie diejenige Zirnmermanns zur gesellschaftsethischen Tradition. Die Annahme einer Verbindung zwischen der Idealisierung schöner Geselligkeit in der Tradition des Hofinanns-Traktates Castigliones und der höfischen Bukolik, wie sie im ersten Kapitel zur Bestimmung des gesellschaftlichen Ortes der Gattung genutzt wurde, läßt sich nunnmehr rückblickend bekräftigen: Hatte Geßner die Differenzierung der sozialethischen Grundsätze literarisierend den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen angepaßt, wie sie sich für das bürgerliche Erwerbsleben im 18. Jahrhundert darstellten, so bietet Zimmermann gewissermaßen die theoretische Explikation des Modells, das dieser Überführung zugrundelag. Gleichermaßen verlegen beide den Ort intimer Interpenetration aus den Kreisen höfischer Geselligkeit in den handlungsentlasteten Rahmen kleingesellschaftlicher Intimität und organisieren derart das bürgerliche Leben nach dem komplementären Muster der Konzeption, wie sie zunächst für die höfische Gesellschaft entwickelt worden war. Wie dort dem Bereich eines von Strategie und Funktionalität geprägten Umgangs der politischen Klugheit ein solcher der vertrauten Kommunikation an die Seite gestellt wurde, so verschaffen Geßner und Zimmermann der bürgerlichen Geschäftigkeit mit der Propagierung intimer häuslicher Geselligkeit ein entsprechendes Komplement. Bevor Zimmermann im vierten Band von Ueber die Einsamkeit explizit auf die Idyllendichtung Geßners zu sprechen kommt, geht er ausführlich auf die Gefahren ein, die »[r]omanhafte[/] Empfindungen und Gefühle« für die Fähigkeit mit sich bringen, sich im Rahmen der wirklichen Gesellschaft zu bewegen. Dabei handelt es sich um genau den Effekt, als dessen vermeintliches Symptom seine Einsamkeitskonzeption so häufig gedeutet wurde: Es mag seyn, daß romanhafte Grübeleyen uns in die Nachbarschaft verbotener Gegenden leiten; daß sie uns auf einen gefahrlichen Boden hinstellen; daß sie meistentheils mit dieser oder jener bösen Leidenschaft im Zusammenhange sind, und vielleicht eine schwindelnde und leichtler verzichtet Garve darauf, eine gesellschaftliche Utopie zu entwerfen, die in der Lage ist, die Differenzierungen in einer großangelegten Synthese zu reintegrieren. Formuliert man dies als seine Frage, so bleibt er eine Antwort in der Tat schuldig. Beschränkt man sich jedoch auf die Frage nach einem neuen sozialen Ort für die im Rahmen höfischer Geselligkeit nicht mehr angemessen und vor allem nicht hinreichend allgemein zu realisierenden Formen intimer Interpenetration, so formuliert Garve ein mit den zeitgenössischen aufklärerischen Modellen kompatibles und insofern keineswegs ergebnisoffenes Konzept komplementärer Geselligkeit Zu Garves Grundsatz, einen »wechsekeitigen Einfluß zwischen den Ständen« anzunehmen, um zu einer »Vermischung der Stände im Kulturvorgang« zu gelangen, der sich mithin nicht auf eine eindeutige Standesposition festlegen läßt, vgl. auch Günter Schulz: Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Darstellung Christian Garves. In: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus. Heidelberg 1981 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung ). S. 255-263, hier S. 260. (Hervorhebungen CB.)
273 sinnige Art zu denken bey uns nähren; daß sie auch zuweilen die Seele ungeschickt machen mit Eifer und Thätigkeit vernünftigen Bestrebungen sich zu ergeben, oder an massigen und einfachen Entwürfen des Lebens Genüge zu finden; daß auch die Seele von jener idealischen Weh in der sie zu verweilen sich verstattet, zu dem Umgange mit Menschen nicht ohne Widerwillen zurückkehret, vielleicht gar abgeneigt wird des Lebens gewöhnliche Pflichten zu erfüllen, und unfähig die Freuden desselben zu genießen.365
Gleichwohl kann auch die Literatur die Rolle übernehmen, die der häuslichen Geselligkeit zugedacht ist, »denn leider so zufrieden als man zuweilen im Lande der Einbildung ist, wird man doch nie im Lande der Wirklichkeit.«366 Doch dieser Satz, der auf den ersten Blick einen literarischen Eskapismus zu rechtfertigen scheint, stellt ebensowenig Zimmennanns letztes Wort in diesem Zusammenhang dar wie der Hinweis auf die Gefahren einer Ersetzung wirklicher Gesellschaft durch literarische Idealisierungen. Wenige Seiten später kommt er ausdrücklich auf die »Hirtenlieder« zu sprechen, die ihm als »der höchste und reinste Ausdruck ländlicher Glückseligkeit«367 erscheinen. Diese Glückseligkeit läßt sich auch noch unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen erleben: Sieht und hört man nichts mehr von allem was schmerzet, lebt man in Liebe und Unschuld mit Wenigem vergnügt, mit allem zufrieden, so lebt man ja in den goldenen Zeiten der Dichter, deren Verlust ihr mit Unrecht bedauret Liebe und Ruhe, und Geschmack an reiner Natur, waren nicht blos den Haynen von Arcadien eigen. Ihr lebt alle in Arcadien wenn ihr wollt. Tage voll Herzensgenuß, und unschuldige Freuden, finden sich auf jeder beblümten Wiese, an jeder crystallenen Quelle, unter jedem schattigten Baume.368
Die Glückseligkeit der arkadischen Existenz ist weder an ein bestimmtes Zeitalter noch an eine bestimmte gesellschaftliche Konstellation gebunden. Da es sich um eine Existenz jenseits des großen gesellschaftlichen Zusammenhanges handelt, lassen sich »Tage voller Herzensgenuß« immer dann erleben, wenn man sich für einige Zeit aus diesem entfernt und sich der »reine[n] Natur« zuwendet. Weder muß der gesellschaftliche Zustand dem idyllischen angeglichen werden, noch muß sich der einzelne dessen Anforderungen vollständig entziehen. Der Wille zum arkadischen Glück reicht hin, um dieses auch erleben zu können. Die Parallele ist augenfällig, in der diese Passage zu der Schlußwendung in Geßners Idylle Der Wunsch*69 steht. Wurde dort der »eitele[/] Traum« fernen idyllischen Glücks zurückgewiesen, weil er den Blick auf »das Gute« verstellte, »das jedem auf der angewiesenen Bahn des Lebens beschehrt ist«,370 so bleibt diese »angewiesene Bahn des Lebens« auch für Zimmermann verbindlich.371 Von 363 366 367 368 369
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UdE, IV, S. 43f. Ebd., IV, S. 44. Ebd., IV, S. 48f. Ebd., IV, S. 49f. S. o., S. 132f. A.a.O. Einen anderen Akzent setzt Zimmermann allerdings, wenn er den von Geßner für die Wirklichkeit idyllischen Glücks in Anspruch genommenen Standpunkt der Tugend durch denjenigen ästhetischen Naturgenusses ersetzt Zum Zusammenhang zwischen ästhetischer Naturerfahmng und der Hinwendung zu »den Urformen menschlicher Gesellung« vgl. Wolfgang Kenn: >Die Schönheiten der Natur gemeinschaftlich betrachtem. Zum Zusammenhang von
274 dieser gilt es lediglich - um im Bild zu bleiben -, von Zeit zu Zeit seitwärts abzubiegen, um sich in der Abgeschiedenheit der Natur für das zu entschädigen, was »in Städten peinigt und drückt«372. Demjenigen, dem die Voraussetzung für eine die Bedürfnisse des Herzens befriedigende häusliche Geselligkeit fehlt, kann ein solches Naturerlebnis einen entsprechenden Dienst leisten. Aber auch die Literatur kann diese Rolle übernehmen, und Zimmermann nutzt die Idyllen Geßners selbst als »Ersatz, wenn ich an alle die Freude zurückdenke, die ich von deinem Umgänge [...] hatte, liebster Geßner!«373 Die Rückerinnerung an glückliche Stunden, an die eigene unbeschwerte Kindheit, der Geßner bereits seine Idyllen gewidmet hatte,374 galt auch Zimmermanns Interesse bei der Abfassung seiner großen Einsamkeitsschrift. Wie Geßners Idyllen dient sie der Imagination der »Freuden meiner muntern Jugend«3" und versetzt den Verfasser in einen Zustand, in dem er sich einer vergangenen Existenz versichern kann, in der er sowohl der äußeren als auch der eigenen inneren Natur näher war.37* Wie die Lektüre einer Idylle ihrerseits idyllisch wirken soll,377 so auch ihr Zustandekommen. Letzteres hatte im Falle Zimmermanns auch bezüglich der theoretischen Reflexion über die Möglichkeiten idyllischer Glückszustände unter den gegebenen historischen und sozialen Bedingungen Erfolg. Vermag die idyllische Literatur stellvertretend für häusliche Geselligkeit oder den »Herzensgenuß« und die »unschuldige[n] Freuden« des Naturgenusses zu stehen, so liegt es nahe und entspricht der ausführlich vorgestellten Systematik des Gesamtkonzeptes von Zimmermanns Einsamkeitsschriften, die BeschränkunFreundschaft, ästhetischer Naturerfahrung und >Gartenrevolution< in der Spätaufklärung. In: Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft, S. 167-193, Zitat S. 174. Kenn hebt ebenfalls hervor, daß Zimmermanns Berufung auf das Goldene Zeitalter keinerlei »utopische Potenz« zuzusprechen sei (S. 180), daß sie vielmehr als Teil eines »pragmatisch machbaren Kompromisses« zu gelten habe (S. 181), in dem die Integration in den gesellschaftlichen Handlungszusammenhang mit temporärer Entfernung verbunden werde. Ob das Moment der Anerkennung >entfremdeter< gesellschaftlicher Verhältnisse jedoch mit dem an Habermas orientierten Terminus der »Resignation« (ebd.) angemessen zu erfassen ist, bleibt zweifelhaft. Zur Naturauffassung bei Zimmermann vgl. auch Markus Zenker: »Es ist meine Manier, in jeder Absicht frey zu schreiben«. Untersuchungen zu J. G. Zimmermann, Über die Einsamkeit (1784/85). In: Johann Georg Zimmermann, königlich-großbritannischer Leibarzt (1728-1795), S. 139-153, insbes. S. 147ff. 372 UdE,rV,S.49. 373 Ebd., IV, S. 52. Im Manuskript war ursprünglich gar davon die Rede, daß Zimmermann »in keines Menschen Umgang mehr wahre Herzensfreude hatte« (B 13,30). 37 " S. o., S. 164. 373 A.a.O. 376 Zimmermanns melancholische Neigung, der er auch durch die Abfassung seiner großen Einsamkeitsschrift Herr zu werden beabsichtigte, verdeutlicht den therapeutischen Effekt, den er von einer solchen Imagination erwartete. Vgl. dz. auch Gerhard Hay: Darstellung des Menschenhasses in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, S. 76ff. Zu diätetischen Aspekten im Zusammenhang mit Geßners Idyllik vgl. außerdem Martin Bircher: Arkadien in Helvetien, insbes. S. 366. 377 Vgl. Markus Winkler, a. a. O.
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gen, die er bezüglich der »[Romanhaften Empfindungen« formulierte, ebenfalls übergreifend zu verstehen. Ob gesellige Einsamkeit, Genuß der Natur oder der Literatur: Nirgends darf die Befriedigung der Herzensbedürfnisse von der gewissenhaften Verfolgung der gesellschaftlichen Pflichten abhalten. Dies unterscheidet den Leitsatz: »Ihr lebt alle in Arcadien, wenn ihr wollt«, ebenso von der arkadischen Gegenwart, die Johann Gottfried Herder forderte und deren Einfluß auf die weitere Entwicklung idyllischer Dichtung Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird, wie auch von dem Anspruch Obereits, die Struktur der >kleinen Gesellschaftern als Vorbild menschlicher Geselligkeit insgesamt zu begreifen. So wenig der ideale Hofhiann Castigliones die Gesamtheit der höfischen Existenz repräsentierte, so wenig erheben die nunmehr standesübergreifend formulierten Möglichkeiten intimer Interpenetration bei Zimmermann und Geßner den Anspruch einer ganzheitlichen Alternative zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie beschränken sich vielmehr auf eine soziale Teilexistenz, die nicht zur Ersetzung, sondern zur Unterstützung der Verpflichtungen dienen soll, die im Rahmen der Gesellschaft zu erfüllen sind.
4. Psychologisierung, Ästhetisierung, Fragmentarisierung Der neue Status des Idyllischen in Dichtung und Ästhetik um 1800 Sowohl das literarische Konzept der Geßnerschen Idyllik als auch das soziale Modell der >kleinen Gesellschaftern, das diesem zugrundelag, blieb in den Kreisen der Aufklärung bis zum Ende des Jahrhunderts über die angesprochenen Differenzierungen hinweg stabil. Diese Stabilität erwies sich im Zuge der vorangegangenen Untersuchungen u. a. als Ergebnis einer kaum gebrochenen Verbindlichkeit naturrechtlicher und gesellschaftsethischer Sozialmodelle, die unter den Bedingungen der höfischen Gesellschaft entwickelt worden waren und im Laufe des 18. Jahrhunderts mehr und mehr auch für diejenigen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft Anwendung fanden. Der Stabilität des Modells in Aufklärungskreisen trat jedoch bereits ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Auffassung entgegen, die sich mit dem begrenzten Geltungsanspruch handlungsentlasteter Geselligkeit in >kleinen Gesellschaftern nicht zu begnügen bereit war. Die Kontroverse zwischen Zimmermann und Obereit hat gezeigt, daß sich auch diese Gegenposition auf eine Tradition zu stützen vermochte, deren spiritueller Hintergrund eine grundsätzliche Opposition zu den aufklärerischen Konzeptionen implizierte. Diese Opposition blieb auch auf dem Gebiet der Poetologie nicht ohne Folgen. Im zweiten Kapitel wurde bereits daraufhingewiesen, daß die literarische Theorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - im Gegensatz zu der späteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geßner - mit den Idyllen des Schweizer Verlegers und Buchhändlers keineswegs einen radikalen Bruch mit der höfischen Tradition bukolischer Dichtung verband. Geßners literarische Adaptation des ausfuhrlich vorgestellten komplementären Sozialmodells, das sein Vorbild in einer naturrechtlichen Theorie der höfischen Gesellschaft hatte, war im Gegenteil im Sinne der problematischen Konstanz einer besonders >künstlichen< Gattung kritisiert worden.' Diese kritische Geßner-Rezeption stellt mithin den eigentlichen Bruch in der Gattungsentwicklung bukolischer Dichtung dar; ein Bruch, dessen Konseo^enzen so weit reichten, daß die Idylle schließlich als eigenständige Dichtungsart aus dem literarischen Normengefüge herausfiel. Daß die Abwendung von den noch für Geßner verbindlichen poetologischen Grundsätzen bukolischer Dichtung zugleich auch das ihnen zugrundeliegende soziale Modell betraf, stellt angesichts der vorangegangenen Untersuchungen eine naheliegende Annahme dar. S. o., S. 120ff.
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Diese gilt es im vorliegenden abschließenden Kapitel zu überprüfen und damit die am Ausgang des 17. Jahrhunderts begonnene Engfilhrung von sozialer und poetologischer Theorie mit den ästhetischen Konzeptionen an der Wende zum 19. Jahrhundert zum Abschluß zu bringen. Der enge Zusammenhang, in den Ästhetik und Gesellschaftstheorie in den anzusprechenden Entwürfen mitunter ausdrücklich gebracht werden, stellt dabei zugleich eine abschließende Rechtfertigung dieser methodischen Engfuhrung dar. Es war der erst 23jährige Johann Wolfgang Goethe, der 1772 in seiner Besprechung des Geßnerschen Idyllen-Bandes aus dem gleichen Jahr deutlich machte, daß er sich des bloß relativen Geltungsanspruchs dieser literarisch evozierten idyllischen Existenzen bewußt war. Eben hieran entzündete sich die ebenso scharfe wie grundsätzliche Kritik Goethes, die damit radikal an den Grundlagen der idyllischen Dichtungstradition ansetzte. Wir kennen die Empfindungen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Einsamkeit fuhren, aufs Land, wo wir dann nur zum Besuch sind, nur wie bey einer Visite die schöne Sehe der Wohnung sehn, und ach! nur sehn, der geringste Antheil, den wir an einer Sache nehmen können!1
Bereits der Ort dieser Rezension verweist den Interpreten auf ihren grundsätzlichen Charakter: Der Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen unter der Redaktionsleitung Johann Heinrich Mercks und Johann Georg Schlossers gilt als »Zentralorgan des Frankfurter Sturm und Drang«3, in dem die Grundsätze der neuen literarischen Bewegung programmatisch und in offener Gegnerschaft zur literarischen Tradition formuliert wurden.4 Daß in diesem Zusammenhang das Idyllenwerk Geßners herangezogen wurde, um die neuen Ansprüche an die Literatur zu formulieren und zu illustrieren, belegt, daß dieses Werk den Mitarbeitern der Zeitung in besonderer Weise die zu überwindende lebensferne TradiJohann Wolfgang Goethe: [Rez.:] Moralische Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Gessner. In: Der junge Goethe in seiner Zeh. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775. Hg. von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems. Zweiter Band. Frankfurt/M. 1998 (h 2100). S. 402-405, hier S. 403. (Hervorhebung im Original.) Entsprechendes sollte Christian Garve einige Zeit später für das literarische Landlob insgesamt feststellen: In Ueber Gesellschaft und Einsamkeit betont er, daß dieses in aller Regel nicht dem wirklichen Landleben, sondern lediglich seinen Besuchern gelte; vgl. 1,26 If. Der junge Goethe in seiner Zeit, 2. Bd., S. 561. Zum Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen und seiner Bedeutung für die Kunstauffassung des Sturm und Drang vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Beitrage zur Geschichte und Frage nach den Mitarbeitern der »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« vom Jahre 1772. Auch ein Kapitel zur Goethe-Philologie. Dannstadt 1912; Max Morris: Goethes und Herders Anteil an dem Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Dritte veränderte Auflage. Mit sechs Lichtdrucken. Stuttgart, Berlin 1915; Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966; Ders.: Goethe und Johann Heinrich Merck. Johann Heinrich Merck und die Französische Revolution. Darmstadt 1970 (Darmstädter Schriften 26). S. 27ff.; Hans-Dietrich Dahnke: Nachwort In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen 1772. Auswahl. Hg. von dems. und Peter Müller. Leipzig 1971 (RUB 374). S. 437-469. (Die Geßner-Rezension Goethes S. 234ff.); Hermann Bräuning-Oktavio: Wetterleuchten der literarischen Revolution Johann Heinrich Merck und seine Mitarbeiter an den Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772 in Wort und Bild. Darmstadt 1972.
279 tion repräsentierte.3 Daß Geßner für die bis dahin verbindlichen literarischen Konzepte repräsentative Bedeutung zukam, zeigt zudem die Reaktion im Lager der aufklärerischen Literaturtheorie, für die Johann Jakob Engel jene ausführliche Gegenrezension verfaßte, aus der bereits zu Beginn der vorliegenden Arbeit zitiert wurde und auf die sogleich ein weiteres Mal einzugehen sein wird.* Vor den Augen Goethes fand allein die »Schweizer Idylle« Das hölzerne Bein Anerkennung, die den Abschluß der rezensierten Sammlung bildete und in der Geßner erst- und einmalig die traditionelle bukolische Szenerie verlassen hatte. Die Idylle wurde hier in die Schweizer Alpen verlegt und zugleich näher an die Gegenwart herangerückt, indem eine »Schlacht, die wir für unsre Freyheit gewannen«, in die Handlung integriert und zugleich in einer Anmerkung mit einer konkreten Orts- und Zeitangabe versehen wurde, die sie als die »Schlacht bey Näfels, im Canton Glarus, im Jahr 1388« ausweist.7 Hier findet Goethe die neuen literarischen Ansprüche seiner Generation erfüllt: O hätt er nichts ak Schweizer Idyllen gemacht! dieser treuherzige Ton, diese muntre Wendung des Gesprächs, das Nationalinteresse! das hölzerne Bein ist mir lieber als ein Dutzend elfenbeinerner NymphenfÜßchen. Warum muß sie sich nur so Schäfermäßig enden? kann eine Handlung durch nichts rund werden, als durch eine Hochzeit? Wie lebendig läßt sich an diesem kleinen Stücke fühlen, was Geßner uns sein könnte, wenn er nicht durch ein zu abstraktes und ekles Gefühl physikalischer und moralischer Schönheit wäre in das Land der Ideen geleitet worden, woher uns nur halbes Interesse, Traumgenuß herüberzaubert.8 Die Rezension Goethes war allerdings auch unter Herausgebern und Mitarbeitern umstritten. Die Auseinandersetzungen, die schließlich in einen förmlichen Widerruf des ablehnenden Urteils im folgenden Jahrgang der FGA mündeten, betrafen jedoch nicht den hier hervorgehobenen Aspekt, sondern die Charakterisierung Geßners als »[m]ahlende[n] Dichter« (Goethe: [Rez.:] Moralische Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Gessner, S. 403). Hermann Bräunig-Oktavio hält die Rezension, die an der »poetischefn] Malerery« (ebd.) Geßners auch verteidigungswürdige Züge herausarbeitet, für das Dokument einer Diskussion zwischen Goethe und Merck, dem er die lobenden Passagen zuspricht: Vgl. Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772, S. 421 ff. Entsprechend grundsätzlich legte Engel seine Gegenrezension dann auch an, die bereits im ersten Satz zu erkennen gibt, daß sie sich nicht allein für Geßner, sondern noch grundsätzlicher gegen neuere Tendenzen der Literaturtheorie auszusprechen beabsichtigt: »Die Kritik hat seh einiger Zeit in Deutschland eine Wendung genommen, die den schönen Wissenschaften sehr nachtheilig werden kann. Statt von der Empfindung auszugehn, geht sie von allgemeinen metaphysischen Grundsätzen aus, die immer nur unter sehr vielen Einschränkungen und Bestimmungen wahr sind; diese Einschränkungen und Bestimmungen vergißt sie, wendet die Sätze in ihrer völligen Allgemeinheit an, und philosophirt uns aus den vortrefflichsten Werken die Schönheiten weg, daß wir uns wundem müssen, wo sie geblieben sind.« Johann Jakob Engel: [Rez.:] Salomon Gessners Schriften. S. 118. Vgl. dz. Thomas Bürger: Auch er war in Arcadien!, S. 184f.; sowie den Brief Engels an Christian Garve vom 2. 12.1772 in Alexander Kosenina, Matthias Wehrhahn (Hg.): Johann Jakob Engel (1741-1802). Leben und Werk des Berliner Aufklärers. Ausstellung zum 250. Geburtstag. Berlin 1991 (Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 22). S. 14. Zur Reaktion der aufklärerischen Literaturtheorie vgl. außerdem Der junge Goethe in seiner Zeit, 2. Bd., S. 562. Salomon Geßner: Idyllen, S. 132-136, hier S. 132. Johann Wolfgang Goethe: [Rez.:] Moralische Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Gessner, S. 404. (Hervorhebung im Original.) Diesem Urteil schließt sich noch 1789 Friedrich Ludwig Carl Graf von Finckenstein im Sinne einer aktualisierenden Aneignung des ursprünglichen Gehalts idyllischer Dichtung an: »Selbst unser Bauer gefallt und interessiret uns
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Es handelt sich um ein zweifelhaftes Lob, das Goethe Geßner an dieser Stelle zuteil werden läßt: Der Verweis auf das »Nationalinteresse« ebenso wie die Kritik des >schäfermäßigen< Endes zeigen, daß seine Anerkennung gerade nicht den idyllischen Momenten der Erzählung gilt, sondern vielmehr den Eigenschaften, die sie über die idyllische Tradition hinausführten. Dies macht deutlich, daß im Grunde die gesamte idyllische Dichtung mit den neuen Ansprüchen an die Literatur nicht in Einklang zu bringen war. So waren etwa >Nationalinteressen< grundsätzlich von einem poetischen Verfahren nicht zu bedienen, das seine Personen und Gegenstände bewußt in vorgesellschaftlichen Zuständen aufsuchte. Möglicherweise handelte es sich bei Geßners vaterländischer Themenwahl um ein Zugeständnis an das Geschichtsprogramm der Helvetischen Gesellschaft, dem auch Johann Caspar Lavaters Schweizer Lieder geschuldet waren.9 Doch ungeachtet der Thematik, die weit über den traditionell-idyllischen Umkreis des Persönlichen hinausweist, bedient Geßner sich für das Ende erneut eines genuin idyllischen Motivs, indem er die Handlung in eine Hochzeit münden läßt. In deren Rahmen wird nun doch wieder auf einer rein persönlichen Ebene verhandelt, was zuvor auf ein Bewußtsein des politischen Zusammenhangs verwiesen hatte: Die rettende Tat des Vaters wird als moralische gerühmt und mit der persönlichen Verbindung der Kinder belohnt. Der politisch-vaterländische Gehalt wird von Geßner auf diese Weise letztlich wieder zurückgenommen und auf seine bekannten Vorstellungen »moralischer Schönheit« reduziert. So kann der Rezensent auch bezüglich dieser Idylle, die im Rahmen des Geßnerschen Werkes einzigartig war, nicht zufriedengestellt werden und lediglich »halbes Interesse« an ihren Figuren und Gegenständen nehmen. Sowohl die Betonung des »Nationalinteresse[s]« wie auch die Enttäuschung über den häuslich-idyllischen Ausgang, der diesem nicht mehr zu entsprechen vermag, läßt sich als Vorausdeutung auf Goethes eigenen späteren Versuch einer Integration von Idylle und Epos lesen. Zwar schloß sich dieser ausdrücklich an die Idyllik Johann Heinrich Voß' an. Doch im Zentrum des idyllischen Zyklus Luise stand ebenfalls eine ländliche Hochzeit. Wenn Goethe daher am Ende seines idyllischen Epos der Hochzeit der Protagonisten eine nicht nur private im landlichen Schauspiele und anderen Dichtungsarten. Wie viel mehr würde uns der Dichter ergötzen, der den Schweizerischen Alpenhirten, oder sonst einen Landmann, der noch irgendwo, bey angeborner Antnuth und Munterkeit ein einfaches, freyes und ruhiges Leben führet, beobachten und nach dem Leben schildern könnte. Unter so günstigen Umstanden war die Hirtenmuse in Sizilien geboren, und in ähnliche müssten wir freylich auch den Dichter versetzen können, der uns, bey gleichem Dichtertalente, gleich trefliche National-Idyllen liefern sollte; aber dann möchte auch, ohne die Griechische Idylle darum gering zu schätzen, eine solche National-ldylle doch noch vor jener der Bearbeitung würdig seyn.« Versuch über das bukolische Gedicht, S. 54. (Hervorhebungen im Original.) Dagegen findet Das hölzerne Bein in der Rezension Johann Joachim Eschenburgs in der Allgemeinen deutschen Bibliothek keine Erwähnung, die sich auf Kurzbesprechungen derjenigen Idyllen beschränkt, »deren Lesen uns am meisten anzog und unterhielt«: [Rez.:] Salomon Gessners neue Idyllen, S. 569. Vgl. Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach, im Jahr 1767, S. l Iff. Zum Geschichtsprogramm der Helvetischen Gesellschaft vgl. Verf.: »Ich will euch jetzt nicht betrüben mit meinen Nachrichten von der Welt«. Johann Georg Schlosser und die Helvetische Gesellschaft. In: Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800. Hg. von Achim Aumhammer und Wilhelm Kühlmann. Freiburg 2002.
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Bedeutung zuspricht und sie vielmehr zu einer Vermittlung unterschiedlicher sozialethischer Prinzipien erhebt,10 so dürfte dies ebenso im Rückbezug auf Geßners Hölzernes Bein wie auch auf Voß' Luise zu verstehen sein. Die genaue Analyse wird allerdings erweisen, daß Goethe sich in diesem Werk dem Sozialkonzept der Geßnerschen Idyllendichtung und dem beschränkten Geltungsanspruch ihrer >kleinen Gesellschaftern wieder angenähert hat. Diese erneute Beschränkung des Geltungsanspruchs eines idyllischen Sozialmodells führte bei ihm jedoch zu poetologischen Konsequenzen, die geeignet waren, die Eigenständigkeit der idyllischen Dichtung grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Geßnerkritik Goethes laßt sich diejenige eines weiteren Mitarbeiters am Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen an die Seite stellen:" Bereits 1767 hatte Johann Gottfried Herder in seiner zweiten Sammlung von Fragmenten Ueber die neuere deutsche Literatur in einem Vergleich zwischen Theokrit und Geßner die künstlich-idealisierende Tendenz des letzteren kritisiert (und in ihrer Absetzung gegenüber dem griechischen Vorbild zugleich ein neues TheokritVerständnis etabliert).12 Das griechische Vorbild habe die in der Idylle darzustellende Unschuld noch in der Natur der von ihm geschilderten Hirten vorgefunden; was er gestaltet habe, sei zwar eine verschönerte Natur des Menschen gewesen, ohne daß sich diese jedoch über ihr Urbild vollständig erhoben habe, das in der zeitgenössischen Wirklichkeit vorzufinden war. Theokrit sei von der Natur aus10
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Die dann auch - wenngleich verkürzt, so doch der nicht-»[s]chäfermäßig[en]« Intention entsprechend - national identitätsbildend rezipiert wurde. S. dz. ausfuhrlich u., Abschnitt 4.2. Gabrielle Bersier spricht von »Herder's and Goethe's alliance in the name of naturalism against Gessnerian illusionism«: Arcadia revitalized, S. 38. Auch Johann Heinrich Voß schließt sich diesem Urteil über Geßners »Schweizernatur mit arkadischen, oder besser idealischen, das heißt chimärischen Einwohnern« an: Brief an Bruckner vom 20. 3. 1775; zit nach Ernst Thoedor Voss: Arkadien und Grünau. Johann Heinrich Voss und das innere System seines Idyllenwerkes. [1968] In: Europäische Bukolik und Georgik, S. 391 -431, hier S. 411. Zur Geßnerkritik Goethes und Herders vgl. auch Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 55ffi; Gerhard Hämmerling: Die Idylle von Geßner bis Voß, S. 125ff.; sowie zuletzt Uwe Hentschel: Salomon Geßners Idyllen und ihre deutsche Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, S. 337ff. Das gleichwohl Geßner selbst durch seine Berufung auf die »Einfalt der Natur« bereits vorbereitet hatte, deren Darstellung Theokrit durch »die noch weniger verdorbene Einfalt der Sitten zu seiner Zeit, und die Achtung[,] die man damals noch für den Feldbau hatte«, erleichtert worden sei: Idyllen, S. 17f. Vgl. dz. Helmut J. Schneider: Einleitung, S. 56f. Zu Herders Theokrit-Verständnis vgl. auch Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 87. Im Anschluß an Herder (und dann an Schiller) wurde es nunmehr üblich, in den Idyllen Theokrits »eine getreue Nachahmung des wirklichen Lebens, ein charakteristisches Gemälde von Menschen und Sitten« zu erblicken (Friedrich Ludwig Carl Graf von Finckenstein: Versuch über das bukolische Gedicht, S. 36) und positiv gegen Vergil abzusetzen, durch den die naturgemäße Darstellung zu einem idealisierenden Gegenbild zum zeitgenössischen dekadenten Stadtleben umgeschaffen worden sei. Nikolaus Müller weist ergänzend darauf hin, daß sich dieses neue, die wesentlich durch Fontenelle geprägte bukolische Hierarchie zwischen Theokrit und Vergil umkehrende Theokrit-Verständnis in Ansätzen bereits in der Idyllentheorie Bodmers und Brertingers und dann auch bei Ramler finde. Ober diese vermittelt, sei schließlich Geßners Berufung auf Theokrit zustande gekommen, die Müller - mit Herder - gleichwohl für eine Fehleinschätzung hält: Vgl. Die deutschen Theorien der Idylle von Gottsched bis Geßner und ihre Quellen, S. 42ff., 69ff. Zu Geßners Theokrit-Nachfolge s. auch o., S. 117 u. 139f.
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gegangen und habe aus dieser das idyllische Ideal gewonnen. Geßner dagegen fehle dieses natürliche Vorbild, und so müsse er seine Figuren abstrakt nach dem vorgefaßten Ideal konzipieren, wodurch ihnen die Natürlichkeit verloren gehe: Jenes Naivete ist eine Tochter der einfaltigen Natur, die Naivete im Geßner ist von der idealischen Kunst geboren; jenes Unschuld redet in Sitten des Zeitalters; die Unschuld des lezten erstreckt sich bis auf die Gesinnungen, Neigungen und Worte. Kurz! Theokrit malt Leidenschaften und Empfindungen nach einer verschönerten Natur: Geßner Empfindungen und Beschäftigungen nach einem ganz verschönerten Ideal [...] Daphnis für die Erde zu himmlisch und für das Reich der Hebe zu irdisch. Seine Schäferspiele - man führe sie auf: und man wird nur Puppen sehen [...]."
Herder greift die Gattungsbestimmung Moses Mendelssohns auf, um das Wesen der idyllischen Dichtung zu bestimmen: Das Ideal des Schäfergedichts ist: wenn man Empfindungen und Leidenschaften der Menschen in kleinen Gesellschaften so sinnlich zeigt, daß wir auf den Augenblick mit ihnen Schäfer werden, und so weit verschönert zeigt, daß wir es werden wollen; kurz bis zur Illusion und zum höchsten Wohlgefallen erhebt sich der Zweck der Idylle, nicht aber bis zum Ausdruck der Vollkommenheit, oder zur Moralischen Besserung.14
Ähnlich wie wenig später Goethe wendet Herder sich an dieser Stelle gegen konstitutive Prinzipien der aufklärerischen Idyllendichtung Geßners. Die entscheidenden Stichworte liefert er hierbei mit seinen Verweisen auf die »Illusion« sowie auf die »[mjoralische Besserung«: Die bewußt kontrafaktische Haltung der Idyllen Geßners wird von Herder ebenso abgelehnt wie der in ihnen bezogene moralische Standpunkt. Herder ist mit der bloßen Möglichkeit idyllischen Glücks nicht mehr gedient. Er fordert dessen unmittelbare sinnliche Gegenwart, wenn diese auch nur als »Illusion« möglich sein sollte.13 Wie sehr diese Illusion von einer vorgängigen Disposition des Rezipienten abhängt, zeigt der Briefwechsel Herders mit Caroline Flachsland zwischen 1770 und 1773. Zugleich läßt sich an diesem Briefwechsel ablesen, wie ernst es Herder mit seiner Forderung nach idyllischer Gegenwart war, die er in der gemeinsam mit Caroline und einem engen, vertrauten Freundeskreis verbrachten Darmstädter Zeit erlebt zu haben glaubte.16 Im Lichte dieser Erinnerung fällt auch das
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Johann Gottfried Herder: Theokrit und Geßner. In: Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Erster Band Berlin 1877. S. 337-350, hier S. 347. Diese Kritik Herders beherrscht noch das Geßnerbüd der frühen Dissertation Willibald Nagels: »Gessner übersah, dass Theokrit nur die Natur zu verschönem getrachtet, er [war] aber darauf ausgegangen [...], das Ideale zu idealisieren«: Die deutsche Idylle im 18. Jahrhundert, S. 30; vgl. auch ebd., S. 70f. Johann Gottfried Herder: Theokrit und Geßner, S. 343. Vgl. dz. auch Hans-Joachim Mahl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 166ff., der an dieser Stelle den Übergang von einem moralischen zu einem ästhetischen Ideal als Grundlage der Idyllendichtung als vollzogen betrachtet. In seinem Brief vom 1. Mai 1771 bezeichnet Herder die Möglichkeit, Caroline bei sich in Bückeburg zu sehen, als innerweltliches »Elysium«, was zugleich deutlich macht, daß der moralische Standpunkt Geßners von ihm durch die sinnliche Vorstellung glücklicher Liebe ersetzt wird: Vgl. Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. Nach den Handschriften des Goe-
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Urteil über Geßners letzte /^//ew-Sammlung bedeutend milder aus: Beide finden wiederholt lobende Worte für die in diesem Band veröffentlichten Idyllen sowie für die von Diderot beigefügten Erzählungen.17 Am 12. August 1772 hält Herder schließlich fest: Geßners Büchlein ist ein liebes Büchlein, voll schöner Gemälde und Empfindungen, jedes ein hübsches Land= Schäfer= und Menschenstückchen mit vieler Natur. Ich habs bei meiner Brunnenkur, unter Baum, Laub' und Wald, und so ganz mit Ihnen gelesen, aber was heißt das lesen?*
Helfen Erinnerung und Imagination des Rezipienten mit, so kann also selbst das von Geßner gezeichnete idyllische Glück seinen fiktiven Charakter verlieren. Doch es bleibt bei einer kurzen Momentaufnahme. Letzlich kann die GeßnerLektüre die Wirklichkeit nicht hinreichend idyllisieren: Aber nochmals, mein liebes, süßes Mädchen, alle diese Lecturen sind Nichts, wenn unsre Herzen nicht enger, fester, ewiger zusammen sind, zur That, zum Leben!19
Rund 25 Jahre später schätzte Herder die Möglichkeiten der Literatur dagegen wesentlich optimistischer ein. In einem Artikel über das Idyll im zweiten Band der Adrastea von 1801 kommt er erneut auf Mendelssohns sozialen Bestimmungsversuch des Idyllischen zurück, indem er die Frage stellt: Beruhet nicht allenthalben auf kleinem Gesellschaften das Glück des Lebens? Und knüpfen Freundschaft, Liebe, Genoßenschaft zum Werk, zur Haushaltung, gar zur Gefahr, zu jedem Unternehmen dies Band einer kleinen Gesellschaft nicht? zu welchem Stand man auch gehöre.20
Auf dieser Grundlage behauptet Herder die Möglichkeit idyllischer Szenen in »\j]eder menschlichen Lebensweise« und meint damit nicht allein »Lager-, Kriegs =, Schlachtidyllen«, sondern bezieht ausdrücklich die bislang von der idyllischen Dichtung ausgeschlossenen Orte des »Cabinetfsj«, der »Gerichtsstäte«, der »Kanzlei«, des »Hofjes]« und sogar des »Kramladen[s]« mit ein.21 In all diesen beliebigen und standesunabhängigen Situationen hält Herder idyllische Wirklichkeit für möglich. Zugleich traut er einer reformierten, an der konkreten Lebenswirklichkeit orientierten Idyllendichtung die Schöpfung dieser idyllischen Wirklichkeit zu. Die von Herder geforderte Lebensnähe und praktische Realisierbarkeit der Idylle verabschiedet mit der arkadischen Einkleidung zugleich ein konsumtives Prinzip der aufklärerischen Idyllenkonzeption Geßners und bezeichnet insofern einen ra-
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the= und Schillerarchivs hg. von Hans Schauer. Erster Band: August 1770 bis Dezember 1771. Weimar 1926 (Schriften der Goethe= Gesellschaft 39). S. 192. Vgl. etwa ebd., Bd. 2. Weimar 1928 (Schriften der Goethe=Gesellschaft 41). S. 175,178. Ebd., S. 191f. (Hervorhebungen im Original.) Ebd., S. 192. Johann Gottfried Herder: Idyll. In: Herders Sämmtliche Werke, 23. Band (Berlin 1885), S. 298-306, hier S. 304f. (Hervorhebung im Original.) Ebd., S. 303. (Hervorhebungen im Original.)
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dikalen Bruch mit der poetischen Tradition. Denn die Verlegung des idyllischen Schauplatzes in ein unwiderruflich vergangenes Zeitalter hatte den kontrafaktischen Charakter des idyllischen Ideals unmißverständlich in die Darstellung integriert. Die arkadische Szenerie stellte daher einen wesentlichen Bestandteil des komplementären Anspruches dar, der nicht daraufgerichtet war, die zeitgenössische, dem Ideal widersprechende Lebenswirklichkeit in diesem aufzuheben. Daß Herders Ablehnung des für die aufklärerische Idyllik verbindlichen Sozialmodells den zentralen Anlaß für die literaturtheoretischen Erwägungen darstellt, macht seine emphatische Forderung nach einem »Lebens=Idyllion« deutlich: Also in allen Situationen, in allen Geschäften des Lebens, wenn sie nicht wider die Natur sind, lebe man ihr gemäß und verschönere sein Leben. Allenthalben blühe Arkadien, oder es blüht nirgend. Aus unserm Herzen sproßend muß unser Verstand sich durch Kunst dies Lebens= Idyllion schaffen, durch Auswahl diese Lebensekloge vollenden. [/][...] Ja lasset uns den Idyllentraum verfolgen: im Anblick dieser reinen Gestalten lernen wir Kletten abschütteln, die uns sonst widrig anhingen [...]. Ein neuer Plan erwache! von jeder Seite wird ihm die Echo antworten: »Arkadien! Auch hier ist Arkadien, auch hier!«12
Die Allgegenwart Arkadiens hatte auch Johann Georg Zimmermann behauptet. Doch dessen arkadische Wirklichkeit war lediglich eine temporäre, die wie bei Geßner von der vorübergehenden Einnahme eines moralischen Standpunkts abhing, der die gesellschaftlichen Differenzierungen für einen begrenzten Zeitraum aufzuheben vermochte. Herders Forderung erscheint dagegen ungleich radikaler. Ihm gilt es konkret, »Kletten ab[zu] schütteln, die uns sonst widrig anhingen«, den entfremdenden gesellschaftlichen Verhältnissen ihre idyllische Wirklichkeit abzugewinnen, dauerhafte Gemeinschaften von Gleichgesinnten zu stiften und sich nicht lediglich mit dem moralischen Standpunkt mach Geschäftsschluß< abzufinden. Der idyllischen Teilexistenz der Aufklärung stellt Herder seine radikale Forderung nach einer »Lebensekloge« entgegen, die in und durch Literatur zu verwirklichen sein soll. Dieser mit Herder einsetzende und auch in Goethes Rezension festzustellende Bruch in der Gattungsentwicklung wird auch im Rückblick auf die eingangs bereits angesprochene Gegenrezension deutlich, die Johann Jakob Engel 1773 in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste veröffentlichte. In Reaktion auf Goethes Vorwurf, Geßner zeichne bloße »Schattenwesen«23, macht Engel darauf aufmerksam, daß dessen idyllische Figuren vielmehr das darstellten, »was wir selbst entweder sind, oder gewesen sind; er führt uns in die süßesten Augenblicke unsers Lebens wieder zurück«24, denn: Wir vergessen gerne einmal alle des Elendes, aller der Unruhe, die durch das streitende Interesse der Menschen veranlasset wird, um uns unsers Daseyns recht innig und mit der reinsten Wollust zu freuen. [...] [/] [...] Denn wo ist doch der Mensch, der nicht dann und wann eben 22 23 24
Ebd., S. 305f. (Hervorhebungen im Original.) Johann Wolfgang Goethe: [Rez.:] Moralische Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Gessner, S. 156. Johann Jakob Engel: [Rez.:] Salomon Gessners Schriften, S. 126.
285 das gewesen wäre, was seinem innern Charakter nach ein Geßnerischer Schäfer ist? der sich nicht zu mancher Stunde von allen ändern Banden, außer den Banden der Natur, frey gefühlt hatte? in dessen Seele nicht oft alle Begierden geschwiegen hätten, die nur in großem Gesellschaften erwachen konnten? [...] Freylich war ein solcher Charakter, ein solcher Zustand nur allzuvorübereilend25.
Engel hält sich genau an die von Geßner An den Leser gerichtetete Rechtfertigung seiner Idyllendichtung26 und stellt sich damit hinter dessen Idyllenkonzept, für das es im Unterschied zu Goethe und Herder ausreicht, das Ideal einer gesellschaftlichen Teilexistenz zu formulieren.27 Im Anschluß daran hebt er hervor, daß das Ideal der >kleinen Gesellschaftern - an das ja auch Herder wieder anknüpfen sollte - seinerseits einen Teil der von Goethe so vehement kritisierten Idealisierung von Geßners Idyllen darstellt, denn »[e]r mußte seine Menschen aufs Land versetzen; aber frey von allen den sklavischen Banden, die unsem Landmann mit der großen Gesellschaft des Staats zusammenknüpfen.«18 Die Darstellung des Lebens in >kleinen Gesellschaftern führt also insofern unweigerlich zu einer idealisierenden Darstellung, als sie den Blick von deren Verbindungen mit der >großen Welt< abwenden muß. Das hatte bereits Mendelssohn als Charakteristikum der Idylle festgehalten, das diese vom Landgedicht unterscheide. Erst Goethe sollte eine Lösung dieses Problems vorlegen, indem er das ländliche durch ein kleinstädtisches Ideal ersetzte, auf das sich nunmehr ebenso Züge kleinräumig-ländlicher wie auch diejenigen differenziert-bürgerlicher Geselligkeit auftragen ließen.29 Die von Engel vorgenommene Verknüpfung der beiden idyllischen Grundsätze der >kleinen Gesellschaftern sowie der idealisierten Ländlichkeit macht deutlich, daß die Annahme, die Idyllendefinition Mendelssohns habe keine nennenswerte Wirkung entfaltet,30 der Korrektur bedarf. Nicht nur die Tatsache, daß Herder 13 24
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Ebd., S. 125f S. o., S. 163f. Zur Stellung von Engels Rezension im Zusammenhang der zeitgenössischen Idyllendiskussion vgl. das Nachwort von Ernst Theodor Voss zum Neudruck von Engels Abhandlung Über Handlung. Gespräch und Erzählung, a. a. O., S. 1*-171*, hier S. 84*ff. Johann Jakob Engel: [Rez.:] Salomon Gessners Schriften, S. 126. Vgl. dz. auch die Bestimmung, die Engel zehn Jahre später in aen Anfangsgründen einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt (Berlin, Stettin 1783. ND Hildesheim, New York 1977) vorlegte und die ebenfalls die fehlende »Verbindung mit der großem Gesellschaft des Staats« als zentrales Merkmal anfuhrt (S. 68). In der Frage, wie der Dichter diesen Gegenstand »zurichten, wenden, abändern« soll (S. 71), zieht Engel auch dort noch Geßner als Vorbild heran, der »unter allen Neuem das beste Muster« (S. 76) darstelle. S. dz. u., S. 343f. Vgl. Berthold Burk: Elemente idyllischen Thebens, S. 12. Gegen die Annahme Burks spricht auch bereits die oben angeführte Reaktion Schlegels, die sich ausdrücklich gegen die von Mendelssohn in die Weh gesetzte »itzige Modeerklärung des Schäfergedichtes« wendet, denn: »Seit diese Erklärung in den Lhteraturbriefen auf die Bahn gebracht worden, ist sie von dar in viele andre Schriften übergegangen, und machet noch immer in der kritischen Welt ihr Glück.« Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie, S. 399. So erscheint das Vorgehen Klaus Bernhards in dieser Beziehung überzeugender, der den Begriff der >kleinen Gesellschaftern als durchgehende Kategorie zur Bestimmung der Gattung im 18. Jahrhundert nutzt - dies jedoch mit zuweilen kaum haltbaren historischen Interpretationen: Vgl. etwa seine Ausführungen zur
286 noch 1801 darauf zurückkommt, sondern mehr noch die von Engel hergestellte Verbindung zu dem zentralen Streitpunkt der Debatte um die Idylle nach Geßner macht deutlich, daß Mendelssohn dieser im Gegenteil mit seiner Definition ein zentrales Stichwort geliefert hatte. Denn im Umgang mit diesen >kleinen Gesellschaftern spiegelt sich exakt jener Wandlungsprozeß, der soeben anhand der Beiträge Herders skizziert wurde: Engel akzeptiert mit Geßner deren idealisierte Darstellung, die ihre faktische Verbindung zur >großen Welt< in der Dichtung künstlich außer Kraft setzt und damit lediglich auf die Möglichkeit ihrer zeitweisen Existenz in bestimmten, eng umgrenzten gesellschaftlichen Teilbereichen verweist. Dagegen bedeutet Herders Forderung nach Gegenwärtigkeit und Realismus des Idyllischen einen ersten Ansatz zur Forderung nach einer tatsächlichen Aufhebung dieser Verbindungen zur gesellschaftlichen Außenwelt, denn nur unter dieser Voraussetzung ließ sich sein »neuer Plan« einer »Lebensekloge« verwirklichen.31 Mit seiner emphatischen Ablehnung bloßer moralischer Teilexistenzen leitete Herder also bereits 1767 eine Entwicklung ein, in deren Verlauf die Idylle schließ»Dialektik bürgerlich/vorbürgerlich« zum Abschluß des ersten Abschnittes des theoretischen Teils: Idylle, S. 32. Zum Fortbestand von Mendelssohns Bestimmungsversuch vgl. die sogleich anzusprechende Abhandlung Johann Joachim Eschenburgs, die den entproblematisierenden Charakter dieser Fortschreibung deutlich macht, in der schließlich auch der bei Mendelssohn noch deutlich wahrzunehmende Bezug zu naturrechtlichen Grundsatzdiskussionen nicht mehr erkennbar ist. Ein Ansatz zur Vermittlung der unterschiedlichen Positionen findet sich schließlich in Johann Joachim Eschenburgs Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Redekünste (Zur Grundlage bei Vorlesungen): Noch in der »vierte[n], abgeänderte[n] und vermehrte[n] Auflage« (Berlin, Stettin 1817) dieses erstmals 1783 erschienenen Kompendiums, das sich eher der Popularisierung bestehender als der philosophischen Vertiefung neuer poetologjscher Ansätze verpflichtet fühlte, greift Eschenburg auf Engels Fortführung der Bestimmung Mendelssohns zurück und faßt das Hirtengedicht als »die dichterische Darstellung veredelter Handlungen, Sitten, Leidenschaften und Empfindungen solcher Menschen, die in kleinen, in keine künstliche Verhältnisse verflochtenen, und gewöhnlich ländlichen, Gesellschaften beisammen leben« (S. 115). Den Grund für den »ursprünglich zum Theil wahre[n], und in der Folge nach früheren Urbildern idealisirte[n], Charakter des Hirtengedichts« findet er mit Engel »in der einfachen ländlichen Lebensart der ersten Erdbewohner, vor Errichtung der engern, durch mannichfahigere Sitten, Bedürfhisse, Leidenschaften und Verhältnisse beschränkten, bürgerlichen Gesellschaft« (S. 117). Dabei beruft Eschenburg sich für seine Idyllendefinition jedoch nicht allein auf Mendelssohn und Engel. Neben deren Abhandlungen führt er außerdem u. a. die poetologischen Beiträge Herders, Schlegels, Geßners, Ramlers und Sulzers an, gründet seinen gattungstheoretischen Entwurf aiso auf ein ausgesprochen heterogenes Textkorpus. Dessen Differenzen werden einer entproblematisierenden Lesart zugeführt, indem Eschenburg sich einerseits an die Vorgaben Engels und Mendelssohns hält, andererseits dem Idyllendichter nahelegt, seine Arbeit »dadurch, daß er die Sitten und Empfindungen der Landbewohner seiner Zeit dabei zum Grunde legt, sie mit gehöriger Mäßigung veredelt, und der Vollkommenheit jener Zeiten nahe bringt, [...] noch anziehender [zu] machen« (ebd.). Zu Eschenburg vgl. u. a. Fritz Meyen: Johann Joachim Eschenburg 1743-1820 Professor am Collegium Carolinum zu Braunschweig. Kurzer Abriß seines Lebens und Schaffens nebst Bibliographie. Braunschweig 1957 (Braunschweiger Werkstücke 20); Manfred Pirscher: Johann Joachim Eschenburg. Ein Beitrag zur Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Diss Münster 1960; Roger Paulin: Johann Joachim Eschenburg und die europäische Gelehrtenrepublik am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert In: IASL 11 (1986). S. 51-72; Klaus Bernhard: Idylle, S. 25ff.
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lieh »epischen, will sagen totalen Anspruch«32 erheben sollte. Im folgenden sind drei Möglichkeiten der Umsetzung dieses Anspruches vorzustellen, die jeweils auf ihre Art zugleich die Fortführung der bukolisch-idyllischen Tradition sicherstellten wie auch die traditionelle Idyllik endgültig verabschiedeten. Anhand dieser drei nahezu zeitgleich um die Mitte der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts erscheinenden ästhetischen Aneignungsversuche der Idyllentradition läßt sich einerseits das Ende der Eigenständigkeit idyllischer Dichtung illustrieren. Daß dies keineswegs mit einer Abwertung der Bedeutung idyllischer Gehalte der Kunst verbunden war, zeigt Friedrich Schillers Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung besonders nachdrücklich.33 Auf der anderen Seite verweisen die folgenden drei Adaptationsversuche idyllischer Tradition auf einen Differenzierungsschub ästhetischer Konzeptionen am Übergang zum 19. Jahrhundert, der sich vor dem systemtheoretischen Hintergrund der vorliegenden Untersuchung erklären läßt: Der Bedeutungsgewinn, den das Kunstsystem im Verlaufe des 18. Jahrhunderts in Reaktion auf die sozialen Differenzierungs- und Funktionalisierungsprozesse zu verzeichnen hatte, führte innerhalb dieses Systems selbst zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Formen des Umgangs mit der gestiegenen Erwartungshaltung gegenüber den Möglichkeiten spezifisch ästhetischer Kommunikation. Auf das zunächst anzusprechende Modell hat Herder selbst hingewiesen mit der Bemerkung, »unser Verstand« müsse sich »durch Kunst dies Lebens=Idyllion schaffen«: Die von Jean Paul vorgeführte »Kunst, stets fröhlich zu sein«, erscheint im Hinblick hierauf als unmittelbare - wenngleich satirisch gebrochene Umsetzung der Herderschen Forderung im Sinne einer Strategie des Idyllischen, in der charakterliche und soziale Beschränkung mit persönlicher Klugheit verbunden werden. Allerdings wird die folgende Darstellung verdeutlichen, daß Jean Paul dem bislang verfolgten sozialen Aspekt idyllischer Dichtung kaum noch Bedeutung beimißt. Insofern fällt sein Umgang mit idyllischen Motiven und Charakteren genaugenommen aus dem systematischen Rahmen der bisherigen Untersuchungen. Da seiner Aneignung der idyllischen Tradition nicht allein im Blick auf die Kritik des Idyllenkonzeptes Geßners, sondern auch für den Fortgang idyllischer Dichtung im 19. Jahrhundert jedoch zentrale Bedeutung beizumessen ist, wird sie im folgenden wenigstens in groben Umrissen vorgestellt. Da dies außerhalb des auf soziale Aspekte konzentrierten Argumentationsverlaufs geschieht, erhalten die Ausführungen zu Jean Paul den Status eines Exkurses.
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Friedrich Sengle: Wunschbild Land und Schreckbild Stadt, S. 447. Sengle stellt diesen Anspruch zwar in Frage, bezieht sich dabei jedoch auf die Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts. Von einem Ende der Idyllendichtung im 18. Jahrhundert kann daher lediglich in dem Sinne die Rede sein, daß sie nicht länger als eigenständige poetische Form auftritt. Daß Idyllisches in der Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichwohl eine wichige Rolle spielte und dessen Integration in in andere Gattungen eine Differenzierung idyllischer Formen nach sich zog, zeigt der typologisierende Oberblick Friedrich Sengles: Biedermeierzeit Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Band II: Die Formenwelt Stuttgart 1972. S. 743ff.
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Auch Friedrich Schillers Interesse ist darauf gerichtet, der kontrafaktischen Idyllik einen neuen Wirklichkeitsanspruch zu verleihen, der jedoch weniger - wie bei Jean Paul - auf individuelle Gegenwart als vielmehr auf gesellschaftliche Zukunft abzielt. Damit läßt sich wieder an die vorangegangenen Ausführungen zur aufklärerischen Idyllik anknüpfen: Schiller entwickelt seine idyllentheoretische Position in Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und ist darum bemüht, mit Hilfe transzendentalphilosophischer Reflexionen über dessen empirisch bestimmte Anthropologie und Geschichtsphilosophie hinaus zu gelangen. Anhand dieser Auseinandersetzung läßt sich daher nicht allein der Schritt genau verfolgen, mit dem Schiller systematisch die sozialphilosophischen Grundsätze der Aufklärung hinter sich laßt. Zudem ist an ihr zu verdeutlichen, weshalb der idealistische Überbietungsversuch den Weg über eine Ästhetisierung des Geselligkeitsgrundsatzes einschlug und weshalb dieser Weg letztlich das Ende einer Dichtungstradition implizierte, deren beschränkter Geltungsanspruch den neuen ästhetischen Anforderungen nicht gewachsen sein konnte. Schließlich legte auch Johann Wolfgang Goethe seine Version einer Episierung des Idyllischen vor, in dem er einen eigenen Weg zur Vermittlung des Ideals natürlich-unschuldiger Geselligkeit mit den künstlichen Verhältnissen der Wirklichkeit zu finden versuchte, hu Unterschied zu Schiller verzichtete er hierbei jedoch auf die Idee, den >fragmentarisierten< Menschen des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses zu seiner ursprünglichen moralischen Einheit zurückzuführen. Damit knüpfte er bezüglich der zugrundeliegenden sozialen Vorstellungen an jenes Aufklärungsmodell an, das Schiller idealistisch zu überbieten suchte und das er noch 1772 selbst so vehement verworfen hatte.
Exkurs: Idyllische Strategien und ihre Funktion bei Jean Paul Ungeachtet der vehementen Kritik Jean Pauls an der arkadischen Idyllik Salomon Geßners,34 stellen seine eigenen idyllischen Dichtungen keineswegs einen fundamentalen Bruch bezüglich des Geltungsanspruchs dar, der für die literarisch artikulierte idyllische Existenz erhoben wird. Allerdings macht sich bei ihm eine neue thematische Akzentuierung bemerkbar, da seine als Idyllen anzusprechenden Texte ihr zentrales Thema weniger in einer sozialen als vielmehr in einer anthropologisch-psychologischen Fragestellung finden.35 Dies bestätigt nicht 34 35
S.o.,S. 128f. Nicht zufällig dürfte daher Ignaz Feuerlicht die Einführung eines psychoanalytischen Interpretationsrahmens in die Idyllenforschung wesentlich anhand der Idyllendichtung Jean Pauls begründet haben (s. dz. o., S. 183, Anm. 150). Die Bedeutung, die Jean-Jacques Rousseau nicht nur für die Idyllendichtung Jean Pauls zukommt, ist unumstritten. Vgl. u. a. bereits Max Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau. Nach den Haupt=Romanen dargestellt Marburg 1925 (Beiträge zur Literaturwissenschaft 23); Horst Brunner: Kinderbuch und Idylle. Rousseau und die Rezeption des Robinson Crusoe im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der JeanPaul-Gesellschaft 2 (1967). S. 85-116. Allerdings handelt es sich - anders als im Falle des
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zuletzt die These Böschenstein-Schäfers von der zunehmenden >Subjektivierung< der Idyllenproblematik.36 Der zu Beginn des zweiten Kapitels angeführte Versuch Wolfram Mausers, auch den Idyllen Geßners eine primär psychologische statt einer sozialen Fragestellung zu unterlegen, erschiene somit in bezug auf Jean Paul eher angebracht, ohne damit zu bestreiten, daß sich beide Fragen in der Aufklärung nicht trennscharf voneinander unterscheiden lassen: Um die Möglichkeit von Glückserfahrungen geht es ja, wie nicht zuletzt die angeführten Zitate aus den erläuternden Rahmentexten An den Leser sowie Der Wunsch deutlich machen,37 auch bei Geßner. Was Geßner jedoch lediglich an einer Stelle im Ausgang des auch von Mauser herangezogenen Textes Der Wunsch zum Ausdruck bringt, erhebt Jean Paul zum Prinzip seiner idyllischen Dichtung: Neben der Voraussetzung der >kleinen Gesellschaftern basiert diese auf einer »philosophische[n] Glückslehre«, die den idyllischen Zustand - wenn auch nur »ausnahmehaft« - selbst »in gegenwärtigen Verhältnissen« als mit »Anstrengung« und »Pfiffigkeit«18 selbst hergestellten möglich macht.39 Der neue thematische Schwerpunkt der Idyllik Jean Pauls wird bereits in dessen bekannter Idyllendefinition in der zweiten Auflage der Vorschule der Ästhetik (1813) deutlich, die als Wesen der Idylle die »epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung« festhält und zur näheren Erläuterung anfuhrt: Die Beschrankung in der Idylle kann sich bald auf die der Güter, bald der Einsichten, bald des Standes, bald aller zugleich beziehen.40
Keine Rede ist mehr von der Unterscheidung zwischen >großer< und >kleiner< Gesellschaft. Lediglich der Verweis auf die mögliche Beschränktheit »des Standes« markiert noch einen sozialen Aspekt, der jedoch keine strenge soziale Ab-
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oben herausgestellten Einflusses Rousseaus auf die Entwicklung der aufklärerischen Idyllentheorie - bei Jean Pauls eher psychologischem als sozialem Idyllenschwerpunkt weniger um Bezugnahmen auf die Sozialanthropologie Rousseaus. Um so wichtiger werden dafür jedoch dessen Bekenntnisse sowie die im Anhang dazu veröffentlichten Träumereien eines einsamen Spaziergängers: Wird »das Leben [...] des Jean-Jacques auf seiner Peters-Insel« in der Vorschule der Ästhetik mit »Idyllen-Duft« in Verbindung gebracht (JPW, 1/5, S. 259), so kommt es im Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal gar zur Identifikation des Protagonisten mit Rousseau: Auch die »Rousseauischen Spaziergänge«, hat jener sich selbst geschrieben (s. dz. u., S. 292), und »[i]n diesen spricht [...] J. J. Rousseau oder Wutz (das ist einerlei)«: JPW, I/l, S. 425,428. (Hervorhebung im Original.) Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 121. S. o., S. 129ff. u. 163f. Horst Brunner: Kinderbuch und Idylle, S. 96. Zur Erfassung dieses Umstandes schlug Johannes Krogoll den Terminus »Charakteridyllen« vor, »insofern sich das >Idyllische< als Möglichkeit eines Charakters und der Charakter wieder als Voraussetzung des >ldyllischen< versteht« (Johannes Krogoll: Idylle und Idyllik bei Jean Paul. Eine Motivuntereuchung zur Rolle von Narrentum und Poesie im Werke des Dichters. Diss. Hamburg 1968. S. 64.) Auf diese Weise ist der Obergang von sozialen zu psychologischen Voraussetzungen für die Idylle zu erfassen, der sich an der Bedeutung individueller Charaktereigenschaften für die Möglichkeit einer idyllischen Existenz ablesen läßt JPW, 1/5, S. 258. (Hevorhebungen im Original.)
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grenzung des Idyllenpersonals bedeutet. Dies macht Jean Paul zwei Absätze später deutlich, wenn er - lediglich kursorisch Beispiele aufzählend - die Möglichkeiten des idyllischen Personals zwischen »Schulmann[/]«, »Handwerker[/]« und »Fürsten-Braut«41 aufspannt. Wenn die von Moses Mendelssohn in die Gattungsdiskussion eingeführte Unterscheidung aber auch nicht mehr zur Definition der Idylle herangezogen wird, so kommt Jean Paul doch gegen Ende des Paragraphen auf sie zu sprechen. Nachdem er noch einmal ausdrücklich »die Wahl des Standes der Mitspieler« freigestellt hat, hält er fest: Folglich unrichtig oder unnütz ist in den Definitionen der Zusatz, daß sie ihre Blumen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft anbaue. Ist denn eine kleine Gesellschaft, wie die der Hirten, Jäger, Fischer, keine bürgerliche? oder gar die in Vossens Idyllen? Höchstens dies kann man verstehen, daß die Idylle als ein Vollglück in der Beschränkung die Menge der Mitspieler und die Gewalt der großen Staatsräder ausschließe; und daß nur ein umzäuntes Gartenleben für die Idyllen-Seligen passe42.
Diese späte Anmerkung ist in mancherlei Hinsicht aufschlußreich: Zunächst fällt die Ausdehnung des Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft auch auf die idyllischen Kleingesellschaften auf. Jean Pauls Blick ist offensichtlich nicht mehr auf die Spezifika der sozialen Beziehungen in >kleinen< und >großen Gesellschaftern gerichtet. Die unterschiedlichen Formen sozialer Interaktion haben für ihn keinen Einfluß auf die Möglichkeiten idyllischen Glücks. Die Funktionalisierung und Versachlichung zwischenmenschlichen Umgangs im Zuge der Ersetzung intimer durch soziale Interpenetration stellen lediglich ein quantitatives Problem im Blick auf die »Menge der Mitspieler« dar. Dies ist um so erstaunlicher, als es sich nicht um eine Festlegung, sondern um einen scheinbar empirisch gestützten Befund handelt, mit dem Jean Paul der tatsächlichen Gestalt der vorgangigen Idyllendichtung keineswegs gerecht wird, die sich seit der Wiederaufnahme der bukolischen Tradition in der Frühen Neuzeit zentral mit Problemen, genauer: mit Entproblematisierungen sozialer Beziehungen beschäftigte. Jean Paul verwendet den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft nicht in dem auch zeitgenössisch üblichen Sinne verrechtlichter sozialer Verhältnisse und ebnet damit deren Differenz zu den persönlich-intimen Verhältnissen der >kleinen Gesellschaftern ein.43 Sein Interesse an der Idyllendichtung ist offenbar nicht 41 42 43
Ebd., S. 259. Ebd., S. 261. Wie der Verweis auf »Vossens Idyllen« zu verstehen ist, bleibt unklar, weil Jean Paul nicht spezifiziert, auf welche Texte er sich bezieht In der Idyllendichtung Johann Heinrich Voß' (s. dz. auch u., S. 302ff.) lassen sich wenigstens zwei grundlegende Richtungen unterscheiden: zum einen die mitunter unmittelbar politisch Stellung beziehenden Idyllen, deren Personal aus der unter feudalen Verhältnissen lebenden (und leidenden) Landbevölkerung stammt (am bekanntesten wohl: Die Leibeigenen sowie Die Freigelassenen, beide zuerst 1775 unter der gemeinsamen Oberschrift Die Leibeigenschaß und dem Titel Die Pferdeknechte bzw. Der Ährenkranz; aber auch die mundartlichen und weniger unmittelbar politisch ausgerichteten niederdeutschen Idyllen De Winterabend [1776] und De Geldhaspers [1777] finden ihr Personal in der >einfachen< Landbevölkerung); zum anderen die im engeren Sinne bürgerlichen Idyllen« (etwa Der siebzigste Geburtstag [1780] und natürlich der Idyllenzyklus Luise [1795]), deren
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mehr - wenigstens nicht mehr primär - auf soziale Fragestellungen gerichtet. Dies fuhrt in dem poetologischen Bestimmungsversuch dazu, daß er die sozialen Aspekte idyllischer Dichtung auch an seinen Vorgängern und Zeitgenossen nicht wahrnimmt. Dennoch kommt er im Rahmen eigener idyllischer Dichtungen gelegentlich auf das Problem >großer Gesellschaftern zu sprechen. Allerdings scheint es sich für ihn auch dabei im wesentlichen um ein Problem der Quantität, weniger um eines der durch soziale Komplexität bedingten Funktionalisierung gesellschaftlicher Beziehungen zu handeln. So stellt er etwa im Leben Fibels (1811) die Frage: Ists daher ein Wunder, daß wir uns untereinander nicht viel inniger lieben als Wölfe und Spinnen, wenn man bedenkt, daß wir alle ganz verschwenderisch mit Menschen übersättigt werden, daß der eine in der Mittelstadt 10000 Menschen zu lieben vorbekommt, der andere in der Residenzstadt gar 50000, und vollends ein Kerl in Paris?44
Auch in dem wohl bekanntesten idyllischen Text Jean Pauls, dem Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal (zuerst 1793 im Rahmen der Unsichtbaren Loge), spielen kleingesellschaftliche Topoi eine Rolle. Es spricht jedoch für die wesentlich reflektiertere, den Schein der Naivität ihrer Figuren nicht in die Erzählhaltung übernehmende Gestaltung von Jean Pauls Idyllen, daß sich diese Topoi weniger in der Geschichte selbst als vielmehr in ihrer Rahmenerzählung - dort jedoch gleich zu Beginn - finden: Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch an unsre Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grande monde über der Gasse drüben und ans Palais royal muß keiner von uns denken [·-.]- und du, mein lieber Christian, der du eine einatmende Brust für die einzigen feuerbeständigen Freuden des Lebens, für die häuslichen, hast, setze dich auf den Arm des Großvaterstuhls, aus dem ich herauserzähle, und lehne dich zuweilen ein wenig an mich!43 Figuren dem gelehrten Bürgertum entstammen, sich jedoch gerade nicht den bürgerlichen, sondern den häuslich-familiären Beziehungen widmen. JPW, 1/6, S. 418. Allerdings stößt Hans Esselbom in einer Studie über Das Bild der Stadt bei Jean Paul auf eine Konstellation, in deren Licht sich die »Abwertung der Stadt bei Jean Paul« der Entwicklung einer sozialen Funktion des Idyllischen im 18. Jahrhundert einfügt, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln verfolgt wurde. Esselborn beschränkt seine Untersuchung jedoch nicht auf die idyllischen Texte und neigt zu einer - wenigstens aus der Sicht der Idyllentheorie problematischen - schichtensoziologischen Zuspitzung der Haltung Jean Pauls: Vgl. Das Bild der Stadt bei Jean Paul. In: Stadt und Bürger im 18. Jahrhundert Hg. von Gotthardt Frühsorge u. a. Marburg 1993 (DAJ Supplementa 2). S. 208-235, insbes. S. 231. JPW, I/l, S. 422. Bereits in bezug auf die Idyllen Geßners hat Markus Winkler die angemessene Rezeptionshaltung gegenüber idyllischer Dichtung in Analogie zu deren hannonisierender Darstellung bestimmt und festgestellt, daß »reading an idyll shall itself be idyllic« (a. a. O.). Diese Forderung findet sich mithin auch angesichts der Idyllik Jean Pauls bestätigt, der Hinweise auf die angemessene Rezeption idyllischer Dichtung in diese selbst integriert Damit schafft er innerhalb des Textes eine Instanz, die von der Naivität der idyllischen Protagonisten frei und daher in der Lage ist, das Verhältnis zwischen Idyllen- und Leserweh zu reflektieren und zu problematisieren. Auf diese Weise integriert Jean Paul jedoch ein reflexives und insofern idyllenfeindliches Moment in seine Idyllen, durch das die harmonische Unmittelbarkeit des dargestellten Lebens immer wieder einer distanzierenden Betrachtung unterzogen wird: Lediglich noch »[e]ine Art Idylle« (so der Untertitel der Wutz-Biographie: Vgl. JPW, I/l, S. 422)
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Daß Jean Paul die idyllische Existenz in der zitierten Bemerkung aus der Vorschule der Ästhetik als »utnzäuntes Gartenleben« bezeichnet, erinnert ebenfalls an Geßner: In dessen Wunsch läßt sich der Erzähler den erträumten Garten in der Phantasie von »Wände[n] von Nußstrauch umzäunen«4*. Doch die nach außen abgeschlossene Kleinräumigkeit der idyllischen Welt dient Jean Paul anders als noch Geßner nicht dazu, das idyllische Glück im Blick auf diesen Raum selbst hervorgehen zu lassen. Vielmehr ist er ihm Anlaß und Voraussetzung für einen ungestörten Blick nach innen, für eine Phantasie und Einbildungskraft aktivierende Strategie des Umgangs mit den Widrigkeiten der äußeren Welt.47 Dies entfernt seine Idyllenfiguren genaugenommen noch weiter von der >grossen Welt< als diejenigen seiner Vorgänger: Während Geßners Erzähler in Der Wunsch zwar die direkten sozialen Verbindungen mit der >großen Welt< abbricht, so lädt er sich doch an trüben Tagen die »edelste Gesellschaft« großer Geister in seine Hütte und bleibt über deren Schriften in Kontakt mit der Aussenwelt.48 Dagegen zeichnet sich Jean Pauls Wutz nicht allein dadurch aus, daß er sich »abends auf das Zuketten der Fensterläden freuete, weil er nun ganz gesichert vor allem in der lichten Stube hockte«49. Bezeichnend ist vielmehr seine bei zugeketteten Fensterläden verrichtete Beschäftigung: daß er nämlich »eine ganze Bibliothek [...] sich eigenhändig schrieb«50, indem er sich die »besten Inventarienstücke« des je aktuellen Meßkataloges kennzeichnen ließ, »damit er sie hurtig genug schreiben konnte, um das Ostermeß-Heu in die Panse des Bücherschrankes hineinzumähen, eh' das Michaelis-Grummet herausschoß.«31 Im Unterschied zur vorangegangenen Idyllendichtung integriert Jean Paul jedoch die Beschränktheit idyllischer Existenz in deren Darstellung. Durch diese Verschränkung unterschiedlicher Erzählebenen führt er eine neue Dimension poetischer Komplexität in die Idyllendichtung ein. Diese wird noch dadurch verstärkt, daß jede Erzählebene ein eigenes Verhältnis zur idyllischen Existenz offenbart:
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kann auf diese Weise Zustandekommen, die von der Brüchigkeit und Relativität idyllischen Glücks kündet Zur Bedeutung der Erzählstruktur für die Relativierung des Idyllenglücks bei Jean Paul vgl. auch Norman Gronke: Idylle als literarisches und soziales Phänomen, S. 205f. Salomon Geßner: Idyllen, S. 67. Vgl. auch in der ersten Sammlung Lyca, oder die Erfindung der Gärten, wo der blumengeschmückte Garten selbst noch gegen die eigene Herde des Schäfers mit einem »Zaun von Dombüschen« geschützt wird: Ebd., S. 39f, Zitat S. 40. Zum Motiv des Gartens und Liebesgartens in der Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts, das in der antiken bukolischen Tradition kein Vorbild hatte, vgl. Gerda Lederer: Studien zur Stoff- und Motivgeschichte der Schäferdichtung des Barockzeitalters, S. 282ff. Dies übersieht Klaus Bernhard, wenn er im Anschluß an das soeben angeführte Zitat aus der Vorschule feststellt, Jean Paul hole »zum ersten Mal die Idylle expressis verbis in die bürgerliche Gesellschaft< als solche herein«: Idylle, S. 107. (Hervorhebung im Original.) Zwar übte etwa das Schulmeisterlein Wutz ebenso wie die übrigen Idyllenhelden Jean Pauls einen bürgerlichen Beruf aus. Kennzeichen des Idyllischen der Biographie ist jedoch nicht dieser Umstand, sondern im Gegenteil die Tatsache, daß die bürgerlichen Verhältnisse in der Darstellung nicht die geringste Rolle spielen. S. o., S. 130f. JPW, I/l, S. 424. Ebd., S. 425. Ebd., S. 427.
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Die Welt des Schulmeisterleins Wutz als ungebrochene Idyllenexistenz trägt unverkennbar illusionäre Züge. Auf der einen Seite sorgt der skurrile Charakter des Protagonisten, seine oft kindisch anmutenden Strategien zur Bewältigung der Unwägbarkeiten des Lebens, für diesen Eindruck. So handelt etwa seine Nachschrift von Johann Georg Heinrich Feders Abhandlung Ueber Raum und Causalitaef* »von nichts [... ] als vom SchifFs-ÄoM»! und der Zeit, die man bei Weibern Menses nennt.«33 Sowohl die Kleinräumigkeit als auch die zyklische, fortschrittsenthobene Zeitstruktur, die für die idyllischen Harmonisierungen nötig sind, verdanken sich einer voluntaristischen Reduktion der wirklichen Dimensionen der Welt auf ein für den naiven Charakter mühelos überschaubares Maß. Daß die Nachschrift Wutz' dem Problemgehalt fundamentaler Fragen der Transzendentalphilosophie nicht gerecht zu werden vermag, ist nicht eigens zu betonen. Jean Paul verwendet die Behandlung essentieller Bestandteile menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung bzw. -konstruktion, um an ihr die Technik seines idyllischen Protagonisten zu illustrieren, und lenkt den Blick damit zugleich auf die Voraussetzungen des idyllischen Zustande: Unübersehbar kennzeichnet er diesen als eine mitunter geradezu pathologisch anmutende Form reduktionistischen Weltumgangs, in der die komplexeren Dimensionen der menschlichen Existenz zwar geleugnet, dadurch jedoch keineswegs aufgehoben werden. Hierzu trägt der Erzählrahmen bei, der ebenfalls in der geschilderten Weise darauf verweist, daß der begrenzte idyllische Raum der Erzählung nur einen Ausschnitt aus einer wesentlich umfassenderen Wirklichkeit darstellt. Zugleich jedoch konstituiert die gesellige, kleingesellschaftliche Struktur des Erzählrahmens ihrerseits eine zweite Ebene idyllischer Wirklichkeit. Diese gibt sich nicht länger als Gesamtexistenz aus, sondern beschränkt sich - vergleichbar der idyllischen >Feierabendexistenz< Geßners und Zimmermanns - auf den vertrautgeselligen Kreis am abendlichen Ofen. Idyllisches Glückserleben wird hier durch eine bestimmte Lektüre ermöglicht. Auch bei Jean Paul ist es die idyllische Literatur selbst, mit deren Hilfe die Einbildungskraft in die Lage versetzt wird, sich über die Beschränkungen der irdischen Existenz zu erheben. Doch erhebt diese sich nie so weit, daß die Wirklichkeit vollständig aus dem Blick geraten könnte. Vielmehr muß sich der Erzähler vorsehen, daß seine reflektierenden Einschaltungen die idyllische Atmosphäre nicht zerstören, was er unter Verweis auf den voluntaristischen Charakter der Jean Paulschen Idyllik tut: »[W]ir wollen einander nicht so ernsthaft machen!«54 Zu unterscheiden sind die beiden Ebenen des Idyllischen im Bezug auf den Status, der dem idyllischen Glück im Verhältnis zur Außenwelt zugesprochen wird. Die Strategien zur Erlangung dieses Glücks bleiben hingegen die gleichen: Auch " Zur Prüfung der Kantischen Philosophie. Göttingen 1787. 33 JPW, I/l, S. 426. (Hervorhebungen im Original.) 34 Ebd., S. 425. (Hervorhebung CB.) Es ist also der Erzählrahmen, in dem Jean Paul auf eine mit den Bedingungen der Wirklichkeit in Einklang zu bringende idyllische Teilexistenz verweist Daher liegt es im Hinblick auf die Möglichkeiten der Realisierung idyllischen Glücks nahe, einen emstzunehmenden Vorschlag Jean Pauls eher in der reflektierenden Rahmenerzählung als in der Biographie des Schulmeisterleins selbst zu suchen.
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des Schulmeisterleins »Vollglück« hängt weder vom Geßnerschen Blick auf die Schönheit der Natur ab noch von dem am hilfsbedürftigen Nachbarn erprobten Bewußtsein der eigenen Tugendhaftigkeit, sondern einzig von der Aktivierung der Einbildungskraft, die ihn ebenso vor den Widrigkeiten der Natur als auch, metaphorisch in diese eingelagert, vor denen seiner äußeren Existenz beschützt." Abstrahiert man von den einzelnen Verfahrensweisen, die dem Leser im Laufe der Erzählung vorgestellt werden, so setzt sich die »Wutzische[/] Kunst, stets fröhlich zu sein,«56 im wesentlichen aus zwei Komponenten zusammen: Auf der einen Seite steht die bereits anhand der Feder-Schrift angedeutete Fähigkeit, die Einbildungskraft zu aktivieren, um sich mit ihrer Hilfe in Zeiten und Räume zu versetzen, die Genuß versprechen. Vorfreude auf zu erwartendes spielt hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie Nachfreude über bereits erlebtes Glück. Wutz macht sich auf diese Weise zum Souverän seiner Lebenszeit und hält wie der metaphysische Esel, den Kopf zwischen beiden Heubündeln, zwischen der Gegenwart und der Zukunft; aber er war kein Esel oder Scholastiker, sondern grasete und rupfte an beiden Bündeln auf einmal..,57
Die Nachfreude wird dabei meist aus der eigenen Kindheit bezogen: »Urnenkrüge eines schon gestorbenen Lebens« konnte Wutz noch auf dem Totenbett »um sich stellen und sich zurückfreuen, da er sich nicht mehr vorauszufreuen vermochte.«58 Außerdem gehört zu diesem Teil der Strategie die Fähigkeit, Gedanken an Zukunft und Vergangenheit auszuschalten, wenn diese lediglich die Endlichkeit eines gegenwärtigen Glücks vor Augen fuhren würden: In derartigen Situationen ist Wutz in der Lage, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem er »nie mehr begehrte als die Gegenwart«39. Damit wird deutlich, daß Einbildungskraft und mit ihrer Hilfe durchlässig gemachte Zeit- und Raumstrukturen nicht hinreichen, um das idyllische Glück Wutz' zu schaffen. Es muß die Fähigkeit hinzutreten, die bescheidenen Freuden einer allein durch Phantasie zu erhebenden beschränkten Existenz als jenes »Vollglück« wahrzunehmen, das Jean Pauls Idyllendefinition zugrundeliegt:
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Vgl. etwa ebd., S. 431. Ebd. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund dieses Idyllenprinzips Jean Pauls in der stoischen ars semper gaudendi vgl. Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur 73). S. 203ff. JPW, I/l, S. 446. Ebd., S. 455. Zur Bedeutung Kindheitsreflexion vgl. auch Norman Gronke: Idylle als literarisches und soziales Phänomen, S. 195£, sowie Jean Pauls eigenen Beitrag für das Deutsche Museum über die Frage: Warum sind keine frohen Erinnerungen so schön als die aus der Kinderzeit? (JPW, II/2, S. 955ff.) Die wichtige Funktion der Kindheitserinnerungen für die Konstitution idyllischer Existenz führte gelegentlich dazu, auch Jean Pauls Selberlebensbeschreibung unter seine idyllischen Texte einzuordnen; vgl. etwa Johannes Krogoll: Idylle und Idyllik bei Jean Paul, S. 56ff. JPW, I/l, S. 433. Zur Zeitstrategie von Jean Pauls Wutz-Figur vgl. auch Johannes Krogoll: Idylle und Idyllik bei Jean Paul, S. l If.
295 O wenn größere Seelen als du aus der ganzen Orangerie der Natur so viel süße Säfte und Düfte sögen als du aus dem zackigen grünen Blatte, an das dich das Schicksal gehangen: so würden nicht Blätter, sondern Gärten genossen, und die bessern und doch glücklichem Seelen verwunderten sich nicht mehr, daß es vergnügte Schulmeisterlein geben kann.60
Schließlich führt Jean Paul noch einen dritten, den »vielleicht durchdachtesten Paragraphen seiner Kunst, fröhlich zu sein,« an: »er wurde verliebt.«61 Noch einmal wird deutlich, daß es der Wille des Protagonisten zu einem glücklichen Leben selbst ist, der ihm dieses Leben beschert: Weil Liebe zum Glück gehört, beschließt Wutz sich zu verlieben und hat damit auch umgehend Erfolg. Die anhand der Biographie des Schulmeisterleins vorgeführte idyllische »Kunst« kennzeichnet zugleich das Programm der idyllischen Dichtung Jean Pauls insgesamt. Die Strategie, sich mittels der Einbildungskraft aus den Widrigkeiten der Existenz hinauszuphantasieren, beschreibt er in dem Billett an meine Freunde, mit dem er das Leben des Quintus Fixlein einleitet, als den zweiten Weg, »glücklicher (nicht glücklich) zu werden«62: Der erste Weg, »der in die Höhe geht«, bleibt bestimmten erhabenen Charakteren, keineswegs jedoch einem bestimmten Stand63 vorbehalten. Nur diese seien in der Lage, »so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudrängen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusem und Gewitterableitem von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht«64. Doch diese Möglichkeit einer »Himmelfahrt« steht lediglich dem »geflügelten Teil des Menschengeschlechts« offen.65 Für die weitaus überwiegende Zahl, für die »stehenden und schreibenden Heere beladener StaatsHausknechte, Komschreiber, Kanzelisten aller Departements«66, kurz für all diejenigen, die an ein einschränkendes Berufsgeschäft gebunden sind, gilt es, einen anderen Weg zu finden. Und diesem zweiten Weg ist die Idyllendichtung Jean Pauls gewidmet. Den Idyllen kommt dabei eine doppelte Aufgabe zu: Zum einen sind sie selbst ein Teil des Weges, indem sie die entsprechenden Glücksgefühle beim Leser hervorrufen sollen. Zum anderen sind sie der exemplarischen Vorführung von Strategien gewidmet, die dem einzelnen künftig ein eigenständiges Verfolgen dieses Weges ermöglichen können: Die Biographie Fibels soll den Lesern »ein Vergnügen machen«; sie soll sie jedoch zugleich »lehren, eines zu genießen«.67 Dieser zweite »Weg, hier selig zu werden«, den Jean Paul den »gebundnen Menschen [...], die im Fischkasten des Staates stille stehen und nicht schwimmen sollen«,68 empfiehlt, besteht in einer Vergewisserung über den harmoni60
JPW. I/l, S. 455f. (Hervorhebung im Original.) Ebd., S. 431. 62 JPW, 1/4, S. 10. 63 Dies mißversteht Norman Gronke: Idylle als literarisches und soziales Phänomen, S. 183f. 64 JPW, 1/4, S. 10. 63 Ebd., S. 11. 66 Ebd. *7 Ebd., S. 10. ** Ebd., S. 11. (Hervorhebung im Original.) 61
296 sehen Zusammenhang der Außenwelt in Gestalt einer physikotheologischen Meditation.*9 Für diese reicht es aus, ein zusammengesetztes Mikroskop zu nehmen und damit zu ersehen, daß ihr Tropfe Burgunder eigentlich ein rotes Meer, der Schmetterlingsstaub Pfauengefieder, der Schimmel ein blühendes Feld und der Sand ein Juwelenhaufe ist70
Die poetische Vorführung der idyllischen Strategie verfolgt bei Jean Paul das Ziel, den Leser auf die mit ihrer Hilfe zu erlangende Möglichkeit aufmerksam zu machen, sein privates Glück auch unter den bedrückenden Bedingungen seiner irdischen Existenz zu genießen: Die Absicht, warum ich Fixleins Leben in die Lübecksche Buchhandlung geschickt, ist eben, in diesem Leben [...] der ganzen Weh zu entdecken, daß man kleine sinnliche Freuden höher achten müsse als große, den Schlafrock höher als den Bratenrock [...].[...]- Die nötigste Predigt, die man unserm Jahrhundert halten kann, ist die, zu Hause zu bleiben.71
So sehr der letzte Satz dem Selbstverständnis eines auf die eigene Häuslichkeit beschränkten Bürgertums im 19. Jahrhundert entgegengekommen sein mag,71 so wenig ist die Stoßrichtung der Idyllik Jean Pauls auf diese Weise zu erfassen. Denn das gesellschaftliche Leben stellt bei Jean Paul nurmehr einen unter zahlreichen Bereichen dar, gegen die sich die idyllische Existenz zu behaupten hat. Entsprechend umfassender sind die Strategien zur Behauptung angelegt. Jean Pauls Idyllen haben mehr zu leisten als diejenigen Geßners, die einen Raum eröffneten, in den sich der einzelne vor den Folgen der Versachlichung 49
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Auf die möglichen >»soziahheoretische[n]< Potenzen« derartiger Vergewisserungen sowie auf die Funktion ihrer Literarisierung verweist Horst Thomo im Bezug auf Wieland: Vgl. Religion und Aufklarung in Wielands Agathodämon. Zu Problemen der kulturellen Semantik< um 1800. In: IASL 15 (1990). S. 93-122, insbes. S. 116ff. (Zitat S. 117). Auch diese Implikationen erscheinen jedoch nicht geeignet, das idyllische Programm Jean Pauls an die soziale Funktion des Idyllischen heranzuführen, weil sie sich weniger auf den beschrankten Rahmen kleinräumiger Geselligkeit beziehen als vielmehr auf die Verwirklichung von Sittlichkeit im gesamtgesellschaftlichen Maßstab. JPW, 1/4, S. 11. Auf einen Zusammenhang zwischen den hier unterschiedenen drei Wegen, glücklicher zu werden, und der in der Vorschule vorgenommenen Unterscheidung von »drei Schulen der Romanmaterie«, an die sich der bereits angeführte Paragraph über die Idylle anschließt, in dem diese dann als »Nebenblüte der drei Zweige des Romans« bezeichnet wird (vgl. JPW, 1/5, S. 253ff., Zitate S. 253, 257), verweist einleitend Henrik Weidemann: Die Konposition der Idyllen Jean Pauls. Diss. Berlin/West 1953. S. 5ff. Vgl. dz. auch Götz Müller Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 190ff. JPW, 1/4, S. l If. (Hervorhebung im Original.) In diesem Sinne ließe er sich den Versen aus Hermann und Dorothea an die Seite stellen, die Goethe seinem Titelhelden gegen Ende resümierend in den Mund legt: »Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung [/] Fortzuleiten und auch zu wanken hierhin und dorthin.« Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea. 9. Gesang. V. 305f. Auf der Grundlage eines auf > Innerlichkeit reduzierten Jean Paul-Bildes wurde dann seine ideologische Inanspruchnahme im Rahmen einer völkisch orientierten Literaturgeschichtsschreibung möglich; vgl. etwa Otto Mann: Jean Paul und die deutsche bürgerliche Idylle. In: Dichtung und Volkstum. N. F. des Euphorien 36 (1935). S. 262-271, insbes. S. 265. Angesichts derartiger Verzeichnungen liegt der Wunsch nahe, der deutsche Bürger hätte sich an die Empfehlung des Dichters gehalten und wäre zu Hause geblieben.
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bürgerlicher Sozialbeziehungen vorübergehend zurückziehen konnte. Sie haben diesen einzelnen hinwegzutrösten über die Grenzen seiner irdischen Existenz schlechthin. Auch der moralische Standpunkt Geßners ist nicht in der Lage, die materiellen Bedingungen des Lebens aufzuheben. Er gibt nicht allein keine Antwort auf das Verhältnis der materiellen zur geistigen Existenz des Menschen, sondern stellt die entsprechende Frage gar nicht erst. Im Gegenteil: Die Harmonie und Sympathie der liebenden arkadischen Hirten ist an deren vorreflexive Existenz gebunden, in der nicht allein das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft, sondern auch das der physischen Existenz des Körpers zur geistigen Existenz der Seele noch nicht als problematisch wahrgenommen wurde. In den Idyllen Geßners gibt es daher in der Regel keine Instanz, die ein Bewußtsein der mittlerweile aufgebrochenen Problematisierungen besitzt, von denen eine Fortführung des arkadisch-unmittelbaren Glücks verhindert wird. Lediglich in den angesprochenen rahmenden Texten der ersten Idyllensammlung erfahrt der Leser Näheres über den begrenzten Status des Idyllischen angesichts der aktuellen sozialen Bedingungen. Zudem hielt Geßner - gewiß auch durch seine Konzentration auf eine soziale Fragestellung - an der Möglichkeit fest, wenigstens zeitweise die bürgerliche durch eine harmonisch-idyllische Existenz zu ergänzen. Auch Jean Paul ist um eine Rechtfertigung seiner Idyllen bemüht, die an das aufklärerische Komplementärkonzept erinnert und in der die idyllische Harmonie die Funktion einer lediglich vorübergehend aufzusuchenden Existenzform erfüllt, deren Bedeutung sich an ihrer Wirkung auf die nicht-idyllische Wirklichkeit messen läßt: Eben aber durch Gehen ruhet und holet der Mensch zum Steigen aus, durch kleine Freuden und Pflichten zu großen. Der siegende Diktator muß das Schlacht-Märzfeld zu einem Flachs- und Rübenacker umzuackern, das Kriegstheater zu einem Haustheater umzustellen wissen, worauf seine Kinder einige gute Stücke aus dem Kinderfreund auffuhren.73
Doch so umfassend die Problematik der irdischen Existenz des Menschen von Jean Paul erfaßt wird, so eindrücklich findet auch die eng begrenzte Wirksamkeit idyllischer Bewältigungsstrategien Eingang in die Darstellung. Nicht allein durch gleichermaßen erklärende wie relativierende Vorreden, sondern mehr noch durch die Einbeziehung reflektierender Erzählerfiguren verweisen die idyllischen Texte Jean Pauls im auffälligen Kontrast zu denen Geßners aus sich selbst heraus eindeutig und unübersehbar auf den illusionären Charakter einer durchgehenden idyllischen Existenz des Menschen.74 73
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JPW, 1/4, S. 12f Geradezu paradigmatisch läßt sich hierfür erneut auf den Erzahlrahmen der Wute-Idylle hinweisen: Wie gezeigt, hatte dieser in seiner begrenzten Geselligkeit zugleich die idyllischen Potentiale der Wirklichkeit zu repräsentieren als auch den illusionären Charakter idyllischen Glücks durch reflektierende Einschaltungen zu entlarven. Es ist daher erstaunlich, wie lange die Jean Paul- ebenso wie die Idyllenforschung diese stets gleichzeitige Behauptung und Zurücknahme der Möglichkeit idyllischen Glücks nicht wahrgenommen zu haben scheint und Jean Pauls Idyllen statt dessen bruchlos in das Bild biedermeierlicher Selbstbeschränkung integrierte: Vgl. etwa Sophie Marie Kreienbaum: Die Idyllendichtung Jean Pauls. Diss. Frank-
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Die reflektierenden Einschaltungen des Erzählers begleiten etwa die Biographie des Schulmeisterleins Wutz vom ersten Absatz an. Doch sie verweisen weniger auf soziale Beschränkungen, sondern rufen vielmehr fortwährend ins Bewußtsein, daß auch das glückliche Schulmeisterlein schließlich »vor uns ins Grab fallt«73 und daß dessen ganzes Glück davon abhängt, die Realität des Todes aus seinem Leben verdrängt zu haben, denn »schon außer dem Grabe schliefest du sanft«76. Hier hegt ein thematischer Schwerpunkt nicht allein der idyllischen Werke Jean Pauls. So legt er etwa dem Erzähler des Wutz eine These in den Mund, die aus seiner frühen poetologischen Einlassung Über die natürliche Magie der Einbildungskraft (1795 im Anhang zum Quintus Fixlein und damit im unmittelbaren Zusammenhang mit Jean Pauls erster als idyllisch qualifizierter Dichtung)77 entnommen sein könnte: Wahrlich jedesmal will ich wieder in Ausrufungen verfallen; - aber warum macht doch mir und vielleicht euch dieses schulmeisterlich vergnügte Herz so viel Freude? - Ach, liegt es vielleicht daran, daß wir selber sie nie so voll bekommen, weil der Gedanke der Erden-Eitelkeit auf uns liegt und unsern Atem druckt und weil wir die schwarze Gottesacker-Erde unter den Rasen- und Blumenstücken schon gesehen haben, auf denen das Meisterlein sein Leben verhüpft?78
Sowohl der idealische Auftrag der Dichtkunst, dem »auf der kalten Erde« sitzenden Menschen mittels der angeregten Phantasie einen Blick in die »Unendlichkeit« zu vergönnen, als auch der »Abscheu vor der Unart, den köstlichen Ersatz der Wirklichkeit und die Wirklichkeit zugleich zu begehren«, werden in der kurzen Abhandlung Über die natürliche Magie der Einbildungskraft in systematischem Zusammenhang erörtert.79 Einschließlich des wehmütig-elegischen Unter-
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furt/M. 1933. S. 54; auch noch Friedrich Sengle: Formen des idyllischen Menschenbildes, S. 168. Dagegen bereits Ralph-Rainer Wuthenow: Gefährdete Idylle, S. 79; Horst Brunner: Kinderbuch und Idylle, S. 96; ausführlich dann Jens Tismar: Gestörte Idyllen. JPW I/l, S. 425. Ebd., S. 422. Daß schließlich die Schilderung des Todes von Jean Pauls Schulmeisterlein in manchen Zügen an diejenige erinnert, die Johann Jakob Hottinger 1788 in seinem Nekrolog von dem ruhigen, mit seinem Schicksal versöhnten Ableben Salomon Geßners gab (vgl. Salomon Gessner, geboren 1730; gestorben d. 2. März 1788, S. 468f.), sei an dieser Stelle wenigstens angemerkt Daß Jean Paul seine Wwtz-Biographie als ironisierende Anspielung auf diejenige des Erneuerers der Idyllentradition im 18. Jahrhundert konzipierte, erscheint hinsichtlich seiner angeführten Kritik der Idyllik Geßners durchaus naheliegend In diesem Fall wäre zugleich von einer frühen Auseinandersetzung mit dem »Geßner-Mythos« zu sprechen. Einige Formulierungen aus Hottingers Geßner-Biographie von 1796 erscheinen dann ihrerseits als nahezu wörtliche Anspielungen auf Jean Pauls Wutz: So verweist er etwa auf Geßners ausgeglichenen Charakter in einer Weise, die stark an Wutz' »Kunst, stets fröhlich zu sein,« erinnert, wenn er festelH, dessen Grundlage hätten »eine seltne Herzensgüte, und ein froher, heitrer, zufriedner Sinn« dargestellt, »der sich in jeder Lage gefiel, und von allem das gute, und genießbare aushob«. An die ersten Sätze des Wutz fühlt sich der Leser schließlich erinnert, wenn Hottinger Geßners Biographie beschreibt ab ein »Leben, das, wie ein stiller Bach durch ein blumigtes Wiesenthal dahinfloß« und durch den Schlagfluß »ein sanftes Ende« gefunden habe: Salomon Geßner,S. 131,139.
Vgl. JPW, 1/5, S. 259. JPW, I/l, S. 444. JPW, 1/4, S. 195-205, hier S. 200, 205.
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tones werden sie von Jean Paul in die idyllische Darstellung des »Vollglücks« übernommen. Dabei stellt die poetische Technik einer in die Idylle selbst integrierten Problematisierung der idyllischen Existenz eine Konsequenz aus der übergreifenden poetologischen Konzeption dar: Sie hat zu zeigen, daß die Möglichkeit der Idylle der Einbildungskraft geschuldet ist und somit auf einer vorübergehenden bewußten Illusion beruht, die mit der Wirklichkeit der menschlichen Existenz nicht bruchlos in Einklang zu bringen ist. In diesem eingeschränkten Sinne entspricht daher die Idyllenkonzeption Jean Pauls trotz ihrer neu gefaßten Problematik insofern derjenigen Salomon Geßners, als sie nicht den Anspruch einer literarisch zu artikulierenden oder gar zu schaffenden Ersatzexistenz erhebt. Auch sie ist lediglich als dem Leben dienendes Komplement zur Wirklichkeit zu verstehen, das keine Versöhnungsperspektive aufzeigt, sondern allenfalls auf die Möglichkeit begrenzter Teilexistenzen verweist, in denen sich das im >äußeren< Leben versagte Glück vorübergehend finden läßt.80 Allerdings wird dieser beschränkte Geltungsanspruch der Idylle bei Jean Paul nicht allein gegenüber der sozialen, sondern umfassender gegenüber der Wirklichkeit der menschlichen Existenz schlechthin erhoben. Wie das zentrale Thema im Vergleich zu Geßner eine existentielle Dimension annimmt, so wandelt sich auch der Ton der Idyllendichtung bei Jean Paul: Die Ausgeglichenheit der Geßnerschen Vermittlung unterschiedlicher Ebenen des geselligen Lebens weicht der elegischen Wehmut, mit der der Idylliker Jean Paul den Unausweichlichkeiten der irdischen Existenz Rechnung trägt. Die zentrale Bedeutung des Todesmotivs für die idyllische Dichtung Jean Pauls, das die Darstellung idyllischer Existenzen sowohl rechtfertigt als auch problematisiert,81 macht diese zum Auftakt der von Renate Boschenstein als »Tendenz zur Modifikation der Idylle« bezeichneten Gattungsentwicklung im 19. Jahrhundert.82 80
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Die Komplementarität von bürgerlicher und idyllischer Existenz wird bei Jean Paul u. a. durch ein narralologjsches Komplementärmodell unterstützt. Vor kurzem hat Maximilian Bergengruen für die Romane Jean Pauls eine »empfindsame« von einer »humoristischen« Schreibweise unterschieden, denen sich jeweils bestimmte Charaktere zuordnen lassen: Vgl. Von der schönen Seele zum guten Staat Jean Pauls literarischer Synkretismus (Platon, Rousseau, Jacobi). In: S. Matuschek (Hg.): Symposion über das Symposion. Erscheint Heidelberg 2002. (Dem Verfasser sei an dieser Stelle herzlich für die vorläufige Überlassung des Manuskriptes gedankt) In wechselseitiger Ergänzung und Relativierung sind beide Schreibweisen an der charakteristischen Gestalt der Romane Jean Pauls konstitutiv beteiligt Bereits in der WutzIdylle lassen sich Ansätze zu einem entsprechenden Vorgehen identifizieren, wenn Jean Paul mit Hilfe der reflektierenden Erzählerfigur einen »lächelnden Abstand zu seinem Helden« (Johannes Krogoll: Idylle und Idyllik bei Jean Paul, S. 14) schafft Und auch hier gilt, daß erst das Miteinander der idyllischen Naivität Wutz' und ihrer sentimentalisch-humoristischen Schilderung durch den Biographen diese für Jean Paul typische »Art Idylle« (a. a. O.) Zustandekommen läßt Vgl. etwa die angeführte Kennzeichnung des idyllischen Lebens Wutz', der mit der Ruhe seiner Existenz diejenige des »Grabe[s] Klassizität« vgl. auch Wilfried Barner
301 Schillers Bemühungen, dem u. a. von Rousseau artikulierten »zivilisationsskeptischen [... ] Interesse an Natur und Naivität [... J eine konstitutive Funktion zuzuweisen«88, implizieren daher in poetologischer Hinsicht eine eminente Aufwertung von Funktion und Bedeutung idyllischer Dichtung. Da seine Geschichtsphilosophie »die Hoffnung auf einen meliorisierenden Bildungsprozeß der Menschengattung nicht aufgeben will«89, wird die Idylle zum ästhetischen Vehikel von »Schillers vorwärtsgerichtete[r] Utopie einer Selbstüberwindung der Kultur«90. Schiller selbst bestreitet, daß den idyllischen Dichtungen vor seiner Neubegründung ein utopischer Charakter zugesprochen werden könne, der statt auf den naiven Ursprungs- auf einen elysischen Zukunftszustand verweist: Vor dem Anfang der Kultur gepflanzt schließen sie mit den Nachtheilen zugleich alle Vortheile derselben aus, und befinden sich ihrem Wesen nach in einem nothwendigen Streit mit derselben. Sie fuhren uns also theoretisch rückwärts, indem sie uns praktisch vorwärts fuhren und veredeln. Sie stellen unglücklicherweise das Ziel hinter uns, dem sie und doch entgegen fuhren sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung einflößen.91 Schiller hat hier offenbar die Idyllentradition im Blick, die sich auf eine ursprünglich-arkadische Glückseligkeit bezog und zu der auch die Idyllen Geßners zahlen. Nicht allein im Hinblick auf den Zeitbezug kann unter den neu gefaßten poetologischen Voraussetzungen »[e]in Gegnerischer Hirte« nur als »Halbheit« erscheinen, die »weder für das Herz noch für den Geist völlig befriedigend«91 ist: Dieser kann uns nicht als Natur, nicht durch Wahrheit der Nachahmung entzücken, denn dazu ist er ein zu ideales Wesen; eben so wenig kann er uns als ein Ideal durch das Unendliche des Gedankens befriedigen, denn dazu ist er ein viel zu dürftiges Geschöpf.93
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Anachronistische Klassizität Zu Schillers Abhandlung Ueber naive und sentimentaüsche Dichtung. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposium 1990. Hg. von Wilhelm Voßkamp mit 48 Abbildungen. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien Berichtsbände XIII). S. 62-80, Zitat S. 62. Wolfgang Riedel: »Der Spaziergang«. Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schüler. Wurzburg 1989. S. 67. Ebd. Ebd,S.65f. Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 469. (Hervorhebungen im Original.) Ebd., S. 470f (Hervorhebung im Original.) Ebd., S. 470. Vgl. dz. auch die nahezu identische Charakterisierung von Geßners Idyllenpersonal durch Herder bereits rund 30 Jahre zuvor (s. o., S. 282). U. a. dieses Verdikt Schillers dürfte dafür verantwortlich zu machen sein, daß eine Literaturgeschichtsschreibung, in der die Literatur der Aufklärung retrospektiv vom >Höhenkamm< der Weimarer Klassik aus bewertet wird, zu entsprechenden Urteilen kam, die der historischen Position des Gegenstandes jedoch nicht gerecht zu werden vermögen. So erfüllt etwa für Benno von Wiese die Idyllik Geßners »nicht die eigentliche, der Poesie in diesem Zeitalter gestellte Aufgabe [...], nämlich durch die Kurair selbst wahre Natur auf einer neuen Stufe hervorzubringen.« Diese »eigentliche« Aufgabe wurde der Literatur jedoch erst von Schiller gestellt, und dies in einer sowohl sozial- (nach der Französischen Revolution) wie auch geistesgeschichtlich (nach der Kantischen Philosophie) neuen Situation, der sich Geßner noch nicht gegenübersah. Nur unter dieser Voraussetzung aber lassen sich Geßners Idyllen mit Schiller und von Wiese als »Halbheit« bezeichnen: Fried-
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Die neueren Entwicklungen der Idyllendichtung, der veränderte Gegenwartsbezug, den sie in den Werken etwa Maler Müllers oder Johann Heinrich Voß' erhielt, bleibt bei Schiller weitgehend unberücksichtigt. Voß' unmittelbar zuvor erschienener idyllischer Zyklus Luise (in Einzeldrucken 1782-84, als Zyklus dann 1795) findet zwar sein ausdrückliches Lob in einer Anmerkung.94 Doch ordnet er diesen unter die naiven Dichtungen ein, die sich noch ganz auf eine natürliche Harmonie zu stützen vermögen, in der die für Schiller durch die Kunst zu versöhnende Zerrissenheit des modernen Menschen sowie der modernen Gesellschaft noch nicht wahrzunehmen ist. Weder von Müllers Natürlichkeitspathos, das von Schiller nicht erwähnt wird, noch von der bürgerlichen Idylle< Voß' läßt sich daher behaupten, daß sie den Menschen einem neuen idyllischen Zustand entgegenführten. Müller begnügte sich mit der ungezierten Natur vermeintlich realistischer Dorfgesellschaften, die er als Basis für seine satirische Kritik an der Künstlichkeit des gesellschaftlichen Umgangs nutzte. Seine Idyllen wären von Schiller daher wohl eher der satirischen als der idyllischen »Empfindungsweise« zugerechnet worden.»3 Voß zeichnete »[deutsches Kleinleben in idyllischen Formen«, arbeitete insofern zwar auch an einer Vermittlung von »Natur und Cultur«,9* beschränkte diese aber auf die privaten Möglichkeiten eines ländlichen Bürgertums. Zwar gilt er in der Idyllenforschung in der Regel als Vorbild der klassischen Vollendung der Idylle, insofern seine Dichtung die Mitte halte »[b]etween the two extremes, the pleasing form and unreal world of Gessner and the rough naturalism of Müller«97. Darüber hinaus war es Johann Heinrich Voß gewesen, der in seinen Leib-
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rich Schiller. Stuttgart 1959. S. 544. Als ein besonders prägnantes Beispiel dieser Form der Literaturgeschichtsschreibung in bezug auf die Idyllendichtung vgl. auch bereits Gustav Schneider: Ober das Wesen und den Entwicklungsgang der Idylle, S. 21. Vgl. Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 471f., Anm. Ab sentimentalische Idylle findet schließlich John Mittons Paradise Lost als »die schönste mir bekannte Idylle in der sentimentalischen Gattung« Erwähnung (ebd., S. 471), womit Schiller zugleich auf die Kombination von Epos und Idylle hinweist, die auf der Grundlage seiner Unterscheidung zwischen »Gedichtarten« und dichterischer »Empfindungsweise« möglich - und im Blick auf die gemeinschaftskonstitutiven Aufgaben der Kunst (s. dz. u., S. 316ff.) gar nötig - wurde. S. dz. o., S. 120ff. Wilhelm Herbst: Johann Heinrich Voss. 2 Bände. Leipzig 1874/76. Bd. I, S. 152. Gustav Albert Andreen: Studies in the Idyl in German Literature, S. 60. Vgl. dz. auch bereits C. v. Langsdorff: Die Idyllendichtung der Deutschen im goldenen Zeitalter der deutschen Literatur, S. 22ff. Zu Voß als einem Menschen und Dichter der >Mitte< vgl. außerdem bereits Wilhelm Herbst, der zunächst feststellt, daß in der Idylle »die zwei Naturen in seinem Wesen, der Sinn für das Volks- und Naturgemässe und die Gesetzlichkeit der Classicität zwar nicht immer ihre Versöhnung [fanden], aber sie kamen zu ihrem Recht.« Dieser Befund wird sodann biographisch erläutert: »In Zuständen aufgewachsen, die zwischen Stadt und Land, zwischen Plattdeutsch und Hochdeutsch die Mitte halten, durch Geist und Bildung früh zur Reflexion um sich geweckt, dem Volksleben zugleich nahe und fern, wenig heimisch in dem modischen Gesellschaftswesen und nicht ohne jenes Heimweh, das die Grundstimmung aller Idyllenpoesie ist, musste er fast diesen ererbten Schatz von Erinnerungen auch poetisch flüssig zu machen und zu gestalten versuchen.« Wilhelm Herbst: Johann Heinrich Voss, Bd. I, S. 150f. (Hervorhebungen im Original.)
303 eigenen-ldyllen nicht allein gesellschaftliche Mißstände aufgegriffen und kritisiert, sondern auch eine Perspektive auf ihre künftige Lösung gegeben hatte. Doch blieb auch diese Perspektive dem spezifischen Standpunkt aufklärerischer Idyllendichtung verpflichtet, indem die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht als politischer, sondern als moralischer Akt eines einzelnen ebenso guten wie weisen Lehnsherrn gewürdigt wird, der eine harmonische, kaum weniger patriarchalisch geprägte >kleine Gesellschaft schafft.98 So stellt es schließlich keineswegs einen internen Widerspruch des Voßschen Gesamtwerkes dar," wenn in dessen Luise die gesamtgesellschaftlichen Bezüge »nur wie in leiser gebrochener Welle anschlugen«100 und die von Schiller geforderte universelle Zukunftsperspektive schließlich einem »Ideal der göttlichen Hausbackenheit«101 wich. Zwar stellte die Besinnung auf »[gjlückende Zweisamkeit in metaphorisch aufgeladener Natumähe« als »altemative[r] Lebensentwurf privater Selbstbeschrän98 99
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Vgl. dz. etwa Klaus Garber: Idylle und Revolution, S. 74ff.; Ders.: Zu einer Naturform der Poesie im Zeitalter des Naturrechts, S. 12ff. Zur Einheit des Voßschen Idyllenwerkes vgl. auch Ernst Theodor Voss: Arkadien und Grünau, S. 425f., der unter ausdrücklicher Zurückweisung von Schillers Einordnung der Luise als >naiv< und im Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit argumentiert, die dem idyllischen Glück entgegenstand. Im Anschluß hieran bezeichnet Günter Häntzschel Voß' Siebzigsten Geburtstag als »einen kritischen Entwurf, der zu den Veröffentlichungen des Jakobiners Voß paßt«: Johann Heinrich Voß: Der siebzigste Geburtstag. Bierdermeierliche Enge oder kritischer Impetus? In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Hg. von Karl Richter. Stuttgart 1983 (RUB 7891). S. 329-338, hier S. 332. (Zum vermeintlichen Jakobinismus Voß' vgl. Gerhard Kaiser: Ober den Umgang mit Republikanern, Jakobinern und Zitaten. In: DVS 49 [1975]. Sonderheft 18. Jahrhundert S. *226-*242.) Auch Wolf Wucherpfennig schloß sich jüngst dem Ansatz an und ging von einer Komplementarität von Satire und Utopie im Idyllenwerk Voß' aus: Vgl. Das »anmutsvolle Behältnis«. Überlegungen zur Idylle Der Frühlingsmorgen von Johann Heinrich Voß. In: Aufklärung als Problem und Aufgabe. Festschrift für Sven-Aage Jergensen zum 65. Geburtstag. Hg. von Klaus Bohnen und Peter Ohrgaard. München, Kopenhagen 1994. S. 172-191. Ernst Theodor Voss selbst griff schließlich seinen früheren Ansatz vor kurzem erneut auf: Idylle und Aufldärung. Über die Rolle einer verkannten Gattung im Werk von Johann Heinrich Voß. In: Wolfgang Beutin, Klaus Lüders (Hg.): Freiheit durch Aufklärung: Johann Heinrich Voß (1751-1826). Materialien einer Tagung der Stiftung Mecklenburg (Ratzeburg) und des Verbandes Deutscher Schriftsteller (Landesbezirk Nord) in Lauenburg/Elbe am 23.-2S. April 1993. Frankfurt/M. u. a. 1995 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte 12). S. 35-54. Wilhelm Herbst: Johann Heinrich Voss, Bd. L S. 187. Willibald Nagel: Die deutsche Idylle im 18. Jahrhundert, S. 65. Vgl. auch Lotte Engel-Lanz: Vossens Luise. Interpretation. Diss. Zürich 1959. S. 87ff. Ein Ideal, das zudem nicht als künftige Möglichkeit, sondern als mögliche Wirklichkeit dargestellt wird, weshalb Schiller die Luise dann auch unter den naiven Dichtungen einordnet Noch Gustav Schneider erscheint Voß daher als »bewußter und glücklicher Erneuerer der Theokritischen Poesie«, der sich von den Idealisierungen Geßners gelöst und sich der Theokritischen Bestimmung zur »Naturwahrheit« verpflichtet habe: Ober das Wesen und den Entwicklungsgang der Idylle, S. 31. Entsprechend urteilt auch Gustav Albert Andreen, für den »the idyls of Müller and Voss came back to a realistic portrayal of actual life, as is found in Theocritus. The circle was complete.« Studies in the Idyl in German Literature, S. 10. Zum vermeintlichen >Realismus< der Idyllen Müllers s. jedoch o., S. 126. Zum Begriff des ästhetischen Ideals im 18. Jahrhundert, insbesondere in der Ästhetik Schillers bietet jetzt einen fundierten Oberblick Wolfgang Düsing: [Art:] Ideal. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II, S. 113-116, insbes. S. 114f.
304 kung« bei Voß nicht das »letzte[/] Wort in Sachen literarischer IdylleVeredelung< [...] soll derjenigen in der Realität vorgreifen und sie bewirken helfen.« Bürgerliche Idylle, S. 55. Erst später sei dieser »emanzipatorisch eingesetzte Klassizismus in die Abkapselung rektoralen Bildungsbürgertums« gemündet - und zwar analog zu der inhaltlichen Entwicklung der Idyllen, in der »das erarbeitete bürgerliche Haus als utopisches Sinnbild menschlicher bürgerlicher Gesellschaft umschlägt in den Ausdruck von Besitzbürgerstolz« (S. 152). Zum Spannungsverhältnis von klassischer Form und >modemem< Gehalt der Idyllik Voß' vgl. auch Wolf Wucherpfennig: Das »anmutsvolle Behältnis«. A. a. O. So zuletzt auch Peter Lohmeier, der jedoch eine leichte Akzentverschiebung von der ersten zur zweiten Fassung der Leibeigenen-Idyllen konstatiert: Vgl. Voß - ein politischer Dichter? In: Johann Heinrich Voß (1751-1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994. Hg. von Frank Baudach und Günter Häntzschel. Eutin 1997 (Eutiner Forschungen
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Zwar greift die Forderung Schillers nach einer elysischen Idylle über diesen Rahmen hinaus. Dennoch verbindet ihn mit dem Ansatz Voß' der Versuch zur Rekonstruktion von Formen natürlicher Geselligkeit, denen die Aufgabe zukommt, die gesellschaftlichen Differenzierungen aufzuheben. Beide gehen insofern über die temporäre, kontrafaktische Idyllik der Aufklärung hinaus, wenn sie den harmonisierenden Rahmen auch unterschiedlich weit ziehen. Gemeinsam ist beiden Konzeptionen daher auch eine unverkennbar eschatologische Tendenz, die den Idyllen Geßners noch vollständig fremd war. So antwortet etwa für Gerhard Kaiser im Werk Voß' »[d]em in sich unendlichen Zustand des Elends in den >Leibeigenen< [...] in den >Freigelassenen< der in sich unendliche Zustand des Glücks«, den er schließlich auch als »Licht des eschatologischen End- und Friedensreiches« bezeichnet.109 In vergleichbarer Weise sieht auch Schiller einen Ziel- und Endpunkt der kulturellen Fortentwicklung der Menschheit, an dem die Mechanismen gleichsam stillgestellt werden, die bis dahin den anthropologischen wie den gesellschaftlichen Fortschritt zu bestimmen hatten: Aber ein solcher Zustand [der Harmonie mit sich selbst und mit den äußeren Gegebenheiten, CB] findet nicht bloß vor dem Anfänge der Kultur statt, sondern er ist es auch, den die Kultur, wenn sie überall nur eine bestimmte Tendenz haben soll, als ihr letztes Ziel beabsichtiget110
Den Anlaß für Schillers geschichtstheoretische Neukonzeption, in der dem Idyllischen »als fortschrittliche[r] Konstruktion einer zweiten höheren Naivität«111 ein herausragender Platz zukam, bildete die Erfahrung der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen, die aus seiner Sicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt gefährdeten.112 Den Verlauf der Revolution sah er von
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5). S. 193-205, insbes. S. 197ff. Dagegen jedoch Markus Winkler: Die politische Akzentuierung des idyllischen Raumes bei Johann Heinrich Voß (»Die Leibeigenschaft«) und Andro Chenier (»La Liberto«). In: Proceedings of the Xnth Congress of International Comparative Literature Association. München 1988. In five Volumes. Vol. 2: Space and Boundaries in Literature. München 1990. S. 514-520, hier S. 515. Winkler bezieht sich ausschließlich auf den sozialen Konflikt selbst, der selbstverständlich direkt auf den »sklavischen Banden« des Feudalismus beruht Die Harmonisierung der sozialen Konstellation erfolgt dann allerdings gerade nicht im Sinne einer Oberwindung des Feudalismus als gesellschaftlicher Ordnung, sondern durch zwar schätzenswertes, aber doch willkürliches Abschneiden der »sklavischen Bande«, das eine Lösung lediglich für diese konkrete >kleine Gesellschaft mit sich bringt Diese Lösung folgt somit keineswegs politischen, sondern weiterhin den für die aufklärerische Idyllendichtung wesentlichen moralischen Kategorien: Der aufgeklärte Feudalherr schenkt die Freiheit aufgrund persönlicher Einsicht und Güte. Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 115f. Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 467. Gert Sautermeister: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers, S. 17. Zur Bedeutung der Französischen Revolution vgl. ebd., S. 20,182f; sowie Dieter Borchmeyer Tragödie und Öffentlichkeit Schillers Dramaturgie im Zusammenhang seiner ästhetischpolitischen Theorie und die rhetorische Tradition. München 1973. S. 96ff. Schillers Härtung zur Französischen Revolution wurde spätestens seit dem Zweiten Wehkrieg zu einem Gegenstand grundlegender ideologischer Auseinandersetzungen über die Möglichkeiten aktualisierender politischer Aneignung seiner Positionen. Vgl. dz. etwa Benno von Wiese: Schiller und die Französische Revolution. In: Ders.: Der Mensch in der Dichtung. Studien zur deutschen und europäischen Literatur. Düsseldorf 1958. S. 148-169; Ursula Wertheim: Schillers Aus-
306 materiellen Interessen geprägt. Der gescheiterte Versuch, den »Naturstaat« aufzuheben, ohne denjenigen der »Vernunft« an seine Stelle setzen zu können, ließ ihn daher bereits in der vorangegangenen Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen die vorhergehende Schaffung einer »Totalität des Charakters« fordern.113 Aus dem Verlauf der Revolution hatte Schiller dort im wesentlichen zwei Schlüsse gezogen: Zum einen gewährleistete die Gründung des gesellschaftlichen Zusammenhangs auf dem jeweiligen Eigennutz seiner Mitglieder nicht die erwünschte soziale Stabilität. Statt dessen falle die positive Gesellschaft (wie schon langst das Schicksal der meisten europäischen Staaten ist) in einen moralischen Naturstand auseinander, wo die öffentliche Macht nur eine Parthey mehr ist, gehaßt und hintergangen von dem, der sie nöthig macht, und nur von dem, der sie entbehren kann, geachtet114
Zudem müsse jeder Versuch zur Überwindung dieses Zustandes scheitern, solange er sich allein auf die Konstitution der Gesellschaft richte und nicht darauf, »die Trennung in dem innem Menschen« aufzuheben sowie den »Elementenstreit in dem ethischen Menschen« zu versöhnen:115 Um »den Staat der Noth mit dem Staat der Freyheit« vertauschen zu können, hielt Schiller es daher für nötig, daß die »Triebe [des Menschen] mit seiner Vernunft übereinstimmend genug sind, um zu einer universellen Gesetzgebung zu taugen«.116
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einandersetzung mit den Ereignissen der Französischen Revolution. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 8 (1958/59). S. 429-449; sowie Hans-Günther Thalheim: Schülers Stellung zur Französischen Revolution und zum Revolutionsproblem. In: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin 1810-1960. Band III: Forschungsbeiträge aus den Gebieten der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Berlin/DDR 1960. S. 193-211. Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: NA, XX, S. 309-412, hier S. 314, 318 (Hervorhebung im Original.) Dieter Borchmeyer hat wiederholt daraufhingewiesen, daß dieser programmatische Auftakt zur klassischen Autonomieästhetik keineswegs auf eine Entpolitisierung der Kunst hinauslaufe. Vielmehr wird für Schiller im Blick auf die Aporien politischer Gestaltung die gesellschaftliche Funktion der Kunst gestärkt, weil sie das utilitaristisch verengte politische Handeln gerade aufgrund ihrer Selbstzweckhaftigkeit zu überwinden vermag. Vgl. etwa Dieter Borchmeyer: Rhetorische und ästhetische Revolutionskritik: Edmund Burke und Schiller. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Hg. von Karl Richter und Jörg Schönert Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1983. S. 56-79; Ders.: Ästhetische und politische Autonomie. Schillers >Ästhetische Briefe< im Gegenlicht der Französischen Revolution. In: Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1990. S. 277-290; Ders.: Weimarer Klassik Portrait einer Epoche. Weinheim 1994. S. 286ff. Vgl. außerdem Otto W. Johnston: Schiller und das bourgeoisliberale Programm der Französischen Revolution. In: Verlorene Klassik? Ein Symposium. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1986. S. 328-349. Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 325. (Hervorhebung im Original.) Ebd., S. 329. Ebd., S. 316, 318. Zu den »rohe[n], gesetzlose[n] Trieben [...], die sich nach dem aufgelösten Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer Wuth zu ihrer thierischen Befriedigung eilen«, vgl. ebd., S. 319. Aus gegebenem Anlaß machte Ulrich Karthaus 1989 deut-
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Die Wiedererlangung einer solchen »Totalität des Charakters« wird für Schiller nötig, weil der bisherige Verlauf der Kultur als »Instrument« auf den »Antagonism der Kräfte« zurückgegriffen habe und der Fortschrittsprozeß daher davon bedingt gewesen sei, »daß in dem Menschen einzelne Kräfte sich isolieren«: »Einseitigkeit in Uebung der Kräfte fuhrt zwar das Individuum unausbleiblich zum Irrthum, aber die Gattung zur Wahrheit«,117 führt Schiller in offensichtlicher Anlehnung an Immanuel Kants Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht aus.118 Dadurch sei jedoch zugleich die »einfache Organisation der ersten Republiken« zu einer »groben Mechanik herab« gesunken, habe »einem kunstreichen Uhrwerke Platz [gemacht], wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Theile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet.«119 In der Berlinischen Monatsschrift von 1784 hatte Immanuel Kant auf eine Bemerkung reagiert, die in den Gothaischen Gelehrten Zeitungen verbreitet worden war und nach der es sich um eine »Lieblingsidee« des Philosophen handle, »daß der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommenen Staatsverfassung sei«.120 Kant bestreitet diese Bemerkung keineswegs, hält es aber für nötig, ihr eine »Erläuterung« beizugeben, »ohne die jene keinen begreiflichen Sinn haben würde«.121 Dieser »Erläuterung« ist seine Abhandlung unter dem Titel Idee zu einer allgemeinen Geschichte in \veltburgerlicher Absicht gewidmet, in er sich sowohl um die systematische Rechtfertigung teleologischer Geschichtsschreibung bemüht als auch den Inhalt dieser Teleologie näher bestimmt.122
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lieh, daß sich Schillers Skepsis gegenüber revolutionären Überbrückungen von Ideal und Realität auch bereits vor den Ereignissen der Französischen Revolution nachweisen lasse, also keineswegs einen Meinungswandel durch den blutigen Verlauf der Ereignisse in Frankreich darstelle: Vgl. Schiller und die Französische Revolutioa In: JbDSG 33 (1989). S. 210-239. Zu Schillers Begriff des Vemunftstaates und den für seine Errichtung notwendigen Ansprüchen an die Sittlichkeit seiner Mitglieder vgl. auch Barbara Bauer: Friedrich Schillers Maltheser im Lichte seiner Staatstheorie. In: JbDSG 35 (1991). S. 113-149, insbes. S. 127ff. Zum Begriff der Sittlichkeit als Obereinstimmung von Pflicht und Neigung sowie Schillers Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik vgl. u. a. Hans Reiner: Pflicht und Neigung. Die Grundlagen der Sittlichkeit erörtert und neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant und Schiller. Meisenheim/Glan 1951 (Monographien zur philosophischen Forschung V). S. 15-49. Sowohl für die politische als auch für die moralphilosophische Konzeption Schillers ist im folgenden auf eine detaillierte Diskussion der ausgiebigen Forschung zu verzichten. Die Darstellung wird sich statt dessen auf die Rekonstruktion des systematischen Hintergrunds konzentrieren, vor dem Schillers idealistische Neubestimmung des Idyllischen zu verstehen ist Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 326f. Vgl. dz. den Kommentar, a. a. O., S. 254f. Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 323. Zft. nach Walter Euchner: Kant als Philosoph des politischen Fortschritts. [1974] In: Materialien zu Kants Rechtsphilosophie. Hg. von Zwi Batscha. Frankfurt/M. 1976 (stw 171). S. 390403, hier S. 390. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 15, Anm. Vgl. dz. ausführlich Klaus Weyand: Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Diss. Köln 1960. S. 49ff; William A. Galston: Kant and the Problem of History. Chicago, London 1975. S. 205ff; Yirmiyahu Yovel: Kant and the Philosophy of History. Princeton, New Jersey 1980. S. 125ff. Zuletzt außerdem ausführlich Andreas Bel-
308 Bereits einleitend macht Kant deutlich, daß es sich hierbei um ein Problem handle, das über die Grenzen des Gegenstandsbereichs hinausgeht, der sich mit der kurz zuvor von ihm eingerührten transzendentalen Methode bearbeiten ließ: Gehe es doch nicht um einen »Begriff«, den man sich »in metaphysischer Absicht [...] von der Freiheit des Willens« mache, sondern vielmehr um »die Erscheinungen desselben«, die »eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt« seien.123 Wie im Falle der Naturwissenschaften könne die Philosophie daher der Historiographie lediglich den »Leitfaden« bieten, nach dem »ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen« sei.124 Hierzu dient Kant bereits an dieser Stelle die rund fünf Jahre später im Rahmen seiner Kritik der Urteilskraß ausführlich entwickelte Lehre von der teleologischen Urteilskraft, die auch für den Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft den Grundsatz nahelege, »daß die Natur, selbst im Spiele der menschlichen Freiheit, nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre«123. Auf diese Weise bemüht er sich um eine Vermittlung zwischen den strengen Anforderungen an die philosophische Erkenntnis im Bereich reiner Vernunft und den kontingenten Bedingungen empirischer Erkenntnis: Die Vernunft ist in der Lage, der empirischen Erkenntnis einen »Leitfaden« zu liefern, anhand dessen zu prüfen ist, ob »von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei«126. Dieser »Leit-
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we: Ungesellige Geselligkeit Kant: Warum die Menschen einander micht wohl leidennicht voneinander lassen< können. Würzburg 2000 (Epistemata Philosophie 263). Diese erste umfassende Monographie zu einem Grundprinzip der Kantischen Geschichtsphilosophie ist jedoch kaum an dessen historisch-systematischer Einordnung interessiert, so daß etwa die naturrechtliche Tradition der Geselligkeitstheorie nicht zur Sprache gebracht wird. Statt dessen ist Belwe darum bemüht, den Terminus als »heuristische Gedankenfigur« zu nutzen, um auf diese Weise »Kant im Zeugenstand zu Fragen und Themen gegenwärtigen Philosophierens« (S. 9) befragen zu können. Mit Ausnahme der internen Verortung des Begriffs im System der Kantischen Philosophie (im wesentlichen S. 12-34) bestehen daher Berührungspunkte mit dem Fragehorizont der vorliegenden Arbeit lediglich im Ausblick auf aktualisierende Aneignungen der Dichotomic, wie sie etwa in der klassischen Soziologie des frühen 20. Jahrhunderts vorgenommen wurden (S. 20 Iff.). Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 17. (Hervorhebungen im Original.) Ebd., S. 29. (Hervorhebungen im Original.) Dies stellt den entscheidenden systematischen Unterschied zwischen der als transzendental verstandenen Moral- und der empirisch bedingten Geschichtsphilosophie Kants dar. Während er sich mit ersterer von dem aufklärerischen Konzept einer Vermittlung von Eigennutz und Gemeinwohl abwandte (vgl. dz. die grundsätzliche Ablehnung der Kantischen Ethik etwa durch Garve oder Knigge; s. o, S. 247f, Anm. 264 u. 269 sowie S. 266f, Anm. 336), konnte er auf der Grundlage dieser Unterscheidung für die Geschichtsphilosophie dennoch die Idee eines fortschrittsfördernden Eigennutzes in Anspruch nehmen. Dies bedeutete jedoch nicht, daß die geschichtsphilosophische Konzeption Kants in den Kreisen der Spätaufklärung unwidersprochen blieb; vgl. dz. etwa Norbert Hinske: Das stillschweigende Gespräch. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 29. Zur Einordnung der Geschichtsphilosophie Kants nicht als Teil transzendental begründeter Ethik, sondern im Zusammenhang der Kritik der Urteilskraft vgl. Klaus Weyand: Kants Geschichtsphilosophie, S. 37ffi, 137ff., 172ff.; sowie William A. Galston: Kant and the Problem of History, S. 214ff. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 18.
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faden« dient mit anderen Worten als eine Heuristik, die bestimmte Prämissen nahelegt, über deren Berechtigung schließlich im Blick auf das Ergebnis der Untersuchung zu entscheiden ist: Gelingt es, aus dem bloßen »Aggregat« menschlicher Handlungen den systematischen Zusammenhang einer Geschichte zu ^konstruieren, so gilt die erkenntnisfördemde Wirkung der Prämissen als erwiesen.127 Die im Zusammenhang der Geschichtswissenschaft in diesem Sinne in Anspruch zu nehmende Prämisse formuliert Kant in der ersten These sein«er Abhandlung: Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmässig auszuwickeln. [...] Ein Organ, das nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die ihren Zweck nicht erreicht, ist ein Widerspruch in der Ideologischen Naturlehre. Denn wenn wir von jenem Grundsatze abgehen, so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zwecklos spielende Natur, und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leitfadens der Vernunft128
Gehören die Vernunft und die von ihr bestimmte Autonomie des Willens zu den natürlichen Anlagen des Menschen, so kennt Kant gleichwohl die Schwierigkeiten, deren Verwirklichung in der Welt der Erscheinungen zu erkennen: Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet129.
Eine mögliche Lösung dieses Problems präsentiert Kant dann mit der zweiten These der Abhandlung, wenn er feststellt, beim Menschen »sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln«130. Diese Unterscheidung verschafft ihm die Möglichkeit, sowohl an der Vemunftidee als auch an der desillusionierenden Einsicht in ihren ausgesprochen unvollkommenen Niederschlag in der Wirklichkeit menschlichen Handelns festzuhalten.131 Das wirkliche Handeln noch so vieler einzelner Menschen ist vor diesem Hintergrund nicht mehr geeignet, die Durchsetzung der Vernunftgrundsätze in der Gattung in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Kant findet gar einen Weg, das beschränkte, natürlichen Antrieben statt der Gesetzgebung der Vernunft folgende Handeln für die Durchsetzung der letzteren förderlich zu erklären. Dabei hält er sich ungeachtet der grundlegenden Differenzen in der Moralphilosophie an die Konzeptionen 127 128 119
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Vgl. dz. William A. Galston: Kant and the Problem of History, S. 213f. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 18. (Hervorhebung im Original.) Ebd, S. 17f. Ebd., S. 18. (Im Original gesperrt gedruckt) Zu der Rückführung dieser Unterscheidung auf den »Gedanken des Menschen als Bürger zweier Welten« und den dadurch implizierten Verweis »auf eine bestimmte differentia ontologica zwischen Tier und Mensch« vgl. Klaus Weyand: Kants Geschichtsphilosophie, S. 62. Im Blick darauf stellt auch Yirmiyahu Yovel fest: »Essentially, man is condemned to be a historical being." Kant and the Philosophy of History, S. 144. (Hervorhebung im Original.)
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aufklärerischer Sozialtheorie, in denen von dem selbstbezüglichen Handeln des einzelnen der gesellschaftliche Fortschritt abgeleitet wurde: Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den ändern, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt wurde, ihnen doch wenig gelegen sein würde.131
Diese Möglichkeit, das Ideal einer Gesellschaft, die auf der vernünftigen Einsicht des Menschen in seine gesellige Natur beruht, mit der Realität seines selbstbezüglichen Handelns zwar nicht zu versöhnen, so doch wenigstens in ein konstruktives Verhältnis zu setzen, sollte auch Hegel als »List der Vernunft« in Anspruch nehmen. Bei Kant ist noch von einem »verborgenen Plan[/] der Natur«1" die Rede, den er anthropologisch begründet: Wie der Mensch als ebenso sinnlich wie moralisch veranlagtes Wesen den Bestimmungen zweier unterschiedlicher gesetzlicher Ordnungen, derjenigen der Natur wie derjenigen der Vernunft, unterworfen ist, so läßt sich auch dessen Neigung zur Gesellschaft nicht eindeutig festlegen. Entsprechend bestimmt Kant seine Position zu den naturrechtlichen Diskussionen um den Grundsatz der menschlichen socialitas: Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d. i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist134
Dieser in der vierten These der Abhandlung formulierte anthropologische Grundsatz, den Kant im folgenden auch empirisch begründet, stellt eine Explikation dessen dar, was im Verlaufe der bisherigen Untersuchungen als aufklärerisches Komplementärkonzept der Geselligkeit im Hintergrund der Frage nach Status und Geltungsanspruch idyllischer Dichtung herausgearbeitet wurde. Kants Interesse beschränkt sich allerdings in diesem Zusammenhang weitgehend auf die fbrtschrittsfbrdernden Kräfte, die er der Ungeselligkeit, dem recht drastisch als »Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht«133 gekennzeichneten eigennützigen Handeln des Menschen, zuschreibt. Doch diesen ungeselligen Neigungen steht »eine Neigung, sich zu vergesellschaften«1*6 zur Seite, die Kant am menschlichen Handeln ebenso beteiligt sieht, wenn er auch nicht näher ausführt, aufweiche Wirkursachen diese Neigung zurückzuführen ist, ob es sich also um eine na-
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Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in wehbürgerlicher Absicht, S. 17. Ebd., S. 27. (Im Original gesperrt gedruckt) Ebd., S. 20. (Hervorhebungen im Original.) Zum Begriff des »Antagonismus« als einem »der wichtigsten geschichtsphilosophischen Begriffe Kants« vgl. Klaus Weyand: Kants Geschichtsphüosophie, S. 76ff., Zitat S. 77. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 21. Ebd., S. 20. (Hervorhebung im Original.)
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türliche Geselligkeit aufgrund unmittelbarer Sympathie handelt oder um eine solche aufgrund der Einsicht in ein wohlverstandenes Eigeninteresse.137 Um so deutlicher hebt Kant jedoch auf die spezifischen Sozialstrukturen >kleiner Gesellschaftern ab, wenn er nur wenige Zeilen nach der Präsentation des anthropologischen Antagonismus ungeselliger Geselligkeit auf die Folgen zu sprechen kommt, die eine Isolierung der menschlichen Neigung zur Geselligkeit für den Verlauf der Geschichte gehabt hätte: In unmittelbarem Anschluß an die Auszeichnung der fortschrittsfbrdemden Wirkungen der eigennützigen Anlagen des Menschen folgt jene grundsätzliche Kritik des »arkadischen Schäferlebens« und seiner konfliktfteien, auf »Wechselliebe« gründenden Sozialstruktur, die oben bereits angeführt wurde138 und in der Kant deren fortschrittsverhindernden Charakter herausstellt. Dies macht deutlich, daß die Beziehungen zwischen aufklärerischer Sozialund poetischer Idyllentheorie, wie sie in der bisherigen Untersuchung herausgearbeitet wurden, den zeitgenössischen Diskussionszusammenhängen entspricht: Kant selbst fuhrt die Idylle an, um an ihrer Sozialstruktur, die allein auf natürlicher Sympathie beruht, deutlich zu machen, daß sie ebensowenig der anthropologischen Realität gerecht wird wie dem Interesse am zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt. Im Rahmen naturrechtlicher Begründungsmodelle handelt es sich hierbei nicht lediglich um die angemessene Einschätzung einer historisch vergangenen Lebensform. Dies gilt auch für Kant, was eine Bemerkung verdeutlicht, die sich in seinem handschriftlichen Nachlaß findet: Offenbar war er sich - auch hier ganz auf der Linie der aufklärerischen Sozialtheorie - des Problems solcher >kleinen Gesellschaftern bewußt, deren soziale Bindungen in Konkurrenz zu denjenigen der allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft traten. Ahnlich wie für Zimmermann und Garve handelt es sich hierbei auch für Kant um ein Problem gesellschaftlicher Desintegration, für das dieser jedoch - offenbar im Rückgriff auf die Kleinstaatspräferenz Rousseaus - allein den quantitativen Umfang der bürgerlichen Gesellschaft, nicht deren funktionalisierende Integrationsmechanismen verantwortlich macht: Aber es ist auch, wenn die societaet groß wird, ein Hang zu Spaltungen da und zu secten, damit kleinere, darin sich die socii mehr übersehen können und die Vereinigung inniglicher sey [entstehen, CB]139.
Um den kulturellen Fortschritt sicherzustellen, waren allerdings auch die ungeselligen Neigungen des Menschen auf ein bestimmtes Maß zu beschränken, das 137
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Yirmiyahu Yovels Folgerung hieraus, Kants Begriff der Geselligkeit von der sozialphilosophischen Tradition der Aufklärung grundsätzlich abzugrenzen und statt dessen von einer »certain propensity toward others that inheres in his very nature as a rational being« zu sprechen, wertet allerdings eine unverkennbare Akzentverschiebung der Transzendentalphilosophie zu einer systematischen Grundsatzfrage auf: Vgl. Kant and the Philosophy of History, S. 148f. S. o., S. 113. Immanuel Kant: Handschriftlicher Nachlaß. Nr. 1434. In: AA, HI/2, S. 626f., Zitat S. 626.
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zu gewährleisten hatte, daß der latente Antagonismus sich nicht zu einem offenen Konflikt auswuchs, der geeignet gewesen wäre, die Stabilität der Rechtsordnung zu untergraben. Dies ist der Ort der oben zitierten »Lieblingsidee« Kants: Die »vollkommene!/] Staatsverfassung«, von der an jener Stelle die Rede war, wird durch seine anthropologischen Bestimmungen als eine solche nötig, »in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird«,140 denn den Folgen natürlicher »Ungeselligkeit« läßt sich allein dadurch Rechnung tragen, daß diese »durch sich selbst genöthigt wird sich zu disciplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln.«141 Wovon Kant sich in der »Erläuterung« seiner »Lieblingsidee« abgrenzt, ist mithin ein gesellschaftstheoretischer Idealismus, der dazu neigt, die anthropologischen Realitäten zu leugnen und unabhängig von der selbstbezüglichen Wirklichkeit menschlichen Handelns eine auf Sympathie gründende und sämtliche Gegensätze harmonisierende Gemeinschaft errichten zu wollen. Die »vollkommene^ Staatsverfassung« hingegen, die er ebenso systematisch wie empirisch begründet und deren Prinzipien sowohl innergesellschaftlich gelten als auch im internationalen Verkehr der Staaten, hält sich fern von derartigen Harmonisierungen: Nicht allein den idyllischen Ursprungszustand gelte es im Zeichen des Eigennutzes zu überwinden, auch die gesellschaftliche Zukunft müsse einen Zustand hervorbringen, »der nicht ohne alle Gefahr sei, damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen«142. Wenn er auch an einer Stelle seiner Abhandlung an der Forderung festhält, eine aufgrund des Eigennutzes »/>a/Ao/ogwc/j=abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze«143 zu verwandeln, begnügte sich Kant auch in der Folge damit, der anthropologischen Realität Rechnung zu tragen und dem ebenso mit- wie gegeneinander erfolgenden Handeln des Menschen einen stabilen, rechtssichernden Rahmen zu verschaffen. Dieser Rahmen hatte sich daher nicht auf die problematische »moralische Besserung des Menschen« zu stützen. »Das Problem der Staatserrichtung« war für Kant vielmehr noch in seinem späten Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) so einzurichten, daß
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Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 22. (Hervorhebung im Original.) Das von Richard Saage ausfuhrlich herausgearbeitete »für das Kantische Modell so charakteristische Oszillieren zwischen einem liberalen Staat als Garanten des freien bürgerlichen Warenverkehrs und einer etatistischen potestas, die mit ihren [...] autoritären Implikationen ihre Affinität zum Hobbesschen >Leviathan< nicht leugnen kann«, läßt sich somit nicht nur im Blick auf die institutionellen Konsequenzen »auf dem Hintergrund des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft im Deutschland des 18. Jahrhunderts [...] interpretieren«, sondern ebenso im Bezug auf die anthropologische Voraussetzung der >ungeselligen GeselligkertMechanismus< abhängig gemacht wird, verweist Eckart von Sydow: Der Gedanke des Ideal-Reichs bei Kant [1914] In: Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, S. 379389, hier S. 380. Vgl. auch William A. Galston: Kant and the Problem of History, S. 236f. Kants Konsequenz war die Beschränkung der teleologischen Perspektive auf die bürgerliche
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stematische Aporie sieht Kant in der unhintergehbaren anthropologischen Statur, der moralisch-sinnlichen Doppelnatur des Menschen begründet. Für Schiller, der sich mit der auch für diese Konstruktion verantwortlichen Kluft zwischen moralischer und empirischer Welt nicht zu begnügen bereit war, war daher auch die Kantische »ungesellige Geselligkeit« nicht als letztes Wort der sozialanthropologischen Analyse anzuerkennen. Seine Forderung nach »Totalität des Charakters« ist von der Hoffnung getragen, den fortschrittsfördernden anthropologischen Antagonismus harmonisieren zu können.131 Kant selbst sollte Schiller wenige Jahre später ein wohl entscheidendes Stichwort liefern und ihn damit zugleich auf die Ästhetik als diejenige Disziplin verweisen, mit deren Hilfe sich die strenge systematische Trennung zwischen allgemeinen Ideen und der kontingenten Welt der Erscheinungen überschreiten lassen sollte: Im ersten Teil der Kritik der Urteilskraft (1790), der sich mit den ästhetischen Urteilen beschäftigte, kam Kant in § 41 auf ein »empirische[s] Interesse« zu sprechen, das »indirekt dem Schönen durch Neigung zur Gesellschaft« anhänge. Dieses sei allerdings in seinem transzendentalen Zusammenhang »von keiner Wichtigkeit«, in dem er allein zu berücksichtigen habe, »was auf das Geschmacksurteil a priori [... ] Beziehung haben mag.«132 Die Voraussetzungen rar die Formulierung eines solchen empirischen Interesses am Schönen hatte Kant im vorangegangenen Paragraphen geschaffen, in dem er im ästhetischen Geschmacksurteil eine »Art von sensus communis«1" identifiziert hatte: Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes ändern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvemunft sein Urtheil zu halten [.. .].134
Hierauf hatte Kant aufgrund der besonderen Eigenart des Geschmacksurteils geschlossen, das zwar ein empirisches Urteil sei, sich jedoch gleich dem Vernunfturteil dadurch auszeichne, daß man es »jedem andren ansinnen« könne und
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Gesellschaft, die den Antagonismus der fortschrittsfordernden Kräfte zu befrieden hatte und damit einen Rahmen bot, in dem das Endziel der Moralisierung lediglich in einem prinzipiell unabschließbaren Prozeß zu erreichen war. Zur Bedeutung des »Leitbildes der bürgerlichen Verfassung« als »regulative« statt als »konstitutive Idee« sowie zur Möglichkeit, sich dem Ziel der Weltgeschichte »nur asymptotisch [zu] nahem« vgl. auch Klaus Weyand: Kants Geschichtsphilosophie, S. 90,104. Dieser Grundsatz läßt ihn seine ästhetische Theorie unter den Leitbegriff der >Versöhnung< stellen: Vgl. etwa Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 355. Vgl. dz. auch ausführlich Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen. Eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers >Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefenüberwindenschöne Kunst< berufen, der sozialen Existenz des Menschen eine Perspektive zur Aufhebung der durch »Einförmigkeit« der Kräfte und leblose »Mechanik« ihres Zusammenhanges bestimmten anthropologischen und sozialen Wirklichkeit zu vermitteln. Diesem Ziel konnte in der poetologischen Systematik Schillers keine poetische »Empfindungsweise« eher entsprechen als die idyllische, in der die Übereinstimmung »des wirklichen Zustandes [... ] mit dem Ideal«160 Ausdruck zu finden hat. In der Tat erscheint diese vornehme Stellung der Idylle im Blick auf die bisherigen Ausführungen naheliegend, gehört es doch zu ihren wesentlichen inhaltlichen Merkmalen, dem Zustand der gesellschaftlichen Differenzierung, den Schiller als zu überwindenden beschreibt,161 einen Zustand ursprünglicher Geselligkeit gegenüberzustellen. Da es Schiller jedoch nicht mehr um temporäre Räume handlungsentlasteter Geselligkeit geht, kann er sich zwar an die traditionellen Darstellungen ursprünglicher Harmonie halten, muß deren Geltungsanspruch und Zeitbezug jedoch korrigieren: So wenig sich das auf umfassende >Versöhnung< gerichtete Gesellschaftsprojekt Schillers mit der Komplementarität unterschiedlicher Sozialformen abzufinden vermochte, so unbefriedigend mußte in seinen Augen die bloß kontrafaktische Darstellung eines vergangenen Geselligkeitsideals bleiben. Lediglich unter der Voraussetzung einer Überwindung der aufklärerischen Idyllentheorie konnte die Idylle bei Schiller daher »die höchste Stufe der Poesie« einnehmen und ihre Aufgabe, eine »sinnliche Offenbarung des Ideals durch den Dichter«,162 erfüllen: Denn für den Menschen, der von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der gefährlichen Führung seiner Vernunft überliefert worden ist, ist es von unendlicher Wichtigkeit, die Gesetzgebung der Natur in einem reinen Exemplar wieder anzuschauen, und sich von den Verderbnissen der Kunst in diesem treuen Spiegel wieder reinigen zu können.163
Die gesellschaftlichen Dimensionen, die soeben anhand des von Kant formulierten »empirischen Interesse[s] am Schönen« entwickelt wurden, machen darüber hinaus deutlich, daß der Idylle im Rahmen der ästhetischen Konzeption Schillers neben dem Anreiz zur persönlichen Veredelung auch geradezu gemeinschaftskonstitutive Funktion zuzusprechen war, deren eschatologische Dimension unübersehbar ist: Da das Schöne »[ejmpirisch [...] nur in der Gesellschaft«164 interessiert, konnte die von Schiller postulierte >Reinigung< gemeinschaftlich erfolgen und damit zugleich der Grundstein zu einer neuen Form des Gemeinwe139 160 161 162 163 164
Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 312. Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 466, Anm. Zur systemtheoretischen Rekonstruktion von Schillers idealistischer Geschichtsphilosophie vgl. Klaus Disselbeck: Geschmack und Kunst. Betmo von Wiese: Friedrich Schiller, S. 545. Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 468f. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 296. (Hervorhebung im Original.)
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sens gelegt werden, das auf der allgemeinen, ebenso sinnlichen wie vernünftigen Einsicht in eine gemeinsame Bestimmung beruht. Schiller selbst betont den doppelten, sowohl sozialen als auch anthropologischen Aspekt der anzustrebenden Versöhnung ausdrücklich in seiner begrifflichen Neufassung des Idyllischen: Der Begriff dieser Idylle ist der Begriff eines völlig aufgelösten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen als in der Gesellschaft, einer freyen Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur höchsten sittlichen Wurde hinaufgeläuterten Natur, kurz, er ist kein andrer als das Ideal der Schönheit, auf das wirkliche Leben angewendet163
Aufgrund dieser Bedeutung der Kunst für die politische Konstitution hatte Schiller den »Bau einer wahren politischen Freiheit« in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen als das »vollkommenste aller Kunstwerke« bezeichnet, dessen Struktur er kurz darauf anhand der »Polypennatur der griechischen Staaten« herausstellte und von der »groben Mechanik« und dem »kunstreichen Uhrwerke« modemer Staaten absetzte.166 Angesichts der geschilderten doppelten Anforderung einer sowohl persönlich >veredelnden< als auch gemeinschaftsbildenden Kunst dürfte für die prominente Stellung der Idylle in der ästhetischen Theorie Schillers auch die Funktion verantwortlich sein, die der Bukolik in der höfischen Gesellschaft zukam. Denn im Gegensatz zu den aufklärerischen Konzeptionen bis hin zu Immanuel Kants »ungeselliger Geselligkeit« sollte nunmehr eine Form menschlichen Umgangs gemeinschaftskonstitutiv werden, die von den Implikationen strategischer Selbstbezüglichkeit frei war. Die schöne Geselligkeit eines handlungsentlasteten Umgangs, wie sie sowohl in der bukolischen Dichtung dargestellt als auch anhand der Bukolik realisiert wurde, veranlaßt Schiller, mit dieser >dichterischen Empfindungsweise< den Ausblick auf eine harmonisierte Gemeinschaft von ebenso in sich wie miteinander >versöhnten< Menschen zu verbinden. Hierauf verweist nicht zuletzt auch der Umstand, daß Schiller die natürliche Anlage des Menschen, die zur Versöhnung von Stoff- und Formtrieb drängt und zur anthropologischen Verankerung seines Kunstbegriffs dient, als »Spieltrieb«1" bezeichnet, was gewiß nicht zufällig auf die handlungsentlastete Struktur höfischer Geselligkeit und ihre Charakterisierung durch ein kommunikatives Gesellschaftsspiel etwa in Castigliones Buch vom Hofmann zurückverweist.1*8 Mit Hilfe der bukolischen und idyllischen Dichtungstradition lassen sich in Anlehnung hieran sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf ihre traditionelle gesellschaftliche Funktion die entpragmatisierten Räume vermessen, in denen 163 166 167 168
Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 472. (Hervorhebung CB.) Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 323. Ebd., S. 353 u. ö. (Hervorhebung im Original.) Als »rhetorical games« bezeichnet etwa Richard L. Regosin die in ciceronianischen Dialogen erfolgenden Ausführungen Castigliones: The name of the game/the game of the name, S. 45. Zu Schillers Begriff des »Spiehrieb[s]Fragmentarisierung< überwindender Umgang möglich erscheint. Doch dabei verändert sich der Status des Idyllischen in entscheidender Weise: Als Enklave für eine temporäre Teilexistenz, die es in der bukolischen Tradition und noch bei Geßner darstellte, hat es nunmehr ausgedient. Statt dessen wird es bei Schiller zum Medium einer möglichen Aufhebung der Fragmentarisierung des >modernen< Menschen. Die strukturbestimmende Bedeutung, die dem idealen Menschenbild der rhetorisch-höfischen Tradition für die Betonung der gesellschaftlichen Bedeutung von Kunst und Ästhetik bei Schiller beizumessen ist, wird in der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits seit längerer Zeit hervorgehoben.1*9 Die in diesem Zusammenhang häufig vermutete Vermittlung des gesellschaftsethischen Ideals über den Unterricht an der Hohen Karlsschule170 wird durch die inzwischen erfolgte Herausgabe der philosophischen Unterrichtsmaterialien Jacob Friedrich Abels gestützt.171 Ob Schiller das Ziel unterstellt wird, das »Menschenbild der alten Adelswelt Europas in die deutsche Literatur zu bergen«172, oder darüber hinausgehend angenommen wird, »daß sich [...] gerade in dem Citoyen-Ideal der Französischen Revolution diejenigen Momente jenes aristokratischen Menschenbildes erhalten haben, die potenziell allgemein waren und so dem dritten Stand zur ideologischen Legitimation seiner Interessen dienen konnten«173, muß an dieser Stelle nicht entschieden werden. Im einen wie im anderen Fall macht der Kontext höfischer Gesellschaftsethik die Verwandtschaft verständlich, die Schiller zwischen seinen eigenen Gedanken Ueber die ästhetischen Erziehung des Menschen und Christian Garves Abhandlung Ueber eine Maxime Rochefaucaults 169
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Vgl. etwa bereits Heinz Otto Burger: Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik. [1969] In: Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Hg. von dems. Darmstadt 1972 (Wege der Forschung CCX). S. 176-202. Vgl. Gert Ueding: Schillers Rhetorik, S. 20. Zu Schillers Verhältnis zur rhetorischen und gesellschaftsethischen Tradition vgl. außerdem Ders.: Rhetorik und Ästhetik in Schillers theoretischen Abhandlungen. [1986] In: Ders.: Aufklärung Ober Rhetorik. Versuche über die Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tübingen 1992 (Rhetorik-Forschungen 4). S. 155-184. Zur Orientierung der ästhetischen Erziehung am traditionellen Vorbild des Honnete Komme vgl. Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit, S. 138ff. Im wesentlichen handelt es sich hierbei um die Vermittlung des höfischen Geselligkeitsideals in der Tradition der antiken Rhetorik durch Christian Thomasius. Vgl. Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782). Mit Einleitung, Obersetzung, Kommentar und Bibliographie herausgegeben von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995. Insbes. S. 402ff. Zur Bedeutung der rhetorischen Tradition und ihres Universalitätsanspruchs an den idealen Redner für die Form wie auch für den Inhalt des ästhetischen Erziehungskonzeptes Schillers vgl. auch Hermann Meyer: Schillers Philosophische Rhetorik [1959] In: Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen, S. 413-467, insbes. das Resümee S. 466f.; Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit, S. 125ff. Die Orientierung an grundlegenden Konstellationen rhetorischer Praxis hielt Schiller jedoch nicht davon ab, gegen das Regelwerk selbst gelegentlich zu verstoßen, was bereits unter den Zeitgenossen kritisch vermerkt wurde: Vgl. Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen, S. Iff. Heinz Otto Burger: Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik, S. 202. Gert Ueding: Schillers Rhetorik, S. 14. (Hervorhebung im Original.)
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feststellte und Garve am 1. Oktober 1794, also noch vor dem Erscheinen der Briefe, mitteilte.174 Wie Garve die Unabhängigkeit von einzelnen Talenten und Fähigkeiten und daher die Hochschätzung eines nicht fragmentarisierten Persönlichkeitsbildes als besonderes Merkmal höfischen Umgangs herausstellte und lobte, greift Schiller auf soziale Strukturmerkmale dieser Lebensform zurück, wenn er die Ästhetik zur Wiederherstellung einer »Totalität des Charakters« in Anspruch nimmt.1" Die ausdrückliche Bemerkung in dem Schreiben an Garve macht deutlich, daß Schiller bewußt auf vordifferenzierte soziale Umgangsformen zurückgreift, die er gegenüber den >modemen< funktionalisierten Verhältnissen auszeichnet, ohne auf die fundamentale Veränderung der jeweils heranzuziehenden sozialen Rahmenbedingungen zu sprechen zu kommen.176 Auch an dieser Stelle bewährt sich insofern die Neuakzentuierung des ideengeschichtlichen Prozesses im Sinne eines differenzierungstheoretischen Ansatzes: Ungeachtet der Frage, ob es sich bei Schillers Rekurs um eine >konsequente< Adaptation oder eine politische Regression handelt, läßt sich auf ihrer Grundlage mit weniger normativen Implikationen festhalten, daß seine ästhetische Nachbildung des »Integrationsmodus stratifizierter Gesellschaften [...] in dem Maße anachronistisch« wurde, »in dem sich die funktional differenzierte Gesellschaft durchsetzt.«177 Für Schillers Rekurs auf vordifferenzierte Gesellschaftsformen ist seine Kritik am Eigennutz zentral, der auch in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen wesentliche Begründungsfunktion zukommt.178 Diese Kritik läßt sich bei Schiller weiter zurückverfolgen, so daß sich der Horizont der ästhetisch wiederherzustellenden Einheit schließlich ein weiteres Mal erweitert und den Blick freigibt auf die komplexen historischen und systematischen Bezüge der idealistischen Theorie ästhetischer Versöhnung: In Schillers ästhetischer Theorie läuft eine Vielzahl der Stränge zusammen, von denen die zeitgenössische Geselligkeitsdiskussion geprägt wurde - sei es in Form ihrer expliziten Rezeption wie im Falle Kants und der aufklärerischen Geselligkeitstheorie, sei es in Form von 174
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Vgl. dz. Daniel Jacoby: Schiller und Garve. In: Euphorien 12 (1905). S. 262-271, hier S. 263; Paul Menzer: Christian Garves Ästhetik, S. 95; Günter Schulz: Schiller und Garve. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau III (1958). S. 182-199, hier S. 192. Garves eigener Rekurs auf Wilhelm Meisters Lehrjahre, der im vorangegangenen Kapitel zitiert wurde (s. o., S. 268, Anm. 344), verdeutlicht, daß sich auch Goethe intensiv mit diesem Problemkreis auseinandersetzte, wofür nicht zuletzt auch der Tasso steht Allerdings sollte Goethe schließlich eine andere Losung vorschlagen als Schiller. Die zentrale Bedeutung, die in dessen ästhetischer Antwort der Idylle zugesprochen wird, läßt es naheliegend erscheinen, diese Differenz anhand der Aufnahme der Idyllentradition durch Goethe zu rekonstruieren, was im folgenden Abschnitt geschehen soll. Vgl. dz. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 294f. Zu betonen ist allerdings, daß sich Schiller lediglich auf die gesellschaftsethische Theorie bezieht Daß die Praxis höfischen Umgangs dieser in der Regel nicht gerecht wurde, macht er hingegen unmißverständlich deutlich (s. dz. auch u., Anm. 185). Klaus Disselbeck: Geschmack und Kunst, S. 124. Vgl. Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 320f.
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versteckten Hinweisen und impliziten Referenzen. Die vorangegangenen sozialtheoretischen Ansätze, Positionen und Konzepte werden von Schiller gebündelt und in den Zuständigkeitsbereich der Ästhetik überfuhrt. Doch schon bevor Kants Kritik der Urteilskraft ihm die Möglichkeit eröflhete, sein Programm systematisch an die Positionen der Transzendentalphilosophie anzuschließen und die Hinweise aufzunehmen, mit deren Hilfe der Kunst die vornehme Aufgabe allseitiger Versöhnung zuzusprechen war, hat er die zugrundeliegenden anthropologischen und sozialen Positionen dieses Programms formuliert. Bereits in der im Rahmen der Philosophischen Briefen (1786) entwikkelten Theosophie des Julius findet sich eine scharfe Kritik des »dürftigen Egoismus« und seiner Verwendung für die Begründung sozialer Verhältnisse. Julius äußert diese Kritik im Namen der »Liebe«: Viele unsrer denkenden Köpfe haben es sich angelegen sein lassen, diesen himmlischen Trieb aus der menschliche Seele hinweg zu spotten, das Gepräge der Gottheit zu verwischen, und diese Energie, diesen edeln Enthusiasmus im kalten tödenden [!] Hauch einer kleinmütigen Indifferenz aufzulösen. Im Knechtsgefühle ihrer eignen Entwürdigung haben sie sich mit dem gefährlichen Feinde des Wohlwollens, dem Eigennutz abgefunden, ein Phänomen zu erklären, das ihrem begränzten Herzen zu göttlich war. Aus einem dürftigen Egoismus haben sie ihre trostlose Lehre gesponnen, und ihre eigene Beschränkung zum Maasstab des Schöpfers gemacht Entartete Sklaven, die unter dem Klang ihrer Ketten die Freiheit verschreien.179
Worauf sich dagegen die theosophisch begründete Liebestheorie stützt, wurde bereits wenige Absätze zuvor deutlich: Liebe also - das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterweh, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend - Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortreflichen, gegründet auf einen augenbliklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.
Unverkennbar argumentiert Schiller an dieser Stelle ähnlich wie Jacob Hermann Obereit in Analogie zu naturwissenschaftlichen Theoremen der Zeit, deren Geltungsbereich er dadurch über die bloß materielle Welt hinaus ausdehnt. Wie die Gesetze der Gravitation und des Magnetismus ist auch die Liebe Ausdruck jener alles bewegenden Urkraft, die auf harmonisch koordinierte Bewegung der Körper wie der Geister gerichtet ist.181 Auf die Möglichkeit einer metaphysischen 179
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Friedrich Schiller: Die Theosophie des Julius. In: NA, XX, S. 115-129, hier S. 121f. In den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen nimmt Schiller dies als Kritik an »unserer materialistischen Sittenlehre« wieder auf: »Mitten im Schooße der raffinirtesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft« Dieser »[s]tolze[n] Selbstgenügsamkeit« stellt er auch dort das »Herz« entgegen, »das in dem rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt« (S. 320). Friedrich Schiller: Die Theosophie des Julius, S. 119. (Hervorhebung im Original.) In seiner ausfuhrlichen Studie über die Anthropologie des jungen Schiller hat Wolfgang Riedel die ideengeschichtlichen Hintergründe der Theosophie freigelegt (vgl. insbes. S. 154ffi). Kurz zuvor hatte bereits Hans-Jürgen Schings auf die »hermetischef/] Tradition und ihref/] Newton-Interpretation« als Hintergrund der »Jugendphilosophie« Schillers hingewiesen: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses (I), S. 81. Es war u. a. die metaphysische Erstlingsschrift Oberehs, in einem Auszug gemeinsam mit Schillers ersten Gedichten im
321 Newton-Interpretation und ihre Folgen für ein darauf gegründetes Geselligkeitskonzept wurde bereits im Zusammenhang mit der Einsamkeits-Debatte zwischen Johann Georg Zimmermann und Jacob Hermann Obereit ausführlich eingegangen.182 Im Blick auf die Ästhetik Schillers läßt sich auf dieser Grundlage festhalten, daß sich der Gedanke einer Versöhnung von Idealität und Realität, wie er ihn in seinen späteren ästhetisch-geschichtsphilosphischen Schriften auf der Grundlage der kritischen Philosophie Kants entwickelt, in die Zeit vor der Kantlektüre zurückverfolgen läßt. Einen Hinweis auf den Ursprung der Idee ästhetischer Versöhnung im mystischtheosophisch begründeten Einheitsstreben sowie auf die exklusive Struktur der auf diese Idee zu grundenden Gesellschaften, die an die von Obereit propagierte Gemeinschaft der Heiligen erinnert, gibt Schiller selbst, wenn er im abschließenden 27. Brief Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen den »Staat des schönen Scheins [...] wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln«183 bereits verwirklicht sieht.184 Unabhängig davon, ob und wann diese »Zirkel[/]« nach Schillers Auffassung als verwirklicht angesehen werden können,183 bleibt festzuhalten, daß sie analog zu den religiösen Gemeinschaften Obereits eine soziale Struktur aufweisen, die über eine bloß mechanistische Gesellschaftsorganisation hinausgeht und diese durch ihren vorbildlichen Charakter zu überwinden helfen soll. Im Falle Obereits war allerdings an eine umfassendere Versöhnung des Menschen sowohl mit seinem Schöpfer als auch mit der gesamten Schöpfung gedacht. Mit Hemsterhuis, Obereit und zahlreichen anderen Zeitgenossen bemühte sich bereits der junge Schil-
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Schwäbischen Magazin erschienen, die Schings auf diesen ideengeschichtlichen Hintergrund aufmerksam machte (s. dz. o., S. 256f.). Riedel leuchtete den Hintergrund näher aus und wies in diesem Zusammenhang u. a. auf die Bedeutung der Schriften Franz Hemsterhuis' für die voridealistische Versöhnungstheorie Schillers und ihre Begründung in der angenommenen Analogie von Liebe und Schwerkraft hin: Vgl. Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 195ff.; zur Iherarisierenden Hemsterhuis-Rezeption außerdem Hans-Joachim Mahl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 255ff. S. o., S. 256ff. Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 412. Vgl. dz. auch Friedrich Vollhardt: Natur, Recht, Staat, S. 92f. Auch Benno von Wiese sieht »[njoch in der späten ästhetischen Philosophie [...] die schwäbisch-pietistische Mystik eines Oetinger« nachwirken: Schiller und die Franzosische Revolution, S. 154. Vgl. dz. Eberhard Scheiffele: Welchen Stellenwert hat das Konzept von »einigen auserlesenen Zirkeln« im »Context des Ganzen« der Ästhetischen Briefe! In: Richard Fisher (Hg.): Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert Festschrift für Wolfgang Wittkowski zum 70. Geburtstag. Frankfurt/M. u. a. 1995 (Forschungen zur Literatur- und Kuhurgeschichte 52). S. 259-276. Insbesondere Scheiffeles Absetzung des >schönen Umgangs< Schillers von dessen höfischem Vorbild bedürfte jedoch der Konkretisierung durch die Unterscheidung zwischen dem zugrundeliegenden Modell, an dem sich Schüler weiterhin orientiert, und einer höfischen Praxis, die gerade aufgrund der Verbindlichkeit des Modells abgelehnt wird. Zum »Nebeneinander von scharfer Kritik an den Lebensformen der großen Weh und hoher Wertschätzung derselben«, das auf eben diese Unterscheidung zwischen gesellschaftsethischer Theorie und der Praxis höfischen Umgangs zurückzuführen ist, vgl. Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe, S. 236ff.
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ler um eine derartige Überbrückung der Kluft zwischen Natur- und Geisterwelt, und es dürfte erst die transzendentalphilosophische Wende Kants gewesen sein, die ihn diese Bemühungen auf das Gebiet der praktischen Philosophie beschränken ließ. Die angeführten ideengeschichtlichen Referenzen machen deutlich, daß auch beim jungen Schiller durchaus noch an eine wiederzugewinnende Einheit des Menschen mit der äußeren Natur im Rahmen einer umfassenderen metaphysischen Konzeption gedacht war. Diese Perspektive bestimmte auch Hemsterhuis' Wiederaufnahme des Mythos vom Goldenen Zeitalter und seine Integration in das triadische Geschichtsmodell von ursprünglicher Einheit und ihrer reflektierten Wiedergewinnung im Weg durch die Entzweiungen der Geschichte, an dem Schiller auch in nachkantischer Zeit weiter festhalten sollte. Schiller konzentrierte sich im Gefolge der Kantischen Vemunftkritik auf Fragen praktischer Philosophie. Dagegen blieb die umfassendere Perspektive von Hemsterhuis' Utopie des Goldenen Zeitalters bei anderen Zeitgenossen erhalten. Verfolgt man etwa die Rezeption dieses Gedankens bei Novalis,186 so wird unmittelbar deutlich, weshalb sich innerhalb der frühromantischen Dichtung keine Texte finden lassen, die im engeren Sinne auf die bukolisch-idyllische Tradition zurückzuführen sind: Zwar zeugen die Idyllen Geßners von einer unmittelbaren arkadischen Harmonie, die sich neben den >kleinen Gesellschaftern auch auf das Verhältnis der Menschen zur umgebenden Natur und ihren Gottheiten erstreckt. Aber die Wiedererlangung einer solchen Einheit hatte sich für die ästhetischen Konzeptionen der Frühromantik an den Ergebnissen der Reflexionskultur zu orientieren, die mittels des »Zauberstab[s] der Analogie«187 in neue, den Allzusammenhang versinnbildlichende Kombinationen zu bringen waren. Dies mußte ebenso wie die Bedeutung des Wunderbaren für das frühromantische Projekt dazu führen, daß den Romantikern dasjenige, was traditionell Idylle war, zum Märchen wurde.1*8 Die Idyllentheorie Friedrich Schillers zog diese Konsequenzen zwar nicht, weil sich mit ihrer Beschränkung auf Fragen von Pflicht und Neigung der harmonische Allzusammenhang auf soziale Aspekte eingrenzen ließ. Diese waren in dem traditionellen Rahmen der Idyllendichtung unterzubringen, wenn die oben angeführten Korrekturen vorgenommen wurden. Gleichwohl hält Schiller auch in der nachkantischen Reformulierung seines ästhetischen Harmonisierungskonzeptes an der Versöhnungsutopie des Goldenen Zeitalters sowie an ihrer Einbettung in ein triadisches Geschichtsmodell fest. Damit wurde die Idyllik mit einem übergreifenden Anspruch der Versöhnung gesellschaftlicher Teilexistenzen versehen, der die aufklärerische Komplementarität idyllischer und gesellschaftlicher Existenz ersetzte. 180 187 188
Vgl. ausführlich Hans-Joachim Mahl: Die Idee des goldenen Zettalters im Werte des Novalis. Novalis Werke. Hg. und kommentiert von Gerhard Schulz. Dritte Auflage. München 1987. S. 510. Vgl. dz. Hans-Joachim Mahl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 412f; außerdem Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 113ff.
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Die idyllische Kunst erfüllt im Rahmen der idealistischen Ästhetik Schillers die Aufgabe, den utopischen Zustand einer wiedererreichten Harmonie sowohl der menschlichen Kräfte als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse zur sinnlich faßbaren Darstellung zu bringen. Damit hat sie zugleich als Beleg für dessen Möglichkeit wie auch als Anreiz für dessen Realisierung zu dienen.189 Dieser Aufgabe genügt jedoch eine idyllische Dichtung nicht, die ihr Ideal im vorreflexiven Zustand der Natur ansiedelt, sondern allein diejenige, die das Ideal als künftig zu realisierendes zeichnet: Unter Berücksichtigung der Möglichkeiten einer Parallelisierung von Phylo- und Ontogenese190 läßt sich eine entsprechende Bemerkung Schillers gegen Ende des Idyllenabschnittes als Reaktion auf die kurz zuvor erschienene Wutz-Idylle Jean Pauls lesen: Er [der Dichter, CB] führe uns nicht rückwärts in unsre Kindheit, um uns mit den kostbarsten Erwerbungen des Verstandes eine Ruhe erkaufen zu lassen, die nicht länger dauren kann, als der Schlaf unsrer Geisteskräfte; sondern führe uns vorwärts zu unsrer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt191
Eine dem ästhetischen Programm Schillers entsprechende idyllische Dichtung hatte sich an den Ergebnissen der anthropologischen und sozialen Entwicklung zu orientieren. Sie hatte »jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung« zu realisieren und »den Menschen, der nun einmal nicht nach Arkadien zurückkann, bis nach Elisium« zu führen.192 Schiller selbst hatte eine olympische Idylle projektiert, deren Gegenstand »die Vermählung des Herkules mit der Hebe«193 sein sollte. Zur Ausführung dieses Projektes ist es gleichwohl nicht gekommen.194 Hierfür dürften nicht zuletzt die
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Vgl. dz. Wolfgang Riedel: »Der Spaziergang«, S. 67ff., lOlf. In diesem Sinne argumentiert auch Annemarie Gethmann-Siefert im Rückgriff auf Ernst Bloch gegen die von Kaiser und Sautermeister diagnostizierte Verlegung des Ausblicks von der Utopie in die Eschatologie: Idylle und Utopie. Zur gesellschaftskritischen Funktion der Kunst in Schillers Ästhetik. In: JbDSG 24 (1980). S. 32-67, insbes. S. 57ff. Vgl. außerdem Klaus L· Berghahn: Ästhetische Reflexion als Utopie des Ästhetischen. Am Beispiel Schillers. In: Utopieforschung, Band 3, S. 146-171. Vgl. dz. auch Wolfgang Riedel: »Der Spaziergang«, S. 68. Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 472. Ebd. (Hervorhebungen im Original.) Schiller an Wilhelm von Humboldt Zit nach NA, XXI, S. 306. Zu Schillers dramatischer Adaptation des Idyllischen im Wilhelm Teil, dessen »Idyllisierung der politischen Ideen der Französischen Revolution« jedoch nicht im Sinne des vorgestellten ästhetischen Programms erfolgte und dessen »Schluß [...] nicht Ziel und Ende der Geschichte, die elysische Idylle«, erreiche, vgl. Gerhard Kaiser: Idylle und Revolution. Schillers »Wilhelm Teil«. In: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien. Göttingen 1974. S. 87-128, Zitate S. 112, 110. Zum Eingang idyllischer Momente in das dichterische Werk Schillers vgl. außerdem Richard Knippel: Schillers Verhältnis zur Idylle, S. 70ff.; Horst Rüdiger: Schiller und das Pastorale. In: Euphorien 53 (1959). S. 228-251; Gert Sautermeister Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers; dazu auch Gerhard Kaiser: Von Arkadien nach Elysium. Zu Gert Sautermeisters »Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers«. In:
324 erheblichen systematischen Schwierigkeiten verantwortlich sein, die mit dem Idyllenprogramm Schillers verbunden waren.193 Diese implizierten u. a. ein praktisches Problem bezüglich des Schauplatzes der Idylle: Schiller selbst hatte auf den Grund dafür hingewiesen, daß sich auch zeitgenössische Idyllendichter an den arkadischen Schauplatz hielten, was nicht allein mit der verfeinerten Kultur zu tun habe, sondern auch damit, daß »diese Unschuld und dieses Glück mit den künstlichen Verhältnissen der großem Societal [... ] unverträglich schienen«196. In der neuen, einen Ausblick auf künftig mögliche Versöhnung bietenden Idylle waren nicht allein Bewußtseinszustände des Menschen zu harmonisieren, sondern zudem deren soziale Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Diese jedoch schienen sich gegen die Harmonisierungsversuche insofern zu sperren, als die Sozialstrukturen großer Gesellschaften nicht willkürlich geschaffen wurden, sondern sich aufgrund der quantitativen Ausdehnung der Gesellschaft im Interesse der effektiven Nutzung der Kräfte des einzelnen herausgebildet hatten. Sie waren daher ebensowenig willkürlich durch die vertraulichen Zirkel >kleiner Gesellschaftern zu ersetzen, ohne zugleich jenen Fortschritt gesellschaftlicher Verfeinerung preiszugeben, auf die Schiller keineswegs zu verzichten gedachte.197 Diese sozialtheoretisch zu reformulierende Aporie erscheint im Rahmen der Ausführungen Schillers Ueber naive und sentimentalische Dichtung als ungelöstes ästhetisches Problem. Dies bestätigt die Grundannahme der vorliegenden Arbeit über den engen Zusammenhang von ästhetischer Idyllen- und allgemeiner Sozialtheorie auch für diejenigen Positionen, die sich von der Komplementärkonzeption der Aufklärung abwandten und ebenso einen neuen Begriff des Idyllischen wie auch eine neue Vorstellung von den aktuell anzustrebenden sozialen Strukturen vertraten: Bevor Schiller sich weiteren Fragen im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung zuwendet, weist er im unmittelbaren Anschluß an die oben angeführte Forderung nach idyllischer »Ruhe der Vollendung« auf ein zentrales Problem seiner Idyllenkonzeption hin. Dieses besteht - ähnlich wie bei Kant - in der gleichzeitigen Anerkennung und Nutzung gesellschaftlicher Dynamik einerseits und ihrer Überführung in einen umfassend harmonisierten Zustand andererseits: Aber eben darum, weil aller Widerstand hinwegfällt, so wird es hier ungleich schwüriger [...], die Bewegung hervorzubringen, ohne welche doch Oberall keine poetische Wirkung sich den-
193
196 197
ZdP 91 (1972). S. 172-181; außerdem Ders.: Die Idee der Idylle in Schillers »Braut von Messina«. In: WW 21 (1971). S. 289-312. Zu den Gründen für die unterbliebene Ausführung von Schillers eigenem Idyllenprojekt vgl. Benno von Wiese: Friedrich Schiller, S. 547; Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 89ff.; Annemarie Gethmann-Siefert: Idylle und Utopie, S. 44ff. Auch Hans-Joachim Mahl spricht von der »Paradoxie der mtopischen Idylle< [...] als Ablösung der arkadischen Schäferdichtung« bei Schiller: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 404.
Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichutng, S. 467. An dieser Stelle gerät der gesamtgesellschaftliche Anspruch mit seiner Realisierung »in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln« (a. a. O.) in einen grundsätzlichen Konflikt, weil diese Zirkel zur Erhaltung ihrer eigenen Existenz auf die fortschrittsfördernden Momente einer differenzierten Gesellschaft angewiesen und insofern nur als exklusive Enklaven möglich sind
325 ken läßt Die höchste Einheit muß sein, aber sie darf der Mannigfaltigkeit nichts nehmen; das Gemüth muß befriedigt werden, aber ohne daß das Streben darum aufhöre. Die Auflösung dieser Frage ist es eigentlich, was die Theorie der Idylle zu leisten hat.198
Die Aporie der Ästhetik Schillers stellt sich als eine Folge des latenten Widerspruches dar, der bereits an der Konzeption Kants ablesbar war.199 Durch seine strikte Trennung zwischen Idealität und Realität und damit zugleich zwischen den Ebenen unbedingter und kontingenter Erkenntnis war Kant diesem drohenden Widerspruch begegnet und hatte seine Pole durch das epistemologische Konzept der regulativen Ideen< pragmatisch überbrückt. Daß der Widerspruch sich dann in einer Konzeption Geltung verschaffte, die antrat, eben diese Kluft innerhalb des Systems der Kantischen Transzendentalphilosophie zu überwinden, kann daher kaum verwundem. Daß er sich als ästhetischer präsentiert, ist der Bedeutung der Ästhetik für das idealistische Versöhnungsprojekt Friedrich Schillers geschuldet. Gleichwohl läßt er sich als sozialtheoretischer Widerspruch reformulieren und verweist damit auf den sozialen Führungsanspruch von Kunst und Künstler, der mit diesem Projekt verbunden war.200 Daß Schiller die »Auflösung« dieser grundlegenden, jedoch erst mit seiner Einführung eines neuen sozialen Geltungsanspruchs des Idyllischen auftretenden Frage der »Theorie der Idylle« ansinnt und nicht durch einen entsprechenden Beitrag zur idyllischen Dichtung selbst vollzieht, verdeutlicht schließlich, daß auch sein eigenes Scheitern an der elysischen Idylle der systematischen Oberforderung geschuldet war, mit der er die Gattung belastet hatte: Schillers Versuch einer Integration zentraler Traditionsbestände der Geselligkeitsdiskussion sowie seine Idee, ihnen allen durch die Überführung in eine Ästhetik gerecht zu werden, deren höchster Ausdruck im Idyllischen zu finden ist, trägt einer bis dahin als vorreflexiv bestimmten Gattung den Anspruch einer umfassenden Synthese an. Hatte diese Synthese jedoch bereits theoretisch eher die Gestalt eines Paradoxons, so trieb Schillers Anspruch die idyllische Dichtung in eine praktische Aporie, die sie aus den folgenden idealistischen Kunstprogrammen herausfallen lassen sollte. Hier läßt sich also ein weiterer Grund für das (vorläufige) Ende idyllischer Dichtung in der romantischen Literatur finden, der auf die enge Verbindung von Idyllen- und Sozialtheorie zurückzuführen ist: Die etwa von Friedrich Schlegel oder Friedrich Schleiermacher formulierten Neufassungen des Geselligkeitsgrundsatzes grenzten sich zwar - ebenso wie deren Realisierungsversuche im Rahmen der frühromantischen Gruppenkultur - scharf ab von der in Kants Theorem der >ungeselligen Geselligkeit kuhninierenden aufklärerischen Tradition. Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens stellte erstmals termi198
199 200
Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 473. (Hervorhebung im Original.) Diese Sätze lassen Horst Rüdiger nicht allein von den poetologischen Forderungen Schillers an die Idylle als einer »paradoxen Aufgabe«, sondern zudem von Schillers Idyllentheorie als »Fragment« sprechen: Schiller und das Pastorale, S. 241f. S.dz.o.,Anm.l50. Zur strukturellen Analogie zwischen den politisch-sozialen und den ästhetischen Positionen Schillers vgl. Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit, S. 103ff.
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nologisch dem aufklärerischen Gesellschqftskonzept dasjenige einer Gemeinschaft entgegen.201 Doch die auch dort harmonisierte, vom Eigennutz des einzelnen unabhängige Geselligkeit benötigte wie diejenige Schillers ein Moment der »Bewegung«, weil sie als Vehikel zur >Bildung< des Subjekts zu dienen hatte.202 Die gemeinschaftlich zu erreichende »Allwissenheit«203 ist jedoch mit der naiv-unmittelbaren Harmonie der idyllisch-bukolischen Tradition ebenso unvereinbar wie es die religiös motivierte Harmonie der idealen Gemeinschaften Jacob Hermann Obereits war.204 Die romantische Gemeinschaft als reflexive Einheit von Subjekten, die sich in einem unendlichen Prozeß wechselseitig aneinander steigern, erfordert jene Gleichzeitigkeit von Harmonie und Bewegung, die bereits Schiller nicht mehr im Rahmen der bukolisch-idyllischen Tradition unterzubringen in der Lage war. Sowohl dem umfassenderen Harmonisierungsanspruch als auch dem Weg, auf dem diese Harmonie zu erreichen sein sollte und der nachhaltige Konsequenzen für die Struktur der >kleinen Gesellschaftern der Romantik zeitigte, war im Rückgriff auf diese Tradition nicht gerecht zu werden. Nur wenig später sollte Johann Wolfgang Goethe eine mögliche Lösung dieser ebenso ästhetischen wie sozialen Aporie vorlegen, in der er sich um eine theoretisch weniger hochgespannte Vermittlung zwischen dem gesellschaftlichen Fortschrittsprinzip und der Forderung nach Harmonie und Ruhe bemühte. Allerdings wird sich im folgenden zeigen, daß Goethe dies im Rückgriff auf aufklärerische Geselligkeitsmodelle sowie unter Zurückweisung des umfassenden Harmonisierungskonzeptes Schillers tat. Im ersten Teil seiner schließlich nicht fortgesetzten Ästhetischen Versuche (1798) preist Wilhelm von Humboldt allerdings noch eine Dichtung, die den Forderungen Schillers aus seiner Sicht offenbar sehr nahekam, an deren Figuren er jedenfalls das »Uebergewicht der ursprünglichen Natur über die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten, der natürlichen Kräfte über die Cultur«, hervorhebt. Die Abhandlung befaßt sich jedoch an keiner Stelle ausdrücklich mit Friedrich Schiller, sondern handelt allein Ueber Göthes Herrmann und Dorothea™ Hum201
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204 203
S. dz. o., S. 3ff. Die Spezifik der frühromantischen Gruppenkultur wird in der Forschung recht unterschiedlich charakterisiert: Wahrend Otto Dann Ansätze zu »assoziativ-offene[n] und tendenziell demokratische[n] Gesellschaftsformen« sieht (Gruppenbildung und gesellschaftliche Organisation in der Epoche der deutschen Romantik, S. 117), stellt Wolfram Mauser das »neue Einheitsdenken« den »aufgeklärt-liberalen Geselligkeitsvorstellungen« entgegen (Geselligkeit, S. 32). Gerhard Kurz schließt sich der Auffassung Danns zwar ausdrücklich an (vgl. Das Ganze und das Teil, S. 95), betont jedoch im Bezug auf Schiller zugleich den entgegenstehenden ganzheitlichen Anspruch, denn »[v]om Ganzen und in sich Vollendeten läßt sich nur schwer ein Weg zur Gesellschaft finden« (ebd., S. 98). Vgl. dz. Friederike Rese: Republikanismus, Geselligkeit und Bildung. Zu Friedrich Schlegels »Versuch über den Begriff des Republikanismus«. In: Athenäum 7 (1997). S. 37-71. Ebd., S. 67. S.o.,S.260f Vgl. Wilhelm von Humboldt: Ästhetische Versuche. Erster Theil. Ueber Göthes Herrmann [!] und Dorothea. In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Band II. Darmstadt 41986. S. 125-356, Zitat S. 337. Vgl. dz. ausführlich Kurt Müller-Vollmer: Poesie und Einbildungskraft. Zur Dichtungstheorie Wilhelm von Humboldts. Mit der zweisprachigen Ausgabe eines Aufsatzes Humboldts an Frau von Stael Stuttgart 1967. S. 39ff.; außerdem
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boldt feiert Goethes Werk als Wiederbelebung des klassischen Epos, dessen Verfasser es verstanden habe, allgemeines Schicksal und natürliche Individualität so miteinander in Beziehung zu setzen, »dass jedes wohlthätig auf das andre zurück und beides zu höherer allgemeiner Vollkommenheit zusammenwirkt«20*. Dadurch sei ihm eine »überraschend schöne Vereinigung der wesentlichsten Vorzüge der alten Kunst mit den Fortschritten und Verfeinerungen neuerer Zeiten«207 gelungen. Humboldt hält also jene soeben anhand der idealistischen Ästhetik Schillers herausgearbeitete Aporie durch den synthetisierenden Zugriff Goethes für überwunden. Unter den zeitgenössischen Bedingungen waren die nötigen Voraussetzungen für ein heroisches Epos aus der Sicht Humboldts nicht mehr gegeben, in denen der epische Dichter »seinen Stoff aus demjenigen Theil der Gesellschaft hernehmen [muß], in welchem die ursprüngliche Natur noch die Cultur überwiegt, und ihn überhaupt mehr im bürgerlichen als im öffentlichen aufsuchen«20* muß. Daher weist er dem Werk Goethes - analog zum Bürgerlichen Trauerspiel - die Gattungsbezeichnung »bürgerliche Epopee«209 zu. Für ein angemessenes Verständnis dieser Einordnung des Werkes durch Humboldt ist die Bedeutung des Terminus bürgerlich entscheidend. Gegen Versuche, ihn im Sinne einer Standesauseinandersetzung zu lesen,210 ist auf die von Humboldt selbst konkretisierend angefügte Antithese zurückzugreifen: Bürgerlich wird von ihm nicht etwa abgesetzt von adelig, sondern ausdrücklich von öffentlich. Es handelt sich um die Verlagerung der sozialen Konfliktregulierung von der großen Bühne staatlicher Repräsentation auf diejenige der konkreten Sozialbeziehungen von Familie, Nachbarschaft und kleinstädtischer Gesellschaft, die als Prototyp ebenso modemer wie traditioneller Geselligkeit vorgeführt werden. Die Ausführungen des folgenden Abschnittes werden die Angemessenheit der Charakterisierung Humboldts in diesem Fall deutlich zu machen haben.
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Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. I: 1773-1918. München 1980. S. 54f. Goethe selbst stand Humboldts Abhandlung kritisch gegenüber. Heinz Heimerking, der gar von einer Verstimmung Goethes gegenüber Humboldt als Folge ihres Erscheinens spricht, gibt jedoch keinen Grund hierfür an; vgl. Hermann und Dorothea. Entstehung, Ruhm, Wesea Zürich 1948 (Goethe-Schriften im Artemis-Verlag Zürich 4). S. 54. Zur kritischen Aufnahme der Schrift sowohl durch Schiller als auch durch Goethe vgl. auch die Geschichtlichen Vorerinnerungen Hermann Hettners in: Wilhelm von Humboldt's Aesthetische Versuche über Goethe's Hermann und Dorothea. Dritte Auflage. Mit einem Vorwort von Hermann Hettner. Braunschweig 1861. S. V-XVHI, insbes. S. XVff. Wilhelm von Humboldt: Ueber Göthes Herrmann und Dorothea, S. 303. Ebd., S. 217. Ebd., S. 342. Vgl. ebd., S. 300. (Hervorhebung im Original.) Vgl. dz. auch Maria Lypp: Ästhetische Reflexion und ihre Gestaltung in Goethes »Hermann und Dorothea«. Diss. Berlin/West S. 24. Vgl. etwa Hans Norbert Fügen: Stabilität und Wandel in Goethes bürgerlichem Epos. In: Ders.: Dichtung in der bürgerlichen Gesellschaft. Sechs literatursoziologische Studien. Bonn 1972 (Bouvier disputanda 2). S. 14-27, insbes. S. 15f.
328 Der historisch akzentuierten gattungstheoretischen Analyse, der sich noch Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik weitgehend anschließen sollte,211 fugt Humboldt eine geschichtsphilosophisch untermauerte historische Verortung des Goethe-Textes an, die sich des triadischen Geschichtsschemas Schillers bedient und ein entsprechendes Ziel der menschlichen Geschichte formuliert: In dem Augenblick [...], da der Mensch Cuttur sucht, muss er ihr auch entgegenarbeiten, in dem Augenblick, da er, das Gebiet der blossen Natur verlassend, in ihr Gebiet hinübertritt, beginnt für ihn ein Kampf, der nicht eher geendigt ist, als bis er sie mit der Natur in Uebereinstimtnung gebracht hat [...] Die ursprüngliche und lebendige Kraft muss also durch die Cultur sich bereichem, dagegen aber ihrer unbestimmten Tauglichkeit ein bestimmtes Ziel geben und das Todte nach und nach in Leben verwandeln. Nur so wird der cultivirte (bloss bearbeitete) Mensch von dem bloss natürlichen zum gebildeten?12
Wenn er Hermann und Dorothea auch nicht den Status einer Idylle zubilligt,215 so behandelt Humboldt es doch nicht nur mit Hilfe der von Schiller zur Verfügung gestellten Kategorien, sondern weist ihm als Darstellung eines Ideals der Einheit auch einen besonders prominenten Platz innerhalb der zeitgenössischen Dichtung zu. Gleichwohl bezeichnet die von Humboldt hervorgehobene Einheit nicht ausschließlich diejenige, die Schiller anstrebte, sondern in die Harmonie von Natur und Kultur (wobei bei Humboldt in bezug auf die Figuren Goethes von einem Oberwiegen der Natur über die Kultur die Rede ist)214 tritt konstitutiv diejenige von Schicksal und individuellem Handeln. Ob es daher angemessen ist, Humboldts Abhandlung als »Synthese der theoretischen Erörterungen Schillers, angewendet auf Goethes Idylle«213, zu bezeichnen, erscheint zweifelhaft. Hermann Hettners Charakterisierung der Schrift dürfte ihrem Verhältnis zu den poetologischen Vorlagen Schillers und Goethes gerechter werden: Hettner versteht die Abhandlung als einen - ausdrücklich als solchen gekennzeichneten - »Versuch« Humboldts, »alle die mannichfachen und tiefergreifenden Eindrücke und Anregungen, welche er seit Jahren von Schiller und in den letzten Monaten von Goethe bekommen hatte, selbstgestaltend zu 211
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Der allerdings statt von einer »bürgerliche[n] Epopee« davon sprach, daß »das Epos idyllisch geworden« sei: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Frankfurt/M. 1986 (Werke 15). S. 414. (Hervorhebung im Original.) S. dz. u., S. 355ff. Vgl. dz. auch Maria Lypp: Ästhetische Reflexion und ihre Gestaltung in Goethes »Hermann und Dorothea«, S. 32; sowie Michael Latzeier: Hermann und Dorothea (1797). In: Goethes Erzahlwerk. Interpretationen. Hg. von dems. und James E. McLeod Stuttgart 1985 (RUB 8081). S. 216265,hierS.240f. Wilhelm von Humboldt: Ober Göthes Herrmann und Dorothea, S. 339f. (Hervorhebungen im Original.) Was wiederum für Schiller neben der bemühten Paraphrase seiner geschichtsphilosophischen und ästhetischen Theorie, in der doch gerade dem Idyllischen zentrale Funktion für die Erfüllung des universalen Auftrags der Kunst zugesprochen wird, einen Grund zur Ablehnung der Schrift dargestellt haben mag: Vgl. Heinz Heimerking: Hermann und Dorothea, S. 54ff. Goethe selbst schwankte in der Bezeichnung seines Textes: Bis Ende September 1796 sprach er von ihm als »Idylle« bzw. als »große Idylle«, später dann als »episches Gedicht«, gelegentlich auch als »idyllisch-episches Gedicht«; vgl. u. a. ebd., S. 28. A.a.O. Klaus Bernhard: Idylle, S. 46.
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fester Einheit zusammenzuschliessen«216. Statt als »Synthese« läßt sich Humboldts Ansatz auf diese Weise als Ergänzung der theoretischen Vorgaben Schillers durch die poetische Praxis Goethes verstehen. Damit läßt sich nunmehr ein tiefer liegender Grund für die Ablehnung der Schrift ebenso durch Goethe wie durch Schiller angeben: Humboldt ist darum bemüht, Goethes Dichtung und Schillers Theorie zueinander in ein harmonisches Verhältnis zu setzen, und glättet dabei die Differenzen zwischen beiden in einer Weise, daß sich im Ergebnis weder der Dichter Goethe noch der Theoretiker Schiller mit dem Ergebnis zu identifizieren vermochte.117 Daß zwischen den ästhetischen ebenso wie zwischen den gesellschaftlichen Konzeptionen, die hinter den Schriften Schillers und Goethes stehen, zum Teil durchaus erhebliche Differenzen bestehen, sei in der Folge anhand der Aufnahme idyllischer Momente in das bürgerliche Epos< Goethes dargelegt,"8 um auf diese Weise zugleich den 214
117
218
Hermann Hettner: Geschichtliche Vorerinnerungen, S. EX. Zur »Doppelaufgabe« der Schrift einer »Beweisführung, daß hier ein Kunstwerk der höchsten Art vorliege«, einerseits sowie deren Erweiterung zu einer »Elementar-Ästhetik« andererseits vgl. ebd., S. Xff. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß Hettner mit der Interpretation von Humboldts Aesthetischen Versuchen den eigenen Zweck einer sprachtheoretischen Fundierung der Ästhetik insbesondere gegen den Erkenntnisbegriff Hegels verband und insofern von einer »konzeptionellen und methodischen Affinität« zwischen seinen eigenen Auffassungen »und der Humboldtschen Kunst- und Sprachtheorie« ausging. Vgl. dz. ausfuhrlich Michael Schlott: Hermann Hettner, S. 150-159, Zitat S. 158. Darauf; daß sich Hettner für sein Projekt zwar auf die Sprachtheorie Humboldts, weniger jedoch auf dessen eigene Aesthetische Versuche berufen konnte, wies bereits Karl Tomaschek hin: Vgl. [Rez.:] Wilhelm von Humboldt's aesthetische Versuche Ober Goethe's Hermann und Dorothea. Dritte Auflage. Mit einem Vorwort von Hermann Hettner. Braunschweig, Vieweg u. Sohn, 1861. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 13 (1862). S. 619629,insbes. S. 621 ff Die Verfehlung sowohl des auf historische Konkretion gerichteten Interesses Goethes als auch der idealistischen Abstraktionen Schillers durch Humboldts Abhandlung betonte bereits Rudolf Alexander Schröder: Zu Hermann und Dorothea. [1941] In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Zweiter Band: Die Aufsätze und Reden. Erster Band. Frankfurt/M. 1952. S. 561-582. Wie sehr diese von Humboldt eingeführte Perspektive gleichwohl die Rezeption von Hermann und Dorothea im 19. Jahrhundert prägen sollte, wäre eine eigene Studie wert Vgl. dz. etwa Viktor Hehns posthum veröffentlichte Untersuchung Ueber Goethes Hermann und Dorothea, die zwar Humboldts Versuch im Windschatten der Urteile Goethes und Schillers ablehnt, in seinen allgemeinen einleitenden Charakterisierungen dem xüchterischen Charakten Goethes aber dennoch das synthetisierende Einheitsstreben Schillers unterlegt, weil ihm der »Zustand, wo die Pflicht mit der Neigung, der moralische Wille mit dem natürlichen Triebe nicht zusammenstimmt, [...] unerträglich« gewesen sei: Viktor Hehn: Ueber Goethes Hermann und Dorothea. Aus dessen Nachlaß hg. von Albert Leitzmann und Theodor Schiemaim. Zweite verbesserte Auflage. Stuttgart 1898. [ 893] S. 24. Die Bedeutung der Abhandlung Hehns für den »Siegeszug [von Hermann und Dorothea] in Schule und Öffentlichkeit als Paradigma deutscher Gesinnung« betont Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland, Bd. I, S. 152. Entsprechende Klarstellungen liegen in bezug auf weitere Goethe-Texte - im wesentlichen die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten - bereits vor: Vgl. u. a. Wulf Segebrecht: Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen. In: GRM N. F. XXV (1975). S. 306-322; insbes. S. 310ff; Bernd Bräutigam: Die ästhetische Erziehung der deutschen Ausgewanderten. In: ZdP 96 (1977). S. 508-539; Peter Pfaff: Das /Toren-Märchen. Eine Replik Goethes auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel zu seinem 60. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern und hg. von Herbert Anton u. a. Heidelberg 1977. S. 320-332; Ulrich
330 vorgestellten Ansätzen Jean Pauls und Schillers ein drittes Modell der Adaptation bukolischer Traditionen in der Ästhetik >um 1800< an die Seite zu stellen.
4.2 Hermann und Dorothea: Goethes ndyllisches Epos< als poetisches Gegenkonzept zur Theorie der ästhetischen Versöhnung Wie für die theoretischen Schriften Schillers, in denen dieser die politischsozialen Aporien der Zeit durch ästhetische Harmonisierung zu lösen bestrebt war, so stellt auch für Goethes Hermann und Dorothea die Französische Revolution und ihr Verlauf den historischen Hintergrund dar.219 Auch Goethe greift vor diesem Hintergrund auf das klassische Forminventar erzählender Dichtung zurück, und auch für ihn kommt dem Idyllischen hierbei besondere Bedeutung zu. Die nahezu zeitgleich verfaßte Elegie Alexis und Dora sowie das Achilleis-Fragment zeugen von Goethes Interesse an einer Verbindung von klassischer Form und modernem Gehalt. Für das Gelingen dieser Vermittlung in Hermann und Dorothea spricht nicht allein der Beifall unter den Zeitgenossen, für den die angeführte Untersuchung Humboldts lediglich ein Beispiel darstellt. Durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch blieb das Werk darüber hinaus Gegenstand einer national identifikatorischen Rezeption. Für diese wird jedoch im folgenden zu zeigen sein, daß ihr von Goethe zwar zentrale Stichworte vorgegeben worden waren, daß diese jedoch aus der Gesamtkomposition gelöst werden mußten, sollten sie geeignet sein, die Identitätsstiftung eines Nationalepos zu übernehmen.210 Die Rezeption des Werkes im Sinne einer Begründung des deutschen Nationalcharakters erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg eine grundlegende Revision. Dabei lassen sich zwei Wege unterscheiden, auf denen versucht wurde, mit der (vermeintlich) affirmativen Rezeptionsgeschichte zu brechen: Das Werk ließ sich ideologiekritisch nach seiner Funktion für einen verhängnisvollen deutschen >Sonderweg< im 19. und frühen 20. Jahrhundert befragen, um in der Haltung seines Verfassers zur Französischen Revolution einen Auftakt zu dieser Entwicklung zu identifizieren.221 Eine Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Werk-
219
220 221
Gaier: Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der >Unterhahungen< als satirische Antithese zu Schillers »Ästhetischen Briefen« - . In: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Hg. von Helmut Bachmaier und Thomas Rentsck Stuttgart 1987. S. 207-272; Gerhard Kurz: Das Ganze und das Teil, insbes. S. 106ff; Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 334ff. Zum poetischen Geselligkeitskonzept der Unterhaltungen vgl. zuletzt auch Emanuel Peter: Geselligkeiten, S. 290ff. So las es etwa Richard Samuel als erfolgreichen »Versuch, die Revolution künstlerisch zu bewältigen«, »die klassische Kunst- und Lebensanschauung mit dem Hauptproblem seiner Zeh, der Französischen Revolution zu integrieren«: Goethes Hermann und Dorothea. In: Publications of the English Goethe Society. New Series XXXI (1961). S. 82-104, Zitate S. 85. Nahezu wörtlich schließt sich noch 1985 Carl Otto Conrady diesem Befund an: vgl. Goethe. Leben und Werk. 2. Band: Summe des Lebens. Königstein/Ts. 1985. S. 173. S. dz. u., S. 356fF. In dieser Weise verfuhr zuletzt noch Klaus Garber: Idylle und Revolution. (S. dz. auch u., S. 342.)
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gehalt und ideologisierender Rezeption bot dagegen die Betonung von Textsignalen, die von einer Relativierung der modellhaft vorgeführten deutschen Kleinstadtgesellschaft zeugten. Die Ironie Goethes ließ sich auf diese Weise gegen die fehlgeleitete Rezeption eines affirmativ verkürzten Textgehaltes ins Feld fuhren.222 Erst in den letzten Jahren sind Bemühungen erkennbar, Hermann und Dorothea als poetische Antwort Goethes auf die soziale Problemlage im Umfeld der Französischen Revolution erneut ernst zu nehmen, dabei jedoch zu betonen, daß es sich um ein komplexes Modell menschlicher Sozialität handelt, das seine Pointe keineswegs in der Schlußrede Hermanns mit ihrem Plädoyer für eine politische Selbstbeschränkung des Bürgertums sowie für einen wehrhaften Nationalismus findet.213 Dieser interpretatorische Neuansatz läßt sich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Untersuchungen stützen: Der systemtheoretische Rahmen ermöglicht eine Neuformulierung der sozialen Problemlage, auf die Goethe eine Antwort zu geben beansprucht. Die aufklärerische Idyllentheorie auf der Grundlage der ausführlich verfolgten sozialanthropologischen Differenzierungen stellt zudem einen literar- und sozialhistorischen Kontext zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich der Entwurf Goethes in den zeitgenössischen poetologischen und sozialtheoretischen Konstellationen neu verorten läßt. In ihrer Bewertung der Geschehnisse im revolutionären Frankreich stimmten Schiller und Goethe weitgehend überein. Für Goethe, der die Geschehnisse der Revolution durch seine Figuren - im wesentlichen durch den Richter als Leiter des Flüchtlingstrecks - unmittelbar kommentieren läßt,124 folgte aus den Ereignissen eine neue, besondere Aktualität, die den natürlich-geselligen Neigungen (Liebe, Freundschaft, Dienst am Nächsten) in dem Moment wieder zukommen mußte, in dem die über Eigennutz vermittelten Gesellschaftsbande ihre friedenssichemde Stabilität verloren hatten: Die Revolution, die zunächst angetreten war »[ajufzulösen das Band, das viele Länder umstrickte, [/] Das der Müßiggang und der Eigennutz in der Hand hielt«,225 hat die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können. Wie in der Analyse Schillers beförderte sie vielmehr auch für 332
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Zur Ironie von Hermann und Dorothea vgl. u. a. Frank G. Ryder, Benjamin Bennett: The Irony of Goethe's Hermann und Dorothea: Its Form and Function. In: Publications of the Modern Language Association of America 90 (I97S). S. 433-446; Jane K. Brown: Schiller und die Ironie von Hermann und Dorothea. In: Goethezeit, S. 203-216. Grundsätzliche Einwände erhob dagegen Karl Eibl: Anamnesis des Augenblicks. Goethes poetischer Gesellschaftsentwurf inHermann und Dorothea. In: DVS 58 (1984). S. 111-138, insbes. S. 127ff. Vgl. hierzu etwa Hans Geulen: Goethes >Hermann und Dorothea«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1983. S. 1-20; Karl Eibl: Anamnesis des Augenblicks; Gerhard Kluge: »Hermann und Dorothea«. Die Revolution und Hermanns Schlußrede - zwei »schmerzliche Zeichen«? In: Goethe-Jahrbuch 109 (1992). S. 61-68; Wolfgang Wittkowski: Homo homini lupus. Homo homini deus. Ethische Theodizee in Goethes »Hermann und Dorothea«. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993). S. 261-274; sowie Gerhard Kaiser: Französische Revolution und deutsche Hexameter. Goethes Hermann und Dorothea nach 200 Jahren. Ein Vortrag. In: Poetica 30 (1998). S. 81-97. Vgl. dz. zuletzt Gerhard Kluge: »Hermann und Dorothea«. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea. In: HA, II, S. 437-514. 6. Gesang, V. 12f.
332 Goethe einen ungebundenen Eigennutz, der durch die Auflösung des Staates alle seine disziplinierenden Bande verlor: Aber der Himmel trübte sich bald. Um den Vorteil der Herrschaft Stritt ein verderbtes Geschlecht, unwürdig das Gute zu schaffen. Sie ermordeten sich und unterdrückten die neuen Nachbarn und Brüder und sandten die eigennützige Menge.226
Diese Einschätzung entspricht nahezu wörtlich derjenigen Schillers in seinen Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, nach der »der freygebige Augenblick« der Französischen Revolution »ein unempfängliches Geschlecht« gefunden habe.227 Allerdings setzt Goethe im Vergleich zu Schiller einen etwas anderen Akzent, indem er sein Augenmerk anläßlich des Flüchtlingstrecks aus den linksrheinischen Gebieten eher auf die außenpolitischen Folgen der Staatsumwälzung (bzw. -auflösung) richtet. Der Richter hatte die Ereignisse der Revolution zuvor mit begeisterten Worten »als eine Art Pfingstereignis«228 geschildert: Denn wer leugnet es wohl, daß hoch sich das Herz ihm erhoben, Ihm die freie Brust mit reineren Pulsen geschlagen, Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob, Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei, Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit! Damals hoffte jeder sich selbst zu leben; es schien sich Aufzulösen das Band, das viele Länder umstrickte, Das der Müßiggang und der Eigennutz in der Hand hielt Schauten nicht alle Völker in jenen drängenden Tagen Nach der Hauptstadt der Welt, die es schon so lange gewesen Und jetzt mehr als je den herrlichen Namen verdiente? Waren nicht jener Männer, der ersten Verkünder der Botschaft, Namen den höchsten gleich, die unter die Sterne gesetzt sind? Wuchs nicht jeglichem Menschen der Mut und der Geist und die Sprache?229
Mit diesen Worten bestätigt der Richter nicht allein die Rolle als zugleich geistlicher und weltlicher Führer einer Gemeinde auf den Spuren der biblischen Stammväter, wie sie ihm im vorangegangenen Gesang vom Pfarrer zugeschrieben worden war.230 Zudem wird die folgende Schilderung nachrevolutionärer Gewalt um so »[s]chrecklicher, weil auch uns die schönste Hoffnung zerstört ward«231, und Goethe macht deutlich, daß auch nach einem derartigen - ob nun religiös, politisch oder wie bei Schiller ästhetisch motivierten - »Pfingstereignis« weiterhin mit der triebhaften Selbstbezüglichkeit des Menschen zu rechnen ist: 224 227 221
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Ebd.,6.Gesang,V.40ff. Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 319. Gerhard Kaiser: Französische Revolution und deutsche Hexameter, S. 87. Ahnlich bereits Wolfgang Martens: Halten und Dauern? Gedanken zu Goethes >Hermann und Dorotheas In: Verlorene Klassik?, S. 79-93, hier S. 91f. Vgl. außerdem Eberhard Mannack: Bedrohte Idylle. Zu Goethes >Hermann und Dorotheas Mit einem Beitrag von Hermann und Dorothee Kalepky [...]. Goethe-Gesellschaft Kiel. Jahresgabe. Kiel 1988. S. 6ff. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 6. Gesang, V. 6ffi S. dz. u., S. 349f. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 6. Gesang, V. 5.
333 Was bei Schiller der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung des Menschen zur »Totalität des Charakters« geschuldet ist, so daß ihm mit einem Erziehungskonzept begegnet werden kann, erscheint in der Interpretation Goethes als anthropologische Konstante."2 Bei aller Einigkeit in der Bewertung des konkreten historischen Ereignisses der Revolution verweist diese Skepsis Goethes auf einen weiterhin bestehenden fundamentalen Unterschied gegenüber der politischen Haltung Schillers. Dieser Dissens laßt sich auf unterschiedliche anthropologische Grundsätze zurückfahren: Stand Schiller dem Ziel der Revolution, der Schaffung des moralischen Staates, nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, sondern lediglich in diesem konkreten Fall, in dem die anthropologische Entwicklung mit der politischen nicht Schritt zu halten vermochte, so ist Goethes Verhältnis zur Revolution von grundsätzlicher Skepsis gegenüber einer >Experimentalpolitik< geprägt, in der die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Ordnung einer vorgefaßten Vernunftidee entsprechend gestaltet werden soll.233 Schillers Zuversicht bezüglich der Möglichkeit einer Versöhnung von Ideal und Realität teilt Goethe nicht. Seine von Dieter Borchmeyer im Anschluß an die Typologie Klaus Epsteins als »Reformkonservatismus«234 bezeichnete Haltung ist vielmehr an einem politischen Grundsatz orientiert, der kein apriorisches Prinzip zur Beherrschung der kontingenten Wirklichkeit kennt, sondern von der Unvergleichbarkeit empirischer Einzelsituationen ausgeht.233 Damit halten sich bei Goethe auch die politischen Grundansichten im Rahmen der rhetorischen Decorumlehre,23* deren pragmatischen Teil er im Unterschied zu Schiller nicht durch einen Akt umfassender ästhetischer Versöhnung überflüssig zu machen gedenkt. Angesichts des Verlaufs der Revolution, der manchen enthusiastischen Freiheitsfreund entmutigte, gibt es für Goethe keinen Anlaß zur Resignation, sondern vielmehr zur Hoffnung auf Regeneration. Diese Hoffnung wird dadurch genährt, 232
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Zu Goethes »Mißtrauen gegen die menschliche Natur« als Grund seiner Revolutionskritik vgl. Klaus Garber: Idylle und Revolution, S. 79; sowie Jochen Schmidt: Gesellschaftliche Unvernunft und Französische Revolution in Goethes >FaustAuerbachs Kellen und >HexenkücheExperimentalpolitik< der Revolution eine eigene, poetische Experimentalpolitik« im Rekurs auf die >Natur< der sozialen Beziehungen entgegensetzen ließ, vgl. Karl Eibl: Anamnesis des Augenblicks, S. 112ff. (Vgl. überdies Maria Lypps Hinweis auf den auch »ästhetisch-experimentatorische[n] Charakter des Gedichts«: Ästhetische Reflexion und ihre Gestaltung in Goethes »Hermann und Dorothea«, S. 11.) Eibl, der in diesem Zusammenhang ebenfalls auf den »theoretischen Anstoß« hinweist, den Goethe »Justus Möser zu verdanken haben« dürfte, geht jedoch nicht auf das ursprüngliche Prinzip der nachbarschaftlichen Hilfe ein, sondern betont die ordnungsstiftende Funktion der >»natürliche[n]< Formen der Arbeitsteilung«, die jedoch ergänzt werden müßten durch eine »Einigung darüber, wessen Willen man sich im Streitfalle unterwirft« (ebd., S. 114f). Diesen Gedanken führt er gewiß zu recht auf die »von Hobbes ausgehende Denktradition« zurück (ebd., S. 114), spart aber die naturrechtlichen Differenzierungen dieser Tradition im Anschluß an Samuel Pufendorf aus, in die der Text unter Berücksichtigung des Verweises auf die ursprüngliche, keineswegs erst aus dem >Krieg aller gegen alle< hervorgehende Not des Menschen zu stellen ist Auf dieser Grundlage nimmt Goethe neben dem >rohen< eigennützigen ein ebenso ursprüngliches Interesse an gegenseitiger Hilfeleistung an. Als »eine Art moralischer Naturkatastrophe« liest auch Gerhard Kaiser Goethes Darstellung des Revolutionsgeschehens, was angesichts der hierfür verantwortlich gemachten eigennützigen Natur des Menschen angemessen erscheint: Französische Revolution und deutsche Hexameter, S. 89. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 7. Gesang, V. 89f. Schließlich werden Hermann und Dorothea auch mit den Ringen der Eltern Hermanns verlobt, wodurch ihre Verbindung als Erneuerung derjenigen gekennzeichnet wird, die Vater und Mutter in einer ver-
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Auch hier unterscheidet sich die Position Goethes deutlich von derjenigen Schillers: Diesem waren die Auswirkungen der Revolution, die den gesellschaftlichen Zusammenhang insgesamt gefährdeten, zwar ebenfalls als ungebändigter Eigennutz erschienen. Er hatte daraus jedoch den Schluß gezogen, den auf das einzelne gerichteten, entfesselten Stoff- zuvor mit dem am Allgemeinen orientierten Formtrieb in einem ästhetischen Akt zu versöhnen, bevor auf dieser Grundlage mit einer politischen Revolution wahre Freiheit verwirklicht werden könne.141 Die Einsicht in das Scheitern der Übertragung eines geistgeborenen, der Allgemeinheit des Freiheitsbegriffs folgenden politischen Universalismus folgt bei Goethe noch den Kategorien der Schillerschen Unterscheidung zwischen dem moralischen und dem physischen Menschen, wenn er seinen Richter resignierend feststellen läßt: Möchte' ich den Menschen doch nie in dieser schnöden Verimmg Wieder sehn! Das wütende Tier ist ein besserer Anblick. Sprech' er doch nie von Freiheit, als könnt' er sich selber regieren! Losgebunden erscheint, sobald die Schranken hinweg sind, Alles Böse, das tief das Gesetz in die Winkel zurücktrieb.242
Doch statt der von Schiller konzipierten Überbietung des politischen durch einen ästhetischen Universalismus läßt Goethe seinen Pfarrer diesem Befund die besagte Rückbesinnung auf die persönlich-unmittelbaren Beziehungen zwischen einzelnen Menschen entgegenhalten: Manches Treffliche, das verborgen bleibt in dem Herzen, Regt die Gefahr es nicht auf, und drängt die Not nicht den Menschen, Daß er als Engel sich zeig', erscheine den ändern ein Schutzgott243
Schillers Hoffnung ist auf die Zukunft der zu verwirklichenden Sittlichkeit des Menschen gerichtet. Dagegen setzt Goethe Vertrauen in dessen natürlich-mora-
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gleichbaren Situation eingegangen waren: Vgl. ebd., 9. Gesang, V. 240ff.; sowie Gerhard Kaiser: Französische Revolution und deutsche Hexameter, S. 92ff. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Schiller jedoch keine poetische Umsetzung seiner geschichtsphilosophischen Neufassung des Idyllischen im Sinne eines solchen versöhnenden ästhetischen Aktes vorlegte (s. o., S. 323ff.). Gert Sautermeister identifiziert das Prinzip »kontrapunktischer Spiegelung« von Goethes Hermann und Dorothea, »in der geschichtliche Gefahrdung durch den Aspekt idyllischen Glücks und idyllisches Glück durch den Aspekt geschichtlicher Gefährdung gesteigert hervortritt«, als Vorbild für den Eingang des Idyllischen in das dramatische Gestaltungsprinzip Schillers: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers, S. 17. Auf die enge »Verwandtschaft von Schillers Bildungsabsichten mit denjenigen Goethes« (ebd., S. 191) schließt er jedoch auf der Grundlage der theoretischen Schriften Schillers, was angesichts der folgenden Überlegungen nicht aufrecht zu erhalten sein dürfte. Vgl. dz. auch Gerhard Kaiser: Idylle und Revolution, S. 114ffi, der die Vergleichbarkeit der Idyllenkonzeption in Schillers Wilhelm Teil und Goethes Hermann und Dorothea u. a. unter der Voraussetzung herausarbeitet, daß diese den theoretischen Forderungen Schillers nicht entspricht. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 6. Gesang, V. 76ff. Ebd., 6. Gesang, V. 86ff. Vgl. dz. zuletzt ausführlich Wolfgang Witlkowski: Homo homini lupus. Dies entspricht weitgehend dem Befund, zu dem Wulf Segebrecht in seinem Vergleich des //oren-Programms Schillers mit dem Erzählrahmen von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter gelangt: Vgl. Geselligkeit und Gesellschaft, S. 317.
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lische Eigenschaften, die jederzeit vorhanden sind, wenn sie auch gelegentlich verschüttet sein mögen und das Handeln des Menschen nur in Ausnahmefällen ausschließlich bestimmen. Statt der von Schiller als Wirkung des Kunstschönen erwarteten umfassenden Einsicht in die harmonische Gesamtordnung der Schöpfung sind es für Goethe die persönlichen sozialen Beziehungen, die eine intakte gesellschaftliche Ordnung begründen.244 Diese persönlichen sozialen Beziehungen, denen Goethe die Verantwortung für eine neue gesellschaftliche Stabilität zuzuweisen geneigt ist, lassen sich jedoch nicht auf das Prinzip natürlicher Sympathie reduzieren, sondern finden eine differenzierende Darstellung in der Familie Hermanns. Dies zeigt sich zunächst in den unterschiedlichen Präferenzen des Vaters und der Mutter für die Brautwahl des Sohnes. Während die Mutter das oben zitierte Zustandekommen der eigenen Ehe für vorbildlich erklärt, plädiert der Vater für ein den fortgeschrittenen Zeiten angemessenes Kriterium der Wahl: Oh, wie glücklich ist der, dem Vater und Mutter das Haus schon Wohlbestellt übergeben und der mit Gedeihen es ausziert! Aller Anfang ist schwer, am schwersten der Anfang der Wirtschaft Mancherlei Dinge bedarf der Mensch, und alles wird täglich Teurer, da seh er sich vor, des Geldes mehr zu erwerben. Und so hoff ich von dir, mein Hermann, daß du mir nächstens In das Haus die Braut mit schöner Mitgift hereinführst243.
Der unmittelbaren Beziehung, die auf der Tugend beruht, die zur Überwindung der allgemeinen Notdurft der Menschen nötig ist,24* setzt der Vater den Eigennutz als sozialen Beweggrund entgegen. Von diesem macht Goethe zugleich deutlich, daß er als typisch bürgerliches handlungsleitendes Prinzip mit denjenigen der Repräsentativität und des Scheins der höfischen Welt in Verbindung steht: Wie dem Vater, motivlich bereits in den ersten Versen durch den »Schlafrock mit indianischen Blumen«247 angedeutet, ein gewisser Hang zu »Schein« und »Zierde« im Leben eigen ist,248 so ist es der Haushalt des ebenso durch 244
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Vgl. dz. Hans Geulen: Goethes >Hermann und Dorothea^ der die »gesteigerte Wahrnehmung und Begegnung des Menschen angesichts der Not« als »grundlegend Thematisches« des Werkes festhält (S. 13). Diese neue Aktualität ursprünglicher sozialer Tugenden läßt sich mit Wolfgang Martens (Halten oder Dauern?, S. 87) sowie Wolfgang Whtkowski (Homo homini lupus, S. 267) als säkularisiertes Gebot der Nächstenliebe verstehen. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 2. Gesang, V. 164ff. Zur natürlichen Tugend als Wurzel der ursprünglichen gegenseitigen Hilfe vgl. etwa ebd., 5. Gesang, V. 209ff.; 6. Gesang, V. 86ff., V. 180ff. Ebd., 1. Gesang, V. 29. Bei dem als altmodisch herausgestellten Schlafrock dürfte es sich überdies um eine Anspielung Goethes auf Johann Heinrich Voß' Luise handeln, wo in der dritten Idylle ebenfalls von einem »Bräutigamsschlafrock« die Rede ist, der als »[f]ein von Kattun, kleerötlich, mit farbigen Blumen gesprenkelt« beschrieben und nicht etwa dem Vater, sondern dem jungen Bräutigam Luises zugedacht wird: Luise, , V. 872f. In: Der Göttinger Dichterbund, Erster Teil, S. 1-68, hier S. 67. Vgl. dz. auch Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin, New York 1993 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 103). S. 279. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 8. Gesang, V. 27, 33. Vgl. auch das dem idyllischen Topos entgegenstehende Stadtlob des Vaters: Ebd, 3. Gesang, V. 23ff.
337 »Handel« wie durch »Fabriken« täglich reicher werdenden kaufmännischen Nachbarn,249 der sich durch eine künstliche Salongeselligkeit auszeichnet, in die sich der an natürliche Umgangsformen gewöhnte Hermann nicht zu finden weiß.130 In diesem Zusammenhang bringt Goethe zugleich die Spannung zwischen der modernen kaufmännisch-bürgerlichen, gleichwohl an Momenten der höfischrepräsentativen Gesellschaft festhaltenden Welt und dem idyllischen Ideal zum Ausdruck: Denn dem repräsentativen Bau des reichen Kaufmanns, seiner »Stukkatur« und seinen »Schnörkel[n]«, wird vom Apotheker in leicht elegischem Tonfall der eigene Garten mit seinem »Grottenwerk« gegenübergestellt, »[d]as nun freilich verstaubt und halb verfallen mir dasteht«.251 In dem Bild der in unmittelbarer Nachbarschaft des prachtvoll glänzenden Bürgerhauses unbenutzt verfallenden Grotte kommt Goethe mithin auf den von ihm nahezu zeitgleich in Alexis und Dora, dem »Vorspiel«232 zu Hermann und Dorothea, gestalteten Konflikt zwischen bürgerlicher und idyllischer Existenz zurück.233 Aber anders als Alexis, der zu wählen hatte und die kaufmännische Ware schließlich dem idyllischen Liebesglück opferte,254 gelingt Hermann in seinem kleinstädtischen Umfeld deren Integration innerhalb des umfassenden Rahmens einer bürgerlichen Existenz, die sowohl der natürlichen Moralität gerecht wird als auch den ebenso natürlichen - selbstbezüglichen Neigungen des Menschen. Der Preis für diese Vermittlung wird jedoch in Form des Verzichtes auf die Möglichkeit einer Existenz hinterlegt, in der sich ungebrochen ein bestimmtes Lebensideal verwirklichen ließe: Weder das großbürgerlich-repräsentative Leben noch die arkadische Grottenwelt intim-unmittelbarer Sozialbeziehungen wird von Goethe als realisierbares Ideal vorgeführt.255 Statt dessen setzt er auf die je individuell, im Familien- und kleinstädtischen Freundeskreis zu realisierende Vermittlung beider Momente, ohne dieser die Perspektive auf eine endgültige harmonisch-konfliktfreie Versöhnung zu unterlegen. 149 250
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Ebd., 2. Gesang, V. 190. Vgl. ebd., 2. Gesang, V. 217ff. Die an höfische Repräsentativität gemahnende Haushaltung des Kaufmanns weist die von Maria Lypp hervorgehobene bürgerliche Orientierung des Vaters als eine Bestrebung aus, die sich nicht allein »der Tendenz zur reinen Geldwirtschaft« nähert, sondern mit dieser zugleich einen Teil der überkommenen höfischen Ordnung aufnimmt: Bürger und Wehbürger in Goethes »Hermann und Dorothea«. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 31 (1969). S. 129-142, hier S. 131. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 3. Gesang, V. 82,90f. Emu Staiger: Goethe. Band H: 1786-1814. Zürich, Freiburg 1956. S. 232. Dieser Konflikt manifestiert sich in Hermann und Dorothea bereits innerhalb des kleingesellschaftlichen Rahmens. Schon das selbstzufriedene Besitzdenken des Wirts hat nur noch wenig gemeinsam mit idyllischer Selbstgenügsamkeit Dies bleibt von Hans Geulen unberücksichtigt, der den von Goethe als beschränkt ausgewiesenen (und ironisierten) Besitzstolz des Vaters als Idyllenmerkmal herauszustellen versucht: Vgl. Goethes >Hermann und Dorothea«, S. 3ff. S. dz. u., S. 362ff. Diesen Aspekt übersieht Paul Michael Lützeler, wenn er das Motiv der Grotte nicht in seiner Gegenüberstellung zu dem des repräsentativen Bürgerhauses betrachtet und daher lediglich das »Oberholte und Weltfremde der üblichen Idylle« in ihr dargestellt sieht, ohne ihren gleichwohl aufrecht erhaltenen gegenbildlichen Charakter zu der ebenso lebensfernen, künstlichen Geselligkeit der reichen Kaufmannsfamilie in seine Interpretation einzubeziehen: Hermann und Dorothea (1797), S. 235.
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Es dürfte nicht voreilig sein, in diesem Ansatz Goethes, den er in unmittelbarem Anschluß an seine Arbeit an den Lehrjahren formulierte, eine Vorprägung des schließlich in den Wanderjahren als Bildungsprinzip ausgerufenen Motivs der Entsagung zu erkennen.256 In diesem Sinne wurde die Verbindung Hermanns mit Dorothea bereits von Gerhard Kaiser gedeutet, als er festhielt, deren Verwirklichung sei ein Ausgangspunkt, kein Ziel- ein Ausgangspunkt zu differenzierten, modernen Formen der Gesellschaft, wie sie Goethe nicht zuletzt im Gefolge der Revolution heraufkommen sieht und wie er sie etwa in den >Wanderjahren< dargestellt hat257
Der Rückweg in die verstaubte Grottenwelt ist verstellt; was offen bleibt, ist der Weg zur Vermittlung der natürlichen Beziehungen mit denen der modernen bürgerlichen Welt. Diese gestaltet Goethe in der Frucht der Beziehung zwischen den ursprünglichen Neigungen der Mutter und dem - im dargelegten Sinne - >modemen< Geist des Vaters: in ihrem Sohn Hermann, den die Mutter als »Muster den Bürgern und Bauern«238 preist. Zwar repräsentiert Hermann damit - wenigstens aus Sicht der Mutter - ein Ideal, das die >modernen< bürgerlichen Gesellschaftsnormen mit denen einer natürlich-ländlichen Sittlichkeit vermittelt. Gleichwohl ist er weit davon entfernt, etwa im Schillerschen Sinne eine die Eigennutzorientierung aufhebende ästhetische Synthese von natürlicher, an der Einzelheit der persönlichen Beziehungen orientierter Sittlichkeit und abstrakter Vemunftmoral zu verkörpern. Was Goethe vorführt, ist vielmehr eine im Verband der Kleinfamilie realisierte komplementäre Rollenverteilung, wie er sie Hermann seiner künftigen Braut vorstellen läßt: Denn ich lebe beglückt mit beiden liebenden Ehern, Denen ich treulich das Haus und die Güter helfe verwalten Als der einzige Sohn, und unsre Geschäfte sind vielfach. Alle Felder besorg ich, der Vater waltet im Hause Fleißig, die tätige Mutter belebt im ganzen die Wirtschaft.259
Hermann ordnet die Rollen hier etwas anders an als vordem die Mutter: Für ihn wirkt diese als vermittelnde zwischen der Wirtschaft des Vaters und dem ländlichen Feldbau des Sohns. Hermann selbst erscheint somit nicht mehr als die Instanz, in der das traditionell-ländliche mit dem modern-bürgerlichen Moment verbunden wird. Vielmehr verkörpert er einseitig die natürlich-sittliche Erbschaft der Mutter, die ihrerseits jene integrative Funktion ausübt, wie sie zuvor Hermann zugesprochen wurde. Was auf den ersten Blick als Konzeptionsbruch erscheinen mag, läßt vielmehr erneut deutlich werden, daß Goethe Abstand hält von synthetisierenden Ansät236
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Vgl. dz. auch Richard Samuel: Goethes Hermann und Dorothea, S. 103, der die auf beide Werke anwendbare Formel der »Weltfrömmigkeit« hervorhob. Gerhard Kaiser Idylle und Revolution, S. 115. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 3. Gesang, V. 54. Ebd., 7. Gesang, V. 56ffi
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zen. Statt dessen bleibt nach der Beziehung von Vater und Mutter, in die bereits unterschiedliche Lebenshaltungen eingegangen waren, auch den künftigen Generationen eine entsprechende persönliche Integration unterschiedlicher Prinzipien des geselligen Umgangs als Aufgabe gestellt. Wie diese Integration im einzelnen zu leisten ist, wird bei Goethe nicht in einem Fall paradigmatisch vorentschieden. Die Balance ist für jede konkrete soziale Konstellation jeweils neu zu finden.™ Indem er Hermann nicht - was sich etwa aus der Sicht Schillers angeboten hätte - als Synthese aus den natürlichen Neigungen der Mutter und den bürgerlichen Einsichten des Vaters zeichnet, verweist Goethe darauf, daß deren potentieller Konflikt aus seiner Sicht nicht letztgültig zu versöhnen ist.161 Vielmehr hat auch weiterhin die Komplementarität unterschiedlicher Eigenschaften die Stabilität und den Erfolg der zwischenmenschlichen Beziehungen zu garantieren:2*2 Dem ländlichen Hermann wird die vom Richter als »so gut wie stark«2*3 geschilderte Dorothea beigesellt, die um die begrenzte Wirkung der auf Tugend gegründeten sozialen Beziehungen weiß und die zugleich »der äußeren Zierde [...] von Jugend an nicht fremde«2*4 ist. Hermann leitet seinen Antrag dann auch nicht mit einem Appell an die »Liebe« ein, sondern richtet sich an den »Verstand« Dorotheas.265 Ihre Verlobung begründet daher keine Erneuerung arkadischen Liebesgenusses, sondern verbindet - selbst in den Worten Hermanns - das Moment der Liebes- mit dem der pragmatischen Erwerbsgemeinschaft:
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Auch Hans Geulen hebt die disparaten Familiencharaktere hervor. Was für ihn jedoch die FragUftät kleingesellschaftlicher Idyllik anzuzeigen hat, läßt sich überzeugender als Integration idyllischer Momente im Rahmen komplementärer familiärer Verhältnisse lesen. Denn der idyllische Charakter der Familie ist nicht erst durch den Ausbruch Hermanns, sondern bereits durch deren bürgerliche Existenz selbst gebrochen. Vgl. Goethes >Hermann und Dorothea^ S.7ff. Allein dieser Umstand reicht daher hin, die Interpretation Humboldts als verfehlt auszuweisen. Vgl. dagegen F. Th. Bratranek: Erläuterung zu Göthes: Hermann und Dorothea. In: Ders.: Aesthetische Studien. Wien 1853. S. 1-55, der ebenfalls bereits die Komplementarität der Rollenverteilung hervorhob (S. 12ff.), diese allerdings mit einer versöhnenden Perspektive versah (S. 28), was unter der eingangs im Gefolge Schillers und Humboldts aufgestellten Prämisse erfolgte, daß die Versöhnung von Realität und Idealität die eigentliche Aufgabe der Dichtung darstelle (S. If). Vgl. dz. auch use Graham: A delicate Balance: >Hennann und Dorotheas In: Dies.: Goethe. Portrait of the Artist Berlin, New York 1977. S. 287-312, die in ihrer Analyse zentraler szenischer Bilder des Textes darauf hinweist, daß Goethe deren vermeintlich idyllische Statik mit Momenten der Bewegung kontrasierte, so daß die statische Ruhe nirgends das letzte Wort behalte: »[...] everywhere there is movement in stasis, flux at the heart of formed life«, womit auf die grundsätzliche »precariousness of formed life« verwiesen werde (S. 310). Bereits Emil Staiger faßte das »Klassische« des Textes als »Aufgabe [...], die jeder Einzelne und womöglich die Gemeinschaft immer wieder neu zu bewältigen haben«: Goethe, Bd. IL, S. 251 f. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 6. Gesang, V. 183. Ebd., 8. Gesang, V. 41. Ebd., 7. Gesang, V. 51£; vgl. auch die folgenden Worte Dorotheas, mit denen sie den Entschluß rechtfertigt, sich nach Erfüllung ihrer menschlichen »Pflicht« nunmehr um ihr eigenes Auskommen zu kümmern: Ebd., 7. Gesang, V. 8 Iff.
340 Desto fester sei, bei der allgemeinen Erschüttrung, Dorothea, der Bund! Wir wollen halten und dauern, Fest uns halten und fest der schönen Güter Besitztum.266
Goethe geht es nicht um die Aufhebung des Eigennutzes in einem neuen, höheren Zustand, sondern um ein kompromißhaft-komplementäres Miteinander alter, ursprünglicher und neuer, auf Nutzen gerichteter Geselligkeit. Damit stellt er sich - ob bewußt oder nicht - in die Tradition des aufklärerischen Idyllenkonzepts Salomon Geßners, das er nunmehr jedoch einer umfassenderen poetischen Umsetzung zuführt: Wie Geßner hält er an zwei Modellen von Geselligkeit, dem natürlichen ebenso wie dem über Eigennutz vermittelten, fest. Beide werden - wie bei Geßner - nicht hierarchisiert, sondern einander komplementär zugeordnet. Anders als bei Geßner ergibt sich der Verweis auf die gesellige Wirklichkeit der differenzierten Gesellschaft jedoch nicht aus der kontrafaktischen Gestalt des Idyllischen, das keinen Realitätsanspruch erhebt und daher auch nicht als Realitätsersatz zu fungieren vermag. Goethe bezieht die bei Geßner ausgesparte Wirklichkeit vielmehr in die Dichtung selbst mit ein und setzt damit den in der zeitgenössischen Rezeption wie auch in der Forschung weithin als solchen akzeptierten gattungsgeschichtlichen Meilenstein.267 Dadurch, daß Goethe die zeitgenössische gesellschaftliche Realität in seinen Text integriert, bleibt er zugleich seiner gut zwanzig Jahre zuvor formulierten Geßner-Kritik treu: Das Idyllische steht bei ihm nicht lediglich für eine bloß im Vorübergehen zu bewundernde harmonische Sozialordnung. Vielmehr wird es als ein Modell vertrauter Geselligkeit gekennzeichnet, das auch unter modernen, differenzierten gesellschaftlichen Verhältnissen realisierbar und nicht zu verdrängen ist. Anders als in Geßners strikter Trennung von bürgerlicher Realität und idyllischer Dichtung ist dieses harmonisierte Sozialmodell jedoch nicht mehr
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Ebd., 9. Gesang, V. 299ff. Dieser Aspekt findet keinen Eingang in die Interpretation Heidemarie Kesselmanns, die vielmehr den Gegensatz von »Kaufinarmsfamilie« und »einfahig-sittliche[r] Familie Hermanns« zugunsten letzterer suspendiert sieht und damit wie schon bei Geßner nun auch im Blick auf Goethe dem Moment der pragmatischen Vermittlung unterschiedlicher sozialer Leitvorstellungen keine Beachtung zu schenken vermag: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert, S. 179. Im Blick auf die Ausführungen zum Idyllenkonzept Geßners im zweiten Kapitel greift auch hier die Interpretation Lutzelers zu kurz, wenn er die Verbindung von »Empfindsamkeit und Beshzdenken« als Ausblick Goethes auf »mögliche Synthesen« versteht: Hermann und Dorothea (1797), S. 264. Neben dem kompromißhaften Charakter der Verbindung bei Goethe ist zu betonen, daß sich diese auch bereits bei Geßner finden ließ. Zu Lutzelers Verständnis der Geßnerschen Idyllen als Flucht »aus der geschichtlichen Gegenwart in ein nebulös mythologisches Es-war-einmal« vgl. ebd., S. 233. Dagegen ist im Bezug auf das Verhältnis von Hermann und Dorothea zur Idyllendichtung Geßners und Voß' dem Urteil Helmut J. Schneiders zuzustimmen, daß Goethe »die Tendenzen der aufklärerischen Idyllik zusammenfaßte und zugleich der weheren Gattungsgeschichte das wirkungsvolle neue Vorbild lieferte.« Einleitung, S. 9. Das idyllische Epos, wie es sich im Anschluß an Voß und Goethe in der Literatur des 19. Jahrhunderts präsentiert, markiert für Schneider dann den Schlußpunkt des europäischen Klassizismus ebenso wie der europäischen Bukolik: Vgl. Gesellschaftliche Modernität und ästhetischer Anachronismus, S. 17.
341 ungebrochen anzutreffen, sondern lediglich noch als ein Moment innerhalb einer umfassenden und komplexen sozialen Wirklichkeit. Zugleich verweist die Art der Integration des idyllischen Ideals in die zeitgenössische soziale Realität jedoch auf einen konzeptionellen Neuansatz Goethes, der ihn andererseits wieder in die Nähe des aufklärerischen Idyllenmodells bringt: Die differenzierte gesellschaftliche Gegenwart behauptet nunmehr ebenso ihr Recht wie das idyllische Ideal. Hatte Goethe 1772 gemeinsam mit Herder für eine unmittelbare und ungebrochene Gegenwart idyllischer Sozialbeziehungen plädiert, so ließ sich diese Gegenwart lediglich um den Preis einer beschränkten Geltung des idyllischen Ideals realisieren. Wie bei Geßner ermöglicht also nunmehr auch bei Goethe erst die Beschränkung des Geltungsanspruches ursprünglicher sozialer Harmonie deren Integration in die gesellschaftliche Wirklichkeit. Das keineswegs widersprüchliche Verhältnis zwischen idyllischen und bürgerlichen Sozialformen erfaßt August Wilhelm Schlegel in seiner Besprechung von 1798 im Vergleich zu Humboldt weniger in Abhängigkeit von der Theorie Schillers und damit genauer, wenn er beide auf ihre anthropologischen Voraussetzungen zurückfuhrt und feststellt: Alles dies verschafft nun den Vorteil, daß an den handelnden Personen jene Entwicklung der Geisteskräfte, wodurch eine Weh von höheren sittlichen Beziehungen sich auftut, die für den roheren Menschen gar nicht vorhanden ist, mit Einfalt der Sitten verträglich wird.268 Kompatibilität der »höheren sittlichen Beziehungen [...] mit [der] Einfalt der Sitten« kommt als Kennzeichnung dem Konzept Goethes näher, das sich im Gegensatz zu Humboldt geradezu als Versuch lesen läßt, gegenüber Schiller zu zeigen, daß es der ästhetischen Synthese dort nicht bedarf, wo es nicht um die Aufhebung von antinomischen Gegensätzen, sondern um die Einsicht in die Verträglichkeit zweier Modelle von Geselligkeit und damit in die Möglichkeit ihres gemeinsamen Bestehens geht. So läßt sich auch Hermann und Dorothea statt als Bestätigung eher als poetische Auseinandersetzung mit der idealistischen Ästhetik Schillers lesen. Gemeinsam bleibt den Entwürfen Schillers und Goethes jedoch, daß sich Status und Anspruch der idyllischen Dichtung gegenüber Geßner radikalisieren: Nicht mehr begrenzte, aus dem bürgerlichen Getriebe freigesetzte temporäre Teilexistenzen finden hier ihre Darstellung, sondern die Gesamtheit der >modernen< Lebenssituation des Menschen hat in der Dichtung ihren poetischen Niederschlag zu finden. Wenn auch nicht mit dem synthetisierenden Anspruch Schillers und auch nicht in der radikalen Weise der Herderschen Forderung nach einer »Lebensekloge« bleibt Goethe diesbezüglich in den Bahnen seiner frühen Kritik an der Geßnerschen Idyllenwelt. 268
August Wilhelm Schlegel: Goethes Hermann und Dorothea. [1798] In: Ders.: Kritische Schriften und Briefe. Hg. von Edgar Lohner. I: Sprache und Poetik. Stuttgart 1962. S. 42-66, hier S. 55. Vgl. dz. auch Rudolf Alexander Schröder: Zu Hermann und Dorothea, S. 578f. Zur Wirkung der Rezension, die »dem Buche Humboldt's den Rang abflief]«, vgl. Hermann Hettner: Geschichtliche Vorerinnerungen, S. 192.
342 Allerdings ist diese weiterhin geltende ästhetische Kritik Goethes an der realitatsenthobenen Gestalt der Idyllen Geßners nicht vorschnell auf deren soziale Grundsätze zu übertragen: Mag die Französische Revolution auch zu einer Zuspitzung der Unterscheidung von >kleiner< und >großer Gesellschaft beigetragen haben, so handelt es sich doch keineswegs um eine Innovation in Goethes Umgang mit der Idylle, daß die »kleine Sozietät« der idyllischen Existenz bei ihm »nicht mehr auf ein umfassenderes politisches Geschehen« verweist, sondern »als hier und jetzt und überall praktikable Lebensform gerade der politischen und insonderheit der revolutionären Aktion entgegengesetzt« wird.2*9 Vielmehr greift Goethe vor dem Hintergrund der Ereignisse im revolutionären Frankreich auf die Idyllendichtung als ein traditionelles Modell zurück, anhand dessen sich eine Differenzierung der tragenden Momente sozialer Integration vornehmen ließ, wie sie aus Anlaß der aktuellen gesellschaftlichen Desintegration angezeigt erschien. Indem er durch die Kombination von Idylle und Epos sowohl den Eigennutz als auch die Sympathie als Sozialitätsmerkmale des Menschen herausstellte, entwickelte er dieses Modell in einer Weise fort, die den Ausblick auf ein beständig neu auszubalancierendes Gleichgewicht von Tradition und Innovation eröffnet, mit dem aus seiner Sicht gesellschaftlicher Fortschritt zu gewährleisten, der Rückfall in ungebundene Anarchie jedoch zu verhindern war.170 Wie dasjenige Geßners, so bleibt auch das umfassendere Modell Goethes auf die Kleinräumigkeit und Überschaubarkeit der sozialen Beziehungen angewiesen,271 soll die Möglichkeit bestehen, diese jederzeit auf ihren natürlichen Kern zurück249
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Klaus Garber: Idylle und Revolution, S. 79. Auf die Interpretation der Idyllen Geßners im Sinne eines »Vorgrifffs] auf befriedete Verhältnisse, in denen der Obergriff der Mächtigen nicht mehr zu befürchten ist, [...] in denen Politik ganz in die Hände der freien Menschen übergegangen ist« (ebd., S. 63f.), die Garber anhand der Schweizer Idylle Das hötzene Bein vornimmt, wurde einleitend bereits eingegangen (s. o., S. 53f, Anm. 30). Nicht allein die singuläre Position dieser vaterländischen Idylle im Oeuvre Geßners weckt nunmehr Zweifel an dieser Interpretation. Auch Goethes Kritik an ihrem »[s]chäfermäßig[en]« Ende, das auf das private Glück einer Hochzeit zurückgreift (a. a. O.), macht deutlich, daß selbst diese einzige vaterländisch aktualisierbare Idylle Geßners den Grundsatz Johann Jakob Engels befolgte und sich von einer allzu engen Verbindung »mit der großen Gesellschaft des Staats« (a, a. O.) fernhielt Zu diesem Grundsatz von Goethes »Reformkonservatismus« vgl. Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe, S. 274. Als »Vision einer Veränderung in der Bewahrung« (Gerhard Kaiser: Französische Revolution und deutsche Hexameter, S. 92) läßt sich Hermann und Dorothea schließlich auch in gattungstheoretischer Hinsicht im Bezug auf Goethes Aufnahme der Epostradhion lesen. So sehr sich die Integration harmonischer Sozialformen in eine umfassende und keineswegs idyllisch strukturierte gesellschaftliche Wirklichkeit als Alternative zur gewaltsamen Revolution versteht, so wenig ist sie als »konterrevolutionär^« (Klaus Garber: Idylle und Revolution, S. 81) zu bezeichnen. Wird bereits der aufklärerischen Idylle ein politisch-utopischer Anspruch unterlegt, muß die Zurückweisung eines solchen Anspruchs durch Goethe als ebenso poetologischer wie politischer Rückschritt erscheinen. Dagegen bleibt jedoch zu betonen, daß sich die idyllische Gattungstradition in der zeitgenössischen Wahrnehmung dadurch auszeichnete, einen utopischen Anspruch gerade nicht zu erheben. Was Goethe zurückweist, ist daher nicht das Sozialmodell der Aufklärungsidyllik, sondern allenfalls dessen utopische Überbietung durch Schiller. Eibl spricht modernisierend von »>face-to-face-associationUeber naive und sentimentalische Dichtungsukzessive Entfaltung< eines Mißverständnisses«338 erwies. 330
331 331 333 334 353 336 337 338
Vgl. ebd., V. 100.
Ebd., V. 143ff. Zu dieser Diskussion innerhalb der Idyllentheorie s. o., S. 126f. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Alexis und Dora, V. 113ff. Albrecht Schöne: Götterzeichen Liebeszauber Satanskult, S. 99. A.a.O. Albrecht Schöne: Götterzeichen Liebeszauber Satanskult, S. 92. Vgl. die Verteidigung der Eifersucht des Alexis in dem Schreiben an Schiller vom 22. 6. 1796 in: WA, IV/11, S. 104-107, hier S. 106. Albrecht Schöne: Götterzeichen Liebeszauber Satanskult, S. 96.
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So wenig der idyllische Zustand als geschlossene Lebensweise wieder zu erringen war, so wenig taugte die Idylle noch als eigenständige, in sich geschlossene poetische Form. War es in Alexis und Dora die Elegie, die dem Idyllischen einen - wenn auch negativen - Bezug zur zeitgenössischen Wirklichkeit verlieh, so integrierte Goethe nahezu zeitgleich in Hermann und Dorothea das bürgerliche Gewerbe in den idyllisch-ländlichen Rahmen.339 Einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem auf Eigennutz gegründeten Gewerbe und der natürlichen Geselligkeit kennt das idyllische Epos nicht mehr. Auch hier sprengt die Integration des Gewerbes und der mit ihm verbundenen Fortschrittskräfte der »ungeselligen Geselligkeit« die traditionellen Grenzen und erweitert die Idylle zum Epos. Auf der Grundlage des mit der sozialen Realität vermittelten Geselligkeitsideals kann Goethe in Hermann und Dorothea also einerseits das bloß Kontrafaktische der vorhergehenden Idyllendichtung Geßners überwinden und dem idyllischen Prinzip der >kleinen Gesellschaftern wieder einen konkreten gesellschaftlichen Ort zuweisen, an dem es nicht lediglich besuchsweise erblickt, sondern aktiv geund erlebt werden kann. Andererseits vermeidet er dabei den Lösungsweg Voß', der das idyllische Geselligkeitsideal um den Preis einer weitgehenden Isolierung des privaten Haushalts vor der Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses aus den arkadischen Fluren Geßners in die Gegenwart ländlich-bürgerlichen Lebens verlegte. Ebenso fern hält Goethe sich von dem Unternehmen Schillers, die vermeintlichen Gegensätze in einem Akt des ästhetischen Universalismus aufzuheben. Schließlich wird auch die seiner Geßnerkritik von 1772 noch nahestehende Forderung Herders nach einer »Lebensekloge« durch Hermann und Dorothea nicht erfüllt. Wollte Goethe am ästhetischen Gehalt seiner Kritik festhalten und idyllische Sozialbeziehungen in der zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit als möglich ausweisen, so war deren sozialer Wirkungsbereich entgegen seiner eigenen früheren Forderung einzuschränken: Zwar stellt ein »Ort des vom unmittelbaren Entscheidungszwang entlasteten geselligen Räsonnements«, für den Goethe »neben Salon und Kaffehaus« den »Stammtisch« einfuhrt,360 auch in Hermann und Dorothea einen zentralen Schauplatz im kühlen Hinterzimmer des Gasthofs dar. Dieser ist jedoch weit davon entfernt, als Alternative zum handelnden Eingreifen in die Welt der von Interessen bestimmten sozialen Beziehungen zu erscheinen. Vielmehr bildet er dessen Ausgangs- und Rückkunftsort, gewissermaßen einen sicheren, gesellig strukturierten Hafen, den es komplementär zum gesellschaftlichen Handeln zu erhalten gilt, um diesem einen Ort der Reflexion und Regeneration zu erhalten, an dem zugleich im geselligen Gespräch die Voraussetzung »kooperative[n] Problemlosen^]«361 geschaffen wird. 339 360
361
Unter Verweis auf eine briefliche Äußerung Goethes gegenüber Heinrich Meyer liest auch Karl Eibl beide Texte »fast« als »Kontrafakturen«: Anamnesis des Augenblicks, S. 132. Ebd., S. 116. Ebd., S. 119. Diesen Umstand verkennt Jane K. Brown, wenn sie von den »bequeme[n] Borgern« spricht, »die herumsitzen und schwatzen«: Schiller und die Ironie von Hermann und Dorothea, S. 205.
365
Der Erfolg dieses kooperativen Vorgehens ist unabhängig von sympathetischen Neigungen der Beteiligten: So versagt der Apotheker, dessen Plädoyer für eine lediglich dem eigenen Schicksal verantwortliche Lebensweise zu Beginn der Handlung von Hermann scharf angegriffen wurde,362 dennoch nicht die traditionelle nachbarschaftliche Hilfe bei der Begutachtung der künftigen Braut: Gerne schick ich mich an, den lieben Nachbarn zu dienen, Meinen geringen Verstand zu ihrem Nutzen zu brauchen.3*3
Die Kennzeichnung des Apothekers als Nachbar ist also durchaus dazu geeignet, dessen »reduzierte Soziabilität«364 zu korrigieren: Seine Position im differenzierten gesellschaftlichen Funktionszusammenhang hält ihn ebensowenig wie das egozentrische Bekenntnis von der Verwirklichung ursprünglicher, auf das Modell nachbarschaftlicher Hilfe gegründeter Geselligkeit ab.3'5 Verzichtet er auch bewußt auf die >Seelenbedürfhisse< intimer Interpenetration, so bleibt seine tätige Integration in das Netzwerk wechselseitiger Hilfe hiervon unberührt. Im Vergleich mit der Konzeption Schillers bietet Goethe auf diese Weise wohl die mit dem unumkehrbaren gesellschaftlichen Differenzierungsprozeß eher zu vereinbarende Version einer Vermittlung von geselligem Ideal und gesellschaftlicher Wirklichkeit, die sich weder mit Illusionen über die Möglichkeit eines »moralischen Staates« noch mit historischen Trugschlüssen über den schönen höfischen Umgang belastet. Statt dessen wird den überschaubaren und gleichwohl differenzierten Sozialbeziehungen der deutschen Kleinstadt zugetraut, als Muster dienen zu können. In ihnen wird ein Gesellschaftsmodell paradigmatisch vorgeprägt, das die ursprünglichen, auf Gleichheit beruhenden Bindungen zwischen den Menschen ebenso in die Welt der Moderne überführt wie es auch deren Anforderungen einer pragmatisch funktionsorientierten Differenzierung des Umgangs mit Menschen erfüllt. Damit verzichtet Goethe auf den utopischen Anspruch einer >etysischen Idyllesozialer Bildung< an die Seite stellen, in dem »Goethe gegen die von Schiller angestrebte Totalisierung des Individuums die Komplementierung der Individuen in einer je bestimmten überschaubaren gesellschaftlichen Einheit«366 fordert. 361 363 364 363
366
Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea, 2. Gesang, V. 82ff. Ebd., 5. Gesang, V. 83f. Hans-Norbert Fügen: Stabilität und Wandel in Goethes bürgerlichem Epos, S. 18. Zum Motiv nachbarschaftlicher Hilfe als Paradigma von auf imbecillitas gründenden sozialen Beziehungen in der Tradition der Aufklärungsidylle s. o., S. 65f. Ulrich Gaier Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung, S. 255.
366
Die wechselnden Konstellationen sozialer Komplementarität zeigen, daß Goethe für sein »Programm [... ] der kommunikativen Erziehung durch konkretes Zusammenleben«367 kein Ideal konzipiert, sondern den Ausgleich von unterschiedlichen sozialen Orientierungen dem je konkreten, kommunikativ organisierten Vollzug der Geselligkeit anvertraut. Dessen unbestreitbare (und unbestrittene) Kontingenzen verhindern eine dauerhafte Versöhnung von sozialem Ideal und geselliger Wirklichkeit, so daß Goethes Integration idyllischer Momente in gegenwärtige Sozialbeziehungen nicht allein den Rückweg nach Arkadien verbaut, sondern auch einen Weg >vorwärts nach Elisiunu nicht zu weisen bereit ist.
M7
Ebd., S. 233. Zum kommunikativen Bildungsmodel] der Unterhaltungen vgL auch Gert Ueding: Gesprächsgesellschaft in Utopia. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. [1987] In: Ders.: Aufklärung über Rhetorik, S. 125-137.
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