Psychoanalyse: interdisziplinär - international - intergenerationell: Zum 50-jährigen Bestehen des Sigmund-Freud-Instituts 9783666451294, 9783525451298, 9783647451299


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Psychoanalyse: interdisziplinär - international - intergenerationell: Zum 50-jährigen Bestehen des Sigmund-Freud-Instituts
 9783666451294, 9783525451298, 9783647451299

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Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalye im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl und Stephan Hau Band 16 Marianne Leuzinger-Bohleber / Rolf Haubl (Hg.) Psychoanalyse: interdisziplinär – international – intergenerationell

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Marianne Leuzinger-Bohleber Rolf Haubl (Hg.)

Psychoanalyse: interdisziplinär – international – intergenerationell Zum 50-jährigen Bestehen des SigmundFreud-Instituts

Mit 9 Abbildungen und 1 Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45129-8 ISBN 978-3-647-45129-9 (E-Book)

Umschlagabbildung: Foto: .marqs/phosocase.com Ó 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: process media consult GmbH Druck & Bindung: Hubert & Co, Göttingen

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Inhalt

Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I Einführung und Übersicht Marianne Leuzinger-Bohleber Von der »one man army« zur interdisziplinären Forschung. Zur Forschung an der Klinischen und Grundlagenabteilung am Sigmund-Freud-Institut heute . .

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Rolf Haubl Aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung am Sigmund-Freud-Institut – ein Umriss . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II 50 Jahre Sigmund-Freud-Institut – 100 Jahre International Psychoanalytical Association – 20 Jahre Joseph Sandler Research Conferences Tomas Plänkers Fluctuat nec mergitur. Ein Blick auf die Geschichte des SFI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Charles Hanly Einige Reflexionen über Traumata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Joel Whitebook Sigmund Freud: Ein »philosophischer Arzt« . . . . . . . . . . . . 120

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Inhalt

III Psychoanalytische Forschung am SFI in interdisziplinären und internationalen Netzwerken und laufende Projekte im klinischen und Grundlagenbereich Ulrich Bahrke, Lothar Bayer, Tamara Fischmann, Kurt Grünberg, Katrin Luise Läzer, Judith Lebiger-Vogel, Alexa Negele, Nicole Pfenning-Meerkötter, Tomas Plänkers, Marianne Leuzinger-Bohleber Psychoanalytisch Forschen am heutigen SFI. Gratwanderung zwischen klinischer und extraklinischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Steven J. Ellman Wenn Theorien berühren … Versuch einer Integration und Neuformulierung der Traumatheorie . . . . . . . . . . . . . . 198 Hugo Bleichmar Erneutes Nachdenken über krankhaftes Trauern. Multiple Typen und therapeutische Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . 222 Robert N. Emde und JoAnn L. Robinson Richtlinien für eine Theorie der frühen Intervention. Eine entwicklungs-psychoanalytische Perspektive . . . . . . . . . . . 250 Stephen Suomi Trauma und Epigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

IV Psychoanalyse im Dialog mit den Sozial- und Geisteswissenschaften Lilli Gast »Vorbei! Ein dummes Wort«. Ist das Projekt der Psychoanalyse als kritische Sozialwissenschaft am Ende? . 319 Hans-Joachim Busch Die Gegenwart psychoanalytischer politischer Psychologie und die Zukunft des Subjekts . . . . . . . . . . . . . 336

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Inhalt

Chiara Bottici und Angela Kühner Der Mythos des »Clash of Civilizations« zwischen Politischer Philosophie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . 352 Rolf Haubl »Ich geh kaputt« – »Gehste mit?«. Die Psyche in der Leistungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

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Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl

Vorbemerkungen

Am 27. April 1960 eröffnete Alexander Mitscherlich in Anwesenheit führender Persönlichkeiten das »Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychoanalytische Medizin«, das heutige Sigmund-Freud-Institut (SFI). Mitscherlich nutzte die guten Kontakte zur Hessischen Regierung und zum Institut für Sozialforschung, um trotz aller Widerstände und mit viel politischem und rhetorischem Geschick die Gründung eines psychoanalytischen Ausbildungs- und Forschungsinstituts durchzusetzen. Die Gründung diente vor allem dazu, die Freud’sche Psychoanalyse als von den Nationalsozialisten vertriebene, »jüdische Wissenschaft« wieder in Deutschland zu verankern und mit der internationalen Psychoanalyse zu verbinden. Sie drückte zudem eine politische Anerkennung für Alexander Mitscherlich aus, der in seinem Buch »Medizin ohne Menschlichkeit« mutig und unerschrocken die Gräueltaten der Ärzte während der Zeit des Nationalsozialismus offengelegt hat und sich für eine neue, psychoanalytisch fundierte Psychosomatik eingesetzt hatte. Ein weiteres seiner zentralen Anliegen war, mit Hilfe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie die unbewussten Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf die Nachkriegsjahre zu verstehen. Seine Bücher wie »Die Unfähigkeit zu trauern …« (zusammen mit seiner Frau Margarete Mitscherlich-Nielsen) prägten entscheidend die öffentlichen Aufklärungsdiskurse in Deutschland in den 1960er und 1970er-Jahren. Das SFI entwickelte sich in den ersten fünf Jahrzehnten seiner Geschichte zu einem inspirierenden Begegnungsort der Psy© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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choanalyse mit einer großen öffentlichen und fachöffentlichen Ausstrahlung. Die deutsche Psychoanalyse verdankt daher Alexander Mitscherlich und den nachfolgenden Direktoren, Clemens de Boor, Hermann Argelander, Dieter Ohlmeier und Horst-Eberhard Richter sowie den bis heute über 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vieles, das SFI, die feste Verankerung der Freud’schen, internationalen Psychoanalyse in Deutschland, ihre Präsenz in einer breiten intellektuellen und politischen Öffentlichkeit, national und international anerkannte psychoanalytische Ausbildungen und vielfältige psychoanalytische Forschungen. Die heute am Freud-Institut Tätigen stellen sich in diese Tradition und verbinden sie mit neuen Anforderungen an ein heutiges psychoanalytisches Forschungsinstitut, die durch die einschneidenden Veränderungen der Wissensgesellschaft der letzten Jahrzehnte und den heutigen globalisierten Neoliberalismus geprägt sind, die selbstverständlich nicht vor den Toren des SFI Halt machen, wie aus den Beiträgen in diesem Band anlässlich des 50-jährigen Bestehens des SFI hervorgeht. In der Einführung zeichnen wir diese wissenschaftshistorische und -soziologische Entwicklung nach. Forschung heute ist, verglichen mit Mitscherlichs Zeiten, zu einem interdisziplinären, internationalen und intergenerationellen Unterfangen geworden, wie wir dies in diesem Band anhand laufender Forschungsprojekte zu illustrieren versuchen. So vermitteln wir einen kurzen Überblick über die derzeitigen Forschungsaktivitäten in unseren jeweiligen Abteilungen am Institut, die »der leisen Stimme des Unbewussten« in gesellschaftlich relevanten Themen wie Frühprävention, Depression, Trauma und sich verändernde Bedingungen in der heutigen Arbeitswelt Gehör zu verschaffen versuchen. Dr. Tomas Plänkers, der als langjähriger Mitarbeiter des SFI zur Geschichte der Psychoanalyse in Frankfurt geforscht hat, gibt in seinem Beitrag in diesem Band einen Überblick über die letzten fünf Jahrzehnte des SFI. So wird er unter anderem skizzieren, dass 1972 eine zweite Institution gegründet wurde: das Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (IKJP), mit dem das SFI heute in verschiedenen Projekten im Bereich der Frühprävention zusammenarbeitet. 1995 wurde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

Vorbemerkungen

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das SFI in eine Stiftung des öffentlichen Rechts umgewandelt, das sich nun ausschließlich der psychoanalytischen Forschung widmen sollte. Die psychoanalytische Ausbildung übernahm das Frankfurter Psychoanalytische Institut (FPI), mit dem das SFI ebenfalls eng kooperiert, etwa in der Ambulanz (beide Institute versorgen je ca. 600 Patienten jährlich) und in der großen LACDepressionsstudie, in der die nachhaltige Wirksamkeit psychoanalytischer Langzeitbehandlungen mit jenen von kognitivbehavioralen Therapien bei chronisch Depressiven verglichen wird. Institutionellen Umstrukturierungen und Adaptationen an neue Zeiten gehen und gingen nicht ohne Krisen. Die größte Bedrohung erlebte das SFI 2003 durch die Ankündigung der 50 %-Kürzung der staatlichen Zuwendungen des Hessischen Ministeriums, ein knappes Jahr nachdem wir die neue Leitung übernommen hatten. Wir sind sehr froh, dass es uns in den letzten sieben Jahren durch eine große Kraftanstrengung gelungen ist, das Institut, wenn auch in vieler Hinsicht in anderer Weise als in den Gründungszeiten, mit neuer wissenschaftlicher Produktivität zu füllen. Nicht nur unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützten uns dabei, sondern eine breite, nationale und internationale Solidarität sowie neue institutionelle Strukturen: Der Wissenschaftliche Beirat1 mit dem Vorsitzenden Dieter Bürgin, das Kuratorium2 mit dem Vorsitzenden Matthias 1 Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats: Prof. Dr. Dieter Bürgin, Basel (Vorsitzender), Prof. Dr. Tilman Habermas (Frankfurt); Prof. Dr. Axel Habermas, (Frankfurt); Prof. Dr. Horst Kächele (Ulm, Berlin); AnneMarie Sandler (London); Prof. Dr. Johann August Schülein (Wien); Prof. Dr. Wolf Singer (Frankfurt); Prof. Dr. Jürgen Straub (Essen) (bis 2008); Prof. Dr. Daniel Widlöcher (Paris); Dr. Christine von Weizsäcker (ab 2010). 2 Mitglieder des Kuratoriums: Dr. Matthias Mitscherlich (Vorsitzender); Jon Baumhauer (Darmstadt) (bis 2009); Prof. Dr. Jörg-Engelbrecht Cramer (München); Dr. Michael Endres (Frankfurt); Dr. Salomon Korn (Frankfurt); Sylvia von Metzler (Frankfurt); Ruprecht von Plottnitz (Frankfurt); Prof. Dr. Peter Riedesser (Hamburg) (bis 2008); Dr. Frank Schirrmachen (Frankfurt); Dr. Christine von Weizsäcker (bis 2010); Dr. David von Kalckreuth (Darmstadt; seit 2009); Jutta Ebeling (Frankfurt) (ab 2010).

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Mitscherlich, und der Förderverein »Sigmund-Freud-Institut«. Ebenfalls große Unterstützung erhielten wir von politischer Seite, zum Beispiel von der Bürgermeisterin Jutta Ebeling, und auch – (nachdem wir ihn überzeugen konnten, dass es sich lohnt, das SFI zu erhalten und zu fördern) – vom damaligen Minister für Wissenschaft und Kunst, Udo Corts sowie seiner Referentin Angelika Amend. So sind wir in diesem 50. Jahr des SFI dankbar, dass sich im Freud-Institut eine neue Lebendigkeit und intergenerationelle Produktivität entfaltet, und wir viel Anerkennung und Unterstützung von der wissenschaftlichen und öffentlichen Community erhalten. Alle laufenden Forschungsprojekte können wir in der heutigen, vom Neoliberalismus geprägten Wissenschaftswelt nicht ohne Drittmittel durchführen: Die Abhängigkeit vom Fundraising ist, wie in allen anderen heutigen Wissenschaften, nun auch zur Realität psychoanalytischer Forschung geworden, eine Abhängigkeit, die nicht immer einfach auszuhalten und daher ständig zu reflektieren ist. Wir sind froh, dass wir inzwischen von vielen wissenschaftlichen und staatlichen Organisationen unterstützt werden, unter anderem von der DFG, der EU, der Hessischen LOEWE Initiative, dem Kultusministerium des Landes, dem Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa, dem BAMF, dem Familienministerium des Bundes, der DGPT, DPV, DPG, VAKJP, der RAB der IPA, der VW-Stiftung, der Heidehof-Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Supervision. Zudem ist es uns vor allem auch durch die Unterstützung unseres Kuratoriums gelungen, ein tragfähiges Netz zu verschiedenen Stiftungen aufzubauen, hier in Frankfurt vor allem zur Hertie Stiftung, zur Stiftung Polytechnische Gesellschaft, der Crespo Foundation und der Ursula Ströher Stiftung, ergänzt durch die Förderung der Zinkann-, der Köhlerstiftung, der Hope for Depression Foundation, der Stiftung Psychosomatik und großzügigen privaten Stiftern. Ohne diese Förderungen könnten wir alle unsere Projekte nicht durchführen. Ein weiterer Grund zur Freude ist, dass es uns gelungen ist, das SFI zu einem psychoanalytischen Zentrum auszubauen. Der Erweiterungsbau, der 2011 beginnt, mit zusätzlichen neuen Räumen, die hoffentlich 2013 eingeweiht werden können, wird die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

Vorbemerkungen

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schon existierende intensive Zusammenarbeit zwischen dem SFI, dem Frankfurter Psychoanalytischen Institut, dem Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, dem Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik und dem Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrum weiter erleichtern und intensivieren. Welch eine vielversprechende Perspektive sowohl für die kommenden Generationen von Forscher/innen und Mitarbeiter/innen, als auch für die fast 2000 Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern, die unsere verschiedenen Ambulanzen jährlich aufsuchen. Wir alle leisten damit unseren Beitrag, dass Menschen in seelischer Not hier in Frankfurt professionell geholfen wird und erfüllen, so denken wir, damit auf diese Weise die Hoffnungen nach einer Frankfurter Schule der Psychoanalyse, die Stadt und Land vor 50 Jahren mit der Gründung des SFI verbanden. Das SFI feierte sein Jubiläum mit einer ganzen Reihe von Veranstaltungen. Den Höhepunkt bildete ein Festakt am 28. April 2010, fast genau 50 Jahre nach der Eröffnung, im neuen Hörsaalgebäude der Goethe-Universität. Grußworte der Oberbürgermeisterin Petra Roth, des Staatsministers Jürgen Banzer, der Präsidenten der Goethe-Universität Werner Müller-Esterl und der Universität Kassel Rolf-Dieter Postlep sowie der Vorsitzenden der psychoanalytischen Institute, die, wie eben erwähnt, zukünftig mit dem SFI zusammen in einem neuen Psychoanalytischen Zentrum zusammenarbeiten werden, des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts e. V. (Angelika Ramshorn-Privera), des Instituts für Analytische Kinderund Jugendlichen-Psychotherapie e. V. (Heike Seuffert), des Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik e. V. (Annelinde Eggert-Schmid-Noerr) und des Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrum Frankfurt am Main für Kinder, Jugendliche und Erwachsene e. V. (Detlev Michaelis) eröffneten die Veranstaltung. Rund 300 Gäste aus Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik waren zum Mitfeiern gekommen. Der New Yorker Psychoanalytiker Harold Blum, der jahrelang die Archives for Psychoanalysis leitete und ein profunder Kenner der heutigen internationalen Psychoanalyse ist, vermittelte in einem ersten Gastvortrag einen Einblick in einige der theoreti© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl

schen Kontroversen der Internationalen Psychoanalyse. Daniel Stern (Genf/Boston), einer der herausragenden psychoanalytischen Forscher unserer Zeit, hielt den öffentlichen Festvortrag: »A developmental perspective on intersubjectivity from birth on«. Er vermittelte einen lebendigen Eindruck vom Stand heutiger Erkenntnisse zur psychischen Geburt des Menschen. Daniel Stern ist heute einer der internationalen Berater der Frühpräventionsprojekte, die das SFI derzeit durchführt. Zudem veranstaltete das SFI anlässlich des Jubiläums eine zweisemestrige Ringvorlesung. Einer der ehemaligen Direktoren des SFI, Prof. Dr. Dr. HorstEberhard Richter, eröffnete die Vorlesungsreihe im Wintersemester, der andere ehemalige Direktor, Prof. Dr. Dieter Ohlmeier, jene zum Sommersemester. Die Ringvorlesung umrahmte zudem drei große wissenschaftliche Tagungen zum Austausch mit unseren internationalen Kolleginnen und Kollegen: »Denk ich an Deutschland … 1949 – 1989 – 2009« (Oktober 2009), die Joseph Sandler Research Conference: »Die langen Schatten früher und späterer Traumatisierungen« (Februar 2010) und »Die Zukunft der Gegenwart. Zeitdiagnostische Fragen der psychoanalytischen Sozialpsychologie« (Mai 2010). Im vorliegenden Band werden ausgewählte Vorträge dieser verschiedenen Veranstaltungen publiziert mit dem Ziel, einer breiteren Leserschaft einen Überblick sowohl über die 50-jährige Geschichte des SFI zu ermöglichen, als einen Eindruck zu vermitteln, wie heute am SFI interdisziplinär, international und intergenerationell geforscht wird. Wir beginnen mit einem Einführungsteil, in dem wir beiden Direktoren des SFI skizzieren, wie wir sowohl in der Klinischenund Grundlagenforschung (unter der Verantwortung von Marianne Leuzinger-Bohleber) als auch in der Psychoanalytischen Sozialpsychologie (unter der Verantwortung von Rolf Haubl) versuchen, die einzigartige Tradition des Sigmund-Freud-Instituts aufzunehmen und mit den Anforderungen an ein heutiges, international und interdisziplinär vernetztes psychoanalytisches Forschungsinstitut zu verbinden. In den Beiträgen im zweiten Teil des Bandes liegt der Fokus auf historischen Perspektiven. Wie schon erwähnt, skizziert zuerst © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

Vorbemerkungen

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Tomas Plänkers die Geschichte des Sigmund-Freud-Instituts in den ersten fünf Jahrzehnten bis 2002, als wir beiden Direktoren die Verantwortung für das Institut übernahmen. – Es war eine historische Koinzidenz, dass die 50-Jahr-Feier des SFI mit den Feiern zum 100-jährigen Bestehen der International Psychoanalytical Association (IPA) und dem 20-jährigen Jubiläum der Joseph Sandler Research Conferences zusammenfiel, die das SFI, zusammen mit dem Research Board der IPA seit 2008 in Frankfurt organisiert. Daher ist es eine große Ehre, dass wir die beiden Vorträge, die im März 2010 in diesem Rahmen gehalten wurden, in diesem Band abdrucken können: Den Vortrag des jetzigen Präsidenten der IPA, Charles Hanly : Einige Reflexionen über Traumata und den Beitrag des New Yorker Psychoanalytikers und Philosophen, Joel Whitebook: Sigmund-Freud: Ein »philosophischer Arzt«. Im dritten Teil wird zuerst in einer Übersichtsarbeit ein Einblick in die derzeit laufenden Forschungsprojekte in der Klinischen und der Grundlagenabteilung des SFI vermittelt. Anschließend weisen wir mit einigen exemplarischen Beiträgen von internationalen Autoren, die uns bei den laufenden Forschungsarbeiten als Berater begleiten, auf das Netzwerk hin, in dem alle laufenden Projekte stattfinden. Steven Ellman (New York) war einer der ersten Psychoanalytiker, der sich in der experimentellen Schlaf- und Traumforschung einen Namen gemacht hat. In seinem 2010 erschienenen Buch: »When Theories Touch. A Historical and Theoretical Integration of Psychoanalytic Thought« integriert er diese Erfahrungen mit experimenteller Forschung zu psychoanalytischen Fragestellungen mit seiner reichen klinisch-psychoanalytischen Forschung und einer Form von Konzeptforschung, die im Research Committee for Conceptual Research (2002 – 2009: Chair : M. Leuzinger-Bohleber) als essenziell für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse postuliert wurde. Sein Beitrag in diesem Band kann exemplarisch für heutige Konzeptforschung in der Psychoanalyse gelten. David Taylor (London) und Hugo Bleichmar (Madrid) gehören zu den Beratern der großen multizentrischen LAC-Depressionsstudie. Da wir zusammen mit David Taylor kürzlich schon mehrere gemeinsame Publikationen vorgelegt haben (vgl. Boh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl

leber, 2010; Leuzinger-Bohleber, Röckerath u. Strauss, 2010), drucken wir hier eine neuere Arbeit von Hugo Bleichmar ab, die illustrieren mag, wie er seine jahrzehntelange klinische Arbeit mit chronisch Depressiven in immer wieder neuer und kreativer Weise konzeptualisiert und bezüglich behandlungstechnischer Fragen reflektiert. Robert Emde unterstützt uns neben Daniel Stern, Anne-Marie Sandler, Peter Fonagy, Henri Parens, Jonathan Green und anderen als Consultant bei den zurzeit laufenden Forschungsprojekten im Bereich der Frühprävention. Robert Emde ist einer der ersten und bekanntesten Psychoanalytiker, der sich im Feld der Präventionsforschung einen Namen gemacht hat. Er war mitverantwortlich für das Head Start Projekt der US-Regierung, das in 17 amerikanischen Städten rund 3.000 Risikofamilien untersucht hat. In seinem Beitrag in diesem Band fasst er die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschungstätigkeiten zusammen. Wie Daniel Stern hat er in einem Workshop im Oktober 2010 in großzügiger Weise uns bei der Durchführung vor allem des ERSTE SCHRITTE-Projekts beraten. Ebenfalls eine besondere Bereicherung für viele unserer laufenden Projekte war der Beitrag von Steven Suomi (Bethseda, USA), den er an der schon erwähnten Joseph Sandler Research Conference 2010 gehalten hat. Der Dialog mit den Neurowissenschaften und der Epigenetik ist ein weiterer Forschungsschwerpunkt am SFI, den wir sowohl mit den klinischen Projekten (z. B. der LAC-Depressionsstudie) und den Präventionsprojekten (STARTHILFE, EVA, ERSTE SCHRITTE) verbinden. Der Überblick über die Forschungsprojekte im Bereich »Psychoanalyse im Dialog mit den Sozial- und Geisteswissenschaften« wird von Rolf Haubl in seinem Einführungsbeitrag »Aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung am SFI: ein Umriss« skizziert. Entlang einer knappen Porträtierung der Forschungsprojekte, die in den letzten Jahren durchgeführt oder neu begonnen wurden, verdeutlicht er das theoretische, methodologisch-methodische und praxeologische Selbstverständnis einer an der Psychoanalyse orientierten Sozial- und Geisteswissenschaft. Betrachtet man die einzelnen Projekte im Verbund, so mag deutlich werden, dass sich zu einer empirisch abgestützten kritischen

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Vorbemerkungen

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Auseinandersetzung mit der Lebensführung fügen, die derzeit als Ich-Ideal propagiert und institutionalisiert wird. Im Anschluss an diesen Überblick beleuchten vier Aufsätze schlaglichtartig verschiedene Facetten des skizzierten Forschungsprogramms. Lilli Gast, Vizepräsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin, rekonstruiert die Besonderheiten psychoanalytischen Denkens und markiert damit mögliche interdisziplinäre Anschlussstellen, wobei sie aber gleichzeitig deutlich macht, welche sperrigen Bündnispartner die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen füreinander sind. Hans-Joachim Busch, der seit Jahrzehnten die von Klaus Horn gegründete vitale Arbeitsgruppe für »Politische Psychologie« am SFI leitet, schließt mit einem Beitrag an, der sich als eine programmatische Liste von Forschungsfragen nach den psychosozialen Bedingungen von Demokratie und deren Gefährdung lesen lässt. Solche Fragen lagen auch einem Großprojekt über Angst und Gesellschaft zugrunde, zu dem sich das SFI und die psychoanalytische Sozialpsychologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität mit Politischen Philosophen aus Italien verband. Leider ist der Projektantrag gescheitert. Die dennoch weiter bestehenden Kooperationsbeziehungen belegt der Beitrag von Angela Kühner und Chiara Bottici, die sich über politische Mythenbildung aus sozialpsychologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive untersuchen. Der vierte Teil schließt dann mit einem Beitrag von Rolf Haubl, der psychische Gesundheit als ein Gut diskutiert, das die neoliberale Gesellschaft aufs Spiel setzt, wenn sie ihre Mitglieder durch eine zunehmende Entgrenzung und Subjektivierung von Erwerbsarbeit überfordert. Wir hoffen, dass wir mit diesem Band einen Eindruck davon vermitteln, wie wir versuchen, das SFI durch eine zunehmend pluralistisch werdende und von ökonomischen Zwängen mitdeterminierte Forschungslandschaft zu navigieren. Wir denken, dass es uns gelungen ist, dieses einzigartige Forschungsinstitut mit neuem Leben und vielfältigen Forschungsaktivitäten in einem befruchtenden interdisziplinären und intergenerationellen Dialog zu erfüllen und dabei seine unverwechselbare kul© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl

turkritische Tradition aufzunehmen und weiterzuführen. Wir danken allen unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den vielen oben erwähnten nationalen und internationalen Persönlichkeiten, die uns dabei unterstützen und unterstützt haben. Wir versuchen, die vielen Spannungsfelder, die mit psychoanalytischem Forschen unweigerlich verbunden sind, ständig gemeinsam und im Dialog mit dem reichen Netz an Beratern und Kolleginnen und Kollegen zu reflektieren und der Psychoanalyse als kritische, wenn auch »leise Stimme des Unbewussten« in den wissenschaftlichen Diskursen und in der Öffentlichkeit immer wieder Gehör zu verschaffen.

Literatur Bohleber, W. (Hrsg.) (2010). Depression. Neue psychoanalytische Erkundungen einer Zeitkrankheit. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 64 (Sonderheft 9/10). Ellman, S. (2010). When theories touch: A historical and theoretical integration of psychoanalytic thought. London: Karnac. Leuzinger-Bohleber, M., Röckerath, K., Strauss, L. V. (Hrsg.) (2010). Depression und Neuroplastizität. Psychoanalytische Klinik und Forschung. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Mitscherlich, A., Mitscherlich, M. (1967). Die Unfähigkeit zu Trauern. München: Piper.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

I Einführung und Übersicht

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Marianne Leuzinger-Bohleber

Von der »one man army« zur interdisziplinären Forschung Zur Forschung an der Klinischen und Grundlagenabteilung am Sigmund-Freud-Institut heute Die Geschichte des SFI ist selbstverständlich nicht ohne die Geschichte der internationalen und der deutschen Psychoanalyse zu verstehen, ein Thema, das noch intensiver Erforschung bedarf.1 Im Folgenden soll daher versucht werden nach einer kurzen Würdigung der Leistung Mitscherlichs als Gründer des SFI, die Situation der Psychoanalyse am Sigmund-Freud-Institut in den 1960er- und 1970er-Jahren mit Entwicklungen in der Internationalen Psychoanalyse in Beziehung zu setzen und schließlich zu illustrieren, wie wir heute das SFI in der aktuellen Forschungslandschaft kritisch zu verorten versuchen. Dabei beziehe ich mich auf die enormen Veränderungen in der Wissensgesellschaft in den letzten Jahrzehnten und versuche zu skizzieren, wie sich diese Veränderungen auf die konkreten Forschungsprojekte im Klinischen und Grundlagenbereich am SFI auswirken. Ich kann dabei vieles nur streifen, unter anderem die ökonomischen Zwänge, die im heutigen globalisierten Neoliberalismus die Forschungsrealitäten weit mehr prägen, als wir uns dies gerne eingestehen. Rolf Haubl wird, als psychoanalytischer Sozialpsychologe, darauf in seiner Einführung differenzierter eingehen. Ich selbst beschränke mit abschließend auf einen Aspekt der komplexen Thematik und erörtere kurz, wie die aktuellen An1

Im Zusammenhang mit dem 150. Geburtstag Sigmund Freuds und der 100-Jahr-Feier der International Psychoanalytical Association wurden verschiedene Arbeiten zu diesem Thema vorgelegt (vgl. u. a. Bohleber, 2010). Zudem wurden in den letzten Jahren eine Reihe umfassender historischer und soziologischer Analysen publiziert. Um nur zwei davon zu erwähnen: George Makari (2008) und Eli Zaretzki (2004). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Marianne Leuzinger-Bohleber

forderungen an psychoanalytische Forschungsprojekte – verglichen mit den Gründungszeiten am SFI – unter anderem neue Formen der Interdisziplinarität einfordern, die abschließend kurz reflektiert werden. Im einleitenden Kapitel zu Teil III des Bandes illustrieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zurzeit in diesen Bereichen am SFI arbeiten, anhand einiger ihrer laufenden Forschungsprojekte meine Ausführungen.

Alexander Mitscherlich: Charismatische Persönlichkeit und »one man army« »[…] ohne Sie [wäre] die Nachkriegsgeschichte der Psychoanalyse anders verlaufen, [hätte] vielleicht gar nicht wieder begonnen«, so schrieb Ilse Grubrich-Simitis an Alexander Mitscherlich 1977 (zit. nach Hoyer, 2008, S. 590).2 Seine charismatische Persönlichkeit prägte nicht nur die öffentliche Präsenz des Sigmund-Freud-Instituts seit seiner Gründung, sondern auch weitgehend die Forschungsaktivitäten, die sich in den ersten Jahren am SFI entfalteten. Liest man die drei Biografien, die zu seinem 100. Geburtstag erschienen sind, von Martin Dehli (2007): »Leben als Konflikt. Zur Biografie Alexander Mitscherlichs«, von Tobias Freimüller (2007): »Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler« und die ausführlichste von ihnen von Timo Hoyer (2008): »Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – Ein Porträt« wird in eindrucksvoller Weise deutlich, wie sehr wir es Alexander Mitscherlich verdanken, dass er der Psychoanalyse in den 1960er-Jahren auch in 2 Mitscherlich selbst schrieb in »Der Kampf um die Erinnerung. Psychoanalyse für fortgeschrittene Anfänger« dazu: »Wer sich für Psychoanalyse interessiert und ein paar Lebensjahrzehnte überschaut, kann nicht anders als baß erstaunt sein über den Wandel in der öffentlichen Einschätzung der Psychoanalyse während dieser Zeit. Es gibt nur noch wenige Verlage, die keine psychoanalytischen Titel anbieten, und auch auf akademischem Pflaster ist die Psychoanalyse kein ›unmögliches‹ Thema mehr« (Mitscherlich, 1975/1983, S. 393).

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Deutschland zu einer Blüte verhalf, aber auch wie hart dies von ihm erkämpft war. Mit großem politischem Geschick, einem bewundernswerten Gespür für aktuelle Zeitthemen, einer unermüdlichen Präsenz in den Medien und politischen Debatten, aber auch einem bis an die Grenzen der Erschöpfung reichenden kontinuierlichen Engagement setzte er sich für die öffentliche und wissenschaftliche Anerkennung der Psychoanalyse ein. Wie auch Plänkers in diesem Band ausführt, ist es interessant, dass das SFI seine Existenz nicht primär den Universitäten, sondern der Politik, den guten Beziehungen Alexander Mitscherlichs zum damaligen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn und der hessischen Ministerialrätin Helene von Bila verdankt, sowie den jahrelangen Mitkämpfern, Max Horkheimer und Theodor Adorno vom Institut für Sozialforschung. Anlässlich der Vorlesungen zum 100. Geburtstag Sigmund Freuds, die Alexander Mitscherlich zusammen mit dem Institut für Sozialforschung im Sommer 1956 organisiert hatte, verkündete der Ministerpräsident Zinn, der Frankfurter Universität einen Lehrstuhl für Psychoanalyse zu stiften. Alexander Mitscherlich sah sich nahe an seinem Ziel, endlich als ordentlicher Professor an einer deutschen Universität das Fach Psychoanalyse vertreten zu können, doch wurde er erneut enttäuscht. Die Frankfurter Fakultät lehnte den angebotenen Lehrstuhl ab und forderte stattdessen seine Umwandlung in einen Lehrstuhl für Erbgenetik (sic!), was angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit dieses Fachs an der Universität Frankfurt ein kaum vorstellbarer Affront war. Dass wiederum der Widerstand aus der akademischen Welt im letzten Moment seinen Lehrstuhl verhinderte, enttäuschte Alexander Mitscherlich sehr. Er musste sich weiter an der von ihm vorwiegend als feindlich erlebten Universität Heidelberg einrichten. Doch beeindruckt an Alexander Mitscherlich auch, dass er den Kampf nie aufgab: Unermüdlich versuchte er die guten Kontakte zum Hessischen Ministerium und zum Institut für Sozialforschung zu nutzen, um trotz aller Widerstände und mit viel politischem und rhetorischem Geschick doch noch die Gründung eines psychoanalytischen Ausbildungs- und For© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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schungsinstituts durchzusetzen. Wiederum nach kaum vorstellbaren Hindernissen und Intrigen war es endlich am 27. April 1960 soweit: Alexander Mitscherlich konnte feierlich das Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin in Frankfurt eröffnen. Am 14. Oktober 1964 wurde ein Neubau an der Myliusstraße feierlich bezogen. Trotz dieses glanzvollen Auftakts erforderten die folgenden Jahre wiederum viel Kraft, Engagement und Durchhaltevermögen. Alexander Mitscherlich, der gleichzeitig Klinikleiter in Heidelberg und Institutsleiter in Frankfurt war, versuchte Hans Zulliger (Bern), Bela Grunberger (Paris), Edith Weigert (London), Henry Löwenfeld (New York) und Michael Balint (London) als Leiter des Frankfurter Instituts zu gewinnen, vergeblich, wie er voll Enttäuschung feststellen musste. Auch Horst-Eberhard Richter lehnte es damals ab, die Direktorenstelle zu übernehmen: er akzeptierte stattdessen den Ruf an die Universität Gießen, der ursprünglich für Mitscherlich gedacht gewesen war. Zudem erwies es sich als äußerst schwierig, genügend Lehranalytiker an das Institut zu bringen, um den zunehmenden Wünschen nach psychoanalytischer Ausbildung nachzukommen. Vor diesem Hintergrund beeindruckt es umso mehr, dass sich das SigmundFreud-Institut zum bedeutendsten psychoanalytischen Ausbildungsinstitut in Deutschland entwickelte. Mitscherlich pendelte zwischen Frankfurt und Heidelberg. Alle seine Mitarbeiter trafen sich mittwochs zum sogenannten »Markt« in Frankfurt und freitags in der Klinik in Heidelberg. Der Schwerpunkt in Heidelberg lag weiterhin auf der psychosomatischen Medizin. In Frankfurt, ohne medizinische Klinik, konzeptualisierte Mitscherlich drei Abteilungen, eine klinische (unter Hermann Argelander), eine psychologische (unter Horst Vogel) und eine sozialpsychologische (unter Tobias Brocher). Neben der Patientenbetreuung wurde ein reiches Angebot an Balintgruppen für Ärzte, Lehrer und Juristen entwickelt und eine große Anzahl von Forschungsprojekten initiiert. Das SFI entwickelte sich zu einem inspirierenden Zentrum der Psychoanalyse auch dank der vielen ausländischen Gäste, die, mit dem Ehepaar Mitscherlich eng befreundet, oft und gern nach Frankfurt kamen, so beispielsweise Piet Kuiper und Jeanne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Lampl-de Groot aus Amsterdam, Otto von Mehring aus Pitsburg, Willi Hoffer, Michael Balint und Paula Heimann aus London, Heinz Kohut und viele andere aus den USA. Zudem setzte sich Alexander Mitscherlich für die Übersetzung vieler ihrer Werke und wichtiger Publikationen ins Deutsche ein, ein Grund mehr, warum die Psychoanalyse in den 1960er-Jahren auf ein enormes öffentliches und fachliches Interesse stieß. Die bedeutendste öffentliche Anerkennung erhielt Alexander Mitscherlich, als ihm 1969 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht wurde. Alle Biografen betonen, dass die öffentliche Würdigung, die Mitscherlich dadurch zukam, in der Öffentlichkeit breite Zustimmung erfuhr. Er wurde als ein unermüdlich für seine Wissenschaft streitender Psychoanalytiker, ein unerschrockener Zeitkritiker und als ein Mann wahrgenommen, der gleich in doppelter Weise Opfer sowohl des Nationalsozialismus als auch seiner Nachwirkungen in den 1950erJahren geworden war. Für viele stand damals der Name Alexander Mitscherlichs für die Psychoanalyse schlechthin. Er verhalf ihr zu einer einmaligen öffentlichen Reputation und für uns heute kaum mehr vorstellbaren Anerkennung und Aufmerksamkeit, vor allem auch in den Medien. Es gab fast keine öffentliche Debatte, in der Mitscherlich nicht präsent war. Durch seine unzähligen Vorträge und journalistischen Tätigkeiten schien er – und damit auch die Psychoanalyse – öffentlich und wissenschaftlich fast omnipräsent. Nach Einschätzung vieler bleibt allerdings sein wichtigster wissenschaftlicher Beitrag seine kritische Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, dem Nationalsozialismus, und dabei vor allem der Verwicklungen der Medizin in seine unser Vorstellungsvermögen immer noch übersteigende Verbrechen. So schreibt Dehli: »Der Abschlussbericht zum Nürnberger Ärzteprozess ist zugleich das einzige Buch Mitscherlichs, dem bis heute andauernd Aufmerksamkeit beschieden ist. Über dreißig Jahre blieb es die wichtigste deutsche Veröffentlichung zur Medizin im Nationalsozialismus. Mitscherlich, der 1933 sein Geschichtsstudium aufgegeben hatte, hat mit seiner Veröffentlichung zum Nürnberger Ärzteprozess © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Marianne Leuzinger-Bohleber eines der wichtigsten Werke der Geschichte der Medizin im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben« (Dehli, 2007, S. 146).

Im Zusammenhang mit dem Jubiläum des SFI hat es uns beschäftigt, dass es um Mitscherlich in den letzten Jahrzehnten merkwürdig ruhig geworden ist, und wir haben nach möglichen Gründen für dieses Phänomen gesucht. Wie ich im Folgenden kurz skizzieren möchte, kann dieses weitgehende Vergessen der charismatischen Persönlichkeit Alexander Mitscherlich, vor allem bei der jungen Generation, nur im Zusammenhang mit den enormen gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten fünf Jahrzehnten verstanden werden, Veränderungen, die selbstverständlich auch die Psychoanalyse betreffen (vgl. dazu u. a. Pfenning, im Druck). Für uns ist das gemeinsame Nachdenken über diese Zusammenhänge nicht nur mit der selbstverständlichen Neupositionierung der Psychoanalyse in ständig sich wandelnden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten verbunden, sondern wohl auch mit einer angebrachten Trauerarbeit, dass wir heute am SFI – aber auch weltweit – nicht mehr in einer solchen »Hochblüte der Psychoanalyse« leben. In der Psychoanalyse, aber auch in der Welt der globalisierten, international vernetzten, vom Neoliberalismus geprägten Wissenschaften scheinen die Zeiten der »one man army«, wie Erikson Mitscherlich einmal charakterisierte, der Vergangenheit anzugehören. Es sind neue Spannungsfelder entstanden, in denen sich die Psychoanalyse als »spezifische Wissenschaft des Unbewussten« behaupten und entfalten muss, ohne dabei ihr kritisches Potenzial zu verlieren. Dazu einige Anmerkungen, die allerdings in diesem Rahmen sehr fragmentarisch bleiben müssen.

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Die Geschichte des SFI auf dem Hintergrund der internationalen Psychoanalyse: einige wissenschaftssoziologische Anmerkungen Makari (2008) zeichnet als Medizinhistoriker die Entstehung der Psychoanalyse anfangs des 20. Jahrhunderts in eindrucksvoller Weise detailliert nach und zeigt auf, wie sehr sie das Produkt der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte ist.3 Freud gelang es, in seinem Verständnis von Psychoanalyse verschiedene Strömungen der damaligen Biophysik und Psychophysik, die Kontroversen um ein neues Verständnis der Psychopathologie in 3

Er verbindet die Entstehung und die Geschichte der Psychoanalyse und die Überschätzung, die Freud dabei zugesprochen wird, vor allem mit dem Nationalsozialismus und den unerträglichen Verlusten, die die Generation der in die USA emigrierten Psychoanalytiker erleben mussten: »Die Psychoanalyse entstand aus dem Wirrwarr des Nachkriegseuropas und wurde zur führenden, modernen Theorie der Seele. Ihre Modelle der unbewussten Leidenschaften, ihre Auffassung von Abwehr und innerem Konflikt und ihre Methode, Selbsttäuschungen aufzudecken, siegten über die traditionellen Quellen des Selbstverständnisses wie z. B. Religion. In den USA eroberte die Psychoanalyse ihren Weg zu Gerichten, Schulen und Kliniken und wurde zur Informationsquelle in der Literatur, im Film, dem Fernsehen, von Journalisten, im Theater und in der Kunst. Und während sich die Psychoanalyse ausbreitete, brachte sie, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, die Kultur Kants mit sich; die Grundannahmen der Geisteswissenschaften und einer europäischen klassischen Bildung: Sie brachte die Evolutionsbiologie, den Positivismus und die Newton’sche Physik mit sich und die Gedanken von Ribot, Charcot, Bernheim, Breuer, Brentano, KrafftEbing, Fliess, Brücke, Helmholtz, Mach, Schelling, Fechner, Hering, Haeckel, Ehrenfels, Forel, Bleuler, Jung, Gross, Adler, Stekel, Sadger, Rank, Ferenczi, Abraham, Horney, Alexander, Fenichel und viele andere. Allerdings wurden die meisten dieser Vorgänger mit der Zeit vergessen oder verleugnet. Stattdessen trug ein Geist alles das weiter, was geerbt und zerstört worden war, alle die Möglichkeiten und Verluste. Die Kultur, die die Psychoanalyse geboren hatte, wurde zu ihrem Grab. Es gab sie nicht mehr. Die Überlebenden im Exil und ihre Nachfolger auf der neuen Insel fielen in ein Vakuum ihrer Zukunft, begleitet von einem Namen, einem Talisman: Freud. Ein Mann musste nun die Geschichte repräsentieren, und als Symbol würde er weiterleben, […] seine Söhne und Töchter, seine Feinde und Freunde (Makari, 2008, S. 485; Übersetzung L.-B.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Frankreich um Charcot an der weltberühmten Klinik SalpÞtiÀre sowie sexualwissenschaftliche Forschungen von Krafft-Ebing, Ehrenfels, Weinberger, Moll, Hirschfeld und andere in seinen Theorien der psychosexuellen Entwicklung, des Unbewussten und der Psychodynamik seelischer Störungen zu integrieren (s. dazu u. a. Makari, 2008, S. 120). Zudem war er in dieser naturwissenschaftlichen Orientierung stark vom Darwinismus4 beeinflusst, der den Menschen als einen Organismus sah, der von Bedürfnissen getrieben ist, die er unter spezifischen Umweltbedingungen zu befriedigen versucht. Daher definierte Freud bekanntlich »Triebe« an der Grenze zwischen dem Somatischen und dem Psychischen. Psychische Eigenschaften, die Entwicklungsstadien der Sexualität sowie die Ich-Funktionen verstand er als das Produkt einer langen Evolutionsgeschichte, in der sich der Mensch kontinuierlich an innere und äußere Realitäten anpasste (vgl. dazu auch Gay, 1987/1989; Jones, 1960/1962; Zaretzki, 2004/ 2006, S. 473 ff.; Whitebook, 2010). Unbestritten gehört es zu den großen Leistungen von Freuds und seinen Mitstreitern, dass sie sich bei seiner Entdeckung der Psychoanalyse einerseits auf die Naturwissenschaften ihrer Zeit beriefen, aber andererseits immer auch die Human- und Kulturwissenschaften mitdachten. Als junger Mann interessierte sich Freud sehr für Philosophie und die anderen Geisteswissenschaften, bevor er sich mit einer auffallend heftigen emotionalen Reaktion den Naturwissenschaften zuwandte. Im Labor am Physiologischen Institut von Ernst Brückes lernte er ein streng positivistisches Verständnis von Wissenschaft kennen, das ihn Zeit seines Lebens anzog. Dennoch wandte sich Freud später von der Neurologie seiner Zeit ab, da er die Grenzen der methodischen Möglichkeiten zur Erforschung des Seelischen in dieser Disziplin erkannte. Mit der »Traumdeutung«, dem »Geburtsdokument der Psychoanalyse«, definierte er diese als »reine Psy4

Allerdings ist bekannt, dass Freud auch von Lamarck beeinflusst war, z. B. in seinen kulturtheoretischen Schriften: »Totem und Tabu« (1912/13) oder »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1939). Er ging davon aus, dass im individuellen Gedächtnis auch unbewusste Erinnerungen an die Kulturgeschichte enthalten sind, eine Lamarck’sche These. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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chologie«. Allerdings verstand er sich auch weiterhin als naturwissenschaftlich genau beobachtender Mediziner. Sein Wunsch nach einer präzisen »empirischen« Überprüfung von Hypothesen und Theorien schützte, so Joel Whitebook (2010), Freud vor seiner eigenen Neigung zur wilden Spekulation. Dadurch konnte er als »philosophischer Arzt« eine neue, »spezifische Wissenschaft des Unbewussten«, die Psychoanalyse, begründen. Freud setzte daher mit seinem Verständnis von Psychoanalyse Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften miteinander in Beziehung. In seiner Konzeption einer Psychosexualität gestaltete er die eine Dialektik von Biologie und Psychologie, von Körper und Seele, in einer neuen Weise. Ebenso intensiv befruchteten Literatur und Kunst sein Denken. Auch aus ihnen schöpfte er seine Erkenntnisse über die Grundkonflikte des Menschen, die sich aus den frühkindlichen Fantasien und den ersten Objektbeziehungen speisen und ihn ein Leben lang unbewusst determinieren. Makari (2008) beschreibt eindrucksvoll, wie schon in der Anfangszeit der Psychoanalyse zu beobachten war, wie Freud und seine Anhänger einen Weg zu finden versuchten zwischen einerseits einer offenen, innovativen Diskussion, mit ständigem Hinterfragen von sogenannten »Wahrheiten«, wie sie einen wissenschaftlichen Diskurs auszeichneten, und andererseits dem Suchen nach einer gemeinsamen Identität, den spezifischen Merkmalen von »Psychoanalyse« andererseits. Nachträglich gesehen war es eine folgenschwere Entscheidung von Freud, dass er in diesem inhaltlichen und institutionellen Spannungsfeld an seinem Verständnis von Psychoanalyse festhielt und der Gefahr widerstand, die Psychoanalyse entweder in die Welt der Medizin oder in eine »reine Kultur- und Geisteswissenschaft« zu integrieren. Die Psychoanalyse bewahrte daher ihre Eigenständigkeit als wissenschaftliche Disziplin. Schröter (2010) bezeichnet es als einen »Konstruktionsfehler« der Psychoanalyse, dass sie sich von den Universitäten abwandte und sich als »Privatwissenschaft« definierte, abseits des universitären Diskurses. Makari (2008) verfolgt dagegen eine andere These: Auch er sah in der Entscheidung zur Gründung einer »loyalen« psychoanalytischen Vereinigung in Nürnberg 1910 einen pro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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blematischen Schritt, der sowohl den Rückzug wichtiger, als wissenschaftlich identifizierter Personen wie Eugen Bleuler wie auch die verheerenden Spaltungen (Adler, Jung) etc. nach sich zog. »Sigmund Freud hat seine Community von Zweiflern, Rivalen und potenziellen Nachfolgern gereinigt. Der Clanvater hatte sich seiner rebellierenden Söhne entledigt« (Makari, 2008, S. 290; Übers. M. L.-B.). Zwar schützte er dadurch durchaus auch Patienten von den Auswüchsen »wilder Analyse« und sexueller Übergriffe, wie sie etwa Otto Gross praktizierte und idealisierte, aber er schränkte dadurch auch produktive wissenschaftliche Kontroversen ein und schuf die Gefahr einer psychoanalytischen Sekte, die sich ihrem Führer unterwirft. Makari zeigt auf, dass sich Freud dieser Gefahren durchaus bewusst war und sich in den folgenden Jahren noch intensiver darum bemühte, Psychoanalyse nicht als Religion, sondern als Wissenschaft zu definieren. »Nachdem Jung von seiner IPAPräsidentschaft zurückgetreten war, versuchte Freud sofort sein Wissenschaftsfeld zu verteidigen. Um diesen Punkt zu betonen: Freud brauchte eine solide Definition von Wissenschaft. Zur gleichen Zeit wurde in Wien dieses Thema heftig debattiert [u. a. durch Ernst Mach in seiner Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie von Albert Einstein; M. L.-B.]. 1914 bezog sich Freud auf diese Diskussionen und versuchte, die Freud’sche Psychoanalyse als Wissenschaft zu charakterisieren. Psychoanalytische Ideen, schrieb er, sind nicht die Grundlage der Wissenschaft, auf denen alles aufbaut: Dieses Fundament sind einzig die Beobachtungen. Sie sind nicht die Basis, sondern der Gipfel der ganzen Struktur und sie können jederzeit ersetzt oder verändert werden, ohne ihr zu schaden. Das Gleiche ereignet sich in unseren Tagen in der Physik. Die Basisannahmen, zum Beispiel die zentralen Kräfte, Anziehungen etc., sind kaum weniger zu debattieren als die analogen Konzepte in der Psychoanalyse« (Makari, 2008, S. 298; Übers. M. L.-B.). Damit beschrieb Freud das Ringen um eine »forschende Grundhaltung« (LeuzingerBohleber, 2007), die bis heute die Psychoanalyse prägt. Makari zeichnet detailliert nach, dass sich Freud ständig um eine solche wissenschaftliche Grundhaltung bemühte und sich mit den Argumentationen seiner Gegner auseinandersetzte und sie in neue © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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theoretische Ansätze integrierte. So differenzierte er zum Beispiel in seinen »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916/17), die wie ein erstes »Lehrbuch der Psychoanalyse« aufzufassen sind und daher dazu dienten, den damaligen Konsens »was unter Psychoanalyse zu verstehen gilt« zu sichern, seine Auffassungen zur Psychosexualität, die in der Kontroverse mit Jung zu einer Art »Glaubenssatz« geworden waren. In den Vorlesungen fordert er seine Zuhörer auf, seinen Beobachtungen kritisch (»wissenschaftlich«) zu folgen, statt sich seinen Auffassungen zu unterwerfen. Die Beobachtungen werden nun zum Prüfstein der »Wahrheit der Theorien«, zum argumentativen Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit alternativen Auffassungen wie jenen von Jung, Adler etc. Nach Makari hat sich Freud die Argumente seiner Gegner immer für Modifikationen seiner Theorien nutzbar gemacht. Zum Beispiel stellte er durch die Kontroverse mit Adler fest, dass er bisher die Rolle der Aggression konzeptuell unterschätzt hatte, und berücksichtigte diesen Aspekt (auch unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges) in seiner Narzissmustheorie. Zudem überraschte er in seiner Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« (1920) seine Anhänger damit, dass er selbst die Position verwarf, die Libidotheorie sei das »sine qua non« der Psychoanalyse. Er konzeptualisierte nun Thanatos (den Todestrieb) als den unverzichtbaren Gegenspieler des Eros (des Lebenstriebs) im Seelenleben des Menschen, ein Gedanke, den schon Stekel vor Jahren geäußert hatte, den Freud aber damals heftig verworfen hatte. »Angetrieben von den Schrecken des Krieges, verwarf Sigmund Freud, der Denker, Sigmund Freud, den Verteidiger einer Bewegung. Niedergeschmettert durch die Ereignisse ging er zurück zum Reißbrett und änderte seine Auffassungen. In diesem Prozess erlaubte er, bzw. betonte er sogar, die vorläufige Natur jeder Theorie des Unbewussten […] Freud veränderte sich von einem grauen, alten Patriarchen zu jemandem mit vielen Söhnen und Töchtern, ein Indikator für die Entstehung einer Wissenschaft« (Makari, 2008, S. 319; Übersetzung L.-B.). Doch brauchte es klare Strukturen in der Ausbildung, wie sie erstmals das Berliner Institut unter Karl Abraham entwickelte, um einen kreativen, lebendigen und »wissenschaftlichen« Diskurs in der analytischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Gruppe zu stärken: Verglichen mit der Wiener Gruppe herrschte in Berlin ein offenes, von Neugier geprägtes Klima, das viele begabte Nachwuchswissenschaftler anzog und zu eigenständigen Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theoriebildung führte (z. B. von Karl Abraham selbst, aber danach von Franz Alexander, Melanie Klein u. a.). Makari spricht daher von der »Neuen Psychoanalyse« (Makari, 2008, S. 367 ff.). Die Poliklinik (u. a. unter der Leitung von Ernst Simmel) und die Öffnung zu Medizin, Psychiatrie und Universität trugen ebenfalls zu der Kreativität der Gruppe bei. Die politischen Ereignisse (Börsenkrach, Aufkommen des Nationalsozialismus) beendeten diese Blüte der Psychoanalyse im Berlin der Zwanzigerjahre. In Wien entwickelte sich ein intensiver Diskurs über die »Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse«, an der sich auch Heinz Hartmann und Anna Freud (»Das Ich und die Abwehrmechanismen«, 1936/1952) federführend beteiligten. So wandte sich zum Beispiel Hartmann vehement gegen eine Auffassung von Psychoanalyse als »Weltanschauung«: »Es gab keine Marxistische Psychoanalyse, keine Jüdische Psychoanalyse und es konnte auch keine nationalsozialistische Psychoanalyse geben. Es gab nur die Psychoanalyse. Oder anders ausgedrückt, eine rationalistische, empirische und naturalistische Psychoanalyse« (A. Freud zit. in Hartmann, 1975, S. 451). »Freud verschmolz beide Strömungen in einer vollkommen neuen, weder rein naturwissenschaftlichen noch rein geisteswissenschaftlichen Synthese. Zwingend und kohärent wurde sie durch die Entdeckung eines neuen Objektes: des eigensinnigen, bedeutungsvollen und moralisch bestimmten psychischen Lebens des Menschen. Es war ein neues Verständnis des Subjekts, stand zudem mit den Formen des persönlichen Lebens in Einklang, die sich mit der zweiten industriellen Revolution gesellschaftsübergreifend durchsetzten. […] Die psychoanalytische Auffassung des Subjekts machte das Projekt der Aufklärung vielschichtiger und vertiefte es zugleich […] Die Forderung war, sich selbst objektiv – nämlich ›analytisch‹ – zu sehen und zugleich empathisch in die innere Welt anderer Menschen einzutreten. Insofern leistete die Psychoanalyse einen gewaltigen Beitrag zur Erweiterung der menschlich-moralischen Fähigkeiten. Als Speerspitze epochaler gesellschaftlicher Veränderungen schuf sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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eine neue Ethik, die darauf hinauslief, dass ein bedeutungsvolles Leben gründliche Selbstreflexion verlangt. Solange die Psychoanalyse ihre führende Rolle innehatte, verband sie diese neue Ethik mit der Leidenschaft einer Berufung« (Zaretzki, 2004/2006, S. 474 f.).

Alexander Mitscherlich kann als ein prototypischer Verfechter dieser »neuen psychoanalytischen Ethik« der Psychoanalyse gelten: Leidenschaftlich setzte er sich für die Aufklärung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte, des Nationalsozialismus, ein und nutzte die Psychoanalyse als Forschungsmethode, um die unbewussten Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Nachkriegszeit zu erhellen. Diesem Engagement, das öffentlich und politisch eng verknüpft mit der Psychoanalyse als unverzichtbarer, aufklärerischer Kraft wahrgenommen wurde, verdankt das SFI seine Existenz. Dabei war es gerade die Verbindung von einer genauen, empirisch »naturwissenschaftlichen« Beobachtung komplexer Phänomene mit aktuellen geisteswissenschaftlichen Störungen, die damals zur Attraktivität der Psychoanalyse – auch bei Politikern – beitrugen. Nach Zaretzki (2004/2006, S. 475 ff.) trennten sich in den 1970er-Jahren die natur- und geisteswissenschaftlichen Orientierungen innerhalb der Psychoanalyse wieder – nach seinen soziologischen Analysen ein wichtiger Faktor, der zum gesellschaftlichen Bedeutungs- und Machtverlust der Psychoanalyse beitrug. Die internationale Psychoanalyse spaltete sich in zwei verschiedene Projekte, einerseits in eine quasi medizinische, therapeutische Behandlung psychisch Kranker, eine »therapeutische« Richtung, und andererseits in eine neue kulturtheoretische Forschungsrichtung, eine »kritisch hermeneutische« Orientierung. Von heute aus gesehen ist interessant, dass am SFI diese Spaltungen und die damit verbundenen wissenschaftstheoretischen Positionierungen in den 1970er-Jahren intensiv diskutiert wurden, erinnern wir uns nur zum Beispiel an die Definition der Psychoanalyse als »Wissenschaft zwischen den Wissenschaften« von Alfred Lorenzer (1974/1985) oder an die Charakterisierung der Psychoanalyse als eine dem »emanzipatorischen Erkenntnisinteresse« verpflichtete Therapiemethode, die ihr »szientistisches Selbstmissverständnis« immer wieder neu zu analysieren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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habe, von Jürgen Habermas (1968). Damit wurde die wichtige wissenschaftstheoretische Verortung der Psychoanalyse erneut aufgenommen und weiter differenziert. Allerdings konnten die sich damals vollziehenden gesellschaftlichen Prozesse, die zu einem sukzessiven Verlust der Attraktivität der Psychoanalyse als einer das Unbewusste in der Kultur deutenden Disziplin führten, zwar reflektiert, aber selbstverständlich in ihrer weiteren Entfaltung nicht verhindert werden. Einige dieser Entwicklungen seien hier kurz skizziert:

Niedergang der Freud’schen Kulturkritik zugunsten eines Paradigmas der »Anerkennung« oder »Außengeleitetheit« Bis Ende der 1960er-Jahre sprach die Freud’sche Psychoanalyse – international und in Deutschland – so viele Menschen an, weil sie sich, angeregt durch Kunst und Literatur – mit den großen Themen des menschlichen Lebens auseinandersetzte, mit Liebe und Aggression, Sexualität, Kreativität und Tod, dem »Unbehagen in der Kultur«, Krieg und Frieden etc. Margarete und Alexander Mitscherlich verstanden es zudem, vorherrschende Zeitthemen wie die »Unfähigkeit zu trauern« in Sprache zu fassen und dadurch breite Diskurse in der deutschen Nachkriegszeit zu initiieren. Es ist interessant, dass zuerst diese aufklärerischen, politischen Schriften auf großes Interesse bei den Studierenden der 68er-Generation stießen. In Frankfurt hatten Mitscherlichs Vorlesungen fast einen Kultcharakter. Aber bald schon zeigte sich, dass sich die Beziehung von Mitscherlich, aber auch von Psychoanalytikern seiner Generation weltweit, zu der revoltierenden Studentengeneration abkühlte oder sogar in gegenseitiges Misstrauen umschlug (vgl. dazu u. a. Hoyer, 2008). In Zürich zum Beispiel, waren die Führer der Studentenbewegung fast vorwiegend Psychoanalytiker der jüngeren Generation, wie Berthold Rothschild, Emilo Modena, Peter Passett und andere. Die Vorlesung zu Wilhelm Reichs »Massenpsychologie und Ichanalyse« von Rothschild während der antifaschistischen Woche in der großen Aula der Universität bildete 1971 einen der Hö© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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hepunkte der Bewegung. – Doch bald spitzten sich die Konflikte mit der etablierten Generation von Psychoanalytikern zu: Ulrich Moser, Professor für Klinische Psychologie, verteidigte die Bibliothek des Instituts, die von den Studierenden weggetragen und »dem Proletariat« zur Verfügung gestellt werden sollte, mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz »Nur über meine Leiche …«. In Zürich eskalierten daraufhin die Konflikte zwischen den verschiedenen Generationen von Psychoanalytikern und, damit verbunden, mit der institutionalisierten Psychoanalyse, der Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse, und führten zu einer Spaltung der Zürcher Gruppe – mit weitreichenden Folgen bis heute. Doch nicht nur in Zürich, auch in Frankfurt, Paris, Berkeley und New York setzte die Generation von Studierenden ihre Hoffnungen immer mehr auf eine politisierte Kultur und politische Bewegungen und Organisationen, die die Gesellschaft als Ganze verändern sollten, und nicht mehr nur auf die Psychoanalyse. Die Veränderungen der Einzelnen, auf die die Psychoanalyse den Schwerpunkt setze, wurden eher an den Rand gedrängt. Gruppentherapeutische Angebote (vgl. dazu u. a. Richter, Foulkes, Horn) sowie institutionstheoretische Ansätze gewannen mehr und mehr an Attraktivität. Manche davon waren auch mit der antipsychiatrischen Bewegung liiert, die breiten Einfluss gewann und unter anderem mit der Psychiatrie-EnquÞte die psychiatrischen Institutionen weitgehend veränderten. H.-E. Richter und anderen Psychoanalytikern gelang es, viele Psychoanalytiker auf die neu gegründeten Psychosomatik-Lehrstühle zu berufen und sie zu einem sozialpsychologischen Engagement zu animieren. Um diesen neuen, gesellschaftskritischen Bedürfnissen zu entsprechen, entwickelten Klaus Horn, Alfred Lorenzer, HansJoachim Busch, Karola Brede und Rolf Haubl eine psychoanalytische Sozialpsychologie, in die große Hoffnungen gesetzt wurden, die allerdings, wie Rolf Haubl in seinem Beitrag in diesem Band ausführt, nur zum Teil erfüllt werden konnten. International wurde die Psychoanalyse aber trotz dieser teilweise aus ihr hervorgegangenen gesellschaftlichen Reformbewegung als kritische Kulturtheorie in den kommenden Jahr© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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zehnten eher marginalisiert. »Als der eine große Teilbereich des psychoanalytischen Gebäudes in der Psychopharmakologie versank, so driftete der andere ab in die Identitätspolitik. […] Heraus entstand ein neues Paradigma: ›Anerkennung‹ oder ›Außengeleitetheit‹. Damit blieb von der Psychoanalyse nicht viel übrig« (Zaretzky, 2008, S. 480). Zwar erlebte die Psychoanalyse in der Genderforschung nochmals einen neuen Aufschwung und leistete ihren Beitrag zur Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlechtsrollen und Identitätsentwürfen (vgl. u. a. Chodorow, 1978/1985; Butler, 1990). Doch auch in diesen Diskursen verlor die Psychoanalyse mehr und mehr ihre Deutungsmacht als »Metatheorie des Unbewussten« und wurde sukzessiv zu einer zwar nach wie vor unverzichtbaren, aber »leisen« Stimme im interdisziplinären Dialog. Analoge Entwicklungen lassen sich in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der Medizin sowie der Wissenschaften in Zeiten zunehmender Pluralität ganz allgemein beobachten, Entwicklungen, die ein psychoanalytisches Forschungsinstitut wie das Sigmund-Freud-Institut vermutlich weit mehr determinieren, als wir dies oft wahrnehmen und kritisch in Rechnung stellen.

Bedeutungsverlust der Psychoanalyse in der Medizin: zum Vormarsch der pharmakologischen Behandlungen und der »evidence based medicine« Die Beziehung der Psychoanalyse zur Medizin war von Anfang an eine komplizierte. Freud konnte sich einen seiner größten Wünsche nie erfüllen: Er wurde nie ordentlicher Professor an der medizinischen Fakultät in Wien. In Europa, auch durch die politischen Ereignisse im 20. Jahrhundert und die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Psychoanalytiker, hatte die Psychoanalyse eher mit der gesellschaftlichen Marginalisierung als »Geheimwissenschaft« und »Sekte« jenseits der medizinischen Institutionen zu kämpfen.5 Die kurz erwähnten Konflikte im 5 In Deutschland dauert die kritische Auseinandersetzung mit der Anpassung der deutschen Psychoanalytiker an eine synoptische Psychothe-

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Zusammenhang mit einem Lehrstuhl in der medizinischen Fakultät der Goethe-Universität für Alexander Mitscherlich sind daher auf diesem historischen und soziologischen Hintergrund kaum erstaunlich. – Allerdings hatte es, wiederum von heute aus gesehen, durchaus auch Vorteile, dass als eine Folge davon das SFI als ein von der Medizin unabhängiges Ausbildungs- und Forschungsinstitut konzipiert wurde. Dafür mag ein – hier allerdings wiederum sehr fragmentarisch bleibender – Blick auf die Geschichte der Psychoanalyse in den USA sensibilisieren: In den USA lehnte sich die Psychoanalyse von Anfang an sehr an die Medizin und die Psychiatrie an und ließ beispielsweise bis in die 1990er-Jahre nur Mediziner zur psychoanalytischen Vollausbildung zu (vgl. dazu u. a. Wallerstein, 1985; Kernberg, 2006, 2007; Hanly, 2009).6 Dies ermöglichte ihr einen einzigartigen politischen Einfluss und eine erstaunliche gesellschaftliche Machtstellung: Die amerikanische Psychiatrie der 1950er- und 1960er-Jahre war fast vorwiegend in den Händen der Psychoanalyse. Mitscherlich lernte diese Situation durch seine USAReisen kennen und brachte die amerikanische Ich-Psychologie rapie im Rahmen des Göring-Instituts – und damit auch an die Nationalsozialisten – bis in die heutige Zeit an, wie die Wiederaufnahme von Teilen der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in die IPA 2009 nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und ihrer spezifischen Geschichte exemplarisch zeigt (vgl. dazu Bohleber, 2010; Wellendorf, 2010). 6 Eine interessante These wurde von George Makari am Panel »Influences of American Culture on Psychoanalysis« am 16. 01. 2011 beim Kongress des American Psychoanalytical Association in New York vertreten. Die jüdischen Emigranten, die dem Holocaust in Europa meist knapp entkommen waren, mussten in den Zeiten der McCarthy-Ära ihre sozialistische politische Orientierung geheim halten, da sie als gefährlich nahe am Kommunismus wahrgenommen wurde, deren Repräsentanten teilweise sogar mit der Todesstrafe »eliminiert« wurden. Daher präferierte diese Generation von Psychoanalytikern, so Makari, apolitische theoretische Orientierungen wie die Ich-Psychologie. Mir scheint es möglich, dass sie zudem »sichere« gesellschaftliche Positionen, wie die der Mediziner, professionell bevorzugten. Einige renommierte Psychoanalytiker absolvierten nochmals ein volles Medizinstudium, um als Psychoanalytiker »gesellschaftlich unangefochten« arbeiten zu können. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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nach Deutschland. Allerdings entstand – nachträglich gesehen – durch dieses Anlehnen der amerikanischen Ich-Psychologen an ein positivistisches Wissenschaftsverständnis in der Psychiatrie durchaus eine paradoxe Situation: »Je mehr sie sich am Vorbild Medizin orientierten und dort Schutz suchten, desto lautstärker wurden sie von medizinisch-wissenschaftlicher Seite als ›unwissenschaftlich‹ abqualifiziert« (Zaretzky, 2008, S. 476). Dies lässt sich in verschiedenen Diskursen beobachten, in den Diskussionen um das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), in dem der Einfluss des psychodynamischen Denkens von Version zu Version immer mehr verschwand, sowie im sukzessiv stärker werdenden Einfluss der »evidence based medicine«.7 Das ausschließlich positivistische Forschungsverständnis breitete sich vor allem auch im Zusammenhang mit der rasanten Entwicklung der pharmakologischen Behandlung psychischer Störungen aus, die als »billiger«, »effizienter« und »wissenschaftlicher« (in Doppelblindversuchen überprüfbar) gesellschaftlich wahrgenommen wurden. Ihr Vormarsch verdrängte die Psychoanalyse mehr und mehr aus der Psychiatrie. – Während in den 1980er-Jahren durchaus noch ein pluralistischer Methodenansatz, oft eine Kombination von medikamentöser, psychodynamischer und psychosozialer Behandlung, angeboten wurde, führten die heftigen Kontroversen, unter anderem ausgelöst durch Grünbaum und andere »Freud bashers« in den 1990er-Jahren, dazu, der Psychoanalyse ihre wissenschaftliche Fundierung ganz abzusprechen und der Verhaltenstherapie immer mehr die Präferenz sowohl in den psychiatrischen Kliniken als auch den Universitäten einzuräumen. Solche gesellschaftlichen Entwicklungen fanden, wenn auch in milderer Form, ebenfalls auch in Deutschland statt und führten zu einem weitgehenden Verlust der psychoanalytischen und 7

Es ist allerdings zu erwähnen, dass in das bald erscheinende DSM-V wieder vermehrt psychoanalytische und psychodynamische Konzepte Eingang finden. Nach Bernardi (2010, mündliche Mitteilung) ist dies wesentlich dem Einfluss des Psychodynamischen Manuals Psychischer Störungen zuzuschreiben, ein Manual, das von Psychoanalytikern als »Gegenentwurf« zum DSM-IV entwickelt worden war. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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psychosomatischen Lehrstühle (vgl. dazu u. a. Forschungsgutachten: Strauß et al., 2009; Lebiger-Vogel, 2011). Von all diesen Entwicklungen blieb auch das Sigmund-Freud-Institut nicht unberührt.

Von der exklusiven »Wissenschaft zwischen den Wissenschaften« zu einer »spezifischen Wissenschaft des Unbewussten« in der heutigen pluralen Welt der Wissenschaften und einer globalisierten, neoliberalen Wissensgesellschaft Wenigstens kurz soll erwähnt werden, dass die eben skizzierten Veränderungen nicht auf die internationale und nationale Psychoanalyse beschränkt sind, sondern mit den enormen Veränderungen in allen Bereichen von Gesellschaft einhergehen: mit der im Zusammenhang mit der fortschreitenden Globalisierung, dem Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus und den neuen, extremen Formen der Konkurrenz um Marktanteile, den kaum noch zu steuernden internationalen Finanzmärkten des heutigen Neoliberalismus, den modernen Völkerwanderungen, aber auch mit den sich verstärkenden ideologischen Gegensätzen nach dem 11. September (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber u. Klumbies, 2010). Bezogen auf die Veränderungen im Bereich der Wissenschaften fasst die Bielefelder Forschungsgruppe (Peter Weingart, Martin Carrier u. Wolfgang Krohn, 2002) die Entwicklung von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, die sich in diesen Jahren vollzogen hat und immer noch vollzieht, präzise und knapp zusammen: »Die gegenwärtige neue Wissensordnung, deren Merkmale gerade erst erkennbar werden, muss im Vergleich zu ihren historischen Vorläufern verstanden werden. Drei Phasen der Verhältnisse zwischen der Gesellschaft und der Wissenschaft lassen sich unterscheiden: 1) Die neue Wissenschaft des 17. Jahrhunderts trat mit Versprechungen ihres Nutzens auf, die sie nicht einlösen konnte. 2) Erst im späten 19. Jahrhundert kommt es zu der versprochenen Verbindung der Wissenschaft und der technischen Entwick© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Marianne Leuzinger-Bohleber lung. 3) Im Verlauf des 20. Jahrhunderts gerät die Wissenschaft durch die extreme Ausweitung ihres Erklärungsanspruchs und deren Anwendungskontexte erneut in eine Situation der Überforderung. Die Erfolge haben Erwartungen erzeugt, die wiederum nicht erfüllt werden können. Durch das Optimieren an den Grenzen des wissenschaftlich zuverlässig Fassbaren nehmen Erfahrungen unsicheren Wissens zu. Die gerade entstehende Wissensordnung ist durch eine hohe praktische Relevanz der Wissenschaft, aber ebenso durch eine damit einhergehende wachsende gesellschaftliche Einflussnahme auf die Wissenschaft charakterisiert. Die vormalige Selbststeuerung der Wissenschaft wird durch vermehrte Fremdsteuerung ersetzt. Die praktisch relevante oder angewandte Wissenschaft wird zum dominanten Forschungsmodus. Provisorische Erkenntnisstrategien wie exploratives Experimentieren oder die Beschränkung auf kontextualisierte Kausalbeziehungen gewinnen an Bedeutung. Sie belasten die Gesellschaft mit Risiken, die früher auf die Institutionen der Forschung (das abgeschlossene Labor!) beschränkt blieben« (Weingart, Carrier u. Krohn, 2002, S. 11).

In den letzten 50 Jahren ist daher Wissenschaft nicht nur international und interdisziplinär vernetzter geworden. Sie steht im dauernden, beschleunigten, globalen Wettbewerb. Zudem wird von Wissenschaft, und damit auch von der Psychoanalyse, vermehrt praktische Relevanz ihrer Forschungsergebnisse erwartet, was unter anderem damit verbunden ist, dass die gesellschaftlichen Geldgeber und politischen Interessensgruppen beispielsweise über die Finanzierung von Forschungsprojekten immer mehr an Einfluss gewinnen. In diesem Sinne droht, dass Wissenschaft mehr und mehr ihre Selbststeuerung verliert. Ein zweites Merkmal steht damit in Zusammenhang: Weil Politik und Gesellschaft immer rascher von der Wissenschaft Empfehlungen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme erwarten, bleibt immer weniger Muße und Raum für die Grundlagenforschungswissenschaft, aus der schließlich – nach intensiver Forschungsarbeit – relativ sicher abgestütztes Wissen für Anwendungsfelder abgeleitet wird. Dies führt zu neuen Paradoxien: Einerseits trauen sich immer weniger »normale Bürger« und Politiker ein eigenes Urteil über komplexe Sachverhalte zu, ohne vorher wissenschaftliche Experten zu Rate zu ziehen, an© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dererseits ist es inzwischen zum Allgemeingut geworden, dass auch wissenschaftliche Experten nicht über »objektive« Wahrheiten verfügen, sondern dass das sogenannte »wissenschaftliche Wissen« immer kritisch zu betrachten ist. Zudem trägt es zuweilen sogar neue Risiken in sich, wie die Katastrophe von Tschernobyl, die BSE-Krise oder nun die Finanzkrise aufdeckten. Dies bildet eine neue Quelle von Unsicherheit und diffuser Angst, wie wir dies exemplarisch und eindrucksvoll in Psychoanalysen mit unseren heutigen, zu Depression und narzisstischen Rückzügen neigenden Patienten erfahren. In dieser Verunsicherung werden wir alle besonders sensibel für Themen wie Authentizität und Glaubwürdigkeit. So wird zum Beispiel zu einem relevanten gesellschaftlichen Faktor, welchem wissenschaftlichen Experten am ehesten Vertrauen geschenkt wird und wer finanzielle Unterstützung erhält, ein Faktor, um den nun ebenfalls in Politik, Öffentlichkeit und in den Medien konkurriert wird. Daher spielen die Medien eine immer wichtigere Rolle: Wissenschaftliches Wissen wird allgemein nur dann zur Kenntnis genommen, wenn es – entsprechend vereinfacht und zugespitzt, aber glaubwürdig – den Weg in die Medien findet.8 Schließlich hat sich Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausdifferenziert: Heutige Wissenschaftler – auch Psychoanalytiker – sind kaum noch universalistische Forscher, sondern meist hoch spezialisierte Experten mit einem beschränkten Wissen über angrenzende Gebiete. Sie sind bei der kompetenten Untersuchung komplexer Problemstellungen davon abhängig, sich international, intergenerationell und interdisziplinär zu vernetzen. – Verbunden mit diesem Ausdifferenzierungsprozess haben sich auch die Kriterien von »Wissenschaft« und »wissenschaftlicher Wahrheit« in den jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen, und zwar sowohl in den Naturals auch Geisteswissenschaften, gewandelt und spezifiziert: Die 8

»Es ist paradox – je unabhängiger Wissenschaft und Medien voneinander sind, desto enger ist ihre Verkupplung. Und je mehr die Medien an Bedeutung gewinnen, desto mehr verlieren die Wissenschaften ihr Monopol bei der Beurteilung wissenschaftlicher Erkenntnisse« (Weingart, 2002, S. 706; Übers. M. L.-B.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Vorstellung von einer Einheitswissenschaft, von »science«, angelehnt an das Experimentaldesign der klassischen Physik, erwies sich als Mythos: Wie wir am ersten großen internationalen Kongress nach dem Leitungswechsel am SFI 2002 diskutierten, leben wir heute in einer Zeit der »Pluralität der Wissenschaften« (vgl. u. a. Hampe, 2003; Leuzinger-Bohleber, Dreher u. Canestri, 2003), in der auch die Psychoanalyse, als spezifische Wissenschaft zur Untersuchung unbewusster Fantasien und Konflikte mit einer eigenen Forschungsmethode und eigenen Qualitätsund Wahrheitskriterien, ihre anerkannte und unverzichtbare Position gefunden hat. Allerdings büßt sie dadurch die, von heute aus gesehen negativ narzisstisch überhöhte Sonderstellung als einzigartige »Wissenschaft zwischen den Wissenschaften« (Lorenzer) ein. Doch scheint ihre eigene Trauerarbeit und Entidealisierung sowie eine neue Bescheidenheit erstaunlicherweise gut zu bekommen. Weltweit verzeichnet die Psychoanalyse einen enormen Zuwachs: Die Mitgliedschaft der International Psychoanalytical Association (IPA) hat sich seit den 1990er-Jahren auf über 12.000 verdoppelt.9 Zudem sind in vielen Bereichen erneute Anstrengungen unternommen worden, die Psychoanalyse in neuer Weise in verschiedenen Fachbereichen der Universitäten zu verankern. Die Umstrukturierung des SFI in den 1990er-Jahren ist durchaus auf diesem Hintergrund zu verstehen. Zusammenfassend geht es daher am SFI derzeit einerseits darum, die Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit klinisch-psychoanalytischer Forschung zu schützen, die nur im sicheren, von Vertrauen geprägten Raum der professionellen, therapeutischen Beziehung stattfinden kann und sich weder beschleunigen, ökonomisieren noch medialisieren lässt. Andererseits gilt aber auch für die Psychoanalyse, wie für jede wissenschaftliche Disziplin, dass sie der Kritik von außen zugänglich sein muss und zum extraklinischen Nachweis ihrer Wirksamkeit verpflichtet ist, 9

Allerdings ist dieser Zuwachs vor allem neuen Regionen wie zum Beispiel in weiten Teilen Südamerikas, Chinas, Russlands und weiteren östlichen Staaten zu verdanken: In den USA und Europa hat die Psychoanalyse, wie oben skizziert, aktuell einige ihrer Positionen vor allem an den Universitäten eingebüßt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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will sie weiterhin als therapeutische Behandlungsmethode in der gesetzlichen Krankenversorgung verbleiben und sich den universitären, wissenschaftlichen Diskursen stellen. Ein weiteres Spannungsfeld entsteht dadurch, dass der spezifische Forschungsgegenstand der Psychoanalyse krankmachende, tabuisierte Ursachen individuellen und kollektiven Verhaltens ist, Phänomene, die aber – treffen sie wirklich zu – zuerst einmal den Widerstand der Betroffenen hervorrufen und sich nur schlecht mit den leicht verdaulichen Botschaften der heutigen Mediengesellschaft verbinden lassen. So steht die Psychoanalyse einerseits in Gefahr, sich an einen vorherrschenden Zeitgeist, beispielsweise den der empirischen Messbarkeit oder den Mythen der endlosen Beschleunigung von psychischen Entwicklungsund Verarbeitungsprozessen und der grenzenlosen Machbarkeit, zu sehr anzupassen und dadurch ihre Glaubwürdigkeit, ihre Authentizität als »Wissenschaft des Unbewussten« zu verlieren. Gleichzeitig muss sie sich aber davor hüten, sich aus der Kommunikation mit der nichtpsychoanalytischen Wissenschaftswelt und der Öffentlichkeit zu den brennenden gesellschaftlichen Themen zurückzuziehen sowie die existierenden Abhängigkeiten von anderen Wissenschaftlern und Wissenschaften, von Politik und Medien zu leugnen. Dadurch würde sie früher oder später einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Marginalisierung anheimfallen. Diese veränderte wissenschaftshistorische Situation stellt daher die psychoanalytische Forschung am SFI vor ganz spezifische Aufgaben: a) Die Psychoanalyse als Wissenschaft und klinische Disziplin hat ihre Stellung als unanfechtbare, aufklärerische gesellschaftliche Kraft und damit als »Metawissenschaft« auch einen Teil ihres Charismas verloren. Steven Marcus zum Beispiel stellte am Schluss seiner Freud-Vorlesung im Jahr 2008 ernüchtert fest, dass die Zeit, »als der Einfluss und die kulturelle Autorität, die ihm [Freud] und der von ihm begründeten Institution dort [d. h. in den USA] zugestanden wurden, konkurrenzlos waren. Diese Zeiten sind vorbei« (Marcus, 2009, S. 501). Stattdessen sieht sich die Psychoanalyse weltweit mit neuen und oft schwer durchschaubaren Abhängigkeiten von anderen Wissenschaften, an© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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deren therapeutischen Ausrichtungen, aber auch von Politik und Geldgebern konfrontiert. Gerade weil diese Abhängigkeiten schwer durchschaubar sind, besteht die Gefahr, dass dadurch archaische Ängste und Fantasien einer existenziellen Abhängigkeit vom nährenden Primärobjekt aktiviert werden. In manchen apokalyptisch wirkenden Prophezeiungen eines baldigen Verschwindens der Psychoanalyse, falls sie sich nicht dem aktuellen Zeitgeist anpasst beziehungsweise sich ihm verweigert, scheinen mir solche aktivierten archaischen Fantasien am Werk. Die aktuellen Abhängigkeiten gemeinsam kritisch zu reflektieren und die schmerzliche Trauerarbeit zu leisten, dass die Hochblüte der Psychoanalyse der Vergangenheit angehört und wir auf die damit verbundenen narzisstischen Gratifizierungen verzichten müssen, scheint mir eine neue Anforderung an uns alle zu sein, auch an uns zurzeit am Freud-Institut Forschenden. b) Wie an anderer Stelle diskutiert, kann die Psychoanalyse als klinische Disziplin und Profession keine Sonderstellung mehr für sich beanspruchen. Wie an alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen auch werden auch an sie die oben erwähnten Erwartungen gestellt (Leuzinger-Bohleber, 2010). Ausbildung, Qualität, Relevanz und Nachweis der Wirksamkeit ihrer klinischen Tätigkeit werden von Politik und Öffentlichkeit in selbstverständlicher Weise eingefordert. c) Für uns am SFI bedeutet die vermehrte Abhängigkeit der Wissenschaft von der Politik sehr konkret, dass diese psychoanalytische Forschungsinstitution ohne die Einwerbung von Drittmitteln heute nicht überleben könnte. So müssen etwa unsere Fragestellungen auf Anhieb auch eine politische Relevanz haben und nicht nur für uns Psychoanalytiker von Interesse sein – die Zeiten einer »Nabelschauforschung« sind vorbei, wurde uns während der institutionellen Krise 2002 entgegengehalten. Zudem stellt sich bei jedem Forschungsantrag selbstverständlich zuerst die Frage, ob man uns – ohne Wenn und Aber – zutraut, dass wir als Psychoanalytiker über das methodische Know-how und eine entsprechende spezifische (klinische) Wissensbasis verfügen, um die fokussierten Fragestellungen »wissenschaft-

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lich« zu erforschen. Auch dies kränkt unseren Narzissmus – ist aber in der heutigen Welt der Wissenschaften fast eine Banalität. Analoges können wir im klinisch-berufspolitischen Bereich feststellen: Auch hier wird die Psychoanalyse nicht anders behandelt als andere psychotherapeutische Richtungen. Sie muss sich der gesellschaftlichen Anforderung nach dem Nachweis ihrer Wirksamkeit, der Transparenz ihrer Ausbildungen etc. stellen, wie wir dies unter anderem im Zusammenhang mit dem Forschungsgutachten so hautnah erleben. Kluge politische Argumentation, Lobbyarbeit, aber auch qualifizierte wissenschaftliche Forschung in verschiedensten Bereichen sind unvermeidbar : Eine Verleugnung der aktuellen gesellschaftlichen Realitäten und ein narzisstischer Rückzug in den psychoanalytischen Elfenbeinturm können zu einer großen Gefahr für uns alle werden. d) Stellen wir uns individuell und institutionell – angesichts des Verlustes einer herausgehobenen gesellschaftlichen Position und der vielfältigen Abhängigkeiten von anderen – einem schmerzlichen Trauerprozess, kann dies allerdings neue Fenster öffnen. Erleben wir den interdisziplinären Dialog mit dem Anderen nicht regressiv als existenzielle Bedrohung und narzisstische Kränkung, sondern auf einer objektalen psychischen Ebene – das Fremde wird zur Ergänzung und Modifikation eigener Perspektiven und Erkenntnismöglichkeiten – eröffnet sich die Chance einer gemeinsamen Erforschung komplexer Wirklichkeiten – eine Erfahrung, auf die ich gleich noch etwas detaillierter eingehen möchte. e) Erwähnen möchte ich noch kurz, dass wir nicht nur von Geldgebern, Politikern und anderen wissenschaftlichen Disziplinen vermehrt abhängig geworden sind: In neuer Weise zeigen sich intensive Abhängigkeiten auch zwischen den Generationen. Verlieren wir in unseren analytischen Forschungs- und Ausbildungsinstitutionen den Nachwuchs, bedroht dies die Zukunft von uns allen, der gesamten psychoanalytischen Disziplin. Analog dazu fühle ich mich als Leiterin anspruchsvoller psychoanalytischer Forschungsprojekte intensiv abhängig von unseren Nachwuchswissenschaftlern: Ohne ihre Begeisterung und Leidenschaft, ihre neue und frische fachliche Kompetenz, ihre © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Zeit und ihren Wunsch, sich zu profilieren und mitzugestalten, kann ich kein einziges der jetzt laufenden Projekte durchführen, wie ich gleich illustrieren werde. Andererseits sind auch die jungen Wissenschaftler von der Erfahrung von uns als erfahrenen Forscherinnen und Forscher und ihrer Drittmittelbeschaffung abhängig. Bei psychoanalytischen Projekten ergibt sich zudem noch eine weitere, ganz spezifische Abhängigkeit: Unsere jungen Nachwuchswissenschaftler bringen zwar ein großes Interesse und eine Leidenschaft für die Psychoanalyse mit – doch haben sie oft noch nicht mit der psychoanalytischen Ausbildung begonnen und verfügen daher weder über fundiertes theoretisch-psychoanalytisches Wissen noch über die klinische Erfahrung. Daher ist es ein besonderes Geschenk für mich, dass in allen laufenden Projekten erfahrene klinische Kollegen bereit sind, mitzuarbeiten und uns ihre professionelle Kompetenz zur Verfügung stellen. Es ist eine neue, ermunternde Erfahrung, dass wir – dank dieser neuen Bescheidenheit, Selbstkritik, Interdisziplinarität und Intergenerationalität – beispielsweise in die Hessische Exzellenz-Initiative LOEWE eingeschlossen worden sind, nicht obschon wir Psychoanalytiker sind, sondern gerade weil wir Psychoanalytiker sind. Offenbar wurde von unseren Partnern wahrgenommen, dass wir mit der intensiven Verbindung von fundiertem klinisch-professionellem Wissen, extraklinischer Forschung und von Grundlagenwissenschaft wissenschaftssoziologisch innovativ sind. Wir entwickeln mit diesen Kombinationen eine kreative Form, mit der extremen Beschleunigung von Wissenschaft umzugehen und jahrelang erworbenes Wissen und Praxiserfahrungen mit dem Schwung und dem beschleunigten Lebensgefühl unserer Nachwuchswissenschaftler sowie jahrelanger Forschungserfahrung in unserer Institution zu verbinden. Dies kann ein lustvolles transgeneratives Unternehmen werden, sofern wir die gegenseitige Abhängigkeit ertragen, reflektieren und nicht durch destruktiven Neid bedrohen. In diesem Sinne scheint die aktuelle Wissensgesellschaft einen neuen Generationsvertrag einzufordern, dem wir uns in der Psychoanalyse, wie ich denke, in besonders origineller Form stellen können. Noch kurz ein weiteres Beispiel: Reflektieren und betrauern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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wir die neuen Formen gegenseitiger Abhängigkeit, entsteht daher eine neue Wertschätzung für das Spezifische und Unersetzbare unserer psychoanalytischen Disziplin. Die Psychoanalyse – als klinische Disziplin – hat, besonders aufgrund ihrer fundierten internationalen und langjährigen Forschung, vieles zu bieten – für die Behandlung neuer und spezifischer Patientengruppen, die Analyse von institutionellen und gesellschaftlichen Prozessen, etwa das oben erwähnte Zunehmen diffuser Unsicherheit und Angst gegenüber modernen Wissenschaften und ihren Risiken. Das Zunehmen diffuser Ängste und Konflikte im Zusammenhang mit den Entwicklungen in der modernen Medizin haben wir beispielsweise in dem EU-Projekt Ethical Dilemma due to Prenatal and Genetic Diagnostics aufgezeigt, das wir an verschiedenen internationalen Tagungen ausführlich vorgestellt haben (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, Engels u. Tsiantis, 2008; Fischmann u. Hildt, 2011). Durchaus in der Tradition von Mitscherlich stehend, haben wir in diesem Projekt ein noch weitgehend gesellschaftlich tabuisiertes Thema aufgegriffen: die Chance, aber auch die Not, dank den enormen Fortschritten der biomedizinischen Technik im Bereich der Pränataldiagnostik über Leben und Tod eines eigenen, vielleicht behinderten Kindes entscheiden zu müssen, eine Entscheidung, die von vielen Betroffenen nicht nur als Überforderung, sondern sogar als eine traumatisierende Situation erlebt wird. Wir untersuchten fast 1900 Frauen und Männer und Frauen während und nach der pränatalen Diagnostik in Deutschland, England, Griechenland, Israel, Italien und Schweden mit ausführlichen Fragebögen, fast 100 mit psychoanalytischen Interviews. In einer zweiten Unterstudie interviewten wir Psychoanalytiker und ehemalige Patienten nach möglichen Langzeitfolgen von genetisch indizierten späten Schwangerschaftsunterbrechungen. Martin Teising hat eindrucksvoll von einer solchen Psychoanalyse berichtet, ein Beispiel für die unersetzbare klinische Forschungsmethode der Psychoanalyse, die sich auch in den Interviews als äußerst fruchtbar erwies (Leuzinger-Bohleber u. Teising, im Druck). Das Ausleuchten der unbewussten Dimensionen, die in dieser existenziellen Lebenssituation unweigerlich mobilisiert werden, fällt zentral in den Bereich genuin psychoanalytischer Professionali© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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tät. Frauen und Männern in oder nach ihrer Entscheidungssituation zu einem inneren Raum zu verhelfen, mit den aktualisierten unbewussten Fantasien und Konflikten in Dialog zu treten, um nicht – unerkannt – von ihnen überflutet und nachhaltig psychisch beeinträchtigt zu werden, ist ein Beitrag, den wohl kaum eine professionelle Disziplin so gut leisten kann wie die klinische Psychoanalyse. Unsere interdisziplinären Partner, vor allem Ethiker und Philosophen, begannen sich nach einer großen anfänglichen Skepsis sehr für unsere spezifische Professionalität zu interessieren und diese wertzuschätzen, nämlich als sie beobachten konnten, wie es uns als Psychoanalytiker gelang, den Frauen in unseren Gesprächen einen intermediären Raum anzubieten und sie emotional zu »halten«, sodass es ihnen möglich war, trotz heftiger, sie überflutenden Affekten, von ihren traumatischen Erfahrungen nach einer späten Unterbrechung (zwischen den 22. und 28. Schwangerschaftswochen: einer wirklichen Geburt, während der das Kind sterben muss) zu erzählen und sich dadurch offensichtlich zu entlasten. Daher erfuhren wir durch die konkrete Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen eine neue Wertschätzung für unsere spezifische Professionalität und unsere spezifische klinische Forschung und konnten sie mit psychoanalytischer Kulturkritik verbinden, allerdings eben nicht mehr aufgrund einer »abgehobenen«, distanzierten Metasicht auf die anderen und »die Gesellschaft«, sondern als eine unverzichtbare, auf gründlicher klinischer Erfahrung begründete Stimme im Konzert heutiger interdisziplinärer Annäherungen an komplexe aktuelle Zeitprobleme (vgl. dazu auch Pfenning, im Druck; Fischmann, im Druck). Zusammenfassend kurz festgehalten: Selbstverständlich prägen all die eben skizzierten Spannungsfelder die heutigen Forschungsrealitäten an einem Institut wie dem SFI. Sie können nicht aufgelöst, sondern nur gemeinsam mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im heutigen intergenerationellen Dialog am SFI verstanden und produktiv gestaltet werden (vgl. Einführungskapitel »Vorbemerkungen« in diesem Band). Wir versuchen in allen diesen Projekten die spezifische Kompetenz der Psychoanalyse für die Erforschung unbewusster Determinanten bei gesellschaftlich relevanten Themen wie Depression, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Trauma, Gewalt, Migration und soziale Desintegration zu nutzen und dadurch die kulturkritische Tradition dieses Hauses aufzunehmen und mit den neuen Realitäten eines heutigen – auch im medialen Wettbewerb stehenden – psychoanalytischen Forschungsinstituts zu verbinden.

Kreative und produktive Forschung am SFI: ein Umgang mit neuen internationalen, intergenerationellen und interdisziplinären Abhängigkeiten10 Wie schon kurz erwähnt, ist eine kreative und produktive psychoanalytische Forschung am SFI heute wesentlich davon abhängig, wie gut es uns gemeinsam gelingt, die vielfältigen unbewussten und bewussten Abhängigkeiten voneinander und von anderen zu erkennen, zu reflektieren und produktiv zu gestalten, um einen Regressionsprozess auf archaische Dimensionen unseres psychischen Funktionierens zu vermeiden, welche Abhängigkeiten verleugnen und dazu führen würden, in omnipotente, destruktive Fantasien zu flüchten. Dies ist übrigens durchaus nicht nur unser Problem: Der Umgang mit schwer zu durchschaubaren Abhängigkeiten mit existenziellen Folgen für uns alle ist zu einer Überlebensfrage vieler heutiger Menschen in der heutigen neoliberalen Gesellschaft geworden, denken wir nur an die drohende Klimakatastrophe oder die noch längst nicht überwundene Finanzkrise. Wie können wir mit dieser Situation umgehen, ohne die enormen Ohnmachtgefühle, Verzweiflung und Wut in die Selbstdestruktion münden zu lassen? Ulrich Moser hat schon in den 1970er-Jahren ein Modell der Hierarchisierung der Abwehrprozesse aufgrund der kognitiven und affektiven Differenziertheit des seelischen Apparats in verschiedenen Entwicklungsstufen postuliert (Moser, v. Zeppelin u. 10

Eine erste Fassung des folgenden Teilkapitels wurde in meiner Begrüßung zur Tagung »Die Zukunft der Gegenwart. Zeitdiagnostische Fragen psychoanalytischer Sozialpsychologie« in Frankfurt a. M., 7. bis 9. Mai 2010, vorgetragen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Schneider, 1981). Er zeigte auf, dass wir alle über ein ganzes Spektrum von primitiven bis hin zu reiferen Abwehrmechanismen verfügen, die wir je nach psychischer Situation und je nach zu bewältigender Konfliktsituation aktivieren. Je stabiler die Situation der Persönlichkeit und je überschaubarer der zu bewältigende Konflikt, desto »reifer« sind unsere Abwehrstrategien: In einer psychisch stabilen Situation des Individuums kann es beispielsweise überschaubare Konflikte mit Hilfe von Sublimation und Intellektualisierung bewältigen, entwicklungspsychologisch betrachtet den reifsten und kreativsten Abwehrmechanismen. Ganz anders ist es in einer Situation des geschwächten Ichs, etwa während oder nach organischen Krankheiten, nach unerträglichen narzisstischen Kränkungen, nicht verarbeiteten Traumatisierungen, aber auch in weniger spektakulären Überforderungs- und Stresssituationen, in der das Ich komplexe, schwer durchschaubare und hoch anspruchsvolle Konfliktsituationen zu lösen hat. In diesen Situationen regrediert das Ich und greift zu relativ primitiven Abwehrmechanismen, wie Spaltungen, Projektionen, projektiven Identifizierungen, Verleugnungen, Verneinungen oder Omnipotenzphantasien und einfachen Idealisierungsprozessen. Komplexe Probleme werden dadurch simplifiziert: Ein archaisches Denken und Fühlen herrscht vor: es wird nur noch zwischen »gut und böse«, »schwarz und weiß«, »rein und schmutzig«, »Eigenem und Fremdem« unterschieden. Dies ermöglicht eine rasche, klare Orientierung – ein Überleben in extrem überfordernden Situationen –, doch sind die Schattenseiten dieser psychischen Simplifizierungen bekannt, denken wir nur an den immer wieder aufflackernden Antisemitismus, Nationalismus und Fremdenhass in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Was bedeutet dies nun konkret für die »Interdisziplinarität am Sigmund-Freud-Institut«? Die heutige globalisierte, ökonomisierte und medialisierte Wissensgesellschaft konfrontiert uns, wie eben skizziert, in einem viel extremeren Ausmaß als noch vor 50 Jahren mit Abhängigkeiten von dem Wissen und den Ressourcen Anderer : Wissenschaft hat sich derart ausdifferenziert, dass die Kompetenz wissenschaftlicher Experten meist nur noch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ein sehr enges Fachgebiet umfasst. Die Zeit genialistischer Einzelforscher gehört weitgehend der Vergangenheit an. Bei der kompetenten Erforschung komplexer Fragestellungen, wie wir sie in verschiedenen Forschungsprojekten am SFI durchführen, sind wir auf das Wissen und die konkrete Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Experten angewiesen. Zudem ist Forschung heute – ebenfalls in weit größerem Ausmaß als zu Mitscherlichs Zeiten – davon abhängig geworden, ob die Fragestellungen als relevant und ihre Forschungsmethoden als so qualifiziert eingeschätzt werden, dass öffentliche oder private Geldgeber sie durch Drittmittel unterstützen. Der Einfluss der Medien ist weit größer, als wir uns dies gerne eingestehen: Welchem wissenschaftlichen Experten Vertrauen und Gehör geschenkt wird, welche wissenschaftlichen Ergebnisse überhaupt zur Kenntnis genommen werden und daraufhin finanzielle Unterstützung erhalten, hängt heute in irritierender Weise davon ab, wie gut es gelingt, sie zugespitzt und daher oft vereinfacht, aber dennoch glaubwürdig und authentisch in den Medien zu vertreten. Alle diese Abhängigkeiten erleben wir heute am SFI. Zudem sind sie für eine Disziplin wie die Psychoanalyse mit ihrem spezifischen Forschungsgegenstand, den unbewussten Fantasien und Konflikten, die nur in der Intimität der psychoanalytischen Situation mit viel Zeit, Raum und Schutz gründlich erforscht werden können, besonders brisant. Unbewusste Prozesse können weder beschleunigt, ökonomisiert noch medialisiert werden. So ist die Psychoanalyse als wissenschaftliche Disziplin in besonders sensibler Weise von den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen im Bereich der Wissenschaften betroffen, andererseits aber auch in besonderer Weise dazu prädestiniert, sich einer unmerklichen Anpassung zu entziehen, da sie damit verbundene Konflikte derart krass zu spüren bekommt, dass sie nur überleben kann, wenn sie diese Konflikte wahrnimmt, kritisch reflektiert und anschließend zurück in den öffentlichen, kulturkritischen Diskurs bringt. Das »Veraltetsein der Psychoanalyse« birgt daher durchaus im Sinne von Herbert Marcuse (1965/1977) auch heute noch einen Stachel der Erkenntnis. Um diesen Stachel gemeinsam zu nutzen, erweist sich der interdisziplinäre Dialog © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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zwischen der psychoanalytischen Sozialpsychologie und der klinischen Psychoanalyse als besonders fruchtbar. Gerade deswegen können und sollten wir am SFI die neuen Abhängigkeiten nicht verleugnen, verneinen oder projektiv abwehren, sondern versuchen, sie gemeinsam mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verstehen, zu reflektieren und sowohl in unserem eigenen Forschungsalltag als auch im öffentlichen Diskurs zu verbalisieren und aktiv und kreativ zu gestalten. Als Psychoanalytiker wissen wir, dass uns besonders diffuse, schwer fassbare aktuelle Abhängigkeiten an unsere frühesten, existenziellen Abhängigkeiten als Säugling von dem nährenden und uns zärtlich zugewandten Primärobjekt erinnern, das über unser Leben und Tod entscheiden konnte. Wird ein Säugling allein gelassen, weder gefüttert noch geliebt, wird er nicht überleben. Zudem verfügt er noch nicht über die kognitiven und affektiven Möglichkeiten, diese realen Abhängigkeiten zu verstehen und autonom zu gestalten;: er ist seinen archaisch-destruktiven Fantasien ausgeliefert. Durch die strukturelle Ähnlichkeit dieser frühen existenziellen Abhängigkeiten mit den schwer fassbaren, komplexen und diffusen Abhängigkeiten in der heutigen weltweit vernetzten und ökonomisierten Welt, auch der Welt der Forschung, ist eine Reaktivierung von »embodied Erinnerungen« an solche ubiquitären, frühen Erfahrungen in Forschungsinstitutionen wie dem SFI fast unvermeidbar. Davon kann ein mächtiger regressiver Sog ausgehen, vor allem da angesichts der eindrucksvollen Geschichte dieses Instituts primitive Abwehrmechanismen wie Spaltung, Projektion, aber auch Selbst-Idealisierung und Flucht in Omnipotenzfantasien besonders naheliegen. Glücklicherweise bietet die Psychoanalyse ein einzigartiges, professionelles Instrumentarium, solche Prozesse zu verstehen, sowie ein breites Wissen zu Manifestationen von Unbewusstem beim Individuum, aber eben auch in Gruppen und Institutionen. Dass wir im Team und in der Doppelspitze sowohl die spezifische Expertise der psychoanalytischen Sozialpsychologie und der Soziologie als auch der klinischen und konzeptuellen Psychoanalyse vertreten haben, ist meiner Erfahrung nach eine einmalige Chance, solche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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destruktiven regressiven Prozesse zwar zuweilen nicht verhindern, aber anschließend wenigstens gemeinsam reflektieren und unsere Einsichten in entsprechend schützenden, klaren institutionellen Strukturen umsetzen zu können.

Einige Anmerkungen zu verschiedenen Formen der Psychodynamik der Interdisziplinarität Interdisziplinarität bedeutet immer eine Auseinandersetzung oder sogar eine enge Zusammenarbeit mit dem Fremden, mit der fremden Disziplin, dem fremden Wissenschaftler. Psychodynamisch erinnert sie daher an den Umgang mit dem Fremden, der immer durch Ambivalenzen gekennzeichnet ist. Einerseits weckt er Neugier und Interesse auf Neues, Unbekanntes und kann als Erweiterung, als Ergänzung des Eigenen erlebt werden. Andererseits eignet er sich durch seine Eigenschaft als das Unbekannte, als »blank screen«, in optimaler Weise als Projektionsfläche, auf den alle eigenen, ins Unbewusste verbannten nicht zu ertragende Eigenschaften, Impulse, Wünsche und Konflikte projiziert werden können. Auf welcher Ebene die Ambivalenz erlebt wird, hängt nun, wie eben skizziert, wesentlich sowohl vom inneren Zustand des Individuums als auch seiner aktuellen äußeren (also gesellschaftlichen) Situation ab oder, wie es die empirische Bindungsforschung formuliert, vom Antagonismus zwischen dem Bindungs- und dem Explorationsverhalten. Fühlen wir uns sicher, ist das Bindungssystem deaktiviert – wir können den Fremden, das Fremde, das Neue lustvoll explorieren. Erfüllen uns Angst und Unsicherheit, wird das Explorationssystem deaktiviert, Mentalisierungsfähigkeit und Selbstreflexion brechen zusammen: Wir mobilisieren das Bindungssystem und ziehen uns auf die sichere, kleine Welt – auf das Eigene – zurück. Das Fremde wird dann bedrohlich, verstärkt die Angst und zieht die Projektionen auf sich. Die Gefahr, dadurch auf die erwähnte archaische Ebene seelischen Funktionierens zu regredieren, ist dann sehr groß. Daher bietet Interdisziplinarität immer einerseits große Chancen für die Entdeckung von Neuem, Innovativem, aber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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andererseits auch die Gefahr einer destruktiven Regression in die Welt primitiver Abwehrmechanismen: sie ist eben ein von Ambivalenzen geprägtes Unterfangen. Am SFI haben sich, so meine Vermutung, intuitiv verschiedene Copingstrategien im Umgang mit der Psychodynamik der Interdisziplinarität herausgebildet: a) Sichere Distanz zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden«: Die unverbindliche Offenheit für Interdisziplinarität Mir scheinen Alexander Mitscherlich und, soweit ich dies überblicke, alle ihm nachfolgenden Direktoren, Clemens de Boor, Hermann Argelander, Dieter Ohlmeier und Horst-Eberhard Richter, sowie viele der bis heute über 300 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SFI – außer in Zeiten der institutionellen Krisen – meist eine Atmosphäre der Offenheit und der Neugier für fremde Disziplinen außerhalb der psychoanalytischen Community ausgestrahlt zu haben. In ihren Arbeiten nahmen sie Wissen aus Medizin, Sozialpsychologie, Soziologie, den Literatur- und Kulturwissenschaften, von bildender Kunst und Architektur bis hin zu den Neurowissenschaften auf. Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen wurden zum Austausch ins SFI eingeladen, um sich von ihren Konzepten und Kompetenzen anregen zu lassen. Doch nur selten kam es zu verbindlichen und längerfristigen Arbeitsgruppen oder gemeinsamen Forschungsprojekten. War diese unverbindliche Offenheit gegenüber dem interdisziplinären Dialogpartner eine (unbewusste) Copingsstrategie angesichts der möglichen Sprengkraft in nahen interdisziplinären Projekten, in denen die disziplinären Grenzen verschwimmen und die erwähnten regressiven Prozesse ausgelöst werden können? Eine sichere Abgrenzung zwischen der eigenen und der fremden Disziplin wäre auf diesem Hintergrund ein produktiver Schutz für alle Beteiligten. b) Der Fremde als berechenbares, reifes »Objekt«: Sichere Selbstund Objektgrenzen in einer sich gegenseitig anerkennenden und anregenden Interdisziplinarität Eine andere (unbewusste) Strategie zur Vermeidung von destruktiv-regressiven Prozessen in interdisziplinären Zusam© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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menhängen sehe ich in Mitscherlichs Bemühen, konstante interdisziplinäre Partner ins SFI zu holen: hochrangige Wissenschaftler einer eigenen sozialpsychologischen Abteilung. Der leider früh verstorbene Klaus Horn wirkt auf mich in vielen Erzählungen aus dieser Zeit wie ein besonderes, konstantes libidinöses Objekt, von dem wenig Bedrohung und Verunsicherung im Sinne eines »Fremden« ausging. Mit ihm und seinen Mitarbeitern wurde wöchentlich diskutiert. Es entstand eine intellektuelle und libidinöse Konstanz, eine Erleichterung für einen produktiven, das Eigene nicht bedrohenden, interdisziplinären Austausch. Es ist interessant, dass viele eindrucksvolle disziplinäre Arbeiten aus dieser Zeit vorliegen. Außer Alexander Mitscherlich ließen sich Alfred Lorenzer, aber auch Hermann Argelander (z. B. in seiner Falldarstellung »Der Flieger«, 1972) von den sozialpsychologischen Arbeiten von Klaus Horn inspirieren. Andererseits finden sich beispielsweise in den Büchern zur Gruppe von Klaus Horn auch viele klinisch-psychoanalytische Erkenntnisse, die wohl nicht nur seiner eigenen psychoanalytischen Selbsterfahrung oder der Lektüre psychoanalytischer Schriften, sondern auch dem interdisziplinären Austausch mit den Klinikern zu verdanken waren. Dennoch – aus der heutigen Sicht – erstaunt, wie wenig wirklich gemeinsame, interdisziplinäre Projekte entstanden. Soweit ich informiert bin, war die sozialpsychologische Abteilung weder am »Herzinfarkt-«, am »Scheidungs-« am »Strafvollzugs-« noch am »Traumaprojekt« aktiv beteiligt, alles Projekte, an denen andere interdisziplinäre Partner mitarbeiteten. Eine Ausnahme war offenbar das »Deutungsprojekt«, an dem alle drei Abteilungen des SFI involviert waren. Doch habe ich keine gemeinsamen Publikationen aller Beteiligten zu diesem Projekt gefunden. War dies Ausdruck einer Vorsicht, die disziplinären Grenzen innerhalb des SFI nicht zu gefährden? War die gegenseitige, teilweise, soviel ich gehört habe, auch heftige affektive Abgrenzung von der anderen Disziplin notwendig oder vielleicht sogar unverzichtbar für das eigene professionelle Identitätsgefühl? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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c) Institutioneller Schutz vor pathologischen Regressionsprozessen durch klare Kooperationen mit interdisziplinären Partnern: Eine Chance für Intergenerationalität? Institutionelle Strukturen haben viele Funktionen. Unter anderem stellen sie auch einen Schutz gegen pathologische Regressionsprozesse innerhalb von Institutionen dar. So fällt uns aus heutiger Sicht auf, wie wenig in den ersten Jahrzehnten des SFI institutionelle, formale Kooperationen entstanden, um interdisziplinäre Zusammenarbeit abzusichern. Soweit ich informiert bin, wurde nicht mal zwischen dem Institut für Sozialforschung und dem SFI ein formeller Kooperationsvertrag abgeschlossen. Erst in den letzten Jahren werden vermehrt solche Kooperationsverträge realisiert. Rolf Haubl und ich haben ein breites Netz an Kooperationen aufgebaut (u. a. mit dem Anna Freud Center und der Tavistock Clinic in London). Mir scheint dies Ausdruck eines Versuchs, die immer dringender werdenden Kooperationen in konkreten Forschungsprojekten auch institutionell abzusichern und zum Beispiel vor destruktiver Rivalität, vor Neid und parasitären Fantasien zu schützen sowie stabile Bedingungen für einen generationellen, interdisziplinären und internationalen Austausch zu schaffen. d) Konkrete interdisziplinäre Zusammenarbeit in gemeinsamen Forschungsprojekten: ein wünschenswertes, aber gefahrvolles und zeitaufwändiges Unternehmen Die intensivste interdisziplinäre Zusammenarbeit entsteht selbstverständlich, wenn Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen in konkreten Forschungsprojekten über längere Zeit zusammenarbeiten. Das für mich persönlich eindrücklichste Beispiel erlebte ich dank eines Forschungsstipendiums der Köhler-Stiftung in den 1990er-Jahren, das Martha KoukkouLehmann und ich erhalten hatten. Zusammen mit 20 Neurowissenschaftlern und Psychoanalytikern hatten wir die Chance, den damals eben beginnenden Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften zu intensivieren. Nach einer euphorischen Verliebtheitsphase, in der wir uns in einem narziss© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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tischen Hochgefühl gegenseitig als Selbstobjekte erlebten und auf die andere Disziplin grandiose Retterfantasien für viele ungelöste Probleme des eigenen Fachs projizieren konnten, erlebten wir schmerzlich den Zusammenbruch dieser narzisstischen Größenfantasie. Wir entdeckten, dass wir unter den gleichen Begriffen völlig Unterschiedliches verstanden, uns anderen Denktraditionen und Modellen verbunden fühlten und sich psychoanalytische und neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse, beim näheren Hinschauen, nur schwer in eine fruchtbare Beziehung bringen lassen. Es wurde uns bewusst, dass wir bisher wohl vorwiegend einen Pseudodialog gepflegt hatten, indem es zu keiner vertiefenden Verständigung gekommen war. Es entstanden sogar paranoide Fantasien: Die andere, nun wieder als fremd erlebte Disziplin wurde als Angriff auf die eigene professionelle Kernidentität erlebt. Immer noch ist mir die Vehemenz und die archaische Sprengkraft der damaligen Gruppensituation gegenwärtig. Nur dank einiger psychoanalytischer Kollegen gelang es uns, diese Krise gemeinsam zu verstehen und den Weg zurück zu einer produktiven Arbeitsgruppe im Sinne von Bion zu finden. – Geblieben ist für mich ein Respekt vor konkreter interdisziplinärer Zusammenarbeit: Sie erfordert einen großen inneren und äußeren Spielraum, Vertrauen und Sicherheit sowie eine relativ reife Ebene der Objektbeziehungen bei allen Beteiligten. Möglicherweise ist dies einer der Gründe, warum in den aktuell laufenden Projekten, etwa im Bereich der psychoanalytischen Sozialpsychologie im Chinaprojekt unter der Leitung von Tomas Plänkers, eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern der sozialpsychologischen und der klinischen Abteilung des SFI stattfindet. Wir beiden Leiter führten bisher noch keines der laufenden Forschungsprojekte wirklich in intensiver, konkreter interdisziplinärer Zusammenarbeit durch. Bisher besetzte jeder von uns seine eigenen Forschungsfelder, die er im offenen interdisziplinären Austausch mit dem Anderen und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in seinen eigenen Netzwerken autonom verantwortet. Die spezifische, eigenständige Expertise des Anderen wird wertgeschätzt und als Anregungsquelle, als Ergänzung des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Eigenen erlebt, ohne sie aber in die eigene Forschung zu inkorporieren. Allerdings versuchen wir in einigen Forschungsfeldern Synergieeffekte zu erzielen, indem wir unsere spezifischen Kompetenzen gemeinsam in unterschiedlichen Teilprojekten einbringen. Wir sind im kontinuierlichen interdisziplinären Austausch, führen die Teilprojekte aber autonom und mit verschiedenen methodischen Zugangsweisen durch. Mir scheint dies in der jetzigen Situation der beschleunigten, im ökonomischen und medialen Wettbewerb stehenden psychoanalytischen Forschung eine zwar beschränkte, vielleicht sogar bescheidene, aber produktive Art der Interdisziplinarität, die um die Klippen eines solchen Dialogs und darin drohender destruktiver Regressionen weiß. Sie ermöglicht ein anspruchsvolles, arbeitsintensives, aber auch interessantes und produktives gemeinsames Forschen am SFI heute.

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung am Sigmund-Freud-Institut – ein Umriss

»Psychoanalyse und Gesellschaft« ist die Bezeichnung für den sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt am Sigmund-Freud-Institut, an dem in der Tradition von Alexander Mitscherlich (Hoyer, 2008) und Klaus Horn (Busch, 2006) zum einen Sozialwissenschaftler/-innen arbeiten, die sich theoretisch und methodisch an der Psychoanalyse orientieren, und zum anderen Psychoanalytiker/-innen, die sich sozialwissenschaftlichen Fragen zuwenden. Dabei entstehen häufig anregende Berührungen sowie projektbezogene Kooperationen, wenn auch weniger häufig. Der wechselseitige Zugriff auf disziplinäre Wissensbestände ist epistemologisch voraussetzungsvoll und deshalb konfliktreich. Denn Wissensbestände sind immer auch Teil professioneller Identitäten, die gegen Erschütterungen verteidigt werden. Will heißen: Das Kränkungsrisiko ist groß. Es wird geringer, je mehr Fachvertreter/-innen etwas von der Logik der anderen Disziplin verstehen und gleichzeitig deren Autonomie respektieren. Aber selbst der vermeintlich optimale Fall, wenn alle Kooperationspartner/-innen beide Kompetenzen in sich vereinen, löst die Spannungen nie ganz auf. Mithin gilt es, immer wieder neu für eine gemeinsame Forschungskultur einzutreten, die diese Spannungen produktiv macht. Im Verhältnis von Psychoanalyse und Sozialwissenschaft muss zwischen Theorie-Import und -Export einerseits und einer psychoanalytisch orientierten Sozialforschung andererseits unterschieden werden. Im ersten Bereich geht es um wissenschaftstheoretische Fragen der Theorieintegration: Welchen Beitrag können psychoanalytische Erkenntnisse zu einer Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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besserung von sozialwissenschaftlichen Erklärungsmustern leisten, welche sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse helfen, die Erklärungskraft der Psychoanalyse zu steigern? Bei der Suche nach Antworten ist zu berücksichtigen, dass sowohl die Psychoanalyse als auch die Sozialwissenschaften inzwischen über sehr ausdifferenzierte Theorien verfügen, weshalb es einer Spezifikation der Erfolg versprechenden »Bündnisse« bedarf. Aktuell bietet die »intersubjektive Wende« in der Psychoanalyse neue prüfenswerte Chancen, Bündnispartner zu gewinnen. In methodischer Hinsicht gibt es eine Nähe zwischen psychoanalytischer Praxis und empirisch-hermeneutischer Sozialforschung. Der zentrale Beitrag der Psychoanalyse liegt dabei zunächst einmal in der von ihr zu lernenden Haltung, die ganz auf die Rekonstruktion subjektiven und mehr noch: latenten subjektiven Sinns gerichtet ist. Für den Einsatz qualitativer Interviews etwa heißt das, mit einer eingeschränkten Aussagefähigkeit oder gar Selbsttäuschung der Interviewten zu rechnen und dem entsprechend Vorkehrungen zu treffen, damit sich szenisch zeigen kann, was sich nicht aussprechen lässt. Rekurriert eine empirisch-hermeneutische Sozialforschung in ihren Auswertungen auf das psychoanalytische Paradigma von Übertragung und Gegenübertragung, dann setzt das eine Selbstreflexion voraus, die nicht ohne ein Mindestmaß an psychoanalytischer Selbsterfahrung zu haben ist. Folglich lässt sich dann zum Beispiel eine qualitative Inhaltsanalyse auch leichter lehren als eine tiefenhermeneutische Analyse. Umgekehrt kann die Objektivierung psychoanalytischer Deutungen von den Verfahren profitieren, die innerhalb der qualitativen Sozialforschung entwickelt worden sind, um die Gültigkeit von Interpretationen – analog der Gültigkeitskriterien der quantitativen Sozialforschung – zu sichern.

Postheroische Zeiten Als sich der Soziologe Ren¦ König am Ende der 1940er-Jahre daran machte, eine weltoffene soziologische Fachzeitschrift herauszugeben, setzte er sich nachdrücklich dafür ein, dass diese © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Zeitschrift »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie« heißen sollte. Dabei meinte er mit Psychologie selbstverständlich die Psychoanalyse, wie sie von dem Frankfurter Institut für Sozialforschung etwa in den »Studien zum autoritären Charakter« in Weiterentwicklung der Subjekttheorie, Kulturtheorie und Massenpsychologie Freuds genutzt wurde. Seitdem ist Frankfurt eine Hochburg einer psychoanalytisch orientierten Sozialwissenschaft beziehungsweise einer sozialwissenschaftlich aufgeklärten Psychoanalyse. Das Sigmund-Freud-Institut hat daran seinen Anteil. Es sind vor allem die 1968er-Jahre, die zu Buche schlagen. In dieser Zeit versteht sich das »Bündnis« von Psychoanalyse und Sozialwissenschaft als politische und mehr noch: politisierte Kraft. Damals wurde es mit Erwartungen an seine gesellschaftskritische emanzipatorische Potenz überhäuft, die es nicht erfüllen konnte. Seither ist eine Ernüchterung eingetreten, die von manchen als Rückzug beurteilt und sogar verurteilt wird. Ich halte diesen Abgesang für übertrieben. Vielmehr gebietet die wachsende Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse mehr Bescheidenheit, als es einst üblich war. Eine solche Bescheidenheit verbietet es nicht, die Psychoanalyse als selbstbewusste Dialogpartnerin für die interdisziplinäre Bearbeitung brennender sozialer Probleme ins Gespräch zu bringen. Aus meiner Sicht geht es nach wie vor darum, Forschungsgegenstände zu wählen, die für die Entwicklung einer friedfertigen, reflexiven, vorurteilsfreien, partizipativen, gesunden, nachhaltigen … Gesellschaft relevant sind, und weiterhin darum, die Einsichten, die dabei gewonnen werden, wo immer möglich, sozialen Akteuren zur Verfügung zu stellen, die für diese Entwicklung eintreten. Insofern ist eine psychoanalytisch orientierte Soziologie und Sozialpsychologie beziehungsweise eine sozialwissenschaftlich aufgeklärte Psychoanalyse »kritisch«, freilich in einem Selbstverständnis, in dem der Mangel an einem »revolutionären Subjekt« hinreichend betrauert und die Anerkennung der eigenen Irrtumsanfälligkeit zu einem festen Bestandteil des praktizierten Ethos geworden ist.

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Sozialcharakterologie als Rahmen Verändern sich die Strukturen einer Gesellschaft, so ändert sich auch der sie psychostrukturell stabilisierende Sozialcharakter ihrer Mitglieder. In einen sozialcharakterologischen Bezugsrahmen gestellt, befindet sich die moderne kapitalistische Gesellschaft in einem solchen Veränderungsprozess, der treffend, wenn auch nur unzureichend, als Siegeszug des Neoliberalismus oder Marktradikalismus beschrieben werden kann. Er greift tief in die Subjektkonstitution der Gesellschaftsmitglieder ein. Der Prozess erfolgt nicht reibungslos, sondern geht mit psychischen Belastungen einher, denen nicht alle Gesellschaftsmitglieder gewachsen sind. Folge davon ist psychosoziales Leid, das auf Ausdruck drängt. Eine Form dieses Ausdrucks und gleichzeitig seine soziale Kontrolle ist die institutionelle Bereitstellung von psychiatrischen Diagnosen und durch sie legitimierte Therapien. Alle Kliniker/-innen, die über längere Zeit tätig sind, wissen von Veränderungen in der Symptomwahl ihrer Patienten/-innen zu berichten und sie vermuten – aus sozialwissenschaftlicher Perspektive – zu Recht, dass sich darin Veränderungen in den alltäglichen gesellschaftlichen Anforderungen an die individuelle Lebensführung spiegeln. In diesem Prozess ist eine psychoanalytisch orientierte Soziologie und Sozialpsychologie beziehungsweise sozialwissenschaftlich aufgeklärte Psychoanalyse aufgerufen, den Anforderungen und ihren Folgen systematisch auf den historisch-kulturell-gesellschaftlichen Grund zu leuchten. Dazu stehen drei Arten von Daten zur Verfügung: (1) Dokumente über den Fachdiskurs, in dem eine bestimmte Diagnose und die über sie legitimierte Therapie durchgesetzt werden, sowie Dokumente über den Laiendiskurs, in dem sich die Gesellschaftsmitglieder die Diagnose und die Therapiebedürftigkeit als Deutungsmuster aneignen. (2) Sozialepidemiologische Daten, die darüber Auskunft geben, wie eine bestimmte Diagnose und Therapie sowie das auf diesem Wege artikulierbare psychosoziale Leid in einem bestimmten Zeitraum soziokulturell verteilt sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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(3) Daten aus Tiefeninterviews, in denen Gesellschaftsmitglieder mit einer bestimmten Diagnose und Therapie die Gelegenheit erhalten, ihr Selbstverständnis zur Sprache zu bringen. Darüber hinaus dient die psychoanalytische Praxis, sei es als klinische Praxis oder als Praxis psychoanalytisch orientierter Beratung (Supervision und Coaching), der Generierung von Forschungsfragen, die sich nach einem bewährten »Fahrplan« abarbeiten lassen: (1) Fallpräsentationen in Praxiskonferenzen, (2) Einzelfallanalysen, (3) Fokus-Gruppen mit Vertretern thematisch relevanter wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Bezugsgruppen, um die Erfahrungsgrundlage zu verbreitern und PräKonzepte zu bilden, (4) Komparative Kasuistiken (Typenbildung), (5) Konzeptgeleitete Konstruktion von Fragebögen, um die empirische Verteilung von Fällen oder fallspezifischen Merkmalen zu erfassen. Im Folgenden gebe ich einen knappen Überblick über Forschungsprojekte, die am Sigmund-Freud-Institut primär im Schwerpunkt »Psychoanalyse und Gesellschaft« angesiedelt sind und weitgehend dem skizzierten methodischen Programm entsprechen.

Gesellschaftliche Transformationsprozesse Die Gründung des Sigmund-Freud-Instituts war von Anfang an mit dem Auftrag verbunden, die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands in der Nachkriegszeit mit kritischem Blick zu begleiten und einen Demokratisierungsprozess voranzubringen, der sich nicht in einem Wirtschaftswunder erschöpft. Dieser Auftrag motiviert das Institut bis heute dazu, sich mit Fragen der individuellen Demokratiefähigkeit und deren positiven und negativen Sozialisationsbedingungen zu befassen (Busch, 2007), sowohl theoretisch als auch empirisch. So gibt es eine Reihe von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Forschungsprojekten, die der historischen Transformation von totalitären in posttotalitäre bis demokratische Gesellschaftssysteme gelten. In den letzten Jahren sind der Übergang von der DDR in die Berliner Demokratie (Plänkers u. Kerz-Rühling, 2000, 2004) und jüngst der Übergang des Chinas der »Kulturrevolution« in ein postmaoistisches China untersucht worden (Plänkers, 2010, 2011a, 2011b, Haubl, 2010a). In jedem dieser Projekte werden sozialwissenschaftliche und klinisch-psychoanalytische Aspekte verknüpft, weil vor allem die transgenerationelle Weitergabe traumatischer Erlebnisse interessiert, wofür die ShoaForschung wegweisend wurde. Auch diese Tradition ist im Institut präsent: in der kontinuierlichen Arbeit mit Child Survivers (Kurt Grünberg), in diskurstheoretischen Untersuchungen (Jan Lohl) und in Fokus-Gruppen-Projekten wie »Geschichtssinn« (Angela Kühner), die sich mit den generationsspezifischen NSErinnerungen beschäftigen (Kühner, 2008; Lohl, 2011). Vertiefend sei das inzwischen abgeschlossene China-Projekt (SFI-Kernteam: Tomas Plänkers, Rolf Haubl), nicht zuletzt wegen seiner besonderen methodischen Herausforderungen, kurz umrissen: Bei der psychoanalytischen Schulung von Ärzten/-innen und Psychologen/-innen in China ist aufgefallen, dass in den Behandlungsberichten die »Kulturrevolution« mit keinem Wort erwähnt wurde, obwohl sie doch als kollektives Trauma zu beurteilen ist. Diese Erfahrung war Anlass, die bewussten und unbewussten psychosozialen Auswirkungen dieser Zeit in Tiefeninterviews mit Tätern und Opfern sowie mit deren Kindern zu rekonstruieren. Von chinesischen Kollegen geführt, von deutschsprachigen Chinesen übersetzt und von einer Gruppe deutscher Psychoanalytiker interpretiert, konfrontieren die Interviews neben vielem anderen mit der Frage nach der Kultur übergreifenden Bedeutung psychoanalytischer Deutungen: Wie weit können westliche Vorstellungen, wie kollektive Traumata zu bearbeiten sind, der chinesischen Mentalität überhaupt gerecht werden? Auf beeindruckende Weise lässt die Untersuchung, in der erstmals psychoanalytisches, sozialwissenschaftliches und sinologisches Wissen zusammengeführt werden, auch das Ausmaß an Leid erahnen, dem die chinesischen Machthaber bis heute die Anerkennung verweigern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Arbeit und Psyche im Neoliberalismus Aber nicht nur die chinesische Gesellschaft ist im Umbruch, die westlichen Gesellschaften sind es auch. Der Neoliberalismus oder Marktradikalismus treibt die Individualisierung auf die Spitze. Auch wenn er manchen Gesellschaftsmitgliedern dazu verhilft, sich selbst zu verwirklichen, überfordert er doch die Mehrheit, was sich in steigenden Zahlen psychosozialer Störungen bemerkbar macht, die in vielen Fällen durch psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz ausgelöst werden. Fragen der Erwerbsarbeit sind bislang aber eher marginale Themen einer psychoanalytisch orientierten Soziologie und Sozialpsychologie beziehungsweise sozialwissenschaftlich aufgeklärten Psychoanalyse gewesen, genau so wie sie sich von Ausnahmen abgesehen wenig mit ökonomischen Fragen und Fragen des Erlebens und Handelns in Organisationen befasst hat, obwohl der gesamte Themenbereich das Leben des modernen Menschen prägt wie sonst kaum einer. Deshalb wurde in den letzten Jahren versucht, diesen Bereich für das Sigmund-Freud-Institut zu erschließen, was freilich nur in Kooperation mit anschlussfähigen Disziplinen wie eine subjekttheoretische Arbeits- und Organisationssoziologie gelingt. So wurde in den Jahren 2007 – 2009 ein Forschungsprojekt durchgeführt, das die Nachfolge in Familienunternehmen als kritisches Lebensereignis untersucht hat (SFI-Kernteam: Rolf Haubl, Bettina Daser). Denn Nachfolgeprozesse wühlen alle unbewältigten Konflikte der Unternehmerfamilie auf und ruinieren nicht selten das Unternehmen, wenn es nicht gelingt, die Konflikte zu regulieren (Haubl u. Daser, 2006; Daser u. Haubl, 2008, 2009; Haubl, 2008a; Daser u. Kerschgens, 2011). Die öffentliche Resonanz auf diese Untersuchung war sehr positiv, nicht zuletzt deshalb, weil das psychoanalytische Verständnis vermeintlich irrationaler familiärer Entscheidungen als notwendige Erweiterung der bisherigen Zugänge begrüßt wurde. 2008 konnte in Kooperation mit der TU Chemnitz eine auf mehrere Jahre hin angelegte Verlaufsuntersuchung gestartet werden, die sich darum bemüht, die psychosozialen Folgen zu bilanzieren, die der neoliberale Umbruch der modernen kapi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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talistischen Gesellschaft für das Erwerbsleben hat (SFI-Kernteam: Rolf Haubl, Bettina Daser, Ullrich Beumer). Bekannte Stichworte lauten: Ökonomisierung, Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit, Flexibilisierung und als deren Folge: Erschöpfung. Unter dem programmatischen Titel »Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen: Arbeit und Leben in Organisationen 2008« (Haubl u. Voß, 2009) ist die erste Etappe inzwischen abgeschlossen (Haubl u. Voß, 2011). Auch dieses Projekt hat eine erfreulich große öffentliche Aufmerksamkeit hervorgerufen und verschiedene Gelegenheiten geboten, die Befunde einflussreichen Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik vorzutragen. Methodisch schlägt das Projekt einen innovativen Weg ein, indem es Erfahrungen von Supervisoren der »Deutschen Gesellschaft für Supervision« (DGSv) nutzt. Zunächst wurden sehr erfahrene Supervisoren in Tiefeninterviews befragt, wie sich ihrer Wahrnehmung nach die Arbeitsbelastungen ihrer Supervisanden seit den späten 1980er-Jahren verändert haben und wie die Beschäftigten, einschließlich der Führungskräfte (Beumer, 2011), diese Veränderungen zu bewältigen suchen. Anschließend wurden die Ergebnisse der Auswertung dieser qualitativen Interviews in einen Fragebogen übersetzt, den schließlich gut eintausend Supervisoren beantwortet haben. Als Ergebnis der Untersuchung konnte eine Liste von Risikofaktoren identifiziert werden, die nicht nur die Arbeitszufriedenheit zersetzen, sondern zugleich auch die psychische Gesundheit der Arbeitnehmer. Deshalb liegt in der aktuellen Erhebung der Fokus auf deren Selbstfürsorge (Daser u. Kerschgens, 2011), womit das Repertoire an Strategien gemeint ist, sich am Arbeitsplatz psychisch gesund zu halten. Selbstfürsorge hat einen geschlechtsspezifischen Aspekt: Männliche Beschäftigte müssen lernen, sich selbst und gegenüber anderen ein Bedürfnis nach Halt gebenden kollegialen Beziehungen einzugestehen und gegebenenfalls rechtzeitig Entlastung zu suchen, ohne dies als beschämende Schwäche zu erleben. Das schließt ein, auf die Darstellung und mehr noch auf die Verkörperung unbegrenzter Belastbarkeit zu verzichten, auch wenn ein heroischer Arbeitseinsatz als Statusmerkmal gehandelt wird. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Weibliche Beschäftigte müssen lernen, sich aggressiver selbst zu behaupten, auch wenn sie damit kollegiale Beziehungen aufs Spiel setzen. Denn sie neigen dazu, um des Gefühls willen, von anderen gebraucht zu werden, sich von diesen belasten zu lassen. Gerade Leitungsträger müssen lernen, ihren Arbeitseinsatz aus Gründen eines psychosomatischen Selbstschutzes zu dosieren. Das schließt ein, ihr Selbstwertgefühl nicht an die Karriere zu binden. Vielmehr ist Enttäuschungsprophylaxe angesagt: So werden auch alle erfolgreichen Anstrengungen, »gute Arbeit« zu leisten, nicht zwangsläufig durch Aufstieg oder auch nur Kündigungsschutz belohnt, was das Gefühl der Selbstwirksamkeit und darüber vermittelt das Selbstwertgefühl zersetzt. Um sich in solchen Fällen vor Demoralisierung oder gar Depression zu schützen, entwickeln immer mehr Beschäftigte einen zynischen Habitus. Dieser Zynismus bietet längerfristig aber nur unzureichend Schutz, denn er belastet sowohl die kollegialen Beziehungen als auch die Beziehungen zu Klienten, Kunden oder auch zu der eigenen Familie. Im Zuge ihres neoliberalen Umbruchs wird die moderne kapitalistische Gesellschaft zunehmend zu einer beratenen Gesellschaft. Mit wachsender Geschwindigkeit kommen neue arbeitsweltliche Beratungsformate auf den Markt, deren Professionalisierung (Haubl, 2009a) in Frage steht. Eines dieser Formate ist Coaching, das derzeit der Supervision als bevorzugter arbeitsweltlicher Beratung den Rang streitig macht. Das SigmundFreud-Institut nimmt sich in verschiedener Hinsicht dieser Entwicklung an: Erstens verfolgt es, wie Psychoanalytiker und / oder spezifisches psychoanalytisches Wissen auf diesem Feld nachgefragt werden; zweitens untersucht es in einem Praxisprojekt, das mit Transkripten von Coaching-Sitzungen arbeitet (SFI-Kernteam: Rolf Haubl, Bettina Daser, Angela Kühner), was in diesen Sitzungen tatsächlich geschieht; drittens wird auf diesem Hintergrund angestrebt, empirisch begründete Qualitätsstandards für ein psychodynamisch-systemisches Coaching zu etablieren (Haubl, 2008b), die eine missbräuchliche Berufung auf Psychoanalyse und Gruppenanalyse verhindern.

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Neid und soziale Gerechtigkeit Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus nimmt die soziale Ungleichheit in der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu. Diese Zunahme wird von den Gesellschaftsmitgliedern nicht einfach konstatiert, vielmehr kommt es zu mehr oder weniger ausgeprägten emotionalen Stellungnahmen. Da Neid eine Emotion ist, die soziale Vergleiche voraussetzt, die zu Ungunsten des Neiders ausgehen, lässt sich vermuten, dass eine verschärfte Konkurrenz um knappe Lebenschancen die Entwicklung von Neid begünstigt. Um einen Eindruck zu gewinnen, wie Neid in West- und Ost-Deutschland verteilt ist, wurde 2009 in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe theoriegeleitet zum Thema befragt. Die Ergebnisse dieses Projektes (SFI-Kernteam: Rolf Haubl) belegen eine spezifische Psychodynamik des Neides, die in enger Verbindung mit dem Zweifel an einer gerechten Güterverteilung nicht nur die soziokulturelle Kohäsion gefährdet, sondern auch gesundheitliche Auswirkungen hat (Haubl u. Brähler, 2010a, 2010b).

Kindheit in der Leistungsgesellschaft Der neoliberale Umbruch der modernen kapitalistischen Gesellschaft lässt sich unter anderem als Krise der Leistungsgesellschaft interpretieren, in der selbst die Leistungsträger immer häufiger darunter leiden, dass sie große Diskrepanzen zwischen ihren Anstrengungen und ihren Gratifikationen erleben. Die vermissten Gratifikationen lassen sich nicht auf monetäre Entlohnung reduzieren. Es ist ein Verlust an Anerkennung, der deprimiert. Diese Veränderungen wirken sich nicht zuletzt auf die nachfolgende Generation aus. Was die bürgerliche Gesellschaft einst als Kindheit institutionalisiert hat, droht zu verschwinden. Die psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen nehmen zu. Das Sigmund-Freud-Institut hat daraufhin einen interdisziplinären Forschungsschwerpunkt zur Prävention und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Frühprävention eingerichtet. Dieser Schwerpunkt bündelt Projekte, die untersuchen, wie Kinder und Jugendliche so zu fördern sind, dass sie sich nicht nur kognitiv entwickeln, sondern darüber hinaus auch sozioemotional widerstandsfähig werden. In sozialwissenschaftlicher Perspektive gilt es dabei, Maßnahmen für eine »Verhaltensprävention« durch Maßnahmen für eine »Verhältnisprävention« zu flankieren. Psychoanalytisch orientierte sozialwissenschaftliche Beiträge zu diesem Forschungsschwerpunkt gibt es mehrere. Der erste Beitrag zeigt sich am Beispiel der Aufmerksamkeitsdefizitund / oder Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Während die klinischen Projekte die Diagnose und Ritalin-Therapie des Syndroms dekonstruieren, um einem Sinn verstehenden therapeutischen Zugang zu öffnen und gesundheitspolitisch durchzusetzen, hat das Projekt »Mit Ritalin leben. Kindern eine Stimme geben« einen ergänzenden Fokus gehabt (SFI-Team: Rolf Haubl, Katharina Liebsch, Inge Schubert, Tanja Brand): Anhand von 60 Tiefeninterviews mit betroffenen Jungen im Alter von 7 bis 14 wurde eine empirisch fundierte Typologie entwickelt, in der aufscheint, welche verschiedenen psychosozialen Funktionen die Medikamentierung für die Jungen haben kann (u. a.: Haubl u. Liebsch, 2008a, 2009, 2010; Haubl, 2009b, 2010b). Dabei sind erstmals in der ADHS-Forschung die Kinder selbst in kindgerechten Interviews ausführlich zu Wort gekommen, um zu erzählen, wie sie ihr medikamentiertes Leben erleben. Als besonders eindrücklich stellte sich ein Medikamentengebrauch heraus, der auf eine Steigerung schulischer Leistungen unabhängig von therapeutischen Notwendigkeiten zielt (Enhancement: Haubl u. Liebsch, 2008b) und unbedingt weiter untersucht werden sollte, nicht nur, weil er konfliktreiche medizinethische Fragen einer »Wunsch erfüllenden Medizin« aufwirft, sondern auch, weil dadurch Kinder an die psychopharmakologische Leistungssteigerung gewöhnt werden, ohne die ein beträchtlicher Teil der erwachsenen Arbeitnehmer schon heute nicht mehr auskommt. Kann man einen solchen sozialwissenschaftlichen Beitrag unter das Stichwort einer »Medikalisierung sozialer Probleme« fassen, thematisiert die zweite Art von Beitrag die Institutionen, die daran beteiligt sind: So hat ein Projekt (SFI-Kernteam: Rolf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Haubl, Katharina Liebsch, Beate Schnabel) auf dem Hintergrund von themenzentrierten Gruppengesprächen mit Lehrern, Eltern und Schülern ein Modell für einen Gesundheitszirkel entwickelt, das Grundschulen hilft, zu lernenden Organisationen in Sachen einer ADHS-bezogenen Gesundheitsförderung zu werden. Ein anschließender Projektverbund, der auf Institutionen zielt, fokussiert die Partizipation von Kindern, wie sie die UnoKinderrechtskonvention für alle Entscheidungen verlangt, die Kinder betreffen. In der Perspektive einer triangulären Gesprächsführung wird untersucht, wie es zum einen Lehrern und zum anderen Kinderärzten gelingt, sich nicht nur mit den Eltern zu verständigen, sondern einen kommunikativen Raum zu öffnen, der es den Kindern möglich macht, ihr Erleben und Handeln freimütig zur Sprache zu bringen. Ein solches Dreiergespräch »auf Augenhöhe« zu führen, ist nicht leicht, weil die Dreiecke immer wieder auf wechselnde Dyaden reduziert zu werden drohen, wobei die Schulterschlüsse der Erwachsenen, die Kinder ausschließen, besonders interessieren. Während das eine Projekt unter dem Titel »Kein Einverständnis, ohne einverstanden zu sein« (SFI-Kernteam: Rolf Haubl, Katharina Liebsch, Simon Dechert, Sebastian Jentsch) untersucht, wie Aufklärungsgespräche verlaufen, in denen ein Kinderarzt die Eltern, in der Regel die Mütter, und ihr Kind über dessen Diagnose AD[H]S und die angezeigte (medikamentöse) Behandlung unterrichten und wie dieses Expertenurteil innerhalb der sozialen Matrix von verschiedenen familiären und außerfamiliären Akteuren angeeignet wird, nimmt das andere Projekt (SFI-Kernteam: Rolf Haubl, Panja Schweder, Marie-Sophie Löhlein, Jan Lohl) unter dem Titel »Trianguläre Gesprächsführung im Kontext schulischer Beratungsprozesse« verschiedene Varianten von »Erziehungsvereinbarungen« und »Lernbegleitgesprächen« unter die Lupe, in denen Lehrer mit Schülern und deren Eltern regelmäßig Zielvereinbarungen hinsichtlich des fächerspezifischen Leistungsstandes, des Lernverhaltens und der Lerntechniken sowie der sozialen Integration in den Klassenverband treffen und fortschreiben. Beides sind strukturgleiche Konstellationen, die einen Vergleich herausfordern, wieweit Kinder von Erwachsenen tatsächlich als Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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handlungspartner ernst genommen werden oder wieweit der tradierte Paternalismus der Erwachsenen mehr oder weniger maskiert fortwirkt. Auch das vorerst letzte Projekt beansprucht, Kindern eine Stimme zu geben. Unter dem Titel »Zum sozioemotionalen Selbstverständnis hochbegabter Schülerinnen und Schüler« setzt es an der für den Neoliberalismus typischen Erwartung an, jeder solle seine Lebenschancen optimieren, indem er seine Begabungsreserven voll ausschöpft. In diesem Zusammenhang ist die Identifizierung von Hochbegabten in der neoliberalen Gesellschaft zu einem vordringlichen Ziel der Bildungspolitik geworden. Kinder werden getestet, um besonders gefördert zu werden, falls sie sich von ihrer Intelligenz her als hochbegabt erweisen. Wie sie am besten gefördert werden können, ist strittig. Eine Grundannahme des Projektes (SFI-Kernteam: Rolf Haubl, Timo Hoyer, Inge Schubert, Panja Schweder, Angela Kühner), das in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe durchgeführt wird, geht davon aus, dass die entsprechenden Sekundarschüler ihre besondere Begabung nur dann nutzen können, wenn sie die positive Stigmatisierung, die eine Zuschreibung einer »Hochbegabung« nach sich zieht, hinreichend konfliktfrei in ihr Selbstbild zu integrieren vermögen. Über die intra- und interpersonellen Konflikte, die entstehen können, ist bislang wenig bekannt. Deshalb untersucht das Projekt die institutionellen Strategien, mit denen Schulen die »Hochbegabung« ihrer Schüler rahmen, und vergleicht sie mit den individuellen Strategien, die von den betroffenen Schülern selbst entwickelt werden, samt den sozioemotionalen Auswirkungen, die diese Strategien haben (Hoyer, 2010, 2011; Schubert, 2011).

Schluss Hier soll der kurze Überblick über die Forschungsprojekte, die am Sigmund-Freud-Institut primär im Bereich »Psychoanalyse und Gesellschaft« angesiedelt sind, enden. Der Leser mag entscheiden, ob die aufgelisteten Projekte den Verdacht der Räumung einer kritischen Position bestätigen oder nicht doch für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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deren Befestigung unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, zu denen auch die Bedingungen wissenschaftlicher Produktion gehören, sprechen. In dem Beitrag werden nur Veröffentlichungen aufgeführt, die aus den Projektteams des Sigmund-Freud-Instituts stammen. Das heißt nicht, dass sie nicht selbst in einen Kontext von Veröffentlichungen der Scientific Community stünden, die hier aber keine Erwähnung finden.

Auswahl an Veröffentlichungen Beumer, U. (2011). Führung. In: R. Haubl, G. G.Voß (Hrsg.), Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit (S. 27 – 38). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Busch, H.-J. (2006). Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft. In: H.-J. Busch (Hrsg.), Spuren des Subjekts (S. 13 – 54). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Busch, H.-J. (2007). Demokratische Persönlichkeit. Eine Annäherung aus der Perspektive politischer Psychologie. In: D. Lange, G. Himmelmann (Hrsg.), Demokratiebewusstsein. Interdisziplinäre Annäherungen an ein zentrales Thema politischer Bildung (S. 41 – 55). Wiesbaden: VS Verlag. Daser, B., Haubl, R. (2008). Supervision für Steuerberater – Ein geeignetes Instrument, um Erfahrungswissen über Familiendynamik in Familienunternehmen zu vermitteln? Supervision, 3, 35 – 40. Daser, B., Haubl, R. (2009). Qualifiziert sein recht nicht: Weibliche Nachfolge als Herausforderung für die ganze Unternehmerfamilie. In: M. W. Fröse, Szebel-Habig, A. (Hrsg.), Mixed Leadership: Mit Frauen in die Führung! (S. 111 – 129). Bern: Haupt. Daser, B., Kerschgens, A. (2011). Selbstfürsorge. In: R. Haubl, G. G. Voß (Hrsg.), Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit (S. 57 – 68). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Haubl, R. (2008a). »Diese Firma, dafür ist auch ein Stück Leben eingesetzt worden.« – Nachfolge als kritisches Lebensereignis. In: A. Ahlers-Niemann, U. Beumer, R. Redding Mersky, B. Sievers (Hrsg.), Organisationslandschaften – Sozioanalytische Gedanken und Interventionen zur normalen Verrücktheit in Organisationen (S. 107 – 117). BergischGladbach: EHP-Verlag. Haubl, R. (2008b). Historische und programmatische Überlegungen zum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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psychodynamisch-systemischen Leitungscoaching. Positionen. Beiträge zur Beratung in der Arbeitswelt, 1. Haubl, R. (2008c). Die Aufmerksamkeits- und/oder Hyperaktivitätsstörung als kulturgeschichtliches Phänomen. Psychotherapie Forum, 16, 85 – 91. Haubl, R. (2009a). Unter welchen Bedingungen nützt Supervisionsforschung der Professionalisierung supervisorischen Handelns? In: R. Haubl, B. Hausinger (Hrsg.), Supervisionsforschung: Einblicke und Ausblicke (S. 179 – 208). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Haubl, R. (2009b). Medikamentierte Wut. Wie Jungen mit einer AD(H)S um Selbstkontrolle ringen. Forum der Psychoanalyse, 25 (3), 255 – 269. Haubl, R. (2010a). Roter Terror. Gewalterfahrungen während der »Kulturrevolution«. In: T. Plänkers (Hrsg.), Chinesische Seelenlandschaften. Die Gegenwart der Kulturrevolution (1966 – 1976) (S. 88 – 117). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Haubl, R. (2010b). Umkämpfte Aufmerksamkeit. AD(H)S: Symptom einer soziokulturellen Krise. In: H. Böker (Hrsg.), Psychoanalyse im Dialog mit den Nachbarwissenschaften (S. 223 – 240). Gießen: Psychosozial-Verlag. Haubl, R., Brähler, E. (2010a). Neid und soziale Gerechtigkeit – Westdeutsche und Ostdeutsche im Vergleich. In: E. Brähler, I. Mohr (Hrsg.), 20 Jahre deutsche Einheit – Facetten einer geteilten Wirklichkeit (S. 246 – 260). Gießen: Psychosozial-Verlag. Haubl, R., Brähler, E. (2010b). Neid und Neidbewältigung in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Fragebogenuntersuchung. In: U. Bahrke (Hrsg.), »Denk ich an Deutschland …« Sozialpsychologische Reflexionen (S. 199 – 213). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Haubl, R., Daser, B. (2006). Familiendynamik in Familienunternehmen: Warum sollten Töchter nicht erste Wahl sein? Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Haubl, R., Liebsch, K. (2008a). Mit Ritalin leben. Zur Bedeutung der AD(H) S-Medikation für die betroffenen Kinder. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 62 (7), 673 – 693. Haubl, R., Liebsch, K. (2008b). Psychopharmakologisches Enhancement: Der Gebrauch von Ritalin in der Leistungsgesellschaft. sozialer sinn, 9 (2), 173 – 195. Haubl, R., Liebsch, K. (2009). »My mother thinks that this is the case, and so does my teacher. I, for my part, do not notice any difference«: methodological reflections on intersubjectivity in the research process with children. Journal of Social Work and Practice, 23 (2), 229 – 243. Haubl, R., Liebsch, K. (2010). Mit RitalinÒ leben. Kindern eine Stimme geben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Haubl, R., Voß, G. G. (2009). Psychosoziale Kosten turbulenter Verände© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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rungen: Arbeit und Leben in Organisationen 2008. Positionen. Beiträge zur Beratung in der Arbeitswelt, 1. Haubl, R., Voß, G. G. (Hrsg.) (2011). Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hoyer, T. (2008). Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – Ein Porträt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hoyer, T. (2010). »Anders sind wir eigentlich nicht« – oder doch? Schüler/innen in Hochbegabtenklassen – eine Risikogruppe? Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 46 (2), 110 – 127. Hoyer, T. (2011). Lauter feine Unterschiede. Heterogenität in Hochbegabtenklassen. news & science. Begabtenförderung und Begabtenforschung, 27, 25 – 34. Kühner, A. (2008). NS-Erinnerungen in der Migrationsgesellschaft. Befürchtungen, Erfahrungen und Zuschreibungen. Einsichten Perspektiven. Zeitschrift der bayrischen Landezentrale für politische Bildung. Sonderheft. Lohl, J. (2011). »… die ganze Nazi-Scheiße von gestern …« Protest und Phantom – Die Protestbewegungen der 1960er Jahre aus der Perspektive einer psychoanalytischen Generationenforschung. In: M. Brunner, J. Lohl (Hrsg.), Unheimliche Wiedergänger? Zur Politischen Psychologie des NSErbes in der 68er-Generation (S. 11 – 27). Gießen: Psychosozial-Verlag. Plänkers, T. (Hrsg.) (2010). Chinesische Seelenlandschaften. Die Gegenwart der Kulturrevolution (1966 – 1976). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Plänkers, T. (2011a). China: ein traumatisiertes Land. Folgen der chinesischen Kulturrevolution (1966 – 1976) für Individuum und Gesellschaft. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 65 (6), 481 – 507. Plänkers, T. (2011b). Chinesische Schatten der Kulturrevolution (1966 – 1976). Transmissionen psychischer Traumata zwischen den Generationen. In: T. Hoyer, U. Beumer, M. Leuzinger-Bohleber, M. (Hrsg.), Jenseits des Individuums – Emotion und Organisation (S. 307 – 329). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Plänkers, T., Kerz-Rühling, I. (2000). Sozialistische Diktatur und psychische Folgen. Tübingen: edition discord. Plänkers, T., Kerz-Rühling, I. (2004). Verräter und Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Berlin: Links-Verlag. Schubert, I. (2011). »Ich finde an unserer Klasse einfach toll, dass die so zusammengewürfelt ist.« Heterogenität und Homogenisierungsbedürfnisse in schulischen Gruppen. In: T. Hoyer, U. Beumer, M. Leuzinger-Bohleber (Hrsg.), Jenseits des Individuums – Emotion und Organisation (219 – 246). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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II 50 Jahre Sigmund-Freud-Institut – 100 Jahre International Psychoanalytical Association – 20 Jahre Joseph Sandler Research Conferences

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Fluctuat nec mergitur Ein Blick auf die Geschichte des SFI

Die dunkelsten Jahre deutscher Geschichte waren erst 15 Jahre zuvor beendet worden, als Alexander Mitscherlich am 27. April 1960 das neue »Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin« – so der Name des Hauses bis 1964 – mit der Idee der Freiheit und dem Streben nach Wahrheit verknüpfte: »Was letztlich darüber entscheiden wird, ob unsere Freiheit ein fruchtbares Ziel für unsere Anstrengungen ist und bleiben wird, mag darin liegen, ob wir die Wahrheit über uns selbst besser ertragen lernen. Die Suche nach der Wahrheit über uns selbst, […] ist das einzig verläßliche Mittel, um uns […] gegen die Inhumanitäten zu verteidigen, die uns unter der Decke der Zivilisation drohen« (A. Mitscherlich zit. n. Institut, 1960, S. 8). Und der hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn knüpfte daran die Hoffnung: »Ein Staat, in dem die Erkenntnisse und das Verfahren der Tiefenpsychologie nicht nur bis tief in die Kliniken und ärztlichen Praxisräume, sondern auch in die Strafgesetze, in den Strafvollzug, in die Schulzimmer und in die sozialen Berufe eindringen können, ist wahrscheinlich irgendwie immun gegen Diktatoren« (Mitscherlich zit. n. Institut, 1960, S. 13). Beide Redner nahmen damals Bezug auf eine gesellschaftliche Situation, in der nach Faschismus, Holocaust und Krieg zwar die Trümmer der materiellen Zerstörung weitgehend beiseite geräumt waren, die der ideellen Zerstörung jedoch nach wie vor fortexistierten, was Jürgen Habermas von der »intellektuellen Nachkriegswüste Deutschlands« (Habermas zit. n. Berger, 1996, S. 337) sprechen ließ. Zu diesen ideellen Trümmern gehörte auch das erste Frankfurter Psychoanalytische Institut, das 1929 mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Hilfe von Max Horkheimer (1895 – 1973) von Karl Landauer, Heinrich Meng, Erich Fromm, Frieda Fromm-Reichmann und Siegmund H. Fuchs gegründet und 1933 von den Nazis zerstört worden war. Diese erste Institutsgründung ermöglichte 1930 die Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises an Sigmund Freud (vgl. Plänkers, 1993, 1996), die aber wenige Jahre später von der Verbrennung seiner Schriften auf dem Frankfurter Römerberg gefolgt war. Die Frankfurter Analytiker, in der Mehrzahl Juden, emigrierten. Karl Landauer starb kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen (Rothe, 1996). Als »jüdische Wissenschaft« war die Psychoanalyse in das Visier der Nazis geraten, nicht nur, weil ihr Gründer ein Jude war, sondern weil sie in einer jüdischen Genealogie der Textinterpretation, welche schon immer die Frage der Bedeutung in den Mittelpunkt stellte, angesiedelt ist (Legendre, 1989). Gründlich war diese jüdische Wissenschaft aus ihrem Ursprungsort, dem deutschen Sprachraum, vertrieben worden. Im Nachkriegsdeutschland gab es zwar Gründungen psychoanalytischer Institute 1950 in Berlin und 1955 in Hamburg. Dass aber der Staat in einem Versuch der Wiedergutmachung sich hier engagierte, sollte erst 1960 in Hessen geschehen, wo mit der bemerkenswerten Unterstützung der Landesregierung das heutige Institut gegründet werden konnte, dessen Hauptaufgabe zunächst in der Wiederbegründung und in der Anknüpfung an die vor allem im angelsächsischen Sprachraum vollzogene Weiterentwicklung der Psychoanalyse bestand. Eine bedeutende Unterstützung erfuhr dieses Unternehmen wiederum durch Max Horkheimer, der 1949 nach Frankfurt zurückgekehrt und 1951 der erste jüdische Rektor einer deutschen Universität geworden war. Horkheimer und Mitscherlich hatten beide von unterschiedlichen wissenschaftlichen Seiten her die Selbstzerstörungskräfte der modernen, aufgeklärten Gesellschaft in den Blick genommen. Drei Publikationen stehen dafür paradigmatisch: die von Adorno und Horkheimer verfasste »Dialektik der Aufklärung« (1944) sowie Mitscherlichs und Mielkes Dokumentation der Nürnberger Ärzteprozesse »Diktat der Menschenverachtung« (1947) und »Wissenschaft ohne Menschlichkeit« (1949). Diese geistige Nähe und Kooperation führte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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1956 in Frankfurt und Heidelberg zu einer großen akademischen Feier aus Anlass des 100. Geburtstages Sigmund Freuds, was damals der erste öffentliche und vielbeachtete Auftritt für die Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland war. Sie war das ideelle Startsignal für die vielfältigen Aktivitäten, die schließlich 1960 zur Gründung des Instituts führten. Nun galt es, wie es der damalige Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Hauses, Tobias Brocher, ausdrückte, »die Psychoanalyse von den Entstellungen, Kompromissen und ›selbstgestrickten‹ Varianten zu befreien, die sich nach 1933 aus politischen und rassistischen Gründen entwickelt hatten« (Brocher, 1989, S. 324).

Das SFI unter Alexander Mitscherlich (1960 – 1976) Damit war die damals erste und wesentliche wissenschaftliche Aufgabe des Instituts beschrieben. Es sollte zum einen die Ausbildung in einer Disziplin betreiben, die es damals in Deutschland gar nicht mehr gab. Während der Nazi-Zeit hatte eine kleine Gruppe von Analytikern in Berlin im 1936 gegründeten »Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« die Psychoanalyse Freuds in wesentlichen Konzepten entstellt (vgl. Lockot, 1985, 1994; Bohleber, 1995). Personell und konzeptuell konnte der Wiederaufbau der Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland nur mit Hilfe aus dem Ausland gelingen. So beteiligte sich Alexander Mitscherlich an einem Projekt des Frankfurter S. Fischer-Verlages in Verbindung mit James Strachey, Angela Richards und Ilse Grubrich-Simitis, die Werke Sigmund Freuds in einer kritischen Ausgabe herauszubringen, was zwar in der ursprünglich geplanten Vollständigkeit nicht gelang, aber doch in die Publikation einer elfbändigen »Sigmund Freud Studienausgabe« mündete, die den größten Teil des Freud’schen Œuvres dem deutschen Leser in einer kommentierten Ausgabe zugänglich machte (vgl. Grubrich-Simitis, 1993, S. 70 ff.). Auf dieser Basis konnte man sich die wesentlichen Freud’schen Texte wieder aneignen sowie ihre zentralen Konzeptbildungen diskutieren und weiter entwickeln. Das Institut war damals – wie Hermann Argelander (1996) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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feststellte – auf das ›Format‹ Alexander Mitscherlichs zugeschnitten. Mitscherlich besaß ein »Beziehungsimperium« (vgl. Loch, 1983, S. 343), war international bekannt und in der deutschen Öffentlichkeit außerordentlich präsent durch viel diskutierte Publikationen, durch Auftritte im Fernsehen sowie als Herausgeber der 1947 gegründeten Zeitschrift »Psyche«. 1956 war Mitscherlich Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) geworden (Brecht, 1995, S. 91), mit der ihn der Wunsch nach einem Wiederaufleben einer Freud’schen Psychoanalyse in Deutschland verband. Mitscherlichs aktive Beziehungssuche zu Analytikern im Ausland und nicht zuletzt seine eigene Lehranalyse bei Paula Heimann 1958 in London waren persönlicher Ausdruck seines Engagements für eine Psychoanalyse, die wieder den Anschluss an ihren Begründer suchte. So bestand auch im Sigmund-Freud-Institut von Anfang an die Absicht, die psychoanalytische Ausbildung entsprechend den Standards der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zu gestalten. Realisiert wurde dies durch sogenannte Paten: »aus Holland Jeanne Lampl-de Groot, Pieter van de Leeuw und Pieter Kuiper ; aus London Paula Heimann, Michael Balint und Willi Hoffer ; aus Paris Bela Grunberger ; aus Wien Wilhelm Solms und Alois Becker ; aus Zürich Gustav Bally und Paul Parin und aus Berlin Käthe Dräger und Horst-Eberhard Richter« (Argelander, 1996, S. 377). Das Fehlen von Analytikern vor Ort bedingte, dass die Mitarbeiter Mitscherlichs oft weite Reisen für ihre Lehranalysen und Seminare unternehmen mussten. Das SFI entwickelte sich zum größten Institut der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und hat im Verlauf seiner 35-jährigen Geschichte als Ausbildungsinstitut (1960 – 1995) eine große Zahl von Analytikern hervorgebracht und auf diese Weise entscheidend zur Wiederbegründung der Psychoanalyse in Deutschland beigetragen. Das Institut wurde in drei verschiedene Abteilungen untergliedert: für klinische Psychoanalyse, für Psychologie und für Sozialpsychologie; zudem wurde eine Ambulanz eingerichtet. Die psychoanalytische Arbeit in Gruppen – Balintgruppen aber auch Therapiegruppen – wurde Anfang der 1960er-Jahre erstmals studiert und praktiziert. Sein öffentliches Renommee er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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hielt das Institut im Wesentlichen durch Alexander und Margarete Mitscherlich, insbesondere durch deren sozialpsychologische Schriften. Beispielhaft möchte ich in Erinnerung rufen »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« (1963), »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« (1965), »Die Unfähigkeit zu trauern« (zusammen mit Margarete Mitscherlich-Nielsen, 1967), »Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität« (1969). Eine sozialpsychologische Schwerpunktsetzung in dem neuen Institut brachte Mitscherlich auch durch die umstrittene Einstellung von Soziologen zum Ausdruck. Mitscherlich war »in den 1960er und 1970er Jahren […] genau die öffentliche Figur geworden, mit der sich viele Analytiker und Kandidaten gern identifizierten: ein Psychoanalytiker, Nazigegner und -opfer und ein kritischer Geist seiner Zeit, der moralisch auf der richtigen Seite war« (Brecht, 1995, S. 93). Diese breite Anerkennung gipfelte 1969 in der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Alexander Mitscherlich, wodurch der Psychoanalyse erneut eine breite Aufmerksamkeit in Westdeutschland verschafft wurde. In den 1970er- und 1980er-Jahren erreichten dann nur noch die Arbeiten Alfred Lorenzers und Klaus Horns als Beiträge zu einer kritischen Theorie des Subjekts, sowie die zeitkritischen Arbeiten Horst-Eberhard Richters einen ähnlichen öffentlichen Bekanntheitsgrad. Die hier so öffentlichkeitswirksam praktizierte wissenschaftliche Arbeit konzentrierte sich zumeist auf die Anwendung psychoanalytischer Konzepte auf soziale Phänomene. Sie vollzog sich im Kontext eines damals dichotomisierten Wissenschaftsverständnisses, das diametral zwischen Geistes- und Naturwissenschaften unterschied, wobei Psychoanalyse als sogenannte »Wissenschaft zwischen den Stühlen« kontrovers hinsichtlich ihrer Zuordnung diskutiert wurde. Das noch zu Zeiten Freuds geäußerte Verdikt, wonach Psychoanalyse keine Wissenschaft, sondern eine Angelegenheit für die Polizei sei (so Prof. W. Weygandt, 1910, zit. n. Jones, 1955/1984, S. 136), blieb zwar ein singuläres Bonmot, setzte sich aber fort in ihrer Ablehnung innerhalb der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen. So entstand das neue psychoanalytische Forschungsinstitut außerhalb der Universität und musste erst tastend seinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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institutionellen und epistemologischen Platz suchen. Es konnte diesbezüglich auf kein Vorbild zurückgreifen und musste sich selber erst erfinden. Klärung und Neuentwicklung psychoanalytischer Konzepte verbunden mit der Hermeneutik klinischer Protokolle standen damals im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit. Auf diese Weise entstanden neben den sozialpsychologischen Arbeiten Mitscherlichs allmählich auch psychoanalytische Arbeiten im engeren Sinne. Um nur einige wenige Stichwörter zu nennen: Mitscherlich selber veröffentlichte 1966 und 1967 seine »Studien zur psychosomatischen Medizin« mit einer Theorie der zweiphasigen Abwehr im psychosomatischen Krankheitsgeschehen. Hermann Argelander (1970) und Alfred Lorenzer (1973a, 1983) entwickelten ihre Theorien zur szenischen Funktion des Ichs und zum szenischen Verstehen. Es wurde über die analytische Gruppentherapie (Argelander, 1963, 1968, 1974, 1975) gearbeitet, über projektive Testverfahren (Vogel, 1968, 1970, 1977) über das analytische Erstinterview (Argelander, 1966, 1967, 1970, 1973), über analytische Kurz- und Fokaltherapie (Klüwer, 1970, 1971, 1977), sowie über eine große Zahl verschiedener Krankheitsbilder (vgl. Bareuther, Busch, Ohlmeier u. Plänkers, 1989, S. 711 – 795). Dies war in Teilen Forschung auf dem Gebiet psychoanalytischer Konzepte, ohne dass man es damals unter diesem Begriff fasste (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2002, 2004; Leuzinger-Bohleber et al, 2006; Leuzinger-Bohleber, Fischmann, Göppel, Läzer u. Waldung, 2008; Dreher, 1998, 2004). Das heißt, man versuchte, aufbauend auf dem Gehalt eines psychoanalytischen Konzepts, wie zum Beispiel dem Ich-Begriff, neue empirische Beobachtungen zu integrieren und damit das Konzept und die Praxis der klinischen Methode zu erweitern. Diese Publikationen bringen auch die damals unter den Mitarbeitern stets unstrittige Tatsache zum Ausdruck, dass – wie Mitscherlich es 1964 ausdrückte – »das Herzstück dieses Instituts« die klinische Psychoanalyse war. Das Institut verstand sich und wurde tatsächlich das, was Anna Freud ihm 1964 – bezeichnenderweise mit englischen Worten – wünschte: »[…] a new home for the new psychoanalytic era in Germany« (Ansprachen, 1964, S. 12). Aus diesem Selbstverständnis heraus er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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folgte damals (14. Oktober 1964) anlässlich der Einweihung des Institutneubaus die Umbenennung in Sigmund-Freud-Institut. Dieser Name machte anschaulich, worum es Mitscherlich vor allem mit dem Institut ging: um die Reetablierung der Freud’schen Psychoanalyse in Westdeutschland, die auch von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung anerkannt war. Die 1960er- und die 1970er-Jahre waren also vor allem eine Zeit des Aufbaus und neuer Entwicklungen, eine Pionierzeit, was unter anderem auch darin seinen Ausdruck fand, dass in den 1970er-Jahren an den medizinischen Fakultäten Lehrstühle für psychosomatische Medizin und Psychotherapie eingerichtet wurden, die fast durchgehend mit Psychoanalytikern besetzt wurden. Auch Mitscherlich erhielt 1967 einen Lehrstuhl an der Frankfurter Universität (Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Philosophischen Fakultät).

Das SFI von 1976 – 2002 De Boor, Argelander, Ohlmeier, Richter Die von Alexander Mitscherlich inaugurierte Forschungsrichtung wurde cum grano salis auch unter den ihm folgenden Leitern fortgesetzt: Clemens de Boor (1976 – 1983), Hermann Argelander (1983 – 1985), Dieter Ohlmeier (1985 – 1992) und HorstEberhard Richter (1992 – 2001). Im Kontrast zu der am Ideal des logischen Positivismus orientierten psychologischen und medizinischen Forschung an den Universitäten, die am Subjekt lediglich als Manifestation eines allgemeinen Gesetzes interessiert war, verfolgte die Forschung am Institut eine Vertiefung im Verständnis des Individuums und seiner sozialen Einbettung. So ergab sich Ende der 1970er Jahre unter der Leitung von Clemens de Boor aus der Praxis forensischer Gutachten ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes interdisziplinäres soziotherapeutisches Projekt, um das sich verschiedene Arbeiten zum Verhältnis von Psychoanalyse und Justiz gruppierten (Menne, 1984), die wiederum damals wichtige Impulse für eine Reform des Strafrechts und der Strafpraxis gaben. Und in den 1980er-Jahren untersuchte Dieter Ohlmeier unter anderem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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die psychotraumatischen Folgen der HIV-Erkrankung (Ohlmeier, Dornes, Beier, 1995) sowie die gruppentherapeutischen Möglichkeiten in der Behandlung von Herzinfarktpatienten (Ohlmeier, Mahler, Köhle, 1986; Ohlmeier, 1987). Mit Horst-Eberhard Richter, dem ehemaligen Gründungsmitglied und ab 1992 nun Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, erfuhr das Haus eine besondere Verstärkung gesellschaftskritischen Engagements. Richter, ein leidenschaftlicher Kriegsgegner, Mitglied der »Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs« (IPPNW; 1985: Friedensnobelpreis) und Mitglied bei »Attac« (Association pour une taxation des transactions financiÀres pour l’aide aux citoyens; deutsch: Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger), der »grand old man« der deutschen Friedensbewegung, der Träger zahlreicher nationaler und internationaler Auszeichnungen, darunter auch der Goetheplakette der Stadt Frankfurt (2002), lenkte die Psychoanalyse des Sozialen auf die Destruktivität gesellschaftlicher Prozesse sowie die Kritik unseres latenten, damit einhergehenden Einverständnisses. Im gerade wiedervereinten Deutschland moderierte er zehn Jahre lang (1991 – 2001) ein »Ost-West-Symposium« mit Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Literatur und Kirche aus den alten und den neuen Bundesländern und trug so zur Überwindung innerer Mauern bei, die sich bekanntlich nicht so einfach niederreißen lassen wie die in Berlin. Die Verbindung von Psychoanalyse und Politik füllte viele unserer wöchentlichen Diskussionen in unseren Hauskonferenzen und ich erinnere leidenschaftliche und kontroverse Diskussionen, zum Beispiel über Sozialismus als Diktatur und gesellschaftliche Utopie. In diesem Rahmen entstanden empirische Projekte, die den psychischen Implikationen der politischen Wende von 1989 nachgingen, aber auch psychoanalytische Forschung im engeren Sinn, beispielsweise die bereits unter Dieter Ohlmeier initiierten Traumforschungs- und Therapieprozessforschungsprojekte von Heinrich Deserno, Wolfgang Leuschner, Stephan Hau und Tamara Fischmann.

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Die strukturelle Umgestaltung des SFI ab 1995 Leuzinger-Bohleber, Haubl Horst-Eberhard Richter, der als Direktor des Gießener Zentrums für Psychosomatik und als Repräsentant einer kritischen Öffentlichkeit längst hohe wissenschaftliche und gesellschaftliche Anerkennung gefunden hatte, sollte ab 1992 eigentlich die Leitung des Hauses nur für eine Übergangszeit innehaben, um die als notwendig erkannten Umstrukturierungen stabilisierend zu begleiten. Denn es war unübersehbar geworden, dass allmählich eine Phase der Reetablierung der Psychoanalyse in Frankfurt, aber auch in Westdeutschland zu Ende gegangen war. Die erste Generation von Psychoanalytikern und Soziologen am Institut hatte nach und nach das Haus verlassen, jüngere Kolleginnen und Kollegen rückten nach, eine nicht mehr Nachkriegsgeneration auch hinsichtlich der Psychoanalyse. Dies hieß unter anderem, dass sie ihre analytische Ausbildung länger und oft gründlicher absolvierten als ihre analytischen Mütter und Väter, dass Psychoanalyse für sie nicht mehr etwas war, das primär im Kampf gegen äußere Widerstände durchzusetzen, sondern gegen innere Abwehr zu vertiefen war. Äußeres Zeichen dafür war die nicht mehr zu übersehende Tatsache, dass die Zahl der Analytiker außerhalb des Instituts längst die der Analytiker im Institut überstieg und deshalb in Frankfurt zu eigenen institutionellen Formen in Gestalt der Frankfurter Psychoanalytischen Vereinigung (FPV) geführt hatte. Die öffentliche Anerkennung, welche die sozialpsychologischen Schriften der beiden Mitscherlichs in den 1960er-und 1970er-Jahren erfuhr, ist nicht denkbar ohne ein damals bestehendes gesellschaftliches Bedürfnis nach moralisch integren Identifikationsfiguren, welche den bundesrepublikanischen Anspruch, eine gesellschaftliche Antipode zur Nazizeit zu sein, unterstützten. Spätestens mit dem Ende der Studentenbewegung, zu Beginn der 1980er-Jahre, verlor dieses Bedürfnis in Westdeutschland an Intensität. Die führenden Köpfe dieser Studentenbewegung hatten sich auf den »Marsch durch die Institutionen« gemacht, ihr destruktiv-idealistischer Ableger, die RAF, war © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gescheitert. Und auch die Psychoanalyse wurde nicht mehr als Heilsbotschaft einer »befreiten Gesellschaft« missverstanden. Die allmähliche und erfolgreiche Ausbreitung psychoanalytischen Gedankenguts in sozialen, wissenschaftlichen und medialen Bereichen hatte mittlerweile der Psychoanalyse eine öffentliche Anerkennung beschert, die sie vor dem Krieg nie besessen hatte. Es wurde die Frage diskutiert, ob Psychoanalyse ihre revolutionäre Phase hinter sich gelassen hatte und zu einer Normalwissenschaft (Kuhn, 1962) geworden sei, deren zentrales Paradigma wissenschaftlich allgemein akzeptiert sei. Es hatte sich aber nicht nur die Situation der Psychoanalyse verändert, sondern die der Wissenschaft selber, deren so scheinbar festgefügte Aufteilung in Natur- und Geisteswissenschaften fragwürdig geworden war. Dies hatte Folgen auch für die Strukturierung wissenschaftlicher Arbeit im Institut. Nachdem das Haus mehrfach in seiner Existenz politisch infrage gestellt wurde, begann eine Zeit kontinuierlicher und in ihrer Essenz sehr tiefgehender Veränderungen, von denen ich im Folgenden zwei kurz beschreiben will: zum einen der pluralistische »Turn« wissenschaftlicher Methodik (1), zum anderen die Umstellung der Forschung auf Drittmittelfinanzierung (2). (1) Die allmählichen Änderungen im wissenschaftlichen Umfeld des Instituts trugen entscheidend zur Infragestellung des bisher praktizierten Forschungsansatzes bei. In dem Maße, in dem nachweisbar wurde, dass Interpretation auch eine zentrale Kategorie innerhalb der Naturwissenschaften ist, sowie umgekehrt der empirische Bezug auch einem hermeneutischen Verfahren nicht fremd sein muss (vgl. Tress, 1985), verschwand die strenge Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften und führte zu einem pluralistischen Methodenverständnis. Auch wenn man mit Paul Feyerabends Diktum, wonach »anything goes« nicht übereinstimmte, war doch spätestens mit Beginn der 1980er-Jahre deutlich geworden, dass es die eine verpflichtende methodische Leitlinie auch für die Psychoanalyse nicht mehr gibt. Damit öffneten sich neue Möglichkeiten sowohl der empirischen Forschung in der Psychoanalyse, als auch ihrer Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Diesen allgemeinen wissenschaftstheoretischen Veränderun© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gen entsprachen die der psychoanalytischen Forschungsmethoden. Der zentrale psychoanalytische Forschungsgegenstand, das Unbewusste, erfordert eine spezifische psychoanalytische Methodik, wie sie in der klinischen Situation zwischen Analytiker und Patient entwickelt wurde. Sie ist sowohl hermeneutisch-interpretativ als auch strikt empirisch und bildet Basis und Zentrum psychoanalytischer Forschung (Horkheimer, 1937; Loch, 1962; Lorenzer, 1973b, 1976, 1977; Argelander, 1982; LeuzingerBohleber, 1995, 1998; Leuzinger-Bohleber, Stuhr u. Rüger, 2002; Leuzinger-Bohleber, Dreher u. Canestri, 2003; Leuzinger-Bohleber, Deserno u. Hau, 2004). Neben dieser klinischen Forschungssituation entwickelte sich darüber hinaus der Bereich extraklinischer Forschung, der beispielsweise Wirkfaktoren und Resultate psychotherapeutischer Behandlungen, unbewusste Prozesse in sozialen und kulturellen Prozessen oder aber spezifische psychoanalytische Konzepte experimentell überprüft (Leuzinger-Bohleber, 2010). Dazu gehört auch interdisziplinäre Forschung, die in den letzten Jahren über die klassischen Kooperationen von Psychoanalyse mit Soziologie und Kulturwissenschaften hinausging und jetzt auch Forschungskooperationen mit Entwicklungspsychologen, Neurologen und Genetikern umfasst. (2) Die Beschreibung der in den letzten 15 Jahren sich vollzogenen Veränderungen wäre unvollständig, bliebe die gewandelte Finanzierungsgrundlage wissenschaftlicher Arbeit unerwähnt. Das von der Europäischen Union vor zehn Jahren in der Lissabon-Strategie ausgerufene Leitbild der Wissensgesellschaft bindet die finanzielle Förderung wissenschaftlicher Arbeit weitgehend an ihr wirtschaftliches Innovations- und Wachstumspotenzial. Das zentrale Kennzeichnen neuzeitlicher Wissenschaft, ihre Nützlichkeit, wurde damit erneut unterstrichen und zum Kriterium finanzieller Förderung gemacht. Für das Institut hatte dies die konkrete Folge, dass eine allein staatliche durch eine weitgehende Drittmittelfinanzierung abgelöst wurde. Psychoanalytische Forschungsprojekte, deren Beitrag zur wirtschaftlichen Verwertung wenn überhaupt nur indirekt und nur über etliche Vermittlungsstufen erfassbar ist, sind im Kampf um die knappen Ressourcen in aller Regel nur begrenzt konkur© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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renzfähig. Zudem besteht die Gefahr, dass Erwirtschaftung und Drittmittelbeschaffung den Charakter von begleitenden Tätigkeiten am Rande von Forschungsaufgaben verlieren und in den Mittelpunkt rücken, sodass Forschungsmanagement über die eigentliche Forschung obsiegt. Dies wäre für ein psychoanalytisches Forschungsinstitut insofern fatal, als die Qualifikation eines Psychologen beziehungsweise Mediziners zum forschenden Psychoanalytiker ein – verglichen mit anderen Wissenschaftskarrieren – sehr lang dauernder Prozess ist. Und dies gilt auch für die Ausbildung von forschenden Sozialpsychologen. Solche Entwicklungsprozesse stehen im Konflikt mit Stellen- und Tarifstruktur im öffentlichen Dienst. Die übliche wissenschaftliche Stellenbefristung auf fünf Jahre reicht beispielsweise für die Qualifizierung eines Psychoanalytikers nicht hin und schreckt andererseits bereits qualifizierte Psychoanalytiker ab, sich auf derartige Stellen, die erhebliche finanzielle Einbußen und mangelnde berufliche Perspektiven bedeuten, zu bewerben. Die von Horst-Eberhard Richter in enger Kooperation mit den Institutsmitarbeitern einerseits und dem hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst andererseits auf den Weg gebrachte Neustrukturierung des Sigmund-Freud-Instituts 1995 war deshalb keineswegs nur eine ordnungspolitische, sondern zentral eine wissenschaftspolitische Maßnahme, welche die Aufgaben des Instituts auf die Forschung und die Kooperation mit dem universitären Wissenschaftsbetrieb konzentrierte. Die Grundlagenforschung am SFI wurde damit gestärkt, die Untersuchung gesellschaftlicher Entwicklungen blieb weiterhin ein Schwerpunkt und die psychoanalytische Ausbildung wurde aus dem SFI ausgegliedert und dem wieder begründeten Frankfurter Psychoanalytischen Institut (FPI) übertragen. Seit 1995 ist das SFI nicht mehr eine Institution des Landes Hessen, sondern eine Stiftung des öffentlichen Rechts. Damals wurden drei Professuren als Leiterstellen für die drei Schwerpunkt-Forschungsbereiche am SFI ausgeschrieben: a) Psychoanalytische Interaktionsund Therapieforschung, b) Psychoanalytische Grundlagenforschung sowie c) Psychoanalyse und Gesellschaft. Damit wurde über die Leiter eine Verbindung zur Universität hergestellt, die zwar dem Institut seine Selbständigkeit beließ, zugleich jedoch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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universitäre Forschungsmaßstäbe für seine Arbeit geltend machen sollte. Die zunehmend enger werdenden finanziellen Spielräume führten dazu, dass von den geplanten drei Schwerpunktleiterstellen nur zwei besetzt werden konnten (Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl). Die dritte Leiterstelle ist nach wie vor vakant (und wird formal durch Prof. Dr. med. Manfred Beutel, Psychosomatische Klinik Mainz, vertreten). Heute, 15 Jahre später, kann das Institut zwar auf eine erfolgreiche Realisierung der neuen Struktur zurückblicken, kann auf eine gestiegene wissenschaftliche Produktivität und eine zunehmende Vernetzung mit universitären Forschungseinrichtungen verweisen. Seine Stellung als bedeutsame psychoanalytische Forschungsstätte hat sich national wie international gefestigt. Allerdings machen sich gerade deshalb die bisher verunmöglichte Besetzung einer dritten Leiterstelle, welche zur Medizin hin orientiert sein sollte, sowie die über die Jahre immer weiter reduzierten Stellen im Mittelbau schmerzhaft bemerkbar. In einer Zeit, in der beispielsweise von Seiten der Neurowissenschaften ein verstärktes Interesse an der Psychoanalyse angemeldet wird und von Seiten der Psychoanalyse epigenetische Forschungsergebnisse ihr Verständnis des psychischen Traumas bahnbrechend erweitern, kann das Institut aufgrund dieser personellen Lücke gerade in diesem Forschungsbereich nicht vertreten sein. Seine Ansprache zur Eröffnung des Instituts vor 50 Jahren beendete Alexander Mitscherlich mit dem Wunsch, den Wahlspruch der Stadt Paris »Fluctuat nec mergitur« (»Sie schwankt, geht aber nicht unter«) auch auf das Institut beziehen zu dürfen. Welche weise Voraussicht darin liegt, zeigt unser Rückblick auf die bisherige, zeitweise stürmische Institutsgeschichte. Mehrmals blies der Sturm so heftig, dass sich das Institut von der Schließung bedroht sah: zuletzt 2003, als das Haus durch die 50 %ige Kürzung seiner Mittel vor dem Aus zu stehen schien. Dies damals erfolgreich abgewehrt zu haben, verdanken wir Frau Leuzinger-Bohleber und Herrn Haubl. Zu danken ist aber nicht nur den bisherigen und gegenwärtigen Leitern, sondern auch den zahlreichen, bis heute etwa 300 Mitarbeitern des Hauses, denen wir unseren Respekt und unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen für das, was sie in den An© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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fangs-, Aufbau- und Folgejahren geleistet haben, was nicht nur für das Institut, sondern auch für die Psychoanalyse in Deutschland grundlegend wurde. Die allermeisten von ihnen bleiben hier leider ungenannt. Sie sind aber nicht vergessen und wir fühlen uns ihnen allen als Mitgliedern unserer Institutsgemeinschaft verbunden. »Zweck der Stiftung Sigmund-Freud-Institut« – so heißt es in seiner Verfassung – »ist die Forschung und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Bereich der Psychoanalyse. Die Stiftung soll die psychischen Lebens- und Krankheitsbedingungen von Menschen im Kontext gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen sowie die theoretischen und methodischen Grundlagen der Psychoanalyse untersuchen. In diesem Zusammenhang soll ein verstärkter Austausch zwischen der Psychoanalyse und angrenzenden Wissenschaftsdisziplinen erreicht werden« [§2 (1)]. Erfreulicherweise können wir gegenwärtig feststellen, dass unter der Leitung von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl das Haus dieser Aufgabenstellung mehr als gerecht geworden ist. Dass dies kein Festtags-Euphemismus ist, zeigt die Darstellung der aktuellen und vielfältigen Forschungsprojekte in diesem Band.

Literatur Ansprachen und Vorträge zur Einweihung des Institutsneubaus am 14. Oktober 1964, Frankfurt a. M.: Sigmund-Freud-Institut. Argelander, H. (1963). Die Analyse psychischer Prozesse in der Gruppe. Teil 1 und 2. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 17, 450 – 479 und 481 – 515. Argelander, H. (1966). Die Möglichkeiten einer psychoanalytisch orientierten Psychotherapie in der ärztlichen Praxis. Saarländisches Ärzteblatt, 19, 301 – 307. Argelander, H. (1967). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Teil 1 – 3. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 21, 341 – 368, 429 – 467, 473 – 512. Argelander, H. (1968). Gruppenanalyse unter Anwendung des Strukturmodells. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 22, 913 – 933. Argelander, H. (1970). Die szenische Funktion des Ichs und ihr Anteil an der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Eine der fundamentalen theoretischen Streitfragen in der Untersuchung von Traumata entstand dadurch, dass sich Freud von der Verführungstheorie ab- und der Libidotheorie zuwandte. Missverständnisse über diesen theoretischen Fortschritt wurden eine reiche Quelle von Kontroversen und fehlgeleiteter Kritik (Hanly, 1986; Reisner, 2003). Obwohl, wie Grubrich-Simitis (1988) zeigen konnte, Freud nach seiner Entdeckung der infantilen Sexualität immer mit einer dualen ätiologischen Theorie gearbeitet hat, wurden viele der chronischen Konflikte in der Psychoanalyse von Analytikern hervorgebracht, die zwar stark an der Priorität von Objektbeziehung oder aber der Konstitution festhalten, aber nicht beides zusammen denken. Dieses ausschließlich trennende Denken hat unvermeidbar seinen Weg in die psychoanalytische Konzeptualisierung von Traumata gefunden. Traumata lösen Regressionen und andere Abwehrprozesse aus, wodurch Symptome und Hemmungen entstehen. Wie Freud (1919) darlegte, »man kann doch die Verdrängung, die jeder Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein Trauma, als elementare traumatische Neurose bezeichnen« (S. 324). Im Folgenden werde ich die dualen Ursachen für – endogene und exogene – Traumata erforschen, und zwar aus der Perspektive, die uns Freud mit seiner Vorstellung einer Ergänzungsreihe aufgezeigt hat. Ich untersuche den Nutzen der Ergänzungsreihe, um Unterschiede zwischen den Traumatheorien zu definieren und die gegenseitig Beziehung von endogenen und exogenen Ursachen der ödipalen Traumata zu beschreiben. Diese Ausfüh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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rungen werden danach mit einigen Fallbeispielen illustriert. Als Schlussfolgerung wird eine Modifikation der Ergänzungsreihe vorgeschlagen und postuliert, dass sie sich als Leitlinie für die klinische und theoretische Arbeit als nützlich erweisen wird. Freud betrachtet den Unterschied zwischen einer ernsten Gefahr von außen und einer libidinösen Gefahr von innen. Beim Ödipuskomplex sind beide Gefahren präsent. Der Verursacher ist ein libidinöser Wunsch von innen. Dieser führt unvermeidlich dazu, dass das Kind Vergeltung von außen, und zwar von Seiten des elterlichen Rivalens befürchtet, an den das Kind gleichzeitig durch eine anaklitische Liebe gebunden ist. Die Angst besteht in der Befürchtung, durch eine Gefahr hilflos gemacht zu werden; das Trauma besteht in der Hilflosigkeit, wenn die Gefahr von einem selbst ausgeht. Im Ödipuskomplex wird ein Teil der Hilflosigkeit dadurch hervorgerufen, dass das Kind durch Liebesbindungen und durch die Aussicht auf Lust in die Situation eingebunden ist. Ein Trauma legt Funktionen still. Bei der Verdrängung wird die Funktion des Gedächtnisses stillgelegt und damit in Folge auch die Fähigkeit, die traumatische Situation zu fühlen, vorzustellen und über sie nachzudenken: Übrig bleibt nur ein Loch aus Stille und Reglosigkeit. Freuds erste ätiologische Theorie, die Verführungstheorie, ist ein objektbeziehungstheoretischer Ansatz: Die Gefahr kommt von außen. Der Verführungstheorie zufolge ist die sexuelle Verführung in der Kindheit eine notwendige und hinreichende Ursache eines Traumas, das eine spätere erwachsene Neurose auslöst. Freuds Libidotheorie nimmt an, dass angeborene kindliche sexuelle Bedürfnisse Fantasien auslösen, die mit sexuellem Missbrauch durchaus in Konkurrenz um traumatisches Potenzial treten können, um den Einfluss auf die folgenden Entwicklungsstadien und um die Verursachung von Symptomen und Hemmungen, deren Entstehung dem Individuum nicht länger bekannt ist. In Freuds vollständiger Theorie bleibt die sexuelle Verführung als ausreichende Ursache eines Traumas bestehen, aber sie ist nicht länger eine notwendige Bedingung dafür. Triebentwicklung kann aus sich selbst heraus ein Trauma verursachen. Freud wich nie von dieser ätiologischen Dualität ab. Freuds © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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(1917) Konzeption, Metapher für eine Ergänzungsreihe der endogenen und exogenen Ursachen, postuliert eine duale, vernetzte und wechselseitige Ätiologie. Dennoch sind wir heute mit einem Schauspiel pluralistischer, psychoanalytischer Theorie konfrontiert, in dem monistische ätiologische Theorien mit holistischen Ansprüchen erscheinen und mit der Zeit wieder verschwinden. Zum Beispiel hat die selbstpsychologische Theorie des Ödipuskomplexes Freuds erste objektbeziehungstheoretische Sicht der Natur der pathogenen Traumata wieder eingesetzt (Kohut, 1977). Wohl ist die selbstpsychologische pathogene Objektbeziehung nicht länger sexuell: Der Mangel an narzisstischen Befriedigungen hat die sexuelle Verführung ersetzt. Es ist das Versagen der Eltern, die aufkeimenden, besitzergreifenden und aggressiven, frühzeitig romantischen Gefühle ihrer Töchter und Söhne kontinuierlich zu bewundern und zu bestärken, was verursacht, dass deren Sexualität und Aggression in inzestuöse und muttermörderische oder vatermörderische Motive des Ödipuskomplexes verfallen. Das narzisstische Trauma ist eine desintegrierende Verletzung des Selbstwertgefühls des Kindes, das durch das elterliche Versagen verursacht wird, die narzisstischen Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen. Die relationale Psychoanalyse mit ihren zahlreichen Variationen hat die Preisgabe von Entwicklungsfaktoren ausgeweitet. In der Selbstpsychologie wird die Stellung des Ödipuskomplexes beibehalten, auch wenn ihm nur noch eine sekundäre Bedeutung zugemessen wird. Die Richtung der relationalen Ansätze war, die Uhr auf die exklusive Rolle der Objektbeziehungen, wie sie in Freuds Verführungstheorie gesehen wurde, zurückzudrehen. Fairbairns Verführung des Kindes zur oralen Befriedigung an der Brust und Laplanches weniger klaren Variation desselben Thema scheinen zumindest die Priorität der primären Objektbeziehung über die endogene Triebentwicklung zu implizieren. Genau entgegengesetzt zu dieser Objektbeziehungsposition haben Klein und die Kleinianer ein unvermeidbares Entwicklungstrauma während der oralen Phase postuliert, das durch die spontane Anforderungen eines masochistisch organisierten Todestriebes verursacht wird, gegen das sich das Kind durch ex© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ternalisierende Projektionen verteidigt, was dann die paranoide Position hervorbringt (Segal, 1979). Die Liebe und Brust der Mutter, gleichgültig wie verlässlich sie reagiert und ernährt, kann das grundlegende Bedürfnis des Kindes nicht neutralisieren, sich selbst vor dem malignen Werk des eigenen Todestriebes zu schützen, indem dieser mit Libido fusioniert und in das gutartige Objekt der libidinösen Suche des Kindes nach Nahrung und oraler Lust durch Saugen projiziert wird. In der kleinianischen Theorie wird das Objekt für das Kind nicht durch das (reale) mütterliche Versagen oder Entbehrungen gespalten, obwohl diese durchaus real stattgefunden haben mögen. Das Objekt wird gespalten durch eine psychologische Abwehr, die gegen die masochistische Aggression des Kindes mobilisiert wird. Konstitutionell ausgestattetes Triebleben bringt Objektbeziehungen hervor, die aber nicht kausal gesehen für die traumatische Qualität der paranoid schizoiden Position nicht notwendig sind. In ähnlicher Weise, obwohl ohne die Hypothese über den Todestrieb oder die paranoid schizoide Position, hat eine Denkschule unter amerikanischen Freudianern einst an dem ausschließlich Trieb-Abwehr-Modell festgehalten, das durchaus der kleinianischen Aufhebung der Objektbeziehungen als eine notwendige, oder als eine notwendige und hinreichende, Bedingung für das orale Trauma des Kindes gleichkommt. Ihre puristischen Anhänger halten Sichtweisen fest, die einen an die neuro-psychiatrische Haltung gegenüber den Entschädigungsforderungen von Überlebenden erinnern, wie Grubrich-Simitis (1981) es beschrieben hat. Diese psychoanalytischen Traumatheorien, die entweder beinhalten, dass eine Person ein Trauma als Folge des Überwältigtseins von Triebansprüchen, die nicht befriedigt werden können, erleidet oder dass eine Person ein Trauma erleidet, als eine Konsequenz des Überwältigtseins durch Haltungen und Handlungen von anderen, sind disparat und inkonsistent; sie können Zweifel über die Art (nature of) psychoanalytischen Wissens wecken. Ist die Psychoanalyse eine zuverlässige Wissenschaft und eine klinische Disziplin oder ist sie, wie Wirtschaft, Politikwissenschaft, Philosophie, Geschichte und Literaturkritik, ein Feld des intellektuellen Streites um sich bekämpfende Ideen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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(s. auch Hoffmann, 2002)? Ich werde argumentieren, dass Freuds Idee einer Ergänzungsreihe mit einigen Anpassungen adäquat beschreiben kann, was wir über die Verursachung von psychischen Traumata wissen. Sie ermöglicht eine Verallgemeinerung, die eine reale Variation berücksichtigt, aber als eine nützliche Leitlinie zur Erforschung spezifischer Fälle von Traumata dienen kann. Obwohl Freud ursprünglich seine Idee der Ergänzungsreihe als Verursachung von Neurosen eingeführt hat, kann sie gleichermaßen auf das Trauma angewendet werden, wegen der ausschlaggebenden Rolle, die das Trauma bei der Auslösung von Abwehrprozessen und deshalb auch bei der Verursachung von Symptomen und Hemmungen spielt (Freud, 1910, 1919, 1940). Aus diesen Gründen kann die Ergänzungsreihe eine Basis für eine Differenzierung und ein Potenzial für die Integration von nicht vereinbarenden Theorien bieten.

Über die Beziehung zwischen Angst und Traumata Freud (1926) hat die realistische Angst von der neurotischen Angst abgegrenzt. Die neurotische Angst überhöht entweder eine reale, drohende Gefahr (wie bei der Pferdephobie des kleinen Hans) oder erfindet eine Gefahr (wie bei der Paranoia). Bei der neurotischen Angst wird eine innere Gefahr auf ein Objekt projiziert und verschoben. Es entsteht der Anschein, dass die Angst durch Vermeidung oder Flucht bewältigt werden kann, wie bei einer realen Angst. Dies verstärkt die Verdrängung und den Widerstand gegen ihre Auflösung. Ein Trauma, eine Erfahrung der Hilflosigkeit im Angesicht einer Gefahr, die von innen oder außen kommt, aktiviert Verdrängung und damit zusammenhängende Abwehrprozesse, die eine neurotische Angst auslösen. Wenn wir die klassische Theorie des positiven Ödipuskomplexes heranziehen, dann kommt die realistische Gefahr von innen. Je gravierender das ödipale Trauma ist, desto eher trägt es zum Misslingen der physischen und biologischen Veränderungen während der Pubertät bei, die eine notwendige Lockerung der Verdrängungen mit sich bringen und den Adoleszenten sowie den Erwachsenen ihre neurotischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Ängste über ihr sexuelles Leben überlassen. Die Schwere des Traumas ist zum einen abhängig von der Intensität des Inzestwunsches und der damit zusammenhängenden Ambivalenz und zum anderen von der Qualität der familiären Beziehungen. Nicht unbedingt wegen der Triebgenese des Ödipuskomplexes, sondern wegen seiner triangulären Struktur, seiner Ambivalenz und seiner Auflösung, stoßen wir hier auf das Paradigma der kausalen Wechselwirkung von Triebentwicklung und Objektbeziehungen. Bei der Beobachtung, der Wertschätzung und dem Verständnis der äußeren Gefahren des ödipalen Traumas leisten die Selbstpsychologie und die relationale Psychoanalyse wichtige Beiträge. Die Kraft des ödipalen Traumas wird durch die unwillkürlichen Reaktionen der Eltern oder deren Ersatzpersonen beeinflusst. Die Reaktionen eines Vaters oder einer Mutter auf die Anzeichen von erotischer oder rivalisierender Bindungen an sie haben eine kausale Wirkungskraft auf das Trauma an sich und auf seine Folgen. Wiederholte Reaktionen von ärgerlicher Kritik, einem Rückzug in Schweigen und Gleichgültigkeit werden das Trauma ebenso verstärken wie verführerische Reaktionen, während angemessene Antworten dies nicht tun. Meiner Meinung nach war es richtig von Kohut, unsere Aufmerksamkeit auf das ödipale Selbstwertgefühl des Kindes zu richten. Doch vernachlässigt er die inneren Quellen des ödipalen Traumas, was impliziert, dass das ödipale Trauma vermeidbar sei. Ganz unabhängig von der elterlichen Haltung wird ein ödipaler Junge schamvoll seine anatomische Unzulänglichkeit im Vergleich zu seinem Vater feststellen. Er wird seine sexuellen Ambitionen und die Stärke seines Vaters – im Vergleich mit seiner eigenen – wahrnehmen. Dadurch wird er eine Ahnung von seinen vatermörderischen Ambitionen bekommen (Ferenczi, 1913). Die mütterliche Ermutigung, die auf die narzisstische Wiederherstellung abzielt, mag sogar das Trauma intensivieren und eine regressive Verleugnung dieser Realitäten stimulieren, was eine günstige defensive Auflösung erschweren kann (Chasseguet-Smirgel, 1975, 1984). Wir tendieren dazu, dass ein Trauma bestenfalls eine vorübergehende Befreiung von Schmerz ist, vielleicht vergleichbar mit der anfänglichen Körperreaktion auf eine schwere Verlet© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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zung. Dennoch ist es eine Implikation der klassischen Theorie, dass es bessere und schlechtere ödipale Traumata gibt im Bezug auf ihre Schwere und ihre Langzeitfolgen. Genetische Faktoren mögen die Schwere des Traumas beeinflussen, aber auch die libidinösen Erregungen, die von den Eltern stimuliert werden, können dazu beitragen: Genetische Faktoren mögen wohl die Ich-Stärke eines Individuums determinieren, aber die Objektbeziehungen werden seine Entwicklung beeinflussen. Die Ansprüche der endogen geformten Wünsche und Fantasien wirken bei der Formation der Objektbeziehungen mit und bestimmen die Gefühle zu dem Objekt, sowie die Wahrnehmungen von ihm. Gleichzeitig haben auch die Objekte selbst einen Einfluss, mit denen Beziehungen geformt werden. Die klassische Theorie erfasst die komplexe Wechselwirkung der differenzierten endogenen und exogenen Ursachen beim Entstehen und bei der Auflösung des Ödipuskomplexes, eine Wechselwirkung, die gut mit dem Konzept der Ergänzungsreihe übereinstimmt. Kastrationstraumata für Jungen und ein großes Spektrum mütterlicher Vergeltung für Mädchen spielen eine ausschlaggebende Rolle in der Aktivierung von strukturellen und dynamischen Prozessen, die eine Auflösung des Ödipuskomplexes bewirken. Diese sind unwillkürliche Verdrängungsprozesse, verstärkte Identifikationen, Umwandlungen der sexuellen Objektliebe in Narzissmus und eine masochistische Reorganisation von Aggressionsanteilen. Schließlich sind es Sublimationen, die Verzichte und Abgrenzungen sowie einen Aufschub möglich machen, auf Zeiten zu warten, die mehr Glück verheißen. Ödipale Traumata sind schmerzlich, aber förderlich, weil sie psychische Kräfte mobilisieren, die die Grundlage schaffen, um spätere Reife und verschiedene Kulturleistungen (wörtliche Übersetzung von civility ist Höflichkeit, Anmerkung der Übersetzerinnen) zu erreichen. Die klassische Theorie verschiebt das ödipale Trauma etwas in das endogene Ende der Reihe wegen des spontanen Ursprungs der besitzergreifenden Inzestwünsche, die das Trauma in Bewegung setzen. Zudem können subjektive Fantasien die objektive Realität beeinflussen, wenn sich das Vaterbild in der verstärkten Identifikation mit ihm oder mit anderen entwickelt. Die Selbst© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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psychologie platziert das ödipale Trauma sehr nah am exogenen Pol, weil es seinen Ursprung in mangelnden narzisstischen Befriedigungen in den realen Objektbeziehungen sieht. Die kleinianische Theorie würde das orale Trauma am endogenen Ende der Reihe platzieren, wohingegen Freudianer, die von Freuds früher Angsttheorie überzeugt sind (Hanly, 1978), das orale Trauma nah an dem exogenen Ende der Reihe platzieren. Ich habe den Eindruck, dass Freud in seiner ganzen Arbeit, trotz seiner Darlegung der Ergänzungsreihe, zur Auffassung tendiert hat, dass die Aktivierung unbewusster Konflikte eine notwendige Bedingung für das psychische Trauma ist. Nicht nur ist die Triebentwicklung eine notwendige und hinreichende Ursache für das ödipale Trauma, allgemein gesprochen ist sie eine notwendige Bedingung für jedes psychische Trauma. Ich werde nun kurz auf zwei Fälle eingehen, um einen Blick auf die endogenen und exogenen Ursachen der Ergänzungsreihe bei diesen beiden Patienten zu werfen. Es besteht kein Zweifel, dass dies nebenbei auch demonstrieren wird, wie schwierig es ist, die beiden Ursachen zu unterscheiden. Dabei dienen diese beiden Fälle eher der Exploration als der Demonstration, für die sie bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein sein könnten.

Traumata in zwei klinischen Fällen Dr. B. ist eine attraktive, begabte, muslimische 35-jährige Frau, die einem Fachstipendium in pädiatrischer Onkologie und Hämatologie nachgeht. Sie kam diskret gekleidet, eher in eintöniger, verbergender Kleidung, die ihr Übergewicht verbarg. Die Ausnahme war ihr helles Kopftuch, das ihr attraktives Gesicht hervorhob. Sie fühlte sich tief beschämt und besorgt, da sie eine von der Familie arrangierte Verlobung mit einem berufstätigen, muslimischen Mann aus ihrem Heimatland auflöste, weil es ihr vor dem Geschlechtsverkehr graute und sie Angst vor seinen Erwartungen hatte. Zudem befürchtete sie, dass sie ihre eigene berufliche Karriere aufgeben müsste, für die sie außerordentlich gut geeignet war. Schon während ihres Medizinstudiums hatte sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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einen Artikel in einer bekannten europäischen Medizinzeitschrift veröffentlicht. Während ihrer Latenz ging sie einmal in das Zimmer ihres Onkels, um ihn nach Geld für Süßigkeiten zu fragen. Ihr Onkel hob sie plötzlich hoch, legte sie auf das Bett und begann sie leidenschaftlich auf den Mund zu küssen. Sie wehrte sich. Er ließ sie frei. Sie floh und ging ihm von nun an aus dem Weg. Sie wurde von Scham, Schuld und Verzweiflung gequält. Sie war überzeugt, dass sie für das Geschehene selbst verantwortlich sei und ihren Onkel in Versuchung geführt habe. Sie sei eine Prostituierte und habe ihre Jungfräulichkeit verloren. Sie glaubte sogar, schwanger zu sein. Sie erzählte niemanden etwas, nicht einmal ihrer Schwester, die schon ein Teenager war. Ihre sexuellen Gefühle, die in der Zeit der Latenz ohnehin schon der Abwehr anheimgefallen waren, wurden noch stärker unterdrückt. Die Legende von der Jungfrau Maria begann sie zu faszinieren. Ihre sexuelle Entwicklung während ihrer Jugend- und Zwanzigerjahre war größtenteils stillgelegt. Ihre Identifikation mit ihrer Mutter, die jeglichen Ausdruck eines sexuellen Wunsches verurteilt hatte, wurde mächtig verstärkt. Sie trug nur ihr »gebrochenes« Keuschheitsgelübde in sich. Es stellte sich heraus, dass Dr. B.s erwachsene sexuelle Abscheu eine Folge des Schocktraumas durch die versuchte körperliche Verführung ihres Onkels war. Dies ist ein Beispiel für Freuds (1905) Äußerung, dass sexuelle Verführung von Kindern öfter auftritt und pathogene Konsequenzen hat, als wir meist denken. (Freud war unklar in seinen verschiedenen Aussagen – wahrscheinlich nach der Pubertät.) Dr. B. verliebte sich in einen Studienkollegen, der sie an das eisengraue Haar ihres Vaters erinnerte. Zudem fand sie in ihm bestimmte Charakterqualitäten, die sie bei ihrem Vater bewunderte. Sie unterhielt eine reale Beziehung zu diesem Mann, allerdings eine ausschließlich kollegiale, keine romantische Liebesbeziehung. Dr. D. war ein atheistischer Kanadier. Ihre Verliebtheit in ihn bedrohte sie nicht real, denn ihre religiösen Tabus verboten ihr, ihre Gefühle oder Fantasien in die Tat umzusetzen. Seit dem Trauma der versuchten Verführung ihres Onkels schien für sie ihr Körper vom Nacken abwärts in der Dunkelheit einer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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verstohlenen, sündhaften Unterwelt zu existieren. Dennoch war es ihr mit der Zeit möglich, normale Fantasien und Träume einer Jugendlichen zu erleben und sogar sexuelle Fantasien mit Penetrationen zuzulassen. Sie begann sexuelle Empfindungen in ihren Brüsten und Genitalien wahrzunehmen. Trotz ihrer Scham- und Schuldgefühle wurden ihr ihre Wünsche bewusst, von Männern sexuell attraktiv gefunden zu werden. Sie ertappte sich auch, Männer zu beobachten, die sexuell von ihr angezogen waren. Ihre ferne Beziehung zu Dr. C. war auffallend triangulär. Es existierte immer eine andere Frau, die ihre Rivalin bezüglich ihres Fantasiegeliebten war. Es handelte sich um weibliche Kolleginnen aus ihrem Studium, die ein wenig Interesse an ihm zeigten oder die manchmal mit ihm flirteten. Obwohl sie sich von ihrer Mutter sehr unterschieden, identifizierte sie sich mit ihnen und entwickelte eine intensive konkurrierende Ambivalenz ihnen gegenüber. Als dann ihre Übertragung in der Analyse unmissverständlich ödipal wurde, wünschte sie meine Frau weg, um ihren Analytiker ganz für sich zu haben. Nun tauchte ein zweites kumulatives Trauma auf. Ihr Vater, der ein männlicher Chauvinist war, forderte von ihr, ihre vier jüngeren Brüder zu unterrichten. Damit wollte er sicherstellen, dass diese sie in ihrem Studium übertreffen würden. Zudem forderte er von Zeit zu Zeit, für ihn und ihre Brüder zu kochen. Obwohl er sie zuweilen wie eine Hausangestellte behandelte und viele Arbeitsstunden von ihr beanspruchte, behandelte er sie dennoch viel besser als ihre Mutter. Er zeigte offen seine Bewunderung für sie und zog sie ihrer Mutter vor. Sie war jung, schön, voller Versprechungen und begabt. Ihre Mutter war pass¦ und zu depressiv, um sich um sich selbst zu kümmern. Sie war fettleibig und zuckerkrank. Dr. B. hatte das Gefühl, dass sie den Platz ihrer Mutter im Leben ihres Vaters eingenommen hatte. Er zog sie ihrer Mutter vor. Ihr Stolz und ihre Freude darüber wurden nur von ihrer Schuld übertroffen. Ihr Triumph gab ihr Befriedigung; ihre Schuld verursachte ein kumulatives Trauma, das die Konsequenzen des Schocktraumas (Sexualhemmung etc.) erhielten und intensivierten. Die Psychoanalyse ermöglichte ihr zu erkennen, dass sie den Onkel mit ihrem Vater identifiziert hatte, wobei schwer zu sagen ist, ob © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dieser Prozess nachträglich oder schon zurzeit des »Verführungstraumas« stattfand. Jedenfalls sind die Schuldgefühle im Zusammenhang mit diesen Identifikationsprozessen zu sehen. In den Sitzungen vorher, in denen es um die mütterliche Übertragung und die Arbeitsbeziehung ging, war Dr. B. oft ängstlich, ob ich ihr jemals helfen könne. Ich sei unfähig zu verstehen, wie böse sie sei. Dr. B. wurde bewusst, dass es die traumatische Schuld und Angst war, die ihrer Sexualhemmung zugrunde lag. Sie wurden verursacht durch die psychische Verführung durch ihren Vater. Diese Erkenntnisse evozierten in ihr Gewissensbisse und Traurigkeit gegenüber ihrer Mutter. Sie ärgerte sich auch darüber, dass sich ihre Mutter nicht dem Vater gegenüber behauptet hatte, ihr keine Grenzen gesetzt und ihre Schuld gegenüber ihrer Sexualität mit moralischen Attacken verstärkt hatte, die die einschränkenden Konsequenzen des Traumas verfestigten. Dr. B. begann Besuche ihres Vaters ohne ihre Mutter abzulehnen. Sie ließ sie wissen, dass sie von beiden angerufen werden wollte, und nicht nur von ihrem Vater. Parallel zu diesen Entwicklungen zeigten sich Veränderungen in der Übertragung und ihren Assoziationen: Die masochistische Identifikation mit ihrer Mutter begann sich aufzulösen. Sie eignete sich eine gesunde Ernährung an, hörte auf, unkontrolliert Schokolade zu essen, betrieb regelmäßig Sport und verlor an Gewicht. Trotz der großen Angst, die sie zu Beginn der Behandlung geäußert hatte, begann Dr. B. bunte Kleidung zu tragen, die ihre weibliche Figur enthüllten. Sie nahm Klavier- und Gesangsstunden, was ihre Mutter und später ihr eigenes Gewissen als Schliche einer Prostituierten verurteilt hätten. Dr. B. wurde sich ihrer sexuellen Bindung zu ihrem Vater und ihrer Ambivalenz gegenüber ihrer Mutter bewusst, gegen die sie in ihrer Kindheit angekämpft hatte. Sie akzeptierte den eigenen Anteil an ihrer Empfänglichkeit für Verführungen, die bei beiden Traumata eine Rolle spielte. Herr Y. war ein hochintelligenter und gebildeter, erfolgreicher Geschäftsleiter in seinen Mittdreißigern. Er kam zu mir wegen schwerer Angst nach einem kürzlich passierten Fahrradunfall. Er war frontal mit einem Motorrad kollidiert. Er hatte sich den Arm © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gebrochen und Schnittwunden im Gesicht erlitten. Er übernahm sogleich die volle Verantwortung für den Unfall, obwohl die Polizeiermittlungen ergaben, dass die Kollision auf der Mitte der Straße stattfand und dass die Verantwortung dafür nicht objektiv bestimmt werden konnte. Herrn Y.s sofortige Reaktion war, dass er schuld sei. Er sei sehr schnell bergabwärts gefahren; er habe seine Bremsen vor der Fahrt nicht kontrolliert, was er hätte machen sollen; er sei in der Mitte der Straße gefahren; er hätte auf der falschen Seite auf der Straße in der Kurve sein können; er war schuldig; er war verantwortlich für den Unfall. Der Polizeibericht bot ihm keine Entlastung. Stattdessen bildete er die Überzeugung aus, dass seine Schuld vielleicht herauskommen würde; er würde verhaftet, für schuldig befunden und eingesperrt werden; sein Leben würde in Trümmern stehen. Während einiger Monate graute ihm davor Telefonanrufe oder EMails zu erhalten. Nachrichten von Versicherungsfirmen, die einfache, faktische Informationen anfragten, die zur Bearbeitung der Ansprüche benötigt wurden, erlebte er als den Beginn einer Ermittlung, die ihn ins Gefängnis bringen würde, nachdem er vor Gericht schuldig gesprochen würde. Seine sehr gute Ausbildung und seine hohe Intelligenz, die ihn dazu befähigten, schwierige Geschäftsentscheidungen aufgrund erfahrener Wahrscheinlichkeitsschätzungen zu treffen, waren zwar von seiner zwanghaften Angst unbeeinflusst. Aber obschon er wusste, dass es extrem unwahrscheinlich war, dass er in Zukunft schuldig gesprochen würde, linderte dieses Wissen seine angstvolle Erwartung nicht im Geringsten. Er war überzeugt, dass es dennoch passieren würde. Offensichtlich können das körperliche Unfalltrauma und die Verletzungen, von denen er sich erholte, den Grad seiner Angst nicht erklären, die er erlebte. Das körperliche Trauma, das ihm zugestoßen war, muss unerkannt eine Wiederholung eines psychischen Traumas freigesetzt haben. Die Angst bedingt durch den Fahrradunfall wandelte sich zum großen Teil in eine Fahrangst um, die die Funktion eines Widerstands in der aktuellen Übertragung bekam, aber gleichzeitig biografische Wurzeln hatte. Jegliche Ablenkung, momentane Unaufmerksamkeit oder Manöver wie einen Spurenwechsel, an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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der Ampel halten etc. lösten nun eine überwältigende Angst aus, einen Unfall verursacht zu haben. Ohne den geringsten Anlass fuhr Herr Y. an den Straßenrand und kehrte an den Ort des gefürchteten Unfalls zurück, um sich zu versichern, dass nichts passiert war. Trotz dieser Absicherung sorgte er sich dann zu Hause, dass die Polizei an seine Tür kommen würde, um ihn als Verursacher eines Unfalls zu verhaften. Er entwickelte Fantasien von Bestrafung, Erniedrigung und Verhaftung vor Gericht. Diese Angst entwickelte von Zeit zu Zeit eine sexuelle Dimension. Während er an einer Ampel hielt, blickte Herr Y. in den Rückspiegel, um den Verkehr zu kontrollieren. Plötzlich konnte er das Gefühl bekommen, dass eine Frau in einem Auto direkt hinter ihm ihn erwischt habe, dass er sie ansehe. Wenn die Ampel auf grün schaltete und das Auto ihm weiter folgte, begann er sich zu fürchten. Sein Blick sei provokant und aufdringlich gewesen. Sie würde dies bei der Polizei melden. Er musste ängstlich kontrollieren, ob das Auto ihm immer noch folgte und ob sie ihr Handy benutzte, um ihn bei der Polizei zu melden. Diese zwanghaften Schuldsymptome haben alle Anzeichen einer Angst auf der Suche nach einem Objekt. Herr Y. hatte keine Schwierigkeit, die Irrationalität seiner Symptome zu erkennen. Er erlebte eine zweite Angst, dass er seinen Verstand verlieren könnte. Die Fahrangst zwang Herrn Y., die Zeiten seiner Verabredungen zu verändern, um öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Er fand dabei heraus, dass seine Angst, einen Unfall zu verursachen, sich sogar auf das Überqueren einer Straße ausgedehnt hatte. Wenn er die Straße überquerte, die eine sehr ruhige Wohnstraße ist und von meinem Büro ausgeht, musste er eine Pause von einer Minute auf dem Gehweg einlegen, um jeden möglichen Unfall zu kontrollieren, den er verursachen könnte. Herr Y. erinnert sich nun wieder an einen Tag, als sein Vater fast ertrunken war. Seine Familie machte an der Meeresküste Urlaub, als er vier oder fünf Jahre alt war. Sein Vater, ein starker, athletischer Mann, der Wassersport liebte, geriet in ernsthafte Schwierigkeiten, als er versuchte, wieder an den Strand zu gelangen, nachdem er nachmittags windsurfen war. Herrn Y. hatte durch die Aufregung am Strand wahrgenommen, dass sein Vater in Gefahr war. Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein viel älterer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Bruder, ein starker Schwimmer, schwamm hinaus zu seinem Vater, brachte ihn zurück auf das Surfbrett und schwamm an den Strand. Er sah seinen schwachen, erschöpften Vater, der auf den Strand getragen wurde. Er erbrach Meereswasser und musste nach Luft ringen. Herr Y. blieb bewegungslos stehen, immer noch wie angewurzelt. Er erinnert sich, nicht das geringste Gefühl gehabt zu haben. Sein Vater, der fast ertrunken war und der von seinem Bruder gerettet wurde, erregten bei ihm keine Gefühle, an die er erinnern konnte. Sein affektives Leben war ausgeschaltet. Warum war dieses Erlebnis so traumatisch für ihn? War es, weil er Angst hatte, sein starker, bewunderter Vater könnte ertrunken sein? War es die Konfrontation mit dem Verlust des ihn beschützenden Vaters? Diese Faktoren könnten »seinen protektiven Schild« gegen überwältigende Stimuli zum Zusammenbruch gebracht haben (in Analogie zu einem neurologischen Schild gegen überwältigenden Schmerz). Dies würde die Unterdrückung seiner Gedanken und seinen betäubten Affekt bedeuten, die die starken Stimuli ansonsten auslösen würden. In diesem Fall kann das Trauma in Bezug auf die Objektbeziehung charakterisiert werden, beispielsweise wird die reale Angst durch den drohenden Verlust eines existenziell wichtigen Objekts verursacht. Der Vergleich zwischen seiner eigenen Stärke und der seines rettenden Bruders mag zudem seine Ohnmachtgefühle und seinen Wunsch nach einem starken, bewunderten Vater intensiviert haben. Aber diese Erklärung würde nicht ausreichen, um die zwei Hauptinhalte seiner Fahrangst zu verstehen: das Gefühl der Verantwortung für den Unfall und die verheerende Strafe, ihn verursacht zu haben. Auch können die Angstsymptome, schuldig zu sein wegen des unangemessenen sexuellen Hinschauens, nicht erklärt werden. Man muss die Bedeutung der Objektbeziehungsfaktoren nicht leugnen, wenn man gleichzeitig die Hypothese aufstellt, dass zusätzlich zu der Gefahr, seinen Vater zu verlieren, auch ein schreckenerregender Wunsch im Spiel gewesen sein könnte. Vielleicht hatte die Situation auch den erregenden Wunsch freigesetzt, der Vater möge ertrinken, damit er seine verehrte und geliebte Mutter für sich haben könnte. Schließlich ist die größte Gefahr der frühen Inzestwünsche, dass © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sie Todeswünsche gegenüber dem Vater hervorbringen, den das Kind ebenso liebt und dessen Unterstützung und Schutz es tatsächlich braucht. Das traumatische Ausmaß dieser Objektbeziehung, die libidinösen und aggressiven Gefühle, ist eher additiv als alternativ. Wo würden wir die beiden oben beschriebenen Traumata in der Ergänzungsreihe lokalisieren? Es wäre verlockend, der versuchten sexuellen Verführung von Dr. B., als sie elf war, einen vorherrschenden Einfluss, zuzuordnen. Es hatte einen traumatischen Einfluss auf ihre Adoleszenzentwicklung. Jedoch wurde ihr Protest akzeptiert und der Versuch wurde nicht wiederholt. Bei der Beurteilung der Folge des Traumas muss die Beschaffenheit der traumatischen Situation mit berücksichtigt werden. Wiederholte Versuche oder Belästigungen hätten eine andere Wirkung als der einmalige Versuch. Dr. B. hat nie mit jemandem über den Vorfall gesprochen und sie hat es auch nicht unterdrückt, obwohl ihre Flucht vor ihrer Sexualität als Teenager eine Folge davon war. Im analytischen Prozess wurde die versuchte, jedoch gescheiterte Verführung immer unwichtiger. Stattdessen setzte sich das kumulative Trauma in den Vordergrund, das durch den Vater in subtiler, weniger körperlicher Weise, aber nachhaltig verführerisch und provokativ, verursacht worden war. Dr. B.s Vater spendete ihren akademischen Erfolgen Beifall und verunglimpfte ihre Mutter, dumm zu sein. Der Vater forderte, dass sie viel Zeit und Anstrengung in das Unterrichten ihrer vier jüngeren Brüder steckte und dass sie sich um sie kümmerte, als wäre sie die Mutter ihrer Brüder. Dies bot einen guten Nährboden für Schuldfantasien, den Platz ihrer Mutter eingenommen zu haben und ihren Vater und seine Söhne für sich selbst zu haben. Beide Verführungen stehen in Zusammenhang mit charakteristischen Objektbeziehungen in Dr. B.s Familie. Doch stammt die Vulnerabilität ihnen gegenüber aus Fantasien, die durch ihre Triebentwicklung hervorgebracht waren. In der Ergänzungsreihe würden diese Traumata in der Richtung des Objektbeziehungsendes erscheinen, mit der Triebentwicklung, die eine notwendige Ursache beisteuert. Der Fall von Herrn Y. scheint für mich viel mehr in der Rich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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tung des Konstituierenden der Ergänzungsreihe zu sein. Nichts wurde ihm eigentlich angetan; noch wurde etwas von ihm gefordert. Sein Vater drohte zu ertrinken, ertrank aber nicht. Sein Bedürfnis, von seinem Vater geliebt und beschützt zu werden, war durch die Erfahrung bedroht. Wenn diese Verlustangst aber die hauptsächliche oder einzige Ursache wäre, hätten die Ereignisse am Strand ihm Erleichterung gebracht oder sogar Tränen der Dankbarkeit, dass sein Vater überlebt hatte. In seiner Kindheit rechnete Herr Y., ohne sich dessen bewusst zu sein, mit einem Unfall seines Vaters. In dieser Hinsicht war das Trauma mehr durch den feindseligen Wunsch seinem Vater gegenüber zuzuschreiben als dem »Beinahe-Ertrinken« seines Vaters. Die unbewusst fantasierte Schuld regte die Symptome des Fahrradunfalls an. Dass dies nicht passiert ist, aber hätte passieren können, ist ein Ersatz für die unbewusste Erinnerung des Unfalls seines Vaters, der nicht so fatal war, wie er sich ihn gewünscht hätte. Die Symptome versicherten ihm, dass er sich den Tod seines Vaters nicht gewünscht hatte, wie folgt: Der unbewusste Gedanke »ich habe einen Unfall verursacht« = der unbewusste Gedanke »ich wünschte, mein Vater ist tot«, gefolgt von, nachdem er die Szene besichtigt hat, dem unbewussten Gedanken »ich habe den Unfall nicht verursacht. Ich habe die Festnahme und Gefängnisstrafe vermieden« = die unbewusst defensive Verleugnung »ich habe mir nicht den Tod meines Vaters gewünscht. Ich bin kein Vatermörder«. Aber das ursprüngliche Trauma lebt in den erhaltenen Symptomen der ursprünglichen Abwehr (repression) weiter und hinterlässt ihn mit einem diffusen, objektlosen, ängstlichen Schuldgefühl.

Fazit Diese Beobachtungen legen nahe, dass Freuds Idee der Ergänzungsreihe auf die Verursachung von Traumata angewendet werden kann. Ich würde trotzdem gerne auf zwei Vorraussetzungen von Freuds Darstellung der Ergänzungsreihe für die Verursachung von Traumata eingehen. Geht man von der essenziellen Rolle von Traumata bei der Verursachung von Neu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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rosen aus, so würden diese Vorraussetzungen ebenso auf Freuds Ergänzungsreihe für die Verursachung von Neurosen generell zutreffen. 1. Freuds (1917) Darstellung der Ergänzungsreihe beinhaltet die Aussage, dass »das eine wächst [Sexualkonstitution oder Entwicklungsursächlichkeit], wenn das andere abnimmt [Erleben – oder Objektbeziehungsursächlichkeit]« (Freud, 1917, S. 359). Ich bezweifele, dass diese U-Röhren-Beziehung zwischen endogenen und exogenen Kausalitäten invariant ist, da sie in einigen Fällen zumindest additiv sind. Dr. B.s Bindung zu ihrem Vater machte sie für die versuchte Verführung ihres Onkels anfällig, intensivierte ihre Fantasien über das, was passiert war, und verursachte daher, dass das Trauma der versuchten Verführung einen eher größeren als kleineren Einfluss auf die folgenden Hemmungen ihre Sexualentwicklung hatte. Freuds (1926) Aussage über die »Beteiligung der tieferen unbewussten Schichten des seelischen Apparates« (S. 129) bei Traumata weist darauf hin, das für ihn subjektive unbewusste Prozesse immer durch Objektbeziehungstraumata erregt werden und dazu beitragen. Ich denke, dass der Fall von Dr. B. und andere wie dieser insofern einen Beweis für die additive Natur dieser Kausalitäten schaffen. 2. Was ist, wenn es eine Asymmetrie bei den Polen der Ergänzungsreihe gibt? Was wenn der konstitutionelle Pol eine notwendige und hinreichende Bedingung für ein Trauma repräsentiert, während der entgegengesetzte Pol des Erlebens sich durch andere Geschehnisse auszeichnet, aber keine notwendigen Bedingungen für Traumata beinhaltet? Wir mögen sicherlich fragen, ob oder ob nicht die Szene des beinahe ertrinkenden Vaters psychologisch traumatisch gewesen wäre, ohne die Arbeit eines libidinös angeregten Wunsches, dass der Vater nicht hätte gerettet werden können. Unter Zugeständnis aller methodologischen, erkenntnistheoretischen und psychologischen Schwierigkeiten von klinischen Beobachtungen sind dies Fragen, welche klinischen Psychoanalytiker fähig sein sollten zu beantworten zur Befriedigung begründeter Zweifel. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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3. Wenn wir diese Voraussetzungen der Ergänzungsreihe einräumen, wo wären die Traumatheorien anzusiedeln? Die selbstpsychologische Theorie des narzisstischen Traumas kann ihre Lage an oder nah am Objektbeziehungspol haben. Eine traumatische narzisstische Zurückweisung der Eltern verursacht in einer anderen Weise die Schädigung einer unschuldigen frühen Blüte von sexuellen und aggressiven Impulsen bei Kindern, welche in inzestuöse Wünsche und Ambivalenzen degradieren, die das ödipale Trauma verursachen. Jedoch reduziert das narzisstische Trauma die sexuellen und aggressiven Forderungen an die misslungenen Objektbeziehungen. Die Selbstpsychologie bewertet den Einfluss von Objektbeziehungen über und unterschätzt die spontane Sexualentwicklung und den aggressiven Trieb. Sie hat keinen Platz auf der Ergänzungsreihe, wenn Triebansprüche eine notwendige Bedingung für Traumata sind. Wenn Aggression ein Todestrieb ist, findet die kleinianische Idee eines oralen Traumas, das die paranoide/schizoide Position hervorbringt, seinen Platz am endogenen Pol der Ergänzungsreihe. Falls jedoch das Phänomen, das kleinianische Autoren erklären, einem oralen Trauma bedingt durch Deprivation zugeschrieben wird, ohne dabei den Todestrieb zu postulieren, würde diese Theorie im Zentrum der Ergänzungsreihe lokalisiert sein. Obwohl klinische Beobachtungen zweifelsohne zeigen, dass das amerikanische Trieb-Abwehr-Modell unvollständig ist, weil es die Bedeutung der Objektbeziehung unterschätzt, könnte es dennoch, in analoger Weise wie die kleinianische Theorie des oralen Traumas, einen Platz auf der asymmetrischen Ergänzungsreihe finden. Allerdings ist die Ergänzungsreihe nur eine Methode, um die Bedeutung exogener und endogener Faktoren bei Traumatisierungen zu gewichten und zu klassifizieren. Auch Theorien, die fehlerhaft und unvollständig sind, können darin ihren Platz finden. Es stellt keine Nagelprobe für die Adäquatheit einer Theorie dar. Die intersubjektiven Theorien (relational theories), die endogene Faktoren bei Traumata minimieren, können allerdings keinen Platz in der überarbeiteten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Ergänzungsreihe, wie sie hier definiert wird, finden. Damit Objektbeziehungsfaktoren effektiv sind (z. B. hinreichend), müssen endogene, libidinöse und aggressive Faktoren eingeschlossen werden. Am Ende ist die Ergänzungsreihe kein Naturgesetz. Es ist nur mehr oder weniger eine wahrscheinliche, korrigierbare, empirische Verallgemeinerung. Aber ich denke, sie ist ein nützlicher Leitfaden für klinische Beobachtungen und klinisches Denken, insoweit sie uns anregt, nach beidem zu sehen. Dies sind wir unseren Patienten schuldig und anderen, die die Beschaffenheit ihrer Probleme verstehen möchten. Es mag ebenso als konzeptuelles Werkzeug zur Erforschung bestimmter Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten von Theorien dienen. Übersetzung: Celine Bonnard, korrigiert: Marianne Leuzinger-Bohleber, Werner Bohleber

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Hanly, C. (1978). Instincts and hostile affects. International Journal of Psychoanalysis, 59, 149 – 156. Hanly, C. (1986). Review of the assault on truth: Freud’s suppression of the seduction theory. International Journal of Psychoanalysis, 67, 517 – 519. Hoffman, L. (2002). Vicissitudes of aggression: theoretical and technical approaches to psychic trauma. Journal of the American Psychoanalytic Association, 51, 375 – 380. Kohut, H. (1977). The Restoration of the Self. New York: International Universities Press. Reisner, S. (2003). Trauma: the seductive theory. Journal of the American Psychoanalytic Association, 51, 381 – 414. Segal, H. (1979). Melanie Klein. New York: The Viking Press.

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Sigmund Freud: Ein »philosophischer Arzt«

I. Was für ein Denker war Sigmund Freud und, daraus schlussfolgernd, was für eine Disziplin ist die Psychoanalyse? War Freud ein Naturwissenschaftler, ein Neurologe, ein Psychiater, ein Psychotherapeut, ein Schriftsteller, ein Kulturtheoretiker, ein Bekenner, ein Moralist, ein Glaubensheiler der letzten Tage, ein religiöser Denker, der sich hinter der Religion der Vernunft versteckte – oder sui generis eine Mischung aus mehreren oder allen Genannten? Obwohl Freud nur wenig Interesse an einer direkten Konfrontation zeigte, war die sogenannte methodologische Frage von Beginn an im Feld und ist heute immer noch zentral. Daher möchte ich das 100. Jubiläum des Bestehens der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung als Gelegenheit nutzen, meine These zu formulieren, nämlich, und ich leihe mir einen Ausdruck Nietzsches dafür, dass Freud ein »philosophischer Arzt« (Nietzsche, 2001) war. Die Bedeutung dieses Ausdrucks im Kontext von Freuds Werk und Leben zu entschlüsseln, ein Ausdruck, der für sich genommen eine aufschlussreiche Vorgeschichte hat, wird uns eine lange Reise machen lassen, das Wesen seines Genius und seiner Kreation, der Psychoanalyse, zu beleuchten. Betrachtet man darüber hinaus Freuds Ambivalenz in Bezug auf die Anerkennung der Bedeutsamkeit von Philosophie, gewinnt man einen wertvollen Einblick in Freuds persönliche psychologische Situation.

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II. Die so erhaltene Weisheit – ursprünglich von Freud selbst verbreitet – ist, dass der erste Psychoanalytiker ein »Anti-Philosoph« (Wittels, 1931; Herzog, 1988) war. Dementsprechend lehnte Freud die vagen Höhen philosophischer Spekulation für die Fundierung einer empirischen Wissenschaft ab. Tatsächlich hat Freud in seinen veröffentlichten Werken nur wenig Gutes über Philosophie zu sagen, und – mit Ausnahme des von ihm geliebten Platon – neigte er dazu, Philosophie als eine illusionäre Form des Denkens zu betrachten, die nur Religion in ihrer Schädlichkeit nachsteht. Zusätzlich zu ihrer zwanghaften Qualität – ich vermute, dass Freud Hamlets Ruminationen im Sinn hatte, wenn er über Philosophen nachdachte – betrachtete er Philosophie als hypertrophe Erweiterung der natürlichen Neigung des Geistes, Erfahrungen zu synthetisieren. Er glaubte, dass philosophisches Denken naturgemäß nach Totalitismus drängt. Weil Philosophie Kontingenz nicht tolerieren kann, Erfahrung lückenhaft umschließt, will sie – wie bei der sekundären Bearbeitung, bei Zwangsgedanken und Paranoia – der Welt mehr Ordnung als tatsächlich existiert aufdrängen. Aufgrund ihres Drängens nach Synthese betrachtete er die Philosophie nahezu als eine Spezies magischen Denkens. Freud bemerkte freudig Heines Beobachtung, dass der Philosoph versuche, die Lücken der Existenz stückweise mit seinem Pyjama zu füllen. Freud nahm auch an, dass Philosophen, im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern, ihre Theorien nicht durch mühsame empirische Forschung entwickeln müssen. Weniger beschwert durch die Einschränkungen empirischer Realität, sind sie frei, ihre Theorien spekulativ zu erarbeiten, ihre konzeptuellen Räder reibungsfrei, ohne den Widerstand der extra-konzeptuellen Welt zu drehen (vgl. McDowell, 1994/2001). Zweifelsohne sind viele Kritikpunkte Freuds an der Philosophie zutreffend, und die Entscheidung, sein Projekt der Psychoanalyse eher durch empirische Praxis als mittels philosophischer Spekulation durchzuführen, war weise und enorm produktiv. In der Tat, hätte er seine spekulativen Neigungen nicht gezü© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gelt und zum Gegenstand der Disziplin der Wissenschaft gemacht, hätte die Psychoanalyse wahrscheinlich niemals ernsthafte Anerkennung erhalten. Nichtsdestotrotz enthält Freuds Ablehnung der Philosophie auch eine unaufrichtige Seite. Er war zwar kein Philosoph im engeren Sinne, sein Werk jedoch ist zutiefst philosophisch (s. Castoriadis, 1975). Außerdem teilte Freud, der weit davon entfernt war, wie er landläufig behauptete, mit der Philosophie nicht vertraut gewesen zu sein, Fließ mit, dass Philosophie einst seine aufzehrende Leidenschaft gewesen sei. »In meiner Jugend«, schreibt Freud, »kannte ich keine andere Sehnsucht als die nach philosophischem Wissen« (Freud, 1985, S. 190). Freuds Faszination von Philosophie ist sorgfältig in seinen Briefen an seinen Jugendfreund Eduard Silberstein dokumentiert. In seinen ersten drei Jahren an der Universität, bevor er sich darauf konzentrierte, seinem Medizinstudium nachzugehen, schrieb der intellektuell alles verschlingende Freud, dass er seine gesamte Zeit dem rein humanistischen Studium, das nichts mit meinem späteren Feld zu tun hat, widmen würde (vgl. Freud, 1989). Indem Freud das Ziel einer umfassenden Allgemeinbildung verfolgte, suchte er die Seminare von Franz Brentano auf, einem deutschen Philosophen, der seine Habilitationsschrift über Aristoteles Psychologie verfasste. Jones – der fest dazu entschlossen war, Freuds Interesse an Philosophie zu minimieren, sodass er seinen Ruf als strengen Wissenschaftler stärken konnte – behauptet, dass Freud lediglich einen »Blick auf die Philosophie in Brentanos Leseseminaren« (Jones, 1953, S. 57) warf. Diese Behauptung jedoch ist schlichtweg falsch. In den Jahren 1874 bis 1876 nahm Freud an fünf Seminaren von Brentano teil und besuchte – begleitet von seinem philosophiebegeisterten nietzscheanischen Freund Joseph Paneth – den Professor mehrmals zu Hause, um ihn zu Themen herauszufordern, die die Religionsphilosophie mit einschlossen.1 1

Jones folgte damit Bernfeld, der schrieb, »es ist unmöglich, dass Freud zu dieser Zeit (d. h. während seiner Zeit an der Universität) oder zu irgendeiner anderen Zeit seines Lebens ein Schüler von Brentano war. Man kann sich sogar fragen, ob er überhaupt an den differenzierten Argumentationen be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Zum Teil fühlte sich Freud zu Brentano hingezogen, weil er die intellektuelle Integrität mit intellektueller Unabhängigkeit, die der junge Student am meisten schätzte, kombinierte. Freud beschrieb den Philosophen als einen Mann, der jedwede »Unbedachtheit, Emotionalität und Intoleranz anderer Standpunkte verabscheute« (Freud, 1989, S. 118). Brentanos intellektuelle Autonomie offenbarte sich in dem Umstand, dass er als ordinierter katholischer Priester und Glaubender – eine Tatsache, die Freud, der sich als einen »gottlosen Medizinmann« betrachtete, beträchtlich zu schaffen machte (Freud, 1989, S. 82) – wegen der Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit aus der Kirche austrat. Solch eine Gewissenshandlung – in der Tat Ketzerei – musste dem heroischen Freud sicherlich gefallen haben (McGrath, 1986, S. 11). Aber es waren nicht nur Brentanos Charisma und intellektuelle Kühnheit, die Freud zu ihm hinzog. Ihm war auch seine substanziell theoretische Position sympathisch. Vielleicht war der zentralste Aspekt, den Freud von Brentano lernte – etwas, das nach McGrath für sein gesamtes Projekt determinierend war (McGrath, 1986, S. 114) –, dass man wissenschaftlich und dualistisch zugleich sein konnte. Mit anderen Worten, man kann sich einer ausschließlich wissenschaftlichen Position zuordnen, ohne dabei einen »einseitigen Materialismus« – das heißt Physikalismus – in seiner reduktionistischen Konsequenz akzeptieren zu müssen. Brentanos Dualismus bedeutete, dass das wissenschaftliche Studium der Psyche zwei Perspektiven kombinieren sollte: die Perspektive der dritten Person des Naturwissenschaftlers – so wie im Studium der physiologischen Grundlagen psychischer Aktivität (die Triebe z. B.), der kindlichen Entwicklung, oder dem Verhalten psychisch Gestörter und sogenannte Primitiver (McGrath, 1986, S. 13 – 14) – und die Perspektive der ersten

zogen auf diese Thematik interessiert gewesen wäre« (vgl. Bernfeld, 1949, S. 190). James Barcalay und James McGrath haben sich sehr bemüht, diese Situation zu verändern (vgl. Barcalay, 1964, S. 1 – 36 und McGrath, 1986. Peter Gay versuchte dies sogar noch intensiver, als er sich mit Freuds Beziehung zur Philosophie auseinandersetzte (vgl. Gay, 1989, S. 37). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Person, die inneren Repräsentationen, was Brentano als »innere Wahrnehmung« bezeichnete. So lernte Freud von Brentano nicht nur, dass beide Ansätze essenziell und gleichwertig in ihrem Status sind, sondern auch, dass sie in einem ständigen Austausch miteinander stehen. Tatsächlich verteidigte Brentano das Studium der Hysterie als Grenzphänomen, an dem Psyche und Soma interagieren. Sollten noch weitere Nachweise notwendig sein, um die Ernsthaftigkeit von Freuds Verwicklung in die Philosophie an der Universität aufzuzeigen, sei Folgendes hinzugefügt: Zu Beginn seines zweiten Universitätsjahres, im Januar 1875, unter dem, wie Freud es nennt, »fruchtbaren Einfluss« Brentanos (Freud, 1989), versuchte Freud Philosophie und wissenschaftlichen Materialismus zu integrieren, indem er ein doppeltes Doktorat in Zoologie und Philosophie innerhalb der Abteilung für Philosophie anstrebte. Während sich das doppelte Hauptfach nicht realisieren ließ, zeigt uns Freuds Wunsch, Philosophie und physikalische Wissenschaften zu kombinieren, wo sein Denken zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung stand. Ein anderer Denker, dessen Werk Freud während seines ersten Universitätsjahres entdeckte, war Ludwig Feuerbach, ein philosophischer Anthropologe der links-hegelianischen Tradition. In einem Brief an Silberstein spricht Freud begeistert von dem Philosophen, »den ich unter allen Philosophen am höchsten verehre und bewundere« (Freud, 1989, S. 111). Bei aller Übertreibung glaube ich nicht, dass wir den Einfluss Feuerbachs auf Freuds Denken überschätzen können, vor allem auf seine Kulturtheorie. Obwohl Freud ihn niemals explizit anerkannte, ist »Die Zukunft einer Illusion« ein zutiefst Feuerbach’sches Buch. Was Freud von Feuerbach übernahm war sein »anthropologischer« Ansatz. Feuerbach folgte einem Programm von reductio ad anthropos, mit dem er versuchte, der Genese der Produkte des menschlichen Geistes, insbesondere der Religion, zu ihren Ursprüngen in den materiellen, speziell den empfindungsfähigen Bedingungen menschlicher Existenz nachzugehen. Das Konzept der Projektion war die primäre Hinterlassenschaft, die Feuerbach nutzte, um diese Genese zu erklären. Er argumentierte, dass, in einem Versuch, ihr eigenes materielles Leiden, ihre eigene Unzu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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friedenheit zu handhaben, Menschen ihre Wünsche nach einem weniger leidvollen und erfüllterem Leben in den Himmel projizieren und dass diese Projektionen das Material sind, aus dem die Illusionen der Religion konstruiert werden (vgl. Harvey, 1995). Die Prognose folgt aus der Analyse: Um die Illusionen zu beseitigen, muss man das Leiden beseitigen – das Freud psychosexuell konzeptualisierte –, da es die Projektionen überhaupt erst produziert. Das entspricht der exakten Logik von Freuds Argumentation.

III. Während den Ferien zwischen seinem dritten und vierten Universitätsjahr besuchte Freud seine älteren Halbbrüder Philipp und Emanuel in Manchester, England, wo sie wohlhabende Geschäftsmänner und Mitglieder der jüdischen Gemeinde geworden sind. Dies war ein Wendepunkt für den aufkeimenden Wiener Gelehrten. Wir können nicht genau sagen, was während seines Besuches passierte, aber als er nach Wien zurückkehrte, zeichnete er seine Lebensprioritäten auf: Er gab nicht nur sein Streben nach Philosophie auf und wurde Wissenschaftler, Freud nahm die Haltung eines Anti-Philosophen ein. Während Freuds Erfahrungen in England vielleicht den »auslösenden Faktor« darstellen, können sie für sich genommen nicht die hohe Intensität seiner Antipathie erklären. Wir werden die tieferen psychologischen Bedeutungen dieser Kehrtwendung später diskutieren. Für den Moment reicht es aus, zu spekulieren, dass Freud als Resultat seines Auslandsaufenthalts ein Forschungsfeld gefunden hatte, dass ihn näher an die professionellen und finanziellen Erfolge, die seine Brüder genossen, heranführte – Erfolge die im dramatischen Gegensatz zu dem unnachgiebigen Scheitern seines Vaters Jakob standen. Wir könnten auch vermuten, dass Freud eingenommen war von dem Fleiß, der Rechtschaffenheit, dem Liberalismus und der Selbstkontrolle, welche er im englischen Charakter, der im scharfen Kontrast stand zu den Qualitäten der Wiener Aristokraten, Ästheten, Priester und der Schlamperei, die er so verab© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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scheute, beobachten konnte. Ohne Zweifel war Freud auch berührt von der tiefen Verehrung, die er für die Leistungen Darwins und anderer Titanen englischer wissenschaftlicher Tradition hegte (vgl. Shorske, 1980, S. 10 – 13). Jedenfalls wechselte er, als er für das Frühlingssemester auf einer anglophilen Welle zu der Wiener Universität zurückkehrte, von der weniger anspruchsvollen »›Zoologie für Medizinstudenten‹ zu fünfzehn Stunden echter Zoologie« (Ritvo, 1990, S. 114. Für eine detaillierte Diskussion von Claus, siehe Ritvo, 1990, Kapitel 10). Nach einer kurzen Periode in Carl Claus’ Laboratorium, ließ er sich in Ernst Brückes Physiologischem Institut nieder, wo er die nächsten vier Jahre verbrachte. Das physikalische Umfeld, das er in Brückes Laboratorium vorfand, war ausgesprochen ungastlich. Tatsächlich, so Bernfeld, hatte das Physiologische Institut »kein Gas und kein Wasser« und war »kläglich beherbergt im zweiten Stock und im Untergeschoss einer dunklen und stinkigen alten Kanonenfabrik« (Bernfeld, 1949, S. 170). Nichtsdestotrotz beschreibt Freud sein dortiges Verweilen, bei dem er langwierige Stunden über einem Mikroskop verbrachte, glanzvoll. Er erzählt uns, dass er »Ruhe und volle Befriedigung fand […] in […] Brückes Physiologischem Institut« (Freud, 1925, S. 35), und es war das Institut, in dem er »die glücklichsten Stunden [seiner] Studentenjahre verbrachte« (Freud, 1900, S. 212). Das führt uns zu der Frage, was es in der klösterlichen Umgebung des Instituts war, das Freud so angenehm fand? Die Antwort finden wir zu einem Teil in der Person Ernst Brückes, dem puritanischen Direktor des Physiologischen Instituts. Im Gegensatz zu den unbekümmerten Wienern – und zu Freuds gutmütigem und nachgiebigem Vater Jakob – war Brücke ein ernster preußischer Vorgesetzter aus Berlin, der ein sehr straff organisiertes Laboratorium leitete. Als Freud eine Begebenheit erinnert, zu der Brücke ihn heftig für sein Zuspätkommen rügte, blieb ihm der mächtige Blick des »großen Mannes« – seine »schrecklich blauen Augen«, die ihn »zu nichts machten«, in Erinnerung (Freud, 1900, S. 425). Aber statt die Strenge abscheulich zu finden, fühlte sich der junge Freud bestätigt. Tatsächlich, aus Gründen, die wir später erörtern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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werden, gaben die mächtige preußische Über-Ich-Figur und sein geregeltes Laboratorium dem vaterhungrigen Freud die Struktur, die er immer suchte. Später in seinem Leben sagte Freud – dem Übertreibungen nicht fremd waren, wenn es darum ging, seine zahlreichen Mentoren zu belobigen –, dass Brücke »mehr Einfluss auf ihn hatte als irgendein anderer in [seinem] gesamten Leben« (Freud, 1926, S. 290). Es war nicht nur Brückes Arbeitsmoral, die Freud beeindruckte, auch die wissenschaftliche Ausrichtung seines Mentors sprach ihn an. Gemeinsam mit Hermann Helmholtz und Emil Du Bois-Reymond gehörte der Direktor des Physiologischen Instituts zu der positivistischen Schule in Berlin. Als Brücke die preußische Hauptstadt verließ, um seine Position in Wien einzunehmen, wurde er als »Abgesandter des Ostens« bezeichnet. Das Programm der Schule war darauf ausgerichtet, eine exakt immanente Darstellung aller Naturbereiche aufzustellen, belebt wie unbelebt, eine Darstellung, die jeglichen Rekurs auf transzendente extra-natürliche Einheiten ausschloss. Entsprechend dem »positivistischen Kredo« müssen alle lebenden Phänomene in Begriffen des »allgemein Physikalisch-Chemischen«, das »aktiv im Organismus« ist, erklärt werden, und werden neue Phänomene beobachtet, müssen diese in Begriffen der gleichen physiochemikalischen Kräfte oder in Kräften, die die »gleiche Würde besitzen«, begründet werden. Es besteht kein Zweifel, dass Freud als Schüler Brückes sich diesem Kredo verschrieben hatte und dass er versuchte, die Anforderungen zu erfüllen, zumindest durch seine proto-analytischen Schriften. Im Projekt können wir sehen, wie er darum ringt, beobachtete klinische Phänomene in einen physikalischen Rahmen zu bringen, der diese jedoch nicht fassen kann. Es stellt sich folgende Frage: Als Freud die Idee der psychischen Realität einführte, besaß das Konzept die gleiche »Würde« wie seiner Ansicht nach »physikalisch-chemische Kräfte«? Anders ausgedrückt, hat Freud einen neuen Naturbereich für die wissenschaftliche Exploration eröffnet? Oder hat er das positivistische Kredo nicht nur durch die Einführung transzendenter Einheiten verletzt, sondern auch durch die Einführung eines gänzlich neuen transzendenten Bereichs? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Wie dem auch sei, die Frage nach Freuds Positivismus hat eine sehr viel breitere Relevanz als die Frage, ob er sich der physikalischen Ontologie und dem mechanistischem Modell der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts verschrieben hatte. Sie betrifft, wie Paul Ricœur betont, sein wissenschaftliches Ethos. In den letzten Jahren ist der Positivismus als enge und dogmatische Form der Wissenschaft angegriffen worden, die den Komplexitäten des Menschlichen nicht gerecht werden kann und die häufig in technokratisch-sozialen Entwicklungen impliziert ist. Zu Freuds Zeiten jedoch war der Positivismus eine progressive Bewegung. Militant anti-klerikal suchte er »die Schutthaufen des Aberglaubens, allen Pantheismus, alle Art des Mystizismus, alles Gerede okkulter göttlicher Kräfte, die sich in der Natur manifestieren«, auszuliefern. Während er langfristig vielleicht nicht dazu in der Lage war, sein gesamtes Denken in ein mechanistisches Schema zu fassen, stellte Freud, wie Ricœur hervorhebt, den Positivismus niemals in Abrede und sah weiterhin »in der Wissenschaft die einzige Wissensdisziplin, die einzige Regelung intellektueller Aufrichtigkeit, eine Weltansicht, die alle anderen Welten ausschließt, vor allem die der alten Religion« (Ricœur, 1970, S. 72; s. auch Philip Rieffs Diskussion von Freuds »Ethik der Ehrlichkeit« und Kohuts Diskussion seiner »wahren Ethik«). Mit anderen Worten, für Freud war Wissenschaft – nachdrücklich – nicht primär eine Methodologie oder physikalische Ontologie. In erster Linie und zuvorderst war sie ein Ethos, das nach einem methodischen Kampf gegen die menschliche Prädisposition für Illusionen aufrief.

IV. Wie ist dann Freud ein philosophischer Arzt geworden? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst etwas zu seiner wahrlich grenzenlosen Ambition gesagt werden. Von früh an war Freud überzeugt, dass er dazu bestimmt war, die Vorhersage zu erfüllen, die eine alte, bäuerliche Frau seiner jungen Mutter machte, nämlich dass er einmal ein großer Mann werde. Das Problem war nicht, dass Freud die Überzeugung hatte, Großartigkeit zu er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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reichen, sondern vielmehr, dass er davon überzeugt war, lange bevor er das Gebiet gefunden hatte, in welchem er diese Größe erreichen konnte. Sein Gebiet sollte er schließlich während der sechs Monate, die er in Paris verbrachte, finden – eine Zeit die sich als noch zentraler als der die Kehrtwende mit sich bringende Besuch in England herausstellen sollte. Sicherlich war einer der Gründe, warum Freud im Frühling 1885 in die französische Hauptstadt kam – »ehrgeizig, aber arm« wie Makari ihn beschrieb –, die Verbesserung seiner klinischen Fähigkeiten für die Behandlung »nervöser Störungen«. Als er jedoch an der SalpÞtriÀre ankam, war er im Grunde vornehmlich immer noch ein Neuroanatom mit dem Vorhaben, Gehirne verstorbener Säuglinge zu präparieren, die an der SalpÞtriÀre in nahezu unbegrenzter Anzahl zur Verfügung standen. Unter dem Einfluss Charcots jedoch – der als der »Napoleon der Neurose« bekannt war – verlor der 29-jährige Wissenschaftler schnell das Interesse an seinen »eigenen dummen Sachen«, wie er seine Forschungsarbeiten bezeichnete, und – während er immer faszinierter war von dem charismatischen ma„tre – faszinierte ihn auch der Interessenbereich des Meisters, nämlich die Hysterie, oder allgemeiner, die Psychopathologie. Einer der zentralen Punkte, die Freud von Charcot lernte, war, dass das pathologische Funktionieren des menschlichen Geistes – weit davon entfernt willkürlich und unbedeutend, nur Schall und Rauch der Natur zu sein – ernsthafte wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdiente. Es kann uns sogar einen Zugang zu dem Wesen der menschlichen Natur verschaffen. »Trete ein« in den scheinbar bescheidenen Bereich der Psychopathologie, schien Charcot zu locken, »auch hier sind Götter«.2 So beobachtet Thomas Mann in einer Lesung zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag (1937, S. 11): »Der Mensch ist als ›das kranke Tier‹ bezeichnet worden, aufgrund der Bürde von Anstrengungen und der expliziten Schwierigkeiten, die ihm durch seine Position zwischen Natur und Geist, zwischen 2 Diese Aussage, die Freud fand, stammt von Aristoteles, der sie Heraklit zuschreibt (siehe Aristoteles, De partib, Animal., I.5).

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Joel Whitebook Engel und Unmensch auferlegt wurden. Welch Wunder, dass es uns über den Weg der Abweichung gelungen ist, am tiefsten in die Dunkelheit des menschlichen Wesens einzudringen; dass sich das Studium der Krankheiten – das heißt der Neurose – als eine erstklassige Technik der anthropologischen Forschung enthüllte?«

Mit anderen Worten, da Menschen im Wesentlichen kranke Kreaturen sind, kann die Lehre ihrer besonderen Krankheit, das heißt der Neurose – die am besten im klinischen Kontext ausgeführt wird –, ihr zugrundeliegendes Wesen enthüllen. Als Freud nach Wien zurückkehrte, wechselte er von der Neurophysiologie zur Psychopathologie. Er war nicht mehr primär Wissenschaftler, er war Kliniker geworden. Mit der Neurose – mit der »kranken Seele« – hatte Freud sein Topos gefunden, das Gebiet, in dem er die großen Entdeckungen machen konnte, die er vergeblich andernorts angestrebt hatte. Obwohl Freud selbst nie den Ausdruck benutzte, war er tatsächlich auf seinem Weg, ein »philosophischer Arzt« zu werden. Die Idee des philosophischen Arztes – m¦dicin philosoph auf französisch – kam nach Zammito im 18. Jahrhundert in Verbindung mit der Kritik der Aufklärung an der Metaphysik und dem Aufkommen der Humanwissenschaften auf (s. Zammito, 2008, S. 427 – 440; Zammito, 2002, bes. Kap. 6).3 Denker der Aufklärung in Deutschland, Frankreich, Schottland und England wurden zunehmend ungeduldig bezüglich des aporetischen Wesens der Philosophie, die sich niemals zu verändern schien. Sie schlussfolgerten, dass die Rigorosität des Programms, das die Erste Philosophie für eineinhalb Jahrtausende verfolgte, falsch aufgefasst wurde und aufgegeben werden sollte. Auch schlossen sie, dass die Befunde der neuen Wissenschaften nicht ignoriert werden konnten, diese jedoch philosophisch aufgenommen werden sollten. Das Alternativprogramm, das sie sich ausgedacht hatten, sollte die traditionellen Probleme der Metaphysik über das empirische Studium des metaphysischen Subjekts, nämlich, der Menschheit, 3 Ich danke Fred Neuhouser, dass er mein Interesse auf Zammitos Arbeit gerichtet hat.

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adressieren. Locke beispielsweise argumentierte, dass man, bevor man die formale Logik studiert, die Tätigkeiten des empirischen Geistes, das heißt die Psychologie, untersuchen sollte. Im Allgemeinen betrachtete ein wichtiger Strang des aufklärerischen Denkens die Humanwissenschaften als Möglichkeit, philosophischen Fragen mit anderen Mitteln nachzugehen. Die Person des Arztes nahm eine privilegierte Position im Aufkommen der Humanwissenschaften ein. Nicht nur glaubte ein Denker wie Diderot, dass Ärzte – aufgrund ihrer direkten Kenntnisse über die materielle Dimension menschlicher Existenz – besonders gut für die Partizipation an den neuen empirischen Wissenschaften qualifiziert gewesen seien; viele Ärzte leisteten tatsächlich auch große Beiträge. Einer der mitbegründenden Texte dieser Bewegung trug den Titel »Anthropologie für Ärzte und Weltweise«. In ihrem Versuch, eine Wissenschaft des Menschen zu schaffen, versuchten die Denker der Aufklärung eine Position abzustecken, die irgendwo zwischen »Wissenschaft und Philosophie« (s. Habermas, 1973, S. 195 – 252) lag – die, das darf ich hinzufügen, damals und heute eigentlich von der Psychoanalyse eingenommene Position. Ihre Position war wissenschaftlich insofern, als dass sie die a-priori-Annahme der Ersten Philosophie ablehnten und die empirischen Wissenschaften als Ausgangspunkt für jedwedes valides Theoretisieren annahmen. Und ihre Position war philosophisch insofern, als dass sie Szientismus ablehnten, die Forderung, dass empirische Wissenschaft die einzige Form legitimen Wissens ausmache. Die Bedeutung der Wissenschaft, wie Adorno beobachtet, ist keine wissenschaftliche Frage. Anders ausgedrückt, beschränkt auf ihre eigenen Ressourcen sind die empirischen Wissenschaften nicht dazu in der Lage, ihre eigene Bedeutsamkeit zu bestimmen. Damit das möglich wird, braucht es etwas mehr, nämlich Reflexion. Und mit der Reflexion wissenschaftlicher Befunde, bewegt man sich in einen konzeptuellen Raum zwischen Wissenschaft und Philosophie, über die Grenzen von Wissenschaft hinaus. Wir wissen nur wenig über Freuds Einstellung zur Philosophie in den Jahren zwischen seinem Eintritt in Brückes Institut 1876 und dem Zeitpunkt, zu dem er 1896 proto-analytische Forschung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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als seine eigentliche Berufung ansah. In zwei Briefen an Fließ in diesem entscheidenden Jahr jedoch macht Freud deutlich, dass er seine philosophischen Ambitionen niemals aufgab und dass er, wie die medizinischen Philosophen, Medizin und später Psychoanalyse als einen Weg betrachtete mit anderen Mitteln Philosophie zu betreiben. So schreibt er am 1. Januar 1896 seinem Brieffreund in Berlin: »Im Geheimen hege ich die Hoffnung […] über den Umweg der ärztlichen Praxis […] an meinem anfänglichen Ziel, der Philosophie, […] anzukommen. Denn das ist, was ich ursprünglich wollte, wenn mir auch noch nicht klar war, zu welchem Zweck ich auf der Welt war« (Freud, 1985, S. 159). Am 16. April 1896 teilt er Fließ mit: »als junger Mann kannte ich keine andere Sehnsucht als die nach philosophischem Wissen, und nun scheint es, als erfülle ich diese, indem ich mich von der Medizin zur Psychologie bewege« (Freud, 1985, S. 189).4 Freuds spätere kulturtheoretische Schriften – vor allem »Jenseits des Lustprinzips« (1920) – zeigen uns nicht nur wie allmächtig sein philosophischer Dämon eigentlich war, sondern auch, dass es ihm niemals gelungen war, ihn völlig zu vertreiben. Als nach dem Ersten Weltkrieg die engen Fesseln von dem Dämonen gelockert waren, begann er mit der Unbekümmertheit (oder Naivität) eines vorsokratischen Philosophen über die grundlegenden Bestandteile des Seins zu spekulieren.5

4 Und in »Psychopathologie des Alltagslebens«, führt er aus, dass die übernatürliche Realität durch die Projektion endopsychischer Prozesse auf die externe Wirklichkeit erklärt werden kann: Metaphysik könne in Metapsychologie überführt werden (Freud, 1901, S. 288). 5 Freud schrieb, »In den Arbeiten meiner letzten Jahre (»Jenseits des Lustprinzips«, »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, »Das Ich und das Es«) habe ich der lange niedergehaltenen Neigung zur Spekulation freien Lauf gelassen« (Freud, 1925, S. 84). Ferenczi dagegen macht eine interessante Beobachtung, nämlich dass sowohl Freud als er selbst interessante Spekulationen in Folge des Ersten Weltkrieges formulierten: »Es ist interessant, die große Gesetzmäßigkeit [zu] beobachten, die sich in unser beider Reaktion auf die durch den Krieg erzwungene Untätigkeit äußert. Man versteht jetzt die spekulativen Biologen und Philosophen, die – immer weitab von der Realität sich bewegend – auf die wenigen Tatsachen, die

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Ein Grund, warum Freud niemals explizit die Identität eines philosophischen Arztes annehmen konnte, war, dass, trotz seines Ausgesetztseins mit Brentanos wissenschaftlichem und empirischem Ansatz, Freud dazu neigte, Philosophie mit Metaphysik gleichzusetzen. Als Resultat konnte er sich keine alternative nichtmetaphysische Konzeption der Disziplin ausmalen. Für Freud benötigte Metaphysik eine spezielle deutsche Empfindsamkeit, die ihm nicht vertraut war. Auch war sie eng verbunden mit Theologie, für die er nichts als Verachtung übrig hatte. Dies macht er in einem Brief 1927 an Werner Achelis deutlich – das Jahr in dem er die höchst philosophische Schrift »Die Zukunft einer Illusion« veröffentlichte: »Was ich zu Deiner Argumentation sagen werde, wird Dich nicht überraschen, nachdem Du offensichtlich mit meiner Haltung zur Philosophie (Metaphysik) vertraut bist. Andere Mängel meines Wesens haben mich sicherlich gestört und mich minderwertig fühlen lassen; mit der Metaphysik ist es anders – ich habe nicht nur kein Talent dafür, ich habe auch keinen Respekt vor ihr. Im Geheimen – man kann so etwas eigentlich nicht laut äußern – glaube ich, dass die Metaphysik eines Tages als ein Ärgernis abgeurteilt wird, als Missbrauch des Denkens, als Überbleibsel aus der Zeit der religiösen Weltanschauung. Ich weiß wohl, zu welchem Ausmaß mich diese Denkweise von dem deutschen kulturellen Leben entfremdet« (Freud, 1927, S. 374 – 375).6

V. Wie bereits dargestellt, können weder vernünftige Erwägungen zu der Frage, wie Freud am besten seine flügge gewordene Disziplin einer skeptischen Welt präsentierte, noch irgendeine andere äußere Begebenheit die Gewalt erklären, mit der sich Freud gegen einen Bereich wandte, den er vormals liebte. Die intensiven Gefühle verweisen darauf, dass die Philosophie für ihn eine ihnen bekannt sind, das ganze Weltgebäude aufbauen möchten« (Freud u. Ferenczi, 1996, S. 106). 6 Ich danke Werner Bohleber, dass er mich auf diesen Brief aufmerksam gemacht hat. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Versuchung geblieben ist. Denn, wie er uns lehrte, Gleichgültigkeit – nicht Hass – bildet den Gegensatz zur Liebe, und Freud war alles andere als gleichgültig, wenn es um Philosophie ging. Darüber hinaus, wie Jones beobachtet, besaß Freuds spekulativer Dämon eine solch »erschreckende Stärke« – solch beängstigende Omnipotenz –, dass er unterdrückt werden musste. Die empirische Wissenschaft lieferte die Struktur, mit der er ihn halten und unterdrücken konnte. Anders ausgedrückt, die Wissenschaft, in Begriffen ihrer psychologischen Funktion, stellte eine Reaktionsbildung gegen Freuds überreichen spekulativen Trieb dar. Wie auch immer sich diese Abwehrformation auf Freuds Denken auswirkte, so hatte sie auch eine adaptive Seite. Als ob er es geahnt haben muss, disziplinierte Freud diesen Trieb nicht, er wäre vielleicht ein Quacksalber geworden – ein weiterer Fließ. Wir sollten uns daran erinnern, dass Freud klug genug war, »Eine phylogenetische Phantasie« unveröffentlicht in der Schublade zu lassen. Wirklich kreatives Denken, vor allem in der Größenordnung, in der Freud es betrieb, weckt notwendigerweise die Fantasie der Allmacht der Gedanken und ist daher immer gefährlich. Insofern als dass ein solches Denken die durch Übereinstimmung validierten Überzeugungen der Gruppe infrage stellt, ist es transgressiv und repräsentiert eine ödipale Rebellion, die der Strafe bedarf. Der Einzelne besitzt die Grandiosität, die Überheblichkeit, zu behaupten, »Ich und nicht die Gruppe richte über die Wahrheit«. Darüber hinaus muss ein solcher Ikonoklasmus naturgemäß dazu führen, sich zu fragen, ob die eigenen Kreationen private omnipotente Fantasien oder neue »Abbilder des Denkbaren« sind, die öffentliche Anerkennung erfordern (s. Castoriadis, 1975). Die Einsamkeit einer solchen Situation führt große Schöpfer häufig dazu, einen Partner zu suchen, der sie auf ihrer Reise begleitet, so wie es Freud mit Fließ und Picasso mit Braque tat. Außerdem hatte Freud einen speziellen biografischen Grund, die Allmacht der Gedanken zu fürchten. Sein jüngerer Bruder Julius starb, als Freud zwei Jahre alt war. Höchstwahrscheinlich hat der Tod des kleinen Jungen nicht nur ein lebenslanges Gefühl von Schuld über die unbewusst mörderischen Wünsche, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Freud, wie er annahm, ihm gegenüber hegte, gelegt. Er erzeugte auch eine andauernde Vorsicht gegenüber der Omnipotenz von Gedanken – so als ob seine Wünsche den Tod seines Bruders verursacht hätten.7 Anders ausgedrückt, Julius Tod muss dem jungen Sigmund das alte Sprichwort bestätigt haben: »Sei vorsichtig, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen«. Es gibt etwas aus Freuds frühen Erfahrungen, das seine Furcht vor seinem philosophischen Dämonen erklären kann. Trotz des Mythos von »mein goldener Sigi«, besteht Übereinstimmung unter Gelehrten, dass die ersten drei Lebensjahre Freuds traumatisch waren – vor allem seine Beziehung zu seiner sprunghaften, narzisstischen und depressiven Mutter Amalie. Kinder, die wie Freud häufig massive frühe Enttäuschungen mit ihren Müttern erfahren haben, entwickeln, so Gedo, die Fantasie einer Vereinigung mit einem idealisierten Primärobjekt, die sie dazu nutzen, die traumatische Entidealisierung zu umgehen. Das dies bei Freud der Fall war, so Jones, lässt sich an seinem Liebesleben mit den beiden großen Lieben seines Erwachsenenlebens – Martha und Fließ, die er beide extrem idealisierte – sehen, welches sein Streben nach »Verschmelzung« anstelle von »Verbindung« aufzeigt (Jones, 1953, S. 110). Jedoch, so sehr Freud sich auch danach sehnte, erschreckte ihn gleichermaßen die Vorstellung der Verschmelzung mit dem Primärobjekt. Denn die Entdifferenzierung, die diese mit sich bringt, bedeutete die Zerstörung der hart gewonnenen Individualität, Maskulinität, Autonomie und Autarkie, die er erreicht hatte, indem er nach seiner psychisch leidvollen Kindheit die Persönlichkeit eines androzentrischen »frühzeitig Erwachsenen« entwickelte. Die Angst vor dem Wieder-Verschlungenwerden 7 Denken wir an den ödipalen Konflikt, ergibt sich noch eine andere Erklärung, warum Freuds erstaunlicher Intellekt ihn erschreckt haben mag. Schon früh muss er, wie Jakob selbst, realisiert haben, dass er intellektuell seinem Vater sehr überlegen war. Und Jakob, der sehr gebildet war und, der jüdischen Tradition folgend, schon im Alter von acht Jahren den Talmus in Aramäischer Sprache lesen konnte, stand dem in nichts nach. Wie Freud in »Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis« ausführt, ist es verboten, den Vater zu übertreffen (vgl. Freud, 1936, S. 257).

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durch das Objekt kann erklären, warum Freud niemals dazu in der Lage war, die ersten drei Jahre seines Lebens sowie seine frühe Beziehung zu seiner Mutter mit dem gleichen Mut, mit dem er spätere Phasen seiner Entwicklung analysierte, zu explorieren. Freuds fehlende Vertrautheit mit dem ozeanischen Lebensgefühl war nicht nur eine persönliche Eigenheit. Das Fehlen war das Resultat seiner Unfähigkeit, in den Bereich einzudringen, in dem er es vielleicht hätte erfahren können. Freuds Konflikt bezüglich seiner Wünsche nach Verschmelzung mit dem Primärobjekt lässt uns auch seine konflikthafte Beziehung zur Philosophie verstehen. Als die diskursive Disziplin par excellence – dem Gebiet der Differenzierung, Distinktion, Artikulation und der Ratio – erscheint sie von Verschmelzung und Entdifferenzierung so entfernt wie irgend möglich. Dies, so argumentiert Harry Slochower, ist jedoch nicht der Fall. Wird Philosophie als Ursprungsphilosophie betrieben, welche nach den Ursprüngen oder Fundamenten aller Dinge sucht – das heißt als Erste Philosophie, Theologie oder Metaphysik –, so ist sie nach Slochower psychologisch mit der Suche nach der archaischen Mutter verknüpft (Slochower, 1975). Ähnlich behauptet Fenichel, dass der omnipotente, metaphysische Wunsch nach dem Absoluten, nach dem »Alles« – nach Unendlichkeit, Fülle, Sattheit, Zeitlosigkeit oder Gegenwart – von Erinnerungsspuren der frühesten undifferenzierten Schichten der Entwicklung herrührt. So schreibt Fenichel (1953, S. 25): »Die Entwicklung des Geistes beginnt mit ›Allem‹. Metaphysische Intuition möchte zu ihrem Anfangspunkt zurückkehren […] Dieses Alles, das zu Beginn existierte, d. h. zu Beginn des Lebens des Individuums und das endopsychisch und nicht real war – ist das wahre Objekt metaphysischer Sehnsucht. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das, was zu Beginn in mir war, am Anfang auch außerhalb der Welt war. Im Gegenteil, alle Hinweise sprechen dagegen. Metaphysik verwechselt endopsychische Ontogenese mit realer Phylogenese«.8 8

Um jedes Missverständnis zu vermeiden, sollten wir an das Faktum denken, dass das Streben nach dem Ganzen (for the All, d. Übers.), das für die Motive der Metaphysik steht, als solches diese Disziplin nicht entwertet. Die Frage nach dem Ganzen liegt sowohl den höchsten Errungenschaften © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Das Medium der Philosophie ist fast ausschließlich diskursiv. Aber, wie wir in vielen anerkannten Texten lesen, kommen wir an den Apizes an, beinhalten sie häufig eine unio mystico, eine Verschmelzung mit dem Absoluten, die Diskursivität, Temporalität und Differenzierung – das heißt Endlichkeit – hinter sich lässt. In Platons »Symposium« zum Beispiel, wenn der Liebende die Spitze der Leiter Diotimas erreicht, versteht er das Schöne – »ewig und unveränderlich«, das in einer undifferenzierten Erfahrung – »alles auf einmal« – außerhalb des diskursiven Denkens und der Temporalität liegt (s. Nussbaum, 1986, S. 181 – 184).

VI. Über die Jahre hinweg wurde Freuds Berufswahl immer wieder angezweifelt. Zum Beispiel argumentierte 1980 Carl Shorske, dass, wenn der österreichische Liberalismus nicht zusammengebrochen und der Antisemitismus sich nicht verbreitet hätte – was bedingte, dass Freud sich von der öffentlichen Sphäre abwandte und seine Aufmerksamkeit auf die innere Welt lenkte –, Freud anstelle eines Psychoanalytikers vielleicht ein berühmter Anwalt oder Politiker geworden wäre (Shorske, 1980, S. 181 – 207). Wir werden auch häufig daran erinnert, dass Freud nicht aus fehlendem Interesse die Neurologie verließ, um eine Karriere als Psychotherapeut zu beginnen. Vielmehr wechselte er das Gebiet aufgrund seiner Frustration mit der noch relativ gering entwickelten Disziplin. Würde Freud heute leben, so die Argumentades Geistes zugrunde als auch den niedrigsten Formen der individuellen und kollektiven Pathologie. Die Frage ist daher, wie die Suche nach dem Ganzen vonstatten geht. Castoriadis schreibt, »eine wesentliche Dimension der Religion – das ist selbstverständlich –, aber auch eine wesentliche Dimension der von Philosophie und Wissenschaft […] Ob es sich um den Philosophen oder den Wissenschaftler handelt: seine letzte und leitende Intention liegt darin, in allen Unterschieden und allen Andersheiten Erscheinungsformen des ›Selben‹ zu finden (unter welchem Namen dieses auch auftreten mag, heiße es auch einfach ›das Sein‹). Und dieses Selbe soll der Erscheinungsmannigfaltigkeit innewohnen und sie vollständig und sich selbst vollkommen gleich durchdringen« (Castoriadis, 1975, S. 496). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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tionslinie, hätte er sich, betrachtet man die dramatischen Entwicklungen in dem Fach angesichts der revolutionären Fortschritte durch die bildgebenden Verfahren, sicherlich für eine Karriere als Neurowissenschaftler entschieden. Diese Argumente jedoch überzeugen nicht. Freud war darauf aus, Wichtigeres zu tun. Wie beeindruckend die Beiträge auch immer gewesen seien, die er in einem dieser Bereiche gemacht hätte, sie hätten dem Wesen und Ausmaß seiner Ambition nicht entsprochen. Als Freud seinem grandiosen Selbst die Zügel abnahm, sah er sich eingereiht in Europas Ruhmeshalle kultureller Titanen – neben Platon, Shakespeare und Goethe. Wir sollten Freud ernst nehmen, wenn er im Rückblick auf sein Leben seine wahre Berufung reflektiert. Er teilt uns mit, dass in seiner Kindheit seine Vorlieben nicht auf die Naturwissenschaften oder die Medizin hinwiesen. Seine Neugier richtete sich nicht auf die natürliche Welt, auch war er nicht interessiert daran, ein Arzt zu werden, der Kranke heilt, er fühlte sich von »menschlichen Interessen« angezogen. So wie er es beschreibt, hatte er von früh an eine Vorliebe für philosophische Fragen entwickelt – die er als ein »übermächtiges Bedürfnis, etwas von den Rätseln der Welt, in der wir leben, zu verstehen und vielleicht sogar etwas zu deren Lösung beizutragen«, zeichnet. In einer Bezugnahme auf den Affekt, den die Philippson-Bibel in ihm auslöste, sagt er, dass seine Neugier von »kulturellen Problemen« geweckt wurde, als er »ein Jüngling kaum alt genug zum Denken« war (Freud, 1925, S. 72). Aus den nachgezeichneten Gründen musste Freud seinen philosophischen Dämonen für eine lange Zeit seines beruflichen Lebens unterdrücken. In der letzten Phase seines bereits langen und illustren Schaffens erlebte der Gründer der Psychoanalyse eine »Veränderung in ihm selbst«, die, so schlägt Freud vor, »als eine Phase regressiver Entwicklung beschrieben werden kann«. Denn nach einem »lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie« »kehrten seine Interessen zurück« zu eher breiteren philosophischen Fragen, die sich mit dem menschlichen Wesen und der sozialen Ordnung beschäftigten, Fragen, die ihn bereits in seiner Jugend faszinierten

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(Freud, 1925, S. 72). Mit anderen Worten, erfüllte er sich seinen Wunsch, philosophische Ziele zu erreichen über andere Wege. Nachdem dies gesagt ist, möchte ich mit einer Warnung zum Ende kommen. Auch wenn man glaubt, dass Freuds Ziel letztlich philosophisch war, wäre es ein Fehler, daraus zu schließen, dass sein langer Umweg über Wissenschaft und Medizin ohne Belang gewesen sei und vermieden hätte werden können. Ganz im Gegenteil, dieser Seitenweg führte zu entscheidenden Etappen, die für Freuds Kreativität und intellektuelle Entwicklung notwendig waren. Lassen Sie uns erinnern, dass Freud seine Größe nicht als einfacher Philosoph erreichte – dies auch nicht wollte –, sondern als philosophischer Arzt. Übersetzung: Eva Knupfer, Marianne Leuzinger-Bohleber

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III Psychoanalytische Forschung am SFI in interdisziplinären und internationalen Netzwerken und laufende Projekte im klinischen und Grundlagenbereich

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Ulrich Bahrke, Lothar Bayer, Tamara Fischmann, Kurt Grünberg, Katrin Luise Läzer, Judith Lebiger-Vogel, Alexa Negele, Nicole Pfenning-Meerkötter, Tomas Plänkers, Marianne Leuzinger-Bohleber

Psychoanalytisch Forschen am heutigen SFI Gratwanderung zwischen klinischer und extraklinischer Forschung Im einführenden Beitrag zu diesem Band wurde schon auf die vielschichtigen Veränderungen hingewiesen, die sich in den letzten 50 Jahren in der Welt der Wissenschaften vollzogen und auch die psychoanalytische Forschungslandschaft umgepflügt haben. Sie findet heute in weltweiten, interdisziplinären und intergenerationellen Netzwerken statt, wie wir nun anhand einiger der laufenden großen Forschungsprojekte im Grundlagenund Klinischen Bereich am SFI illustrieren möchten. Zudem versuchen wir in all diesen Forschungsprojekten eine Verbindung zwischen klinischer und extraklinischer Forschung, die einer wissenschaftstheoretischen Position entspricht, die die verantwortliche Leiterin des Schwerpunkts »Klinische Forschung«1 und »Grundlagenforschung« (M. Leuzinger-Bohleber) in verschiedenen Publikationen vertreten und der Konzeptualisierung aller laufenden Projekte in diesem Bereich am SFI zugrunde gelegt hat. Daher wird diese wissenschaftstheoretische Position zuerst kurz anhand einer Grafik skizziert und daraufhin anhand der verschiedenen Projekte illustriert.

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Die Stelle des medizinischen Leiters im Direktorium des SFI ist weiterhin nicht besetzt. Prof. Dr. med. Manfred Beutel hat sich bereit erklärt, diese Stelle zu vertreten. Da er die Psychosomatische Abteilung an der Universitätsklinik Mainz leitet und kaum am SFI anwesend sein kann, hat Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber die alltägliche Verantwortung für Forschungsprojekte im Klinischen Bereich übernommen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Klinische und extraklinische Forschung in der Psychoanalyse2 Wir können heute zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen psychoanalytischer Forschung unterscheiden, der klinischen und der extraklinischen Forschung. Unter der klinischen Forschung verstehen wir die genuin psychoanalytische Forschung in der psychoanalytischen Situation selbst. Ulrich Moser bezeichnete sie auch als on-line-Forschung, während die extraklinische Forschung (off-line-Forschung) nach den psychoanalytischen Sitzungen stattfindet und eine Vielzahl verschiedener Forschungsstrategien umfasst, wie gleich noch skizziert werden soll.

Abbildung 1: Klinische und extraklinische Forschung in der Psychoanalyse

Doch zuerst kurz zur klinischen Forschung: Sie findet in der Intimität der psychoanalytischen Situation statt und kann als spiralförmiger Erkenntnisprozess beschrieben werden, in dem – zusammen mit dem Analysanden – idiosynkratische Beobach2 Der folgende Abschnitt ist z. T. der bisher unveröffentlichten Research Lecture entnommen, die Leuzinger-Bohleber im März 2010 im Rahmen der 100-Jahr-Feier der IPA in London gehalten hat.

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tungen unbewusster Fantasien und Konflikte sukzessiv symbolisiert und auf verschiedenen Abstraktionsebenen schließlich in Worte gefasst werden, ein Verstehen, das daraufhin unsere Wahrnehmungsprozesse in folgenden klinischen Situationen unweigerlich prägt, auch wenn wir uns bemühen, in jede neue Sitzung mit der genuin psychoanalytischen Grundhaltung des »Nicht-Wissens« und der Unvoreingenommenheit3 einzutreten. Die Erkenntnisprozesse finden zuerst vor allem unbewusst und im Raum impliziter, privater Theorien statt. Nur ein kleiner Teil davon ist der bewussten Reflexion des Analytikers zugänglich (vgl. Canestri, Bohleber, Denis u. Fonagy, 2006). Die in dieser klinischen Forschung gewonnenen Erkenntnisse werden innerhalb und außerhalb der psychoanalytischen Community kritisch zur Diskussion gestellt. In Übereinstimmung mit vielen heutigen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern ist für mich (M. Leuzinger-Bohleber) die klinische Forschung nach wie vor das Kernstück psychoanalytischer Forschung überhaupt. Sie ist mit einem charakteristischen psychoanalytischen Erfahrungsbegriff und damit verknüpften »Erkenntniswerten« verbunden (vgl. dazu u. a. Toulmin, 1977; Hampe, 2004, 2009). Die klinisch-psychoanalytische Forschung richtet sich auf das Verstehen unbewusster Sinngestalten, von persönlicher und biografischer Einmaligkeit, etwa auf die genaue Analyse des komplexen Ineinanderwirkens verschiedenster Determinanten in den Mikrowelten der Analysanden (Moser, 2009) und kann daher, wie erwähnt, als kritische Hermeneutik charakterisiert werden. Die Professionalität des Analytikers ermöglicht ihm in einer Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit eigene Gegenübertragungsreaktionen, szenische Beobachtungen des »embodied Enactments« des Analysanden (siehe u. a. Argelander, 1967; Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2002; Leuzinger-Bohleber, Henningsen u. Pfeifer, 2008), auftretende Fehlleistungen und Fehlhandlungen, Träume etc. zum sukzessiven Verstehen der aktuali3 Bion (1967) sprach in diesem Zusammenhang von »no memory, no desire«. Britton (2009) reflektierte den Einfluss der Modelle oder beliefsystems auf die klinische Wahrnehmung.

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sierten unbewussten Psychodynamik des Analysanden zu nutzen. Der typisch tastende, psychoanalytische Suchprozess nach »unbewussten Wahrheiten« kann nur zusammen mit dem Analysanden durchlaufen werden und gilt als eines der charakteristischen Merkmale der Psychoanalyse – etwa im Gegensatz zum Top-downVorgehen der Verhaltenstherapie. Wie dies Jonathan Lear (1995) so eindrücklich ausführte, zeichnet sich daher die Psychoanalyse als das demokratischste heutiger Therapieverfahren4 aus. Verbunden damit ist das charakteristische »Wahrheitskriterium« psychoanalytischer Deutungen: Ob eine bestimmte Interpretation unbewusster Fantasien oder Konflikte »wahr« ist, kann nur zusammen mit dem Analysanden, beziehungsweise der gemeinsamen Beobachtung seiner (unbewussten und bewussten) Reaktionen auf eine Deutung beurteilt werden.5 Wir verdanken unserer spezifisch psychoanalytischen, klinisch-empirischen Forschungsmethode, den intensiven und minutiösen »Feldbeobachtungen« mit einzelnen Patienten in der analytischen Situation, den Großteil aller Erkenntnisse, die wir in den letzten 100 Jahren unserer Wissenschaftsgeschichte gewonnen haben – zum Beispiel auch zur Genese und Behandlung chro4

Wie Lebiger-Vogel (2011) diskutiert, beanspruchen auch Verhaltenstherapeuten einen demokratischen Umgang mit dem Patienten, doch ist dies ein völlig anderer »Demokratiebegriff« als ihn Jonathan Lear verwendet. Verhaltenstherapeuten bieten dem Patienten unterschiedliche Behandlungstechniken an, die sich ihrer Einschätzung nach in Studien als erfolgversprechend erwiesen haben. In anderen Worten: Die Therapeuten bestimmen »top-down«, was therapeutisch wirksam ist. Der Patient kann daraufhin »demokratisch« mitbestimmen, welche Techniken zur Anwendung kommen. Lear führt dagegen aus, dass der Analytiker zusammen mit dem Analysanden – in einer Grundhaltung des »Nicht-Wissens«, des »Noch-Nichtverstehens« der spezifischen unbewussten Psychodynamik des Patienten, so quasi auf gleicher Ebene mit ihm, um ein Verständnis von bisher Unbekanntem (Unbewusstem) ringt, eine Voraussetzung für einen therapeutischen Veränderungsprozess. 5 Die Frage nach der »Wahrheit« psychoanalytischer Deutungen kann in diesem Rahmen selbstverständlich nicht umfassend diskutiert, sondern nur erwähnt werden. Sie steht u. a. im Fokus der aktuellen Arbeiten der Project Group of Clincal Observation der International Psychoanalytical Association (s. dazu Leuzinger-Bohleber, im Druck). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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nisch depressiver Patienten. Christina von Braun (2010) sieht zudem in der klinischen Forschung der Psychoanalyse die einzigartige Chance, die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen durch die ubiquitäre Verwertungsmentalität des globalen und »emotionalen Kapitalismus« (Illouz, 2006) im Unbewussten heutiger Menschen in der analytischen Beziehung zu erkennen und einer kritischen Reflexion zu erschließen, die nicht nur für das betroffene Individuum, sondern auch für eine Kulturanalyse hoch relevant sind. Dennoch, damit keine Missverständnisse entstehen: Peter Fonagy hat wohl Recht, wenn er darauf hinweist, dass nicht jeder Kliniker automatisch ein Forscher ist. Eine methodisch systematische Vorgehensweise, die – dank genauer Beschreibungen und einer Transparenz darauf beruhender Überlegungen – klinische Beobachtungen auch dem Verständnis und der Kritik eines Dritten zugänglich macht, ist eine Voraussetzung, dass diese Form des Erkenntnisgewinns nicht nur eine professionelle Kunst, sondern auch eine klinische Wissenschaft ist. Zwar verfügt die Psychoanalyse wie kaum eine andere klinische Disziplin über eine differenziert entwickelte Kultur der Inter- und Supervisionsgruppen, in denen – eng angelehnt an die psychoanalytische Praxis – über den klinischen Forschungs- und Erkenntnisprozess gemeinsam kritisch nachgedacht wird. Doch kann in dieser Hinsicht noch vieles verbessert werden. Viele Probleme sind wohl bekannt, beispielsweise die zufällige Auswahl von klinischen Vignetten, die theoretische Konzepte lediglich illustrieren, statt sie zu verifizieren und kritisch weiterzuentwickeln. Zudem werden oft noch zu wenig psychoanalytische Konzepte mit den Ergebnissen der extraklinischen Forschung kritisch in Verbindung gebracht, worauf weiter unten noch eingegangen wird. Wir brauchen dringend gute klinische Forschung, nicht nur um in der Welt der Psychotherapien zu bestehen, sondern auch um unsere professionelle Behandlungskunst ständig weiter zu entwickeln (vgl. dazu auch Boesky, 2002, 2005; Chiesa, 2005; Colombo u. Michels, 2007; Eagle, 1994; Haynal, 1993; Knoblauch, 2005; Lief, 1992; Mayer, 1996; Leuzinger-Bohleber, 2010a). Dies ist eine der Zielsetzungen der jetzigen IPA-Präsidentschaft von Prof. Hanly, der sowohl ein Project Committee for Clinical Ob© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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servation (Chair : Marina Altmann) als auch ein Clinical Research Committee (Chair : David Taylor) ernannt hat, um die Qualität klinischer Forschung in der IPA zu sichern beziehungsweise zu verbessern. So entwickeln wir beispielsweise in der LAC-Depressionsstudie – ähnlich wie die working parties der EPF oder nun auch der IPA – eine eigene Form der klinischen Forschung: In wöchentlichen »klinischen Konferenzen« besprechen wir die teilweise auf Tonband aufgezeichneten Behandlungen und dokumentieren unsere Diskussionen systematisch. Aufgrund dieser gemeinsamen klinischen Forschung werden durch psychoanalytische Expertenvalidierungen abgestützte, narrative Fallberichte entstehen, die zu den wichtigsten Ergebnissen der LAC-Studie gehören werden. Diese Fallberichte werden psychoanalytische Erkenntnisse zur spezifischen Psychodynamik der chronischen Depression, ihrer komplexen individuellen und kulturellen Determinanten sowie vieler behandlungstechnischer Details in die psychoanalytische und nichtpsychoanalytische Community hineintragen (s. u.).

Psychoanalytische Konzeptforschung Diese eben skizzierten neuen Formen der klinischen Forschung sind immer auch Teil einer psychoanalytischen Konzeptforschung, einem Forschungsfeld, das ebenfalls so alt ist wie die Psychoanalyse selbst. Die kreative Entwicklung und Weiterentwicklung von Konzepten zeichnete schon immer die innovativen Köpfe der Psychoanalyse aus und verleiht bis heute unserer Disziplin eine hohe Attraktivität für Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und Forscher anderer Disziplinen.6 6

Zudem spezialisierten sich seit jeher bestimmte Psychoanalytiker oder Gruppen von Psychoanalytikern auf die Systematisierung und Präzisierung psychoanalytischer Theorien und Konzepte. Wiederum können nur willkürlich einige wenige Beispiele erwähnt werden: Heinz Hartmann und David Rapaport in den 1950er-Jahren; Hans Loewald, Merton Gill und Philipp Holzman, George Klein, Helmut Thomä und Ulrich Moser in der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Eine neue Charakterisierung psychoanalytischer Konzeptforschung legten schließlich Joseph Sandler und Anna Ursula Dreher in den 1990er-Jahren vor und grenzten sie gegen andere Formen der psychoanalytischen Forschung ab. Im Research Subcommittee for Conceptual Research, das der damalige IPAPräsident Daniel Widlöcher 2002 auch mit dem Wunsch initiierte, vermehrt Brücken zwischen den konzeptuellen Traditionen in den verschiedenen IPA-Regionen zu schlagen, versuchten wir die Konzeptforschung in den letzten acht Jahren weiter zu präzisieren und zu differenzieren sowie Qualitätskriterien für diese spezifische Forschung der Psychoanalyse und damit verbundene epistemologische Fragen zu klären7 (vgl. Abb. 1). In der LACDepressionsstudie liegt ein Fokus auf der Konzeptforschung zur Psychodynamik und der Behandlungstechnik chronisch Depressiver. In der gegenwärtigen Administration der IPA wird dieser Faden aufgenommen und mit einer großen Anstrengung verbunden, die bisherigen Konzepte der Psychoanalyse auf neue Debatte um die Theoriekrise der Psychoanalyse in den 1970er- und 1980erJahren; französische Theoretiker wie Jean Laplanche und Jean-Bernard Pontalis in ihrer jahrelangen Arbeit am »Vokabular der Psychoanalyse«; psychoanalytische Teams an der damaligen Hampstead Clinic, der jahrzehntelang Entwicklung des »Hampstead Index« zu einer Vertiefung und Fortentwicklung bestimmter psychoanalytischer Konzepte diente oder ihre Konkurrenten an der Tavistock Clinic, die Kleinianische Ansätze weiter entwickelten und präzisierten. Ähnliche Forschergruppen konstituierten sich natürlich auch in anderen europäischen Ländern (etwa in Italien um Jorge Canestri, in Spanien um Hugo Bleichmar, in Norwegen um Sverre Varvin und Siri Gullestad), in den USA (z. B. in der IPSTAR-Gruppe um Norbert Freedman, Richard Lasky, Marvin Hurvich, Steven Ellman u. a. in NY) und in südamerikanischen Gesellschaften (etwa um Ricardo und Beatriz Leon de Bernardi in Montevideo, Adela Duarte, Abel Fainstein und Susanna Vinocur de Fischbein in Buenos Aires, Paulo D.G. Filho oder um Pablo Jimenez in Santiago de Chile), um nur einige zufällig herauszugreifen. 7 Ich danke den Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Committee mitgearbeitet haben: Folkert Beenen, Rahel Blass, Ricardo Bernardi, Dieter Bürgin, Jorge Canestri, Anna Ursula Dreher, Norbert Freedmann, Alain de Mijolla, Paulo D. G. Filho, Mark Solms, Roger Perron, Mary Target, Susanna Vinocur de Fischbein und Sverre Varvin. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Weise zu integrieren und dadurch der Gefahr einer theoretischen Fragmentierung entgegenzuwirken. Das Project Committee for Conceptual Integration (Chair : Werner Bohleber) widmet sich dieser Aufgabe.8

Extraklinische Forschung Die Ergebnisse sowohl der klinisch-psychoanalytischen als auch der konzeptuellen Forschung können dann zum Gegenstand weiterer extraklinischer Untersuchungen werden (vgl. Abb. 1). Wir unterscheiden empirische, experimentelle und interdisziplinäre Studien. A. Extraklinisch-empirische Studien: Das Beispiel psychoanalytischer Psychotherapieforschung Als Beispiel von extraklinisch-empirischen Studien soll kurz auf 8 Im Rahmen der LAC-Studie beziehen wir uns in der konzeptuellen Forschungsarbeit u. a. auf die Weiterentwicklung des Behandlungsmanuals, das uns David Taylor aus der Tavistock Clinic freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. In einer Art Lehrbuch hat Taylor darin seine jahrzehntelange Arbeit mit depressiven Patienten beschrieben und charakteristische Schwierigkeiten und Probleme in Behandlungen mit diesen Patientengruppen herausgearbeitet. Für uns Kliniker ist es ein Fundus an Erkenntnissen genuin psychoanalytischer, klinischer und konzeptueller Forschung – und alles andere als ein Rezeptbuch. Ein zweiter konzeptueller Beitrag zum psychodynamischen Verständnis von Depressionen legte der spanische Psychoanalytiker Hugo Bleichmar u. a. mit einer Grafik vor, die uns zurzeit dazu dient, die unterschiedlichen Pfade, die schließlich in eine chronische Depression münden, für die einzelnen Patienten nachzuzeichnen und zu diskutieren. So zeigt z. B. ein erster unerwarteter Befund, wie viele kumulativ traumatisierte Patienten in unserer Stichprobe zu finden sind. Von den 33 bisher genauer klinisch untersuchten Patienten wiesen 27 (84 %) solche kumulativen Traumatisierungen auf. Für sie treffen vor allem die Pfade in der Mitte der Grafik zu: traumatic experiences. Viele von ihnen gehören zudem zu einer Gruppe von Patienten, die an einer Affektentleerung leiden und daher, wie Hugo Bleichmar (2010) dies beschreibt, eine spezifische Modifikation der Behandlungstechnik erfordern.

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die psychoanalytische Psychotherapieforschung eingegangen werden, weil sie, wie schon im Einführungskapitel erwähnt, aus politischen und medialen Gründen in der heutigen Wissensgesellschaft unverzichtbar ist, um die Wirksamkeit psychoanalytischer Behandlungen auch nach den Kriterien der evidence based medicine nachzuweisen. Robert S. Wallerstein (2001) verfolgt diese Bemühungen bis zu ihren Anfängen 1917 zurück und definiert verschiedene Generationen von Psychotherapieforschern. Er erwähnt eine Vielzahl vor allem amerikanischer Studien, die ich (M. LeuzingerBohleber) wiederum ohne den Anspruch auf Vollständigkeit noch durch einige europäische ergänze: 1. Generation (1917 – 1968), meist retrospektive Studien, die mit unspezifischen Erfolgskriterien belegten, dass die meisten psychoanalytischen Behandlungen erfolgreich waren (Coriat, 1917; Fenichel, 1930; Jones, 1936; Alexander, 1937; Knight, 1941; Hamburg et al., 1967; Feldman, 1968). 2. Generation (1959 – 1985), in der zwei verschiedene Gruppen von Studien durchgeführt wurden: a) prospektive, aggregierte Vergleiche von verschiedenen, genau definierten Gruppen psychoanalytischer Behandlungen. Diese Studien stützten sich auf anspruchsvollere Forschungsmethoden und operationalisierten beispielsweise die Erfolgskriterien für den erwarteten Therapieerfolg. Auch sie konnten belegen, dass ungefähr 80 % aller Psychoanalysen erfolgreich verliefen (Knapp, Levin, McCarter, Wermer u. Zetzel, 1960; Sashin, Eldred u. van Amerongen, 1975; Bachrach, Weber u. Solomon, 1985; Weber, Bachrach u. Solomon, 1985a, 1985b; Erle, 1979; Erle u. Goldberg, 1984; Grawe u. Meyer, 1994). b) Individuelle Studien, die unter anderem aus einem methodischen Unbehagen entstanden, individuelle Unterschiede zwischen den Patienten nicht durch Gruppenuntersuchungen zu vermischen, sondern die individuelle Betrachtung von einzelnen Behandlungen bei verschiedenen Patienten ins Zentrum zu stellen, wie dies einer psychoanalytischen Vor© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gehensweise entspricht, in der es immer um das Verstehen unbewusster Sinnstrukturen geht. Daher setzten sie zum Beispiel in ihren Interviews auch sorgfältige psychoanalytische Methoden, wie psychoanalytische Katamneseinterviews, ein (Pfeffer, 1959, 1961, 1963; Norman, Blacker, Oremland u. Barrett, 1976; Oremland, Blacker u. Norman, 1975; Schlessinger u. Robbins, 1974, 1975; Schlessinger, 2008; später Katamensestudie am Anna Freud Center von Fonagy u. Target, 1997; DPV-Katamnesestudie von Leuzinger-Bohleber, Stuhr, Rüger u. Beutel, 2001, 2002, 2003). Diese Studien belegten nicht nur die Wirksamkeit psychoanalytischer Therapien, sondern zeigten eine Reihe unerwarteter klinisch interessanter Befunde, beispielsweise, dass sich manche Behandlungen durchaus als wirksam bezüglich der Symptomreduktion der Patienten und anderer Therapieziele erwiesen, diese Patienten aber keinen psychoanalytischen Prozess im eigentlichen Sinne durchlaufen hatten. 3. Generation (1945 – 1986): In diesen systematischen und formalen psychoanalytischen Psychotherapiestudien wurden Ergebnis- und Prozessuntersuchungen kombiniert, das heißt, statistische Vergleiche von Gruppen durchgeführt, aber gleichzeitig mit systematischen Einzelfallstudien verbunden, die zum Beispiel einzelne Patientenschicksale über einen langen Zeitraum hinweg katamnestisch verfolgen (Bachrach, Galatzer-Levy u. Skolnikoff, 1991; Kantrowitz, 1986; Kantrowitz, et al. 1989; Kantrowitz, Katz u. Paolitto, 1990a, 1990b, 1990c; Kantrowitz, Katz, Paolitto, Sashin u. Salomon, 1987a, 1987b). Als exemplarisch für diese 3. Generation der psychoanalytischen Psychotherapieforschung mag das Psychotherapy Research Project der Menninger Foundation gelten, das zu einer Fülle von Erkenntnissen bezüglich der Ergebnisse von Psychoanalysen und supportiven psychoanalytischen Therapien und behandlungstechnischer Details führten. Eindrucksvoll ist etwa die sorgfältige Langzeituntersuchung von 42 Patienten über mehrere Jahrzehnte hinweg, die Wallerstein unter dem eindrucksvollen Titel »Forty-

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Two Lives in Treatment …« publiziert hat (Wallerstein, 1986; Wallerstein, Robbins, Sargent u. Luborsky, 1956). Die heutige, 4. Generation (ab 1970), kombiniert nicht nur Ergebnis- und Prozessforschung, sondern verbindet dank neuer Techniken (Video-/Audio-Aufnahmen) Mikroanalysen therapeutischer Prozesse mit Ergebnisforschung (begonnen schon durch Analysen von Tonbandaufzeichnungen von Earl Zinn, siehe Carmichael, 1956; Wallerstein u. Sampson, 1971; Dahl, Kächele u. Thomä, 1988; Strupp, Schacht u. Henry, 1988; Beenen, 1997; Leuzinger-Bohleber, 1987, 1989; Varvin, 1997; Krause, 1997; Grande, Rudolf u. Oberbracht, 1997; Keller, Westhoff, Dilg, Rohner u. Studt, 2001; Huber, Klug u. von Rad, 1997; Huber, Klug u. von Rad, 2002; Sandell, 1997; Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr u. Beutel, 2002, 2003; Brockmann, Schlüter u. Eckert, 2001; Küchenhoff, 2009; Benecke, Merten u. Krause, 2001; Busch et al., 2001; Busch, Milrod u. Sandberg, 2009; vgl. auch »Open Door Review« von Fonagy, 2002; neuere Studien zur Langzeittherapie vgl. Leichsenring u. Rabung, 2008). In allen Psychotherapiestudien, die wir zurzeit am SFI durchführen, kombinieren wir Ergebnis- mit Prozessforschung und ergänzen sie durch Mikroanalysen von Interaktionssequenzen, die etwa in der LAC-Studie teilweise auf Tonband, teilweise auf Video (OPD-Interviews) aufgenommen werden. Vielleicht ist vor allem Klinikern der IPA zu wenig bekannt, wie viele psychoanalytische Forschergruppen sich zurzeit in extraklinischen Studien engagieren. Fonagy (2010) sprach in einer umfassenden Übersichtsarbeit von weltweiten »PsychotherapieBienenzüchtern« mit ihren eigenen Völkern von fleißigen Arbeitsbienen, die inzwischen die Wirksamkeit psychoanalytischer Kurztherapien vielfach belegt haben (vgl. dazu weitere Übersichtarbeiten, z. B. von Emde u. Fonagy, 1997; Fonagy, 2002; Galatzer-Levy, 1997; Hauser, 2002; Holt, 2003; Jones, 1993; Kächele, Leuzinger-Bohleber, Buchheim u. Thomä, 2006; Kernberg, 2006; Leichsenring u. Rabung, 2008; Perron, 2006; Safran, 2001; Schachter u. Luborsky, 1998; Schlessinger, 2008; Stern, 2008; Wallerstein, 2002). Das neue Research Board der IPA (Chair : © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Peter Fonagy) hat es sich zur Aufgabe gemacht, sowohl die schon abgeschlossenen als auch die noch laufenden Studien umfassend zu dokumentieren. Sorgfältige extraklinische Forschung bedeutet immer einen großen Aufwand, dem nur in einem entsprechend ausgestatteten Forschernetzwerk und mit ständiger Reflexion der damit einhergehenden Abhängigkeiten, auch zwischen den beteiligten Forschergenerationen, nachzukommen ist (vgl. dazu Schilderung der LAC-Studie unten).9 B. Experimentelle psychoanalytische Studien Wie von vielen Autorinnen und Autoren diskutiert, ist es selbstverständlich nicht möglich, psychoanalytische Prozesse direkt in einem experimentellen Design zu prüfen. Doch arbeiten seit Jahrzehnten verschiedene Forschergruppen erfolgreich daran, einzelne psychoanalytische Konzepte, wie beispielsweise zur vorbewussten und unbewussten Informationsverarbeitung im Gedächtnis und Traum, auch experimentell zu überprüfen. Vergleiche dazu unter anderem die Arbeitsgruppe von Shevrin und seiner Forschergruppe (z. B. Shevrin, 2000), Steven Ellman 9

Als Illustration dazu wiederum kurz die LAC-Studie. In dieser multizentrischen Studie reagieren wir auf die Gefahr, dass in Deutschland die Krankenkassen ihre bisherige Finanzierung von Psychoanalysen und psychoanalytischen Langzeitbehandlungen aufkündigen werden, falls es uns nicht gelingt, deren Wirksamkeit – nach den im heutigen Gesundheitswesen geltenden Kriterien in entsprechenden Studien zu belegen. Wir haben deshalb ein Design entwickelt, das einerseits diesen Kriterien entspricht und bisher 320 chronisch depressive Patienten rekrutiert, eine gesellschaftlich relevante Gruppe von Patienten, die aufgrund der großen Rückfallsquote auf alle Formen der Kurztherapien nur in Langzeitbehandlungen eine nachhaltige therapeutische Veränderung erzielen (vgl. dazu auch Kopta, Lueger, Saunders u. Howard, 1999; Puschner, Kraft, Kächele u. Kordy, 2007; Fonagy, 2010). Andererseits versuchen wir gleichzeitig die klinische und konzeptuelle Forschung der Psychoanalyse voranzubringen und eben dadurch die Psychoanalyse als eigenständige, spezifische Forschungsmethode im aktuellen gesundheitspolitischen und öffentlichen Diskurs zwar selbstkritisch, aber authentisch zu vertreten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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und seinen Mitarbeitern in NY (z. B. Ellman u. Antrobus, 1991; Ellman u. Weinstein, 1991; Ellman, 2010), von Wolfgang Leuschner, Stephan Hau und Tamara Fischmann am SFI (Hau, 2009), zum Konzept des embodied memory von Pfeifer und seiner Forschergruppe in Zürich (Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2002; Pfeifer u. Bongard, 2006) sowie die vielen Studien zur mimischen Interaktion mit Hilfe des FACs von Rainer Krause in Saarbrücken (zu frühen Studien vgl. auch Greenberg u. Pearlman, 1975; Sarnoff, 1971; Kline, 1972). In den letzten Jahren hat zudem der Dialog mit den Neurowissenschaften für die Psychoanalyse neue Türen aufgestoßen, wohl ein Grund, warum zum Beispiel in der von Mark Solms neu gegründeten Society for Neuropsychoanalysis und in anderen Institutionen zurzeit eine Fülle experimenteller FmRI- und EEGStudien zu psychoanalytischen Fragestellungen durchgeführt werden, um wiederum nur einige zu nennen: Studien am Anna Freud Center (Peter Fonagy), an der Yale University (Linda Mayes u. a.), an der Columbia University (Brad Peterson, Andrew Gerber, Steven Roose u. a.) oder in Deutschland an der Universität Mainz (Manfred Beutel, Stern u. Silbersweig, 2003), dem Wissenschafts-Hanse-Kollege (Horst Kächele, Anna Buchheim, Manfred Cierpka, Gerhard Roth, Georg Bruns u. a.), der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Heinz Böker u. Georg Northoff) und auch von uns am SFI und vielen anderen Gruppen (vgl. dazu Publikationen in Neuro-Psychoanalysis; Pincus, 2000). Wir selbst führen zurzeit mit einer Subgruppe der Patienten aus der LAC-Studie eine Untersuchung durch, in der wir auch neurobiologische Veränderungen der Patienten während der Langzeitbehandlungen (mit Hilfe von EEG und FmRI) erforschen (vgl. die sogenannte FRED Studie: Fischmann, Russ, Baehr, Stirn, Singer u. Leuzinger-Bohleber, 2010) (vgl. unten). C. Interdisziplinäre Forschung Wenigstens kurz soll erwähnt werden, dass nicht nur der in diesen experimentellen Studien geführte interdisziplinäre Dialog mit den Neurowissenschaften für die Akzeptanz der Psychoanalyse in der heutigen Welt der Wissenschaften entscheidend © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ist, sondern auch der kreative Austausch beispielsweise mit der Bindungsforschung, der empirischen Entwicklungsforschung und der Embodied Cognitive Science. Ebenso wichtig ist auch interdisziplinäre Forschung in Kooperation mit der Psychoanalytischen Sozialpsychologie, wie wir sie in vielen Projekten am SFI im Austausch mit Rolf Haubl durchführen (vgl. Teil IV dieses Bandes und Einführung). Auch der Austausch mit den Literaturund Kulturwissenschaften, der Philosophie, den Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie der Ethnopsychoanalyse sind für die kreative Weiterentwicklung der Psychoanalyse entscheidend. Zudem erfordert es die heutige Politisierung und Medialisierung von Wissenschaft auch von noch so spezialisierten Forschungsprojekten. So müssen zum Beispiel die in der LAC-Studie gewonnenen Erkenntnisse, unter anderem zu nachhaltigen therapeutischen Veränderungen bei chronisch Depressiven, in einen kulturkritischen und interdisziplinären Dialog über die gesellschaftlichen Wurzeln dieser Krankheit gestellt werden, eine Krankheit, die nach den Prognosen der Weltgesundheitsorganisation 2020 die zweithäufigste Volkskrankheit sein wird. Die Psychoanalyse als spezifische Behandlungs- und Forschungsmethode muss sich immer wieder erneut auch anderer gesellschaftlich relevanter Themen annehmen, um die Unverzichtbarkeit ihrer Forschungsergebnisse in der medialen Öffentlichkeit zu kommunizieren. Dies gilt zum Beispiel für die Felder der Frühprävention, ADHS, Migration, Jugendgewalt, Rechtsradikalismus, Nationalismus und Antisemitismus; ebenso für die Wiederkehr von Fundamentalismus, Religion und Gewalt sowie für den kurz- und langfristigen Einfluss neuer Medien oder Technologien auf psychische Entwicklungsprozesse und gegenwärtige zwischenmenschliche und intrapsychische Konflikte. Schließlich werden auch heute noch psychoanalytische Ausbildungskandidaten vor allem durch die Faszination des »Stachels Freuds« (Alfred Lorenzer), durch authentische Begegnungen mit Psychoanalytikern in den Medien, den Universitäten und in der Öffentlichkeit gewonnen, durch Filme, Theaterstücke und Romane, die oft, wie jene von Siri Hustvedt, geradezu als Liebeserklärungen an die Psychoanalyse wirken. Ähnliche öffentli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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che Wertschätzungen erfährt die Psychoanalyse auch von führenden Naturwissenschaftlern, um nur einige zu erwähnen, von Oliver Sacks, Gerald D. Edelman, Antonio Damasio, Stephen Suomi oder Eric Kandel. Die Frage nach den beruflichen Identitätsbildungsprozessen heutiger Studierender der Psychologie, der Medizin und der Geisteswissenschaften war Gegenstand einer der großen Studien am SFI in den letzten Jahren (vgl. Lebiger-Vogel et al., 2009; Barthel et al., 2010; Lebiger-Vogel, 2011).10 10

Anhand dieser multimethodischen Querschnittstudie, dem DPPTProjekt, wurde überprüft, inwieweit sich Entwicklungen bezüglich eines angenommenen gesellschaftlichen Relevanzverlusts der Psychoanalyse in einer studentischen Stichprobe tatsächlich empirisch auffinden lassen. Zudem wurde in Form einer Prototypisierung von Wegen der Entscheidungsfindung dem gegenwärtigen Identifikationspotenzial der kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie und psychoanalytisch begründeter Verfahren nachgegangen. Ausgangspunkt der Untersuchung war somit die Frage, welche Wahrnehmung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen bei Studierenden, die eine psychotherapeutische Ausbildung im Anschluss an ihr jeweiliges Studium absolvieren können, anzutreffen ist und welche Rolle dabei ihren unmittelbaren und mittelbaren Umwelten zukommt. Dieser Fragestellung wurde vor dem Hintergrund des im Einleitungskapitel erwähnten Rückgangs der Psychoanalyse, dies insbesondere universitär, und eines damit einhergehenden Nachwuchsmangels psychoanalytischer Ausbildungsinstitute in Deutschland nachgegangen. Wie erwartet zeigte sich, einhergehend mit einem stark naturwissenschaftlich-evidenzbasierten Wissenschaftsverständnis insbesondere in der Psychologie (aus welcher sich gegenwärtig größtenteils der psychotherapeutische Nachwuchs rekrutiert, vgl. auch Strauß et al., 2009), ein geringes Interesse der Studierenden an einer psychoanalytischen Ausbildung im Anschluss an ihr Studium. Der überwiegende Teil plante dagegen eine verhaltenstherapeutische Ausbildung. Ein wichtiger Einflussfaktor scheint hier zu sein, dass insbesondere in dieser Fachrichtung das disziplinäre Selbstverständnis, u. a. zur Selbstbehauptung gegenüber der lange eher psychodynamisch ausgerichteten Medizin, eng mit der verhaltenstherapeutischen Therapierichtung verwoben ist, was sich auch in der universitären Lehre niederschlägt. Dies scheint in hohem Maße prägend auf die beruflichen Entscheidungen v. a. der Psychologiestudierenden im Zuge ihrer spätadoleszenten Identitätsentwicklung einzuwirken. Neben Studierenden, die eine hohe Identifika© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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In allen der im Folgenden kurz zusammengefassten Forschungsprojekte versuchen wir in dem eben skizzierten Sinne klinische und extraklinische (konzeptuelle, experimentell/empirische und interdisziplinäre) Forschungen miteinander zu verbinden. Wir können in diesem Band nicht alle laufenden Forschungsprojekte darstellen, sondern müssen einige exemplarisch herausgreifen und für eine vollständige Übersicht auf unsere Website verweisen: www.sfi-frankfurt.de.

Klinische und konzeptuelle Forschung Alle heutigen klinischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versuchen in verschiedenen Kontexten ihre Beiträge zur Weiterentwicklung der klinisch-psychoanalytischen Forschung zu leisten. Sie sind alle z. B. an der LAC-Depressionsstudie beteiligt (vgl. unten), in der einer der Schwerpunkte auf der Systematisierung klinisch-psychoanalytischer Forschung bei chronische tion mit dieser Verfahrensrichtung aufweisen, scheint dies auch auf Studierende zuzutreffen, für welche die psychoanalytische Richtung eigentlich identitätskongruentere Inhalte zu bieten hat, die sich allerdings dennoch, auch aufgrund einer wenig differenzierten universitären Vermittlung zu verschiedenen Verfahrensrichtungen, »pragmatisch« für die als kürzer und kostengünstiger geltende verhaltenstherapeutische Verfahrensrichtung entscheiden. Neben einer Relevanz disziplinärer Einflüsse zeigte sich insgesamt unter Studierenden dieser »pragmatischen Generation unter Druck« (Shell, 2006) eine oftmals auch durch persönliche Zukunftsängste motivierte vorwiegend pragmatische Berufswahlorientierung, dies häufig in Richtung des als pragmatisch, effizient und nach EBM-Kriterien effektiv geltenden verhaltenstherapeutischen Ansatzes. Die auf eine subjektive Sinnperspektive und Ergebnisoffenheit in der Behandlung ausgerichtete psychoanalytische Richtung dagegen scheint wohl auch aufgrund gegenwärtiger gesellschaftlicher »Zustände« (Heitmeyer, 2006) auf viele als eher anachronistisch und schwer in persönliche Lebensläufe integrierbar zu wirken, wie die Befunde der Untersuchung nahe legen. So scheinen neben der unmittelbaren Lebens-Umwelt Universität auch, mittelbar, gesamtgesellschaftliche Phänomene auf berufliche Entscheidungen Studierender im psychotherapeutischen Bereich und auf deren Verständnis von »guter Psychotherapie« einzuwirken. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Depressiven liegt. Zurzeit arbeiten die beteiligten Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, in Kooperation mit der eben erwähnten Project Group for Clinical Observation der IPA, an einer Publikation ausführlicher, expertenvalidierter klinischer Einzelfallstudien. Ein wichtiges aktuelles Projekt, die Übersetzung der Werke Sigmund Freuds ins Chinesische, kann als historisch-konzeptuelle Forschung der Psychoanalyse betrachtet werden (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber u. Fischmann, 2006).

Freud Chinese Translation Project (FCTP) Das FCTP (Leitung: Tomas Plänkers, gefördert von der Volkswagen Stiftung) stellt ein Pilotprojekt dar, das anhand der Übersetzung von zwei Bänden der Sigmund Freud Studienausgabe alle Modalitäten einer weiteren chinesischen Übersetzung des Freud-Œuvres entwickeln und erproben will. Der Originaltext der Sigmund-Freud-Werke liegt in Deutsch in zwei Versionen vor: – »Sigmund Freud: Gesammelte Werke« im S. Fischer Verlag in Frankfurt a. M.: 17 Bände, 1 Registerband, 1 Ergänzungsband. Erstveröffentlichung 1952. Der S. Fischer Verlag erhielt die Rechte 1960 von dem Londoner Exilverlag »Imago Publishing Company«. Die ersten 17 Bände sind ohne Kommentarteil, Einführungen und Fußnoten. – »Sigmund Freud Studienausgabe« im S. Fischer Verlag in Frankfurt a. M., 10 Bände, 1 Ergänzungsband, zusammen 4.929 Seiten. Diese Ausgabe enthält einen ausführlichen Kommentarteil in Form von editorischen Vorbemerkungen zu jeder Arbeit sowie Fußnoten und einen Index, basierend auf der englischen »Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud« (24 volumes, ed. by James Strachey et al. The Hogart Press and the Institute of Psychoanalysis, London 1953 – 1974). Innerhalb des deutschen Sprachraums repräsentiert die Studienausgabe den höchsten editorischen Standard. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Seit den 1920er-Jahren wurden einige von Sigmund Freuds (1856 – 1939) grundlegenden Arbeiten zur Psychoanalyse in die chinesische Sprache übersetzt, angefangen mit der Traumdeutung, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Massenpsychologie und Ich-Analyse. Diese Übersetzungen weisen folgende Mängel auf: – Die Übersetzer kommen aus der Psychoanalyse fremden Berufsfeldern. Grundsätzlich wurden ihre Übersetzungen nicht durch professionell erfahrene Psychoanalytiker überprüft. Zentrale Begriffe und Konzepte sind zum Beispiel in unterschiedlicher Weise übersetzt worden. Aus diesen Gründen muss die Korrektheit sowie Angemessenheit dieser Übersetzungen bezweifelt werden. – Die meisten dieser Übersetzungen sind Sekundärübersetzungen aus der englischen Übersetzung (Standard Edition, s. o.) anstelle des deutschen Originals. Die englische Übersetzung Freuds in der Standard Edition stellt eine heute vielfach kritisierte Übersetzung dar, zudem wurden die daraus angefertigten chinesischen Übersetzungen nicht auf ihre Genauigkeit hin überprüft. – Diese Übersetzungen beziehen sich nur auf einen Teil des Freud’schen Œuvres, sie sind neben ihrer fragwürdigen Qualität teilweise verzerrt und unvollständig. – Auch in Taiwan wurden einige chinesische Übersetzungen von Freud-Arbeiten herausgegeben. Gegen diese Übersetzungen müssen die gleichen Einwände wie gegen die Übersetzungen auf dem chinesischen Festland angeführt werden. FCTP steht unter der Schirmherrschaft der Gesundheitsminister aus Deutschland, Österreich und China. Der chinesische Kooperationspartner ist der Verlag Yilin Press in Nanjing. Im Zentrum des 2008 begonnenen Projekts steht das Konzept einer überprüften Übersetzung, das heißt, dass die von Yilin Press jetzt vorgenommenen Freud-Übersetzungen von einem Expertenteam auf allgemeine Übersetzungsgenauigkeit, auf die Übersetzung der professionellen psychoanalytischen Konzepte sowie auf ihren Stil hin durch in Deutschland lebende Experten (Psychoanalytiker, Sinologen) kontrolliert werden. Dieses Konzept © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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soll eine fachlich ausgewiesene und gute wissenschaftliche Qualität der Freud-Übersetzung sicherstellen. Als Teil der China-Projekte des SFI steht das FCTP neben dem aktuell abgeschlossenen Projekt »Zu den psychischen Folgen der chinesischen Kulturrevolution« (gefördert von der Stiftung Psychosomatik; siehe Plänkers, 2010).

Projekte im Bereich der Frühprävention Der Nobelpreisträger Eric Kandel hat in vielen seiner Publikationen die Psychoanalyse leidenschaftlich dazu aufgefordert, durch die Türe zu gehen, die die modernen Neurowissenschaften dank ihrer enormen methodischen Fortschritte für sie aufgestoßen hat (z. B. Kandel, 2005). In der grundlagentheoretischen Begründung, aber auch in einigen konkreten Forschungsprojekten, versuchen wir seinem Rat zu entsprechen (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, 2008; Leuzinger-Bohleber, Röckerath u. Strauss, 2010). Ein Beispiel aus diesem Band: an der Joseph Sandler Research Conference stellte der amerikanische Epigenetiker Stephen Suomi, ein Schüler von Harlow, seine Forschungen mit Rhesusaffen vor. Sein Forschungsteam konnte dank heutiger Forschungsmethoden nachweisen, dass frühe Trennungstraumata einen nachhaltigen Einfluss auf neurobiologische Faktoren bei der Entwicklung von Aggression, Angst und der sozialen Integration besonders bei genetisch vulnerablen Affen ausübte und sogar ihre Überlebenswahrscheinlichkeit wesentlich mitbestimmte. Ohne solche Frühtraumatisierungen kam die problematische genetische Ausstattung nicht zum Tragen. Zudem bestimmten die Frühtraumatisierungen auch den Umgang mit der nächsten Generation. Sie üben daher einen transgenerativen Einfluss aus: Nicht nur die problematische Genausstattung wird vererbt (Suomi untersuchte dies an dem kurzen 5-HHT Allel, das nachgewiesenermaßen Schwächen im Neurotransmittersystem bedingt), sondern auch die Verhaltensweisen der Frühtraumatisierten, die beispielsweise ihr Pflegeverhalten (oft krass vernachlässigend, kaum fürsorglich, aggressiv) bestimmen. Daher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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werden eigene Frühtraumatisierungen durch inadäquates Verhalten an die Nachkommen weitergegeben. Diese Forschungsergebnisse entsprechen jenen klinisch-psychoanalytischer Studien mit traumatisierten Familien, wonach schwere Frühtraumatisierungen nicht nur die psychischen Strukturen und das Urvertrauen bei den Betroffenen selbst zerstören, sondern, meist unerkannt, ihre dunklen Schatten auch auf die nachkommenden Generationen werfen (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, 2010a, 2010b). Beeindruckend war zudem, dass Suomis Forschergruppe zeigte, dass bei den Rhesusaffen die verheerenden Wirkungen der Traumatisierungen teilweise rückgängig zu machen sind, wenn die Trennung zu ihren Müttern aufgehoben werden, beziehungsweise entsprechende mütterliche Ersatztiere die zärtliche und schützende Pflege für sie übernehmen. Trotz aller methodischer Vorsicht sind dies ermutigende Befunde für alle Formen der Therapie und Frühprävention bei Kindern (vgl. Suomis Beitrag in diesem Band). Solche interdisziplinären Befunde motivieren uns heute am SFI in neuer Weise, uns in einer Reihe von Projekten dem Bereich der Frühprävention zu widmen, mit dem Ziel, kreative Entwicklungen und resiliente Fähigkeiten besonders bei gefährdeten Kindern zu fördern beziehungsweise erlittene Traumatisierungen frühzeitig zu lindern. Daher ergriffen wir 2002, zusammen mit dem Göttinger Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Hüther, die Chance, dank der großzügigen Unterstützung durch die Zinkann-Stiftung, eine repräsentative Präventionsstudie zu ADHS zu konzeptualisieren, die sogenannte Frankfurter Präventionsstudie. In das Design der Studie flossen sowohl die Ergebnisse des jahrelangen Dialogs mit den Neurowissenschaften zum Gedächtnis und der frühkindlichen Entwicklung als auch kinderanalytisches und entwicklungspsychologische Wissen ein. Angelika Wolff, die zusammen mit Thomas von Freyberg damals eine Studie zu nicht beschulbaren Jugendlichen publiziert hatte, half, viele Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie zu gewinnen, als Therapeut/innen und Supervisor/innen die Frankfurter Präventionsstudie mitzutragen, die uns in einer für uns © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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neuen Weise aus dem forschenden Elfenbeinturm des SFI hinaus in die Kindertagesstätten in ganz Frankfurt führte.11 – Frühe Prävention von psychosozialer Desintegration, von Gewalt und ADHS war zudem eine Zielsetzung, die für sich selbst sprach und daher auch sogleich die großzügige politische Unterstützung durch die Frankfurter Bürgermeisterin Jutta Ebeling, die Mitarbeiterinnen des städtischen Schulamtes, Frau Berkenfeld und Frau Santifaller, und vieler Erzieherinnen und Erzieher in Frankfurt fand. Auch 14 junge begabte Psychologinnen und Psychologen engagierten sich in der großen Studie, sodass unter der methodisch ausgewiesenen Beratung des Statistikprofessors Bernhard Rüger sowie von Tamara Fischmann und Stephan Hau nachgewiesen werden konnte, dass sowohl die Aggressivität als auch die Ängstlichkeit und die Hyperaktivität (allerdings interessanterweise nur bei Mädchen) bei der Interventionsgruppe verglichen mit der Kontrollgruppe statistisch signifikant abnahm (vgl. Leuzinger-Bohleber, Brandl, Hau, Aulbach, Caruso, Einert, Glindemann, Göppel, Hermann, Hesse, Heumann, Karaca, König, Lendle, Rüger, Schwenk, Staufenberg, Steuber, Uhl, Vogel, Wolff u. Hüther, 2006; Leuzinger-Bohleber, Staufenberg u. Fischmann, 2007; Leuzinger-Bohleber, Fischmann, Göppel, Läzer u. Waldung, 2008; Leuzinger-Bohleber, Canestri u. Target, 2009). Diese wissenschaftlich sorgfältig nachgewiesenen Erfolge des 11 Die Frankfurter Präventionsstudie wurde von einer großen Gruppe von Forschern und Therapeuten getragen: Leitung: Marianne LeuzingerBohleber, Gerald Hüther und Angelika Wolff. Verantwortliche für die Datenerhebung und das Design: Yvonne Brandl, Stephan Hau und Bernhard Rüger. Psychologische und pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter : Lars Aulbach, Betty Caruso, Katrin-Marleen Einert, Oliver Glindemann, Gerlinde Göppel, Paula Hermann, Pawel Hesse, Jantje Heumann, Gamze Karaca, Julia König, Jochen Lendle, Alex Schwenk, Adelheid Staufenberg, Sibylle Steuber, Christiane Uhl, Judith Lebiger-Vogel, Christina Waldung und Lisa Wolff. Zudem engagierten sich Kinder- und Jugendlichentherapeutinnen und -therapeuten des Instituts für Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (IAKJP) als Therapeutinnen und Therapeuten und/oder Supervisorinnen und Supervisoren in der Studie. Wir danken ihnen allen für ihr Engagement und ihre Mitarbeit.

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psychoanalytischen Frühpräventionsprogramms ermöglichten uns die dauerhafte Implementierung im sogenannten STARTHILFE-Projekt.12 Jedes Jahr können sich zehn Kindertagesstätten darum bewerben, über dieses Projekt die wöchentliche Unterstützung durch fortgeschrittene Ausbildungskandidaten der Kinder- und Jugendlichenausbildung sowie regelmäßige Teamsupervision und evtl. Therapien für entsprechende Kinder zu erhalten. Unter der Federführung von Angelika Wolff wird durch dieses Projekt eine nachhaltige Umsetzung des in der Frankfurter Präventionsstudie wissenschaftlich evaluierten Frühpräventionsprogramms ermöglicht. STARTHILFE wird nun im vierten Durchgang erfolgreich durchgeführt. Es besteht die Hoffnung, dass die Stadt Frankfurt das Projekt auch in den nächsten Jahren finanziell unterstützen wird. Diese ersten Präventionsprojekte und ihre empirischen Ergebnisse waren wohl auch einer der Gründe, warum Prof. Hasselhorn das SFI bat, sich am großen Forschungsantrag IDeA (Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk) der LOEWE-Exzellenzinitiative zu beteiligen. Die Durchführung des EVA- und des MaKreKi-Projektes (zusammen mit Prof. Krummheuer, Prof. Vogel u. a.) in dem renommierten interdisziplinären und internationalen Forschernetzwerk ist eine große Herausforderung für das SFI in den kommenden Jahren. Das Projekt13 EVA (Evaluation zweier Frühpräventionspro12 Zurzeit arbeiten folgende Kolleginnen und Kollegen im STARTHILFE-Projekt: Stipendiaten: Sandra Bürskens, Annette Deis-Schiel, Jutta Falkenhain-Pfeil, Silke Gücker-Pons, Sahar Kaschani-Dorff, Olga Kauz, Eltje Müller, Tanja-Maria Müller, Marion Müller Kirchof, Henriette Olsowsky, Sevetlana Radman, Sebastian Schneider, Carmen Stütz, Inka Werner, Julia Wilking, Maria Woinowski, Benjamin Worch, Julia Zotter-Jacobi. Supervisorinnen: Doris von Freyberg-Döpp, Birgit Gaertner, Barbara Heipt-Schädel, Marion Hermann, Beate Kunze, Hans von Lüpke, Barbara Reis, Heike Seuffert, Renate Wiedmann-Tipoweiler. Verantwortliche: Marianne Leuzinger-Bohleber, Heidi Staufenberg, Angelika Wolff. 13 Die EVA-Studie wird von folgenden Forscherinnen und Forschern in Kooperation mit den Studientherapeuten und -supervisoren des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Hessen e. V. (verantwortlich: Angelika Wolff) durchgeführt: Peter St. Ackermann, So-

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gramme) befasst sich mit der Evaluation zweier Frühpräventionsprogramme in Kindertagesstätten. Wie viele Studien aus dem Bereich der empirischen Säuglingsforschung, der Bindungsforschung und der Psychoanalyse belegen, sind tragende emotionale Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensjahren die beste Voraussetzung für eine gelingende psychische, kognitive und psychosoziale Entwicklung einschließlich des Spracherwerbs. Zwar greifen vielfältige Präventionsprogramme diese empirische Befundlage auf und bemühen sich um eine frühe Förderung von Kindern schon im Kindergartenalter. Leider jedoch erreichen diese Angebote nicht alle Familien, da beispielsweise Familien mit Migrationshintergrund oft von diesen Angeboten nicht erfahren. In der EVA-Studie wird daher nun die differentielle Wirksamkeit zweier Präventionsprogramme (FAUSTLOS und FRÜHE SCHRITTE) überprüft, und zwar bei sogenannten »Risikokindern« aus Kindertagesstätten solcher Wohngebiete, in denen sich die Entwicklungschancen beziehungsweise Sozialisationsbedingungen schwierig gestalten können (Häußermann, Kronauer u. Siebel, 2004). Beide Programme haben sich in Untersuchungen an Nichtrisikopopulationen bereits bewährt (Leuzinger-Bohleber, 2009; Schick u. Cierpka, 2006), jedoch steht der empirische Nachweis ihrer Wirksamkeit bei diesen »children at risk« noch aus. Ziel ist es, Kinder, die mit Risikofaktoren, beispielsweise Migrationshintergrund konfrontiert sind, in ihrer sozialen Entwicklung zu fördern und zu unterstützen und so der Entstehung psychischer Belastungen wie Hyperaktivität, Ängstlichkeit oder Aggressivität vorzubeugen. Das psychoanalytische Präventionsangebot FRÜHE SCHRITTE kann durch den verstehenden Zugang zum einzelnen Kind und seiner Familie charakterisiert werden. Kindliches Verhalten wird dabei nicht primär als Fehlverhalten betrachtet, sondern als phia Becke, Tamara Fischmann, Katrin Luise Läzer, Marianne LeuzingerBohleber, Victoria Magmet, Marion Müller Kirchof, Verena Neubert, Hanno Pauly, Nicole Pfenning-Meerkötter, Maria Schreiber, Inga Weber und Mirjam Weisenburger. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Ausdruck eines versteckten (unbewussten), sinnvollen psychischen Geschehens. Daher gilt es zunächst einmal, das »Fehlverhalten« eines Kindes zu entschlüsseln und nicht möglichst schnell zum (zeitweisen) Verschwinden zu bringen. Das Ziel ist, Fehlverhalten nachhaltig zu korrigieren, indem gestörte Entwicklungsprozesse auf den »normalen« Weg (d. h. adaptives, flexibles Verhalten in einer bestimmten kulturellen Umgebung) umgeleitet werden. Neben der 14-täglichen Teamsupervision umfasst FRÜHE SCHRITTE wöchentliche Beratungs- und Fortbildungsangebote für Erzieher/innen und Eltern in den Kindertagesstätten durch erfahrene psychoanalytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten. Darüber hinaus werden Therapieangebote für einzelne Kinder und ihre Familien in den Einrichtungen gemacht. Hier besteht eine enge Kooperation mit dem Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Hessen e. V. Auch die Begleitung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule ist Teil des Präventionsangebots. FAUSTLOS (vgl. u. a. Cierpka u. Schick, 2006) ist ein Curriculum für Erzieher zur Prävention von aggressivem und gewaltbereitem Verhalten bei Kindern. Das Programm basiert auf dem US-amerikanischen Präventionsprogramm SECOND STEP (Committee for Children, 1989/2003). Ziel dieses von der Heidelberger Gruppe um Manfred Cierpka entwickelten Programms ist es, Defiziten in der kindlichen Entwicklung durch Förderung von Empathiefähigkeit, Impulskontrolle und Problemlösefähigkeit schon früh entgegenzuwirken sowie Kompetenzen im Umgang mit Ärger und Wut aufzubauen. In dieser standardisierten, strukturierten Interventionsform werden die Kinder anhand ansprechender Materialien in wöchentlichen, aufeinander aufbauenden Lektionen über die gesamte Kindergartenzeit begleitet. Die beiden Präventionsprojekte werden in je sieben ausgewählten Kindertagesstätten durchgeführt. Insgesamt nehmen 280 Kinder an der EVA-Studie teil. Forschungsmethodisch wird ein sogenanntes clusterrandomisiertes Design (CRCT) realisiert, bei dem die Kindertagesstätten zufällig zu den beiden Interventionsbedingungen zugewiesen werden. Ziel ist es, die Entwicklung der Kinder in einem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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längsschnittlichen Design über einen Zeitraum von zwei Jahren zu drei Messzeitpunkten (Prä nach einem Jahr, Post nach zwei Jahren) zu untersuchen. Dabei werden verschiedene Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren kombiniert, um Veränderungen im (Sozial-)Verhalten der Kinder multiperspektivisch erfassen zu können. Die Ermittlung des Bindungstyps des Kindes und dessen Veränderungen über den Verlauf der Intervention bilden einen inhaltlichen Schwerpunkt des Forschungsprojektes. Dabei kommt ein videobasiertes Geschichtenergänzungsverfahren zum Einsatz (Manchester Child Attachment Story Task; Green, Stanley, Smith u. Goldwyn, 2000).

MaKreKi: Mathematische Kreativität bei Kindern mit »schwierigen Kindheiten«14 In den letzten Jahren wird in verschiedenen Disziplinen, der akademischen Entwicklungspsychologie, der empirischen Bindungsforschung, der Psychoanalyse sowie der Fachdidaktik, vor einem pathologischen Blick auf »children at risk« gewarnt. So zeigen zum Beispiel Biografien berühmter Mathematiker (wie Pascal, Einstein u. a.), dass diese Mathematiker keineswegs eine glückliche Kindheit erlebt hatten, sondern oft vielfältigen Traumatisierungen und Entbehrungen ausgesetzt waren. Half ihnen eine besondere mathematische Begabung diese Traumatisierungen zu bewältigen? Oder waren es, wie es die Resilienzforschung nahe legt, einzelne positive Beziehungserfahrungen, die in diesen »Risikokindern« das Prinzip Hoffnung auf bessere Lebenserfahrungen erhalten oder sogar stimulieren konnten? Gelang es diesen »Risikokindern« schmerzliche oder sogar traumatisierende Erfahrungen mit Hilfe ihrer mathematischen Kreativität zu bewältigen? Diesen Fragen wird im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes MaKreKi nachgegangen. 14

An diesem Projekt sind Prof. Dr. Götz Krummheuer, Prof. Dr. Rose Vogel, Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber (Projektleitung), Anna Hümmer, Marion Müller Kirchof (bis 2011) und Verena Neubert (ab 2011) beteiligt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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MaKreKi ist eine Kooperationsstudie zwischen den Studien EVA (Evaluation von zwei Präventionsprogrammen in Kindertagesstätten) und erStMaL (early Steps in Mathematics Learning) des IDeA-Zentrums der LOEWE-Initiative. Im Projekt MaKreKi wird eine Verknüpfung zwischen den genannten beiden Studien vorgenommen, um den Zusammenhang zwischen mathematischer Kreativität bei Kinder einerseits und schwierigen Kindheitsbedingungen andererseits zu erforschen. Die Studie konzentriert sich dabei auf die Darlegung grundlegender theoretischer Überlegungen aus der interpretativen Unterrichtsforschung (Jungwirth u. Krummheuer, 2006) die sich mit »Bedingungen der Möglichkeit des Mathematiklernens in der sozialen Interaktion« (Krummheuer, 2008, S. 7) beschäftigt, der Kreativitätsforschung (Sternberg u. Lubart, 1999) und der empirischen Bindungsforschung (Leuzinger-Bohleber, 2009; Fonagy u. Target, 2004). Teile der Instrumente der beiden Ausgangsstudien werden zur Untersuchung der Fragestellung von MaKreKi verwendet: Die Studie erStMaL beschäftigt sich unter longitudinaler Perspektive mit der mathematischen Denkentwicklung von Kindern im Kindergartenalter und im Übergang zur Schule. Dabei ist der Zusammenhang zwischen ethnischem Hintergrund, Beeinträchtigungen in der kindlichen Sprachentwicklung einerseits und der mathematischen Konzeptentwicklung in unterschiedlichen mathematischen Bereichen (Geometrie, Zahlen und Operation, Umgang mit Daten, Zufall und Mustern sowie Messen) andererseits von Bedeutung. In der Studie EVA geht es um eine vergleichende Evaluation zweier Frühpräventionsprojekte, FRÜHE SCHRITTE und FAUSTLOS, in Frankfurter Kindertagesstätten in Stadtteilen mit verdichteter sozialer Problemlage (vgl. oben). In MaKreKi werden aufgrund eines Screenings jene Kinder eruiert, die über eine große mathematische Kreativität verfügen. Sie werden mit Instrumenten der erStMaL- sowie der EVA-Studie untersucht und, wenn möglich, sechs Jahre lang begleitet.

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ERSTE SCHRITTE Im Sommer 2010 haben wir, ebenfalls in enger Zusammenarbeit mit dem Analytischen Institut für Kinder- und JugendlichenPsychotherapie (Federführung: Claudia Burkhardt-Mußmann), und dem IDeA-Zentrum ein weiteres Projekt begonnen. Im Projekt ERSTE SCHRITTE15 begleiten wir schwangere Migrantinnen der ersten Generation in den nun obligatorischen Integrationskursen und bauen zu ihnen eine tragende Beziehung auf, sodass wir sie in der kritischen Phase nach der Geburt aufsuchen können und ihnen professionell helfen, die Beziehung zu ihrem Baby in der fremden Kultur aufzubauen und die begonnenen Beziehungen zu anderen Migrantinnen und Deutschen in den Integrationskursen wieder aufzunehmen, statt, wie dies oft der Fall ist, die Teilnahme abzubrechen und sich in sogenannte »Parallelgesellschaften« zurückzuziehen, das heißt, primär Kontakte zu ihrer Herkunftskultur zu pflegen. In der Phase der bevorstehenden oder jungen Elternschaft sind Mütter und auch Väter, die sonst ein eher geringes Interesse an einer Integration in die deutsche Gesellschaft haben oder denen eine solche Schwierigkeiten bereitet, besonders offen für Maßnahmen, die ihren Kindern nutzen könnten. Unser Projekt baut auf diesem frühen intrinsischen Interesse auf. Dabei nutzt es die Einbindung der Mütter in die Integrationskurse als verbindliche und Kontinuität schaffende Struktur. Auch regelmäßige Gruppenangebote des Projekts sind so gestaltet, dass sie dem sozialen Rückzug nachhaltig entgegenwirken. Sie sind auf die spezifischen Bedürfnisse von Müttern/Vätern mit Kleinkindern abgestimmt und beginnen, wie erwähnt, mit der Kontaktaufnahme durch Projektmitarbeiter/innen während der Schwangerschaft. In den folgenden drei Jahren werden dann die Babys, beziehungsweise Kleinkinder und ihre Familien, dem Entwicklungsstand entsprechend, in Gruppen sowie in Form von Hausbesuchen be15

Die Mitarbeiterinnen des ERSTE SCHRITTE Projekts sind: Munise Agca, Claudia Burkhardt-Mußmann, Nasim Ghaiffari, Liz Holland, Judith Lebiger-Vogel, Marianne Leuzinger-Bohleber, Sybille Stock und Angelika Wolff (statistischer Consultant: Bernhard Rüger). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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treut, begleitet und gefördert. Es handelt sich somit um eine Kombination einer Komm- und einer Geh-Struktur (vgl. BAMF, 2009), was sich im Frühpräventionsprogramm »Early Head Start« in den USA als besonders wirksam erwies (Raikes u. Emde, 2006). Von analogen Erfahrungen berichten die Autoren des großen EPPE (The Effective Pre-School and Primary Education)Projekt in England (vgl. u. a. Sylva, Melhuish, Ammons, SirajBatchford u. Taggart, 2010). In diesem Modellprojekt geht es daher um den Versuch einer Frühintegration, ebenfalls ein zentrales Problem der heutigen multikulturellen und von Fragmentierung und Gewalt bedrohten Gesellschaft. Kinder mit Migrationshintergrund sind in unseren Bildungsinstitutionen besonders benachteiligt. Junge Menschen mit Migrationshintergrund erhalten sehr viel seltener einen Ausbildungsplatz. 14 % weisen keinen allgemeinen Schulabschluss auf. Für die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund in die deutsche Gesellschaft gibt es zahlreiche Modelle und Projekte, die meist beim Erlernen der deutschen Sprache ansetzen (vgl. BAMF, 2009). Systematische Integrationsprojekte, die die Optimierung der ersten Umwelt- und Beziehungserfahrungen von Kleinkindern mit Migrationshintergrund zum Ziel haben und die methodisch anspruchsvolle Designs aufweisen, gibt es in Deutschland dagegen bisher kaum. Um die kurzfristigen und nachhaltigen Wirkungen des Frühpräventionsangebots empirisch zu überprüfen, wurden die Integrationskurse in diesem Projekt in den beteiligten Institutionen in einem cluster-randomized Design zufällig einer Interventions- beziehungsweise Kontrollgruppe zugeordnet. Es wurde ein multiperspektivisches methodisches Vorgehen gewählt. Neurobiologische, epigenetische und Forschungsergebnisse der empirischen, psychoanalytischen Säuglings- und Bindungsforschung stimmen darin überein, dass die ersten Umwelt- und Beziehungserfahrungen einen entscheidenden Einfluss auf die spätere kognitive, affektive, sprachliche und soziale Entwicklung ausüben. So sind Kleinkinder, die in einem positiven und emotional sicheren Umfeld aufwachsen, kreativer, zeigen weniger destruktive Aggressivität und entwickeln sich sprachlich und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sozial besser. Es ist daher davon auszugehen, dass Hilfestellungen, die bei frühen Beziehungserfahrungen ansetzen, die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund nachhaltig verbessern. In zahlreichen Studien hat sich gezeigt, dass die Empathie – das Einfühlungsvermögen – der Eltern bei der Entwicklung der Bindung die wichtigste Variable darstellt. Empathie ist eine Fähigkeit, die bei den meisten Eltern vorhanden ist, sich allerdings als störanfällig erweist: Krankheiten, Stress, aber auch das Gefühl des Alleingelassenseins und der Isolation, wie es im Zusammenhang mit Migration oft auftritt, können diese Fähigkeit beeinträchtigen. Migration kann eine belastende Erfahrung sein, besonders im vulnerablen Zustand kurz nach einer Geburt, auch weil eine unterstützende Umgebung, zum Beispiel der Eltern aus dem Herkunftsland für die junge Familie oftmals fehlt. Die Gefahr eines depressiven Rückzugs ist daher in dieser Situation recht groß. Daher gehört es zu den Zielen des Projektes, die Empathie der Eltern mit Migrationshintergrund systematisch zu stützen und zu fördern. Dabei wird besonderes Gewicht darauf gelegt, mögliche Loyalitäts- und Identitätskonflikte zwischen Ursprungskultur und Gastland zu berücksichtigen. Im Schwerpunkt »Frühprävention« verbinden wir daher unser spezifisch psychoanalytisches Wissen mit methodisch anspruchsvollen Studiendesigns, die wir in interdisziplinären und internationalen Kooperationen durchführen, und einem gesellschaftlich relevanten Engagement, das auch Politiker, Geldgeber, Journalisten und eine breitere Öffentlichkeit überzeugen kann, denn wir alle wissen, dass in unserer pluralistischen Einwanderungsgesellschaft unsere Zukunft auch in den Händen dieser Kinder liegt und ihre gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten diesem Umstand leider noch nicht in ausreichendem Maße Rechnung tragen, wie unter anderem die PISA-Ergebnisse nahe legen. Die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund ist zu einer der dringlichsten gesellschaftlichen Aufgaben geworden. Glauben wir den demografischen Prognosen, wird bereits in 20 Jahren die Mehrzahl der Erwachsenen hier in Deutschland einen Migrationshintergrund haben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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EU-Projekt zur Bioethikdebatte Analoges kennzeichnete das große EU-Projekt Ethical Dilemma due to Prenatal and Genetic Diagnostik, das mit einer Förderungssumme von 1.200.000 Euro das SFI aus der einleitend erwähnten Krise hinausführte.16 In diesem Projekt wurde 2005 ein noch weitgehend gesellschaftlich tabuisiertes Thema aufgegriffen, die Chance, aber auch die Not, dank den enormen Fortschritten der biomedizinischen Technik im Bereich der Pränataldiagnostik über Leben und Tod eines eigenen, vielleicht behinderten Kindes entscheiden zu müssen, eine Entscheidung, die von vielen Betroffenen nicht nur als Überforderung, sondern sogar als eine traumatisierende Situation erlebt wird. Das Ausleuchten der unbewussten Dimensionen, die in dieser existenziellen Lebenssituation unweigerlich mobilisiert werden, fällt in den Bereich genuin psychoanalytischer Professionalität. Frauen und Männern in oder nach ihrer Entscheidungssituation zu einem inneren Raum zu verhelfen, mit den aktualisierten unbewussten Fantasien und Konflikten in Dialog zu treten, um nicht – unerkannt – von ihnen überflutet und nachhaltig psychisch beeinträchtigt zu werden, ist ein typisches Anliegen unserer Berufsgruppe. Gleichzeitig sind wir aber bei einer möglichst umfassenden Analyse der Komplexität im Umgang mit pränataler und genetischer Diagnostik auf den interdisziplinären Dialog mit medizinischen und ethischen Experten angewiesen: Psychoanalytiker sind weder Experten in Moral und Ethik noch im praktischen Umgang mit den neuen medizinischen Techniken. Nur ein Zusammenbringen des Expertenwissens aus den ver16 Am EU-Projekt waren Teams aus Deutschland, England, Italien, Griechenland, Litauen und Schweden beteiligt. Am SFI waren dies folgende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler : Marianne Leuzinger-Bohleber (Koordinatorin des Projektes), PD Dr. Tamara Fischmann hat sich im Rahmen dieses Projektes habilitiert. Dipl.-Psych. Nicole Pfenning-Meerkötter nahm das Projekt zum Ausgangspunkt, um über psychoanalytische Forschung in der heutigen Wissensgesellschaft zu promovieren. Dr. Katrin Luise Läzer hat ihre psychologische Diplomarbeit im Rahmen dieser Studie geschrieben.

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schiedenen Disziplinen, wie es uns in dem EU-Projekt möglich war, erhöht die Chance einer adäquaten Analyse der Ambivalenzen des medizinischen Fortschritts in diesem Gebiet sowie eines differenzierten Umgangs damit im persönlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Bereich. Wir freuen uns sehr, dass wir das 2008 abgeschlossene EUProjekt als Modellprojekt der Hessischen Ärztekammer zusammen mit Prof. Merz vom Nordwestkrankenhaus weiterführen und dadurch das SFI in neuer Weise in Kontakt mit der Welt der Medizin bringen können (vgl. dazu Pfenning-Meerkötter, im Druck; Fischmann, im Druck).

Projekte zur Qualitätssicherung im Bereich psychoanalytischer Psychotherapie Ein weiterer Forschungsschwerpunkt erweist sich als unverzichtbar für ein heutiges psychoanalytisches Forschungsinstitut: die vergleichende Therapieforschung. Selbstverständlich muss sich das SFI in das politische Ringen um eine möglichst qualifizierte und kostengünstige psychotherapeutische Versorgung unserer Bevölkerung einbringen. Daher engagieren wir uns in politischen Gremien wie dem Wissenschaftlichen Beirat der VAKJP, dem Forschungsgutachten Psychotherapie und den entsprechenden nationalen und internationalen Gremien. So ist es eine große Chance, dass wir sowohl im Bereich der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie als auch in der Behandlung von erwachsenen, chronisch depressiven Patienten international erste und viel beachtete vergleichende Therapiewirksamkeitsstudien durchführen können. In beiden Studien vergleichen wir, in international innovativer Weise, psychoanalytische mit kognitiv-behavioralen/medikamentösen Behandlungen. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung möglichst adäquater Psychotherapien bei zwei Störungsbildern, die, wie individuelles psychisches Leiden immer, unserer Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorhalten. Entsprechend leiden erwachsene, chronisch depressive Patienten meist nicht nur an ihrer eigenen, von schweren Traumati© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sierungen geprägten Lebensgeschichte, sondern auch an ihrer Unfähigkeit, mit der extremen Beschleunigung und Anforderungen der heutigen Arbeitswelt sowie dem »gemeinen Unglück« (Freud) des heutigen Liebeslebens zurechtzukommen: Sie fliehen unbewusst in die entschleunigte Welt der Depression, eine Krankheit von Schuld und Scham, von Verlust an Lebenssinn und kreativer Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. a) Therapievergleichsstudie zu psychoanalytischen verglichen mit kognitiv-behavioralen / medikamentösen Behandlungen von hyperaktiven Kindern17 Im »Störungsbild« des sogenannten ADHS weisen uns Kinder nicht nur auf eventuelle Probleme mit ihrem Neurotransmittersystem hin, sondern gleichzeitig auch auf ihr ganz individuelles Leiden an einer sich verändernden, »verschwindenden« Kindheit, an extrem gestiegenen Leistungsanforderungen, mangelnden Spielräumen für kreative Fantasietätigkeit und motorische Erkundungen der Umwelt oder aber ihr Leiden an Frühverwahrlosungen, bedingt durch das Zusammenbrechen familiärer Strukturen, von Wertesystemen und Orientierungen, fehlenden Vätern oder depressiven, entwurzelten oder sonst wie traumatisierten Müttern sowie verschiedenen Formen des psychischen und körperlichen Missbrauchs (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, Fischmann, Göppel, Läzer u. Waldung, 2008; Leuzinger-Bohleber, im Druck; Läzer, Gaertner, Brand u. Leuzinger-Bohleber, 2009; Läzer, Neubert u. Leuzinger-Bohleber, 2010). Die Frankfurter ADHS-Wirksamkeitsstudie folgt einem naturalistischen Design und legt gezielt das Augenmerk auf die 17

Die Studie wird von folgenden Forscherinnen und Forschern in Kooperation mit den Studientherapeuten des Instituts für analytische Kinderund Jugendlichen-Psychotherapie in Hessen e.V. durchgeführt. SFI: Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Dr. Katrin Luise Läzer, Dipl.-Psych. Inka Werner und Dipl.-Soz. Päd. Mirjam Weisenburger. Fachhochschule Frankfurt am Main: Prof. Dr. Birgit Gaertner, Dipl.-Päd. Inken SeifertKarb. Abteilung für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie der Asklepios Klinik Hamburg Harburg: Dr. med. Emil Branik. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Goethe-Universität Frankfurt a. M.: PD Dr. Christina Stadler. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Praxis der Behandlung von sogenannten »ADHS-Kindern« in unterschiedlichen therapeutischen Settings und vergleicht psychoanalytische Langzeittherapien mit verhaltenstherapeutischen Behandlungen (mit der Option zur Medikation) sowie mit einer niederfrequenten kinderpsychiatrischen Behandlung (treatment as usual) und einer unbehandelten Kontrollgruppe. Im Studiendesign spielt die Forschungsdiagnostik eine zentrale Rolle, da sie sich von der im jeweiligen therapeutischen Feld gängigen Diagnostik abheben und eine einheitliche, objektive und reliable Messung gewährleisten muss, die wir unter Anwendung des multiperspektivisch orientierten Diagnostiksystems für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter (DISYPS-KJ) von Döpfner und Lehmkuhl (2000) verwirklicht sehen. Diese Eingangsdiagnostik stellt die Basis für die Untersuchung der Wirksamkeit der verschiedenen Behandlungskonzepte dar, wobei sich unsere Aufmerksamkeit nicht in einem PräPost-Vergleich erschöpft, sondern sich auch auf die katamnestischen Untersuchungen richtet. Von diesen Katamnesen erwarten wir, dass sie die psychoanalytischen Langzeittherapien als wirksame Behandlungen bei sechs- bis zwölfjährigen Kindern mit den ICD-10-Diagnosen F90.0, F90.1 und F91.3 unter Beweis stellen. Als ein erstes Ergebnis der Forschungsdiagnostik konnten wir feststellen, dass nur ein sehr geringer Teil der Kinder, denen ein ADHS seitens der Eltern oder der Lehrer nahe gelegt wurde und die mit dem Verdacht auf ADHS bei niedergelassenen Kinderpsychotherapeuten oder in der Klinik vorgestellt wurden, tatsächlich auch die Diagnose ADHS erhielten. Dies kann für die Praxis folgendes bedeuten: Viele der gesehenen Kinder zeigten Symptome, die mindestens in einem Lebensbereich deskriptiv mit den Kernsymptomen des ADHS übereinstimmen. Jedoch konnten wir bisher aus unserem klinischen Blick sowohl bei den Kindern, die den Forschungsdiagnosekriterien entsprechen, als auch bei den Kindern, die eine sogenannte ADHS-Problematik aufweisen, keine Hinweise auf eine einheitliche Ätiologie finden, die das ADH-Syndrom als ein einheitliches klinisches Bild rechtfertigen würde. Für die Praxis der Psychotherapie stellt sich

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vielmehr die Frage, was sich hinter der deskriptiven, ICD-10basierten ADHS-Diagnose tatsächlich klinisch verbirgt. Hier setzt der zweite Teil unserer Forschung an. Neben der psychometrischen Forschung sind wir in unserer naturalistischen Studie bestrebt, die Fäden der idiosynkratischen Lebensgeschichte und Konfliktdynamik eines jeden Kindes aufzunehmen und in einer klinisch begründeten Falltypologie zu bündeln. Die hier zum Tragen kommenden Methoden sind qualitativ ausgerichtet und orientieren sich an der Innenwelt des Kindes, der wir uns mit projektiven Verfahren wie dem Schwarzfuß-Test nach Corman (2007), in der Beobachtung und in den Elterngesprächen sowie in validierenden Gesprächen mit den psychoanalytischen Therapeuten versuchen anzunähern und in der psychoanalytischen Forschergruppe reflektieren. b) Die LAC-Depressionsstudie: Zur Wirksamkeit psychoanalytischer verglichen mit kognitiv-behavioraler Langzeitbehandlungen bei chronisch Depressiven18 Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation leiden weltweit mehr als 300 Millionen Menschen an Depressionen, in zehn Jahren wird die Depression nach den Prognosen der WHO die 18

Die LAC-Studie ist eine große multizentrische Studie, an der folgende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt sind: Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt a. M.: Prof. Dr. M. Leuzinger-Bohleber, PD Dr. med. U. Bahrke, Dipl.-Psych. N. Pfenning-Meerkötter, Dipl.Psych. A. Negele, cand. psych. L. Kallenbach, Dr. phil. H. WestenbergerBreuer, Dipl.-Psych. I. Göbel-Ahnert, Dipl.-Psych. A. Ramshorn-Privitera, Dipl.-Psych. R. Maccarrone-Erhardt, Dipl.-Psych. C. Sturmfels. Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz: Prof. Dr. M. Beutel, J. Edinger, Dr. rer. nat. A. Haselbacher. Universitätsklinik Eppendorf Hamburg: Dipl.-Psych. G. Fiedler, PD Dr. R. Lindner u. a. Universitätsklinik Benjamin Franklin und Kliniken im Theodor-Wentzel-Werk, Berlin: Dr. med. Wolfram Keller, Dr. S. Staehle, Dipl.-Psych. K. Reindl u. a. Unabhängiges Methodenzentrum: Universität München: Prof. Dr. Bernhard Rüger, cand. psych. B. El-Komboz. Universität Tübingen: Prof. Dr. M. Hautzinger. Bis 2010 haben weiterhin mitgearbeitet: Prof. Dr. H. Deserno, Prof. Dr. U. Stuhr, Dipl.-Psych. A. Will, Dipl.Psych. H. Prestele. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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zweithäufigste Volkskrankheit sein (WHO, 2011). Für ihre psychiatrisch-psychopharmakologische und psychotherapeutische Behandlung stehen einerseits moderne, wirksame Verfahren zur Verfügung. Andererseits haben depressive Patienten eine Tendenz zur Wiedererkrankung: Etwa 50 % chronifizieren, mehr als 20 % reagieren nicht auf antidepressive Medikation (Hautzinger, 2010). Viele von ihnen leben sehr lang mit Depressionen, bevor diese als solche erkannt und entsprechend behandelt werden. Schweres seelisches Leid für die Betroffenen und ihre Angehörigen sowie große (nicht abschätzbare) Kosten für die Gesellschaft (z. B. durch Arbeitsunfähigkeit) sind die Folgen. Welcher depressive Patient mit welchen Erkrankungshintergründen und -auswirkungen von welchem Behandlungsverfahren am meisten profitiert, ist bisher noch wenig untersucht. Um diese Frage zu untersuchen, führt das Sigmund-Freud-Institut in Kooperation mit anderen universitären und klinischen Einrichtungen eine umfangreiche, prospektive Therapievergleichsstudie durch, die sogenannte LAC-Depressionsstudie. Hierbei werden psychoanalytische und kognitiv-behaviorale Psychotherapien der Regelversorgung verglichen, um deren kurz- und langfristige Effekte sowie deren Stabilität auch über die Behandlung hinaus zu erfassen. Das Forschungsdesign sieht vor, chronisch depressive Patienten in Langzeitbehandlungen über einen Zeitraum von drei Jahren in jährlichen Abständen zu untersuchen. Die Zuweisung der Patienten zu einer der beiden Therapieformen erfolgt nach Präferenz oder Randomisierung. Somit kann auch überprüft werden, inwieweit die Ergebnisse der Behandlungen randomisierter Studienpatienten denen gegenüber vergleichbar ausfallen, die eine Behandlungsform präferieren. Bisher sind 340 Patienten in die Studie eingeschlossen worden. Wie andere Forschungsprojekte am Sigmund-Freud-Institut auch zeichnet sich die LAC-Studie durch eine multiperspektivische Annäherung an das individuelle Leiden der Patienten aus. Hierbei kommen verschiedene Messinstrumente zum Einsatz, die sowohl der psychiatrischen (wie SKID-I und SKID-II) als auch der psychoanalytischen Diagnostik entstammen. Einen Schwerpunkt bildet die sogenannte Operationalisierte Psycho© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dynamische Diagnostik (OPD), die Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur beziehungsweise zentraler Konfliktthemen der Patienten über den Verlauf der psychoanalytischen beziehungsweise verhaltenstherapeutischen Behandlung erfasst. Neben der subjektiven Einschätzung der Patienten werden auch objektive Krankheitsdaten abgefragt, zum Beispiel die Dauer von Krankenhausaufenthalten, die Anzahl von Fehltagen am Arbeitsplatz etc. Dies wird ergänzt durch psychoanalytische Konzeptforschung, bei der die beteiligten Studientherapeuten im Rahmen regelmäßiger klinischer Konferenzen ihre Erkenntnisse zur Psychodynamik und Behandlungstechnik der chronischen Depression zusammentragen, ganz im Sinne der Freud’schen Junktim-Forschung (vgl. auch Leuzinger-Bohleber et al., 2010). In beiden Studien wird also versucht, in komplexen Netzwerken individualpsychologische und kulturkritische Analysen sowie klinisch-psychoanalytische mit extraklinisch-psychoanalytischen und interdisziplinären Vorgehensweisen zu verbinden (Leuzinger-Bohleber et al., 2010). c) Die FRED-Studie Dank der Unterstützung der Hope for Depression Foundation ist es 2008 gelungen, die Tradition der experimentellen Schlaf- und Traumforschung, wie sie jahrelang am SFI in den 1990er-Jahren von Wolfgang Leuschner, Stephan Hau und Tamara Fischmann im Schlaflabor durchgeführt wurde, sowohl mit der Untersuchung der hyperaktiven Kinder in der Therapiewirksamkeitsstudie als auch der chronisch depressiven Patienten in der LACDepressionsstudie zu verbinden. Dass Prof. Wolf Singer und Prof. Aglaia Stirn uns, das heißt vor allem Dr. Michael Russ, den Zugang zum fMRI im Imaging Center for Brain Research geöffnet haben, um die Hanse-Neuropsychoanalysestudie in Frankfurt zu replizieren, erweist sich als ausgesprochener Glücksfall (vgl. dazu u. a. Fischmann, Russ, Baehr, Stirn, Singer u. LeuzingerBohleber, 2010). Das Hauptaugenmerk der Frankfurter fMRI/EEG-Depressions-Studie (FRED) ist auf die Auswirkung von medizinischen oder psychotherapeutischen Interventionen auf die Funktionsweise des Gehirns gerichtet. Wir als Psychoanalytiker bedienen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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uns hier den neuen Methoden der bildgebenden Verfahren, um nachhaltige Ergebnisse dieser Behandlungen auch neurobiologisch nachzuweisen. Um dies zu verwirklichen, rekrutieren wir Patienten aus der internationalen Psychotherapievergleichsstudie chronisch Depressiver (LAC; s. o.) für eine Untersuchung möglicher Veränderungen in Hirnfunktionen mittels fMRI und EEG. Neben den neurobiologischen Veränderungen erfasst FRED auch die Veränderungen des Schlafes, der Träume und zentraler Beziehungskonflikte chronisch depressiver Patienten im Verlauf ihrer Psychotherapie. Depression und Schlafstörungen korrelieren hoch miteinander (vgl. Perlis, Giles, Buysse, Tu u. Kupfer, 1997; Ford u. Kamerow, 1989; Eaton, Badawi u. Melton, 1995; Weissman, Greenwald, Nino-Murcia u. Dement, 1997), weshalb der Veränderung der Schlafeffizienz im Verlauf einer Psychotherapie im Rahmen von FRED besonderes Augenmerk gewidmet wird. Die Schlafeffizienz inklusive REM-Latenz, REMDichte, Schlafkontinuität wird mit Hilfe des EEGs im Schlaflabor des SFI erfasst. Für die Analyse von Trauminhalten werden zum einen REM-Träume während Schlafnächte im Schlaflabor erhoben und vor Beginn der Therapie ein signifikanter (häufig wiederkehrender) Traum der letzten zwei Jahre erfasst. Die zentralen Beziehungskonflikte, verinnerlichte problematische Beziehungsmuster, die meist Derivate von Beziehungserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen der frühen Kindheit sind, werden zu Beginn der Therapie im Rahmen der LAC-Studien-Diagnostik durch ein OPD-Interview (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik [OPD]) erhoben. Aus diesem Interview werden je vier individuelle Sätze extrahiert, die zum einen ein dysfunktionales und zum anderen ein funktionales Beziehungsmuster der Patienten widerspiegeln. Diese je vier Sätze dienen als Stimulus für die fMRI-Untersuchung und werden in einer zufälligen Reihenfolge mit Stimulussätzen einer affektiven Situation während einer Verkehrsszene gemischt dem Patienten im fMRI-Scanner präsentiert, wobei gleichzeitig die Hirnaktivität registriert wird. Ferner werden die Patienten auch mit Wörtern aus ihrem signifikanten Traum im fMRI-Scanner stimuliert. Diese Stimulation wird verglichen mit einer Stimulation durch emotional © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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neutrale Wörter, um so feststellen zu können, ob und welche unterschiedlichen Hirnaktivitäten während einer Traumerinnerung auftreten, die ja häufig einen Versuch darstellen, konflikthafte Themen zu verarbeiten. Eine Veränderung hier im Verlauf der Therapie könnte Hinweise für einen Therapiefortschritt liefern (vgl. hierzu Leuzinger-Bohleber, 1987, 1989). Somit ist FRED bestrebt, die seelischen und neurobiologischen Prozesse im Gehirn, die untrennbar miteinander verbunden sind, zu beleuchten und für einen Psychotherapieverlauf relevante Erkenntnisse zu gewinnen.

Projekte im Bereich der Shoah-Forschung Aus den Einführungsbeiträgen zur Geschichte des SFI in diesem Band geht hervor, wie sehr diese Institution historisch mit den Folgen des Nationalsozialismus auf das Nachkriegsdeutschland verbunden war und ist. Daher bildete die klinische, psychoanalytische Traumaforschung schon immer einen Schwerpunkt am SFI. In den 1990er-Jahren widmete sich darüber hinaus eine der ersten Gruppen von systematischen Konzeptforschern unter der Leitung von Joseph Sandler dem Thema »Trauma«. Daher wurde 2003 der Anfrage, dem Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrum Frankfurt am Main für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Räume im Gebäude des SFI zu vermieten, nicht nur aus pragmatischen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen entsprochen: Die Arbeit mit traumatisierten, jüdischen Aufwachsenden und Erwachsenen nimmt eine genuine Tradition des SFI in neuer Form auf. Kurt Grünberg bekam als Wissenschaftler des SFI u. a. den Auftrag, den Kontakt zwischen den beiden Institutionen zu pflegen. Er ist seit 1990 in diesem Bereich tätig (Grünberg, 2000a, 2000b, 2001, 2004, 2007) und führt zurzeit folgende Projekte durch: Sein Hauptaugenmerk gilt den Prozessen und der Dynamik der transgenerationalen Traumatradierung an die »Zweite Generation«. Speziell wird dabei der Frage nachgegangen, wie sich diese Transmission bei Juden in Deutschland, im »Land der Täter«, gestaltet, ausgehend von der Theorie des sozialen Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dächtnisses von Halbwachs, die unterstellt, dass sich Vermittlungen und sekundäre Folgen von solchen Vorgängen in anderen Ländern grundlegend unterscheiden. Methodisch wird dieser Gegenstand anhand einer Modifikation des Lorenzer’schen Konzeptes des »szenischen Verstehens« erforscht. Dafür wurde der Begriff des »szenischen Erinnerns der Shoah« geprägt (vgl. Grünberg, 2010). Im Sinne der »multi-sited ethnography« (vgl. George Marcus, 1995) stellen mehrere Kooperationspartner des SFI für diese Untersuchungen eine empirische Datenbasis zur Verfügung. Hier sind etwa der von Grünberg mitgegründete Frankfurter Treffpunkt für Überlebende der Shoah zu nennen, die Arbeit mit Child Survivors und das Jüdische Psychotherapeutische Beratungszentrum Frankfurt am Main für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, welches aus diesem Grund der Forschungskooperation seit dem Jahr 2002 im Sigmund-Freud-Institut angesiedelt ist. Ein weiterer Schwerpunkt richtet sich auf die Frage, wie in Deutschland eine kritisch-aufklärerische Rezeption der Shoah und ihrer psychosozialen Spätfolgen in den Generationen nach dem Ende der »Epoche der Zeitzeugenschaft« befördert werden kann. Dazu besteht seit vielen Jahren eine Kooperation mit der Initiative 9. November, deren Vorsitzender Grünberg ist. Diese aus einer Frankfurter Bürgerinitiative hervorgegangene Gruppe setzt sich maßgeblich aus Pädagogen, Psychoanalytikern, Architekten und Kulturwissenschaftlern zusammen und sucht seit vielen Jahren zunächst in praktischen Projekten (Ausstellungen, Lesungen, Symposien, Lehrerfortbildung usw.) das öffentliche Interesse auf den Ort der zerstörten Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft zu richten, an dem sich auf besondere Weise jüdisch-deutsche Geschichte und eine bedeutsame Episode und Variante der Geschichte des Frankfurter Judentums verdichten, wie dies andernorts so nicht zu finden ist (vgl. Initiative 9. November, 2006, 2010). Von den dabei gewonnenen praktischen Erfahrungen ausgehend konzentriert sich heute die Arbeit dieser Gruppe auf die Frage, wie eine zukünftige Erinnerungspädagogik aussehen könnte und inwieweit die Theorie des kulturellen Gedächtnisses (Durkheim, Halbwachs, Assmann u. a.) durch den

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spezifischen Aspekt des Kulturbruches durch die Shoah ergänzt und modifiziert werden muss. In Zusammenarbeit mit den oben genannten und weiteren Institutionen (Fritz-Bauer-Institut, Goethe-Universität) wurde im Jahr 2007 die internationale Tagung »Szenische Erinnerung der Shoah« durchgeführt. Veranstalter waren zwei transdisziplinäre Arbeitsgruppen im SFI zu Antisemitismus, Trauma, Tradierung, Identität, die aktuell im Sinne einer »Gefühlserbschaft« des Nationalsozialismus (Lohl, 2010) zur transgenerationalen Weitergabe des Antisemitismus in Deutschland arbeiten.

Die psychotherapeutisch-psychoanalytische Institutsambulanz Eine Basis für systematische, klinisch-psychoanalytische Forschung am SFI bietet deren Ambulanz, in der jährlich etwa 600 Patienten (2009: 514 gesetzlich und 69 privat Versicherte, 58 % weiblich und 42 % männlich) in Erstinterviews und soweit erforderlich in weiteren Gesprächen psychodiagnostisch untersucht werden. Ziel dieser Gespräche ist es, den Patienten eine angemessene differentialindikatorische Empfehlung zu geben und sie bei der Suche nach einem für sie geeigneten Behandlungsplatz zu unterstützen. Die psychotherapeutisch-psychoanalytische Ambulanz wurde mit der Gründung des Instituts 1960 eröffnet. Seit 1979 ermöglicht ein mit der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen abgeschlossener und regelmäßig erneuerter Institutsvertrag, dass die Interviews und die in wenigen einzelnen Fällen am Institut stattfindenden psychoanalytischen und tiefenpsychologisch fundierten Therapien über die Krankenkassen abgerechnet werden können. Die Ambulanz steht jedem Erwachsenen offen und genießt in der Bevölkerung einen guten Ruf. Dies konnte eine katamnestische Studie zeigen (Kerz-Rühling, 2005), kommt aber vor allem darin zum Ausdruck, dass ein sehr großer Teil der Patienten sie aufgrund einer Empfehlung von Bekannten, Kollegen oder Verwandten, die mit ihr gute Erfahrungen verbinden, aufsucht. Auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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überweisen viele Haus- und Fachärzte regelmäßig Patienten, um hier einen konsiliarischen Rat einzuholen. Deshalb ist die Nachfrage permanent groß und übersteigt meist die Kapazitäten. Dass die Institutsambulanz heute trotz des starken zahlenmäßigen Rückgangs der klinisch tätigen Institutsmitarbeiter19 ein Vielfaches an Erstinterviewterminen gegenüber früheren Jahrzehnten (Goldschmidt, 1989) bereitstellen kann, ist der Mitarbeit niedergelassener Psychoanalytiker20 zu verdanken. Seit 2004 wird das Ambulanzsekretariat von Frau Sabine Kroll geleitet, wo sich die Patienten meist telefonisch anmelden und vor dem Erstgespräch die Dokumentation erfolgt. Erfasst werden neben soziodemografischen Daten vor allem die psychiatrischpsychotherapeutischen Vorbehandlungen und die Art und Weise, wie der Kontakt zur Ambulanz zustande kam. Nach dem Interview erstellt der Mitarbeiter einen schriftlichen Bericht über den Gesprächsverlauf und zu wichtigen anamnestischen Angaben, zum psychischen Befund und zur psychodynamischen Struktur der Erkrankung, zur Diagnose und Indikationsstellung und schließlich zur besprochenen Therapieempfehlung. Jeden Freitag findet die Ambulanzkonferenz für die Mitarbeiter statt, in der alle Patienten der Woche besprochen werden und die für ausgewählte Fälle zur Intervision genutzt wird. Dies betrifft sowohl psychodynamische und diagnostische Fragen als auch solche einer optimalen Vermittlung. Die Kenntnisse und Erfahrungen der internen und externen Mitarbeiter verbinden sich hier fruchtbar mit der umfangreichen institutionellen Vernetzung der Ambulanz, sowohl mit niedergelassenen Psychoanalytikern, Psychotherapeuten, Psychiatern als auch mit psychiatrischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Kliniken. 19

An der Ambulanztätigkeit sind zurzeit folgende klinische SFI-Mitarbeiter beteiligt: Ulrich Bahrke, Lothar Bayer, Tamara Fischmann, Kurt Grünberg, Alexa Negele und Tomas Plänkers. 20 2010 waren das : Ralph Butzer, Brigitta Ennemoser-Tilz, Ingeborg Goebel-Ahnert, Rosemarie Kennel, Beate Lorke, Bernd Pütz, Sigrid Scheifele, Christa Sturmfels und Elke Weinel. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Gelegentliche Metaanalysen, die die diagnostischen Auswertungen zusammenfassen, ermöglichen in guter Institutstradition hypothetische Aussagen darüber, wie soziale Wandlungsprozesse mit klinischen Phänomenen korrespondieren (z. B. U. Bahrke: »Zeitdiagnostik aus der Perspektive einer psychoanalytischen Großstadtambulanz« – am 19. 06. 2008 im Rahmen der Ringvorlesung zum 100. Geburtstag von A. Mitscherlich). Neben der bereits vom früheren Ambulanzleiter Prof. Dr. Heinrich Deserno eingerichteten Depressionssprechstunde beabsichtigt die jetzige Ambulanzleitung (PD Dr. U. Bahrke, Dr. phil. habil. L. Bayer) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Trauma-Bearbeitung Frankfurt den Aufbau einer Spezialambulanz für Patienten mit Traumafolgestörungen. In Kooperation mit dem Research Board der IPA wird eine neue Form der Dokumentation erarbeitet, die zukünftig systematische klinische und extraklinische Forschung erleichtern soll.

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Wenn Theorien berühren … Versuch einer Integration und Neuformulierung der Traumatheorie

Als Beitrag zur Traumakonzeption stellt dieser Beitrag eine Entwicklungstheorie vor, deren Konzepte die Integration verschiedener theoretischer Positionen fördern sollen. Außerdem wird die Theorie endogener Stimulation eingeführt, die als eine neue »Triebtheorie« verstanden werden kann. In gewissem Maße unterscheidet sich diese Theorie von den Triebtheorien Freuds. Die hier präsentierten neuen Konzepte sollen die Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Mensch eher ein lust- oder objektsuchendes Wesen ist, zeigen. In diesem Beitrag wird diese Dichotomie als relativ bedeutungslos betrachtet. Außerdem wird versucht, einige der facettenreichen Aspekte menschlicher Erfahrung zu illustrieren, die sich sowohl auf optimale als auch auf traumatische Entwicklungsverläufe beziehen. Zu diesem Zweck werden Prescotts Standpunkte zu holding und Hrdys Übersichten verschiedener Aspekte des mothering diskutiert. Das Kapitel endet mit einer klinischen Falldarstellung, welche die Tragweite des Verständnisses endogener Stimulations-Level – oder mit anderen Worten: die Ursachen individueller Vulnerabilität für Traumatisierungen – verdeutlicht.

Eine Theorie endogener Stimulation Im Anschluss an die Vorstellung der Theorie der endogenen Stimulation wird diese mit klinischen Konzepten verknüpft. Obwohl wir eine beträchtliche Menge an stützender empirischer Evidenz gesammelt haben, denke ich nicht, dass die hier besprochene Theorie verifiziert wurde oder in der wissenschaftli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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chen Gemeinschaft auf große Zustimmung trifft. Die Theorie gleicht einer Metaphysik, an die ich glaube. Es existieren alternative Konzepte wie beispielsweise das der affektiven (Reiz-) Schwellen (affective thresholds), welche gewissermaßen theoretisch äquivalente Konzepte darstellen. Meiner Meinung nach hat die vorliegende Theorie jedoch einen höheren Erklärungswert und einen größeren heuristischen Nutzen.

Theoretische Zusammenfassung Das Modell beginnt mit dem Traum als Ausgangspunkt der Theorie endogener Stimulation. Meiner Ansicht nach verkörpert der Traum den Versuch einer Person, Überlebensfragen zu bewältigen (Ellman, 2000), was während der frühen Entwicklung unmittelbar die Frage von Lust und Unlust einschließt. Für gewöhnlich ist das Selbst im Traum repräsentiert: Sogar im frühen Kindesalter sind Selbst und Objekt zumindest vage präsent. In den Träumen von Kindern oder Erwachsenen können Selbstrepräsentationen maskiert oder in symbolischer Form auftreten. Meine Annahme über die Traumbildung ist eng mit der Theorie zur Funktion von REM (rapid eye movement)-Schlaf verknüpft (Ellman, 1992; Ellman u. Weinstein, 1991). Diese nimmt an (manche würden sagen: zeigt), dass REM-Pfade der Lust in Form neuronaler Netzwerke aktiviert, welche eng mit primitiven, für das Überleben eines Säugetieres unerlässlichen Verhaltensfunktionen verknüpft sind. Für die Ratte schlössen die von mir bezeichneten primitiven Verhaltensweisen Nestbau, Nahrungssuche, Balzen, sexuelle Handlungen und, vor allem, Aggression ein. Während des REM-Schlafes werden bei Säugern die intrakrani1 ellen Selbst-Stimulationspfade (engl. ICSS) oder auch Lustpfade aktiviert, welche wiederum regulierend auf primitive behaviorale 1

Dieser Begriff wird gebraucht, wenn ein Versuchstier sich anstrengt oder eine Handlung ausführt, um in umschriebenen Hirnbereichen elektrisch stimuliert zu werden, ein Phänomen, welches Olds (1958) bei Ratten entdeckte. Die mit diesem Verhalten assoziierten Bereiche im Gehirn werden Lustzentren genannt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Bereiche wirken. Gleichzeitig werden Gedächtnisinhalte aktiviert, die mit diesen Bereichen assoziiert sind. Bei Menschen bewirkt eine Aktivierung dieser Bereiche häufig (geradezu immer) die Aktivierung von Gedächtnissystemen, welche mit Konflikten verbunden sind, und häufig enthält der Traum Material zu Fragen, die für das Individuum von eminenter Bedeutung und/oder am bedrohlichsten sind. Unter optimalen Bedingungen zeigt der Traum einen Weg der Konfliktlösung auf, anschließend wird er vergessen. Ist der Traum teilweise stimulierend oder Angst auslösend, wird er mit größerer Wahrscheinlichkeit in Erinnerung behalten. Angstträume treten auf, wenn das System entweder psychologisch oder physiologisch überstimuliert wird. Das Konzept von Überstimulation, oder von zu viel Stimulation, wird später in diesem Beitrag näher beleuchtet. In traumatischen Träumen findet der Träumende keine Möglichkeit, die Bedrohung aufzulösen. Solche Träume werden öfters geträumt, bis eine Auflösung der Bedrohung möglich erscheint. Bei traumatisierten Patienten mag dies nicht eintreten oder lediglich bei ausreichend guter (»good enough«) psychologischer Behandlung. Ich habe die Überlebensfunktion der Traumtätigkeit betont, jedoch sollte ich auch auf die Hypothese hinweisen, dass sich bei optimaler oder ausreihender Entwicklung der erste Traum aus der Erinnerung an ein befriedigendes Ereignis zusammensetzt. In diesem Stadium malt sich der Säugling die überlebenswichtige Befriedigung eines Bedürfniszustands aus, und diese Erinnerung wiederum wird konsolidiert. Im Falle der ausreichenden Entwicklung wird der Traumzustand eher als adaptiv denn als regressiv begriffen. Diese Theorie impliziert eine Revision des Freud’schen Konzepts des Primär- und Sekundärprozesses. Der Theorie zufolge sind die ersten Vorstellungen des Säuglings im Falle guter Entwicklung adaptiv und selbstverstärkend. Demnach fördern sie beim Säugling adaptives Bindungsverhalten. REM-Schlaf ist so angelegt, dass er ein beiderseitig befriedigendes Wechselspiel zwischen Säugling und Mutter erleichtert. Selbst wenn Winnicotts Auffassung von absoluter Abhängigkeit korrekt ist, wird es jedoch gezwungenermaßen von früh an Konflikte im Leben des Säuglings geben. Egal wie engagiert die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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elterliche Bezugsperson ist, optimale Befriedigung wird nicht möglich sein, und in gewissem Maße werden sogar die gesündesten Säuglinge das erleben, was Winnicott (1962) »falling into pieces« oder Vernichtungsangst nennt. Demnach wird die Gewahrwerdung Angst erzeugender Überlebensfragen früh Einzug in die Traumwelt des Säuglings halten. Die in der REM-Schlaftätigkeit auftauchende Thematik ist eine des Überlebens, welche für gewöhnlich (geradezu immer) ein im Traum vorkommendes 2 Element des Körper-Selbst umfasst. Mit Körper-Selbst meine ich an dieser Stelle, dass Säugling und heranwachsendes Kind normalerweise das Selbst in Form ihrer körperlichen Erfahrungen oder Körperfunktionen repräsentieren. Sind diese Überlebensthemen Wünsche? Aus meiner Sicht kann ein Wunsch, der vom Träumenden als wesentlich für sein Wohlbefinden erachtet wird, ein anregender Faktor für einen Traum sein. Jedoch kann ein Traum genauso gut durch Furcht oder ein Angstgefühl angeregt werden, das nicht an einen Wunsch gebunden ist. In dieser theoretischen Ausführung sind sowohl die adaptiven als auch die Überlebensfunktionen des Traumes zentrale Postulate. Wichtig ist, dass im Falle eines Versuchs der adaptiven Auflösung diese nicht notwendigerweise fortlaufend adaptiv sein muss. An einem bestimmten Punkt der Entwicklung wird sie vom Träumenden als bestmögliche (Auf-)Lösung erfahren. In Anbetracht der repetitiven Natur mancher Konflikte mag die erlebte adaptive (Auf-)Lösung aus einer früheren Episode im Leben des Träumenden stammen und nun nicht länger adaptiv sein. Die Idee von einer nicht länger adaptiven (Auf-)Lösung bildet eine Perspektive außerhalb des Träumenden (von einer anderen Person kommend). Ein letzter Punkt der theoretischen Übersicht ist REM-Schlaf als Form von endogener Stimulation. Zusätzlich sind die Mechanismen, die REM alle 70 – 90 Minuten im Schlaf aktivieren, 2

Diese Themen sind nicht zwingend in einer schmerzlichen Form repräsentiert, der Säugling könnte ebenso von erfolgreich lockenden (eliciting) befriedigenden Erfahrungen träumen. Jedoch wird dieser Erfolg auf bestimmter Ebene als notwendig für das Wohlbefinden erfahren oder – in Winnicotts Worten – »going on being to coninue«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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auch während der Wachphasen aktiv. (Die Hypothese stammte von Kripke und Sonnenschein [1973] und Globus [1970].) Dieser endogene Rhythmus aktiviert Säuger in einem periodischen Ablauf. Demzufolge würden Wale, deren REM-Schlaf alle 120 Minuten aktiviert wird, in dieser REM-Periodizität aktiviert, während ein Mensch alle 90 Minuten aktiviert würde (REM-Periodizität des Menschen). Der Unterschied zwischen REM-Aktivierung und Aktivierung während der Wachphase liegt darin, dass während des REM-Schlafs der Organismus aktiv inhibiert wird und so unfähig ist, sich zu bewegen. Diese aktive Inhibition besteht nicht von Geburt an. (Die Inhibition findet auf der Ebene der Pons statt, auf der motorische Impulse gehemmt werden. Falls jedoch ein Impuls die Pons passieren kann, kommt es zu einer weiteren Inhibition im Bereich des Rückenmarks; Ellman, 1992.) Bei Geburt und einige Monate im Anschluss bewegt der Säugling seine Gliedmaßen und saugt während des REM-Schlafs energisch. Häufig halten Eltern frühen REM-Schlaf fälschlicherweise für Wachsein. Bevor wir diese theoretische Übersicht verlassen, mag sich die folgende Frage stellen: Inwiefern unterscheidet sich diese Theorie von der Freud’schen Trieb- oder Instinkttheorie? Freuds Theorie sah Triebe als die Hauptdeterminanten der psychologischen Welt eines Individuums. Die vorliegende Theorie betrachtet endogene Stimulation als einen Faktor der individuellen Entwicklung. Für manche Individuen mag sie ein bestimmender Faktor sein, während sie für andere relativ unbedeutend sind. Die hier besprochene Theorie diskutiert endogene Stimulation zudem als bindungsfördernden Faktor und weniger als regressionsinduzierend (im Sinne der Bedeutung des Begriffes in Freuds Traumdeutung). Freud (1900a) postulierte, dass der Säugling zuallererst als Objekt halluziniert, zumindest für eine kurze Zeitspanne, in der er durch die Halluzination oder die visuelle Erfahrung des Objekts befriedigt wurde. Unserer Ansicht nach antwortet der Säugling, aktiviert durch ein Bedürfnis, zuerst mit einer genetisch verankerten Reaktion (Weinen), um eine biologisch angelegte Antwort bei seiner elterlichen Bezugspersonen auszulösen. Falls der Säugling, wie Freud postulierte, zuerst das befriedigende Objekt visualisiert, würden wir annehmen, dass er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dies im adaptiven Sinne zur Erinnerung der Ursache von Behaglichkeit und Lust tut. Der adaptive Aspekt von endogener Stimulation ist elementar für dieses Modell. Dieser interne Stimulus wird programmiert, um eine Reaktion der Bezugspersonen des Säuglings zu erhalten. Die Interaktion mit den primären Bezugspersonen ist nicht ausschließlich nach Bedürfnissen ausgerichtet, sondern existiert für eine Reihe von Interaktionen, die dem Säugling erlauben, eine Besetzung zu initialisieren oder die Haupt-Bezugsperson (gewöhnlich die Mutter) zärtlich zu repräsentieren. Aus Freuds Sicht war Lust mit Reduktion der Triebspannung verbunden. Zu dieser Auffassung gelangte er durch eine Reihe von sowohl theoretischen als auch historischen Gründen. Lust kann sich in vielerlei Arten manifestieren. Wir können heute eindeutig sagen, dass es eine Menge an Evidenzen gibt, die Reduktion von Triebspannung nicht als einzigen Weg hin zu lustvollen Erfahrungen sehen. Mit Blick auf die Annahmen zu endogener Stimulation wird deutlich, dass wir den primären oder den ersten Prozess, den der Säugling durchläuft, als einen Prozess betrachten, welcher Signale an die Bezugspersonen transportiert. Nur wenn die Bezugsperson nicht auf die Signale des Säuglings reagiert, würde dieser Zuflucht in der Produktion von Erinnerungen an das befriedigende Ereignis suchen. Falls dies in einer wiederkehrenden Weise geschieht (Erinnerung anstelle einer realen Befriedigung), wird die Erinnerung aversiv anstelle von befriedigend wirken, und, falls nicht erwidert, könnte der Säugling in seiner Entfaltung gehemmt werden. Der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist, dass primäre Handlungen Signale des Säuglings an seine Mutter verkörpern. Zweitrangig wäre, dass der Säugling Erinnerungen an das befriedigende Ereignis als Mittel der eigenen Beruhigung oder Rückversicherung produzieren könnte. Obwohl man sagen könnte, dass die ersten Kommunikationsformen zwischen Säugling und Mutter durch Sequenzen von Lust- und Unlust geprägt sind, würde ich Fairbairn (1951), Mitchell (1988) und Bowlby (1969, 1973, 1980) zustimmen, dass die Gesamtfunktion dieser Kommunikationsformen der Bindung des Mutter-Säuglings-Paares zu einer libidinösen Einheit dient © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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(natürlich ist diese Beschreibung dem freudianischen Vokabular entlehnt). In der vorliegenden Theorie geschieht dies, um das Überleben des Säuglings zu sichern. Wir können also sagen, dass für die Gesundheit des Säuglings sowohl Säugling als auch Mutter »objektsuchend« (object-seeking) sein müssen. Dies ist ein Aspekt früher Entwicklung, den Freud lediglich in einer Fußnote erwähnt (Freud, 1911b). Wenn wir jedoch den Säugling zum Zeitpunkt der Geburt betrachten, so scheint Fairbairns Primat der Objektsuche gegenüber der Lustsuche (pleasure seeking) nichts mit einem Säugling gemein zu haben, der die meiste Zeit schläft, isst und dessen biologische Funktionen reguliert werden müssen. Darüber hinaus scheinen eigentlich sowohl Objektsuche als auch Lustsuche keinen Bezug zu einem Säugling zu haben, der vor allem empfangen möchte und gehalten werden will. Obwohl der Säugling sicherlich mental aktiver ist als im Jahr 1900 vermutet, so wird er in erster Linie schlafen (10 – 17 Stunden pro Tag), essen, gewickelt und getröstet werden. Winnicotts Bezeichnung der absoluten Abhängigkeit (Ellman, 2009) scheint die treffendste Beschreibung für die Handlungen zwischen Mutter und Säugling zu sein. Winnicott beschreibt nicht nur die Interaktion, er zeichnet zudem den inneren Zustand des Säuglings nach. Dabei nimmt er an, dass diese inneren Zustände durch die Mutter antizipiert werden müssen (object presenting), und zwar in einer Weise, in der der Säugling seine Umwelt als ihm zur Verfügung stehend erlebt, wenn das Bedürfnis entsteht oder sogar kurz bevor das Bedürfnis aufkommt. Dies entspricht Winnicotts Verständnis von natürlicher Omnipotenz, nämlich das Gefühl des Säuglings, dass seine wahrgenommenen Bedürfnisse (egal, wie rudimentär die Erfahrung auch sein mag) unmittelbar von der Umwelt befriedigt werden. Winnicott spricht hierbei von good enough mothering. Obwohl ich der Annahme Winnicotts zustimme, der Säugling sei im Falle des good enough mothering gut umsorgt, so glaube ich doch, dass good enough mothering schwer zu erfüllen ist.

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Die Suche nach Lust – oder einem Objekt – oder ein anderes Vehikel Lassen Sie uns nun zu einer Frage zurückkehren, die wir scheinbar schon beantwortet haben: Ist der Säugling in seinen ersten Lebenstagen auf der Suche nach einem Objekt oder nach Lust – oder nach beidem? Ich habe deutlich gemacht, dass diese Dichotomie unangemessen ist, dennoch habe ich auch angedeutet, dass möglicherweise keines dieser theoretischen Postulate den primären Bedürfnissen des Säuglings gerecht wird. Prescott (2001) formuliert das Tragen des Säuglings als entscheidend für den Kontakt zwischen der Mutter und dem Neugeborenen, welches ein weiteres, für die homo-sapiens-Mütter weitestgehend verlorengegangenes, »infra-human primate maternal universal« darstellt. Meiner Ansicht nach gleicht Körperbewegung (vestibulär-cerebrale Stimulation) einer externalen Nabelschnur – die primäre Stimulation in der Gebärmutter –, die dem Neugeborenen / Säugling fortdauerndes Urvertrauen und Sicherheit vermittelt (Prescott, 2001, S. 227). Falls Prescott Recht hat, dann ist nicht die Lust- oder Objektsuche die primäre Thematik für das Neugeborene, sondern ein andauerndes Gefühl von Urvertrauen und Sicherheit, welches die neue Umgebung kontrollierbarer macht und die Wahrscheinlichkeit verringert, dass die Geburt und ihre unmittelbaren Auswirkungen traumatisch wirken. Ein wesentlicher Weg der mütterlichen Kontaktaufnahme zum Säugling scheint zuallererst durch Trost zu erfolgen. Von Seiten der Mutter ist dies objektsuchend (object seeking) und für den Säugling unzweifelhaft lustvoll (pleasureable). Man kann diesen Prozess objekt- oder lustsuchend nennen, meiner Ansicht nach dient dieser jedoch primär der Entwicklung von Sicherheit. Ich habe Daten von Prescott (2001), Hrdy (1999) und anderen (Hunziker u. Barr, 1986) zur genetischen Flexibilität von Primaten vorgestellt (Ellman, 2009), im vorliegenden Kontext kann ich jedoch nur diesen umgrenzten Blickwinkel erwähnen.

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Die Mutter-Säuglings-Dyade und REM-Schlaf Im Folgenden werde ich auf unsere Theorie mit der Betonung des Theoretischen eingehen, ohne experimentell gesicherte Ergebnisse zu nennen. Jedoch verwende ich einige unserer früheren Experimente als Vorbild für diese theoretische Untersuchung. Um innerhalb des Paradigmas unserer früheren Experimente zu bleiben, verwende ich den Begriff »Stimulation« anstelle von Aktivität oder Verhalten. Dies mag im Nachfolgenden etwas gestelzt klingen. Die Annahme ist, dass die Mutter den Säugling stimuliert, wenn sie mit ihm spielt, ihn füttert, hält oder wickelt. In jedem dieser Austausche stimuliert die Mutter den Säugling in einem gewissen Ausmaß, und dies soll unser Hauptaugenmerk sein. Als Einführung in die Diskussion werden wir einen Säugling mit einem hohen Level an endogener Stimulation beschreiben. Die Hypothese besagt, dass sich Individuen bezüglich der Menge an erzeugter endogener Stimulation voneinander unterscheiden. (Wir verwenden den Begriff »Menge«, obwohl intensivere Stimulation wahrscheinlich durch die Stimulationsrate pro Zeiteinheit erzeugt wird.) Diese Stimulation wird bei Menschen alle 70 – 90 Minuten produziert (REM-Periodizität). Weil wir einen Säugling mit einer großen Menge endogener Stimulation illustrieren, wird eine kleine Menge an externaler oder exogener Stimulation für ihn moderat lustvoll, und größere Mengen oder eine intensivere Stimulation werden unangenehm sein. Die Aufsummierung von internaler und externaler Stimulation in dieser Darstellung drängt den Säugling in einen negativen oder unangenehmen Erfahrungsbereich. (Wir haben gezeigt, dass die Menge der Stimulation aus den Lustzentren darüber bestimmt, ob die Stimulation positiv oder negativ wirkt.) Was also andere Kinder als eine normale Menge an Stimulation empfinden, kann für den hoch endogenen Säugling als unangenehm erfahren werden. Diesem Säugling wird es wie dem Tier gehen (Bodnar, Ellman, Coons, Achermann u. Steiner, 1979), das zu viel Stimulation empfängt: Sie wollen aus der Situation entfliehen, die ihnen unangenehm ist oder sogar Schmerz zufügt. Da die normale Mutter mit ihrem Säugling eine Bindung eingehen will, wird © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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es für sie schmerzlich sein, wenn er negativ auf eine Reihe ihrer Handlungen reagiert, die von Seiten der Mutter als Unterhaltung oder gar als tröstende Beruhigung intendiert sind. Die Aufgabe der Mutter wird sein, ihre Antworten abzuschwächen und zu versuchen, das Erleben des Säuglings zu spüren und zu akzeptieren. Falls sie ihre Enttäuschung ertragen und die Erfahrung des Säuglings spüren kann, wird sich eher eine Bindung des Säuglings zu seiner Mutter entwickeln. Für die Mutter ist es eine schwierige Aufgabe, die schmerzvollen Erfahrungen ihres Kindes zu spüren, obwohl sie von sich glaubt, in einer »normalen« Weise zu handeln. Natürlich mag es die ideale Mutter geben, die die negative Reaktion des Kindes auf ihre scheinbar moderaten Versuche, in Kontakt zu treten, nicht als narzisstische Kränkung auffasst. Die meisten Mütter werden sich eine positive Antwort des Kindes auf ihre Fürsorge wünschen, und falls dies nicht geschieht, wird eine resiliente Mutter benötigt, die dies akzeptiert und lernt, den Pegel ihrer Aktivitäten mit dem Kind zu senken beziehungsweise effektiv zu modulieren. Was geschieht, wenn die Mutter keinen Erfolg hat, oder wenn sie spürt, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt? Es wird sie entweder zu einem Angebot an mehr Stimulation bewegen (der verzweifelte Versuch, das Kind zu erreichen) oder, alternativ, Distanz zum Kind zu bewahren. Wenn es einem Baby nicht gelingt, auf die von Laplanche (1997) erwähnte Verführung durch die Mutter zu antworten, so kann dies leicht zu einer narzisstischen Kränkung oder sogar zu einem Anlass für eine depressive Reaktion der Mutter werden. Dies kann tatsächlich oder metaphorisch geschehen. Für eine Mutter, die aus dem einen oder anderen Grund energische, intensive Reaktionen ihres Kindes hervorrufen will, kann der Umgang mit einem hoch endogen stimulierten Säugling ziemlich schwierig sein. Auf sich selbst bezogene (»falsche«) Reaktionen können die adaptive internale Antwort eines hoch endogenen Säuglings darauf sein. Anders ausgedrückt lernt der Säugling, auf eine enttäuschte Mutter zu reagieren, die ihn dazu bringen will, ihre aktive Stimulation zu genießen. Falsches Selbst bedeutet in diesem Kontext, dass der Säugling gezwungen wird, externale Ansprüche zu erfüllen, und das zu einer Zeit, in der dies für das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Kind Anstrengung und die Unterdrückung normaler Reaktionen erfordert. In einer solchen Beschreibung von früher Entwicklung (0 – 5 Wochen) sollte der Säugling nicht übermäßig mit externalen Objekten beschäftigt sein. Der Beginn einer falschen Selbst-Entwicklung (false self development) signalisiert die Versuche des Säuglings, seine spontanen Reaktionen einzuschränken. Andere Säuglinge, die nicht fähig sind zu einer »falschen Anpassung« (falsely comply), würden sich abwenden und an dem Versuch scheitern, sich auf ihre Umwelt einzulassen. Eine Mutter, die das Unbehagen des Säuglings bei zu aktiver oder intensiver Stimulation bemerkt und ihre Reaktionen daraufhin anpasst, kann allmählich angenehm überrascht werden von der spontanen Aktivität des heranwachsenden Kleinkindes. Das Wort »Kleinkind« wird hier erwähnt, weil es eine Weile dauern kann, bis die Mutter aktiv Gefallen an ihrem Kind finden wird. Diese Sorte von Säugling / Kleinkind könnte dann imstande sein, seine Mutter zu verführen oder zu faszinieren. Wenn das mothering unterstützend wirkt, kann dies dem Säugling ermöglichen, in Kontakt mit ihrem aktiven internalen Leben zu sein und schließlich ihr Selbstgefühl zu genießen. Ein Säugling, dessen Mutter durch seine Überempfindlichkeit negativ beeinflusst wird, könnte versuchen, ihre internalen Stimulationen abzuschwächen oder aktiv zu inhibieren oder aber die Psyche des Säuglings zu entleeren. Sicherlich ist Kleins Konzept der projektiven Identifikation für die Weise, in der diese Säuglinge ihre Psyche entleeren, bedeutsam. Wie steht es mit niedrig endogen stimulierten Säuglingen? Hierbei handelt es sich um ein Kind, das weniger wahrscheinlich beziehungsweise intensiv auf normale Mengen an exogener Stimulation reagiert. Die exogene Stimulation ist sicherlich nicht lustvoll oder intensiv genug, um das Kind zu engagieren. Die Mutter wäre enttäuscht aufgrund der ungenügenden Antwort seitens des Säuglings. Diese Enttäuschung wäre weniger intensiv als jene der unpassenden (mismatched) Mutter des hoch endogenen Säuglings, da sich der niedrig endogene Säugling nicht derart energisch abwendet oder ärgert, er würde lediglich nicht mit genügend Lust oder Freude reagieren. Erneut fühlt die ideale Mutter, dass das Kind mehr Stimulation braucht, um es in eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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engagierte Interaktion zu verwickeln, oder die Mutter geht mit ihrer Enttäuschung adäquat um, dass der Säugling nicht so reagibel ist, wie sie es sich wünscht. Falls die Mutter ihre Enttäuschung emotional nicht ertragen kann, wendet sie sich entweder selbst enttäuscht ab oder versucht, den Säugling zu einem Verhalten zu bewegen, das für ihn unangenehm ist. Fortlaufend würde sie versuchen, eine Reaktion beim Säugling zu provozieren. Diese Art von »mismatch« kann auch ein falsches Selbst erzeugen, so wie es für eine Vielzahl von »mismatched MutterSäuglings-Dyaden« der Fall ist. Lassen Sie uns für einen Moment die Neigungen der Mutter betrachten. In einer Studie von Alfasi-Siffert (1985) wurde die Blick-Blick-Aversion bei drei Monate alten Säuglingen untersucht. Ein Teil des Paradigmas für diese Art von Experiment wurde bei Stern verwendet (1985). Es gab zwei verschiedene experimentelle Bedingungen: In der einen wurden die Muster der Blick-Blick-Aversion zwischen Mutter und Säugling aufgenommen, während in der anderen ein Versuchsleiter den Säugling nur dann anblickte, wenn dieser den Blickkontakt initiierte. Bei den meisten Müttern blickte der Säugling diese an und traf den Blick der Mutter, um dann den Blick abzuwenden und anschließend wieder zum Blick der Mutter zurückzukehren. Die meisten Mütter erlaubten dem Säugling das Wegblicken, woraufhin der Säugling zum Blick der Mutter zurückkehrte. Eine Mutter folgte jedoch dem Blick des Säuglings, als dieser wegblickte, und versuchte, den Kontakt wiederaufzunehmen. Als sie das tat, blickte der Säugling erneut weg und anstelle einer Sequenz des An- und Wegblickens kam es bei diesem Paar zu einem praktisch andauernden Wegblicken. In dieser Studie konnten wir die Antworten des Säuglings gegenüber der Mutter mit den Antworten des Säuglings gegenüber dem Versuchsleiter vergleichen. Da der Versuchsleiter nicht versuchte, den Säugling am Wegblicken zu hindern, glich der Säugling anderen Säuglingen im Sinne der Blick-Blick-Aversion: Er wiederholte das Blickmuster. Die Mutter konnte eine Trennung vom Säugling nicht tolerieren, auch wenn es um Blickkontakt ging. Sie stimulierte den Säugling in einer solchen Weise, dass dieser fortweg ihren Blick vermeiden wollte. In diesem Fall © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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schien der Säugling eine durchschnittliche Sensibilität aufzuweisen, aber seine Mutter stimulierte derart übermäßig, dass er es nur schwer tolerieren konnte. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass nicht nur die Sensitivität des Säuglings oder ein Mangel dessen das Interaktionsmuster bestimmt. Vielmehr geht es immer um die Interaktion zwischen Mutter und Säugling, die die Effekte der Stimulation prägt, wobei jedoch offensichtlich in manchen Interaktionen einer der beiden Parteien einen Großteil der Interaktion bestimmt.

Einige weitere theoretische Fragen Melanie Klein betont die Frustrationstoleranz des Säuglings (Ellman, 2009) als wesentlich für das Verständnis früher Entwicklung. Sie schreibt darüber, als handele es sich um eine arteigene Inhärenz des Säuglings im Gegensatz jener Frustrationstoleranz, die das Resultat aus Mutter-Säugling-Interaktionen ist. Unsere Theorie sieht eine höhere Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von niedriger Frustrationstoleranz im hoch endogenen sensitiven Säugling. Solche Säuglinge sind empfindlicher gegenüber einer Reihe von Reizen und für die Mütter meist schwerer durchgängig zu verstehen. Darüber hinaus können kleine Steigerungen in der Stimulation schnell vom Positiven ins Negative umschlagen und Mutter sowie Umwelt zu einem »schlechten« oder aversiven Ort werden lassen. Der Säugling muss seine aufkeimende Repräsentation aktiv abspalten, um ein wenig des Guten in der Interaktion aufrechtzuerhalten. Folglich wird ein hoch endogener sensitiver Säugling eher dem von Melanie Klein beschriebenen Säugling gleichen. Allerdings kann eine verständnisvolle Mutter zur Entwicklung des Säuglings beitragen, bei der dieser schließlich eine größere Frustrationstoleranz als gewöhnlich entwickelt. Ein solches Kind würde die Psyche der Mutter und ihre Fürsorge in einer Weise erleben, die zu mehr Gratifikation (gratitude) als üblich führen kann. Zusätzlich würde diese Gruppe von Säugling zu Personen heranreifen, die Zugang zu einer breiteren Auswahl an internalen Zuständen besitzen. Wem es gelingt, Zugang zu und Kontrolle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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über diese Zustände zu erlangen, der wird Frustrationstoleranz in großem Umfang entwickeln. Demnach sollte Frustrationstoleranz, obwohl von großer Bedeutung, als Ergebnis der Interaktion zwischen Umwelt und Säugling (und nicht als angeborene Entität, d. Übers.) begriffen werden. Winnicotts Darstellung lässt good enough mothering als normalen Zustand für Mütter erscheinen. Während er anerkennt, dass die Mutter Unterstützung braucht, so schreibt er dennoch, als sei mothering ein Zustand, in den eine Frau nach der Geburt ihres Kindes ohne Weiteres hineingleite. Während der Lektüre von Hrdys Buch (1999) über Mütter, Säuglinge und natürliche Selektion gewinnt man einen Eindruck aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven. Hrdy berichtet, wie wichtig die Verführung der Mutter zur Fürsorge (caring) für den Säugling ist, denn die Autorin nimmt an, Mutterschaft sei weder instinktiv noch automatisch. Während »puerperal insanity« (ein Ausdruck, den Winnicott benutzt) manche Mütter heimsuchen kann, dokumentiert Hrdy höhere Raten von Kindstötung und Aussetzung, als sie auftreten würden, wenn alle Mütter diese »Art des Fiebers« hätten. In einer Rezension schreibt Magurran (2000), Hrdy gehe so weit zu behaupten, die außergewöhnliche Rundlichkeit von menschlichen Neugeborenen, welche viel dicker seien als Säuglinge anderer Primaten, sei ein Versuch, ihre Eltern vom Sinn ihres Großziehens zu überzeugen. Sogar das Lächeln eines Säuglings wird in Hrdys Augen zu einem Teil der Strategie, die Mutter zu verführen. Selbst mit dieser Verführungskraft fällt manchen Müttern die Bindung an ihr Kind schwer, vielleicht weil manche Säuglinge nicht sehr verführerisch sind, aber wahrscheinlich eher weil manche Mütter nicht bereit oder fähig sind, die Mutterrolle zu übernehmen. Hrdy bemerkt zur Interaktion zwischen Mutter und Säugling, die Verführung durch den Säugling sei ein wichtiger Teil der meisten Interaktionen. Winnicott schreibt mit all seinem Einfühlungsvermögen dennoch größtenteils aus der Perspektive des Babys. Er betont die mütterliche Aufgabe, ein unterstützendes Ich für den Säugling anzubieten, jedoch berücksichtigt er kaum, dass die Mutter zumindest ein wenig vom Baby verführt werden muss. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Diese Verführung ist besonders wichtig, wenn man bedenkt, wie groß das Angebot der Mutter während der von Winnicott beschriebenen Periode absoluter Abhängigkeit sein muss. Demnach gleicht ein Baby, welches in der Lage ist zu verführen und Lust als Reaktion auf die mütterliche Pflege zeigt, eher einem Winnicott’schen Baby. Meistens sind diese Babys weder hoch noch niedrig endogen stimuliert.

Primäre und sekundäre Prozesse, Aggression und Frau W.: eine Anmerkung zur Behandlung In gewisser Weise plädiere ich für eine Rückkehr zu einer Version von Freuds früher Instinkttheorie: Es gab die Instinkte der Selbstund der Arterhaltung, und eine vernünftige Hypothese ist die, dass beide Tendenzen im Menschen fest miteinander verzahnt sind. Wir haben bereits die Unterschiede zwischen der Theorie endogener Stimulation und Freuds Instinkttheorie erwähnt, aber bis zu diesem Punkt haben wir Aggression außen vor gelassen. In der vorliegenden Theorie wird Aggression als ein Aspekt aller, oder der meisten, Selbsterhaltungshandlungen gesehen. Wenn zum Beispiel die Nahrungssuche eine Handlung ist, die aktiviert oder herabgesenkt wird, werden die Aggressionsschwellen gleichzeitig herabgesetzt. In dieser Theorie wird Aggression zur möglichen Begleiterscheinung aller durch das Mittelhirn regulierten Handlungen. Was auch immer die Überlebensaktivität ist, die Aggressionsschwelle ist herabgesetzt. So ist der Organismus immer einigermaßen vorbereitet auf bedrohliche Umstände in allen Überlebensaktivitäten. Dies mag eine merkwürdige Idee sein: Beim Sex oder beim Essen sind die Aggressionsschwellen ebenso herabgesetzt. Um es deutlicher zu sagen, die Schwelle ist in der aktiven Phase der Handlung herabgesetzt, und nach dem Vollzug, so die Annahme, sind alle Schwellen wieder erhöht. Während der Vollendung, so die Annahme, fühlt sich der Organismus sicher genug, dies geschehen zu lassen. Spezies mit einer geringen Urteilskraft diesbezüglich sind ausgestorben. Wenn wir die Besonderheiten der Vollendung außer Acht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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lassen, so kann Aggression als ein Verhalten beschrieben werden, welches leichter zu aktivieren ist als anderes Verhalten. Dies ist der vorprogrammierte Teil endogener Stimulation; es gibt offensichtlich viele Dinge, die in der Entwicklung eines Individuums gezielt Aggression inhibieren oder aggressive Tendenzen umwandeln, sodass sie mit vielen anderen Verhaltensweisen vermischt werden. In einer Theorie, in der Überleben ein Schlüsselkonzept ist, sind aggressive Impulse jedoch diejenigen, die am leichtesten ausgelöst werden. In abschließender Betrachtung des Aggressionskonzepts wird Aggression als lustvolle Handlung bezeichnet (Ellman, Achermann, Bodnar, Jackler u. Steiner, 1973; Olds, Allan u. Briese, 1971; Valenstein, Cox u. Kalkolewski, 1968). Sie sind auch Impulse, die zu positiver Verstärkung führen. Umgekehrt sind Impulse, die flexible aggressive Antworten auslösen, auch ICSS(-sites). Somit unterscheidet sich dieses Konzept sehr deutlich von dem, was Freud in der Strukturtheorie postulierte. Mit dem Konzept des Thanatos beschrieb Freud einen selbstzerstörerischen Trieb, der nach außen projiziert werden konnte. In der Projektion des Thanatos erklärte Freud die Aggression gegenüber externalen Objekten. Klein stimmte darin mit Freud überein und behauptete, dass der Zerstörungstrieb schon bei der Geburt aktiv vorhanden war. Diese Konzepte weichen deutlich von dem hier vorgestellten ab. Lassen Sie mich jedoch nochmals die Hypothese des mismatched-Säuglings anbringen: Ein hoch endogener Säugling mit einer übermäßig stimulierenden Mutter würde einem kleinianischen Säugling ähneln. Der Säugling könnte die mütterliche Repräsentation loswerden wollen, da diese eine frustrierende, aversive Präsenz hat. Vermutlich müsste er die Repräsentation der Mutter abspalten, um etwas Gutes in der mütterlichen Präsenz sehen zu können. Diese Theorie gilt demnach für »kleinianische« Säuglinge, während andere Säuglinge mehr den Winnicott’schen gleichen (Ellman, 1992, 2009). Die Theorie könnte sogar ein Spektrum von Säuglingen postulieren, die verschiedene Theorien bestätigen würden. Das bedeutet, dass manche Säuglinge für Winnicott und andere für Klein, Fairbairn, Stern (1985) usw. sprächen. In früheren Veröffentlichungen (Ellman, 1997, 1999, 2007, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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2009) habe ich die Entwicklung von therapeutischem Vertrauen in der therapeutischen Situation thematisiert. Meiner Meinung nach ist Vertrauen eine notwendige Bedingung, die erlaubt, therapeutische Interventionen in der analytischen Situation zu nutzen. In meiner theoretischen Matrix stellt das Sich-Hineinversetzen (interpenetration) in affektive Zustände ein Schlüsselelement in der Vertrauensentwicklung dar. Sie bezieht sich auf das Erfahren und Kommunizieren der rezipierten affektiven Zustände des Patienten. Meiner Ansicht nach beinhaltet »interpenetration« das schrittweise Verstehen der endogenen Tendenzen des Patienten. Es ermöglicht dem Analytiker, die Intensität oder das affektive Ausmaß zu erspüren. Dies wurde mir in der Behandlung von Frau W. deutlich. Frau W. war 25 Jahre alt, als sie zunächst drei- und schließlich vierstündig in der Woche zu mir kam. Sie war erfüllt von schlechtem Gewissen, was sich regelmäßig in Selbsthass und Selbstkritik entlud. Zu Beginn der Behandlung war sie schwer depressiv und hatte sich selbst gerade aus einer Klinik-Abteilung entlassen, in der ihre Depression behandelt werden sollte. Sie hatte eine schwere Essstörung. Zu Beginn der Behandlung wog sie ungefähr 75 Pfund (37 kg, bei einer Größe von 1,73 m) und war so dünn, dass sie nur unter Schmerzen sitzen konnte. Ihr bewusstes Leben kreiste um Reuegefühle, von Zeit zu Zeit unterbrochen durch Wutanfälle, die sich gegen ihre Mitmenschen richteten. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Ex-Freund und ihre Mutter sie in eine angreifbare Situation gebracht hätten, die zu ihrer Vergewaltigung und dem erlebten Überfall geführt hätte. Die Gefühle von Wut hielten nie lange an, weil sie nicht nur jedes Gefühl der Stabilität zunichte machten, das sie aufbauen konnte, sondern auch die einzigen Objektbeziehungen zu zerstören drohten, die sie glaubte erhalten zu haben. Ihr flüchtiger Ärger (manchmal Wut) richtete sich meist zuverlässig auf Harid, der beschlossen hatte, sie aufgrund ihrer religiösen Unterschiedlichkeit nicht heiraten zu können (sie ist Jüdin, er Türke und Moslem). Dies geschah etwa sechs Monate, bevor sie ihre eigene Wohnung bezog und, während eines Sonnenbades, mit einem Messer angegriffen, vergewaltigt und geschlagen wurde. Dieses Geschehnis war extrem lähmend und traumatisch und ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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schlimmerte ihre Essstörung, die nach der Trennung von Harid einsetzte. Am Anfang der Behandlung war sie überflutet von Bedauern, nicht zum Islam konvertiert zu sein. Manchmal schalt sie sich, dass sie nicht übergetreten war, um, nachdem sie sich beruhigt hatte, von einem Übertritt und Harids Rückkehr zu ihr zu fantasieren. Diese Fantasien wurden von Gedanken unterbrochen, in denen sie sich als laszive Frau sah, eine, die niemals von Harids türkischen Eltern akzeptiert worden wäre. Ihre Schuldgefühle über ihre vergangene Sexualität waren ein mächtiger Einflussfaktor, und sie lernte, Teile ihrer Anorexie als einen Versuch zu verstehen, die sichtbare Weiblichkeit ihres Körpers zu beseitigen (ihre großen Brüste und Rundungen). Ihr Reuegefühl war stark mit eindringlichem Schmerz über ihren Wunsch, Harid zu besitzen, verbunden. Schließlich konnten wir ihren Wunsch verstehen, Harid (ein erstgeborener Sohn mit Wohlstand und fantasierter Macht) seinen Eltern und seiner Kultur zu entführen. Es dauerte ziemlich lange, bis sie über ihre Vergewaltigung sprechen konnte. Das überraschte mich, denn ich hatte angenommen, das Erlebnis ginge ihr permanent durch den Kopf. Ich hatte wohl ihre Scham unterschätzt, und glücklicherweise überließ ich ihr zu bestimmen, wann wir über diese traumatische Erfahrung sprachen. Zu Frau W. ist noch zu sagen, dass ich zur Zeit ihrer Behandlung mehrere anorektische Frauen gesehen hatte. Jede von ihnen (es waren vier) hatte schwere Konflikte mit ihrer Mutter. Alle empfanden einen starken Hass ihrer Mutter gegenüber, und gleichzeitig fiel es ihnen schwer, sich von ihr zu abzulösen. Ich spürte, dass dies auch bei Frau W. der Fall war, und obwohl nach vierjähriger Behandlung ihre Symptome abgeklungen waren und sie eine vielversprechende Karriere begonnen hatte, geschah wenig während der Behandlung; ihre Analyse glich einem Stillstand. Sie war mir gegenüber weiterhin wohlwollend, auf ihre Mutter war sie nach wie vor wütend, sie hatte jeden Kontakt zu ihr abgebrochen. Ihre Verbalisierungen in der Analyse glichen mehr den Diskussionen mit einem fürsorglich-verbundenen Elternteil, und meine Interpretationsversuche ihrer Inanspruchnahme von mir wurden mit Zustimmung und einer gewissen irritierten Akzeptanz begrüßt. Wenig Neues geschah in ihrer Behandlung, und dennoch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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machte sie keine Anstalten, sie zu beenden. Sie schien sogar sehr zufrieden, als wir das fünfte Jahr ihrer Analyse erreichten. Obwohl die Patientin bis zu diesem Punkt der Behandlung sicherlich Fortschritte gemacht hatte, war es ihr nicht möglich, ihre Übertragungsreaktionen in einer therapeutisch sinnvollen Weise zu nutzen. Meine Idealisierung war »nur real«; in den frühen Phasen der Behandlung waren ihre paranoiden Reaktionen darauf, dass ich sie in der einen oder anderen Form angriff, auch nur real für sie. Ich habe diese Behandlung ausführlich in einem anderen Artikel beschrieben (Ellman, 1999), aber bezogen auf die aktuelle Diskussion ist zu sagen, dass sie erst dann die Behandlung im Sinne des Aufzeigens neuer Wege und einer anderen Art der Selbstreflexion nutzen konnte, als sie mir allmählich gewisse Formen erotischer Übertragungsreaktionen anvertrauen konnte. Im fünften Jahr der Behandlung berichtete sie wiederholt von Träumen über ihren Vater, in denen er jedoch etwas anders aussah und häufig eine Glatze hatte (so wie ich). Die Behandlung veränderte sich wesentlich, als sie anfing, sich über die Frau im Büro nebenan zu äußern. Sie hatte gewusst, dass die Frau im anderen Büro meine Ehefrau war, aber von nun an schien alles, was diese Frau tat, die Patientin zu stören. Sie fragte sich, wie es möglich wäre, dass ich mit einer solchen Frau verheiratet sei, und starke rivalisierende Gefühle kamen auf. Als wir versuchten, diese Gefühle zu analysieren, erinnerte sie sich daran, dass sie im Alter von vier oder fünf Jahren sehr depressiv war. Sie erinnerte sich, alles schwarz gemalt zu haben und wütend auf ihre Eltern gewesen zu sein, und dass ihr gesagt wurde, vorher nicht so gewesen zu sein. Plötzlich realisierte sie, dass ihr an einem bestimmten Punkt ihres Lebens bewusst geworden war, wie bestürzend die Geburt ihrer Schwester auf sie gewirkt hatte. Ihre Übertragung bekam nicht nur eine erotische Färbung, sondern geriet klassisch ödipal. Sie wollte meine Aufmerksamkeit und setzte ihre rivalisierenden Gefühle gegenüber meiner Frau und gegen andere Patientinnen fort. Sie begann sich vorzustellen, wir beide hätten ein gemeinsames Kind, und obwohl sie nun selbst-reflektierter war, war die Idee, wir könnten voneinander getrennt sein, sehr schmerzlich für sie. Es kam ihr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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vor, als wäre immer jemand zwischen uns beiden, und schließlich sagte sie mir, dass sie sich wünsche, ich würde mein Büro wechseln – sie lachte und sagte »vielleicht könnten sie in mein Haus einziehen«. Die sich dann entwickelnde Dynamik war mit ihren Schuldgefühlen über die Eliminierung meiner Frau vermischt, von der sie ab und zu reflexiv annahm, dass sie »gar nicht so schlecht sein kann, wie ich es von ihr denke«. Ich könnte mit der Beschreibung von Frau W.s ödipaler Dynamik fortfahren, stattdessen werde ich jedoch versuchen zu erklären, wie ihre Symptomatik von dieser Dynamik beeinflusst wurde und warum sie als Kind depressiv wurde, anstatt enttäuscht zu werden und sich daraufhin allmählich an die neuen Umstände anzupassen (auf die ihre Eltern anscheinend versucht hatten, sie vorzubereiten). Frau W. war eine hochenergetische Person. Nachdem sich ihre Depression gebessert hatte, sprach sie unglaublich schnell, und schließlich war sie überaus energiegeladen, erledigte Dinge in einem halsbrecherischen Tempo. Ihre Stimme war ein bisschen zu laut, ihr Lachen enthusiastisch, und sie war generell ein wenig übermütig. Als sie zurückkam, um mich zu sehen (ihre Analyse hatte sie einige Jahre vor diesem Besuch beendet), sagte sie mir, »manche Menschen mögen meinen Enthusiasmus nicht, die Tatsache, dass ich laut rede und hastige Bewegungen mache. Mir ist klar geworden, dass ich es nicht jedem recht machen kann. Ebenso bin ich mir bewusst, dass ich aber so bin und dass das manche mögen und andere nicht.« Ich war überzeugt, dies sei ein zutreffendes Stück Selbstbewusstsein, welches sie selbständig errungen hatte. Ich stimmte ihr in dem Punkt zu, dass, sobald sich ihre Depression gebessert hatte, sie zu einem Dynamo wurde, und zwar nicht wie in einem manischen Zustand (zumindest nicht, insofern »manisch« eine Abwehr der Depression bedeutet), es war ihr wahres Selbst. Wir sprachen über ein Korrelat ihrer hoch endogenen Zustände, nämlich ihre extreme Sensitivität und wie eindringlich sie die Welt erlebte, wenn diese ihren internalen Raum erfasste. Manchmal war sie so lebhaft, dass sie die Welt um sie herum vergaß, aber sobald sie ihre Umwelt registrierte, erlebte sie sie sehr intensiv. Erlebte sie eine anhaltende Konfliktsituation, zum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Beispiel damals die Geburt ihrer Schwester, war die erlebte Dynamik so intensiv für sie, dass sie verwirrt reagierte. Was für andere, verglichen zu ihrem Zeitpunkt der Entwicklung, eine resultierende neurotische Organisation gewesen wäre, war für sie so intensiv, dass sie Lähmungssymptome entwickelte. Ich bezweifle, dass sie wegen der Depression hospitalisiert worden wäre, wäre sie nicht vergewaltigt worden. Vor diesem Ereignis, als sie und Harid sich trennten, war ihre Depression ziemlich schwer. In der Rekonstruktion ihrer Kindheitsdepression brauchte sie eine Weile, um über die Geburt ihrer Schwester hinwegzukommen. Inzwischen sind 15 Jahre seit Beendigung ihrer Analyse vergangen, und Frau W. ist aufgeblüht. Sie hat eine aufstrebende Karriere erlebt und führt eine erfolgreiche Ehe. In der Zwischenzeit konsultierte sie mich zwei Mal, um ihre Beziehung mit der Tochter ihres Mannes zu besprechen. Sie rief mich einige Male an, um mir von ihren Beförderungen und einer Show zu erzählen, die ihr Mann produziert hat. Sie litt nicht unter einer weiteren Depression. Ich denke, dass sie ihre Intensitäten nun besser kennt und gelernt hat, ihre internalen Zustände zu akzeptieren und zu regulieren. Meiner Meinung nach ist sie ein Beispiel für eine Person mit einem hoch endogenen Motor und einer Tendenz, Dinge sehr intensiv zu erleben. Manchmal summierten sich ihre internalen Zustände und externale Stimulation zu intensiven Erfahrungen. Mit der Zeit begann sie dies zu realisieren, Akzeptanz zu entwickeln und die Kontrolle über ihr inneres Leben zu gewinnen, um schließlich ihr hohes Aktivitätslevel und ihre reiche, lebhafte innere Welt zu nutzen. Selbstverständlich mag man verschiedene Meinungen über diese klinische Darstellung haben. Die wesentliche Motivation war jedoch zu zeigen, dass Intensität von Bedeutung ist und oftmals die Art, mit der ein Ereignis wahrgenommen oder erlebt wird, verändern kann. Ich habe versucht, eine Betrachtungsweise über die Entstehung verschiedener Intensitäten darzustellen, aber natürlich könnte man das Konzept der (Reiz-)Schwelle auch durch Frustration oder andere Schwellen ersetzen, ohne das Konzept endogener Stimulation einbeziehen zu müssen. Dennoch bin ich überzeugt, dass dieses Konzept mehr Erklärungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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kraft haben kann, der entscheidende Faktor ist aber, dass in klinischen Situationen einer der wichtigsten Aspekte des analytischen Vertrauens die Fähigkeit ist, den Intensitätslevel des anderen zu erspüren. Es wird dem analytischen Paar helfen, eine unterstützende intersubjektive Umwelt zu gestalten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Bedeutung der Intensitätsfaktoren für die Entwicklung oder für die klinische Situation angezweifelt wird. Dieser Beitrag zeigte ein Modell der zugrundeliegenden Faktoren auf, die Intensität bestimmen. Die Plastizität der menschlichen Psyche war ebenso Thema, und ich habe versucht zu zeigen, dass sich frühere Dichotomien wie beispielsweise Objekt und Lust im Verständnis menschlicher Erfahrungen sinnvoll verbinden lassen. Darüber hinaus wurde thematisiert, dass Unterschiede in Intensitätsschwellen ein bestimmender Faktor im Urteil darüber sein kann, ob eine Erfahrung lustvoll, aversiv oder potenziell traumatisch ist. Übersetzung: Eva Karduck und Marianne Leuzinger-Bohleber

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Erneutes Nachdenken über krankhaftes Trauern Multiple Typen und therapeutische Annäherungen1

Von Beginn an hat sich die Psychoanalyse für die Frage interessiert, wie Vergangenes und Gegenwärtiges interagieren. Freuds Entdeckungen der Übertragung und seine Erkenntnisse, wie frühkindliche Erfahrungen die Gegenwart bestimmen, enthüllten eine von verschiedenen Varianten der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Freud fand bald heraus, dass diese Beziehung komplex ist, indem sie von beiden Richtungen her bestimmt wird. Daher sprach er von Nachträglichkeit, was als »deferred action« oder »aprÀs coup« übersetzt wird (Eickhoff, 2006; Faimberg, 2005; Thomä u. Cheshire, 1991). Mit dem Konzept der Nachträglichkeit wird erklärt, dass ein Ereignis in der Vergangenheit, in der die Symbolisierungsfähigkeit noch nicht ausgebildet war, um diesem Ereignis eine bestimmte Bedeutung zu geben, durch ein späteres Ereignis bedeutungsvoll wird. Freud untersuchte auch, wie Gedächtnis durch die Gegenwart modifiziert, verzerrt und angepasst wird (Freud, 1899). In diesem Beitrag diskutiere ich die Rolle der Gegenwart für die Rekonstruktion der Erinnerung einer verlorenen Person bei pathologischer Trauer. Ich werde zwischen verschiedenen Bedingungen unterscheiden, die pathologische Trauer hervorbringen und aufrechterhalten und dabei verschiedene Typen dieser Störung definieren. Ich werde zudem untersuchen, welche Implikationen diese Kategorisierung für psychoanalytische Behandlungen haben kann. Wie die Fantasie vom verlorenen Paradies durch Leiden an der 1 Dieser Beitrag erschien auch in: Leuzinger-Bohleber, Röckerath u. Strauss, 2010.

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Gegenwart entstanden ist, kreist die Entwicklung pathologischer Trauer um eine kontinuierliche Rekonstruktion der Erinnerungen an das verlorene Objekt und verleiht ihm Eigenschaften, über die es vor diesem Prozess nicht verfügte. Das aktuelle Unglücklichsein, das durch irgendwelche Umstände bestimmt sein mag, bringt eine Sehnsucht nach einer Zeit und einem Objekt hervor, die immer mehr idealisiert werden. Daher bietet es sich an, zwischen einer primären und einer sekundären Fixierung an das Objekt zu unterscheiden. Die primäre Fixierung an das Objekt bestand schon vor dem Verlust. Die sekundäre Fixierung, beziehungsweise die Fixierung an ein fantasiertes Objekt, wird in der Gegenwart konstruiert, da das Objekt nachträglich als Ursache von Glück und dem Fehlen von Leid gesehen wird. Ich werde ein klinisches Beispiel aufführen und daraufhin ein allgemeines Modell des pathologischen Trauerns vorschlagen.

Klinisches Fallbeispiel Die etwa 50-jährige Frau Y. begann eine Psychoanalyse wegen einer Depression nach dem Tod ihres Ehemannes. In unserer ersten Begegnung deutet ihr trauriger, vom Leiden gezeichneter Gesichtsausdruck und ihre verlangsamten Bewegungen eindeutig darauf hin, dass der Verlust ihres Ehemanns für sie ein verheerendes Ereignis geworden war. Ich erfuhr, dass der Ehemann ihr einen exklusiven Status in der Gesellschaft verschafft und ihr ein Leben voll spezieller Ehrerbietungen und narzisstischer Befriedigungen ermöglicht hatte. Dass sie all dies verloren hatte, erfüllte sie mit einem Gefühl von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Frau Y. kämpfte gegen die Einsicht in die Gründe für ihre Gefühle von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, was, wie wir sehen werden, wichtige Merkmale für pathologische Trauerreaktionen sind. Man flüchtet in eine idealisierte Identität: Frau Y. sah sich als die Witwe eines großen Mannes, der vom Rest der Welt vergessen wurde. Dies würde sie nie jemals tun. Sie kleidete sich ganz in Schwarz. Sie studierte die Schriften und Reden ihres Mannes, für die sie sich bisher nie interessiert hatte. Die Person © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ihres Mannes wurde zum Objekt einer zunehmenden Idealisierung und nahm einen immer größeren Platz in ihren Gedanken ein, weit mehr als zu seinen Lebzeiten. Dies führte zu einer sekundären Fixierung an das idealisierte Objekt. Aber dieser Versuch einer narzisstischen Kompensation erwies sich als unhaltbar, da die feindselige Haltung von Frau Y. gegenüber ihr nahestehenden Personen eine Zurückweisung provozierte, die sie zunehmend hilfloser werden ließ, da sie unfähig war, die erwünschten Reaktionen hervorzurufen, die für sie so unentbehrlich waren. Ihre Kontakte reduzierten sich immer mehr. Schließlich stand sie nur noch mit wenigen Familienmitgliedern und dem Therapeuten in Kontakt. Dies erfüllte sie mit Bitterkeit. Sie erwartete, dass ich ihre feindselige Wahrnehmung von fast allen Personen teilte. Ich musste taktvoll mit Frau Y. umgehen. Auf der einen Seite fühlte ich, dass ich ihren Übertragungswunsch akzeptieren sollte, und sie in einer nicht expliziten Weise wissen lassen sollte, dass ich ihre menschlichen Tugenden, ihre Intelligenz und ihre Interessen wertschätze. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass ich mich nicht darauf beschränken konnte, da ich dadurch ihre rachsüchtigen und narzisstischen Sichtweisen unterstützen würde, die ich als wichtige Gründe für ihr psychisches Leiden betrachtete. Im Laufe der Behandlung konnte ich ihr helfen, ihre narzisstischen Bedürfnisse wahrzunehmen, die unter anderem mit den hohen Anforderungen in Zusammenhang standen, die in ihrer Familie an sie gestellt worden waren. In der Familie hatte sie für ihren Platz zwischen ihren Brüdern kämpfen müssen, die von ihrem Vater vorgezogen worden waren. Sie hatte an der emotionalen Atmosphäre partizipiert, die ihre Mutter, als aufopfernde Frau mit verdeckten, aber deutlichen paranoiden Elementen, um sich verbreitet hatte. Die Mutter hatte sie oft mit ihrer Bitterkeit überschüttet. Aber die Isolation von Frau Y. war nicht nur das Ergebnis eines narzisstischen Rückzugs, das ihr Überlegenheitsgefühl in der selbst gewählten Einsamkeit sicherte. Schon seit ihren ersten Lebensjahren war sie ein ängstliches Kind gewesen, das die äußere Realität als gefährlich wahrgenommen hatte. Der Verlust ihres Ehemannes hatte diese alten Ängste reaktiviert. Zusammen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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mit dem narzisstischen Kern litt Frau Y. an einer paranoiden Komponente in ihrer Persönlichkeit, die ihr das Gefühl vermittelte, von Personen umgeben zu sein, die ihr schaden könnten. Dieses Grundgefühl war durch drei Komponenten bestimmt: die Identifikation mit dem Verhalten der Mutter und deren Grundhaltung, von allen und jedem bedroht zu sein, der Gewaltbereitschaft ihres Vaters und der Projektion ihrer eigenen feindseligen Impulse. Wann immer ich die paranoiden Komponenten in der Behandlung ansprach, musste ich gleichzeitig ihre narzisstischen Bedürfnisse im Auge behalten, die Frau Y. so leicht »Gefühlen der Schwäche und der Angst aussetzten«, wie sie dies einmal ausdrückte, als sie über eine Arbeitskollegin sprach. Es war ein wichtiger Moment in der Therapie, als sie fähig war zu verstehen, dass es ein Zusammenhang gab zwischen der Idealisierung ihres Ehemanns einerseits und ihrem Misstrauen gegenüber der Umwelt andererseits. Ihre Feindseligkeit gegenüber Personen in der Außenwelt führte zu einer Regression auf eine exklusive Beziehung zu ihrem Ehemann, der nun idealisiert werden musste. Die Idealisierung von ihm diente auch der Versicherung, dass sie nie mehr eine befriedigende Beziehung in der Außenwelt finden werde. Es hätte sich als sinnlos erwiesen, die Idealisierung des Ehemanns in Frage zu stellen oder zu versuchen, Frau Y. zu ermöglichen, ihre Ambivalenz und Feindseligkeit ihm gegenüber wahrzunehmen. Dies hätte bedeutet, die imaginäre Beziehung zu ihrem toten Ehemann zu verleugnen, die aufgrund des unerträglichen Leidens in der Gegenwart konstruiert wurde und gleichzeitig auf ihrer massiven Störung der narzisstischen Selbstwertregulation und ihrer basalen Unsicherheit beruhte. Wir müssen dies in Rechnung stellen, wenn wir unseren Patienten bei ihrer Trauerarbeit helfen möchten. Es erweist sich als notwendig, nicht nur die Beziehung zum verlorenen Objekt zu fokussieren, sondern gleichzeitig der trauernden Person zu helfen, ihre Ängste und Grenzen zu überwinden, die es notwendig machen, ein Objekt zu konstruieren, das weder in der äußeren noch der inneren Realität je existierte. Um den Fall von Frau Y. kurz zusammenzufassen: Der Verlust © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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des Ehemanns schuf eine Situation, die ihre narzisstische Selbstwertregulation grundlegend destabilisierte und Gefühle der Hilflosigkeit hervorbrachte, auf die sie mit Aggressivität, grandioser Isolation und einer zunehmenden Idealisierung ihres Ehemanns reagierte. Diese Abwehr ihrerseits hatte einen Teufelskreis zur Folge: Je aggressiver sie wurde, desto mehr Ablehnung erfuhr sie von realen Bezugspersonen. Dies führte zu einer narzisstischen Retraumatisierung und förderte durch Projektion der eigenen Aggressivität ihr Misstrauen Menschen gegenüber. Ihre Schwierigkeiten, eine Verbindung zu der äußeren Realität herzustellen, wo sie potenziell ein Ersatzobjekt finden könnte, verstärkten die Idealisierung des verlorenen Objekts – im Sinne einer sekundären Fixierung. Als Folge davon wurden wiederum ihre Schwierigkeiten verstärkt, Kontakte zu Personen in der Außenwelt zu knüpfen, die sie als unterlegen empfand, wenn sie sie mit dem verlorenen, idealisierten Objekt verglich. Als Konsequenz verstärkten sich ihre Gefühle der Hilflosigkeit. Sie gab die Hoffnung auf, je den Zustand eines tragenden Selbstgefühls wiederzuerlangen, zu dem das idealisierte Objekt vor seinem Tod beigetragen hatte. Wir könnten uns die Frage stellen, ob die Idealisierung des Ehemanns durch Frau Y. auch durch Schuldgefühle im Zusammenhang mit ihrer Ambivalenz verursacht gewesen sein könnte, Ambivalenzen, die nach seinem Tod sichtbar wurden. Die Sequenz von Ambivalenz, unbewusstem Schuldgefühl und defensiver Idealisierung gehört ohne Zweifel zu manchen melancholischen Prozessen nach dem Verlust eines Liebesobjekts. Aber im Fall dieser Frau spielten, so weit ich dies erkennen konnte, Schuldgefühle keine entscheidende Rolle, obschon Ambivalenzen immer zu menschlichen Beziehungen gehören. Stattdessen standen narzisstische Gefühle im Zentrum. Ihre Depression entspricht eher jener, die Kernberg wie folgt beschrieb: »Eine Form der Depression, die mehr mit der Qualität einer impotenten Wut oder mit Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit mit dem Zusammenbruch eines idealisierten Selbstkonzeptes in Zusammenhang steht« (Kernberg, 1975, S. 20). Kernberg unterscheidet

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diesen Typ der Depression von anderen Formen der Depression, in denen die Schuldgefühle dominieren. Der Ehemann hatte Frau Y. ermöglicht, einen idealen Zustand narzisstischen Wohlbefindens aufrechtzuerhalten. Durch seinen Tod verlor sie auch diesen Zustand. Wie Sandler und Joffe (1965, S. 92) feststellten: »Psychischer Schmerz reflektiert daher eine Diskrepanz zwischen dem aktuellen Zustand des Selbst und einem idealen Zustand des psychischen Wohlergehens. Falls die Präsenz eines Liebesobjekts eine essenzielle Bedingung für die Annäherung des aktuellen an ein ideales Selbst ist, dann muss der Verlust des Objekts (oder jede andere essenzielle Vorbedingung dieser Art) zwangsläufig in psychischen Schmerz münden. Falls das Individuum sich hilflos, impotent und resigniert angesichts der schmerzlichen Situation fühlt, dann erlebt es die affektive Antwort der Depression«.

Im Fall von Frau Y. können wir von einer sekundären Fixierung sprechen. Als ihr Mann noch lebte, fühlte sie sich nicht in einer nahen Beziehung mit ihm verbunden. Der Ehemann war keine Bindungsperson. Wenn er verreist war, sogar monatelang, vermisste sie ihn nicht, wie sie mir oft erzählte. Im Gegenteil fühlte sie sich erleichtert, dass sie nichts mit ihm unternehmen musste. Sie hatte ihn nicht geheiratet, weil sie in ihn verliebt war, sondern eher weil er ihr den Zugang zu bestimmten sozialen Schichten eröffnete, denn ihr Ehemann war in einer sozial herausgehobenen und bewunderten Position. Dieses Faktum hatte zu ihrer Entscheidung beigetragen, ihn zu heiraten. Im Laufe der Behandlung von Frau Y. wurde mir klar, dass die Wirkung meiner Deutungen, die eine Veränderung bewirken sollten, nicht nur vom Wahrheitsgehalt oder von der adäquaten Beschreibung ihres psychischen Zustandes abhängig waren, sondern auch von der Unterstützung einer gewissen Befriedigung und Freude, die diese in einem ihrer Motivationssysteme auslösten (mehr dazu Bleichmar, 2004; Lichtenberg, 1989). Die Macht der Wahrheit und die Argumentationen müssen immer dadurch unterstützt werden, dass sie die Bedürfnisse und Wünsche des Subjekts ansprechen, um die Motivation des Subjekts für den Veränderungsprozess zu stärken. Ob Frau Y. meine Inter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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pretationen annehmen konnte, war oft davon abhängig, ob sie ihre Gefühl des Angenommenseins verstärkten, sowie das Gefühl, in nahem Kontakt mit mir als Bindungsperson zu stehen. In anderen Sequenzen akzeptierte sie meine Interventionen bezüglich ihrer Feindseligkeit und was diese hervorbrachte, weil sie ihren Wunsch verstärkten, sich in Richtung eines idealen Ichs zu entwickeln. Dies ermöglichte ihr auf die narzisstische Befriedigung zu verzichten, die ihr bisher das pathologische Verhalten ermöglicht hatte. Stattdessen konnte sie einen narzisstischen Gewinn daraus ziehen, dass sie über den Mut und die Fähigkeit zur Veränderung verfügte. Die Depression, an der Frau Y. nach dem Tod ihres Ehemanns litt, muss von anderen Formen der Depression abgegrenzt werden, die dadurch charakterisiert werden können, als sie das Fehlen des emotionalen und physischen Kontakts zum verlorenen Objekt als Quelle ihres Leidens erleben. Das Objekt war eine wichtige Bindungsperson gewesen, mit einer exklusiven Bedeutung für das Selbst und einer primären Fixierung auf dieses Objekt. Sie muss zudem von anderen Formen der Depression unterschieden werden, die sich vor allem durch schwere Schuldgefühle wegen des Schicksals des verlorenen Objekts charakterisieren lassen. Eine solche Depression wies einer meiner Patienten auf, dessen Baby in seinem Bettchen an Erbrochenem gestorben war, während seine Frau und er im Nebenraum Fernsehen schauten. Es ist zudem ein Unterschied, ob das Objekt dem Subjekt ein basales Sicherheitsgefühl vermittelte. Verliert das Subjekt das Objekt, wird es einem kontinuierlichen Zustand der Angst, der Erstarrung und der Hemmung ausgesetzt, sowie von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit bezogen auf alle Formen von Leistung erfüllt. Diese Sequenz ist charakteristisch für einen Objektverlust, gefolgt von Angst, Hemmung und Frustration von vielen Wünschen, die nur durch Aktivitäten in der Realität erfüllt werden können. Dieser Form der Depression gehen phobische Vermeidungen voraus.

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Auf dem Weg zu einer Klassifikation pathologischer Trauerreaktionen Im Fall von Frau Y. stehen Gefühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, das zu erreichen, was man sich wünscht, im Zentrum der pathologischen Trauer. Doch bedarf es einer genaueren Klassifikation der Hilflosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, um verschiedene Formen der pathologischen Trauer genauer zu differenzieren. Bezogen auf das Objekt können verschiedene Typen unterschieden werden, je nach der Funktion, die sie für das Subjekt erfüllen. So kann differenziert werden, ob das Objekt für verschiedene Motivationssysteme wichtig ist: zur Befriedigung von Wünschen oder zur Beruhigung von Angst oder als Selbstschutz. Manche Objekte sind für die Befriedigung sexueller Wünsche wichtig, manche für die psychologische Regulation oder das Lindern von Ängsten. Manche haben eine zentrale Bedeutung für die mentale Organisation, für ein Gefühl der Vitalität, das Identitätsgefühl oder die narzisstische Selbstwertregulation. Falls das Objekt verloren wird, werden diese verschiedenen Funktionen des Subjekts gestört: Das psychologische Gleichgewicht geht verloren. In »Hemmung, Symptom und Angst« (1926) stellte Freud die folgende Frage: »Wann macht die Trennung vom Objekt Angst, wann Trauer und wann vielleicht nur Schmerz?« (Freud, 1926, S. 202). Wir können die Funktionen, die das verlorene Objekt erfüllte, für eine anfängliche Beschreibung der Bedingungen nutzen, die zu verschiedenen Symptomen nach dem Objektverlust führen. Wenn diese verschiedene Gefühle von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit hervorrufen, können sie unterschiedliche Manifestationen von pathologischem Trauern bewirken. Falls das Objekt dem Sicherheitsgefühl dient, führt sein Verlust zu einem Gefühl von Gefahr. Falls es der psychobiologischen Regulation dient, entsteht nach seinem Verlust emotionale Desorganisation, Angst und sogar ein neurovegetatives Ungleichgewicht. Falls es ein Gefühl der Vitalität und des Enthusiasmus bedient, folgt seinem Verlust Gleichgültigkeit. Dient es vor allem der narzisstischen Befriedigung, schafft seine Abwesenheit ein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Ungleichgewicht in dieser Dimension. Ist das Objekt vor allem darauf angewiesen, umsorgt und beschützt zu werden und Glück für andere hervorzubringen, kann sein Verlust Schuldgefühle evozieren, verbunden mit Gefühlen der Leere und der Konfusion, da sein Verlust eine Identitätskrise bewirkt, denn das basale Identitätsgefühl ist stark davon abhängig, für andere zu sorgen. Ob eine klinische Depression im Zusammenhang mit pathologischem Trauern entsteht, hängt stark von der Tendenz ab, sich hilflos und hoffnungslos zu fühlen. Diese Gefühle sind für manche Personen basale Reaktionen auf Frustrationen oder Ablehnungen, die auf Erfahrungen zurückgehen, die mit Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit verbunden waren. Eine weitere Möglichkeit sind Identifikationen mit wichtigen Bezugspersonen, die an diesen Gefühlen litten. Die Tendenz, sich in Situationen hilflos zu fühlen, wenn Wünsche frustriert werden, kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein und stellt oft eine entscheidende Dimension bei pathologischer Trauer dar. Ein anderer, möglicherweise konstitutionell mitbedingter Faktor ist die Bereitschaft, mit Aggressionen auf psychischen Schmerz zu reagieren. Allerdings bestimmt Aggression nicht allein die pathologische Trauer. Immer muss bedacht werden, mit welchen psychischen Tendenzen sie einhergeht. So sind beispielsweise projektive Mechanismen entscheidend. Falls diese sehr ausgeprägt sind, wird der Objektverlust zu einer paranoiden Trauer führen, die Kritik an der Umgebung und an anderen Objekten einschließt. Falls Aggression mit der Tendenz einhergeht, Schuldgefühle zu empfinden, dann liegt ein Typ von pathologischer Trauer vor, in denen Momente der Aggression von Schuldgefühlen gefolgt werden. Der Verlust einer wichtigen Bezugsperson kann einen Trauerprozess bedingen aufgrund anderer Nachwirkungen von früheren Verlusten bei einer anaklitischen Persönlichkeit als bei introjektiven Persönlichkeiten. Die Arbeiten von Blatt (2004) betreffen diese beiden Dimensionen. Sie beruhen auf Untersuchungen mit konsistenten Ergebnissen und stellen eine wichtige Orientierung für psychoanalytische Kliniker dar, um verschiedene Typen von Symptomen zu verstehen, die in klinischen Depressionen dominieren. Sie stellen auch einen gewissen Grad © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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an Vorhersagemöglichkeiten der Wirkung verschiedener Interventionen zur Verfügung, die sich um Unterstützung oder Einsichten drehen. So aktivieren die schmerzlichen Affekte und Ängste, die im Trauerprozess mobilisiert werden, unterschiedliche Antworten, die von den basalen Persönlichkeitsstrukturen abhängen. Manche Borderline-Persönlichkeiten reagieren zum Beispiel mit einer Desorganisation oder einem Ausagieren, weil sie psychischen Schmerz nicht ertragen können. Wir sollten eine doppelte Diagnose in Rechnung stellen: auf der einen Seite den Inhalt der pathologischen Trauer, von Schuld, narzisstischem Ungleichgewicht und Ängsten. Auf der anderen Seite: Ich-Organisation, Unterscheidung zwischen dem Primär- und Sekundärprozess und der Über-Ich-Struktur. Dies bedeutet, dass wir differenzieren müssen zwischen den Inhalten, die durch den psychischen Apparat verarbeitet werden, und den Operationen, die dabei benutzt werden, wie sie durch das Strukturmodell beschrieben werden. Was ich soeben ausgeführt habe, unterstützt die Idee, dass bestimmte Formen des pathologischen Trauerns am besten in einem dimensionalen Modell der Psyche erfasst werden können. Dieses Modell betont psychisches Funktionieren und beschreibt es als das Produkt verschiedener Kombinationen von Dimensionen, die sich in komplexen Strukturen niederschlagen. Dies ist eine Sichtweise, die psychoanalytische Kategorisierungsversuche kennzeichnen, etwa im Gegensatz zu Kategoriensystemen, die isolierbare Kategorien definieren, wie in den verschiedenen Versionen der standardisierten diagnostischen Manuale (DSM oder ICD, die Übersetzerin). Durch all das, was bisher illustriert wurde, kann sichtbar werden, was als das Spezifische einer psychoanalytischen Diagnostik betrachtet werden kann: Es wird versucht, verschiedene mentale Zustände und Verhaltensweisen zu beschreiben sowie die multiplen Komponenten, die diese organisieren. Speziell interessieren die Transformationen, die als Ergebnisse affektiver Motivationen stattfinden und für psychoanalytische Therapien relevant sind. Dies erlaubt uns, mit den Komponenten direkt zu intervenieren, und nicht nur mit den Produkten ihrer Interak© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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tionen (Symptomen, Verhaltensweisen etc). Zudem können therapeutische Interventionen sich an jeden Schritt dieses Transformationsprozesses anpassen. Daher ist die psychoanalytische Diagnostik abhängig von Beobachtungen, wie der Patient im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen und im »realen« Leben reagiert. Noch in einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich die Psychoanalyse von der kognitiven Psychologie: Die Psychoanalyse behandelt nicht nur verschiedene Typen der unbewussten Informationsverarbeitung und der Abwehr. Sie legt zudem die Priorität auf die Affektivität und ihre Bewegungen. Freud unterschied zwischen der Besetzung von Affekten und Ideen und antizipierte daher viele der heutigen Befunde der modernen Neurowissenschaften. Diese zeigen eindrucksvoll, dass Affektivität, Kognition und neurohormonelle Organisationen miteinander interagieren und gegenseitige Veränderungen auslösen. Unbewusste Fantasien und Kognitionen verändern einerseits die Affektivität, werden aber andererseits auch von ihr selbst beeinflusst. Daher hängt das Denken einer Person von ihrem Fühlen ab und umgekehrt (Forgas, 2003). Sobald ein affektiver Zustand aktiviert ist, mag er die Ideen evozieren, die in einer Beziehung zu ihm stehen mögen.

Der Untergang oder die Deaktivierung gewisser unbewusster Inhalte In »Der Untergang des Ödipuskomplexes« (1924) stellte Freud eine Konzeptualisierung des Unbewussten vor, die die Analytiker seiner Zeit in Erstaunen versetzte. Er postulierte, dass unter bestimmten Bedingungen – Fehlen von Befriedigung, Kastrationsgefahr etc., das heißt unter bestimmten psychologischen Bedingungen – der Ödipuskomplex eine sehr spezielle Richtung nehmen kann: »Aber der beschriebene Prozeß ist mehr als eine Verdrängung, er kommt, wenn ideal vollzogen, einer Zerstörung und Aufhebung des Komplexes gleich« (Freud, 1924, S. 177). Wie können wir dies verstehen? Meint er damit, dass die gesamten unbewussten Spuren der präödipalen Wünsche und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Ängste, Repräsentationen und Affekte und die damit verbundenen Fantasien vollständig verschwinden? Die Übertragung, die Reaktivierung frühkindlicher Erfahrungen machen es schwierig zu akzeptieren, dass etwas so Entscheidendes einfach verschwinden könnte. Aber Einwände gegen die Übertreibung, die im Begriff des »Untergangs« (Levy, 1995) enthalten sind, können diesen Punkt nicht aushebeln. Freud dachte in Begriffen der Auflösung und Zerstörung. Er meint damit, dass irgendetwas im Unbewussten die motivationale Stärke verlieren könnte und nicht mehr derart massiv psychisch präsent sei. Dies unterscheidet solche psychischen Phänomene und jene, die der Abwehr anheimfallen und ihre Stärke behalten und einen ständigen defensiven Aufwand benötigen. Ist es die Frage nach verschiedenen Ebenen der motivationalen Stärke der unbewussten Inhalte, die in der Einleitung zum »Untergang« gemeint sind? Falls das Unbewusste nicht in bestimmten separaten Bereichen aktiviert oder deaktiviert werden könnte, könnten wir auch nicht verschiedene Zustände der Leidenschaft unterscheiden. Menschen erleben seelische Momente, die von Zuständen des Hasses oder der Zärtlichkeit, von Liebe und Angst dominiert werden. Jeder dieser Zustände deaktiviert jene, die ihm entgegengesetzt sind. Diese Zustände betreffen nicht hauptsächlich die Organisation des Bewusstseins, denn Angst oder Verfolgung sind dauernd im Unbewussten präsent. Falls die entsprechenden Ebenen der Angst und der Aufmerksamkeit nicht tolerabel wären, könnten wir uns nie entspannen oder schlafen. Die eben angestellten Überlegungen führen zu der Überzeugung, dass im Unbewussten aktive Inhalte mit einer intensiven motivationalen Stärke neben solchen existieren, die sich auf verschiedenen Ebenen der Aktivierung befinden. Wir sehen Patienten, die durch flache Affekte und Aktivierungen charakterisiert werden können. Unsere Interpretationen und Klarifikationen erreichen sie als Ideen, ohne dass gleichzeitig ihre Affekte mobilisiert werden und ein Aktivierungsniveau hervorbringen, wie wir dies bei anderen Patienten beobachten. Diese Beobachtung ist für die psychoanalytische Therapie entscheidend, denn in psychoanalytischen Interpretationen geht es nicht nur um das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Rückgängigmachen von Verdrängung und Spaltung. Es geht oft auch darum, wie etwas reaktiviert werden kann, das einem Deaktivierungsprozess anheimgefallen ist. So ist in bestimmten Formen der pathologischen Trauer zu beobachten, dass nicht Traurigkeit dominiert, sondern eine gravierende Verflachung der Affektivität, ein Verlust an Vitalität sowie ein geringes Niveau der Aktivierung. Genügt es daher, dass der Analytiker lediglich mit Interpretationen arbeitet, oder muss die Vitalität des Analytikers nicht gleichzeitig eingesetzt werden, um jene Kerne der Vitalität des Patienten zu erreichen, die einem Prozess der Deaktivierung anheimgefallen sind? Die Affektivität und das Niveau der Aktivierung zeigen einmal mehr, dass die Position des Analytikers durch Widersprüche, disparate Tendenzen und Aufgaben bestimmt wird, die bewusst und unbewusst in den Therapien in Handlung umgesetzt werden, ein Thema, das Friedman (1988) ausführlich behandelt hat. Als Analytiker müssen wir uns auf der einen Seite zurückhalten, um dem Selbst des Patienten den Raum zu geben, dass es sich entwickeln kann. Auf der anderen Seite müssen wir spontan und authentisch sein, um Identifikationen des Patienten mit solchen zu vermeiden, die nicht spontan und authentisch sind, aus welchen Gründen auch immer. Wir müssen uns für Rollenübernahmen (role responsiveness) öffnen (Sandler, 1976). Zudem müssen wir das Niveau der Affekte und Aktivierungen der Phase der Therapie und jedem einzelnen Patienten anpassen. Bei einem Patienten, der von seinen Affekten überflutet wird, wird es notwendig sein, dass der Analytiker durch den Ton seiner Stimme, den Rhythmus, seine Affektivität und sein Erregungsniveau das Containment (Bion, 1962) fördert und dazu beiträgt, die Regulation »hinunterzufahren«. – Dagegen wird es bei einem Patienten mit einer verflachten Affektivität, der einen Mangel an Energie und Narrative ohne Vitalität zeigt, notwendig sein, dass der Analytiker nicht in einem Zustand der affektiven Neutralität verharrt und ein geringes Aktivierungsniveau in der Stimme, dem Sprachrhythmus und der Ausdrucksstärke wählt. Sonst würde er riskieren, die Charaktereigenschaften des Patienten zu verstärken trotz der Tatsache, dass er vielleicht richtige Deu-

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tungen der biografischen Ursachen dieser Charaktereigenschaften gibt. Vielleicht sollten wir zwischen Patienten unterscheiden, – die ihre Affekte blockieren wegen aktueller Konflikte oder einer Aktivierung früherer Konflikte. Dies ist eine Strategie, internalen und externalen Bedingungen nicht ins Auge zu schauen, da dies sonst generalisierte Angst evozieren würde; und – solchen, die sich in den prägenden Momenten ihrer Lebensgeschichte mit Eltern identifiziert haben, die ein geringes Affekt- und Aktivierungsniveau aufwiesen und / oder deren Wünsche nach einer affektiven Antwort nicht in adäquater Weise befriedigt wurden. Durch diese Prozesse wurde das Affekt- und Aktivierungsniveau sukzessiv reduziert und in eine Charaktereigenschaft eingebaut. Die Notwendigkeit, unterschiedliche Patienten mit einer unterschiedlichen Behandlungstechnik zu behandeln, veranlasste den Autor Blum (1991), der der Ansicht ist, dass nur Interpretationen und Einsicht strukturelle Veränderungen bewirken können, zu folgender Aussage: »Je nach den allgemeinen Persönlichkeitsstrukturen und den entsprechenden Ich-Ressourcen werden viele Formen der affektiven Störungen am besten durch Psychoanalysen behandelt. Andere mögen eher von der expressiven Psychotherapie profitieren, in der affektiver Austausch im direkten Gegenüber oder unterstützende Anerkennung und reale Beziehungsangebote eine zentrale Rolle spielen. Dies gilt vor allem für Personen mit schweren Störungen« (Blum, 1991, S. 287).

Doch ist die Verwendung von Affektivität und des Niveaus der neurovegetativen Aktivierung des Analytikers als einem Bestandteil der Behandlungstechnik ein kontroverses Thema, das noch nicht zu einem endgültigen Ergebnis geführt hat. Um folgende Fragen zu beantworten, ist zusätzliche konzeptuelle und klinische Forschung notwendig (vgl. Jim¦nez, 2007; LeuzingerBohleber u. Fischmann, 2006): In welchen Fällen oder in welchen Gruppen von Fällen erweist sich eine solche Behandlungstechnik © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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als Risiko, die den analytischen Prozess unterbrechen kann? Und bei welchen Patienten oder Patientengruppen können wir solche Techniken mit Einsicht und Interpretationen kombinieren?

Unterschiedliche Reaktionen auf einen Objektverlust Pathologisches Trauern ist mit einem basalen seelischen Zustand verbunden, in dem sich das Subjekt hilflos und hoffnungslos fühlt (Bibring, 1953; Bleichmar, 1996; Haynal, 1977), da es das Objekt und seine Beziehung zu ihm nicht wiederfinden kann, eine Beziehung, die es als Voraussetzung erlebt, einen Zustand des Wohlbefindens herzustellen (Sandler u. Joffe, 1965). Ich verwende den Begriff eines basalen seelischen Zustandes, um darauf hinzuweisen, das eine Person in ihrer pathologischen Trauer verschiedene Stadien durchschreitet: Traurigkeit dominiert in manchen dieser Zustände, während in anderen psychisches Leiden verschiedene Formen der Abwehr initiiert, als Versuch diesem zu entrinnen (Brenner, 1982; Grinberg, 1992; Haynal, 1977; Hoffman, 1992; Jacobson, 1971; Klein, 1940; Kohut, 1971; Pollock, 1989; Stone, 1986). Pathologische Trauer schließt also die Bemühung der Restitution von dem ein, was man in der Fantasie verloren hat. Dies modifiziert das erlebte Ereignis und führt zu einem neuen, sich unterscheidenden Ergebnis, das im Dienste der subjektiven Wünsche steht (Renik, 1990). In anderen Fällen appelliert das Subjekt durch Weinen an die nahestehenden Menschen. Es können aber auch Selbstvorwürfe dominieren, die zu verschiedenen Formen der Selbstbestrafung führen, um Schuldgefühle zu entlasten und die Liebe des Über-Ichs wiederzugewinnen (Rado, 1951). In anderen Fällen führen Dissoziationen das Subjekt in einen Zustand des pathologischen Trauerns, der sich nicht in einer Depression manifestiert, sondern stattdessen in einem breiten Spektrum von Verhaltensweisen, die den Versuch darstellen, das Leiden, das durch den Objektverlust ausgelöst wird, in Distanz zu halten. Solche Mechanismen sehen wir beim Drogenmissbrauch, zwanghaften Handlungen etc. In manchen Momenten wird die Depression in den Hinter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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grund verbannt und durch die Angst ersetzt, die durch das Gefühl entsteht, in Gefahr zu sein, weil das schützende Objekt verlorengegangen ist. In diesen Fällen ist die Angst die zentrale Komponente. In anderen Fällen finden wir eine generalisierte Phobie mit Ängsten vor allem und jedem sowie hypochondrische Gedanken. Solche Symptome tauchten erst nach dem Objektverlust auf und stehen mit dem Wunsch in Zusammenhang, das Objekt wiederzugewinnen. Diese Ängste breiten sich schließlich in der gesamten Repräsentanzenwelt des Subjekts aus und bestimmen die Wahrnehmung, dass das Subjekt nicht fähig ist, der Realität oder Gefahren direkt ins Auge zu schauen, die auch vom Körper selbst ausgehen können (Rosenfeld, 1965). Die Selbstrepräsentation des Subjekts, hilflos, unfähig, minderwertig oder schwach zu sein, schaffte die Bedingung, dass alles als bedrohlich erlebt wird. Furcht vor inneren und äußeren Gefahren ist die Folge. Furcht ist immer das Produkt eines Vergleichs zwischen den Selbst- und Objektrepräsentanzen. Welche Gefahren im Folgenden als solche wahrgenommen werden, hängt sehr von der spezifischen Biografie und den spezifischen Vulnerabilitäten des Individuums ab. So treten beispielsweise hypochondrische Ängste, die bisher latent psychisch präsent waren, in den Vordergrund oder aber paranoide Fantasien, angegriffen zu werden, oder umgrenzte Phobien. Alte Identifikationen mit hypochondrischen oder paranoiden Eltern, die sich nie zuvor als Symptome äußerten, finden nun die geeigneten Bedingungen, um sich zu entwickeln. Die eben angestellten Überlegungen mögen einiges erklären, was wir in Behandlungen beobachten: Oft löst sich ein Symptom auf, das in die eigentliche psychotherapeutische Arbeit nicht direkt eingeschlossen worden war. Dieses Ergebnis mag mit der Modifikation der gesamten Repräsentanzenwelt des Subjekts in Beziehung stehen. Das basale Gefühl von Sicherheit wurde gestärkt und schaffte dadurch die Voraussetzungen, um das Symptom überflüssig werden zu lassen. Basale Gefühle der Unsicherheit und Hilflosigkeit können manifeste Symptome bekanntlich auslösen.

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Durcharbeiten Das Durcharbeiten pathologischer Trauer muss multiple Faktoren einschließen, die sich in jedem Fall wieder anders darstellen. Es sind Faktoren, die die Ablösung vom verlorenen Objekt erschweren, die primäre Fixierung, und die das Subjekt daran hindern, Beziehungen zu Ersatzobjekten aufzunehmen. Diese Hinwendung würde auch Erinnerungen an das verlorene Objekt reaktivieren, das nun idealisiert wird und eine sekundäre Fixierung bewirkt. Behandlungen von pathologisch Trauernden bleiben wirkungslos, solange nicht das narzisstische Ungleichgewicht und die paranoiden Ängste modifiziert werden. Falls die ursprünglichen oder defensiven Schuldgefühle nicht bearbeitet und die emotionalen und instrumentellen Instrumente nicht entwickelt werden, um real sich bietende Gelegenheiten für die Loslösung vom verlorenen Objekt zu nutzen, bleibt die pathologische Trauer bestehen. Die Bedingungen, die den Objektverlust so verheerend machen, bleiben dann erhalten. Die Dimensionen, die ich soeben skizziert habe, können unsere Interventionen in jedem spezifischen Falle leiten, obschon wir im Auge behalten sollten, dass sich unsere therapeutische Arbeit immer zwischen zwei gegensätzlichen Polen bewegt: Auf der einen Seite fokussieren wir die wichtigsten Interventionen im Sinne der therapeutischen Aufgabe und wählen sie entsprechend aus, aber auf der anderen Seite sind wir offen für alles, was neu auftaucht und wir nicht voraussehen können. Dies bedeutet das Beibehalten der frei flottierenden Aufmerksamkeit, die die analytischen Therapien kennzeichnet und die uns erlaubt, dem individuellen Kurs, den der Patient in der Therapie einschlägt, zu folgen und nicht einem rigiden, vorher festgelegten Plan. Ein wichtiger Faktor bei der pathologischen Trauer ist die Fixierung auf Gefühle der Hilflosigkeit und der Hoffnungslosigkeit in früheren Lebensphasen (Bibring, 1953). Eine reale Erfahrung, eine wichtige Person verloren zu haben und sich nicht ohne sie weiterentwickeln zu können, bleibt in der Psyche eingegraben als »Wahrheit«, dass Verluste irreparabel sind. Aber das Vertrauen in die Fähigkeit der Wiederherstellung (repair) hängt nicht nur davon ab, was sich im realen Leben ereignet hat oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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was mit der realen Wiederherstellung geschah, sondern auch von der Überzeugung, die dem Subjekt durch wichtige Bezugspersonen vermittelt wurde, dass Wiederherstellung möglich ist, und was das Subjekt selbst dazu beitragen kann (Brown u. Harris, 1989; Hagman, 1996; Shane u. Shane, 1990). Die Macht des Gesprächs und die Haltung wichtiger Bezugspersonen hat eine entscheidende Implikation, um zu verstehen, was die Funktion des Analytikers in der Behandlung sein kann, bezogen auf die Fähigkeit des Patienten, pathologisches Trauern zu überwinden. In der Tat hängt die Fähigkeit, Bewegung in den Trauerprozess in Richtung Wiederherstellung zu bringen, teilweise davon ab, ob jemand die Fantasie oder die Überzeugung hat, dass es überhaupt möglich sein wird, auch Formen des destruktiven Narzissmus zu überwinden (Rosenfeld, 1987). Auch die Intoleranz gegen Schuldgefühle ist in diesem Zusammenhang entscheidend (Steiner, 1990). Zudem ist auch das Vertrauen des Analytikers in die Kapazitäten des Analysanden wichtig, ob er diese Schwierigkeiten überwinden kann, wobei dies in tausenderlei Formen vorkommen mag, die natürlich meist unbewusst sind. Doch dies ist ja auch die Ebene des psychischen Funktionierens, auf die es wirklich ankommt und die dem Patienten hilft, die Hoffnung auf eine andere Zukunft aufrechtzuerhalten. Analytische Therapie ist wie eine Wette, dass etwas verändert werden kann. Doch ist die Voraussetzung dafür, dass wir Psychoanalytiker davon auch überzeugt sind. Die Grenzen der Veränderungen des Patienten werden nicht nur durch seine Pathologie und seine Ressourcen bestimmt, obschon diese Variablen zweifelsohne sehr wichtig sind. Die Überzeugung des Analytikers und sein Vertrauen in die verändernde Macht der Analyse sind zusätzlich wichtige Variablen. Bei manchen depressiven Patienten besteht die Gefahr, dass sich ein Typ von Masochismus entwickelt, bei dem die Intimität gesucht wird, um zu leiden. In diesen Fällen bildet die Freude, den Schmerz zu teilen, ein Gegengewicht zu früheren Momenten, in denen es der Patient so sehr gebraucht hätte, dass jemand den Schmerz des Patienten gefühlt, akzeptiert und miterlebt und ihn bei seinen schmerzlichen Erfahrungen begleitet hätte, statt ihn zu interpretieren. Auch in diesen Situationen kann beides eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Veränderung bewirken, die Macht der Beziehung und die Macht der Deutung, wobei beiden ihre eigene Rolle zukommt. Nur klinische Weisheit und unsere Sensibilität können entscheiden, wann und wie sich diese beiden Faktoren ausdrücken und ergänzen. Diese Thematik ist eng mit dem Wert und der Auswirkung des empathischen Zuhörens verbunden, das beim Leiden und beim Trauma zum therapeutischen Faktor wird. Rim¦ (2007) zeigt in einer gut dokumentierten Arbeit den verändernden Wert, der in dem gemeinsamen Teilen von schmerzlichen emotionalen Erfahrungen besteht. Doch auch wenn dies eine wichtige Unterstützung darstellt, wie auch Beruhigung, Trost, Legitimation, Bindung und Empathie und als Folge davon emotionale Regulation, genügt das gemeinsame Erleben von Schmerz nicht für eine therapeutische Veränderung. Veränderungen in den tiefen Überzeugungen des Patienten über sein Selbst, den Anderen und die Realität im Allgemeinen sind ebenfalls unverzichtbar. Realität wird hier, anlehnend an Friedman (1999), immer als menschliche Realität verstanden. Friedman betont, dass die Realität Werte, Wünsche, Zwänge und libidinöse Besetzungen umfasst, und vor allem, dass unterschiedliche Individuen unterschiedliche Realitäten konstruieren, je nachdem, welche Erfahrungen sie im Umgang mit dieser Realität gemacht haben. Wie Friedman ausführt, bedeutet »realistisch« aus einer psychoanalytischen Perspektive, multiple Möglichkeiten der Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen, die alle jeweils in den individuellen Besonderheiten des Einzelnen begründet sind. Dies ist ein Grund, dass nicht alle Narrative, die der Analytiker dem Patienten anbietet, wirklich den Besonderheiten des jeweiligen Patienten entsprechen. In einem tiefen Sinne existiert das, was der Patient selbst erlebt hat. Ein radikaler Konstruktivismus findet hier eine Grenze.

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Die Defizite des Subjekts und die sekundäre Fixierung an ein verlorenes Objekt Das Durcharbeiten muss beim Trauern folgende Bereiche umfassen: – die Repräsentanzen des verlorenen Objekts, – die Repräsentanzen des Subjekts, – die operativ-funktionale Kapazität der realen Ich-Ressourcen. Zuweilen basieren eine Fixierung an das Objekt und eine schwere Abhängigkeit auf einer subjektiven Überzeugung, dass die eigenen Ressourcen nicht vorhanden sind, obschon sie eigentlich da sind, aber diese stattdessen dem Objekt zugeschrieben werden. Ein ganz anderer Fall liegt vor, falls das Subjekt wirklich Defizite hat und das Subjekt die Symbiose mit dem Objekt braucht, da es seine Eigenschaften benötigt. Im ersten Fall arbeiten wir vor allem an den Fantasien des Subjekts und seinen Repräsentanzen oder beleuchten die Gründe, warum das Subjekt nicht über seine eigenen Fähigkeiten verfügen darf, sowie an den Ängsten, die dies verhindern, zum Beispiel paranoide Ängste, Schuldgefühle, Spaltungen oder projektive Identifizierungen (Klein, 1940, 1946). Im zweiten Fall dient die analytische Arbeit dazu, dass das Subjekt jene Fähigkeiten erwirbt, die es noch nie hatte, einmal ganz unabhängig davon, warum dieses Defizit vorliegt und warum es die Symbiose mit dem Objekt braucht. Die sekundäre Idealisierung des Objekts ermöglicht uns zu verstehen, warum manche Personen nicht zu jenem Zeitpunkt depressiv werden, in dem sie das Objekt verlieren. Die neuen Verluste reaktivieren nicht nur Schmerz in Verbindung zu früher erlittenen Objektverlusten oder weil es sich um ein kumulatives Trauma handelt, sondern auch wegen der Fähigkeit des Ichs, die Vergangenheit zu konstruieren und neu zu bilden. Eine Erinnerung kann über ein Ereignis konstruiert werden, das überhaupt nicht stattgefunden hat. Daraufhin kann etwas, das früher nicht erwünscht war und nicht existierte, retrospektiv erschaffen werden. Daraufhin wird es (in der Fantasie) vermisst. In diesem Falle kommt es zu einer Trauerreaktion über das Verlorene, wenn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sich in der Gegenwart Schwierigkeiten zeigen, die im Zusammenhang mit der Erfüllung bestimmter Bedürfnisse und Wünsche stehen. Dabei kann es sich um selbsterhaltende, narzisstische oder sexuelle Wünsche handeln. Dies warnt uns davor, die therapeutische Maxime anzuwenden, die sonst in den meisten Fällen gilt: Um den aktuellen Verlust durchzuarbeiten, ist es notwendig, die früheren Verluste ebenfalls durchzuarbeiten. In der Tat ist es in manchen Fällen gerade umgekehrt: Indem man die internen und externen Bedingungen durcharbeitet, die nun dominieren und Hilflosigkeitsgefühle hervorbringen, muss man die legitimen Ansprüche des Individuums abschwächen, das heißt, seinen Realitäten anpassen. Wenn diese Grenzen überwunden sind, erhalten die alten Verluste eine neue Bedeutung. Ich habe weiter oben festgestellt, dass der Kontakt zu neuen Objekten Verfolgungsangst auslösen kann (Klein, 1946), falls das Subjekt zu anderen eine feindselige und misstrauische Beziehung unterhält. Falls das Subjekt unsicher ist, ob es eine wirklich positive Antwort beim Anderen evozieren kann, falls, aufgrund einer paranoiden oder einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur, das Individuum Angriffe, Kritik oder Zurückweisung befürchtet, dann wird sich das Selbst isolieren und eine phobische Vermeidungsschranke konstruieren, die Begegnungen blockiert, wenn diese erwünscht sind. Aggressivität und Ambivalenz sind zentrale Faktoren, die die Wurzeln und ihre Fortsetzung gewisser Fälle pathologischer Trauer aufrechterhalten, wie schon Freud (1917) beschrieb und wie die klinische Arbeit von Klein (1940), Jacobson (1971), Kernberg (2000), Steiner (1990) und anderer inzwischen vielfach bestätigt hat. Auch falls das Subjekt über schlechte Ich-Ressourcen verfügt, ihm die emotionale Fähigkeit fehlt, das Interesse bei anderen zu wecken und attraktiv zu erscheinen, oder falls der Objektverlust eine Arbeit betrifft, in der das Subjekt über keine eigenen instrumentellen Fähigkeiten, Wissen oder Praxis verfügt, dann wird der Versuch, das verlorene durch ein neues Objekt zu ersetzen, ebenfalls scheitern. Aus diesen Gründen wird der Objektverlust ständig erinnert: Eine sekundäre Fixierung ist die Folge. Schuldgefühle nach dem Tod einer geliebten Person, führen dazu, dass immer wieder Erinnerungen an diese Person auftau© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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chen, die sich darum drehen, dass das Subjekt versagt hat, für diese zu sorgen, und dass der dadurch entstandene Schaden vermutlich das Objekt gefährdet hat. Falls nicht ständig an das Objekt gedacht wird, oder sogar Gedanken auftauchen, es zu ersetzen, wird dies als illoyal oder insensitiv erlebt. Treue der toten Person gegenüber wird wie ein Mandat des Über-Ichs, das das Objekt auf diese Weise dazu zwingt, mit dem verlorenen Objekt verbunden zu bleiben, nie aufzuhören, es zu vermissen und sich über den Verlust zu grämen. In diesen Fällen pathologischer Trauer leidet das Subjekt darunter zu zeigen, dass es die verlorene Person geliebt hat und immer noch liebt. Dies wird zu einer Abwehr gegen Gefühle, sich schuldig und schlecht zu fühlen. Aus diesen Gründen verwehrt sich der Patient, bewusst oder unbewusst, gegen jeden therapeutischen Versuch, Schuld, Schmerz und Traurigkeit zu mildern, da diese den Beweis erbringen, dass der Patient das Objekt liebt und »gut« ist (Mitchell, 2000). Zudem verhindert dies die Gefahr, dass das Subjekt bezüglich des Objektverlustes resigniert. Stattdessen entsteht die Bemühung, die eigene Geschichte neu zu schreiben und die Fantasie zu entwickeln: »Falls dieses oder jenes getan worden wäre …« oder »Wenn ich nur …«, was ebenfalls die Fixierung ans Objekt aufrechterhält. Falls der Verlust als narzisstische Verletzung erlebt wird, wird eine innere Position verfestigt, die durch den Hass auf das verlorenen Objekt bedingt ist, weil versucht wird, das Objekt aus der inneren Über-Ich-Position als letzte Beurteilungsinstanz der subjektiven Werte herauszulösen. Da dies aber gleichzeitig Abwehrstrategien mobilisiert, wird das Gegenteil erreicht: Es wird nun unmöglich, das Objekt aus den eigenen Gedanken zu verbannen. Das Leben kann unter Umständen um eine Hassbeziehung herum organisiert werden; das Objekt wird attackiert, um es zu entwerten, aber, wie etwa in zwanghaften Gedanken, sitzt es dennoch im Zentrum der Interessen. Bei Persönlichkeiten mit paranoid-narzisstischen Zügen mag zwar die ganze Welt geliebt werden, aber der Hass bewirkt, dass das verlorene Objekt nicht losgelassen werden kann. Zudem genügt der Hass meist nicht. Er paart sich mit dem Gefühl schwerer Hilflosigkeit und führt daher in die Depression. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Falls die Person gleichzeitig an Schuldgefühlen und narzisstischen Verletzungen leidet, verstärkt der defensive Hass die Schuldgefühle, worauf wiederum der Hass intensiviert werden muss, um diese zu überwinden. Das war der Fall bei einer Frau, die mehrere Jahre verheiratet gewesen war. Der Ehemann teilte ihr mit, dass er nicht mehr in sie verliebt sei. Er wolle zwar, dass sie gute Freunde bleiben, habe sich aber entschlossen, sich zu trennen. Die Patientin reagierte mit Frustration und narzisstischer Verletzung, aber vor allem mit Hilflosigkeit, damit sie die Realität nach den eigenen Wünschen formen konnte. Dieses Leiden aktivierte eine Sequenz, die wir auch in anderen Situationen gesehen haben: frustrierte Wünsche, generalisierte Aggressivität, und, wie bei dieser intelligenten Patientin, fand die Aggressivität ihre Gründe zu ihrer Rechtfertigung: Sie beschuldigte den Anderen, er habe sie betrogen, und versuchte zu beweisen, dass er eine schlechte Person war, der ihrer nicht wert war. Nach diesen aggressiven Ausbrüchen fühlte sie sich schuldig und unzufrieden mit ihrem Verhalten, was sie wiederum motivierte, ihren Hass aufgrund des Verhaltens des Ehemanns zu rechtfertigen und wiederum nach seinen Fehlern zu suchen. Der Hass, der dazu diente, die narzisstische Verletzung abzuwehren, verstärkte daraufhin wiederum die Schuldgefühle und ließen ihr Gedächtnis um jeden Moment drehen, den sie mit der Person erlebt hatte, die sie verlassen hatte. Zudem aktivierten die Attacken gegen den ehemaligen Ehemann nicht nur Schuldgefühle, sondern auch die Angst, auch das Wenige noch zu verlieren, was ihr von der Beziehung geblieben war, eine Angst, die sie mit Erklärungen in Schach zu halten versuchte, mit dem Wunsch, seine Liebe zurückzugewinnen. Sie bat ihn um Verzeihung wegen ihrer Aggression und versprach, dass sie sich ändern werde. Dieses Verhalten und der Versuch, Nähe herzustellen, demütigten sie wieder, da sie erlebte, wie sehr sie den Anderen brauchte, und wahrnahm, dass dieses Bedürfnis nicht reziprok war. Zudem fühlte sie sich hilflos, als sie merkte, dass sie weder durch die wütenden Angriffe (Rado, 1951) noch mit ihrer Zerknirschung und ihren Sühneversuchen erreichte, die Beziehung zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Diese Gefühle verstärkten wiederum ihre narzisstische Depression. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Bei diesem Typ von Prozess, der bei dieser Patientin beschrieben wurde, folgt ein Schritt dem anderen: Narzisstische Frustration führt zu Aggression, diese zu Schuld und diese zu Projektionen auf ihren Ehemann. Dies verstärkte wiederum die Ängste, ihn zu verlieren – und führte zu einem Kreis von Wünschen, Ängsten, Abwehrstrategien, neuen Wünschen etc. Diese Kreisprozesse, die bei der Patientin skizziert wurden, werfen die Frage nach dem korrekten Timing und der adäquaten Intensität der psychoanalytischen Interventionen auf. Falls dies nicht gelingt, könnte die Patientin in ein narzisstisches Ungleichgewicht hineingeraten, falls der Aggressionszyklus inadäquat gedeutet wird. Falls hingegen der Fokus auf narzisstischen Ängsten liegt, könnte dies bei der Patientin Verfolgungsängste stimulieren oder Schuldgefühle oder aber erneut defensive Aggressionen (Bleichmar, 1996; Busch, Rudden u. Shapiro, 2004).

Schlussfolgerungen Abschließend möchte ich rekapitulieren und zurückkommen auf meinen Versuch, eine Klassifikation von verschiedenen Typen pathologischer Trauer vorzulegen, die auf ihrer Entstehung sowie den Faktoren beruht, die sie aufrechterhalten. Diese Typen sind folgende: – Patienten, bei denen eine primäre Fixierung an das verlorene Objekt vorherrscht, – Patienten, in denen internale und extrenale Gründe dazu führen, dass das Subjekt zum verlorenen Objekt zurückkehrt, – Patienten, bei denen eine narzisstische Verletzung die Fixierung an das Objekt aufrechterhält, – Patienten, bei denen der aktuelle Verlust direkt frühere Verluste reaktiviert, weil die Bedingungen zwischen dem aktuellen Objektverlust und dem früheren ähnlich sind, – Patienten, bei denen Aggressivität und Hass eine Versöhnung mit dem verlorenen Objekt verhindern und damit auch eine Hinwendung zu einem neuen Objekt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Diese Klassifizierung mag sich in psychoanalytischen Behandlungen als hilfreich erweisen, da sie uns auf die spezifischen Faktoren aufmerksam macht, die bei einem spezifischen Patienten bedacht und modifiziert werden müssen. Wir sollten allerdings dabei nicht vergessen, dass zwar die Ursachen und die aufrechterhaltenden Bedingungen vor allem pathologische Trauer hervorrufen, aber auch andere Faktoren hinzukommen können. Zudem können die einzelnen Faktoren auch nacheinander während einer Behandlung sichtbar werden. Danksagung: Der Autor dankt Lawrence Friedman und Graciela AbelinSas für die wertvollen Anregungen, mit denen sie halfen, diese Arbeit zu verbessern.

Übersetzung: Marianne Leuzinger-Bohleber

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Richtlinien für eine Theorie der frühen Intervention Eine entwicklungs-psychoanalytische Perspektive

Dieser Beitrag stellt einige Leitlinien für eine Theorie der frühen Intervention vor, die aus einer entwicklungs-psychoanalytischen Perspektive hervorgehen. Psychoanalytisches Denken hat wichtige Impulse für solch eine Perspektive gegeben, aber neuere Forschungen lenken dieses Denken in überraschende Richtungen. Unser Ziel ist es, grundlegende Prinzipien zu formulieren, diese dann in Verbindung mit traditionellen Anliegen der Psychoanalyse zu bringen und durch heutige entwicklungspsychologische Perspektiven zu aktualisieren. Einige dialektische Themen ziehen sich durch unsere Richtlinien. Zunächst wäre da das Zusammenspiel zwischen Biologie und Kultur. Entwicklung beinhaltet Aspekte beider Wissensgebiete und ihre dynamischen Einflüsse aufeinander. Alle Prinzipien von Interventionen beinhalten dieses Zusammenspiel. Ein zweites Thema ist das Zusammenspiel zwischen Zugehörigkeit und Kontrolle. Die Bindungsforschung hat die Dimension der Zugehörigkeit im sich entwickelnden Individuum hervorgehoben, aber genauso wichtig ist die Dimension der Kontrolle oder der sich bildende Sinn des Kindes, Grenzen zu erkennen. In der Frühprävention müssen von früher Kindheit an beide Dimensionen beachtet werden. Drittens kann das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Mysterium in unserer Arbeit genannt werden. Wir gewinnen Erkenntnis aus unserer Wissenschaft, doch die Erkenntnis ist immer in gewissem Maße ungewiss und singulär, denn wir als Beobachter sind an der Entstehung dieses Wissens beteiligt. Aufgrund unserer Transaktionen wird also immer eine Zone des Mysteriums bleiben. Wir versuchen, die Ungewissheit unseres Wissens zu minimieren, indem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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wir multiple Fenster der Beobachtung nutzen und verschiedene Instrumente, Methoden und Sichtweisen anwenden. Dennoch existiert die Ungewissheit weiterhin, da manche Ereignisse unvorhersehbar sind und viele Erfahrungen von anderen privat und unzugänglich für uns bleiben. In der Frühprävention müssen wir demnach notwendigerweise bescheiden bleiben angesichts dessen, was wir nicht wissen können. Ein viertes wiederkehrendes Thema ist das Zusammenspiel zwischen dem Einzigartigen der frühen Entwicklung und den Gemeinsamkeiten mit der Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg. Obwohl es einige einzigartige Aspekte in der frühen Entwicklung gibt, die in unseren Interventionen zu beachten sind, wie etwa das Bedürfnis nach Zuwendung und prägender Erfahrungen, die notwendig, sind um sozio-emotionale Kompetenzen auszubilden, so gibt es auch allgemeine Aspekte entwicklungspsychologischer Prozesse, die wir in unseren Interventionen nutzen. Wie wir zeigen werden, beinhaltet dies Motive, die bemerkenswert früh hervorstechen, aber das ganze Leben über bestehen bleiben. Die hier besprochenen Prinzipien fokussieren unser Denken in der Frühintervention. Eine Gruppe dieser Prinzipien beschäftigt sich damit, wie wir das sich entwickelnde Kind sehen, eine zweite damit, wie wir die Interaktionen des Kindes sehen, und eine dritte damit, wie wir den Prozess der Intervention an sich sehen. In der ganzen Diskussion empfehlen wir, das Stärken in der Entwicklung anzuerkennen und zu fördern, auch wenn wir in der Frühintervention immer mit Schwierigkeiten angesichts des Kindes zu kämpfen haben.

Die Stärken von Individualität und Bedeutung Ein nachhaltiger Beitrag der psychoanalytischen Tradition war, dass sie Individualität und persönliche Bedeutungen betonte. Herauszufinden, was wichtig für den Einzelnen unter bestimmten Zuständen ist, und komplexe Bedeutungen zu verfolgen, war stets zentral in psychoanalytisch basierten Interventionen. Bedeutungen auf diesem Weg zu erforschen, kann Respekt erzeu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gen, das Selbstvertrauen stärken und ein Gefühl von Neubeginn erschaffen, das sich neu entdeckte Möglichkeiten zu Nutze macht – besonders wenn die tieferen Bedeutungen der Probleme ebenso wie die Wertschätzung eigener Stärken berücksichtigt werden (Emde, 1990, 1992). Das Prinzip des Aufbauens auf den Stärken der Individualität und die Bedeutung in unseren Interventionen werden durch unser zunehmendes Wissen über Komplexität hervorgehoben. Perspektiven eines ganzheitlichen Entwicklungsverständnisses betonen, dass nicht nur das sich entwickelnde Kind in organisierten, komplexen Systemen verstanden wird, sondern dass solche Komplexität ihrerseits zunehmend durch die Entwicklung organisiert wird. Entwicklungsprozesse gewinnen per definitionem zunehmend an Strukturniveau (negentropy); im Gegensatz zu früheren psychoanalytischen und anderen triebtheoretischen und reduktionistischen Sichtweisen (Freud, 1920; Rapaport, 1959) verlieren Entwicklungsprozesse nicht sukzessiv ihre Struktur, indem sie auf frühere Niveaus zurückfallen (run down) und Energie umwandeln (entropy). Daher müssen sich Interventionen mit persönlicher Bedeutung beschäftigen, die expandieren, sich verändern und reorganisiert werden. Außerdem organisiert das sich entwickelnde Individuum, das in einer bestimmten Kultur eingebettet ist, Bedeutung auf spezifische Art und Weise, die zu einem gewissen Ausmaß individuelle Wege zur Anpassung gestalten (siehe auch Literaturhinweise zu Arbeiten mit einem systemischen Entwicklungsverständnis, die diese Punkte hervorheben, wie z. B. Bertalanffy, 1968; Boulding, 1956; Platt, 1966; Werner, 1957 und aktueller Gottlieb, 1992; Hinde, 1992; Sameroff, 1983; Thelen u. Ulrich, 1991). Einige psychoanalytische Kliniker machten Gebrauch von dieser Art des Denkens, indem sie bemerkten, dass die Komplexitäten der Individualität sowohl bei Gesundheit als auch bei Krankheit berücksichtigt werden müssen, und diskutierten, dass es notwendig ist, in der therapeutischen Arbeit eine Sensibilität für Systeme zu entwickeln (Fleming u. Benedek, 1966; Lennard u. Bernstein, 1960). Eine Sensibilität für Systeme führt ihrer Meinung nach dazu, dass der Therapeut die Qualität komplexer Persönlichkeits-Subsysteme und deren Interaktionen wahr© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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nimmt; dies fördert die Sensibilität, die es einem Kliniker ermöglicht, einen bestimmten Problembereich zu fokussieren, an dem gearbeitet wird, ohne gleichzeitig seine Verbindungen mit anderen zu vernachlässigen. Wir unterstützen diese Auffassung sehr. Systemsensibilität kann sich als sehr wichtig in der Frühintervention herausstellen. Es kann uns erlauben, einem bestimmten System, das mit einem Problem verbunden ist, Beachtung zu schenken und gleichzeitig die dialektischen Beziehungen zwischen den Komplexitätsebenen in anderen Systemen zu berücksichtigen, wie Hinde (1992) aufzeigte. Solch eine Fähigkeit kann auch dazu führen, dass wir uns selbst und die Qualität unseres eigenen Einflusses auf solche Interventionen reflektieren. Wir werden auf diese Idee zurückkommen, wenn wir das Prinzip »Beziehungen vorteilhaft einsetzen« diskutieren. Wenn wir uns mit der Entwicklung von Stärken der Individualität beschäftigen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Begriff »Individualität« verschiedene Konnotationen besitzt. In einem soziokulturellen Sinne weist er auf eine Erfahrung des Selbst in Beziehung zu Anderen hin und erinnert uns, wie wichtig kulturelle Vielfalt ist, um Individualität zu erfahren, sowohl in den USA als auch anderswo. Und tatsächlich variieren Kulturen deutlich im Ausmaß, in dem Individualität in Verbindung mit Anderen gesehen wird oder als Autonomie im Kontrast zu Anderen verstanden wird (Doi, 1992; Gilligan, 1982; Hermans, Kempen u. van Loon, 1992; Sampson, 1988; Shweder u. Bourne, 1982). Solche Aspekte sind wichtig für unsere Interventionen, worauf Erikson vor langer Zeit unsere Aufmerksamkeit lenkte: Kultur bietet die Verwurzelung für das Identitätsgefühl des Kindes (Erikson, 1950). Eine weitere Bedeutung des Begriffs Individualität beinhaltet die Biologie und steht mit dem zunehmenden Wissen zur Genetik in Zusammenhang. Wir sind eingetaucht in ein Zeitalter revolutionärer Entdeckungen der Humangenetik, indem sowohl die Komplexität der Individualität als auch neue Möglichkeiten vorstellbar werden, Stärken der Individualität zu fördern. Frühere vereinfachende Sichtweisen sind nicht länger valide. Natur und Umwelt (nature and nurture) oder genetische und umweltbedingte Einflüsse arbeiten in der Entwicklung zusammen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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nicht separat voneinander. Noch verführen uns unsere gewohnten Denkmuster zu der Annahme, es gäbe eine natürliche Konkurrenz zwischen diesen beiden Einflüssen. Zwei neuere Postulate erweisen sich als hilfreich, besonders wenn wir über Einflüsse auf verschiedene Ebenen der Systemkomplexität für sich entwickelnde Individuen nachdenken. Gottlieb (1992) benutzte die Formel »Zusammenwirken der Gene mit der Umwelt« und Hinde (1992) sprach von einem »kontinuierlichen Zusammenspiel«. Die dynamischen Beziehungen zwischen solchen Einflüssen sind bemerkenswert und ermutigend für Frühinterventionen. Das sich entwickelnde Individuum beeinflusst selbst, welche Gene es exprimiert, und ist fähig, auf seine Umwelt einzuwirken, was wiederum die genetische Expression beeinflussen kann (Plomin, 1986; Scarr, 1992). Gottlieb (1992) erinnerte uns, dass die Genexpression auf vielen Interaktionsebenen durch die Umwelt beeinflusst wird und dass es zwei Möglichkeiten gibt, die man als »verstecktes« genetisch-umweltbedingtes Zusammenwirken in der Entwicklung bezeichnen kann. Einmal ist dies der große »versteckte genetischumweltbedingte Vorrat phänotypischer Variation (Gottlieb, 1992, S. 151), der in einer bestimmten Umgebung nicht zum Tragen kommt. Genetisch identische Zwillinge, die getrennt voneinander aufgezogen wurden, können in Aussehen und Verhalten sehr stark variieren, besonders wenn einer von beiden in einer Umgebung mit inadäquater Ernährung aufgezogen wurde und der andere nicht. Weniger offensichtliche Einflüsse sind bei der genetischen Komponente mentaler Kompetenzen zu finden, die sich nur in einer adäquaten Umgebung entfalten. Skeels (1966) kam in seiner klassischen, intervenierenden Follow-up-Studie von Waisenkindern, die an früher Deprivation von emotionaler und sozialer Stimulation gelitten haben, zum Schluss, dass Kinder, die eine korrigierende Intervention in Form eines Umgebungswechsels mit darauffolgender Adoption bekamen, in der Lage waren, ein durchschnittliches Niveau mentalen Funktionierens zu erreichen, während eine Vergleichsgruppe früh deprivierter Kinder, die keine solche Intervention erhalten haben, nicht in der Lage war, dieses Niveau zu erreichen. Zudem könnten versteckte Umwelteinflüsse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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vorhanden sein, schlichtweg, weil sie so weit verbreitet sind, dass sie unbeachtet bleiben, obwohl sie notwendig für die Genexpression sind. Eine Vielzahl von Ernährungs- und Zuwendungsfaktoren sind so weit gestreut, dass wir ihre Bedeutung für die Genexpression oft nur realisieren, wenn sie in extremen oder isolierten Umgebungen fehlen (s. auch Diskussion bei Emde, 1991). Dies alles sind hoffnungsvolle Indikatoren für Frühpräventionen. Wenn wir mehr über biologische Variation wissen (bspw. durch genetische Entdeckungen), können wir auch mehr über umweltbedingte Variationen lernen, die Entwicklungskompetenzen stärken, Verletzlichkeiten korrigieren und Verhaltensstörungen verhindern können. Analysen unserer MacArthurLängsschnitt-Zwillingsstudie (Emde et al., 1992; Plomin et al., 1993) bieten eine Illustration der dynamischen und wechselnden Qualität genetischer und umweltbedingter Einflüsse während des zweiten und dritten Lebensjahres. Es lohnt sich, in Erinnerung zu rufen, dass es verschiedene Quellen der genetischen Veränderung während der Entwicklung gibt. Gene können direkt auf den Prozess der Veränderung einwirken, denn sie schalten sich in die Entwicklung ein, indem sie eine Kaskade biologischer Ereignisse triggern, die in anderen wichtigen Ereignissen resultieren (wie z. B. den aufrechten Gang oder die Pubertät) oder aber in subtileren Ereignissen (wie z. B. eine Tendenz zu mehr oder weniger Schüchternheit bei einem sich entwickelnden Kind). Gene könne außerdem ein Verhalten in einem bestimmten Alter beeinflussen, während sie das in einem anderen Alter nicht können, weil sie sich entweder an einem bestimmten Punkt der Entwicklung ausschalten oder manche Gene aufgrund von Veränderungen im Entwicklungssystem keinen Einfluss mehr ausüben im Gegensatz zu anderen. Unsere Zwillings-Vergleichsstudien, in denen wir Empathie beobachteten, können dies illustrieren. Es gibt genetische Einflüsse beispielsweise im Alter von 14 und 20 Monaten, die bei eineiigen Zwillingen bezüglich der empathischen Resonanz zu einer höheren Ähnlichkeit als bei zweieiigen Zwillingen führen. Gleichzeitig existiert aber auch ein beachtlicher Umwelteinfluss, der in den Unterschieden sowohl bei eineiigen als auch bei zweieiigen Zwillingen sichtbar wird. Zudem ist das Muster der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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genetischen Einflüsse auf die einzelnen Reaktionen in den beiden zuvor genannten Zeitpunkten unterschiedlich. Unsere Ergebnisse im Alter von 24 und 36 Monaten machen kontinuierliche genetische Einflüsse auf empathische Resonanz deutlich (bspw. das Zeigen von kognitiver, emotionaler und physischer Erregung als Reaktion auf das Bedrängen des anderen Zwillings), allerdings mit einem dramatischen Einfluss der Testbedingungen (Robinson, Zahn-Waxler u. Emde, im Druck). Der genetische Einfluss auf kindliche empathische Resonanz wurde sichtbar, wenn ein unbekannter Versuchsleiter die Stressursache war. Wenn jedoch die Mutter die Stressursache war, war eher der Einfluss der Umgebung beobachtbar. Mit anderen Worten: Der Kontext machte einen großen Unterschied aus. Die Sozialisierungseinflüsse, die die Zwillinge in ihren alltäglichen Interaktionen mit Eltern und anderen geteilt hatten, waren vermutlich im Umgang mit den Müttern eine wesentliche Quelle des Verhaltens, im Gegensatz zum Umgang mit den Versuchsleitern. Was können wir für die Frühprävention also daraus lernen? Sich entwickelnde Individuen sind einzigartig und werden zunehmend komplexer. Des Weiteren findet Entwicklung in biologischen und soziokulturellen Kontexten statt, in denen gemeinsame Einflüsse auftreten. Individualität ist konstruiert und ko-konstruiert, die Stärken bestimmter Veranlagungen spielen mit den Werten bestimmter Kulturen zusammen. Wenn wir in naher Zukunft mehr über die Rolle genetischer Variationen erfahren werden, und mehr darüber wissen, welcher Kontext gewisse Verhaltensstärken oder Schwächen aktiviert, werden sich die Möglichkeiten von Interventionen erweitern. Auch wenn wir den Rest unserer Prinzipien in generalisierter Form zum Ausdruck bringen werden, erwarten wir von dem Leser, der sich in Frühinterventionen engagieren will, sich mit eindringlicher Aufmerksamkeit der kindlichen Individualität in bestimmten Umständen zu widmen. Es ist die Einzigartigkeit eines Kindes, die uns fasziniert, wie es aktiv die Welt entdeckt und Bedeutungen konstruiert, die ihm von einer Kultur bedeutungsvoller Anderer dargeboten wird.

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Basismotive früher Entwicklung Ein weiterer Beitrag psychoanalytischer Tradition war, dass sie den Fokus auf die Motivationen menschlichen Handelns gelegt hat. In Bezug auf Frühinterventionen hat die psychoanalytische Motivationstheorie überraschende Richtungen eingeschlagen. Sie relativierte die (ausschließliche) Betonung sexueller und aggressiver Motive, wobei es vor allem Kliniker waren, die mit älteren Kindern und Erwachsenen gearbeitet hatten, die die Rolle der Aggression so sehr betont hatten. Vor allem die Erforschung der speziellen Besonderheiten früher Entwicklung hat diese theoretische Sichtweise verändert (vgl. z. B. Kernberg, 1993). Bowlby (1969, 1973, 1980), Fraiberg (1980), Mahler, Pine und Bergman (1975) und Spitz (1959, 1965) betonten, wie sehr die frühe Entwicklung in die Beziehungen zu den primären Bezugspersonen eingebunden ist. Sie haben auch darauf hingewiesen, wie wichtig direkte und teilnehmende Beobachtungen der Beziehung von Pflegepersonen und Kleinkindern ist. So entwickelt sich die Autonomie des Kindes parallel zu seinem Eingebundensein in seine frühen Beziehungsnetze. Bowlby erweiterte die Betrachtung der Motivation, indem er Aspekte der Ethnologie und vergleichbarem Tierverhalten einbrachte. Er erklärte, dass menschliche Kleinkind sei durch die Evolution für soziale Interaktion ausgerüstet. Bindung und Exploration entwickeln sich innerhalb eines Kontextes unterstützender und konsistenter Interaktionen mit Pflegepersonen. Dies sind Sichtweisen, die auch schon in den Beobachtungen und Theorien von R. A. Spitz (Emde, 1983) auftauchen. Fraiberg erweiterte die Motivationstheorien, indem sie kognitive Perspektiven von Piagets und anderen mit ihrer psychoanalytischen Erfahrung integrierte. Vielleicht war ihre neue Motivationstheorie mehr implizit als explizit, als sie so überzeugend von ihren Annäherungen an Eltern-Kind-Therapie schrieb, in der das Kleinkind bei der psychodynamischen Untersuchung der Mutter anwesend war. In einem oft zitierten Satz sagte sie: »Es ist ein kleines bisschen, als hätte man Gott an seiner Seite«, als sie die schnelle Entwicklung des Kleinkindes während des Verlaufs der ersten Lebensmonate berücksichtigte (Fraiberg, 1980). Ein positiver Impetus in der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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frühen Entwicklung konnte nun erfahren, gewürdigt und bestätigt werden als Teil der mütterlichen Zuwendung und Fürsorge. In anderen Worten: Dieser Impetus kann in der Frühprävention dazu benutzt werden, die mütterliche Wertschätzung zu gewinnen und zudem ein zusätzlicher Anreiz für ihre eigene, persönliche Weiterentwicklung sein. Auf diesem Hintergrund haben wir also multidisziplinäre Forschung zusammengefasst, in der wir kindliche Basismotive berücksichtigen, Motive, auf die in unseren Interventionen aufgebaut werden kann (Emde, 1988a, 1988b). Diese Motive sind angeborene Tendenzen, die schon in frühster Kindheit vorhanden sind und von Pflegepersonen gestärkt werden können, die emotional verfügbar sind. Solche Basismotive setzen sich über die Lebensspanne hinweg fort und können daher auch als fundamentale Modalitäten der Entwicklung angesehen werden (Emde, 1990). Anders gesagt: Wir glauben, wie Fraiberg schon andeutete, dass diese Motive Aspekte des Entwicklungsprozesses bilden, die sich während den frühen Beziehungserfahrungen konsolidieren und die in Interventionen mobilisiert werden können. Es könnte hilfreich sein, diese Motive aufzuführen und einige ihrer charakteristischen Merkmale aufzuzeigen. Aktivität ist ein erstes Basismotiv. Es ist in allen zeitgemäßen Theorien enthalten, die Wissen über Entwicklung zusammenfassen. Hat das Kind eine konsistent fürsorgende Umgebung, so ist es aktiv, explorativ und motiviert, die Welt zu meistern und Entwicklungsaufgaben zu lösen (Emde, 1991; Emde, Biringen, Clyman u. Oppenheim, 1991). Selbstregulation ist als ein zweites Basismotiv anerkannt, sowohl als eine angeborene Neigung zur Regulierung von Verhalten sowie der Physiologie. Diese Regulierung beinhaltet sowohl den Schlafrhythmus, das Wachsein und die Aufmerksamkeit als auch längerfristige angelegte Neigungen des Individuums, wichtige Entwicklungsziele wie Selbsterkenntnis, repräsentatives Denken und Sprache zu erlangen. Soziales Einpassen (Social-fittedness) ist ein drittes Basismotiv, welches Forschungen zusammenfasst, die abbilden, dass Kleinkinder motiviert und vorangepasst sind, menschliche Interaktionen zu initiieren, aufrechtzuerhalten und abzuschließen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Viele Forscher haben dokumentiert, in welchem Ausmaß der Säugling biologisch für dynamische Komplexität menschlicher Interaktionen vorbereitet ist, allerdings unter der Voraussetzung, dass er frühe Beziehungserfahrungen macht, die diese Entwicklung unterstützen und begünstigen (bspw. Papousˇek u. Papousˇek, 1979; Stern, 1985). Affektives Monitoring ist ein viertes Basismotiv. Forschungen weisen darauf, dass es von frühster Kindheit an eine Neigung gibt, Erfahrungen im Hinblick darauf zu »überwachen«, was als angenehm oder unangenehm empfunden wird. Aus Sicht der Mutter bestimmt der Affektausdruck des Kindes ihre Pflegeleistungen und Zuwendungen. Der Leser muss sich hier nur an die Botschaft eines kindlichen Schreiens erinnern, an einen interessierten, erregten Gesichtsausdruck oder an ein glänzendes, strahlendes Lächeln. Während der Mitte des ersten Lebensjahres findet eine bedeutsame Entwicklung aus der Sicht des Kleinkindes statt. Das Kind beginnt, emotionale Ausdrücke anderer Menschen auf eine neue Art und Weise zu beobachten. In einer unsicheren Situation engagiert sich das Kind in einem »social referencing«, um den emotionalen Ausdruck wichtiger Bezugspersonen zu verstehen und das eigene Verhalten darauf auszurichten. So wird beispielsweise das Kind durch das Lächeln der Mutter dazu ermutigt, sich einem merkwürdig aussehenden Spielzeug oder einem Fremden anzunähern. Wenn die Mutter jedoch ängstlich oder böse schaut, hält sich das Kind zurück. Das »social referencing« fügt dem »affective monitoring« eine neue Ebene geteilter Bedeutungen hinzu. Kognitive Assimilation ist ein fünftes Basismotiv. Wir beziehen uns dabei auf Forschungen, die darlegen, dass das Kind von Anfang an eine Tendenz hat, seine Umgebung zu erforschen, Neues zu suchen und es sich vertraut zu machen. Dieses Motiv überschneidet sich mit dem ersten Motiv der Aktivität, wurde jedoch hinzugefügt, um eine stärkere Betonung auf die direkte Tendenz des Kindes, seine Umwelt »in Ordnung« zu bringen. Viele Leser werden sich erinnern, dass der Begriff »kognitive Assimilation« ursprünglich von Piaget (1952) stammt, der es als ein »Grundfaktum des Lebens« (»basic fact of life«) bezeichnet. Dieses Motiv bezieht sich auf eine Reihe von Forschungen zur © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Motivation der Beherrschung (»mastery motivation«) (Harmon u. Murrow, 1995; MacTurk u. Morgan, 1995) sowie zur kindlichen Freude an neu erlernten Verhaltensweisen und Fähigkeiten. Diese Motive sind universale Merkmale der normalen Entwicklung und vielleicht erklärt ihre Allgegenwärtigkeit, warum sie allgemein von unseren Theorien übernommen wurden und nicht als Motivationen spezifiziert sind. Wenn solche Motive durch ein Kind mit einer emotional verfügbaren Bezugsperson erlebt werden, ermöglichen sie die Entwicklung wichtiger psychischer Strukturen vor dem dritten Lebensjahr. Darunter gehört auch ein Repertoire grundlegender moralischer Motive. Es sind also auch Motive, auf die in der Frühintervention aufgebaut werden kann.

Basale moralische Motive Das Prinzip, dass frühe Intervention auf moralischen Motiven aufbauen kann, bietet eine weitere Reihe von Überraschungen für die psychoanalytische Tradition. Die klassische psychoanalytische Theorie postulierte, die moralische Entwicklung beginne im Vorschulalter während der ödipalen Phase, wenn das Kind schließlich die Konflikte in der familiären Dreieckskonstellation dadurch ultimativ löst, indem es zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr ein Gewissens- oder Über-Ich entwickelt. In diesen Sichtweisen hat sich vieles verändert. Nicht nur, dass die Bedeutung früher dyadische Prozesse (bspw. die frühe Beziehung zum primären Objekt) und das kindliche Selbstgefühl in Beziehung zum bedeutsamen Anderen vermehrt anerkannt wurden. Vermehrt wurde auch thematisiert, dass wichtige Aspekte einer moralischen Entwicklung weit früher auftauchen als ursprünglich angenommen (vgl. Übersicht in Emde, Johnson u. Easterbrooks, 1987). Moral beinhaltet positive Aspekte, die internalisiert werden (man kann sie als die »do’s« der frühen Moralentwicklung bezeichnen), als auch negative Aspekte (man kann sie als die »don’ts« der frühen Moralentwicklung bezeichnen). Die »do’s« sind in den frühen Erfahrungen des Kindes entscheidend und ergeben sich vollkommen natürlich aus den beschriebenen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Basismotiven. Das Basismotiv der sozialen Fittedness oder eine Neigung zu sozialen Interaktionen beinhalten beispielsweise eine Gegenseitigkeit im Austausch. Wechselseitigkeitsregeln, die im Verlauf von Spielen oder anderen Interaktionen mit der Fürsorgeperson erlernt werden, werden internalisiert. Diese Regeln können zum Beispiel in gestischen Sequenzen zwischen dem vierten und fünften Lebensmonat beobachtet werden bei der Teilnahme des Kindes am »So-o-o Groß«-Spiel (Bruner, 1986; Kaye, 1982). Inwiefern ist dies alles ein Aspekt moralischer Entwicklung? Man muss nur reflektieren, dass Erwartungen und internalisierte Regeln der Wechselseitigkeit frühe Formen von Reziprozität sind, die ihren Weg in alle moralischen Systeme finden (wie z. B. die goldene Regel: »Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst« und all ihre Variationen). Ähnlich verhält es sich bei dem Basismotiv der kognitiven Anpassung, die in der Internalisierung vieler Regeln resultiert, die vom Kind im Verlauf seiner täglichen Erfahrungen akzeptiert werden. Viele der frühen moralischen Internalisierungen hinsichtlich der »do’s« beinhalten geteilte Bedeutung mit emotional verfügbaren Bezugspersonen, ein Punkt, den wir in den nächsten beiden Prinzipien noch einmal hervorheben werden. Während der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beschäftigt sich das Kind beispielsweise mit dem social referencing, um aus den Emotionen seiner Bezugspersonen abzuleiten, wie es sich in unsicheren Situationen verhalten soll. Es lernt dadurch, mit bisher verbotenem Verhalten entsprechend den Anforderungen der Bezugsperson umzugehen. Während des zweiten Lebensjahres entwickeln Kinder weitere moralische Neigungen. Ein anderthalbjähriges Kind kann zum Beispiel empathisch reagieren, wenn es mit der Not eines anderen Kindes konfrontiert wird: Es fühlt den Stress mit und versucht zu trösten, zu besänftigen oder will mit dem unglücklichen Kind etwas teilen (Zahn-Waxler, Radke-Yarrow u. King, 1979; ZahnWaxler, Robinson u. Emde, 1992). Ein weiterer Aspekt früher Moralität taucht gegen Ende des zweiten Lebensjahres auf, wenn die Tendenz, die Welt in Ordnung zu bringen, sich in einer neuen affektiven Art zeigt. Das Kind zeigt manchmal Ängstlichkeit, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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wenn innerliche Standards missachtet werden. Wenn es mit einem bekannten Objekt konfrontiert wird, das dreckig, beschädigt oder drastisch verändert worden ist, zeigt das Kind Stress und es kann versuchen, das Objekt zu reparieren oder wiederherzustellen (Kagan, 1981). Dieses Wissen ergänzt psychoanalytische Beobachtungen, die auf eine frühe Moralentwicklung in diesem Alter hinweisen, wie beispielsweise den kindlichen Gebrauch eines semantischen »Nein« (Spitz, 1957) und einem sich entwickelnden Sinn für »Gut« und »Böse« (Mahler, Pine u. Bergman, 1975; Sander, 1985). Der kindliche Sinn für Initiative und Selbstgerichtetheit steigt auf eine neue Ebene, wenn das Kind beginnt zu laufen, etwas, das Erikson schon früher erfasste, indem er diese Entwicklungsphase als Spannungsfeld »Autonomie versus Scham und Zweifel« charakterisierte (Erikson, 1950). Die Internalisierung von Verboten oder sogenannten »don’ts« erfolgt durch wiederholte Interaktion mit seine Beziehungspersonen, durch die Regeln der Sicherheit und der Familienkultur eingeführt werden. Solch ein Prozess beinhaltet nicht nur negative Inhalte, sondern bezieht auch Aspekte der »do’s« mit ein, dass es das Kind »richtig« machen will. Prozesse des social referencing bestimmen, was internalisiert wird, und unterstützen die Entwicklung von Selbstkontrolle und Emotionsregulation. Die Forschung zeigt, dass die Internalisierung von Verboten sich nicht in einer einfachen Weise vollzieht. Es braucht dazu ein motiviertes Kind, das in wiederholten Hinund-Her-Erfahrungen, Verhandlungsstrategien inmitten der emotionalen Kommunikation mit den Eltern lernt und gleichzeitig die Konsequenzen dieser neu erlernten Strategien erfährt (Emde, Johnson u. Easterbrooks, 1987). Forschungen mit Zwei- und Dreijährigen von Kochanska und Mitarbeitern sind dazu sehr aufschlussreich. In einer Studie wurde die Sensibilität für das Brechen von Standards (wenn bspw. ein Spielzeug kaputt ist, ein Stuhl falschherum steht oder eine Lieblingsdecke überraschend gewaschen wird) bei vielen Kindern mit dem Gefühl in Verbindung gebracht wird, etwas falsch gemacht zu haben (Kochanska, Casey u. Fukamoto, 1995). In zwei anderen Studien zeigte sich, dass elterlich Praxis viele »Tu etwas«-Aufforderungen beinhaltet (»setz dich hin und iss«, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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»zieh dein Hemd an« etc.) und außerdem viele »Tu etwas nicht«Aufforderungen (»nimm den Finger da weg«, »verschütte den Saft nicht« etc.), also »do’s« und »don’ts«. Wenn Eltern die »do’s« und positive Affekte hervorhoben, wurde auch eine erhöhte kindliche Kooperation beobachtet (Kochanska u. Aksan, 1995; Kuczynski u. Kochanska, 1995). Häusliche Beobachtungen zeigten auch Aushandlungsprozesse auf. Dunn (1988) verdeutlichte, dass Konflikte mit den elterlichen Bezugspersonen und Geschwistern ein wichtiges Feld bieten für die Internalisierung von Erwartungen, Regeln und Neigungen zum Aushandeln oder Umgehen mit Konflikten, die Besitzen, Teilen, Zerstören oder Sich-Kümmern beinhalten. Eine auffallende Besonderheit früher Moralität ist die Tatsache, dass die meisten internalisierten Regeln, Erwartungen und Neigungen unbewusst sind. Regeln von Reziprozität, Empathie und Wiedergutmachung werden alltägliche Prozeduren und Praktiken im Umgang mit Familienmitgliedern. Solche Regeln werden in der gleichen Art und Weise erlernt, wie man die Grammatikregeln seiner ersten Sprache erlernt. Man wendet sie an, ohne sie benennen zu können (es sei denn, man lernt sie später in der Schule, wobei Kinder sie dabei häufig als künstlich, überflüssig und gegenstandslos empfinden). Gleichermaßen ist vieles, was das Kleinkind lernt und fortzusetzen versucht, »praktiziertes Wissen«, wie David Reiss (1989) aufzeigte, Wissen, das aktiviert wird, wenn bestimmte Leute in einer Familien- oder Gruppenroutine zusammenkommen. Prozedurales und praktisches Wissen sind Formen unbewusster mentaler Aktivität, die von der traditionellen Psychoanalyse noch nicht konzeptualisiert wurde: Sie geht über das Vorbewusste und das dynamische Unbewusste hinaus. Demzufolge haben Ergebnisse der Kognitionsforschung (Clyman, 1991; Horowitz, 1988; Horowitz, Fridhandler u. Stinson, 1992; Kihlstrom, 1987) eine weitere Überraschung zum Vorschein gebracht: Freud, der Zeit seines Lebens heftig kritisiert wurde, eine Psychologie jenseits des Bewussten zu etablieren, könnte das Ausmaß, in dem mentale Aktivität unbewusst ist, sogar noch unterschätzt haben. Wie kann man nun in der Frühprävention von diesen Infor© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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mationen Gebrauch machen? Um dies nochmals zu wiederholen: Die Individualität im Kind und in den Erfahrungen, die es beim Ko-Konstruieren der Bedeutung von Worten, Gesten und Aktionen in der Umwelt seiner Bezugspersonen macht, erzeugen Variationen, die es zu berücksichtigen und zu untersuchen gilt. Zusätzlich zum Abtasten des kindlichen Adaptionslevels, geteilter Bedeutung und der emotionalen Verfügbarkeit bedeutsamer Personen (was detaillierter als Teil des nächsten Prinzips diskutiert werden wird) muss ein Kind einen ausreichenden Grad der Regulation biologischer und emotionaler Zustände sowie Verhaltenskontrolle entwickeln. Eine Einschätzung der moralischen Motive des Kindes (Reziprozität, Wiederherstellung und Regeln befolgen) im Kontext der Familie und dem Nutzbarmachen dieser Motive als Stärken für die Intervention ist, wie wir glauben, eine kaum ausgeschöpfte Ressource. Viele der bedürftigsten Kinder haben nicht die konsistenten zuwendenden und fürsorglichen Routinen und Praktiken erhalten, die diese frühen moralischen Motive unterstützen. Interventionsarbeit kann in solchen Fällen schon davon profitieren, grundlegende Aktivitäten in der Familie zu adressieren, die Konsistenz bei Mahlzeiten, Zu-Bett-geh-Zeiten, Spiel und anderen täglichen Routinen fördert. Zuletzt halten wir es noch für wichtig, das Problem der Werte als Aspekt der Kultur anzusprechen. Obwohl es wahr ist, dass Kulturen verschiedene Werte hervorheben, die es zu identifizieren gilt, um Stärken und Interventionen aufzubauen, glauben wir, dass es auch wahr ist, dass die frühen moralischen Motive, die wir dargelegt haben, für Anpassungsprozesse wichtig und in ihren Grundformen bis zu einem gewissen Grad universell sind. Daher glauben wir, dass alle Kulturen schätzen, dass das Kind in der Lage ist, seine Umwelt zu explorieren und offen für neue Erfahrungen zu sein, anstatt dass es sich abschließt und einschränkt solchen Erfahrungen gegenüber (auch wenn manche Kulturen diese Prozesse z. B. durch aufwändiges Wickeln oder durch die Einschränkung eigener Fortbewegung verzögern). Wir glauben außerdem, dass alle Kulturen es schätzen, wenn Kinder eine »Wir«-Orientierung entwickeln, anstatt eine eingeengte, egozentrische Orientierung, die sich nicht in einer sozialen Rezi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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prozität oder in einem sozialen Austausch engagiert. Schlussendlich glauben wir auch, dass alle Kulturen die Fähigkeit des Kindes schätzen, eine Kapazität breiterer Sichtweisen in Betracht zu ziehen und über alternative, vorstellbare Welten nachzudenken (bspw. in Planung, Vorstellung, Kunst und spirituellen Angelegenheiten). Die Aufgabe der Frühintervention besteht darin, die bedeutungsvollen kulturellen Variationen in diesen Bereichen zu verstehen und ihre Stärken zu unterstützen, sofern sie einen Beitrag zu den Entwicklungszielen leisten. Obwohl sich die vorherige Diskussion auf die frühen Jahre bezieht, in Anbetracht einer breiteren Zeitspanne für die kindliche Entwicklung, glauben wir, dass wir mehr über Werte sagen können (Emde, 1994). Alle Kulturen haben mit solchen Werten zu tun wie: 1) Lernen, Kompetenz und Selbstkontrolle zu fördern; 2) soziale Reziprozität zu entwickeln (Fairness und einen Sinn für Gleichheit und die Regeln, die sie lenken); 3) Fürsorge (sowohl die elterliche Fürsorge als auch emotionale Ansprechbarkeit und Empathie in menschlichen Beziehungen); 4) Werte der Bürgerschaft (der Sinn für Gemeinschaft und der Respekt für Traditionen und Regeln, die den sozialen Austausch steuern); 5) das Erkennen von Konflikten und den Umgang damit (die Bedingungen geteilter Bedeutung zu erkennen, Kompromisse für das Wohl der Gemeinschaft und Verhandlung). Zu guter Letzt adressieren viele Kulturen (inklusive alle demokratischen Gesellschaften) Werte bezüglich eines Respekts vor Individualität, persönlicher Unversehrtheit und Gegensätzen (inklusive Menschenrechten und der Verschiedenheit der Menschen).

Der positive Nutzen von Emotionen Die vorangegangenen Prinzipien illustrierten, dass frühe moralische Motive, wie soziale Reziprozität, die Absicht, die Welt richtig zu verstehen, die Tendenz, Standards zu verbessern und zu kontrollieren, ebenso wie das Streben nach Empathie, zusätzliche Grundlagen für Interventionen liefern können. Kinder und ihre Familien bringen solche Motive und Fähigkeiten in ganz unterschiedlichem Ausmaß in das Interventionssetting mit. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Solche Motive können auch im Rahmen der Intervention anhand der empathiefördernden Arbeit mobilisiert werden, in dem sie Anstoß zu erwünschten Veränderungen gibt. Die Regulierung des emotional kommunikativen Systems ist eine der wichtigsten Aufgaben, der Eltern und Kind gegenüberstehen. Zunächst einmal stellt die emotionale Verfügbarkeit der Eltern für das Kind die wichtigste Grundlage für die Regulierung dar. Emotional verfügbar zu sein, vermittelt die Fähigkeit zur Kommunikation von Offenheit und Akzeptanz den Gefühlen und Bedürfnissen anderer gegenüber (Biringen u. Robinson, 1991). Emotionale Verfügbarkeit spiegelt die Qualität der sich entwickelnden Beziehung wider, die sich immer wieder in »face-to-face«-Interaktionen neu erschafft, antizipiert, wie Leid aufgelöst und Freude erreicht werden kann, und die, wenn eine Reaktion auf ein eigenes Verhalten notwendig ist, durch einen sensiblen, verfügbaren Elternteil erfolgt (Emde, 1980). Die regulierenden Handlungen der Eltern werden anfänglich benötigt, da, obwohl eine biologische Kapazität für die Selbstregulierung vieler physiologischer und Verhaltenssysteme zum Zeitpunkt der Geburt vorhanden ist, die Entwicklung der Selbstregulierung des Säuglings trotz alledem von einer externen Regulierung durch die Pflegeperson abhängig ist. Emotionale Signale des Säuglings lösen eine Reaktion der Bezugspersonen aus, sodass sich im Laufe der Zeit eine Motivation entwickelt, im Interesse des Kindes zu handeln (Dix, 1991). Kleinkinder können durch zu viel Aufregung und Stress desorganisiert werden, wodurch deren kommunikativen Signale von den Bezugspersonen als aversiv und störend empfunden werden können. Demnach ist die Regulierung der eigenen Erregung als Antwort auf das kindliche Verhalten eine der Herausforderungen für Bezugspersonen, um für die Kinder emotional verfügbar zu bleiben. Ein Vorschuss an Vertrauen in die kindliche Entwicklung bedeutet, dass die Beziehung zwischen Bezugsperson und Kleinkind immer wieder neu durchlebt und revidiert wird. Im Zusammenhang mit der Beziehung zu den Bezugspersonen werden die kindlichen Emotionen innerhalb des ersten Jahres immer komplexer und differenzierter. Kindliche Signale, wie Freude, Ärger, Furcht und Überraschung nehmen besondere Bedeutungen sowie Erwartungen hinsichtlich der el© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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terlichen Reaktionen an. Durch wiederholte Erfahrungen mit emotional verfügbaren Bezugspersonen, besonders während des zweiten Jahres, lernt das Kind neben der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und der emotionalen Regulierung und Verhandlung auch Empathieempfinden und das Bedürfnis, anderen zu helfen. Entsprechend entwickeln sich Stolz und Scham in der Regel während des zweiten Jahres des Kindes. Die Vielfalt der frühen emotionalen Entwicklung bietet für die Frühintervention wiederholt die Möglichkeit, durch Betonen der neuen Fähigkeiten und emotionalen Reaktionen die Einstimmung auf das Kind wieder aufzunehmen oder zu verstärken. Durch effektive Regulierung steigen die kommunikativen Fähigkeiten des Kindes an und tragen zu einem Gefühl der elterlichen Kompetenz und Wirksamkeit bei. Die zunehmende kommunikative Kompetenz des Kindes ermöglicht einen vielfältigen Ausdruck seiner emotionalen Verfügbarkeit den Eltern gegenüber. Sowohl die Erfahrung als auch der Ausdruck positiver Emotionen sind entscheidende Aspekte der Kommunikation und der adaptiven Regulierung. Positive Emotionen wie Freude haben sowohl für die Bezugsperson als auch für das Kind die Funktion, ein bestimmtes Verhalten beizubehalten (Emde, 1980). Sie begleiten den erfolgreichen Fortschritt in Richtung Zielerreichung und anerkennen und belohnen elterliche Interventionen sowie die Initiativen des Kindes. Positive Emotionen erhalten eine Beziehung über die Zeit, und die Pflege dieser positiven Emotionen durch Eltern und Intervenierende bildet die Basis eines emotional verfügbaren Umgangs. Die interaktive Beratung bietet besonders den labileren Eltern die Möglichkeit, die Kultivierung einer positiven Beschäftigung mit ihren Kindern einzuüben. Kursinhalte wie Partnerschaftlichkeit in der Kindererziehung (PIPE; Dolezol, Butterfield, u. Grimshaw, 1994; Butterfield, Dolezol, u. Knox, 1995; Butterfield, Pagano, u. Dolezol, 1997) erkennen an, dass einige Eltern konkrete Anleitungen benötigen, wie der Weg für positive Interaktionen mit einem Kind am besten bereitet wird. Solchen Eltern fehlt die intuitive Grundlage für emotional verfügbares Engagement, sodass explizite Techniken gelehrt werden müssen, damit sie eine Vorstellung davon bekommen, wie es sich anfühlt be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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stimmte Vorgänge richtig zu verstehen. Sobald einmal eine positive Reaktion vom Kind erlebt wird, wirkt die inhärente Belohnung motivierend auf die Eltern und weckt das Bedürfnis, weitere Reaktionen im Kind hervorrufen zu wollen. Auf diese Weise haben kindliche Emotionen eine belohnende Funktion für die Eltern und erzeugen ein Gefühl des »nicht genug kriegen Könnens«. Wie bereits erwähnt, ist eine empathische Haltung den kindlichen Erfahrungen gegenüber fördernd und motivierend im Hinblick auf die Fürsorge und Pflege des Kindes. Die frühe Eltern-Kind Beziehung beruht auf der biologisch basierten sozialen Angepasstheit beziehungsweise Ausstattung (social-fittedness) von Eltern und Neugeborenem. Die meisten Eltern haben sich intuitiv den individuellen Signalen ihres Kindes gewidmet und sind in der Lage, auf diese zu reagieren, und bringen ihrem Kind folglich ein stetiges Maß an Zuwendung und Fürsorge entgegen. Für viele Eltern ist dieser empathische Umgang mit ihrem Kind ein selbstverständliches Resultat der eigenen Erfahrungen mir ihren empathisch engagierten Eltern. Für andere wiederum, die eine solche empathische Zuwendung und Fürsorge in ihrem Leben selbst nicht erlebt haben, kann das Fehlen von Empathie für das Kind zu Risiken während der gesamten Entwicklung führen. Eine Intervention, die in dieser Hinsicht schwache Eltern mit einer sicheren Basis zu stärken sucht und die gleichzeitig die Individualität des Kindes in den Fokus der Eltern stellt, kann Möglichkeiten für die Wiederherstellung und das Engagement einer intakten Eltern-Kind-Bindung zur Verfügung stellen. Indem der empathische Mitarbeiter eines Frühpräventionsprojektes emotionale Verfügbarkeit gegenüber den Eltern kommuniziert, schafft er die Voraussetzung, um mit Blick auf ein verbessertes empathisches Erleben und neue Erfahrungen zu schärfen. Die Kommunikation des Verständnisses für schmerzvolle vergangene Erfahrungen und das gleichzeitige Aufzeigen von Möglichkeiten, wie diese vorangegangenen Erfahrungen wiederum gegenwärtiges Handeln beeinflussen können, vermitteln der Familie eine empathische und offene Haltung. Die Aufrechterhaltung einer konsistenten, unterstützenden Allianz, kann auch dem Zwecke dienen, die eigene Auffassung der Mutter, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sie sei für eine Mutterschaft ungeeignet, in Frage zu stellen, da sie diese Haltung unbewusst ihrem Kind gegenüber generalisieren könnte. Wenn es dem Projektmitarbeiter im Rahmen eines Frühpräventionsprojektes gelingt, den Eltern zu helfen, den Blick für die kindlichen Motive und Kapazitäten zu schulen, indem sie zum Beispiel in einem positiveren Licht gesehen werden, dann können die »Geister der Vergangenheit«, die die Wahrnehmung verzerren können (Fraiberg, Adelson, u. Shapiro, 1975), gebändigt werden. Dadurch wird langsam der Weg geebnet für die Wertschätzung der Individualität und Einzigartigkeit des Kindes. Dadurch zeigt sich, dass der Projektmitarbeiter / die Projektmitarbeiterin sowohl für die Eltern als auch hinsichtlich der Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung als ein wichtiges Vorbild für die bedürftigen Eltern fungieren kann. Diese Verfügbarkeit leistet im Hinblick auf die Regulierung der Eltern-Kind Beziehung einen wichtigen Beitrag, indem an der mangelnden elterlichen Verfügbarkeit für das Kind gearbeitet wird.

Das positive Nutzen von Beziehungen Die Beziehung des Kindes zu einer Bezugsperson ist das entscheidende Instrument in der Entwicklung der kindlichen Individualität und fördert gleichzeitig die beschriebenen Motive. Der Beziehungsstärkung auf dieser Ebene muss dementsprechend in Frühinterventionen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden und sollte Gegenstand zentraler Überlegung sein. Eine aktuelle Ausführung ist in den Leitlinien zur Einführung von »Early Head Start«-Programmen in den Vereinigten Staaten enthalten – ein neues »Head Start«-Programm für Dreijährige und ihre Familien verdeutlicht diese Anschauungen. Es ist im Folgenden ausführlich zitiert. »Die Beziehungen zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson […] sind wichtig, um dem Baby und dem Kleinkind Unterstützung, Ermutigung, Kontinuität und emotionale Zufuhr zu bieten und eine gesunde Entwicklung und Bindungen […] zu fördern. Innerhalb der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Robert N. Emde und JoAnn L. Robinson Beziehung zur primären Bezugsperson entwickelt das Kind ein Gefühl dafür aus, was von ihm erwartet wird, was sich als richtig in der Welt anfühlt, sowie Fähigkeiten und Anreize in der sozialen Rollenübernahme, von Reziprozität und Kooperation. Die Aktivitäten des Babys werden in adäquater Weise gefördert und gelenkt, sodass ein Gefühl der Eigeninitiative und der Selbststeuerung ermutigt wird. Während der Periode des Kleinkindes lernt das Kind durch die wiederholte Interaktion mit einer emotional verfügbaren Bezugsperson grundlegende Fertigkeiten und Selbstkontrollen, emotionale Regulationen und Steuerungen. Empathie für andere und prosoziale Tendenzen der Fürsorge und des Helfens entwickeln sich ebenfalls während der Kleinkindzeit sowie Gefühle von Stolz und Scham. Das Erleben und Lernen solcher Fähigkeiten setzen responsive Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen inmitten des unvermeidbaren Stresses und der Anforderungen im Alltag […]. Ein Gefühl der Freude, des Interesses und der Exploration, frühe Fantasietätigkeiten und das Teilen von positiven Emotionen mit anderen beginnen ebenfalls in der Kleinkindzeit. All dies erfordert wiederholte und konsistente Beziehungen zu primären Bezugspersonen. Sie begründen die Basis aller sozialen Kompetenzen, die sich in der Kleinkindzeit und Vorschulzeit entwickeln« (Department of Health and Human Services, 1994, S. 7).

Die psychoanalytische Tradition hat die Bedeutung von Beziehungen für die psychologische Entwicklung betont. Dies bezieht sich nicht nur auf die Erfahrung früher Mutterschaft und den Umgang mit nachfolgenden familiären Konflikten, sondern ebenfalls auf die Erfahrung, von den gewonnenen Erkenntnissen in Therapie und Intervention Gebrauch machen zu können. Die Beiträge von Bowlby (1969, 1973, 1980) und Spitz (1957, 1959, 1965) zur Bedeutung frühprägender, fürsorglicher Beziehungen und die emotionale Untermauerung dieser Beziehungen wurden bereits erwähnt. Darüber hinaus stellt die Psychoanalyse Beziehungsphänomene wie therapeutisches Zusammenpassen und Arbeitsbündnisse als auch Übertragungen und Gegenübertragungen in den Fokus ihrer therapeutischen Arbeit. In jüngerer Zeit haben sowohl die klinische Theorie als auch die klinische Forschung betont, dass die Psychoanalyse nicht nur eine interpersonelle, sondern auch eine intraindividuelle Psychologie ist (Shapiro u. Emde, 1994). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Mit Blick auf den Einsatz früher Interventionen scheinen diese Informationen wichtig und sinnvoll zu sein und eröffnen Möglichkeiten für einen weiteren Ausbau unserer Theorie. Alle Interventionen, von kurzfristig bis langfristig, von der Krisenintervention bis hin zur Langzeitpsychoanalyse, beziehen sich auf den Einfluss, den frühere Beziehungen auf spätere, andere Beziehungen haben. Wir glauben, dass daraus zwei Implikationen hervorgehen. Wenn wir diese Einflüsse anerkennen und sie beurteilen, können wir unsere Interventionen verstärken, indem nach weiteren unterstützenden Beziehungen gesucht wird und konflikthafte Beziehungen aufgedeckt werden, denen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Eine zweite Implikation ist, dass die Bemühungen oft am falschen Ort einsetzen. In unserer Kleinkindarbeit machen wir oft Gebrauch von unserer Beziehung zur Mutter, aber was eigentlich viel entscheidender ist, ist unser Verhältnis zu der Mutter-Kind-Beziehung. Deswegen müssen sich unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, die Mutter-Kind-Beziehung zu unterstützen, anstatt Mutter oder Kind einzeln in den Fokus zu nehmen. Wenn wir an Interventionen denken, die mit dem Einfluss von Beziehungen auf Beziehungen arbeiten, dann gibt es verschiedene Ebenen in Entwicklungssystemen, mit denen wir uns beschäftigen können. Es ist hier häufig von strategischem Nutzen, eine Arbeitsebene zu wählen, die in Bezug auf die Zielsetzung maximale Wirkung verspricht. Die Ziele sind hierbei abhängig von den äußeren Umständen. Zum Beispiel könnte es ein langfristiges Ziel sein, die internalisierten Beziehungsrepräsentanzen des Kindes zu beeinflussen, wie etwa Arbeitsmodelle der Bindung (»working models of attachment«) zu verbessern oder aber auch die internalisierten Beziehungen innerhalb der mütterlich repräsentierten Welt zu beeinflussen. Andere wünschenswerte Ziele im Rahmen der Interventionen könnten unter anderem die Stärkung der Vater-Kind-Beziehung sowie der Mutter-Vater-Beziehung innerhalb der Familie sein. Auch weitere Ziele sprechen für die Stärkung anderer unterstützender Beziehungen für die Mutter, die in einer Beziehung zu ihrem Kind steht – Ziele, die oft in Förderprogrammen für Familien priorisiert werden. Oder wir können eine direktere und unmittelbarere Ebene der Zielsetzung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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anstreben, die sich darauf konzentriert, die wiederholten Interaktionen zwischen Mutter und Kind zu verbessern, um solche Interaktionen zufriedenstellender zu gestalten. In allen Fällen scheint deutlich zu werden, dass die Interventionsbeziehung Teil einer oder mehrerer anderer Beziehungen ist und dazu beitragen soll, diese Beziehungen positiv zu beeinflussen. Diesen Gedanken sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, um ein besseres Verständnis familiärer Systeme und den Beziehungen zu ihnen zu erreichen. Die Ansätze familiärer Systeme kommen der Klärung dieser Fragen derzeitig am nächsten, aber – von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. Byng-Hall, 1995; Scharff u. Scharff, 1987) – ziehen selten Verbindungen zu inneren Repräsentationen von Beziehungen und für gewöhnlich berücksichtigen sie nicht die Entwicklung. Was wir brauchen, ist ein interventionstheoretischer Ansatz, der dieses Feld weiter erforscht und der die Möglichkeit bietet, Schemata hinsichtlich von Einflussfaktoren in Entwicklungssystemen zu spezifizieren – ein Ansatz, der Möglichkeiten zur Beeinflussung der Effekte von Beziehungen auf Beziehungen und deren Konsequenzen für Interventionen unter bestimmten Umständen bietet. Eine weitere bemerkenswerte Qualität der Beziehung zwischen dem Kleinkind und seiner Bezugsperson ist, dass im Gegensatz zu späteren Beziehungen im Leben frühe fürsorgliche Beziehungen prägend sind; sie sind die ersten eines Kindes (Stern, 1977). Außerdem sind, wie wir bereits bemerkt haben, viele dieser kindlich-adaptiven Funktionen in den Kontext solcher frühprägender Beziehungen eingebettet und können nicht unabhängig von diesen betrachtet werden. Somit sind die frühen Beziehungserfahrungen zu den Bezugspersonen qualitativ anders als spätere Beziehungserfahrungen, und Verhaltensregulierungen und -dysregulierungen stehen häufig eher charakteristisch für die Beziehung mit einer Bezugsperson, statt isoliert für nur einen der beiden Beziehungspartner (Sameroff u. Emde, 1989). Dies hat zu einer veränderten Auffassung von Diagnostik während der frühen Entwicklung geführt, was das nächste Thema ist.

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Diagnostik als fortlaufender Prozess: eine sich wandelnde Orientierung Diagnostik im Rahmen von Interventionen während der frühen Entwicklung stellt eine besondere Herausforderung dar. Seit der Zeit des Hippokrates stand das Diagnostizieren in einem direkten Zusammenhang zu der Prognose und dem Wunsch des Klinikers, prognostische Aussagen über mögliche Auswirkungen machen zu können. Die Kindheit jedoch ist eine Zeit des raschen Wandels: In der Frühprävention ist man fortwährend damit beschäftigt, Möglichkeiten für eine günstige Entwicklung zu schaffen und Veränderungen in diesem Sinne zu erleichtern. Somit ist die Aufgabe, Voraussagen über die Kontinuität von Störungen über die Zeit zu machen sehr schwierig, wenn nicht sogar paradox. Eine weitere Schwierigkeit der traditionell medizinischen Diagnostik ist die mutmaßliche Suche nach Diagnosen, die in Verbindung mit einfachen kausalen Schlussfolgerungen stehen, speziell mit Blick auf biologisch basierte Störungen des Gehirns. Das Ziehen einfacher kausaler Schlüsse im Zusammenhang mit psychischen Problemen von Kindern scheint selten möglich zu sein, wobei sich die meisten als Resultat multipler ätiologischer Faktoren finden lassen, die die Interaktionen umweltbedingter und intrinsischer Elemente in variierenden Kombinationen und Intensitäten einbeziehen. Eine andere Schwierigkeit der diagnostischen Tradition ist die Tendenz der meisten Klassifikationssysteme, den Begriff der Störung in (statische) Kategorien zu fassen, wobei Störungen als entweder vorhanden oder nicht vorhanden eingestuft werden. Viele, die im Frühpräventionsbereich arbeiten, sind davon überzeugt, dass wissenschaftliche Evidenz die Annahme eines Kontinuums von emotionalen und Verhaltensstörungen einer Kategorisierung in vorhanden versus nichtvorhanden vorzuziehen ist (Achenbach, 1988; Rutter u. Tuma, 1988). Eine weitere Schwierigkeit ist die den meisten medizinisch basierten Klassifikationssystemen innewohnende Annahme, dass die Störung im Individuum verankert ist. Bei der Beurtei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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lung von Verhalten und Funktionsfähigkeit in der frühen Entwicklung ist der familiäre Beziehungskontext von zentraler Bedeutung, sodass Fehlfunktionen hier häufig im Zusammenhang dieses Kontextes gesehen werden müssen. Um etwas präziser zu werden: Wenn Störungen sich in der Beziehung zu einer Bezugsperson zeigen und eventuell sogar spezifisch für derartige Beziehungen sind, wie sind diese Störungen dann zu klassifizieren? Das Vorgehen, das wir diesbezüglich befürworten, beschreibt einen Ansatz, der diese Schwierigkeiten aufgreift und zu behandeln versucht. Er spiegelt eine neue Perspektive wider, die Diagnosen nicht als endgültig feststehend, sondern als ständigen Prozess betrachtet. In diesem Sinne werden regelmäßige Neubewertungen innerhalb eines diagnostischen Prozesses erwartet und auch durchgeführt. Darüber hinaus wird angenommen, dass sich der diagnostische Prozess aus zwei Aspekten zusammensetzt: 1.) der Beurteilung von Individuen und 2.) der Klassifikation von Störungen. Die Untersuchung und Einschätzung von Individuen umfasst eine Vielzahl von Bewertungen der individuellen Funktionsfähigkeit und Symptomen im Zusammenhang mit familiären Beziehungen, Kultur und Belastungen, die sowohl genetisch als auch umweltbezogen sein können. Die Klassifizierung von Störungen umfasst zum einen die Bereitstellung von Wissen über Krankheitsbilder und zum anderen die Verknüpfung dieses Wissens mit dem, was allgemein unter klassifizierten Syndromen bekannt ist, die möglicherweise Verbindungen zur Ätiologie, Prognose und Behandlungsergebnissen liefern. Klinische Klassifikation ermöglicht die Kommunikation unter Fachleuten und trotzdem ist es immer wieder wichtig, daran zu erinnern, dass Störungen und nicht Individuen klassifiziert werden (Rutter u. Gould, 1985). Der diagnostische Prozess beginnt mit der Einschätzung und führt schließlich zu Überlegungen einer Klassifizierung. Aufgrund der hohen Interdisziplinarität früher Interventionen und der Vielzahl von Praktikern mit ganz unterschiedlichen Hintergründen werden verschiedene Paradigmen und Methoden bei der Beurteilung angewendet. Psychoanaly© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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tische Beiträge zur frühen Beurteilung schließen die von Brazelton und Cramer (1990), Cramer et al. (1990), Fraiberg (1980), Gaensbauer und Harmon (1981), Greenspan (1981, 1997) und Stern und Stern-Bruschweiler (1987) ein. Psychoanalytische Konzepte haben zum Verständnis von Beurteilung und empirischen Beobachtungen und deren Einschätzungen beigetragen, aber sie haben nicht zu reliablen und validen Klassifikationen geführt. Eine ähnliche Anmerkung lässt sich über den Beitrag systemischer Ansätze machen, die nützliche Beurteilungsschemata entwickelt haben (Minuchin, 1974; Scharff u. Scharff, 1987). Auch Beiträge zur Beurteilung aus anderen Disziplinen sind ebenfalls erwähnenswert und werden an anderer Stelle diskutiert. Ein neuer Fortschritt wurde mit der Publikation »Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early Childhood« (DC: 0 – 3; Zero To Three, 1994) gemacht. Diese diagnostische Klassifikation ist das Ergebnis der Arbeit einer nationalen Projektgruppe von Klinikern. Es spiegelt den Perspektivenwechsel in der Diagnostik wider, der darauf fokussiert, der Klassifikation einen sorgfältigen Beurteilungsprozess voranzustellen. Es greift dabei die Strategien eines multiaxialen Systems auf unter zusätzlicher Berücksichtigung von Merkmalen der Beurteilung und legt ein besonderes Augemerk auf die Bewertung der Beziehung zu den Bezugspersonen. Das DC: 0-3-System entstand vor dem Hintergrund, häufig auftretende Probleme und Symptomkonfigurationen der ersten drei Lebensjahre in einem Diagnoseschema zusammenzufassen, um vor allem für die intervenierende Arbeit nützlich zu sein und um eine Möglichkeit der Absicherung zu bieten. Es ist ein neues Schema in Ergänzung an das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-IV; American Psychiatric Association, 1994), das die Zeit der frühen Kindheit nicht adäquat abdeckt. Analog zum aktuellen Ansatz des DSM IV versucht das DC: 0 – 3 soweit wie möglich operationalisierte Kriterien anzugeben, die den Bedingungen von Evaluation und Forschung unterliegen. Das DC: 0-3-Schema hat eine Achse hinzugefügt, die sich speziell mit Beziehungsstörungen beschäftigt. Diese enthält ebenfalls eine Empfehlung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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zur Verwendung einer allgemeinen Beurteilungsskala der Eltern-Kind-Beziehung, die Ankerpunkte für klinische Urteile zur Verfügung stellt. Es muss jedoch gesagt werden, dass sowohl die Achse der Beziehungsstörungen als auch das DC: 0-3Klassifikationssystem selbst eine Vorreiterrolle innehaben und infolge dessen Evaluationen hinsichtlich ihrer Reliabilität und Validität erwartet werden.

Entwicklungsbeeinträchtigungen verhindern und Kompetenzen stärken Ein weiteres Verfahren spiegelt einen Perspektivenwechsel hinsichtlich präventiver Interventionen wider. Der Entwicklungsforscher sieht diese Interventionen im weitesten Sinne im Zusammenhang mit der Prävention von diagnostizierbaren Störungen. Dies beinhaltet 1.) die Prävention von Entwicklungsbeeinträchtigungen und von Anpassungsproblemen und 2.) die Stärkung individueller Entwicklungsverläufe. Diese zwei Dimensionen verbinden Aspekte des traditionellen Vorgehens zur Prävention von Störungen mit Aspekten der Gesundheitsförderung. Tabelle 1 zeigt diese zwei Dimensionen mit Blick auf Präventionsmaßnahmen in fünf Entwicklungsbereichen und zieht die Verbindung zu gegenwärtigen Klassifikationen von Störungen. Dieser Ansatz wurde ursprünglich mit dem Gedanken entwickelt, präventive Interventionen im Bereich der psychischen Gesundheit zu leisten, aber wie Tabelle 1 zeigt, ist das Schema darüber hinaus durchaus relevant in den Disziplinen der Psychiatrie, der Sozialarbeit, der Psychologie wie auch der Ergotherapie. Dass eine solche Denkweise ebenso Interventionen im Feld der frühkindlichen Erziehung mit einschließt, veranschaulicht der nächste Abschnitt.

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Tabelle 1: Entwicklungsschema zum Nachdenken über Prävention Was soll verhindert werden? Entwicklungskompromisse und Anpassungsprobleme in folgenden Bereichen: - Lernen (z. B. Lernhemmungen und Misserfolge) - Die Entstehung und Aufrechterhaltung von Beziehungen (z. B. Beziehungsstörungen – DC: 0 – 3 Achse II) - Emotionsregulierung (z. B. internalisierte Verhaltensprobleme – DC: 0 – 3 Achse I Affektstörungen) - Verhaltensweisen (z. B. externalisierte Verhaltensprobleme wie der Umgang mit Planungsschwierigkeiten, Dysregulierung von Aggressionen und Probleme hinsichtlich Empathie und Reziprozität) - Risikoverhalten und das Ausgesetztsein körperlicher Krankheit (z. B. Unfälle und Verletzungen, fehlende Immunisierung, schlechte Inanspruchnahme des Gesundheitswesens, schlechte Ernährung und Substanzabhängigkeit) Was soll verstärkt werden? Individuelle Entwicklungsverläufe unter Einbeziehung folgender Prozesse: - Motivierung von Lernprozessen und positiven Explorationserfahrungen - Motivierung der Reziprozität in Beziehungen und der Kommunikationsfähigkeit, sowie Stärkung positiver Erfahrungen in Bereichen der Fürsorge und Betreuung - Sicherheit im Umgang und Gebrauch von Emotionen, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber ; konsistente emotionale Erfahrungen mit bedeutenden Anderen unter Einbeziehung gemeinsamer positiver Erfahrungen und Konflikten einerseits, sowie der Bedeutung des Spiels und der Fantasie andererseits - Charaktereigenschaften fördern (z. B. der Ausbau von Fähigkeiten, das Vertrauen Herausforderungen zu meistern, die Wirksamkeit im sozialen Austausch, sowie Verantwortungsgefühle und Gewissenhaftigkeit - Sicherheit und Gesundheit

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Wissenschaftspolitik: die Relevanz einer langfristigen Entwicklungsperspektive in frühen Interventionen Es gibt wichtige Gründe für Wissenschaftler im Hinblick auf die Evaluierung der Wirksamkeit früher Interventionen, für eine langfristige Entwicklungsperspektive einzutreten. Politische Entscheidungsträger wie auch Förderer von Evaluierungen stützen sich oft auf Aussagen und Ergebnisse aus Kurzzeituntersuchungen und zeigen dabei fehlendes Interesse an deren Langzeitwirkungen, dabei ist eben genau dieses Vorgehen, wie wir später noch zeigen werden, irreführend. Vor nicht allzu langer Zeit wurden wir gebeten, eine politische Stellungnahme zur Evaluierung von Interventionseffekten in Zusammenhang des Early-Head-Start-Programms (EHS) abzugeben. Wir kamen zu dem unausweichlichen Schluss der besonderen Relevanz und Bedeutung einer langfristigen Entwicklungsperspektive. An dieser Stelle möchten wir unsere Überlegungen diesbezüglich zusammenfassen, da sie die Eigenschaften und Besonderheiten von Evaluationen früher Interventionen im Allgemeinen illustrieren. Unsere Aufmerksamkeit galt im Wesentlichen den Theorien mit einem sich wandelnden Ansatz von Connell und Kubisch (1996). Die Autoren empfehlen ein etappenähnliches Vorgehen, das die Möglichkeit bietet, auf entsprechende Interventionen in Situationen zurückzugreifen, in denen Initiativen der Kommunen (community initiatives) bewertet werden. Der erste Schritt des empfohlenen Schemas umfasst die Bestimmung der Langzweitwirkungen, die man zu beobachten hofft. Langzeitergebnisse hinsichtlich der Erlangung eines Schulabschlusses sind nicht nur leichter zu ermitteln, es herrscht zudem auch mehr Einigkeit über deren genaue Festsetzung, als dies bei Aussagen in Bezug auf frühere Zwischenergebnisse, wie zum Beispiel die erfolgreiche Absolvierung der vierten Klasse, möglich ist. Dies hat bislang vielerlei Gründe: zum einen die Komplexität und die Ungenauigkeit von Kontextvariablen, die Einfluss auf die Zwischenergebnisse (wie z. B. ein Umzug der Familie, Krisen und Veränderungen in der Sozialpolitik) nehmen, zum anderen auch die Auswirkungen der Grenzbereiche (the operation of threshold © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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effects), sowie nichtlineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Demzufolge ist das erste Ziel nach der Bestimmung der Langzeitergebnisse, eine angemessene Theorie der Veränderung zu formulieren. Dieser Prozess ist durch rückwärtsgerichtetes Vorgehen gekennzeichnet, sodass zunächst die vorletzten Ergebnisse, dann die Zwischenergebnisse, die als Schritte unterschiedlichen Ausmaßes aufgeführt werden können, und anschließend die frühen beziehungsweise anfänglichen Ergebnisse dargestellt werden. Im letzten Schritt wird hinterher auf erste Maßnahmen, zum Beispiel die Intervention selbst, eingegangen. In Anbetracht der Überlegungen zu der Evaluation der Interventionen EHS empfanden wir diesen Ansatz als entlastend. Obwohl frühe Entwicklungsleistungen wie kognitive Entwicklung und Sprache sehr unterschiedlich und schwierig vorherzusagen sind, speziell wenn der Fokus auf dem Kind liegt, konnten die erwünschten Langzeitergebnisse klar herausgearbeitet werden. Eine Entwicklungsperspektive macht deutlich, warum dies so ist, und es könnte von Nutzen sein, einige dieser Aspekte noch einmal näher zu beleuchten. Erstens lassen sich unterschiedliche Qualitäten in der frühkindlichen Entwicklung erkennen im Vergleich zu der späteren Entwicklung des Kindes. Frühe Entwicklung ist gekennzeichnet durch einen relativen Mangel an Differenzierung, mit der Einbettung vieler kindlich adaptiver Funktionen in die prägende Beziehung zu der Bezugsperson. Passend zu dem, was wir über die Plastizität von Entwicklung und die verschiedenen Möglichkeiten adaptiver Verläufe für wichtige Entwicklungsfunktionen wissen, ist es nicht einfach, eindeutige Ergebnisse zu formulieren. Zweitens führt die Art des Entwicklungsprozesses weitere Gründe auf, warum Langzeitergebnisse eindeutiger bestimmt werden können als Zwischenergebnisse. Nichtlinearität in der Entwicklung wird demonstriert an Längsschnittbeobachtungen von Entwicklungsbeeinträchtigungen, zum Beispiel in Fällen, in denen mehrere Verläufe zur Erreichung wichtiger späterer Entwicklungsleistungen denkbar sind. Folglich haben alle Kinder, die blind, taub oder mit schweren motorischen Behinderungen geboren sind, ganz unterschiedliche senso-motorische Erfah© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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rungen in ihrer Kindheit – und doch können alle die von Piaget postulierte repräsentale (konkret-operationale/begriffliche) Intelligenz (representational intelligence) sowie die zu erwartenden postinfantilen Meilensteine der emotionalen Entwicklung erreichen. Kinder bewältigen diese Herausforderungen, indem sie von Entwicklungsverläufen Gebrauch machen, die sich von den Theorien Piagets und auch anderer unterscheiden. Eine dritte Annahme betont ebenfalls die Notwendigkeit, nach Langzeitergebnissen zu suchen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird man in jeder Evaluation von Interventionen aussagekräftige Veränderungen in funktional bedeutsamen Kontexten finden, in denen frühe Entwicklung stattfindet. Eine besondere Relevanz zeigt sich diesbezüglich in Kontexten, die von Armut oder anderen umweltgebundenen Risikofaktoren geprägt sind, wie zum Beispiel Gewalt in der Community. Kulturelle Unterschiede lehren uns viel über die entsprechenden Stärken und Risiken intermediärer Entwicklungsprozesse inmitten solch herausfordernder Kontexte. Demnach sollte jedes ergebnisorientierte Schema langfristig angelegt sein, um einen angemessenen Ablauf des Programms oder der Interventionseffekte auf multiple Entwicklungsverläufe zu gewährleisten, die sich inmitten von sich verändernden biologischen und umweltbedingten Herausforderungen abzeichnen. Voreilige Schlüsse, in denen Zwischenergebnisse irreführend sein könnten, sollten gewissenhaft vermieden werden (z. B. Ergebnisse, die zeitweilig rätselhaft erscheinen, da sie abweichend, scheinbar nicht vorhanden oder unerwartet sind). In dem Moment, in dem wir begannen, uns mit Langzeitergebnissen zu beschäftigen, die Einflussfaktoren herausarbeiteten und die einzelnen Zwischenschritte erreichten, ergab vieles seinen Sinn. Wir entschieden, dass der am besten für die Evaluation geeignete Zielbereich das sich entwickelnde Kind im Kontext der Familie sei, obwohl auch andere Ziele des EHS in Frage gekommen wären (z. B. die Angemessenheit der elterlichen Arbeit, Harmonie innerhalb der Familie, Unterstützung der Community oder die Entwicklung des staffs). Ferner nahmen wir an, dass zwei Bereiche der individuell adaptiven Funktionsfähigkeit besonders relevant sind in Bezug auf die Evaluation der Interventionen des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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EHS (genauso wie die Interventionen der Head-Start-Programme): 1.) Lernkompetenzen und 2.) soziale Kompetenzen. Diese zwei Kompetenzbereiche sind dynamisch und eng verknüpft mit der eigenen Motivation, einem Gefühl für Wirksamkeit und der Auseinandersetzung mit der Welt. Trotz gewisser Umstände entschieden wir uns dafür, jeden dieser Bereiche in seiner Vielfältigkeit zu bestimmen, um aufzuzeigen, dass sie mehrere Merkmale und Funktionen umfassen, die wiederum dazu beitragen, die fortlaufende Entwicklung in verschiedenen Kontexten zu betrachten. Längsschnittforschung leistet einen wichtigen Beitrag in der Bewertung dieser beiden Bereiche hinsichtlich verschiedener Entwicklungsverläufe in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, indem sich die Individuen den erwünschten Langzeitergebnissen, die wir definiert haben, mit der Zeit annähern. Für welchen Zeitpunkt entschieden wir uns mit Blick auf die Erreichung der gewählten Langzeitergebnisse? Einmal durchdacht, schien die Antwort klar zu sein: Das frühe Erwachsenenalter ist der am besten geeignete Zeitraum zur Beurteilung der Langzeitergebnisse des EHS. Ergebnisse des frühen Erwachsenenalters können in unseren Bereichen spezifiziert werden als 1.) Erwerbstätigkeit oder die Weiterbildung nach der High School und 2.) Intimität in persönlichen Beziehungen (z. B. Hingabe, Vertrauen und die Reziprozität mit ausgesuchten Anderen). Außerdem heben wir die Erziehungsleistung als ein zentrales Langzeitergebnis im frühen Erwachsenenalter hervor. Sowohl in der konzeptuellen als auch in der empirischen Forschung gilt gesunde und engagierte Erziehung als stärkste Einflussgröße früher Programme psychosozialer Interventionen. Konzeptionell wissen wir, dass alle hilfreichen Interventionen die Effekte von Beziehungen auf andere Beziehungen einschließen, dass Beziehungserfahrungen nach lokal bedeutungsvollen Kontexten internalisiert werden. Die Wirkung der EHS-Interventionen beruht darauf, fürsorglich-elterliche Muster zu stärken, die Erfahrungen generieren, die vom Kind internalisiert werden. Empirisch konnte gezeigt werden, dass vor allem im Bereich des elterlichen Verhaltens über die Generationen hinweg Kontinuitäten zwischen früheren und späteren Erfahrungen entstehen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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(Fonagy, 1995; Main, 1993; Rutter u. Gould, 1985; Sroufe u. Fleeson, 1988). Es gibt ebenfalls implizite Unterstützung für diese Perspektive, die die Ergebnisse des Einflusses der eigenen Erziehung auf die Erziehung der Kinder betrachtet (parenting-toparenting outcome perspective). Die Verbesserung und Stärkung von Erziehungsleistungen und Elternkompetenzen der nächsten Generationen sind in vielen sozialpolitischen Aussagen inbegriffen, werden jedoch nur selten auch explizit umgesetzt. Ein von Klinikern seit Jahren gebräuchliches Sprichwort bringt eine intuitive Lebensweisheit auf den Punkt: »Behandele deine Kinder so, wie du dir deine Enkelkinder gerne wünschst«. Zwischenergebnisse sind in unserem Schema am besten als Zeitpunkte nach Entwicklungsübergängen konzeptualisiert. Zeiten der Konsolidierung, die sich diesen Übergängen anschließen, ermöglichen die Einschätzung individueller Differenzen, die gegebenenfalls aus Interventionen resultieren. Dies ist von besonderem Interesse, wenn Gruppen mit und ohne Intervention unter verschiedenen Bedingungen verglichen werden sollen. Die Zeit der Entwicklungsübergänge ist wichtig, weil sie tiefgreifende und andauernde Veränderungen innerhalb des Kindes in Bewegung setzt, aber auch wichtige Veränderungen innerhalb der Rollen des Kindes gegenüber den Eltern und anderen bewirken. Obwohl diese Übergänge in der Entwicklung Chancen positiver Interventionen bieten, repräsentieren sie ebenfalls Phasen der Vulnerabilität von sich reorganisierenden Entwicklungssystemen. Darüber hinaus beinhalten Zeiten von Entwicklungsübergängen Variationen individueller Unterschiede als Konsequenz von Reifung und assoziierten Kontextfaktoren (McCall, 1979). Daher ist es in der Beurteilung von Interventionseffekten zwischen Individuen strategisch sinnvoll, Alterszeitpunkte zu wählen, die sich bereits gut erforschten Entwicklungsübergängen anschließen, um Zwischenergebnisse nachvollziehen zu können. In Anlehnung an die bereits verdeutlichten Prinzipien fanden wir es nützlich, die Ergebnisse in einem Schema (s. Abbildung 1) entsprechend den Dimensionen, 1) was wir in den obenstehenden Bereichen unterstützen und stärken sowie 2) was wir in

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Abbildung 1: A parenting-to-parenting developmental perspective for Early Head Start

diesen Bereichen (hinsichtlich Entwicklungsbeeinträchtigungen und Anpassungsproblemen) verhindern, zu spezifizieren. Zusammengefasst glauben wir, dass die Entwicklungsperspektive, die den Einfluss der eigenen Erziehung auf die Erziehung des Kindes (parenting-to-parenting developmental perpective) fokussiert, eine Reihe von Vorteilen bietet. Zu diesen zählen: 1. Alternative Wege der Entwicklung und variierende Kontexte werden hervorgehoben; dies ermöglicht das Entdecken individueller und kultureller Stärken inmitten aller Widrigkeiten und biologischer Handicaps; es hilft auch, Fehler in der Beurteilung von Zwischenergebnissen zu vermeiden. 2. Diese Perspektive behält die Bedeutung von Langzeitevaluationen im Blick. Alles, was wir von vergangenen Untersuchungen und den Überlegungen bedeutender Entwicklungsforscher wissen, bestätigt die Annahme, dass Langzeituntersuchungen essenziell sind, obwohl diese in Zeiten politischen Drängens auf schnelle Antworten schwer zu finanzieren sind. 3. Diese Perspektive hilft uns zu vergegenwärtigen, warum die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Untersuchung von Variationen über die Zeit hinweg (z. B. »Was führt zu welchem Ergebnis unter welchen Bedingungen?«) so wichtig ist und uns Erkenntnisse darüber verschafft, welchen Einfluss Interventionen auf bedeutende Entwicklungsergebnisse nehmen. Zusammengefasst unterstützt die parenting-to-parenting-Langzeitperspektive einen Blickwinkel, welcher sich mit dem derzeitigen Wissen über Entwicklungsprozesse und relevanter Forschung zur Kontinuität früher Erfahrungen und Interventionen befasst. Es ist dies eine Perspektive, die eine Identifikation wichtiger Entwicklungsergebnisse sowohl hinsichtlich spezifischer kultureller Settings als auch kulturübergreifender Merkmale erlaubt.

Ein schlussfolgernder Epilog: Alternativen fördern und imaginäre Fantasien ermutigen Unser Beitrag hebt hervor, dass eine psychoanalytisch-entwicklungspsychologische Perspektive die Aufmerksamkeit auf spezielle Gebiete der frühen Intervention richtet. Darunter sind beispielsweise die Individualität und die Bedeutung, die Relevanz von Beweggründen und Moral sowie die zentrale Rolle der sozialen Beziehungen. Die Identifikation wichtiger Kompetenzbereiche in jedem dieser Gebiete ermöglicht, in der Frühprävention Programme zur Stärkung von Entwicklungsverläufen sowie Maßnahmen zur Prävention von Entwicklungsbeeinträchtigungen und Anpassungsproblemen zu entwickeln. Wir haben zudem aufgezeigt, dass Diagnostik in der frühen Kindheit ein fortlaufender Prozess ist, der zum einen Veränderungen in der Entwicklung erwartet und zum anderen das Individuum innerhalb seiner Lebensumstände beurteilt – dazu gehört ebenso die Klassifizierung einer jeden identifizierten Störung. Weiterhin haben wir hervorgehoben, dass sich unser psychoanalytisches Denken selbst beim Betrachten dieser Forschungsfelder in überraschende Richtungen entwickelte. Abschließend möchten wir diesen letzten Punkt mit einigen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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weiteren Überlegungen illustrieren. Traditionelle psychoanalytische Interventionsansätze zentrieren sich oft auf ein Nachdenken über die Vergangenheit, um die Wiederholung von Not und Elend zu vermeiden und die Vergangenheit psychisch an die richtige Stelle zu setzen (»putting the past in its place«) (Fenichel, 1945; Freud, 1937). Neuere psychoanalytische Ansätze setzen einen anderen Akzent, nämlich das Nachdenken über die Zukunft. Psychotherapie ebenso wie andere Interventionsformen befähigen zu neuen Anfängen (Loewald, 1960) und können die in diesem Beitrag diskutierten Entwicklungsmotive mobilisieren (Emde, 1990). Wie die vorangehende Diskussion schon aufzeigte, können Neuanfänge alternative Entwicklungsverläufe beinhalten. Individuen können auf verschiedene Weisen Bedeutungen entdecken, indem sie die Motive in ihrer Entwicklung in ganz unterschiedlicher Weise für sich erfahren und verstehen. Entwicklungsverläufe können sich bei Kindern, die besonderen Herausforderungen durch biologische Beeinträchtigung oder umweltbedingten Stress ausgesetzt waren, substanziell unterscheiden. Demnach ist das Anliegen in Frühpräventionen auf lange Sicht gesehen zukunftsorientiert und zielt auf Förderung von Alternativen ab. Die Frühprävention ermöglicht einerseits, jenen sich in Schwierigkeiten oder in Gefahr befindenden Kindern, einen speziellen adaptiven Weg zu finden, andererseits unterstützt sie Kinder, innerhalb der Familie oder der Kultur, von ihren eigenen Stärken Gebrauch zu machen. Weiterhin gibt es eine eher unmittelbare Richtung, in welcher frühe Intervention auf Erziehungsalternativen abzielt. Verbessert werden sollen nämlich die Bedingungen, in denen sich das junge Kind Alternativen im täglichen Leben vergegenwärtigen und dann auch Erfahrung aus diesen gewählten Optionen gewinnen kann. Um die Relevanz dieses Punktes zu verdeutlichen, reicht es aus, sich vor Augen zu halten, dass die Fähigkeit, sich alternative Möglichkeiten auszumalen, von Klinikern seit Langem als ein Kennzeichen von Anpassung angesehen wird. Rigidität oder mangelndes Vorstellungsvermögen ist ein Schlüsselelement von Pathologie; diese ergibt sich aus der Unfähigkeit des Individuums, sich an neue Situationen anzupassen. Vorstellungsvermögen, die Fähigkeit, Visionen auszubilden, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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als eine adaptive psychologische Funktion sowie den Umständen, unter denen dies gefördert werden kann, gebühren mehr Aufmerksamkeit in unserer Arbeit. Durch kreative Fantasien (imaginations) können sich Kind, Eltern und der Projektmitarbeiter in der Frühprävention neue Kombinationen und bessere Möglichkeiten vergegenwärtigen. Nun könnte man entgegnen, dass das von uns genannte Leitprinzip, vor allem das »Bauen auf die Stärken Individualität und Bedeutung«, ein hohes Level erreicht, wenn in der Frühprävention möglich wird, zu imaginativer Aktivität zu ermutigen oder diese anzustoßen. Als Erwachsene realisieren wir, dass imaginative Aktivität in Literatur und Kunst unser Leben bereichert, indem uns alternative Welten aufgezeigt werden – aber oftmals verlieren wir diese Sicht einer profaneren Wahrheit in unserer Arbeit mit den Kindern. Alternative Möglichkeiten zu betrachten, ist weiterhin grundlegend für sozialen Austausch und Alltagstauglichkeit. Das Kind beispielsweise benötigt die Sichtweise eines anderen für effektive Kommunikation. Weiterhin muss ein Kind für effektives Handeln die Sichtweisen anderer erkennen, etwa wenn ein Ziel nicht erreicht wird oder ein Konflikt unvermeidlich ist. Der Leser wundert sich möglicherweise über imaginative Fähigkeiten des jungen Kindes. Das Fördern imaginativer Fähigkeiten mag begründet erscheinen, wenn der Fokus in der Frühprävention auf Familienmitgliedern liegt, die älter sind als drei Jahre – aber was ist mit den Jüngeren? Überraschenderweise verdeutlicht uns die aktuelle Forschung das Ausmaß, in dem sich imaginative Kapazitäten in wichtigen Bahnen zu Beginn der Sprachfähigkeit entwickeln. Die meisten der dreijährigen Kinder haben narrative Kapazitäten, welche ihnen erlauben, bedeutungsvolle mögliche Wortalternativen zu organisieren und diese auch anderen gegenüber auszudrücken (Bretherton, 1983; Bruner, 1986; Wolf, Rygh u. Altshuler, 1984). Kinder von zwei Jahren sind in der Lage, Realität in »Spielform« zu transformieren, ohne durcheinanderzukommen, und können bei dieser Aktivität Freude zusammen mit ihren Bezugspersonen empfinden. Dies alles ist recht verschieden von der traditionellen psychoanalytischen Sichtweise, wo betont wurde, dass das junge Kind nor-

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malerweise Probleme hat, Fantasie und Realität zu unterscheiden. Wir schließen mit einer Fallvignette eines 24-monatigen Kindes, das während einer unserer Studien gefilmt und aufgenommen wurde. Das Kind sitzt während des Essens zu Hause am Essenstisch zwischen seinen Eltern und beginnt, Bewegungen und Geräusche mit seinem Brot zu machen. Das folgende Transkript ist eines von vielen von uns aufgenommenen, die frühe imaginative Transformationen im Alter von zwei Jahren illustrieren. Wir beziehen uns auf diese Vignette als »A horse made of bread«. Diese Vignette wird ebenso wie andere ausführlicher in Emde, Kubicek und Oppenheim (1997) diskutiert. Die in Klammern stehenden Worte beschreiben Verhalten, wohingegen die anderen Worte wörtlich übertragen sind; x bezieht sich auf Verbalisierungen des Kindes, welche für die Transkribierenden unverständlich waren; K = Kind; M = Mutter. K: [schnalzt mit der Zunge, schaut auf das Brot][Ähnliches mehr] M: Mensch, Mike, das ist echt ein leckeres Essen, was du da isst. K: [spielt mit dem Brot, »galoppiert« über den Tisch] K: Schau Mama, ein Pferdchen. Schau, Pferdchen Mama; [hält das Brot zur Mutter] M: Sieht das wie ein Pferdchen aus? K: Jaa. Mein Brot-Pferdchen. M: [kichert] Ist das dein Brot-Pferdchen? K: xxx fällt runter. M: Uh-oh. K: Mach es wieder ganz. M: Hmm, ich weiß nicht, wenn du Brot erstmal auseinandergemacht hast, weiß ich nicht ob du es wieder zusammenmachen kannst. K: xxx M: Ein bisschen wie Humpty Dumpty [Figur aus einem englischen Kinderreim; Anm. d. Übers.].

Wir haben andere Beispiele von frühen Spielen dokumentiert, die solche imaginativen Transformationen beinhalten. Sicherlich sind diese imaginativen Handlungen markanter bei Kindern mit früher Sprachentwicklung und Familien, die über diese Aktivitäten während des alltäglichen Spielens Entzücken empfinden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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und äußern. Forschung zu frühen imaginativen Kapazitäten und deren Abweichungen ist gerade erst in der Entstehungsphase. Dennoch scheint es wahrscheinlich, dass solche Abweichungen bedeutsam sind und dass viele Kinder, vor allem diejenigen in Bedingungen umweltbasierter Deprivation oder umweltbasierten Stresses, weniger häufig über diese Fähigkeiten verfügen. Es erscheint weiterhin wahrscheinlich, dass Kinder, die unter Stress stehen, zeitweise Elemente der Fantasie mit der Realität durcheinanderbringen können, vor allem wenn sie sich nicht wohlfühlen, ängstlich, krank oder müde sind. Insgesamt könnte man sagen, dass die Fähigkeit, sich Alternativen zu überlegen, von einer zentralen adaptiven Relevanz ist, da sie auftritt, sobald das Kleinkind Wörter aneinanderreiht. Jedoch ist auch zu sagen, dass die Bedeutung früher Variationen dieser Fähigkeit noch unklar ist. Klar ist jedoch jetzt schon, dass wir in den Frühinterventionsprogrammen immer mehr Möglichkeiten des Lernens und Förderns für Kliniker und Familien entdecken. Dies geschieht durch die Sensibilisierung für biologische Variationen durch die Fortschritte in der Molekulargenetik und in den kognitiven Neurowissenschaften und, wie wir diskutiert haben, durch die kulturelle Vielfalt in unserer zunehmend diversen und vernetzten Gesellschaft.

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Es ist mir eine große Freude und Ehre, an den Feierlichkeiten zum 100. Gründungsjubiläum der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, dem 50. Geburtstag des Sigmund-Freud-Instituts und dem 20. Geburtstag der Sandler-Vorträge teilnehmen zu dürfen. Es freut mich sehr, Ihnen einen Einblick in die Forschung meines Labors am National Institute of Health geben zu dürfen. Das Labor befindet sich nicht direkt auf dem Hauptcampus von Bethesda, auf dem das National Institute of Health hauptsächlich angesiedelt ist, sondern liegt im Bundesstaat Maryland nahe dem Potomac-Fluss, etwa 40 Kilometer entfernt vom Washingtoner Stadtzentrum und von Bethesda. Auf dem Außengelände können wir Rhesusaffen, die ich auch in freier Wildbahn studiert habe, unter natürlichen Bedingungen halten. Seit seiner Gründung untersucht unser Labor individuelle Unterschiede zwischen den Rhesusaffen bezüglich Persönlichkeit, Temperament und möglichen zugrundeliegenden biologischen Substraten. Ein besonderes Augenmerk gilt der Frage, wie sich genetische und umweltbedingte Faktoren verhalten und, was aus unserer Sicht noch wichtiger ist, wie sie miteinander interagieren, um individuelle Entwicklungsverläufe zu prägen. Im Laufe der Zeit entwickelten wir ein besonderes Interesse für zwei Persönlichkeits- oder Subtypen von Affen in der »Pooles1

Vortrag an der Joseph Sandler Research Conference 2010. Dieser Vortrag wurde aufgrund einer Abschrift einer Filmaufnahme des Vortrags und seiner Übersetzung erstellt. Die Aufnahme steht auf der Website des SFI: www.sigmund-freud-institut.de. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ville-Kolonie« meines Labors, das seinen Namen einer kleinen nahegelegenen Stadt mit dem Namen Poolesville verdankt. Diese speziellen Subtypen von Affen studieren wir nicht nur auf dem Poolesville-Gelände, sondern auch in zwei weiteren »Feldgehegen«, zu denen wir im Laufe der Jahre Zugang hatten. Sowohl in den Feld-Gehegen als auch in unserer Kolonie in Poolesville konnten wir beobachten, dass etwa 20 % der Affen ungewöhnlich furchtsam oder ängstlich reagierten, wenn sie neuen oder leicht anspruchsvollen Herausforderungen ausgesetzt waren. Stimuli oder Situationen, die die meisten Affen schnell erkunden wollen und ihre Aufmerksamkeit anziehen, werden von den ängstlichen Affen vermieden. Wenn sie zur Auseinandersetzung mit dem Stimulus oder der Situation gezwungen sind, zeigen sie starkes Arousal in unterschiedlichen biologischen Systemen. Das System, das uns am meisten interessiert, ist das Stresshormon-System, das wir in hohen und erhöhten Spiegeln des Stresshormons Cortisol im Blut, im Speichel oder neuerdings auch im Haar nachweisen können. Diese Affen sind mit einer bestimmten Gruppe von Kindern vergleichbar, die wir als »behavioral gehemmt« bezeichnen. In neuen Situationen reagieren diese Kinder schüchtern und ängstlich, sie haben alle erhöhte CortisolSpiegel. Sie weisen zudem ein erhöhtes Risiko für Angststörungen und depressive Erkrankungen in der Kindheit auf, wobei dieses Risiko für einige von ihnen in Adoleszenz und Erwachsenenalter fortbesteht. Eine andere Teilgruppe von Affen in unserer Poolesville-Population ist, wie 5 bis 7 % der Affen in freier Wildbahn, ungewöhnlich impulsiv, wodurch diese Affen oftmals in Schwierigkeiten geraten. Sie verstricken sich immer wieder in Komplikationen, die von den anderen Affen der Gruppe gemieden werden. Beispielsweise drängen sie sich zwischen ein hochrangiges Weibchen und dessen Kinder oder greifen wiederholt ein dominantes erwachsenes Männchen an. Schlägt das angegriffene Männchen zurück, attackieren sie es erneut, als wollten sie unbedingt das »letzte Wort« haben. Es ist also nicht überraschend, dass die impulsiven Affen die aggressiven Ausbrüche ihrer Gruppenmitglieder provozieren und selbst auch übermäßig aggressiv reagieren. Während sich die meisten Affen schnell aus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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einer eskalierenden Situation zurückziehen, neigen die impulsiven Affen dazu, in einer spannungsgeladenen Begegnung ihre Aggressivität bis zu einem Punkt ausufern zu lassen, an dem tatsächlich Tiere aus der Gruppe verletzt werden. Die impulsiven Affen haben biologische Eigenschaften, die sie von anderen Affen der Gruppe unterscheiden. Ein von uns intensiv beforschtes Merkmal ist der defizitäre Stoffwechsel des inhibitorischen Neurotransmitters Serotonin. Anhand der Konzentration des Serotonin-Stoffwechselprodukts 5-Hydroxyindolylessigsäure (5HIAA) in der Rückenmarksflüssigkeit können wir nachweisen, dass die Affen aufgrund ihres niedrigen Serotonin-Metabolismus anscheinend zu wenig Serotonin haben. Die Untergruppe von impulsiv-aggressiven Affen weist Parallelen zu einer Untergruppe von Kindern auf, die in den letzten zwei Jahrzehnten von Forschern wie Richard Tremblay in Montreal und von anderen untersucht wurden. Diese Kinder sind bereits im Alter von zwei Jahren ungewöhnlich aggressiv. Im Grundschulalter bereiten sie im Unterricht große Probleme. Oftmals trifft man die Kinder als Teenager – zumindest in den USA – entweder im Gefängnis oder im Leichenschauhaus an. Sie scheinen, wie unsere impulsiven Rhesusaffen, ein Defizit im Serotonin-Metabolismus zu haben. Ich möchte nun einen kurzen Einblick in das Leben und Aufwachsen der Affen geben, um einen Einblick in unsere Forschung zu vermitteln. Affen in freier Wildbahn leben, egal ob aggressiv-impulsiv, ängstlich oder unauffällig, in ihrem Temperament in komplexen sozialen Gruppen. Diese Gruppen – oder auch Truppen genannt – bestehen aus dreißig bis vierzig Individuen bis hin zu über mehreren hundert in großen Truppen. Doch ob groß oder klein, alle Truppen haben die gleiche organisatorische Struktur. Jede Truppe setzt sich aus mehreren Mehrgenerationen-Familien oder matrilinear gegliederten Familiensystemen zusammen, die von Weibchen angeführt werden und zu denen nichtverwandte Männchen aus anderen Herkunftstruppen dazustoßen. Die soziale Truppenstruktur resultiert aus der Tatsache, dass die Weibchen ihr ganzes Leben in ihrer Geburtsgruppe verbringen, während die Männchen in der Pubertät ihre Herkunftsgruppe verlassen. Entweder geschieht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dies freiwillig oder die Männchen werden aus ihrer Herkunftsgruppe vertrieben. Typischerweise gesellen sie sich dann zu Männchen-Banden, ziehen mit ihnen einige Monate bis hin zu über einem Jahr umher und schließen sich dann einer anderen Truppe an. Jeder Truppe gehören viele Männchen und auch Weibchen an, nur gehören die Weibchen seit ihrer Geburt zur Truppe und sind somit allesamt innerhalb ihrer jeweiligen Familie miteinander verwandt, wohingegen die Männchen erst mit der Pubertät zu der Truppe stoßen und ohne Verwandte in der Gruppe leben, bis sie eigenen Nachwuchs haben. Ein weiterer Aspekt der sozialen Organisation innerhalb der Rhesusaffengruppen ist die der multiplen Dominanzhierarchien oder Statusunterschiede innerhalb der Truppen. So gibt es beispielsweise eine Hierarchie zwischen den Familien einer Truppe, sodass jedes Mitglied der höchstrangigen Familie inklusive ihrer Kinder höherrangig als jedes Mitglied der nächst höchsten Familie inklusive der Erwachsenen ist, die wiederum alle Mitglieder der dritten Familie in der Hierarchie überragen. Die innerfamiliäre Struktur folgt ebenso einer Hierarchie: Jüngere Töchter rangieren höher als ältere Töchter, was im Verhalten der Affenmutter begründet ist, die vorzugsweise ihre neugeborene Tochter gegen Schikanierungen durch die neidische ältere Schwester verteidigt. Obwohl also die ältere Schwester größer und stärker als ihre jüngere Schwester ist, kann die jüngere sich mit ihrer Mutter im Rücken beinahe alles im Umgang mit ihrer älteren Schwester erlauben. Interessanterweise wird die Rangfolge unter Schwestern ein Leben lang beibehalten, sogar nach dem Tod der Mutter, wenn diese die schwesterliche Beziehung nicht länger differenziell verstärken kann: Nach dem Tod der Mutter übernehmen andere Truppenmitglieder die Verteidigung der jüngeren Schwester. Es gibt auch eine Hierarchie unter den männlichen Truppenmitgliedern, sie erinnert an eine Art »Amtszeitregelung«: Je länger ein Männchen zur Truppe gehört, desto eher hat es einen hohen Rang. Aber natürlich ist nicht die Länge der Zeit entscheidend, sondern wie gut ein Männchen Beziehungen knüpfen und Freunde gewinnen kann, nicht nur mit anderen Männchen, sondern vor allem mit den hochrangigen Weibchen der Gruppe. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Männchen, denen das leicht fällt, bleiben in der Gruppe und klettern auf der Rangleiter nach oben, während Männchen, die wenige Beziehungen zu Mitgliedern der Gruppe pflegen, diese verlassen und ihr Glück woanders suchen. Schließlich gibt es auch eine Hierarchie unter den Jungtieren, die jedes Jahr in die Gruppe hineingeboren werden und deren Rang in der Gruppe in etwa mit dem ihrer Mutter gleichzusetzen ist. Es ist also nicht entscheidend, ob manche Jungtiere größer, stärker, schneller oder schlauer sind als andere – diese Unterschiede sind zweifelsohne existent –, sondern, dass andere Affen ein bestimmtes Junges mit einer bestimmten Mutter und deshalb mit einem bestimmten sozialen Rang verbinden. Das Leben in einer Rhesusaffentruppe ist also ein ziemlich kompliziertes Unterfangen, und um in solchen Gruppen zu überleben, geschweige denn sich durchzusetzen, müssen sich die Affen nicht nur ein komplexes Verhaltensrepertoire zulegen, von dem ich gleich berichte, sondern sie müssen auch einiges über die anderen Affen um sie herum lernen. Wer ist mit wem verwandt? Welchen Platz nimmt jedes Individuum der Gruppe innerhalb der vielschichtigen Dominanzhierarchien ein? Auch die soziale Geschichte der Gruppe ist wichtig: Wer hat kürzlich mit wem gekämpft? Auf wen kann man sich verlassen, wenn man selbst in eine Auseinandersetzung gerät? Die Affen, die diese Informationen aufnehmen und die Regeln der komplexen Dominanzhierarchien befolgen, sind erfolgreich innerhalb ihrer Gruppe. Affen, die entweder unfähig oder nicht bereit sind, die Regeln zu befolgen, werden nicht lange überleben. Wie funktioniert nun die Sozialisierung? Rhesusaffenjunge werden viermal so schnell erwachsen wie wir Menschen, was einen enormen Vorteil für die Untersuchung von Langzeiteffekten von frühen Erfahrungen oder die Entwicklung über die Lebensspanne sowie die Weitergabe von Eigenschaften über mehrere Generationen darstellt. Meine Affen durchlaufen demnach eine Generation in vier oder fünf Jahren im Vergleich zu fünfzehn bis zwanzig Jahren beim Menschen. Wenn ich also von Alter in Jahren oder Monaten bei den Affen spreche, muss die Zahl mit vier multipliziert werden, um eine grobe Entsprechung in Menschenjahren zu erhalten. Übrigens verbringen Rhesusaffen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ihre ersten Lebensmonate im intimen Körperkontakt mit ihrer Mutter, meist in der Bauch-an-Bauch-Haltung. Während dieser Zeit entsteht eine starke und dauerhafte Bindung zwischen den Müttern und ihren Jungen. Genau diese Bindung, die John Bowlby in seiner Bindungstheorie beschrieb, entsteht auch zwischen menschlichen Säuglingen und ihren Bezugspersonen, und wir wissen, dass die biologischen Wurzeln für Bowlbys Bindungstheorie in Studien mit Rhesusaffenmüttern und ihren Jungen entdeckt wurden. Als Bowlby seine Bindungstheorie entwickelte, verlagerte sein guter Freund, der Ethologe Robert Hinde aus Cambridge, seinen Forschungsschwerpunkt von der Untersuchung des Gesanglernens bei Vögeln auf die Erforschung von Mutter-Kind-Interaktionen bei Affen. Hinde war es, der Bowlby mit meinem Mentor, Harry Harlow, bekannt machte, der zu dieser Zeit seine berühmten Studien durchführte, in denen er Affenjunge entweder durch fürsorgliche Affenmütter oder von Drahtgestellen als künstliche »Ersatzmütter« versorgen ließ. Letztere konnten »ihre« Jungen füttern, ihnen aber logischerweise keine Zuwendung schenken. Harlow zeigte, dass die Zuwendung wichtiger war als das Füttern. Dies war die Grundlage für Hinde und Bowlby, ein biologisches Substrat für Bindung zu suchen und zu argumentieren, dass Bindung in der Tat ein Produkt der Evolution sei. Um zu unseren Affen zurückzukehren: Die Affenjungen verbringen die ersten Lebensmonate in Kontakt mit ihrer Mutter. Während dieser Zeit stellen sich die Mütter schützend vor ihre Kinder, sie lassen nur wenige Interaktionen mit anderen Affen zu. Zum Beispiel lassen sie keine erwachsenen Männchen in die Nähe ihres Jungen, gewöhnlich auch keine Affen, die nicht zur Familie gehören. Die Mutter auf diesem Bild lässt die Fotografen keinen Schritt näher an ihr Junges herankommen. In ihrem zweiten Lebensmonat beginnen die Affenjungen, sich zeitweise von ihrer Mutter zu lösen. Sie erkunden ihre Umgebung in exakt der Weise, in der Bowlby das Explorationsverhalten menschlicher Säuglinge beschrieben hat. Die Affenjungen nutzen ihre Mutter als sichere Stütze, um sich zeitweise von ihr abzulösen und gleich darauf zu ihr zurückzukehren und ihren Kontakt zu suchen. Es ist fast so, als wären Mutter und Junges © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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durch ein langes Gummiband miteinander verbunden. Mit der Zeit häufen sich die Streifzüge, ihre Entfernungen und Zeitfenster werden immer größer, sodass die Jungen mit sechs Monaten nur 20 % ihrer wachen Zeit im körperlichen Kontakt mit ihrer Mutter verbringen – im Gegensatz zu den 100 % in ihrem ersten Lebensmonat. Nach wie vor bleibt der Kontakt zur Mutter jedoch entscheidend für das Explorationsverhalten der Affenjungen, denn würden sie ihre sichere Stütze verlieren und somit ihre Entdeckungslust einschränken, würde ihr emotionales Gleichgewicht gestört werden. Die Mütter sind also immer noch ein wichtiger Teil ihrer sozialen Welt, obwohl die Interaktion mit ihren Jungen in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres abnimmt. Welche Kontakte haben die Affenjungen in dieser Phase? Sie interagieren mehr und mehr mit Gleichaltrigen. Dies geschieht nicht zufällig, denn in freier Wildbahn haben Rhesusaffen eine feste Paarungszeit; obwohl sie sich das ganze Jahr über paaren, kann die Empfängnis nur innerhalb einer zwei bis drei Monate dauernden Periode erfolgen. Das bedeutet, dass alle Geburten in eine zwei- bis dreimonatige Periode fallen und jedes Affenjunge in seiner Geburtskohorte mit zahlreichen gleichaltrigen Neugeborenen aufwächst, die alle vergleichbare physische, kognitive und soziale Fähigkeiten besitzen. Indem diese Affen mit Gleichaltrigen aufwachsen, verbringen sie in den drei Jahren ihrer Kindheit viel Zeit mit aktivem sozialen Spiel – während dieser Zeit spielen sie jeden Tag mehrere Stunden und nahezu jedes Verhaltensmuster, das wichtig für ein normales Funktionieren als Erwachsener ist, kann sich entwickeln, kann trainiert und angewandt werden, lange bevor es für den Affen zweckmäßig wird. Dies gilt besonders für das Fortpflanzungsverhalten und auch für die Sozialisation von Aggression, was sich erstmals im Alter von vier bis sechs Monaten im Verhaltensrepertoire des Affen ausbildet. Harlow und auch niederländische Forscher haben überzeugend gezeigt, dass Affen, die zwar normal sozialisiert waren, aber nicht mit Gleichaltrigen während des Heranwachsens spielten, unweigerlich Probleme im Fortpflanzungsverhalten und eine Aggressionsproblematik entwickeln. Wenn diese Affen in die Pubertät kommen, was bei den Weibchen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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am Ende des dritten und für die Männchen zu Beginn des vierten Lebensjahres der Fall ist, gehen sie ihre eigenen Wege. Wie ich bereits erwähnte, bleiben die Weibchen für den Rest ihres Lebens in ihrer Herkunftsgruppe, in der sie ihrer Mutter sehr nahe stehen. Die Geburt eines Affenjungen, besonders wenn es die erste Geburt einer Mutter ist, bewirkt das enge Zusammenrücken der restlichen Familie um Mutter und Neugeborenes herum und festigt den Familienzusammenhalt, sodass die Affen nach der Geburt eines Jungen mehr Zeit innerhalb der Familie verbringen und weniger mit Mitgliedern anderer Familien verkehren. Weibchen nehmen weiterhin eine aktive Rolle im Familienleben ein, auch wenn sie selbst keinen Nachwuchs mehr haben. Groß- und Urgroßmütter sind also ein genauso wichtiger Teil der Affensippe wie Mütter und ihre Jungen. Für Männchen sieht es ganz anders aus: Sie bleiben nicht in ihrer Sippe, sondern verlassen sie mit Beginn der Pubertät entweder freiwillig oder werden von nicht verwandten Weibchen aus der Gruppe hinausbefördert. Sie schließen sich dann Banden an, die ausschließlich aus Männchen bestehen, verweilen dort für mehrere Monate oder bis zu etwas mehr als einem Jahr und versuchen dann, in einer anderen Truppe aufgenommen zu werden. Wir kennen heute die wesentlichen Umstände dieses Immigrationsprozesses: Feldstudien belegen, dass es die gefährlichste Zeit im Leben eines jungen Affenmännchens ist. Es gibt keine vergleichbare Zeit vor oder nach der Pubertät, auch Weibchen machen keine vergleichbaren Erfahrungen. Die geschätzte Mortalitätsrate für Männchen liegt, nachdem sie ihre Herkunftsgruppe verlassen und sich einer anderen Gruppe angeschlossen haben, zwischen 40 und 50 %. Es ist also eine äußerst raue Zeit im Leben der jungen Affenmännchen, von denen die Hälfte diese Phase nicht überlebt. Wir wissen zudem, dass große individuelle Unterschiede zwischen den Männchen bestehen, wenn sie ihre Herkunftsgruppe verlassen. Die Unterschiede liegen im Alter und in der Art, mit der sich die Männchen um die Aufnahme in eine neue Gruppe bemühen. Ich werde nicht näher darauf eingehen, welches Männchen wann seine Gruppe verlässt und welche Bemühungen sie unternehmen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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lediglich erwähnen, dass wir mittlerweile anhand der Beobachtung bestimmter Verhaltensweisen und biologischer Prozessen während des Heranwachsens ziemlich präzise den Zeitpunkt vorhersagen können, zu dem ein Männchen seine Gruppe verlässt, und wie es versuchen wird, in eine neue Gruppe aufgenommen zu werden. Diesen Prozess durchlaufen die heranwachsenden Rhesusaffen in freier Wildbahn und die meisten, jedoch nicht alle Affen, in meinem Labor in Poolesville. Nicht alle Affen in den Poolesville-Gruppen wachsen in dem eben beschriebenen sozialen Gefüge auf. Manche Affen werden gekreuzt großgezogen, dass heißt, wir tauschen Mütter und Junge bei der Geburt aus, sodass die Jungen durch nichtverwandte Mütter großgezogen werden. Andere Affen wachsen wie in den Studien von Harlow ohne Mutter auf. Sie werden mit der Flasche aufgezogen, und von ihrem ersten Lebensmonat an verbringen sie 24 Stunden am Tag mit gleichaltrigen Affen in einer »Affenkrippe«. Sie haben also keine Eltern, sind aber von vielen Gleichaltrigen umgeben und können mit ihnen sozial interagieren. Die so aufgezogenen Affen entwickeln gegenseitig intensive Bindungen, wie sie es normalerweise mit ihrer biologischen Mutter tun würden. Die Bindungen zu Gleichaltrigen sind zwar stark, aber in dieser Stärke liegt auch ihre Dysfunktionalität, denn die Affen verbringen zuviel Zeit mit gegenseitigem Aneinanderklammern anstatt damit, ihre Umgebung zu entdecken. Dies sollte nicht überraschen, denn ein gleichaltriger Affe ist nicht annähernd so geeignet wie eine Mutter – selbst wenn es eine schlechte Mutter ist –, um dem Jungen eine sichere Zuflucht zu bieten. Wenn die Affen ein spielfähiges Alter erreichen, entwickeln sie in der Tat Formen des Spiels, aber an die Qualität des Spiels von Affenjungen, die mit einer Mutter aufgewachsen sind, wird es nicht heranreichen können. Die Affen sind Bindungsobjekte und Spielgefährten zugleich und können beide Rollen nicht besonders gut vereinen. Obwohl diese Affen also von potenziellen Spielgefährten 24 Stunden am Tag umgeben sind, haben sie dennoch eine Spieldeprivation. Die beiden Affengruppen in unseren Aufzucht-Studien verbringen entweder die ersten sechs Lebensmonate ausschließlich unter Gleichaltrigen oder werden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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von ihrer Mutter aufgezogen. Nach den sechs Monaten führen wir die Affenjungen aus beiden Gruppen in große soziale Gruppen zusammen. Nach den ersten sechs Monaten leben also die von ihrer Mutter aufgezogenen und die durch Gleichaltrige aufgezogenen Affen alle zusammen in der gleichen Umgebung. Die sich unterscheidende soziale Erfahrung, von der ich berichten will, bezieht sich daher auf die ersten sechs Lebensmonate der Affenjungen. Durch die Beobachtung der Affen konnten wir Langzeiteffekte feststellen, die sich durch die Art des Aufwachsens ergaben. Eine Beobachtung ist, dass die Affen, die durch Gleichaltrige aufgezogen wurden, später im Leben ängstlicher sind als sie es wären, wenn sie mit ihrer Mutter aufgewachsen wären. Sie gleichen den 20 % von Affen in freier Wildbahn, die übermäßig ängstlich sind. Wie diese 20 % zeigen auch die Studienaffen einen höheren Cortisolspiegel unter vergleichbaren Bedingungen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Vergleich des Cortisolspiegels

Wenn die Affen, die mit Gleichaltrigen aufwuchsen, älter werden, werden sie nicht nur ängstlicher, sondern auch aggressiver. Sie zeigen dann das Muster unbändiger Aggression, das, wie bereits erwähnt, etwa 5 bis 7 % der Affen natürlicherweise entwickeln. Unsere mit Gleichaltrigen aufgewachsenen Affen reagieren vermehrt impulsiv-aggressiv und haben einen defizitären Serotoninmetabolismus. Dies gilt sowohl für das erste Lebensjahr, in dem Serotoninstoffwechselprodukte in ziemlich hoher Konzen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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tration vorliegen, als auch später im Leben, wenn der Spiegel für jeden Affen abfällt. Doch sind die Unterschiede zwischen Affen, die bei ihrer Mutter aufwuchsen, und Affen, die mit Gleichaltrigen groß wurden, größer als im ersten Lebensjahr. Die unter Gleichaltrigen aufgewachsenen Affen verhalten sich sowohl ängstlich als auch aggressiv und vereinen biologische Muster, die in beiden natürlicherweise auftretenden Fällen beobachtbar sind. Meine Kollegen im Alkoholinstitut arbeiteten mit einigen dieser Affen, als sie jugendlich oder erwachsen waren. Die Affen nahmen an einem »Happy-Hour«-Experiment teil, in dem sie für eine Stunde am Tag über einen Zeitraum von mehreren Wochen die Wahl zwischen einer unbegrenzten Menge eines aromatisierten neun-prozentigen alkoholischen Getränks, eines aromatisierten nichtalkoholischen Getränks oder Leitungswasser hatten.

Abbildung 2: Alkoholkonsum bei Rhesusaffen

Sie waren also nicht flüssigkeits-depriviert und tranken in ihrer gewohnten Umgebung. Unter diesen Umständen nahmen die mit Gleichaltrigen aufgewachsenen Affen konsistent mehr Alkohol zu sich als die mit der Mutter aufgewachsenen Affen (siehe Abbildung 2). Wir konnten die Gehirne der erwachsenen Affen mit bildgebenden Verfahren untersuchen und feststellen, dass sie sich in den beiden Gruppen bezüglich ihrer Arbeitsweise und Struktur unterscheiden. In diesen PET-Scans von zweijährigen Affen, die entweder mit der Mutter oder mit Gleichaltrigen aufgewachsen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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waren, können das Bindungspotenzial von Serotonin im Gehirn und der cerebrale Blutfluss dargestellt werden. Vergleiche des Serotoninbindungspotenzials und des Blutflusses zwischen Affengehirnen, die von ihrer Mutter oder von Gleichaltrigen aufgezogen wurden, können mithilfe der Frontalansicht, der Aufsicht von oben und der Seitenansicht gemacht werden. Die Gehirne der mit Gleichaltrigen aufgewachsenen Affen zeigen weniger Aufleuchten (Korrelat für die Menge an Aktivierung/cerebralem Blutfluss, Anm. d. Übers.) im Vergleich zu den Affen, die bei ihrer Mutter aufwuchsen. Mit Blick auf die vorliegenden Daten wird erkennbar, dass der Aktivierungsunterschied das gesamte Gehirn betrifft, nämlich Raph¦-Kerne, Thalamus, Striatum, Temporallappen und Frontallappen. Mit Gleichaltrigen aufgewachsene Affen zeigen ein konsistent niedrigeres Serotoninbindungspotenzial als ihre bei den Müttern aufgewachsene Vergleichsgruppe. Betrachtet man die Gehirnstruktur mithilfe des MRT, so wird deutlich, dass auch strukturelle Unterschiede zwischen den beiden Affengruppen bestehen. Demnach beeinflusst das frühe Aufwachsen mit Gleichaltrigen nicht nur Verhalten (Emotionsregulation, erhöhte Ängstlichkeit, erhöhte Aggression), sondern auch das Stresshormon-System (erhöhter Cortisolspiegel), den Metabolismus von Neurotransmittern (niedriger Serotoninspiegel) und sogar Gehirnstrukturen und -funktionen. Wir haben in Zusammenarbeit mit Forschern der McGill Universität eine Form der Genexpression, die Methylierung, im gesamten Genom unserer beiden Affengruppen untersucht. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren die Affen, die ihre ersten sechs Lebensmonate entweder mit ihrer Mutter oder mit Gleichaltrigen verbracht hatten, acht Jahre alt. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass die frühen Erfahrungen der Affen ein Fünftel der Gene ihres gesamten Genoms verändert hatten: An über 4400 Genen der Affen, die von ihrer Mutter großgezogen worden waren, zeigte sich entweder stärkere oder geringere Methylierung im Gegensatz zu den Affen, die mit Gleichaltrigen groß geworden waren. Darüber hinaus ist zu erkennen, dass viele Gene dem gleichen Muster folgen, egal ob sie aus dem Gehirn oder aus Blutzellen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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stammen. Folglich ist es für diese 4400 Gene möglich, über das Blut der Affen Rückschlüsse auf Vorgänge im Gehirn zu ziehen. Diese Gene folgen nicht einer beliebigen Verteilung, sondern sind in bestimmten Pfaden organisiert (vgl. zum Beispiel die Stresshormon-Achse CRH, die mit der Cortisolproduktion zusammenhängt. Es sind deutliche Erfahrungseffekte erkennbar). Wenn man die Gene nach ihrer Pfadzugehörigkeit ordnet, werden an diesen Markierungen die signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Affengruppen erkennbar. Es gibt eine Fülle von Informationen darüber, welche Systeme durch frühe Erfahrungen beeinflusst werden können. Wir glauben, dass diese Effekte reversibel sind, was wir bis dato jedoch noch nicht belegen konnten. Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen. Ein anderes Ergebnis erhalten wir im Kontext der Gen-UmweltInteraktionen. Wie beim Menschen gibt es verschiedene Ausprägungen eines Gens ähnlich der Gene, die die Augenfarbe bestimmen: Manche Menschen haben Gene, deren Ausprägungen zu einer blauen Augenfarbe führt, bei anderen führt die bestimmte Ausprägung der Gene zu einer braunen Augenfarbe. Einige Gene haben in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erregt, da ihre Rolle an der Emotionsregulation untersucht wurde. Das prominenteste Gen in dieser Hinsicht ist das Serotonintransporter-Gen. Es reguliert die Serotoninwiederaufnahme und wirkt dort, wo auch Medikamente wie Fluoxetin (in den USA mit dem Handelsnamen Prozac, Anm. d. Übers.) wirken. Bei Menschen und bei Rhesusaffen liegt das Gen in einer kurzen und einer langen Version vor, die Variation wird durch die Zahl der Basenpaare in der Promoter-Region des Gens bestimmt. Die unterschiedliche Länge der Serotonintransporter-Genvarianten ist signifikant und hat beim Menschen als auch beim Affen eine bestimmte Funktion: Die kurze Variante führt zu einer weniger effizienten DNARNA-Transkription in Serotoninzellen, was manche Forscher als Ursache für die Defizite im Serotoninmetabolismus ansehen und mit depressiven Erkrankungen in Verbindung bringen. Macht es also einen Unterschied, ob jemand die lange oder die kurze Variante des Gens trägt? Als unser Kollege Peter Lesch aus Würzburg diesen Befund erstmals berichtete, argumentierte er, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dass Menschen mit der kurzen Genvariante überproportional häufig wegen gravierender Aggression inhaftiert waren, wegen schwerer Depression eingewiesen wurden oder Suizid begangen hatten. Andere Forscher konnten dieses Ergebnis jedoch nicht replizieren und es scheint eine komplexe Interaktion zwischen Umwelteinflüssen und diesem Gen zu geben, was insbesondere von Caspi et al. (2003) in einer bahnbrechenden Studie mit Probanden aus Dunedin in Neuseeland untersucht wurde. Probanden mit der kurzen Genvariante waren nur dann depressiver und zeigten mehr depressive Symptome, wenn sie gleichzeitig erhöhtem Stress ausgesetzt waren oder als Kind misshandelt worden waren. Waren diese Umweltbedingungen nicht vorhanden, so bedeutete die kurze Genvariante kein höheres Depressionsrisiko als bei Trägern der langen Genvariante. Caspi interpretierte dies als Gen-Umwelt-Interaktion. Unsere Affen tragen lange und kurze Varianten des Gens, manche von ihnen wurden von ihrer Mutter aufgezogen, manche wuchsen mit Gleichaltrigen auf, die Frage ist also: Gibt es Unterschiede zwischen den Gruppen? Die Antwort ist ziemlich interessant (vgl. Serotoninmetabolismus). Es zeigt sich, dass die Affen, die mit Gleichaltrigen aufwuchsen und die kurze Genvariante besitzen, ein Defizit im Serotoninmetabolismus aufweisen. Affen mit der langen Variante aus der Gleichaltrigen-Gruppe haben, wenn überhaupt, leicht erhöhte Serotoninspiegel. Wenn ein Affe jedoch eine »gute Mutter« hatte, hat die Länge des Gens überhaupt keinen Effekt, der Serotoninspiegel ist normal. Dies ist das Beispiel einer Gen-Umwelt-Interaktion, bei der gute Mutterschaft wie ein Stoßdämpfer wirkt. Gute Mutterschaft bewahrt Träger des Gens vor der Ausprägung eines Defizits im Serotoninmetabolismus. Das Gleiche gilt für Aggression: Ein Affe mit der kurzen Genvariante aus der Gleichaltrigengruppe zeigt ein hohes Maß an Aggression. Mit der gleichen genetischen Variation und einer guten Mutter sind die Aggressionswerte aber genauso niedrig wie oder gar noch niedriger als bei Trägern der langen Genvariante. Noch eindrücklicher wird die Interaktion, wenn man den Alkoholkonsum betrachtet: Affen mit einer kurzen Genvariante aus der Gleichaltrigengruppe trinken exzessiv. Wenn ein Affe mit der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gleichen kurzen Variante mit seiner Mutter aufwuchs, trinkt er sogar weniger als normal. Was ein genetischer Risikofaktor für Individuen mit schlechten frühen Erfahrungen sein könnte, könnte umgekehrt ein genetischer Schutzfaktor für Individuen mit guten frühen Erfahrungen sein. Dies konnten wir nicht nur retrospektiv, sondern auch prospektiv untersuchen: Verhaltensmaße, die bei den Affenjungen in ihren ersten Lebensjahren erhoben werden, und eine Version für Affen der »Brazelton Neonatal Behavioral Assessment Scale«, die normalerweise bei Menschen verwendet wird, ergeben, dass manche Affen, die schlecht bei den Tests abschneiden, im späteren Leben impulsiv und aggressiv werden. Dazu ein Beispiel zur visuellen Orientierung: Wir nehmen das Objekt und bewegen es vor dem Sehfeld des Affen um zu sehen, ob er dem bewegten Objekt mit den Augen folgen kann – Affen, die in ihren ersten Lebensmonaten schlecht in diesem Test abschneiden, tragen ein erhöhtes Risiko für einen aggressiv-impulsiven Phänotyp. Betrachtet man nun die Daten der Orientierungsaufgabe nach Gen und Art des Aufwachsens, ist zu erkennen, dass Affen aus der Gleichaltrigengruppe mit dem kurzen Allel schlecht abschneiden, wenn sie jedoch ein kurzes Allel und eine gute Mutter haben, ist ihre Orientierung völlig normal und sie wachsen auch völlig normal auf. Und das liegt nicht nur am Serotonintransporter Gen. Wir haben zehn andere Kandidatengene untersucht, darunter das MAOA, von dem es bei Menschen und auch bei Affen Polymorphismen gibt, und für jedes der untersuchten Gene konnten wir das gleiche generelle Muster entdecken. Das sogenannte RisikoGen oder »schlechtes« Gen tritt nur in Verbindung mit ungünstigen Phänotypen auf, wenn die Träger frühe schlechte Erfahrungen machten. Dasselbe schlechte oder Risiko-Allel in einem Träger mit guter Mutter setzt den Träger keinem höheren Risiko aus und ist sogar manchmal von Vorteil. Die Gen-Umwelt-Interaktion ist wichtig und zeigt, wie bedeutsam frühe Erfahrungen mit der Mutter wirklich sein können, denn es sind nur die ersten sechs Lebensmonate, die für die beiden Affengruppen unterschiedlich verlaufen. Darüber hinaus weiß man, was für Menschen auch vermutet © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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wird, dass bei Rhesusaffen das Mutterschaftsmodell von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, sodass die Tochter ihrem Nachwuchs gegenüber ein ähnliches Mutterschaftsmodell verwendet wie das, was sie von ihrer Mutter kennt und erfuhr. Es ist also ein Mechanismus, durch den ein anderweitig risikoreiches Gen in der Population über die Generationen weitergegeben wird, so lange gute Elternschaft in jeder Generation vorhanden ist. Sogar wenn der Nachwuchs die Risikoallele tragen sollte, wird er durch gute Mutterschaft nicht nur normal aufwachsen, sondern auch selbst zu guten Müttern werden. In den letzten Jahren haben wir demnach verstärkt die Mutter-Kind-Interaktionen untersucht. Dazu einige Beispiele: Das erste Beispiel handelt von einem zwei Monate alten Affenjungen, seine Mutter hat einen niedrigen Rang in der Gruppe und es gibt einen Streit vor der Kamera: Die Mutter greift ihr Kind und hält es zurück, greift ein paar Blumen und hält sich an ihrem Kind fest, bis der Streit beigelegt ist. Betrachtet man die Interaktion zwischen Mutter und Kind, nimmt das Affenjunge Augenkontakt zu seiner Mutter auf, obschon dies eigentlich ein menschliches Verhalten ist und für Affen unüblich ist. Sobald der Streit vorbei und die Lage wieder sicher ist, verlässt das Affenjunge die Szene und seine Mutter folgt ihm. Das zweite Beispiel betrifft ein 19 Tage altes Affenjunges mit seiner Mutter : Sie sind nicht nur im Augenkontakt, sondern tauschen auch Küsse aus. Solches Verhalten wurde nie in der Literatur erwähnt und immer als ausschließlich menschliches Verhalten betrachtet, obwohl es auch bei Schimpansen beobachtet wurde. Seit 50 Jahren wird nun über Rhesusaffen geforscht und nie wurde ein solches Verhalten erwähnt. Wir haben es jedoch wiederholt bei unseren Affen beobachten können. Schaut man sich die Daten an, wird deutlich, dass in den ersten drei Lebenswochen das Küssen nur zwischen Kind und Mutter stattfindet und nicht mit anderen Affen aus der Gruppe. Zwischen Mutter und Kind konnten wir gegenseitiges Anblicken und Küssen, das sich zwei- bis dreimal innerhalb von fünf Minuten wiederholt, beobachten. Nach drei Wochen aber verschwand dieses Verhalten, weswegen es wahrscheinlich niemals vorher berichtet wurde. In den ersten drei Lebenswochen sind das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Küssen und der Blickkontakt sehr intensiv zu beobachten, danach verschwindet das Verhalten, denn nun bedeutet Blickkontakt eine Bedrohung; wenn ein jugendlicher oder erwachsener Affe einen anderen Affen anstarrt, bedeutet dies die Herausforderung zu einem Kampf. Wenn die Affenjungen anfangen, sich von ihrer Mutter zu lösen, haben sie bereits eine Bindung zu ihr aufgebaut und brauchen daher diese Art der Interaktion nicht mehr, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. Es wird nun immer wichtiger für sie, ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen weg von ihrer Mutter zu lenken, beispielsweise auf Spielkameraden. Durch die aufgebaute Beziehung zu ihrer Mutter können die jungen Affen jederzeit zu ihr zurückkehren, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, dazu braucht es keinen Blickkontakt und kein Küssen mehr. Eine andere interessante Beobachtung ist, dass diese Mutter-Kind-Interaktion vom ersten Tag der Geburt an gezeigt wird. Das dritte Beispiel betrifft ein drei Tage altes Affenjunges, in Gegenwart eines Weibchens, das nicht seine Mutter ist, sondern von P. R. Ferrari aus Giacomo Rizzolattis Forschergruppe untersucht wurde, die die Spiegelneuronen entdeckt haben. Spiegelneuronen wurden erstmals durch Einzelzellableitung bei Affen nachgewiesen: Sie feuern, wenn das Subjekt Bewegungen ausführt, und dieselben Neuronen sind ebenfalls aktiv, wenn das Subjekt jemand anderem dabei zuschaut, wie er oder sie die gleiche Bewegung ausführt. Dieser Beobachtung verdanken die Spiegelneuronen ihren Namen. Man nimmt an, dass Spiegelneuronen eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Empathie, der Theory of Mind oder bei der Unterstützung von Mutter-KindBeziehungen zur Förderung der Sprachentwicklung spielen. Rizzolatti und Kollegen nehmen an, dass Spiegelneurone bereits sehr früh im Leben eine wichtige Rolle einnehmen. P. R. Ferrari wird für 30 Sekunden ein »Still-Face« dem Affenjungen gegenüber aufsetzen – und anschließend wird er seinen Mund öffnen. Man sieht, wie intensiv das Affenjunge P. R. Ferrari anschaut, obschon es ihn zum ersten Mal sieht. Die Behauptung, Affenjunge seien nicht an Gesichtern interessiert, kann nun widerlegt werden, denn wir wissen, dass Affen ab ihrem ersten Lebenstag zwischen Gesichtern und gesichtlosen Objekten unterscheiden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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können und im Alter von 10 Tagen weibliche Affengesichter denen erwachsener Männchen vorziehen. Nach kurzer Zeit öffnet auch das Affenjunge im Film seinen Mund, das ist neonatale Imitation. Die neonatale Imitation oder auch Nachahmung durch das Neugeborene wurde vor 30 Jahren von Tiffany Field und Andrew Matsoff bei menschlichen Probanden entdeckt. Menschen haben den neonatalen Reflex lediglich in ihren ersten 30 Lebenstagen. Es scheint als zeigten Affen dasselbe Imitationsverhalten. In einem weiteren Beispiel wird ein anderes Affenjunges zusammen mit Ken Wong gezeigt. Der Forscher streckt seine Zunge heraus, und beobachtet man dann das Affenjunge, imitiert es Kens Verhalten, nachdem er zum vierten Mal seine Zunge herausgestreckt hat. Nach vier Jahren der Forschung zum Imitationsverhalten bei Affen wissen wir heute einiges mehr über dieses Phänomen. Zum einen wird es wie beim Menschen nicht sehr lange gezeigt, es nimmt nach etwa einer Woche wieder ab, wie beim Menschen nach 30 Tagen. Gemäß dem Entwicklungsstand wird das Imitationsverhalten also planmäßig äquivalent gezeigt. Zum anderen besitzen, wie auch beim Menschen, nicht alle Affenjungen die Fähigkeit zum Imitationsverhalten. Interessant ist der Vergleich zwischen imitierenden und nicht imitierenden Affen in einem Alter von drei Tagen. Etwa 65 % der mit Gleichaltrigen in der »Affenkrippe« aufgewachsenen Affen zeigen mit drei Tagen das Imitationsverhalten, 35 % nicht. Betrachten wir die Affenjungen, die von ihrer Mutter aufgezogen wurden: Wenn Tierärzte die Mutter am dritten Lebenstag des Affenjungen leicht betäuben, um sie nach der Geburt untersuchen zu können, bleibt das Neugeborene bei seiner Mutter und wir können mit ihm das Imitationsexperiment durchführen. Das von der Mutter gesäugte Affenjunge macht mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Schmatzbewegungen nach und streckt auch öfter seine Zunge raus und bewegt seine Lippen. Wenn das Gegenüber (der Forscher) keine Bewegung macht, ist auch das Affenjunge reglos. 95 % der Affenjungen, die mit ihrer Mutter aufwachsen, zeigen dieses Verhaltensmuster. Es besteht also schon am dritten Tag nach der Geburt ein großer Unterschied zwischen den Affengruppen aufgrund ihrer Aufzuchtssituation. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Was passiert mit den Affen aus der Affenkrippe, wenn sie heranwachsen und entweder imitieren oder dieses Verhalten unterlassen? Wenn wir die oben erwähnten Tests an den Neugeborenen in ihrem ersten Lebensmonat durchführen, finden wir, dass sich die Affenjungen nicht in Gewicht, Größe oder einfachen motorischen Bewegungen unterscheiden, sondern in einem Maß für koordinierte senso-motorische Integration, dem »koordinierten Bereichsgriff« (coordinated region grasp): Affenjunge, die das Imitationsverhalten zwischen ihrer ersten und vierten Lebenswoche zeigten, konnten sich deutlich besser nach einem Objekt strecken und es greifen als Affenjunge, die kein Imitationsverhalten in dieser Zeit gezeigt hatten. Dieser Befund weist auf eine Beteiligung der Spiegelneurone hin, denn diese Neurone integrieren sensorische und motorische Informationen. Was lässt sich noch aus dieser Beobachtung schließen? Wenn die untersuchten Affen etwas älter sind, untersuchen wir ihre Spielgewohnheiten. Wir sehen, dass in der Zeit, in der sich das Spielverhalten bei den Affen ausbildet, die Affen, die in ihrer ersten Lebenswoche Imitationsverhalten zeigten, doppelt so oft spielen wie die Affen ohne Imitationsverhalten. Und was noch wichtiger ist: Wenn die Affen im Alter von zwei Jahren in sozialen Gruppen leben, zeigen diejenigen mit Imitationsverhalten in ihrer ersten Lebenswoche eine größere Menge von selbstbestimmten Verhaltensweisen, während die Affen ohne Imitationsverhalten stereotype, fast autistische Verhaltensmuster zeigen. Sie schaukeln ihren Körper vor und zurück und laufen im Kreis, wie es ein autistisches Kind tun würde. Bei keinem der Affenjungen mit Imitationsverhalten in der ersten Woche war ein solches Verhalten zu beobachten. Alles deutet also darauf hin, dass wir einen sehr frühen Indikator für das Risiko von Autismus-ähnlichem stereotypen Verhalten bei Affen gefunden haben, was natürlich jene Kollegen besonders interessieren dürfte, die prospektive Langzeitstudien mit Kindern durchführen, deren Zwillingsgeschwister autistisch sind und daher selbst ein hohes Risiko für die Entwicklung von Autismus besitzen. Was sagt uns demnach all dies? Erstens sicherlich, dass frühe Erfahrungen prägend sind und deshalb gerade in der frühen Kindheit die Möglichkeit für Intervention besteht. Beispielsweise © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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könnte man die nicht imitierenden Affenjungen am dritten Tag nach ihrer Geburt mit der Stimulation versorgen, die sie auch bekämen, wenn sie mit ihrer Mutter aufwüchsen. Zweitens stellt sich die Frage nach der Rolle der Spiegelneurone bei unseren Affenjungen. Rizzolatti entdeckte sie erstmals mittels invasiver Einzelzellableitungen im Affengehirn, eine Methode, die ich bei unseren Affenjungen nicht nachahmen möchte. Man kann jedoch auch mithilfe des nichtinvasiven EEGs Spiegelneurone studieren, was wir in Zusammenarbeit mit Nathan Fox, einem Experten auf dem Gebiet des der EEG-Forschung, mit Kindern von der Universität in Maryland tun. Was wir in den EEG-Aufnahmen sehen, ist eine ausgeprägte Desynchronisierung niedrigfrequenter Thetawellen, während das Affenjunge Imitationsverhalten zeigt. Eine solche Desynchronisierung des EEGs im Thetabereich sehen wir nicht, wenn diese Affenjungen nicht imitieren, wenn ihnen Stimuli ohne soziale Komponente präsentiert werden und auch nicht bei Affenjungen, die überhaupt kein Imitationsverhalten aufweisen. Mit der Theta-Desynchronisierung haben wir also wahrscheinlich einen neurophysiologischen Marker für die Aktivität der Spiegelneurone oder anderer Neurone gefunden, was als diagnostisches Instrument mindestens so gut wie das Imitationsverhalten selbst ist. Wir werden diese Studien fortsetzen und versuchen, die am Imitationsverhalten beteiligten Mechanismen zu finden und die Möglichkeit von Hilfestellungen für nicht imitierende Affenjungen zu untersuchen. Im weitesten Sinne versuchen wir auch, manche Effekte früher Erfahrungen »umzukehren«: Affenweibchen, die nur mit Gleichaltrigen in der Affenkrippe aufwuchsen, integrieren wir nach dieser frühen Erfahrung in stabile soziale Gruppen mit kompetenten Affenmüttern, Freunden und Familien, durch deren Umgebung die Affenweibchen selber zu guten Müttern werden und ihr Nachwuchs vollkommen normal aufwächst. Unsere Ergebnisse haben wir in einem Artikel mit dem Namen »The Kids are All Right« in Anlehnung an den gleichnamigen Song von »The Who« veröffentlicht. Wir haben uns ihren Titel geliehen, weil unsere »Kinder« tatsächlich »all right«, also gut geraten waren, und wir hoffen, dass dieses Geraten nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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nur im Verhalten deutlich wird, sondern auch auf der Ebene der Gen-Methylierung, auf der ein Rückgang oder eine Umkehr der Methylierungsmuster denkbar wäre. Ich möchte den vielen Menschen danken, die in unser Projekt involviert sind, und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Übersetzung: Eva Karduck

Literatur Caspi, A., Sugden, K., Moffitt, T. E., Taylor, A., Craig, I. W., Harrington, H., McClay, J., Mill, J., Martin, J., Braithwaite, A., Poulton, R. (2003). Influence of life stress on depression: Moderation by a polymorphism of the 5-HTT gene. Science, 301 (5631), 386 – 389.

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IV Psychoanalyse im Dialog mit den Sozial- und Geisteswissenschaften

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Lilli Gast

»Vorbei! Ein dummes Wort« Ist das Projekt der Psychoanalyse als kritische Sozialwissenschaft am Ende?

»Vorbei! Ein dummes Wort. Warum vorbei?« So beginnt Mephistopheles seinen Nachruf auf Faust und bestätigt, ungewollt, dessen erlösendes Glücksmoment, in dem er im Moment der Anerkenntnis seiner Endlichkeit zugleich der Unwiderrufbarkeit seiner Existenz, der Untilgbarkeit seines Gewesenseins gewahr wurde: »Es kann die Spur von meinen Erdetagen nicht in Äonen untergehn« ruft er aus und stirbt. Die Endlichkeit der Möglichkeiten und die Unendlichkeit des Wunsches – irgendwo hier, zwischen Fausts Zuversicht angesichts seines Todes und Mephistos nihilistischem Bestehen auf der Unendlichkeit – letztlich ja ein generationelles Paradoxon – möchte ich meine Überlegungen ansiedeln. Die Frage, die mir von den Herausgebern dieses Bandes gestellt wurde, ist nicht nur hochkomplex, sondern auch an Fallstricken reich. Schon mit einer Frage wie: »Ist die Psychoanalyse am Ende oder sind die Sozialwissenschaften am Ende?« , bewegt man sich im Grenzbereich des Beantwortbaren: Welche Psychoanalyse, welche Sozialwissenschaft? Doch die Frage, ob das eine – X – als das andere – Y– noch eine Zukunft hat, hat diese Grenze bereits überschritten, was natürlich nicht bedeutet, sie beiseite zu legen, sondern im Gegenteil, den in ihr eingelassenen Erkenntnisraum zu öffnen. Mitunter helfen dekonstruktivistische Spitzfindigkeiten, um die zur Disposition stehenden Dimensionen vorläufig aufzuschließen. Was also bedeutet: »Psychoanalyse als kritische Sozialwissenschaft«? Heißt das, die Psychoanalyse sei in ihrem Kern eigentlich etwas anderes, nämlich eine Sozialwissenschaft oder heißt es, sie werde lediglich dafür gehalten? Mit anderen Worten: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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verweist das Als auf eine weitgehende Gleichsetzung oder deckt es vielmehr eine Alias-Beziehung auf, ein beiderseitiges So-tunals-Ob? Und worauf bezieht sich dann die Frage nach dem möglichen Ende: auf die Gültigkeit der Gegenstandsbildung oder auf die Fortdauer einer Illusion? Oder liegt der Schwerpunkt womöglich auf dem Attribut kritisch, das als Schweißnaht oder als eine Art Übergangsraum, ja als Schnittstelle der Transgression zwischen zwei von einander geschiedenen Epistemen bestimmbar wird? Wie ich es sehe, ist die Psychoanalyse nie eine Sozialwissenschaft im disziplinären Sinn gewesen, sondern, bedenkt man die Entfaltung und Begründung ihres Gegenstandes, sogar deren Gegenteil: Mit seiner Triebtheorie und dem Konzept des Unbewussten umreißt Freud die profunde Asozialität, die dem Humanum innewohnt, jene Entzogenheit und nachgerade subversive Widerständigkeit, die dem Subjekt eignet und mit dem es sich selbst auf immer fremd und den Anderen im Grunde fern bleibt. Dies ist, nebenbei bemerkt, eine Perspektive, die wohl mehr als alles andere die nachdrücklichsten Revisionswünsche auch aus den eigenen Reihen mobilisiert hat.1 Doch ehe nun der Eindruck entsteht, die Beantwortung der Frage fände ein vorzeitiges Ende, da ja etwas, das nie begonnen hat, schließlich weder enden noch nicht enden könne, möchte ich die Vermutung formulieren, dass womöglich eben das, was die Psychoanalyse nicht ist, nämlich eine Sozialwissenschaft, ihr vielleicht größter und kostbarster Beitrag in eben diesem Feld und für das Projekt einer kritischen Sozialwissenschaft darstellt. Meine These lautet also zugespitzt: Die Psychoanalyse ist keine 1 Pars pro toto steht hierfür der Vorwurf der Pansexualität und das Bestehen auf einer genuinen Sozialität des Menschen, wie es sich in den vielfältigen, mehr oder minder sublimen Versuchen einer Ehrenrettung des Individuums abbildet, angefangen mit Adler und Jung, fortgesetzt in der kulturalistischen Schule von Horney und Fromm in den 1930ern und 1940ern, der Ich-Psychologie in den 1940ern und 1950ern, den Objektbeziehungspsychologien unterschiedlichster Couleur und der Selbstpsychologie in den Spuren Kohuts in den 1970ern und 1980ern bis hin zum intersubjective turn und den zeitgenössischen Interrelationisten.

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Sozialwissenschaft, sondern deren Anderes, deren Negativ, und aus eben dieser Differenz schöpft das, was unter der Bezeichnung psychoanalytische Sozialpsychologie bereits eine Geschichte hat, ihr kritisches Potenzial und ihre Berechtigung und, wie ich im Folgenden zeigen möchte, auch ihre Zukunft. Bei der Psychoanalyse und den Sozialwissenschaften handelt es sich um zwei Episteme, die sich nur vordergründig und, wie es präziser zu formulieren wäre, tangential, ihren Gegenstand teilen – und dieser Gegenstand ist das Subjekt. In dieses, begrifflich hier noch unscharfe, Subjekt konvergieren beide perspektivischen Zugänge, allerdings von vollkommen unterschiedlichen Positionen aus, denn beide Perspektiven sind in je distinkten Diskursformationen verfangen und bewegen sich folglich auf unterschiedlichen Umlaufbahnen. Zwar kreisen beide Diskurse um das Subjekt und dessen Existenzbedingungen, doch ist das jeweilige Erkenntnisinteresse in je spezifischer Weise kontextualisiert und in einem je eigenen Register situiert. Aus den versetzten Blickachsen ergeben sich eigene Fragestellungen und Forschungsanliegen und folglich auch verschiedene Methoden und Denkbewegungen. Im Ergebnis differieren die zugrundeliegenden Subjektbegriffe, und zwar analog zu den entfalteten Denkbewegungen, die ihrerseits den jeweiligen Erkenntniswunsch widerspiegeln: Während sich die Psychoanalyse den psychodynamischen Prozessen in der Hervorbringung des Subjekts und seiner inneren Ausgelegtheit widmet – dem Unbewussten, der Triebstruktur, dem phantasmatischen Raum, der dynamischen Konfliktstruktur –, untersuchen die Sozialwissenschaften die objektiven lebensweltlichen Strukturbedingungen und Besonderheiten, in die das Subjekt eingebunden ist und die es, dieser Diskurslogik zufolge, markieren, ja determinieren, wenn nicht gar als Produkt dieser Bedingungen erzeugen. Tatsächlich entwickelt Freud mit der Psychoanalyse eine Denkmethode, die der innersten Verfasstheit der Subjekte und deren Konstitutionsbedingungen nachgeht, sie analytisch aufschließt und freilegt. Ja mehr noch: Es ist die konsequent konstitutionslogische Denkbewegung Freuds, die den Gegenstand der Psychoanalyse überhaupt erst hervorbringt und einen Prozess in Gang setzt, in dem sich Explanans und Explandandum wech© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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selseitig reflektieren und auf diese Weise einen hochspezifischen Erkenntnisraum eröffnen (vgl. Gast, 2006), dessen Kartografierung und Erforschung nicht auf Freuds Forscherleben beschränkt blieb, sondern mit und nach ihm auch von anderen betreten werden konnte – uns Heutige eingeschlossen. Dies ist die diskursive Begründung einer neuen Wissenschaft mit einem eigenen, distinkten Gegenstandsbereich (vgl. Foucault, 1965/2001). Welcherart, so fragte Freud, sind die Konstitutionsbedingungen des Subjekts, welches seine Textur, seine psychische Architektur, seine innere Verfasstheit? Was treibt es an, was formt es, in welchem Verhältnis stehen Innenwelt und Außenwelt, wie verläuft seine Enkulturation? Welches Schicksal nehmen seine Triebe, aus welchen Konflikten geht es hervor, in welchen Abgründen verfängt sich sein Anspruch auf Lust, aus welchen Quellen speist sich seine Destruktivität? Und welcher Erkenntnislogik folgt die Entfaltung der metapsychologischen Konstruktion eines solchen Subjektverständnisses? – Großkalibrige, gegenstandsbildende Fragen also, die sich, entgegen seiner ursprünglichen Erwartung und möglicherweise auch Absicht, in keiner weiteren klinischen Theorie befrieden oder mit bloßer Empirie angemessen aufnehmen ließen, sondern, wie schnell deutlich wurde, auf eine umfassende Theorie des Subjekts verweisen. So gesehen steht die Psychoanalyse in ihrer Eigenschaft als Subjektwissenschaft der Philosophie und deren Reflexionsbestimmungen von Sinnstrukturen und Prozessen der Bedeutungsstiftung beziehungsweise -generierung näher als den mit objektiv empirischen Parametern hantierenden Sozialwissenschaften. In welchem Vermittlungsverhältnis also befinden sich die Psychoanalyse und die Sozialwissenschaften oder, genauer gefragt, was ereignet sich in der Differenz zwischen beiden Epistemen, wie produktiv ist der Erkenntnisraum des Nicht-Identischen? Jeder ernsthafte Versuch, eine analytische Sozialpsychologie zu formulieren, das heißt den genuin psychoanalytischen Zugang zum Subjekt den Sozialwissenschaften zur Verfügung zu stellen, war und ist sich dieser epistemologischen Differenz und der sich daraus ergebenden Perspektivunterschiede in den je© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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weiligen Gegenstandsbildungen bewusst und muss mit der Irritation, die dies notwendig auslöst, umgehen – mit einer Irritation nämlich, die nicht nur der perspektivischen Verschiebung selbst geschuldet ist, sondern auch der sich aus dieser Verschiebung ergebenden Unschärferelation, die eine latente Infragestellung der jeweiligen Zugänge zur Wirklichkeit mit sich führt. Zur Methode verfeinert und als Erkenntnisquelle systematisch erschlossen wurde diese Erkenntnisposition in der PsychoanalyseRezeption Adornos, der sich konsequent in diesem, von ihm zutiefst dialektisch konzipierten diskursiven Zwischenfeld bewegte; ich denke aber auch an die Arbeiten von Peter Brückner, Klaus Horn, Alfred Lorenzer, Helmut Dahmer und ebenso, in einem etwas anderen Umfeld angesiedelt, an die brillanten Arbeiten von Cornelius Castoriadis. Die Forschungsfrage, die als erste den unterschiedlichen Perspektiven Anerkennung zollte oder, wie man auch sagen könnte, die sich als erste dieser Differenz bediente, geht zurück auf das Frankfurter Institut für Sozialforschung und dessen Anliegen, jene Prozesse genauer zu untersuchen, die die Transformation des gesellschaftlichen Makrokosmos in den Mikrokosmos des Subjekts ins Werk setzen. Die Eingangsfrage also war, wie und in welcher Form sich die objektiven Verhältnisse wie etwa Machtstrukturen, gesellschaftliche Lebens- und Arbeitsbedingungen in die Subjektivität des Subjekts und in seine psychodynamischen Konfliktstrukturen einschreiben. In der dort gewählten und systematisch entfalteten Herangehensweise, die darin besteht, konsequent in den Dimensionen von Transformationen, Transgressionen und Übersetzungen zu denken und der durchaus mäandernden und nichtlinearen Entfaltung von Wirkungen nachzugehen, zeigte sich die Produktivität der Arbeit mit der Differenz. Vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Einsichten in die innere Ausgelegtheit des Subjekts wurde den gängigen und allzu grobschlächtigen, naiv-positivistischen Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Psyche und Gesellschaft eine Absage erteilt, die die innere und die äußere Realität in eine krude Korrelation zwingen und in der Innenwelt der Subjekte objektivierbare Niederschläge in Form von Abbildern äußerer Realitätsaspekte vermuten und dingfest machen wollen. Zu offen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sichtlich nämlich wurde aus der hier eingenommenen psychoanalytisch affizierten Perspektive, dass es eben gerade nicht um das Aufsuchen objektivierbarer Abbilder äußerer Realität in der Psyche der Subjekte gehen kann, sondern dass der Fokus auch einer sozialwissenschaftlichen Analyse vielmehr auf den komplexen Prozessen der Hervorbringung des historischen, empirischen Subjekts liegen muss. Und mit diesem Befund, mit dieser Erkenntnis bewegte sich die Sozialforschung im Grenzgebiet, im Übergangsraum zum benachbarten Diskursfeld der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse Freuds, schreibt Adorno in seiner Arbeit »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«, sei die Einzige, die »im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität nachforscht« (Adorno, 1955/1981, S. 42). Denn indem sie sich mit den psychischen Konstitutionsprozessen der Subjekte, deren innenweltlicher Architektur und Gewordenheit in Raum und Zeit befasse, stoße sie auf die im Subjekt abgelegten und unhintergehbar mit dessen Konstitutionsgeschichte verbundenen Sedimente von Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Tatsächlich findet sich im innersten Kern der psychoanalytischen Gedankenwelt die überaus sublime und elaborierte Figur einer unverfügbaren Verflechtung von Subjekt und Kultur, die sich nicht etwa additiv oder kumulativ verhält, sondern, aufgrund seiner Vermitteltheit, vielmehr dialektisch zu verstehen ist: Gerade die radikale Subjektzentriertheit der Freud’schen Perspektive nämlich macht deutlich, dass die Prozesse, die das Psychische in Gang setzen und antreiben und in denen und durch die sich das Subjekt konstituiert, mit jenen Prozessen identisch sind, die es vergesellschaften. Hervorbringung und Vergesellschaftung ereignen sich in einem engmaschigen, Ursache und Wirkung unterlaufenden Geflecht. Aus dieser für psychoanalytisches Denken so markanten Denkbewegung einer konstitutiven Differenz und pendelförmigen Gleichzeitigkeit psychischer Prozesse ist ein vorgesellschaftliches, im ontologischen Jargon der Eigentlichkeit beschriebenes Individuum undenkbar ; es ist so undenkbar, wie die Vorstellung abwegig, dass Kulturalität und Gesellschaftlichkeit irgendwann im Verlauf der Subjektentwicklung an das werdende Subjekt herangetragen werden, gleichsam © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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zu dessen vorgängiger und ontischer Subjektivität hinzutreten – um diese dann zu raffinieren oder zu verderben, je nach Bewertung dieser Realität. Mit anderen Worten: Kultur und Gesellschaft sind integral und unvordenklich in die Architektur des Subjekts und in die Prozesse seiner Hervorbringung eingelassen und in diesem Sinn weder von außen herangetragene Determinanten noch ein dem Subjekt äußeres Element: Sie sind vielmehr Chiffren jener konstitutiven Entfremdung und Zerrissenheit, derer sich das Sub-jekt als Unterworfenes, als einem konflikthaften Konstitutionsprozess Abgerungenes überhaupt verdankt. Und diese Einsicht ist, wie ich es sehe, die Grundlage, die gute Fee an der Wiege der analytischen Sozialpsychologie. Eine solche Anerkennung der zwei getrennten Register, in denen die Erkenntnisprozesse der Psychoanalyse und die der Sozialwissenschaft verlaufen und die Berücksichtigung der Eigenheit, ja Eigengesetzlichkeit der psychodynamischen Prozesse, wirft ein Schlaglicht auf die überragende Bedeutung der Psyche als zentrale Stukturantin von Erfahrung. Hier macht sich die analytische Sozialpsychologie eine elementare Einsicht der psychoanalytischen Metapsychologie zunutze, derzufolge sich das Reale nur mittels einer psychischen Bearbeitung einschreibt, die es in Elemente der Vorstellung beziehungsweise zu Vorstellungsrepräsentanzen formt. Und eben diese Fähigkeit des psychischen Apparates zur Bearbeitung von Wahrnehmungsreizen ist zugleich seine Entstehungsbedingung. Das heißt, das Psychische tritt in eben dieser Funktion als Gestaltgeberin in Erscheinung, und zwar nur in der von ihr hervorgebrachten Gestalt und auch nur als diese Gestalt. Sie verdankt ihre Existenz also dem Einbruch des Realen – eines Realen, das sie zwar formt und dessen unausrechenbare und unvorhersagbare Wirkung sie eben damit bezeugt, ohne das sie aber nicht wäre. Es war vor allem Paul Ricœur, der diese das gesamte Freud’sche Œuvre durchziehende Kraftlinie akribisch herausarbeitete und nachzeichnete. Und entlang dieser Kraftlinie liegt die Anerkennung der Subjekte als Subjekte in eigenem Recht, die – weit davon entfernt, schieres Produkt von Kausalketten äußerer Bedingungen zu sein – vielmehr als die Urheber ihrer Vorstellungen, ihrer Rede und ihrer Symptome in Erscheinung treten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Ohne Zweifel – und hier erweist sich die Produktivität des Erkenntnisraumes der Differenz eben auch für die psychoanalytische Subjekttheorie selbst: Die Feststellung, die Psychoanalyse betrachte das Subjekt als immer schon durchdrungen von Kulturellem, Gesellschaftlichem, ist eine Aussage, die in dieser Pointiertheit und Präzision ohne die hochelaborierte Auseinandersetzung der Kritischen Theorie mit der Psychoanalyse und ohne deren Ringen um die Formulierung einer analytischen Sozialpsychologie so wohl nicht getroffen werden könnte. Erst deren Arbeit mit der oder besser in der Differenz hat die dialektische Konstitutionslogik, die beide Episteme miteinander verknüpft, sichtbar werden lassen: Denn auch wenn die Psychoanalyse als Epistem das Andere der Sozialwissenschaft ist, so trifft man entlang dieser in die innere Textur des Subjekts hineinführenden Kraftlinie psychoanalytischen Denkens nolens volens auf Topoi der Sozial- und Kulturwissenschaften. So steht am Endpunkt einer exquisit psychoanalytischen und das heißt radikal subjektzentrierten Analyse die Anerkenntnis der historischen und sozialen Verfasstheit unserer psychischen Existenz und unserer Subjektivität, die schließlich dafür bürgt, dass wir mehr sind als bloße performative Effekte der Gegenwart. Damit berühren, kreuzen, überschneiden, überlagern sich die Episteme im Innersten des Subjekts – und bleiben doch zwei getrennte Erkenntnisdimensionen. Die Differenz, das Uneinssein, das Nieganz-Werden der Episteme bildet sich in der inneren Logik, in der konzeptuellen Entfaltung des Subjekts ab, oder, wie man in zugegebenermaßen erkenntnistheoretischer Überdehnung der Denkfigur sagen könnte, dieses Uneinssein findet einmal mehr seine Entsprechung in der inneren Verfasstheit des Subjekts, wird zu dessen Chiffre. Diese konzeptuell-analytische Arbeit am Begriff ist längst getan und die mit ihr gewonnene Erkenntnis ist Teil unseres Erbes. Und nun? Wie weiter? Welche Relevanz hat das Erreichte für eine kritische Sozialwissenschaft heute und welchen Part spielt die Psychoanalyse dabei? Bei der Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Politische Psychologie, die im Dezember 2010 in Hannover stattfand, habe ich die Einsicht in die historische Verfasstheit des Subjekts, von der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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oben bereits die Rede war, als ein Scharnier zwischen den auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten und divergierenden Subjektauffassungen der Psychoanalyse und der Sozialwissenschaften bezeichnet – ein Scharnier, wie ich nun ergänzen möchte, das sich zuvorderst der Arbeit mit der Differenz verdankt und im Spannungsfeld des Nicht-identisch-Seins selbst situiert ist. Denn erst das Denken in und mit der Differenz legt das kritische Potenzial frei, über das beide Episteme implizit verfügen und das sie vielleicht gerade dann am pointiertesten und produktivsten realisieren können, wenn sie es einander antragen, wenn sie einander irritieren. Die Psychoanalyse ist keine Sozialwissenschaft, auch wenn sie – als deren Anderes – Implikationen für die Sozialwissenschaften mit sich führt. Sie ist auch ebenso wenig eine Literaturwissenschaft, wie sie Belletristik ist, obgleich sie hilfreich sein kann im hermeneutischen Aufschließen von Texten und obgleich sich Freuds Kasuistiken wie Novellen lesen; sie ist auch keine Philosophie, obwohl sie über eine implizite Erkenntnis- und Subjekttheorie verfügt; sie ist keine Kulturtheorie und auch keine Anthropologie, obschon sie mit ihren Einsichten ins Subjekt immer auch die conditio humana und deren Kulturförmigkeit thematisiert. Die Psychoanalyse ist kein Passepartout der Welterklärung, kein wissenschaftlicher Parvenü, der den Erkenntnisraum dieser anderen, zweifellos angrenzenden, aber eben nur angrenzenden Wissenschaften umstandslos für sich beanspruchen könnte. Wenn also von einem Ende in ihrem Umfeld die Rede sein kann, dann von einem, wie ich finde, wünschens- und erstrebenswerten Ende der letzten Reste ihrer illusionären Verkennung als omnipotente Universalwissenschaft. Tatsächlich ist die Psychoanalyse eine Wissenschaft mit einer distinkten Gegenstandsbildung, einem eigenen Geltungsbereich und Erkenntnisinteresse sowie mit einer ihrem Gegenstand angemessenen Methodologie, einer eigenen Terminologie und Theoriebildung und einer hochspezifischen, sorgsam elaborierten Denkmethode. Und doch sind ihr Wissensbestand und vor allem, bedeutsamer noch, ihre Denkmethode und ihre implizite Erkenntnistheorie, die diesen Wissensbestand hervorgebracht hat, von immenser Bedeutung für all die genannten Disziplinen, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sie nicht ist, deren Anderes sie ist und mit denen sie sich doch im Rapport befindet. Wie alle kritischen Wissenschaften der Moderne, ob sie sich nun expressis verbis so definieren oder nicht, steht auch die Psychoanalyse in der Tradition der Aufklärung und Vernunftkritik – einer Tradition, der sie allerdings von Beginn an ihr eigenes Gepräge verliehen hat: Psychoanalytische Aufklärung und Vernunftkritik nämlich veranschlagt ihr vorrangiges und zugleich unabschließbares Anliegen darin, jener Vernunft Geltung und Gehör zu verschaffen, die um ihr anderes, um ihre Abseite weiß und die mit eben diesem Wissen den, wie Blumenberg (1979/1996) es nennt, »Absolutismus der Wirklichkeit« bricht. In psychoanalytischer Terminologie heißt dieses Andere der Vernunft das Unbewusste, das sich als Irrationalität bemerkbar macht und seinen wohl machtvollsten Fürsprecher, seinen Impresario in den infantil-sexuellen Triebwünschen und Lustansprüchen findet. Und dieses Unbewusste in einen wissenschaftlichen Diskurs eingeführt zu haben, die rationale Erklärung des Irrationalen ins Visier zu nehmen, ist Freuds größtes Verdienst und der wohl nachhaltigste Beitrag der Psychoanalyse zu einer Neuordnung des Nachdenkens des Menschen über sich selbst. In diesem Sinn sind die Einsichten in die innere Verfasstheit der Subjekte, die psychoanalytisches Denken hervorgebracht hat und, wenn sie sich denn auf die Eigenheit ihres Denkens besinnt, noch immer hervorzubringen in der Lage ist, erkenntnislogisch das Ergebnis einer radikalen Dekonstruktion des Individuums, jenes empirischen Subjekts also, das womöglich eher in den Gegenstandsbereich der klassischen Sozialwissenschaften fällt und dort zu den Akteuren im soziologischen, im sozialen Feld zählt. Der dekonstruktivistische Gestus psychoanalytischen Denkens, der das Subjekt, anders als beispielsweise die soziologische Postmoderne, nicht etwa in die Bedeutungslosigkeit verbannt oder es zum Verschwinden bringt, sondern im Gegenteil auf ihm besteht und auf der Anerkennung dessen innerer Wirklichkeit beharrt, dieser dekonstruktivistische Gestus also arbeitet mit einem generalisierten, systematischen und nachgerade methodischen Zweifel an scheinbaren Selbstverständlichkeiten, an Immer-so-Gewesenem, an vermeintlichen anthropo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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logischen Konstanten und vorgeblichen Invarianzen menschlicher Existenz. Castoriadis umschreibt diese Eigenheit der genuin psychoanalytischen Denkhaltung mit der Bemerkung, die Psychoanalyse eröffne »einen Weg, um die Genese des Sinns und der Wahrheit bei den wirklichen Menschen zu denken« (Castoriadis, 1981, S. 53). Nun wohnt wohl jedem Zweifel und jeder Dekonstruktion ein kritisch-analytischer Impuls inne, der die despotische Faktizität des Augenscheins unterläuft – die Psychoanalyse allerdings hat ihn auf eine Weise raffiniert und auf eine so vollendet sublime Art entfaltet, die ihresgleichen sucht. Psychoanalytisches Denken verläuft in den Bahnen des Zweifels, der kritischen Skepsis und transformiert die Errungenschaften der Aufklärung, das Sapere aude Kants, das den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit durch das Wagnis eigenständigen Denkens einläutet, in eine, wie ich es nennen möchte, »Aufklärung zweiter Ordnung«, das die irrationalen Abhänge der Aufklärung, nämlich die verleugnete Abseite des wissenschaftlichen Denkens, erneut in den Diskurs einführt und ihn dort zur Sprache bringt, das heißt, ihr symbolische Repräsentanz verleiht. Der Hegel’schen »List der Vernunft« dicht auf den Fersen, weiß die Psychoanalyse um die Triebgegründetheit aller intellektuellen, moralischen und künstlerischen Leistungen sowie aller augenscheinlich über jeden Zweifel erhabenen Ausdrucksformen und legt offen, wie jeder Erkenntnisprozess, jedes Denken, auch wenn es uns aus der unmittelbaren Triebumklammerung befreit, gleichwohl durchdrungen ist von Wünschen, libidinösen Ansprüchen, Phantasmen, Ängsten und Konflikten – »Unstet treiben die Gedanken auf dem Meer der Leidenschaft; Gierig greift er in die Ferne, Nimmer wird sein Herz gestillt, Rastlos durch entlegne Sterne, Jagt er seines Traumes Bild«, formuliert es das Dichterwort Schillers (1796). Und eben jenes Denken ist, seiner Triebdurchdrungenheit zum Trotz, zugleich das Instrument, das uns den Zugang zur Realität bahnt, und zwar über den einzig möglichen Weg, nämlich über den Weg der Anerkennung eben dieser für das Subjekt und sein Denken konstitutiven Verstrickungen und Verhaftungen in seine eigene innere Welt. Die Psychoanalyse reagiert also auf eine Verleugnung, auf eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Wahrnehmungslücke, die die Wissenschaften im Dienste der Aufklärung erst erzeugt haben, und durch die sie sich selbst ad absurdum zu führen drohen: dass nämlich das diskursiv Ausgeschlossene wiederkehrt, sich gleichsam subversiv und oft genug, wie wir gesehen haben, in destruktiver Weise Geltung verschafft, so, wie das Verdrängte als Ungeist, als Störenfried wiederkehrt, und einen dialektischen Umschlag herbeiführt, der einen unreflektierten und damit destruktiven Irrationalismus im Gewand der Aufklärung sein Unwesen treiben lässt – dies ist bekanntlich der Kerngedanke in der »Dialektik der Aufklärung«, die Horkheimer und Adorno 50 Jahre nach Freuds Entdeckung des Unbewussten unter dem Eindruck des desaströsen Scheiterns der Aufklärung, ihres katastrophalen Kollapses im Dritten Reich, als »Selbstzerstörung der Aufklärung« (Horkheimer u. Adorno, 1947/1981, S. 13) beschrieben haben. Freuds Aufklärung zweiter Ordnung besteht nun gerade darin, den wissenschaftlichen Aufklärungsanspruch auf dieses diskursiv Ausgeschlossene, Verdrängte auszudehnen: Die Aufklärung der Psychoanalyse ist, noch heute, radikal verstandene Vernunftkritik auf allerhöchstem Niveau, eine Vernunftkritik nämlich, die genau weiß und beharrlich um die Anerkennung dieses Wissens ringt, dass der Weg zur Vernunft und auch der Weg der Vernunft die konflikthaften Verstrickungen der conditio humana durchlaufen, dass Vernunft die Triebstruktur der Subjekte durchqueren muss, um sich einer auch schmerzlichen und unbehaglichen Realität öffnen zu können. Dies ist Aufklärung at its best und, wie ich finde, noch immer state of the art, Avantgarde, wenn Sie so wollen: Es ist nichts Geringeres als die präzisierende Erweiterung des Wagnisses der Erkenntnis, eben jenes Sapere aude Kants in den nicht minder kühnen Imperativ für unsere Gegenwart und Zukunft, der das Kant’sche »Wage zu wissen / habe den Mut zu verstehen« nun so buchstabiert: »Wage auch das zu wissen, was du nicht wissen sollst, wage zu verstehen, was Du womöglich zu verstehen nicht erträgst, wage über das zu sprechen, worüber du schweigen sollst, finde Worte für das Unsagbare, suche des Sinnlosen Sinn, liefere Dich dem Prozess der Erkenntnis aus, der Trauer, dem Verlust, dem Schmerz, den dieser mit sich führt, liefere Dich einem Wissen aus, das Verantwortung abverlangt.« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Unübersehbar, wie das Moment der Selbstreflexion, wie diese Rückführung und Rückbesinnung des Denkens auf sich selbst das Erkenntnissubjekt selbst mit seinen Triebwünschen, seinem Unbewussten, seinen Ängsten und Konflikten in den Skopus der Betrachtung einführt. Und eben dies ist das Moment, das die Psychoanalyse zum Impulsgeber kritischer Wissenschaften prädestiniert, denn die damit verbundene exzentrische, selbstreflexive Position führt in jeder Disziplin zwangsläufig und unvermeidlich zu einem wissenschafts- und methodenkritischen Unterstrom, der entweder als Zumutung bekämpft oder, wenn auch selten, als strukturelle Bereicherung des eigenen Diskurses geschätzt wird. Mit anderen Worten ist die Sichtweise, die ich hier vorschlagen möchte, folgende: Die perspektivische Neuordnung, die die Psychoanalyse in der Eigenheit ihrer Denkbewegung realisiert, nämlich die in den Humanwissenschaften geforderte Trennung zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt unscharf werden zu lassen, ja gar zu unterlaufen, führt den Stachel der Kritik, des Zweifels und der analytischen Dekonstruktion in die Sozialwissenschaften ein, deren Anderes sie ist und deren exzentrische Position sie qua ihrer Differenz markiert. In diesem Sinn könnte man auch sagen, die Psychoanalyse und ihre Erkenntnismethode bildet die für jede kritische Wissenschaft dringend erforderliche Erkenntnistheorie; das heißt, sie bietet eine erkenntnistheoretische Unterfütterung der Sozialwissenschaften und ihrer Methodologie. Vor diesem Hintergrund können wir das Adjektiv kritisch, dessen Zukunft oder Ende in der mir aufgegebenen Frage zur Disposition steht, noch einmal direkt aufgreifen und fragen, welcher diskursiven Qualität es sich verdankt, was also seine Bedingung ist und ob beziehungsweise was davon die Psychoanalyse, gleichsam im Kielwasser ihrer zur Methode gewordenen Rückbesinnung des Denkens auf sich selbst, den Sozialwissenschaften zur Verfügung stellt. Meine Antwort lautet: Es ist der unbedingte und kompromisslos vertretene Subjektstandpunkt, den psychoanalytisches Denken sich selbst und anderen Disziplinen zumutet und der die Humanwissenschaften, allen voran die Sozialwissenschaften, davor schützen kann, in einfachen linearen Kausalketten von Ursache und Wirkung stecken zu blei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ben und sich so dem Absolutismus der Wirklichkeit zu unterwerfen. Dieses Bestehen auf dem Subjekt ist, wie ich finde, gerade in gegenwärtigen Diskursen, die das Subjekt aus den Augen zu verlieren beginnen, von essenzieller, ja zukunftsweisender Bedeutung, insofern es das Gegenstandsfeld in analytischer Weise aufschließt. Denn ohne diesen Subjektstandpunkt verlöre der sozialwissenschaftliche Diskurs vollends aus dem Blick, dass auch er von Lebenswelten handelt, deren Beschaffenheit ebenso von der Verfasstheit der Subjekte durchzogen ist wie die Verfasstheit der Subjekte von der sie umgebenden sozialen Welt und dass ferner die Irrationalität von Strukturen, Institutionen, kollektiven Verbänden und Machtgefügen mit den unbewussten Phantasmen der Subjekte in einer ebenso dialektischen wie unverfügbaren Verflechtung stehen. Damit ist ein Erkenntniszusammenhang aufgerufen, der sich meinem Verständnis nach nicht nur der Psychoanalyse und ihrer distinkten epistemologischen Denkbewegung verdankt, sondern auch der Arbeit in und mit der Differenz. Denn in diesem Spannungsfeld zwischen den Epistemen wird der dem psychoanalytischen Denken unablösbar innewohnende und als Erkenntnishaltung weit über die Disziplinargrenzen hinausreichende Impetus virulent: Die Risiken und Nebenwirkungen der Psychoanalyse und ihres originären Erkenntnisanspruchs bestehen nämlich darin, dass ihr Denken in jeder Human-, Geistes- und Sozialwissenschaft neue Fragen erzeugt und kanonisiertes Denken destabilisiert: Fragen, die ansonsten ungestellt bleiben, die sich womöglich gar nicht erst stellten oder die nicht gestellt werden könnten – Fragen, die verstören, die kristallin gewordene Denkmuster verflüssigen, Gewohntes in Frage stellen, selbstreferenziell gewordene Perspektiven dezentrieren und beschwichtigende Gewissheit in einen methodischen, produktiven Zweifel auflösen. Psychoanalytisches Denken, das sich ernst nimmt und ernst macht, hat noch jeden Diskurs ins Wanken gebracht und ein Umdenken, ein Neudenken eingeleitet. Wie ich es sehe, liegt das kritische Potenzial der Psychoanalyse also gar nicht vordergründig in den Antworten, die zu geben sie in der Lage ist: Zum Impulsgeber einer kritischen Wissenschaft wird die Psychoanalyse aufgrund ihrer Potenz als Fragenstelle© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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rin, als Beunruhigerin, als Verstörerin. In dieser Hinsicht ist sie – bis heute – prima inter pares und genau hier liegt, und damit bin ich im letzten Teil der mir gestellten Frage angelangt, ihre Notwendigkeit für die gegenwärtigen, aber auch für die zukünftigen sozialwissenschaftlichen Diskurse. Wie kaum ein anderer Wissenschaftsdiskurs der Moderne ist die Psychoanalyse bereit und aufgrund ihres analytisch-dekonstruktivistischen Selbstverständnisses womöglich als Einzige auch in der Lage, in der Geschichte menschlicher Selbstreflexion insistierende, ja aporetische Fragestellungen aufzugreifen und sie auf die ihr eigene Weise zu thematisieren – und auf die ihr eigene Weise heißt, dass ihr Denken nicht nur der Eigenheit des Gegenstandes folgt, sondern zudem einen Überschuss an Sinn und Bedeutung produziert, der neue Fragen, neue Ungewissheit zumutet. Zugleich führt die Thematisierung jener Fragen des Subjekts an sich selbst die ausgeschlossene Subjektivität in den wissenschaftlichen Diskurs zurück, verleiht ihr Sprache, Bedeutung und symbolische wie diskursive Repräsentanz: »Die psychoanalytische Denkweise«, schreibt Freud, »benimmt sich […] wie ein neues Instrument der Forschung. Die Anwendung ihrer Voraussetzungen […] gestattet ebenso neue Probleme aufzuwerfen, wie bereits vorhandene in neuem Lichte zu sehen und zu deren Lösung beizutragen« (Freud, 1913j, S. 414). Freud spricht hier von einem Beitrag der Psychoanalyse zu Lösungen und nicht etwa von der Lösung selbst. Das sollten wir sehr ernst nehmen, denn tatsächlich liegt ihre wahre Stärke, ihr genuin kritisches und in diesem Sinn zukunftsrelevantes Potenzial in eben jenem neuen Lichte, das sie auf die Dinge wirft, und im Aufspüren neuer Probleme. Nein, die Psychoanalyse ist keine Lieferantin von Antworten, auch wenn sie Konzepte hervorgebracht hat, die sich, gleichsam im off label use, in der Exploration sozialwissenschaftlicher Problemfelder bewährt haben. Jedoch erweist sich die Brauchbarkeit dieser Konzepte für eine kritische Sozialwissenschaft nur im Kontext einer psychoanalytischen Grundperspektive und folglich in der Auseinandersetzung mit der Nicht-Identität der Erkenntnisebenen. Ein einfacher Übertrag, der die Differenz verwirft und sie auf einen reinen instrumentellen Wert reduziert, pervertiert diese Konzepte zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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einer Plombe, die die Stelle des Nichtverstehens versiegelt, Unverstandenes unkenntlich macht, das Denken immunisiert, Fragen und die von ihnen ausgehende Beunruhigung unterbindet. Psychoanalytisches Denken aber ist mehr als jeder andere, in der Tradition der Vernunftkritik stehende Diskurs dafür prädestiniert, den kritischen Impuls in den Sozialwissenschaften anzumahnen, ihn in die Sozialwissenschaften im Sinne einer analytischen Sozialpsychologie hineinzutragen, und zwar gerade weil sie sich der eilfertigen Bereitstellung griffiger, möglichst unanstößiger und pragmatischer Lösungsalgorithmen allfälliger gesellschaftlicher und sozialer Probleme entzieht. Und in eben dieser Abstinenz liegt ihre Stärke und, wie ich es sehe, auch ihre Zukunft: Denn mehr als alles andere ist sie eine Meisterin im Aufwerfen nicht nur neuer, sondern auch beharrlich wiederkehrender, unabschließbarer Fragen. Die Psychoanalyse schickt das Denken hinaus ins Offene, Ungewisse, ins Nicht-Gewusste, vielleicht auch nicht Wissbare; sie vertäut es nicht im sicheren Hafen des Vorhersehbaren und der Gewissheit. Ihre Erkenntnisquelle ist das Unbewusste, das dem direkten Zugriff Entzogene, der verborgene Sinn; ihr Denken folgt nicht dem manifesten Haupttext, sondern seiner Entstellung; psychoanalytisches Denken verharrt nicht bei der Erscheinungsweise eines Phänomens oder eines Symptoms in seiner konkreten Gestalt, sondern erforscht den unbewussten Subtext; ihre Aufmerksamkeit gilt auch dem, was unterbleibt, dem Abwesenden; es sucht Unverstandenes, Noch-nicht-Verstandenes aktiv auf, um Bedeutung dort zu dechiffrieren, statt sie vordergründig in der Performanz oder der Phänomenologie der Dinge abzulesen. In Abwandlung des Satzes von Gadamer, Symptome seien das Offensichtliche am Verborgenen, könnte man auch sagen, das sich dem schnellen, direkten Verstehen Aufdrängende sei lediglich das Sichtbare, die äußere Oberfläche, ja die Maskerade des Unverstandenen. Es sei der »Nicht-Besitz von Wahrheit«, der zur Befreiung des Menschen beitrage, ist bei Blumenberg (1979/ 1996) zu lesen, und ich meine, wenn es einer Wissenschaft gelungen ist, Einblick darin zu erringen, in welch enger Faltung Gewusstes und Nicht-Wissbares, Verstehen und Unverstandenes liegen, und wenn es einer Wissenschaft gelungen ist, mit dieser © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

»Vorbei! Ein dummes Wort«

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Einsicht ebenso unerschrocken wie produktiv umzugehen, die daraus hervorgehende Ungewissheit auszuhalten und sie gar als Erkenntnisquelle zu nutzen, dann ist es wohl die Psychoanalyse. Diese Erkenntnishaltung ist Freuds Flaschenpost – ihre Position mag prekär sein, aber sie ist in der Welt, als Spur unwiderruflich. Und in ihr liegt nicht nur der Schlüssel für den Fortbestand der Psychoanalyse selbst, sondern auch die Zukunft einer jeden kritischen Sozialwissenschaft, deren Anderes, deren unverzichtbares Anderes sie ist. Für mich also, auch mit Blick auf die sogenannte next generation, kein Ende in Sicht – tatsächlich: »Vorbei! Ein dummes Wort!«

Literatur Adorno, Th. W. (1955/1981). Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. Gesammelte Schriften (hg. v. R. Tiedemann), Bd. 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blumenberg, H. (1979/1996). Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Castoriadis, C. (1981). Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft. Frankfurt a. M.: EVA. Foucault, M. (1965/2001). Was ist ein Autor? In: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1913j). Das Interesse an der Psychoanalyse. Gesammelte Werke, Bd. VIII. Gast, L. (2006). »Ein gewisses Maß an Unbestimmtheit …«. Anmerkungen zum freudschen Erkenntnisprozess. In: E. Löchel, I. Härtel (Hrsg.), Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft (Psychoanalytische Blätter, Bd. 27, S. 12 – 29). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Horkheimer, M., Adorno, Th. W. (1947/1981). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Th. W., Gesammelte Schriften (hg. v. R. Tiedemann), Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schiller, F. (1769). Die Würde der Frauen.

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Hans-Joachim Busch

Die Gegenwart psychoanalytischer politischer Psychologie und die Zukunft des Subjekts1

Psychoanalytische Sozialpsychologie verfügt über keine starke Stimme mehr in der gegenwärtigen Diskussion; entsprechend ist auch ihre akademische Position schwach geworden. Gibt es dafür gute Gründe? Hat sie wissenschaftlich nicht mehr genügend zu bieten? Ist also psychoanalytische Sozialpsychologie ihrerseits noch zeitgemäß? Dies ist die Frage, die in den gegenwärtigen Bemühungen psychoanalytischer Sozialpsychologie immer mitzuschwingen hat. Ich will sie hier, zugespitzt auf das Gebiet politische Psychologie, stellen und meine Gedanken zur Gegenwart politischer Psychologie vorlegen. Mit der Antwort, die sich in Bezug auf die Aktualität kritischer politischer Psychologie ergibt, lande ich dann bei einigen Betrachtungen zur Lage und vor allem zur Zukunft des Subjekts. Was waren die Bedingungen, unter denen psychoanalytische Sozialpsychologie vor noch nicht einmal hundert Jahren aufkam? Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, die im frühen 20. Jahrhundert durchbrachen, brachten die sich mit ihnen beschäftigenden Sozialwissenschaften in Verlegenheit. Sie waren nicht nur schwer voraussagbar, sondern nahmen auch riskante, destruktive Verläufe, führten zu Krisen und Katastrophen der modernen kapitalistischen Gesellschaften. Es wurde offenbar, dass die Vorgänge stark irrationale Aspekte aufwiesen und dass sich Individuen und Gesellschaft nicht im Gleichklang 1 Zum 25. Todestag Klaus Horns, der psychoanalytische politische Psychologie in Frankfurt und am Sigmund-Freud-Institut entscheidend geprägt hat.

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und nicht zuverlässig in fortschrittlicher Richtung bewegten. Die Notwendigkeit einer Thematisierung der psychologischen Seite der Vergesellschaftungsprozesse, des Zusammenhangs von Psyche und Politik, war nicht mehr länger von der Hand zu weisen. Die Theoriegeschichte der entsprechenden Bemühungen kann hier nicht behandelt werden. Im Rückblick kann gesagt werden, dass die Hoffnungen in eine solche politische Psychologie vielleicht zu groß, auch zu leidenschaftlich waren; jedenfalls kehrten sie sich bei manchen Vertretern wie Adorno (1955) und später Reiche (1995) (zuletzt auch Reemtsma, 2008) in eine bis zum Defätismus führende Enttäuschung um, die den Gedanken eines eigenständigen Subjekts unter den Bedingungen einer unerbittlich sich durchsetzenden, engmaschigen kapitalistischen Herrschaftsstruktur verloren gab und den Lauf der Dinge als für eine psychoanalytische Sozialpsychologie und Subjekttheorie unerreichbar und unbeeinflussbar sah und ihr darüber hinaus wissenschaftliche Qualität und Vitalität absprach. Mag diese Haltung verständlich sein, so spricht doch auch viel dagegen, sich ihr anzuschließen. Sie ist nicht überzeugend, was die Einschätzung des Potenzials psychoanalytischer Sozialpsychologie betrifft; und theoretische Alternativen konnten von den Autoren auch nicht angeboten werden.2 Und die Krisen, die wir gegenwärtig haben, Welt-Finanzkrise, Klimakrise, werfen in ihren irrationalen Merkmalen, Motiven und durch sie ausgelösten psychischen Reaktionen genügend Fragen auf, die dringlich der Untersuchung und Klärung durch politische Psychologie harren.3 Es bleibt gar nichts anderes übrig, als auch weiterhin beharrlich die

2 Allenfalls hätte die Möglichkeit bestanden, sich dem Alleinvertretungsanspruch der objektiven Hermeneutik in Sachen Subjekt zu unterwerfen, wie es Reiche (1995) nahelegt. 3 So stellte der Träger des Wirtschaftsnobelpreises, Paul Krugman (2009), bezüglich der weltweiten Finanzkrise fest: »Die Volkswirte müssen die unangenehme Tatsache akzeptieren, dass Finanzmärkte keineswegs unfehlbar sind, dass sie sowohl von irrenden Individuen als auch vom Wahnsinn der Massen beeinflusst werden.« Ein Satz, der fast freudianisch anmutet – der homo oeconomicus ist nicht mehr Herr im eigenen Hause.

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Frage nach dem Subjekt zu stellen. Eine psychoanalytische politische Psychologie ist aktuell und wird weiterhin gebraucht. Aber um welche psychoanalytische politische Psychologie soll es sich dabei handeln? Das scheint (leider) bis heute nicht wirklich ausgemacht zu sein. Hören wir zuerst die Einschätzung eines gebildeten Laien, des Feuilletonredakteurs der Frankfurter Rundschau und Alt-68ers Arno Widmann, die er anlässlich des Institutsjubiläums in seinem Blatt hat verlauten lassen. Die Gründungsjahre des Instituts und den damaligen Boom der Psychoanalyse beschreibt er mit den Worten: »Die neue Republik lag auf der Couch […] Die Bundesrepublik war der Patient des von den Mitscherlichs geleiteten Sigmund-FreudInstituts. Ein Massenmörder, der dazu gebracht werden musste, sich seiner Taten bewusst zu werden. Ein Massenmörder, den man nicht einsperren konnte […] Man musste ihn, wenn man nicht von ihm umgebracht werden wollte – therapieren« (Widmann, 2010).

Das war ein großes Missverständnis. Und wissenschaftlich gewann auch in den damaligen Jahren (insbesondere im Rahmen des Anfang der 1970er-Jahre gegründeten Arbeitskreises Politische Psychologie) sehr rasch an Boden, was eigentlich schon vorher klar war : dass psychoanalytische Sozialpsychologie nicht einfach eine Verlängerung psychoanalytischer Behandlung in den gesellschaftlichen Raum war. Dass sich dieses Missverständnis dennoch lange und bis heute hielt, hatte mit einem weiterlaufenden »Anwendungsdiskurs« (Reiche, 1995) zu tun, der mit der der stillschweigenden Unterstellung geführt wurde, dass man mit engagierten psychoanalytischen Ausgriffen aus dem klinischen ins soziale Feld sich und der Gesellschaft einen aufklärend-befreierischen Dienst erweisen könnte. Psychoanalytische Sozialpsychologie ergibt sich nicht einfach aus einer Formel, auf deren einer Seite Psychoanalyse unverändert argumentiert und vorgeht, während auf der anderen der Patient nicht mehr der Einzelne Neurotiker, sondern die Gesellschaft ist. Sie ist vielmehr, wenn es sie überhaupt (noch) gibt, eine autonome Teil- oder Zwischendisziplin. Als Teildisziplin kann sie nur zu den Sozialwissenschaften gehören. Und von dieser Zu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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gehörigkeit hat sie wesentlich ihre Identität bezogen. Das heißt, sie verstand sich auf der Grundlage von beziehungsweise als Teil von materialistischer Gesellschaftstheorie, Theorien des kommunikativen Handelns, der Sozialisation. So schlage ich vor, nicht weiter der Tradition einer von Psychoanalytikern unsystematisch betriebenen Sozialpsychologie (— la Freud, Mitscherlich, Richter) zu folgen. Sie hat zum Teil äußerst Wichtiges geleistet, war fruchtbar, hat auch für zahllose Anknüpfungspunkte gesorgt; sie bietet aber nicht die Aussicht, zu einer ernst zu nehmenden, wissenschaftlich qualifizierten sozialpsychologischen Stimme zu werden. Da gab es sicher begabte, ja begnadete Einzeldenker, medizinisch-humanwissenschaftlich exzellent, jedoch sozialwissenschaftliche Laien, die wissenschaftlich-sozialpsychologisch nicht Schule machen konnten. Ihr Modell, so man davon sprechen kann, gehört der Vergangenheit an. Und ich verlege mich darauf, die Zukunft (so es denn eine gibt) psychoanalytischer Sozialpsychologie in der Fortsetzung der von der Frankfurter Schule initiierten Verbindung zu sehen. Die Gegenwart einer in diesem Sinne verstandenen psychoanalytischen politischen Psychologie sehe ich in einem an der »Kritischen Theorie des Subjekts« orientierten Ansatz (Busch, 2001, 2006). Diesen hier näher zu erläutern, würde im Rahmen dieses Beitrags zu weit führen. Daher müssen ein paar Hinweise auf die Vorzüge des von ihm entwickelten Programms genügen. Worin bestehen die Vorzüge dieses Programms? Mit ihm wird psychoanalytisch-sozialpsychologischen Kurzschlüssen wie der mechanistischen Sozialcharakterologie, der irrigen Unterstellung eines gesellschaftlichen Unbewussten ebenso eine Absage erteilt wie einer frühinfantilistischen Reduzierung der Einschätzung sozialer und politischer Akteure. Die Kritische Theorie des Subjekts führt Psychoanalyse und Soziologie sehr reflektiert Schritt für Schritt aufeinander zu und bleibt an den Punkten stehen, an denen eine vorschnelle Vereinigung im Begriff zu unsinnigen Konstruktionen führen würde. Sie orientiert sich an sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, denen sie ihr eigenes Recht lässt. Das heißt, sie nimmt keine blinden psychoanalytischen Übergriffe auf das Terrain von Politik und Gesellschaft vor. Sie ebnet aber eben konzeptuell-terminologisch die Verbin© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dungsbahnen, baut Brücken für einen psychoanalytisch-sozialwissenschaftlichen Grenzverkehr. Das schafft sie, indem sie psychoanalytische Gehalte in terms von Symbol- und Sprachtheorie, von Interaktionstheorie und tiefenhermeneutischer Kulturanalyse zu fassen vermag. So lassen sich soziologische und psychoanalytische Begriffe aufeinander beziehen. Dabei sind auch bestimmte Ebenen auseinanderzuhalten. Gesellschaftliches kann ja nicht4 auf Individuelles einfach heruntergebrochen werden. Wichtig ist dabei zudem, dass der Settingwechsel zwischen psychoanalytischer Behandlung und Sozialpsychologie methodologisch ernst genommen und reflektiert wird und zu einer Unterscheidung der Anlage von Sozialpsychologie führt. Es kann also keineswegs darum gehen, klinische Etikette an sozialpsychologische Befunde zu heften. Allenfalls in eigens dafür entwickelten Begriffsbildungen kann die überindividuelle Ebene analytisch ins Visier genommen werden. Hierfür ist meines Erachtens Freuds Konzept des allgemeinen Unglücks, dem sich der Einzelne gegenübersieht, sowie des davon erzeugten Unbehagens in der Kultur (Freud, 1930), der Prototyp. So wie es nicht um Krankheit und Heilung geht, so gibt es auf gesellschaftsanalytischem Gebiet nicht die Rollenverteilung von Therapeut und Patient. Sozialpsychologie als Sozialtherapie zu verstehen, ist ein fataler Irrtum. Er führt zu einer pädagogisch-politischen Stigmatisierung der in ihrem Bewusstsein Zurückgebliebenen, über die sich in falscher Geste erhoben wird. Politische Psychologie hat aber von nirgendwo her einen Heilungs- oder Bildungsauftrag erhalten, sie will dagegen kritische Stellungnahme ermöglichen und den Subjekten zur Artikulation ihrer Stimme (und nicht nur zur elektoralen Abgabe derselben) verhelfen. Damit hat sie sich aber nicht aufzudrängen, denn sie ist in der Regel nicht gebeten worden. Sie muss und kann allein argumentativ überzeugen. Wird sie in ihrer sozialtherapeutischen Pose zurückgewiesen oder nicht mehr beachtet, so wird das jedoch leider immer wieder mit narzisstisch-nostalgischer Wehmut quittiert und als Kränkung empfunden – eine wirklich unangemessene Reaktion. 4 Wie Reiche (1995) an einer unglücklichen Formulierung Lorenzers (»Mutter = gesellschaftlicher Gesamtarbeiter«) zu Recht kritisierte.

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Psychoanalytische politische Psychologie muss als ernsthafte Wissenschaft damit rechnen, nicht recht zu haben und Argumenten anderer Provenienz recht geben zu müssen. Dies ist zugleich verknüpft mit einer Bescheidung psychoanalytischer Diagnoseansprüche, dem Verzicht auf sozialtherapeutisches Omnipotenzgehabe. Bescheidung psychoanalytischer Zeitdiagnose, für die ich plädiert habe, heißt keinesfalls, den Anspruch auf psychoanalytische zeitkritische Gegenwartsdiagnose fallen zu lassen. Sie darf sich nur nicht beirren lassen, auch nicht von den Ratschlägen wohlgesonnener Gratulanten. Arno Widmann (2010) beendet seinen Geburtstagsartikel in der Frankfurter Rundschau mit den Sätzen: »Die Bundesrepublik ist freier geworden seit damals. Sie ist es immer dann, aber auch immer nur dann, wenn sie bereit ist, sich kritisieren zu lassen. Es geht dabei aber eben nicht nur um die ›Torheit der Regierenden‹, sondern auch um unsere eigene. Man muss den Mut, die Radikalität haben, die Gesellschaft selbst auf die Couch zu legen. Das wäre wieder zu lernen an diesem 50. Geburtstag« (Widmann, 2010).

Die sympathische selbstreflexive Wendung, die so kompromisslos daherkommt, könnte einen fast dazu verleiten, hier vorbehaltlos zuzustimmen. Aber dann ist es doch wieder nur in falscher Verallgemeinerung die Gesellschaft pauschal, die nicht nur wissenschaftlich untersucht, sondern auf die Couch gelegt werden soll. (Das vermag allenfalls das Fernsehen …) Die Fehler, die ich vorhin darlegte, finden sich hier leider allzu deutlich wieder. Wer ist nun dieses »Man« – und wer dann die »Gesellschaft«? Versuchen wir es, um uns nicht unnötig bei der Unbestimmtheit des »Man« aufzuhalten oder in den Strukturen und Systemen der Gesellschaft zu verlieren, mit dem Setzen auf ein autonom handlungsfähiges, demokratisches politisches Subjekt. Mit dessen Zukunft steht und fällt die Existenz einer kritischen politischen Psychologie. Das heißt, Zukunft und Gegenwart beider bedingen sich gegenseitig. Nun gibt die Gegenwart solcher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Subjektivität nicht gerade zu Optimismus Anlass. Auf eine Vertiefung will ich hier zugunsten von Betrachtungen zur Zukunft verzichten. Ich greife jedoch drei Punkte heraus, um an ihnen die Brisanz gegenwärtiger Fragen für die Zukunft des Subjekts (und einer darauf gerichteten psychoanalytischen politischen Psychologie) zu demonstrieren. 1. Mit dem ersten knüpfe ich an das eben vorgetragene Plädoyer für Selbstkritik an; und ich folge dem Bestreben, das »Unbehagen in der Kultur« (Freud, 1930) gegenwartsdiagnostisch für die spätmoderne Gesellschaft fruchtbar zu machen. Freuds in dieser Schrift hinterlegtes, häufig vergessenes, sozialpsychologisches Erbe besteht wesentlich auch im Aufweis der Bedrohung der menschlichen Kultur durch eigene Aggression. Kritische politische Psychologie hat meines Erachtens dementsprechend aktuell die Aufgabe, kritisches Bewusstsein dahingehend zu schärfen, dass es sich der eigenen Aggressivität inne wird. Ich erwähnte zuvor die psychischen Reaktionen auf die aktuellen Krisen. Was bewegt die Molotowcocktail-Werfer bei den im Gefolge der weltweiten Finanzkrise stehenden Unruhen in Athen 2009? Sind die Toten im Inneren der von ihnen getroffenen Bankfiliale lediglich »Kollateralschäden«? Empfinden die (wir) nur vermittelt (über die Medien) Beteiligten »klammheimliche Freude«? Was geht sonst in ihnen / uns vor? Solche Innenschau ist dringend geboten, und auf sie sollte viel Sorgfalt verwendet werden. Ich sage das auch und gerade in politischpsychologischer Perspektive. Ich bin politisch groß geworden in den 1960er-Jahren, in denen man sehr genau wusste beziehungsweise zu wissen glaubte, wer die Bösen, die Schlechten waren: die Nazis, die Amis und die Kapitalisten (und – natürlich die eigenen Eltern, Lehrer). Das stimmte ja auch – mehr, oder weniger. Man war jedenfalls fortschrittlich, emanzipatorisch, wenn man gegen diese Richtungen, Positionen war. Da befand man sich in einem sicheren Hafen – Aggressionen und die Zufügung von Traumata waren das Geschäft der Anderen (die so die Kritik- und Protestmaschine am Laufen hielten). Man schützte sich aber auch vor der Einsicht, dass eigenes bösartiges Aggressivsein nicht durch fortschrittliches politisches Bewusstsein allein ausgeschlossen und überwunden werden kann. – Im Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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genteil, hier kann ein, wie auch das Beispiel der fortschrittlichen Odenwaldschul-Pädagogen zeigt, unschöner, gefährlicher blinder Fleck existieren, der die Aktionen aus richtigem Bewusstsein immer wieder durchkreuzt. Ich denke, das ist etwas, was ein wirklich demokratisches Subjekt künftighin unbedingt beherzigen muss, will es zu einem offenen Umgang mit seinen inneren Kräften und einer souveränen Verwendung seiner Aggression5 gelangen. Das muss zu seiner Zukunft gehören und von einer an seiner Seite stehenden psychoanalytischen politischen Psychologie kompromisslos offenbart werden. 2. Das Problem politischer Apathie ist ein Dauerthema politischer Psychologie und hat insbesondere Klaus Horn von Anfang an (Horn, 1968) beschäftigt. Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass die Bedingungen zu deren Minderung sich keineswegs verbessert haben. Im Gegenteil: Es kann eher von einer Abnahme der Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme autonomer Subjekte und deren Vertretungen gesprochen werden. Allgemein kann man diese Entwicklung mit der Formel »Kontrollverlust der Politik – Kontrollgewinn des Kapitals« (vgl. Heitmeyer, 2010, S. 281 f.) charakterisieren. Im Zuge von Neoliberalismus und Globalisierung wurde auch der Bildungssektor einer Ökonomisierung unterzogen. Ulrich Beck geißelte Auswüchse dieser Tendenz im Hochschulsektor jüngst als »Mc KinseyStalinismus«, der »Netzwerke aus Akkrediteuren, Evaluierern, Bildungsplanern und Bildungsspitzeln« geschaffen habe (Beck, 2010). Generell ist angesichts dieser Entwicklung eine Einschüchterung und Erschöpfung der Subjekte zu verzeichnen. Eine Repolitisierung scheint vielen Autoren zufolge (vgl. z. B. Heitmeyer, 2010) unmöglich. Dieser Prozess schränkt natürlich auch den Spielraum einer kritischen politischen Psychologie ein, auch wenn – wie ich eingangs statuierte – die Frage nach dem Subjekt weiterhin gestellt werden muss. Die Bemühungen, weiterhin Möglichkeiten der »Repolitisierung« von Subjekten aus-

5 Mitscherlich (1977/1983, S. 222 f.) nannte sie »gekonnt« im Gegensatz zur »ungekonnten Aggression«. Zum Thema »Aggression« sozialpsychologisch sehr instruktiv Haubl und Caysa (2007a).

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zuloten, wie es bereits Klaus Horn (1972/1990, S. 101 ff.) betont hatte, müssen fortgesetzt, forciert und aktualisiert werden. 3. Wir sind heute meines Erachtens in einer Phase des zum Posthumanen tendierenden »Konstruktivismus«. Nicht nur liegt hinter uns der Abschnitt, in dem die Gestaltungskraft autonomer Subjekte im Mittelpunkt der Entwicklung der Moderne, der Aufklärung stand. Der naturwissenschaftliche Fortschritt (Bio-, Neurowissenschaften, künstliche Intelligenz …) hat mittlerweile an eine Schwelle geführt, an der der alteuropäische Subjektbegriff auf eine eigentümliche Weise reflexiv zu werden scheint. Jenes alte Subjekt, das sich noch mit Emphase naturrechtlich bestimmte und begründete, scheint obsolet zu werden. Innere Natur wird aus ihrem Medium der Unverfügbarkeit (als einem »Autonomie-Schatz«) herausgeführt und gerät unter den Zugriff und die Kontrolle naturwissenschaftlicher Steuerungsgewalt. Die dem in die Hände spielende Fantasie des modernen Subjekts hat Günther Anders bereits in den 1950er Jahren ausgemacht: Es ist die Scham, nur geboren, nicht gemacht zu sein, die einhergeht mit einer Maschinen-Verehrung/-Religion (»ein Gott, was die kann«, Anders, 1961/1983, S. 28; »Dingpsychologie«, Lütkehaus, 1995). Was das für einen politisch-psychologischen Subjektbegriff in Zukunft heißt, weiß ich nicht. Adornos düstere Einschätzung würde dadurch jedenfalls noch in den Schatten gestellt. Und die Formulierung vom »Veralten der Psychoanalyse« (Marcuse, 1965) bekäme eine ganz andere Dimension. Meine Verunsicherung und Skepsis hinsichtlich einer zukünftigen psychoanalytischen Perspektive von Subjektivität ist, was diesen Punkt betrifft, groß. Die Frage, die bereits Mitscherlich aufwarf, ist von brennender Aktualität: »Es ist sicher keine Überschätzung, von der Gefahr zu sprechen, daß wir auf Verhältnisse zusteuern, in denen wir an unserer erbgenetischen Ausstattung gezielte Veränderungen vornehmen können, Affekte zu dirigieren verstehen, dies alles, um den Menschen in seiner Überzahl gefügig zu machen für reibungslosen Gehorsam. Es können sich Verhältnisse entwickeln, in denen ein kritisches individuelles Ich nur störend wirken könnte. Dann hätte das Übergewicht der Naturtechnik die Technik menschlicher Selbstvervollkommnung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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außer Kurs gesetzt – und zwar als biologisch begründete Potentialität« (Mitscherlich, 1966/1983, S. 289).

Nun aber zu der Frage, ob und wo noch Ansatzpunkte autonomer Subjektivität zu finden sind, die für die Zukunft hoffen lassen. Ich greife dazu ein Buch der Sozialwissenschaftler Leggewie und Welzer auf, »Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klimawandel und die Zukunft der Demokratie« (2009), das sich in erster Linie auf die gerade besonders aktuelle Debatte zum Weltklima beziehungsweise zur Erderwärmung bezieht. Sie fragen sich, warum die Menschen nicht tun, was sie eigentlich wüssten, und wie sie dazu zu bringen seien, es zu tun. Die Antwort, die sie geben, lautet eindeutig, es bedürfe selbstbewusster, reflexiver Subjekte, die auf demokratischem Wege ideenreich, aktiv und in solidarischer Selbstermutigung die politische Umkehr in die Wege leiten würden. Zahlreiche Beispiele von bestehenden Initiativen in dieser Richtung dienen ihnen als hoffnungsvolle Anzeichen. Vor diesen Autoren hatten sich bereits andere, etwa die Sozialwissenschaftler Giddens und Habermas, Gedanken über ökologisches und demokratisches Engagement, die heute erforderlich seien, gemacht. Sie führten zum Konzept der »Lebenspolitik«, von Anthony Giddens (1990) und dem Begriff des »Verfassungspatriotismus« von Jürgen Habermas (1998). In der Bestimmung der psychischen Ausstattung der Subjekte für dieses Unternehmen bleiben sie aber sehr allgemein; psychoanalytische politische Psychologie kann hier Näheres beisteuern. Lebenspolitik (und darin unterscheidet sie sich von klassischemanzipatorischer Politik) hat als Träger ein Subjekt, das sich selbstreflexiv mit seiner Körperlichkeit, den Beziehungen zum anderen Geschlecht, seinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen und darüber stimmig zu kommunizieren vermag. Zugleich kann ein solches Subjekt seine Lebenspraxis im Zusammenhang sehen mit den großen gesellschaftlichen Erfordernissen in Zeiten der Globalisierung von Wirtschaft und Politik: Sicherung und Ausbau demokratischer Strukturen, Entmilitarisierung und Schaffung dauerhaften Friedens, Humanisierung und ökologisch verträgliche Gestaltung von Wirtschaft und Technik, Entwicklung von Alternativen zum System ungebremsten kapitalistischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Wachstums. Im Rahmen dieser Konzeption können seitens einer psychoanalytischen politischen Psychologie die erforderlichen persönlichkeitsstrukturellen Voraussetzungen formuliert werden: a) Konstitutionelle Intoleranz gegenüber dem Krieg und der Schädigung der Umwelt, b) Angsttoleranz / Weltangst, c) Resistenzfähigkeit gegenüber Massenregressionen und Aufrechterhaltung und Verbesserung von Kritikfähigkeit sowie Vorurteilseinsicht. Ich habe an anderer Stelle (Busch, 2001, Kap. IV) ausführlich erläutert, wie ich zu dieser Argumentation, mit der ich an teilweise weniger bekannte Überlegungen psychoanalytischsozialpsychologischer Autoren wie Freud, Mitscherlich, Horn und anderen anknüpfe, komme, und verzichte daher hier darauf. Prägen sich diese Eigenschaften aus, so kommt damit auch ein solidarisches, verfassungspatriotisches, weltbürgerliches Bewusstsein in Reichweite, das den gegenwärtigen, mit der Globalisierung und den damit geschaffenen postnationalen Bedingungen verbundenen Erfordernissen gewachsen ist. Auf die Notwendigkeit eines solchen Bewusstseins, das sich politisch nicht mehr an überkommenen nationalstaatlichen Gebilden orientiert, sondern eine demokratisch verfasste übernationale Ordnung wie etwa die EU oder die UN im Auge hat, hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas Ende des vergangenen Jahrhunderts aufmerksam gemacht (vgl. Habermas, 1998, S. 7.). Sozialpsychologisch beziehungsweise politisch-psychologisch ist zu klären, wie das einzelne Bewusstsein zur gehobenen Haltung des Verfassungspatriotismus, gar zu der erhabenen Größe eines moralisch geläuterten Selbstverständnisses kosmopolitischer Solidarität gelangt und wie es die Enttäuschungen, die der Globalisierungsprozess mit sich bringt, ohne in Neonationalismus und Apathie abzugleiten, übersteht. Denn dies ist eine Aufgabe, der sich eine demokratisch orientierte Persönlichkeit heute in besonderem Maße gegenübersieht. Auch hier muss erneut betont werden, dass es sich dabei nicht um eine Frage bloßen Lernens, einer optimalen Anpassung handelt. Um die psychischen Voraussetzungen eines demokratischen Bewusstseins zu erwerben, bedarf es eines gewissen Sozialisationsklimas, eben einer »Affektbildung« (Mitscherlich, 1963). Schon der Begriff selbst gibt darauf einen Hinweis; denn eine gewisse Emotion, etwas Feier© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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liches, schwingt, ist vom Patriotismus die Rede, immer mit. Zwar kann vom damit ursprünglich implizierten Gefühl, sich dem eigenen Staat freudig in der Schlacht zu opfern, heutzutage nicht mehr die Rede sein; doch auch Verfassungspatriotismus kann, jenseits rein rationaler Begründungen auf eine gewisse Begeisterung an der Sache nicht verzichten (Sternberger, 1982; Schmid, 1993). Denn ohne Schwung, etwas Mitreißendes, kommt er nicht aus. Verfassungspatriotismus ist eine hochmoralische innere Einstellung, die nicht leicht zu erringen ist. Sie basiert auf der moralischen Fähigkeit, allgemeine Werte höher zu schätzen als die bestimmter Interessengruppen, beispielsweise Nationen oder Unternehmen. Sie setzt voraus, sich von konventionellen Moralvorstellungen freimachen zu können und Neues, zum Beispiel andere Perspektiven, vorurteilslos in Betracht ziehen zu können und sich für deren Geltung einzusetzen. Es ist ganz klar, dass es nur einer dementsprechend sozialisierten, geläuterten Persönlichkeit möglich ist, die hierfür notwendigen Eigenschaften wie Begeisterung, Besonnenheit, Gleichmut, Unbeirrbarkeit und Weitblick aufzubringen, ohne sich von Partikularinteressen und kurzsichtigem, emotionsgeladenem Denken bestimmen zu lassen. Das kann sie nur, wenn die genannten psychodynamischen Bedingungen erfüllt sind. Gerade die Frage des Patriotismus berührt aufs Engste unsere Identität. Menschliche Individuen sind Teil von oder schließen sich sozialen Gruppen- oder Groß-Identitäten (Kirchen, Nationen …) an und fügen sich in sie ein. Und sie beziehen von dorther einen Gutteil ihrer Identität, als Bewohner einer bestimmten Stadt, Deutscher, Europäer, Christ usw. Mit der Einstellung des Verfassungspatriotismus werden diese herkömmlichen Identitäten aber – ohne aufgegeben werden zu müssen – gerade zugunsten einer weltweiten (universalistischen) Gattungsidentität überwunden. Das ist ein unter dem heute so gängigen Schlagwort der Globalisierung allzu unberücksichtigter Aspekt. Schon Freud hatte ja einen solchen »Kulturweltbürger« im Blick. Mit einer derartigen universalistischen Identität ist eines gerade nicht gemeint: dass der Einzelne in den Groß-Identitäten einfach aufgeht. Im Gegenteil: Die Identität einer demokratischen Persönlichkeit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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bewegt sich in einer ausgewogenen Balance zwischen dem Verfolgen einer individuellen Biografie und den Belangen des Großen und Ganzen. Sie hat stets zwei Seiten, zwischen denen sie ihren Kurs suchen muss – personale und soziale Identität. Bei aller Flexibilität und Kompetenz, deren es hierfür bedarf, muss aber klar sein, dass Identität gleichzeitig nicht ohne eine tiefgreifende Bindungserfahrung auskommen kann.6 Sie wird, gleichsam als biografische Wegzehrung, in den frühesten ElternKind-Beziehungen durch das Erleben warmer, hingebungsvoller Zuwendung erworben. Und sie sorgt, wie A. Mitscherlich (1965, S. 124 – 125) betonte, für die nötige Beheimatung in der Welt, die uns überhaupt gestattet, Liebe zu den Menschen und Dingen aufzubringen. Jede demokratische Beteiligung hat hier ihre Wurzel. Sicher kann man weiterhin skeptisch sein, ob die gerade erwogenen Tendenzen sich wirklich durchsetzen können. Ich bin es auch. Hat sich nicht die vielbeklagte politische Apathie in unserer Massendemokratie schon unausrottbar breit gemacht? Passt sie nicht auch bestens zum Befund des »erschöpften Selbst« (Ehrenberg, 1998) unter den Vorzeichen von Neoliberalismus und Globalisierung? Dafür mag viel sprechen; doch es hindert uns nicht an unserem Engagement, der »Stimme des Intellekts« (Freud, 1927) zu helfen, sich gegen das Geflecht der Illusionen, Ideologien und bedrückenden Schuldgefühle durchzusetzen. Die Stimme des Intellekts lässt sich davon nicht blenden. Sie gibt sich auch nicht mit dem Unbehagen in der Kultur zufrieden und erträgt es geduldig, sondern stellt sich ihm, hat gewissermaßen ein »Unbehagen mit dem Unbehagen«. Seit je waren es in der Geschichte kritische Geister, die Unbehagen mit dem Unbehagen empfanden, zu grüblerischer Melancholie neigten. Leider blieb diese Melancholie, wie die schöne Studie von Wolf Lepenies (1969) zeigt, zumeist in der für sie ja charakteristischen Handlungshemmung stecken. Aber die intellektuelle Auseinandersetzung bildet zugleich auch den ersten Schritt, der aus ihr herauszuführen vermag (s. auch Haubl u. Caysa, 2007b, S. 129), den 6 Urvertrauen ist, wie der Psychoanalytiker Erikson (1971) klar gemacht hat, die Substanz, ohne die Identität sich nicht ausprägen würde.

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Keim politischer Stellungnahme enthält. Die demokratiepsychologische Gefahr des erschöpften Selbst ist erst gebannt, wenn die Einzelnen den Weg zum schöpferischen Subjekt zu finden vermögen. Dies weiß seine Melancholie in ihrer Tiefe zu erleben und aus ihr zugleich die Kraft zu politischem Handeln zu nehmen.7 Konstruktive Melancholie – so würde ich nunmehr argumentieren – wird in der Moderne zunehmend zu einem erwünschten beziehungsweise erforderlichen Lebensgefühl, das sich vor dem Abgleiten in Depression bewahrt und davor zu bewahren ist; sie ist somit konstitutiv für die Bildung eines demokratischen Subjekts. Eine so gewendete Melancholie erlaubt, Lust und Leid miteinander vermittelt zu erleben und – vor allem – erleben zu können. Auch dieses Lebensgefühl, das sich durch einen offenen und entspannten Umgang mit Unbehagen in der Kultur auszeichnet, kann beeinträchtigt sein, durch innere Unzulänglichkeit oder durch antimelancholische soziale Strategien. In solcher Beeinträchtigung besteht die Gefahr der Depression; und die Tatsache ihrer Zunahme heutzutage hat sicher damit zu tun. Mögen nun Intellektuelle, nicht zuletzt Künstler, privilegierter gesellschaftlicher Träger solcher Melancholie sein, so ist sie doch dem Alltagsbewusstsein generell eigen. Innehalten, Reflektieren, Entschleunigen, Leiden, Mitleiden, Leidenschaft sind begrüßenswerte Ingredienzien einer melancholischen Persönlichkeitsfärbung, die sich nicht in dumpfer Apathie und stumpfer Depression verschließt, sondern immer wieder Anläufe kritischen politischen Engagements gestattet. Für die Zukunft unseres Planeten und einer humanen Lebensform ist diese Affektbildung unerlässlich.

7

In diesem Sinne argumentiert offensichtlich auch Butler (1997). Sie erachtet das biografisch unausweichliche Triebschicksal des Objektverlusts als geradezu konstitutiv für die Formung des Subjekts, durch das die Melancholie zu seinem lebenslangen Begleiter wird. Zugleich liegt in dieser Melancholie, und nur in ihr, der Keim der Auflehnung des Subjekts gegen die Macht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Der Mythos des »Clash of Civilizations« zwischen Politischer Philosophie und Psychoanalyse

Der Gebrauch der (Psycho-)Analyse In ihrer erkenntnistheoretischen und wissenschaftssoziologischen Abhandlung zu Grundproblemen qualitativer Sozialforschung gebraucht die Frankfurter Soziologin und Politologin Karin Schlücker eine interessante Formulierung für den möglichen Beitrag der Psychoanalyse in diesem Feld: Freud habe den Sozial- und Kulturwissenschaften ein doppeltes Angebot gemacht (Schlücker, 2008, S. 305), indem er die Psychoanalyse sowohl als (theoretische) Lehre vom Unbewussten als auch als Forschungsmittel (Methode) zur Analyse kultureller Phänomene empfahl. Die Passage, in der dieses Angebot formuliert wird, wird gerne und oft herangezogen, wenn es darum geht, über die Bedeutung der Psychoanalyse für andere Wissenschaften nachzudenken beziehungsweise diese zu begründen. Sie endet mit der viel zitierten Formulierung: »Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, dass sie nicht die wichtigste ist« (Freud, 1926, S. 339).

85 Jahre nach dem Erscheinen dieses Texts ist die therapeutische Anwendung der Psychoanalyse ohne Zweifel »die wichtigste« geblieben. Dennoch blieb Freuds Angebot nicht völlig ungehört und es haben sich seither in verschiedenen Kontexten zahlreiche Verbindungslinien zwischen der Psychoanalyse und anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Denktraditionen entwickelt. Es würde den Rahmen sprengen, auf solche Weiterent© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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wicklungen und die wechselhafte Geschichte dieser nichtklinischen Anwendungen der Psychoanalyse genauer einzugehen. Vielmehr soll hier der weitaus bescheidenere Versuch unternommen werden, an einem aktuellen Beispiel über die mögliche Verbindung zwischen zeitgenössischer politischer Philosophie und der Psychoanalyse nachzudenken. Dazu wird es notwendig sein, zuerst einen Blick auf das Selbstverständnis zeitgenössischer politischer Philosophie zu werfen. Anschließend werden die Konzepte politischer Mythos und soziales beziehungsweise gesellschaftliches Unbewusstes erläutert. Schließlich werden diese beiden Konzepte dann auf ein aktuelles Beispiel, den Mythos des »Clash of Civilizations« angewandt. Dieser Mythos scheint insgesamt weltweit eine große Verbreitung gefunden zu haben, erfährt jedoch in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten unterschiedliche Akzentuierungen. Daher lohnt sich ein genauerer Blick auf eine solche spezifische Variante, nämlich die Beschwörung der jüdisch-christlichen Tradition in Deutschland. Diese lässt sich indirekt in den Debatten um den Sekundärstolz auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung finden und direkt am Beispiel der Reaktionen auf die Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff zum 3. Oktober 2010, dem 20. Jahrestag der »Deutschen Einheit«.

Will die zeitgenössische politische Philosophie überhaupt noch etwas mit der Psychoanalyse zu tun haben? Zunächst ist es notwendig, einige Bemerkungen zur zeitgenössischen politischen Philosophie voranzustellen. Diese sieht meistens ihre zentrale Aufgabe darin, Modelle normativer Ordnungen herauszuarbeiten (siehe dazu Miller, 2003; Pettit, 2007). Politik wird dabei primär als eine Aktivität verstanden, die von autonomen, rationalen Akteuren ausgeht. Zum Beispiel kann man feststellen, dass die beiden vermutlich einflussreichsten Arbeiten der politischen Philosophie der letzten 50 Jahre, John Rawls’ »Theory of Justice« und Habermas’ »Faktizität und Geltung«, von rationalen Akteuren ausgehen. In diesen Arbeiten ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Politik eine Aktivität, die von rationalen Prozeduren gesteuert werden kann – und sollte. Man könnte hier freilich sofort einwenden, dass doch für jeden ersichtlich ist, dass Politik in ihrer alltäglichen Praxis weit davon entfernt scheint, rational zu sein und dass Menschen generell weit entfernt davon sind, rationale Wesen zu sein. Aber diesem Einwand wird in der Regel damit begegnet, dass es eben nicht Ziel der politischen Philosophie sei, die Dinge so zu beschreiben, wie sie sind, sondern so, wie sie sein sollten. Sehr zum Erstaunen all jener, die denken, das politische Philosophie etwas mit konkreter Politik zu tun hat, hat Philip Pettit bemerkt, dass es aus Perspektive der analytischen politischen Philosophie besser ist, nichts mit der realen Welt zu tun haben (Pettit, 2007, S. 6). Wenn es das Ziel der Disziplin ist, perfekte Modelle und Argumente zu konstruieren, dann gelingt dieses Ziel natürlich am besten, wenn man sich von der nie perfekten, konkreten, Realität entfernt. Es scheint so, als würde diese Annahme oder dieses Bild vom Menschen als primär rationales Wesen auch in einigen der Ansätze der Politischen Philosophie geteilt, die sich selbst in der Tradition der Frankfurter Schule verorten wie etwa der späte Habermas und in jüngerer Zeit Rainer Forst. Statt Hegel, Marx und Freud ist Kant zu einer neuen Schlüsselfigur in den Debatten zeitgenössischer Politischer Philosophie geworden und dies hat weitreichende konzeptionelle Folgen: Menschen werden nun nicht mehr primär als ökonomisch-psychologischen Trieben unterworfene Subjekte gesehen, sondern wie autonome und rationale Wesen, gemäß Kants Perspektive »Du sollst, dann kannst du auch«. In diesem Verständnis der Disziplin hätte die Verbindung zwischen Psychoanalyse und politischer Philosophie wenig Aussicht auf Erfolg. Es erschiene dann weitaus fruchtbarer, psychoanalytisches Denken mit der Soziologie, den Geschichtswissenschaften oder auch der Politikwissenschaft zu verknüpfen, eben jenen Disziplinen, die sich damit beschäftigen, wie Politik tatsächlich im realen Leben stattfindet. Aber es gibt noch ein anderes Verständnis von politischer Philosophie: Es ist zumindest eine relevante Minderheit, die sich für Politik und die Bedingungen ihrer Möglichkeit interessiert und es somit als Ziel der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Disziplin sieht, Unterdrückungsmechanismen aufzuzeigen und die Bedingungen ihrer Überwindung zu analysieren. Die Methode der Disziplin ist dann nicht die Konstruktion perfekter Modelle und Argumente, sondern eine kritische Zeitdiagnose innerhalb einer multidisziplinären Perspektive. Diese »Ehe« zwischen politischer Philosophie und Psychoanalyse würde jedoch ein verändertes, komplexeres Verständnis vom Menschen und von der Politik bedeuten. Mit diesem Verständnis können politische Phänomene jenseits des Rationalen, wie die Bedeutung und Wirkungsweise politischer Mythen besser verstanden werden, so wie dies im vorliegenden Text am Beispiel des Mythos des »Clash of Civilizations« zwischen Islam und dem Westen versucht wird.

Politische Mythen, soziales und gesellschaftliches Unbewusstes Vorher muss jedoch noch geklärt werden, was hier unter politischem Mythos verstanden werden soll und warum es für dieses Verständnis fruchtbar oder sogar notwendig ist, die psychoanalytische Vorstellung von einem sozialen und gesellschaftlichen Unbewussten zu integrieren. Was ist ein Mythos? Sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch in diskursiven – politischen – Kämpfen wird der Ausdruck »Mythos« oft gebraucht, um Argumente und Rhetoriken des jeweiligen Gegenübers zu delegitimieren. Häufig wird dann die Formulierung verwandt, dass es sich bei einer als Argument genutzten Erzählung »nur um einen Mythos« handele, und es wird damit die Vorstellung vermittelt, dass ein Mythos sich vor allem durch mangelnden Wahrheitsgehalt auszeichne. Zugleich wird häufig suggeriert, dass Mythen oder das Mythische eher in früheren Epochen zu verorten seien und in unserer aufgeklärten Gegenwart eigentlich keine große Relevanz mehr haben. Das hier verwendete Verständnis von politischem Mythos unterscheidet sich ganz wesentlich von diesen beiden Vorstellungen beziehungsweise Verwendungsweisen: Ein Mythos kann zwar als eine besondere Form einer Erzählung verstanden wer© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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den, jedoch ist das zentrale Unterscheidungskriterium nicht der fehlende oder vorhandene Wahrheitsgehalt, sondern die Funktion, die die Erzählung für eine soziale Gemeinschaft erfüllt. Dem wiederum liegt ein bestimmtes philosophisches Menschenbild zu Grunde: »Menschen brauchen Bedeutung, um die Welt, in der sie leben, zu bewältigen, zugleich aber auch Bedeutsamkeit, um in einer Welt zu leben, die ihnen weniger gleichgültig ist« (Bottici, 2007, Klappentext, Übersetzung A. K.). Ein politischer Mythos ist somit eine Erzählung, die sowohl dieses Bedürfnis nach Bedeutung (meaning) als auch nach Bedeutsamkeit (significance) nicht nur für ein Individuum, sondern für eine soziale Gruppe besonders gut zu erfüllen vermag. Dabei bleibt die mythische Erzählung keineswegs konstant, sondern das Interessante am politischen Mythos ist das, was man in Anlehnung an Blumenberg (1979) die Arbeit am Mythos nennen könnte. Wenn der Mythos in sich verändernden historischen und kulturellen Kontexten wirksam bleiben soll, dann muss er zu den jeweils aktuellen Bedürfnissen passend umbesetzt werden. Mythos ist in diesem Sinne immer als Prozess zu verstehen. Wichtig ist dabei auch der Hinweis von Gramsci (1996), dass Mythen kein Blatt Papier (pezzo di carta) sind, dass es also nicht nur um aufgeschriebene Geschichten geht, sondern auch um Bilder, Symbole oder Ikonen als geronnener oder verdichteter Ausdruck eines Mythos. Die Verbindung zwischen Psychoanalyse und Philosophie ist hier klar. Denn bereits bei Freud ist ein Symbol ein manifestes Zeichen eines latenten, unbewusst wirksamen Inhalts. Dieser latente Inhalt oder Sinn drückt sich in einem symbolischen Code aus, der in Träumen, Folklore, Mythen oder Legenden auftaucht. Da dieser Gedanke eines unbewussten, symbolischen Sinns in kulturellen Produkten für Freuds Zeitgenossen neu und (auch, aber nicht nur, wegen der damals so extrem tabuisierten sexuellen Bedeutungen) provokativ war, hat Freud selbst sich vor allem darauf konzentriert, gemeinsame, universelle und konstante Bedeutungen herauszuarbeiten, um so seine These überhaupt zu untermauern und zu verteidigen. Diese Frage oder Suche nach universellen unbewussten Motiven ist für die Psychoanalyse bis heute relevant, wie sich in kulturvergleichenden

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Untersuchungen oder in der Auseinandersetzung mit interkultureller Psychotherapie zeigt (Hörter, 2011). Im diesem Beitrag geht es allerdings gerade nicht um die universellen Symbole, sondern es interessieren vielmehr gerade die Unterschiede zwischen Gesellschaften und der Wandel solcher symbolischer Bedeutungen innerhalb einer Gesellschaft. In diesem Sinne sprechen wir bewusst nicht vom kollektiven, sondern vom sozialen Unbewussten, das in sozialen und gesellschaftlichen Prozessen hergestellt wird. Diese Prozesse hat der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim treffend als die »gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit« bezeichnet (Erdheim, 1982). Erdheim reagiert mit dieser Formulierung auf die Kritik an einer vereinfachten Anwendung psychoanalytischer Begriffe auf Gesellschaften. Wie unten noch genauer erläutert wird, geht es beim gesellschaftlich Unbewussten eben nicht um eine Entität, die eine Gesellschaft in Analogie zu einem Individuum »hat«, sondern um das Ergebnis eines sozialen Herstellungsprozesses. Ganz ähnlich klingt es auch in Fromms Verständnis von sozialem Unbewussten, das er in einem Buch mit dem programmatischen Untertitel »My Encounter with Marx and Freud« folgendermaßen auf den Punkt bringt: »[…]was jeweils unbewusst und was bewusst ist, hängt von der Gesellschaftsform ab und den entsprechenden Gefühls- und Denkstrukturen, die von einer Gesellschaftsform produziert werden« (Fromm, 2001, S. 128, Übersetzung A. K.). Damit haben Fromm (und später Erdheim und andere Ethnopsychoanalytiker) Freuds Einsichten über das unbewusste Leben der Psyche mit Marx’ Beobachtung verknüpft, dass die Gesellschaftsform das Bewusstsein bestimmt. In einer aktuelleren Lesart verwendet der Psychoanalytiker Earl Hopper (2003) ebenfalls den Begriff »soziales Unbewusstes« und drückt sich so aus: Das Konzept des sozialen Unbewussten bezieht sich auf die Existenz und auf die Zwänge, die von sozialen, kulturellen und kommunikativen Arrangments ausgehen, die für die Beteiligten jedoch unbewusst bleiben: Unbewusst bleiben sie insofern, als sie entweder erst gar nicht als Arrangement wahrgenommen (und in diesem Sinne nicht »gewußt« werden) und, falls sie wahrgenommen werden, nicht als solche anerkannt (das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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heißt verleugnet). Selbst wenn sie anerkannt werden können, werden sie nicht als »problematisch«, sondern als »gegeben« hingenommen und selbst wenn sie dann sogar als problematisch wahrgenommen werden können, werden sie nicht mit einem optimalen Maß an Distanz (detachment) und Objektivität beurteilt. Hopper betont in diesem Zusammenhang, dass mit diesen sozial unbewussten Zwängen nicht nur Zwänge im Sinne von Hemmung oder Begrenzung gemeint seien, sondern auch die positive Seite wie die Fördeurng, Entwicklung oder auch Umwandlung von Sinneseindrücken in Gefühle (vgl. Hopper, 2003, S. 127). Hopper benutzt in dieser Definition eine Art Abstufung unterschiedlicher Grade von Unbewusstheit, wenn er zwischen Arrangements unterscheidet, die man gar nicht erst wahrnimmt, verleugnet oder als gegeben hinnimmt. Generell scheint es uns sinnvoll, zwischen einer stärkeren und einer schwächeren Lesart des sozialen Unbewussten zu unterscheiden. Während Hopper eher vorbewusste oder teilweise unbewusste Dimensionen in den Blick nimmt, geht es bei Fromm und Erdheim um die Idee, dass bestimmte Gedanken und Gefühle sich nicht einfach nur ablagern, sondern dass sie aus gutem Grund nicht mehr dem Bewusstsein zugänglich sind: Das Unbewusste ist dann Ergebnis von sozial geteilten Abwehrmechanismen. Für den politischen Mythos bedeutet dies, das immer nach der psychologischen Funktion zu fragen ist, die er hat: Warum ist es besser, angenehmer, erträglicher – mithin funktional –, bestimmte Phänomene so und nicht anders wahrzunehmen? Welche Bedürfnisse werden damit erfüllt, was kann abgewehrt, was kann libidinös besetzt werden? Für diese Denkbewegung scheint dann wiederum die starke Lesart von Mario Erdheim am fruchtbarsten. Zentral ist bei ihm der Gedanke, dass der Widerstand gegen Herrschaft unbewusst gemacht werden muss, genau genommen, die Aggression, »welche sich gegen die ihre Macht ausdehnende Herrschaft richtete. Durch die Unbewußtmachung sollte verhindert werden, daß das durch die Machtträger hervorgerufene Anwachsen des Aggressionspotentials der Beherrschten in Kritik und aktiven Widerstand umschlagen konnte« (Erdheim, 1982, XIV). Im Detail von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Erdheims Analysen wird später deutlich, dass die »Produktion« als viele einzelne kleine Produktionen gedacht werden muss, in denen Subjekte in der Auseinandersetzung mit ihrer Kultur (konkret: mit Eltern, Lehrern, Vorbildern) ein spezifisches ÜberIch/Ich-Ideal beziehungsweise Unbewusstes erwerben. In Anlehnung an Freud formuliert er später : »Jede Kultur gestattet gewissen Phantasien, Trieben und anderen Manifestationen des Psychischen den Zutritt ins Bewußtsein und verlangt, dass andere verdrängt werden. Unbewusst muß all das werden, was die Stabilität der Kultur bedroht. Mit Freud können wir annehmen, dass es sich dabei um bestimmte libidinöse und aggressive Strebungen handeln wird, die von der Gesellschaft geächtet werden« (Erdheim, 1982, S. 221, Hervorh. v. d. Verf.).

Mit diesem Verständnis von Unbewusstheit lässt sich dann näher erläutern, wie Ikonen und politische Mythen operieren (vgl. Bottici u. Challand, 2010). Eine Ikone ist in diesem Verständnis ein Bild, das mittels einer Synekdoche die gesamte dahinter liegende »Arbeit am Mythos« enthält (Bottici, 2007). Aufgrund der wachsenden Rolle, welche die Medien in der alltäglichen und insbesondere politischen Lebenswelt spielen, werden wir mit einer immer un(er)fassbareren Anzahl an Ikonen konfrontiert. Roland Barthes hat bereits 1972 darauf hingewiesen, dass sich »politische Mythen« bereits mittels kleinster Referenzen, Bilder oder Losungen übermitteln. Ist der politische Mythos unbewusst geworden, ist es schwer, ihn wieder sichtbar und verstehbar zu machen.

Ein Beispiel: Der Mythos des »Clash of Civilizations« Während die politische Philosophie nun weiter an ihren abstrakten normativen Modellen arbeitet, geht die Welt ihre eigenen Wege. Zwar scheint die Globalisierung einerseits die Welt zu einen, jedoch taucht zugleich eine massive Trennung zwischen »uns« und »denen« wieder auf. Untersuchungen in unterschiedlichen Gegenden dieser Welt zeigen, dass immer mehr Menschen an einen »Clash of Civilizations« glauben. Wie den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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meisten bekannt sein dürfte, wurde dieser Begriff von dem Politikwissenschaftler Samuel Huntington eingeführt. Seine These wurde zwar von sehr vielen als zu einfach und wissenschaftlich naiv kritisiert, nichtsdestotrotz entwickelte sich diese Vorstellung eines »Clash« gerade nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu einem unglaublich wirkmächtigen Bild, zu einer weit verbreiteten Art, die Welt zu betrachten und vor allem auch zu fühlen. Medienanalysen in den USA und in Europa zeigen, dass diese Idee des »Clash« das zentrale Interpretationsmuster in der medialen Darstellung der Terroranschläge gewesen ist. Offensichtlich ist es diesem naiven, simplifizierenden Modell gelungen, zu einem erfolgreichen politischen Mythos zu werden. Wie war das möglich? Huntington hatte ganz offensichtlich etwas aufgegriffen, was bereits im Entstehen oder sogar schon da war, und hat dafür gewissermaßen den »psychologisch richtigen« Namen gefunden. Wir verwenden bewusst auch hier in der Übersetzung den englischen Ausdruck »Clash«, der sich für diesen Teil der Arbeit am Mythos offenbar so besonders gut eignete. Man könnte es vielleicht sogar so radikal ausdrücken: Als die Flugzeuge in das World Trade Center flogen, waren viele Menschen unbewusst schon darauf vorbereitet, dass so etwas passieren kann; jedenfalls war es äußerst nahe liegend, dieses Ereignis dann auf der Folie eines »Clash of Civilizations« zu interpretieren und weniger darüber nachzudenken, welche komplexen Motive die Akteure zu so einer Tat gebracht haben mögen. Wie lässt sich die Arbeit am Mythos in diesem konkreten Fall genauer analysieren? Ganz offensichtlich spielen und spielten für diesen Mythos intellektuelle beziehungsweise wissenschaftliche Diskurse eine zentrale Rolle. So hat die spezialisierte Literatur über den Nahen Osten die islamische Welt schon immer als eine fundamental andere Welt porträtiert und den Islam als eine Religion, die inhärent fanatisch und unvereinbar mit der Moderne sei. Bereits 1978 hat der Literaturwissenschaftler Edward Said für diese Mechanismen den Begriff des Orientalismus geprägt und an Foucault anknüpfend herausgearbeitet, wie der Orient nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in Literatur, Kunst und Musik immer als Gegenbild des Westens konstruiert © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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wird. Vielschichtige Erfahrungen von Hunderten Millionen Muslimen in völlig unterschiedlichen soziokulturellen und geografischen Kontexten werden zu einem einheitlichen, unveränderlichen Block. Beispiele für den sozialwissenschaftlichen Orientalismus sind die Diskurse über »the Arab mind« (Patai, 1973) oder über den per se gewalttätigen Islam (Pipes, 1983).

Abbildung 1: Le Figaro, 26. Oktober 1985

Der Mythos des »Clash« existiert jedoch nicht nur im Westen. In vielen arabischen und nahöstlichen Quellen lassen sich analoge verzerrte Darstellungen des Westens finden, die mit dem Konzept des Okzidentalismus begriffen werden können (Bottici u. Challand, 2010). So wird der Westen etwa von den iranischen Intellektuellen Ali Shariati und Muhammad Taleqani oder dem Ägypter Sayyd Qutb als Götzen verehrend, materialistisch und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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imperialistisch einem spirituellen Osten gegenübergestellt, der vom Islam geprägt sei. Es wird eine Dichotomie hergestellt, zwischen der gottgefälligen Kultur des Islam und der Kultur einer neuen jahiliyya, die nur an körperlichen Bedürfnissen wie Essen und Sex orientiert sei und den Menschen so zum Tier degradiere. Intellektuelle Diskurse allein machen jedoch noch keinen wirkmächtigen politischen Mythos. Eine Arbeit am Mythos entsteht erst, wenn auch auf einem vor- und unbewussten Niveau etwas dazu kommt oder der Diskurs an Vor- und Unbewusstes anknüpfen kann. Ikonen und die mit ihnen transportierte Bedeusamkeit spielen dabei eine ganz entscheidende Rolle, wie man etwa am Beispiel der »Marianne voil¦e« (Abbildung 1) sehr gut sehen kann. Diese Ikone ist eine der einflussreichsten französischen Ikonen zum »Clash of Civilizations«. Für einen Außenstehenden mag auf dem Bild einfach nur eine Frau mit nackter Brust und Kopftuch zu sehen sein. Für einen Franzosen oder eine Französin unserer Zeit evoziert dieses Bild jedoch viel mehr. Die attraktive Marianne mit der unbedeckten Brust ist ein Symbol, das aus der Französischen Revolution kommt, es symbolisiert damit die republikanischen Werte wie Freiheit, Laizismus und Antitraditionalismus. Im Gegensatz dazu wird das Kopftuch beziehungsweise der Schleier mit der Unterwerfung oder direkt der Unterdrückung von Frauen in Verbindung gebracht. Wir haben also auf der einen Seite Tradition und Unterdrückung und auf der anderen Freiheit und Modernität. Nach dem hier vertretenden Verständnis von verdichtetem Mythos kann man sich die Wirkungsweise einer solchen Ikone wie folgt vorstellen: Bei der Betrachtung dieses Bildes verwandeln sich die Sinneseindrücke (die Wahrnehmung der Formen, Farben und Zeichen) in Gefühle – Gefühle der Unvereinbarkeit von »clashing worlds« und der Angst. Diese Interpretation wird noch plausibler durch den Kontext, aus dem das Bild stammt. Es wurde erstmals 1986 auf dem Titelblatt der bekannten Zeitschrift »Le Figaro« publiziert. Das Bild sollte ein Dossier über arabische Einwanderung nach Frankreich illustrieren, das den Titel trug: »Werden wir in 30 Jahren noch Franzosen sein?«. Auch der Text arbeitete somit mit der Vorstellung, dass die französische Identität sich in muslimischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Traditionen auflösen könnte. Diese Ikone ist ein Beispiel für die Hopper’sche Lesart des sozialen Unbewussten, denn es geht um etwas, das nicht im engeren Sinne unbewusst ist, sondern »taken as problematic, [but] not considered with an optimal degree of detachment and objectivity« (Hopper, 2003, S. 127). Immerhin scheint die französische Identität heute, 25 Jahre später, weit entfernt von einer Auflösung. Die Ikone spielt mit dem Kontrast zwischen Schleier und Marianne, suggeriert dadurch die Unvereinbarkeit und vermittelt so den Mythos des »Clash of Civilizations« weitaus wirkmächtiger als jede intellektuelle Aussage das könnte. Nach dem 11. September 2001 waren solche Ikonen der islamischen Bedrohung ein typischer Ort für die »Arbeit am Mythos«. So lassen sich etwa weitere Beispiele in der direkt nach dem 11. September 2001 in der »New York Times« veröffentlichten Artikelserie »A nation challenged« finden (Abrahamian, 2003). Die Artikel hatten oft so paranoide Titel wie »Yes, this is about Islam«, »Barbarians at the Gates«, »The age of Muslim wars«, und wurden von entsprechenden Bildern begleitet. Zu dem letzten Artikel der Serie erschien dann beispielsweise ein Bild mit Grausamkeiten aus dem mittelalterlichen Europa (Sullivan, 2001). Bezüge zu den mittelalterlichen Kreuzzügen sind weder in den westlichen noch in den östlichen Quellen ungewöhnlich. So wurden die Kreuzzüge zu einem besonders interessanten Beispiel des Clash-Mythos, weil sie auf beiden Seiten fast analog benutzt werden. Von einem Spezialgebiet für Historiker wurden die Kreuzzüge zu einem verbreiteten Konsumgut, es gab Ausstellungen, Filme usw. In Al-Quaida-Quellen finden sich immer wieder Bezüge zu einem Kreuzzug, den westliche Mächte im Dienste des Zionismus im Nahen Osten durchführen (Bottici u. Challand, 2010, Kap. 5). Auf der anderen Seite wurde beispielsweise in der bekannten Zeitschrift »Foreign Affairs« in einem der zentralen Artikel nach 9/11 argumentiert, dass die wirklichen Wurzeln der Terroranschläge im Arabien des 17. Jahrhundert, den Kreuzzügen, der mongolischen Invasion und dem Niedergang des Kalifats liegen würden (Doran, 2002). Dies ist umso bemerkenswerter, als in der Zeitschrift vorher eine sehr kritische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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und differenzierte Auseinandersetzung mit Huntingtons These stattgefunden hatte. Verknüpft man nun diese Analyse mit dem skizzierten Verständnis des sozialen Unbewussten, dann muss man sich an dieser Stelle fragen, welche Funktion die Anrufung des Mythos hier hat: Was muss an dieser Stelle unbewusst gemacht werden, was darf nicht zur Sprache kommen? Viele Zeitgenossen haben nach 9/11 eher intuitiv als analysierend von einem kollektiven Trauma der USA gesprochen (vgl. Kühner, 2003). Auch wenn diese Begriffskombination als wissenschaftliches Konzept streitbar ist, so verweist seine mannigfaltige Verwendung in diesem Kontext doch auf die vermutlich treffende Einschätzung, dass die Ereignisse das Selbstverständnis der USA zutiefst erschüttert und unerträgliche Angst ausgelöst haben (vgl. Kühner, 2008). Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit möglichen Ursachen war in dieser Atmosphäre lange Zeit kaum möglich und der Bezug auf den Clash-Mythos konnte hier wohl mehrfach beruhigen: »Wir können es erklären, es hat nichts mit uns zu tun, wir sind auf keinen Fall schuld und eigentlich war es gar nicht so unerwartet.« Die dargestellten Phänomene wirkten sich sehr direkt auf die Sprache der Politiker aus und das ist es, was Bottici und Challand »Politik des Mythos« nennen (Bottici u. Challand, 2010). So hat sich zwar der damalige Präsident Bush auf der Ebene der manifesten Aussagen von der These des »Clash« distanziert, jedoch gebrauchte er von Anfang an den Ausdruck »Kreuzzug gegen den Terror« und benutzte damit den Mythos indirekt beziehungsweise unbewusst. In ähnlicher Weise hat Geisser in Frankreich beobachtet, dass Journalisten sich explizit gegen die Clash-These aussprechen. In seiner Medienanalyse arbeitet er heraus, wie Islamophobie eher in Sicherheitsdiskursen transportiert wird und durch eine eigentümliche Standardisierung der Bilder: Der Islam wird als unveränderlicher, konflikthafter Block dargestellt und die konkreten Bilder sind die fast identisch aussehenden, von hinten fotografierten Betenden, weinende bedrohliche Gruppen, verhüllte Frauen, fanatische bärtige Männer (Geisser, 2003, S. 25). Das hier vorgeschlagene interdisziplinäre Verständnis von politischem Mythos könnte an dieser Stelle helfen, den scheinbaren Widerspruch zwischen einer Distanzierung auf der mani© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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festen Ebene und einem mehr oder weniger latenten Gebrauch einer solchen Vorstellung zu verstehen. Es ist zu vermuten, dass die erwähnten Verdichtungen so wirkmächtig werden, weil sie weitgehend unbewusst aufgenommen werden und in diesem Fall reicht bereits das schwächere Verständnis von sozialem Unbewussten. Es besteht die Gefahr, dass sie einer kritischen und rationalen Auseinandersetzung dadurch nur schwer zugänglich sind. Pointiert gesagt versteht der Intellekt, dass sich der Autor eines Textes um eine differenzierte Auseinandersetzung bemüht und daher glaubwürdig ist, während im Unbewussten zeitgleich die Botschaft des »Clash« ankommt. In diesem Sinne sind wir von einer Unmenge von Stimuli umgeben, die verdichtete Mythen enthalten und sich sozusagen unbemerkt in unserem Unbewussten ablagern. In diesem Fall genügt damit das schwächere Verständnis von sozialem Unbewussten in Anlehnung an Hopper. Die sichtbarste und deutlichste Quelle für solche Bilder des Clahs sind jedoch nach wie vor Hollywood-Filme. Jack Shaheen (2001) zeigte in einer Untersuchung von 1000 Filmen (aus den Jahren 1896 bis 2000), dass nur zwölf der dargestellten Muslime positive Figuren sind, mehr als 900 sind als negative Figuren zu bezeichnen. Die populärsten Bilder sind die des barbarischen Beduinen, das des reichen dummen Scheichs, der die westliche Frau vergewaltigen will, oder schließlich des Terroristen. Doch jenseits der Feststellung, dass Muslime negativ dargestellt werden, ist es interessant, die Entwicklung der Bilder in den Blick zu nehmen. So lässt sich etwa für das weibliche Gegenstück zum fanatischen Terroristen, der Frau mit dem Kopftuch, feststellen, dass diese immer weniger auf die Rolle der unterwürfigen und unterdrückten Frau festgelegt scheint. Zunehmend taucht die arabische Frau auch als Terroristin auf, wie etwa in »Black Sunday« (1977), »Death before Dishonour« und »Never say Never again« (1983). Aus psychoanalytischer Perspektive denken wir, dass es vielleicht kein Zufall ist, dass die Figur der arabischen Terroristin in solchen Filmen nach der zweiten großen Welle der Frauenbewegung in Erscheinung tritt. Im Sinne Erdheims könnte man annehmen, dass eine neue Angst vor der Emanzipation der Frau in westlichen Gesellschaften an Bedeutung gewonnen hat und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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dass diese unbewusst gemacht werden musste. Die veränderte Repräsentation der femina islamica konnte diese Funktion möglicherweise dadurch erfüllen, dass die bedrohliche Frau in eine andere, barbarische Zivilisation verlagert wird. So konnte die Beunruhigung über die Veränderung der Geschlechterrollen ein wenig besänftigt werden. Diese Interpretation erfährt zusätzliche Plausibilität dadurch, dass auch für andere Kontexte eine vergleichbare Art der Verschiebung oder Projektion des Geschlechterkampfes in den Orient herausgearbeitet werden kann. So analysiert etwa die Romanistin Barbara Vinken heraus, wie sehr der westliche Diskurs über das Kopftuch mit der irreführenden Vorstellung operiert, dass der Westen die damit verknüpften Fragen gelöst habe (Vinken, 2004). Die unterdrückte Frau gibt es nur im NichtWesten und daher gibt es im Westen keinen Grund zur Sorge beziehungsweise zum Widerstand. In diesem Sinne erfüllt auch hier eine Variante des »Clash« die Funktion, das schlechte Gewissen – die eigene Benachteiligung – unbewusst(er) zu machen.

Die unheimliche Beschwörung der jüdisch-christlichen Tradition – eine deutsche Variante des Mythos der »Clash of Civilizations« Es ist bemerkenswert, wie verbreitet und vielseitig einsetzbar der Mythos des »Clash of Civilizations« scheint: Im Sinne unseres interdisziplinären philosophisch-psychoanalytischen Verständnisses handelt es sich fast um einen idealtypischen politischen Mythos, der in ganz verschiedenen soziokulturellen Kontexten die unterschiedlichsten sozialpsychologischen kollektiven Bedürfnisse zu erfüllen vermag. Das Grundschema der Unvereinbarkeit beziehungsweise des »Clash« scheint tief verwurzelt beziehungsweise abgelagert, der Inhalt und die Akzentuierungen können jeweils den aktuellen und lokalen Bedingungen angepasst werden. Mit Erdheim gesprochen ist dieser Mythos offenbar besonders gut für die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit geeignet. Vor diesem Hintergrund wollen wir abschließend noch eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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spezifische Akzentuierung genauer untersuchen, die im deutschen Kontext besonders ins Auge sticht, auch wenn sie nicht auf diesen Kontext beschränkt ist. Die Rede ist von der Anrufung der jüdisch-christlichen Tradition, die etwa in der Diskussion um die Aufnahme der (dann als islamisch begriffenen) Türkei in die EU aber auch in vielen anderen Kontexten als exklusives Merkmal des (imaginierten) Westen dargestellt wird. Hier ist nicht der Ort, um diese Anrufung historisch-sozialwissenschaftlich zu dekonstruieren (vgl. dazu Cohen, 1970), interessant erscheint uns an dieser Stelle, welche psychologische Funktion die starke und oft ritualhafte Berufung auf diese Tradition in den öffentlichen Debatten gerade in Deutschland haben könnte. Was wird dadurch unbewusst gemacht oder zumindest in den Hintergrund geschoben? Dazu soll zunächst eine irritierende Beobachtung aus einem anderen Forschungszusammenhang berichtet werden, die vor dem Hintergrund einer solchen psychoanalytischen Interpretation verstehbar wurde: Im Auftrag der so genannten »International Task Force for Holocaust Education, Rememberance and Research« untersuchte Kühner, Langer und Sigel in einer Interviewstudie »aktuelle Herausforderungen der schulischen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust« (vgl. Kühner, Langer u. Sigel, 2008; Brockhaus, 2008). In diesem Kontext werden vor allem in westlichen Ländern der Europäischen Union zunehmend die so genannten Herausforderungen multikultureller Klassenzimmer in den Blick genommen. Diese Entwicklung ist einerseits nicht erstaunlich, wird doch Multikulturalität im pädagogischen Kontext generell unter dem Vorzeichen des »Clashs« und der davon abgeleiteten Mühsal und Überforderung diskutiert. Andererseits ergibt sich eine bemerkenswerte Lesart dieser Debatten, wenn man sich vor Augen führt, wie sich der spezifische Diskurs um die »Erziehung nach Auschwitz« gewandelt hat. In diesem Diskurs dominierte lange Zeit die beunruhigende und im Kern unbeantwortbare Frage, wie Pädagogik zu einer angemessenen und Demokratie fördernden Auseinandersetzung mit dem Holocaust beitragen kann. Beherrschend war dabei zumindest in Deutschland bis in die 1980er-Jahre die Sorge um Verdrängung und Vermeidung und für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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den konkreten schulischen Kontext die verbreitete und zum Teil berechtigte Einschätzung, dass das Thema systematisch zu kurz kommt oder »hinten runter fällt«. Diese Sorge wurde in den 1990er-Jahren dann abgelöst von der neuen Sorge, dass nun die Schüler aus der sogenannten »dritten Generation« von kritischsensibilisierten oder neurotisch verstrickten, moralisierenden, Lehrern zu sehr und »in allen Fächern« mit dem Thema konfrontiert werden und dadurch zunehmend eine Shoah fatigue entwickeln würden (vgl. dazu Brockhaus, 2008; Eckmann, 2004). Inzwischen hat dieser Diskurs eine weitere bemerkenswerte Akzentuierung erfahren und das Unbehagen in und an der Tätergesellschaft scheint in den Hintergrund zu treten. Es entsteht zunehmend das Selbstbild einer Erinnerungskultur, die sich die Deutschen (hart) erarbeitet haben und die sich international sehen lassen kann. Exemplarisch sei hier aus der Wochenzeitung »Die Zeit« zitiert, die im Januar 2010 (zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz) mehrere Artikel publizierte, in denen es darum ging, ob die »Deutschtürken« der Meinung sind, dass sie der Holocaust »etwas angehe«. Der Journalist Bernd Ulrich kommentiert die – unterstellte – Schwierigkeit von Deutschtürken mit der deutschen Erinnerungskultur wie folgt: »Viele Deutsche sind stolz darauf, wie dieses Land mit seiner Vergangenheit umgegangen ist und wie es nicht aufhört, sich damit zu befassen, politische Kosten durchaus in Kauf nehmend. Jedoch ist ein solcher Sekundärstolz nichts, was sich einem Einwanderer ohne Weiteres erschließen könnte« (Ulrich, 2010, S. 3).

Bei dieser bemerkenswert heroischen Formulierung handelt es sich um eine milde Variante einer rhetorischen Figur, die uns sowohl in den pädagogischen Debatten als auch in den konkreten Interviews mit Lehrern immer wieder begegnete: Es sind die »Türken« oder andere männliche muslimische Schüler, die die Vermittlung des Holocaust neuerdings erschweren (vgl. dazu genauer Kühner, 2010a, 2010b, 2011). »Die Zeit« hat also nichts Untypisches unternommen, sondern eine verbreitete Tendenz aufgegriffen. Zwar ist es rational nachvollziehbar, dass eine Wochenzeitung zum 65. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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lieber eine neue als eine alte Frage stellen will. Aber es ist doch auffällig, welche Verschiebung sich hier abbildet. Die Deutschen sind nun nicht mehr die, um die man sich Sorgen machen muss, weil sie zum Massenmord an den Juden fähig waren, sondern sie stehen auf der Seite derjenigen (westlichen) Zivilisationen, die sich Sorgen über die mangelnde Vergangenheitsbewältigung der anderen machen. In dieses Bild fügt sich auch ein weiteres diskursives Ereignis aus dem Jahr 2010, das diese Dynamik noch einmal sehr plastisch vor Augen führte: Als der deutsche Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in Bremen davon sprach, dass der Islam wie das Judentum und das Christentum »zu Deutschland gehöre«, war die darauffolgende Empörung enorm. Dies muss nun vielleicht nicht erstaunen, aber es war doch bemerkenswert, wie sehr in den Reaktionen nicht die inhaltlichen Argumente gegen den Islam, sondern die positive Anrufung jener christlich-jüdischen Tradition dominierte. Hier lohnt nun ein Blick auf Wulffs Formulierung. Was genau hatte er gesagt und wie korrespondiert das sozialpsychologisch mit den Reaktionen? Der Präsident sprach nicht von den konkreten Menschen, den Muslimen, und auch nicht von den Juden und Christen. Stattdessen sprach er von der abstrakten Idee, vom Christentum und Judentum, das unhinterfragt zu Deutschland gehöre, und dann folgte als dramatischer Höhepunkt jener anstößige Satz, dass »aber auch« der Islam zu Deutschland gehöre. Es mag Zufall sein, dass Wulff die abstrakte Formulierung wählte und nicht von den konkreten Menschen spricht, die hier leben und – manchmal – Minarette bauen wollen. Wenn es aber kein Zufall war, dann drängt sich die Frage auf: Gehören auch die Muslime zu Deutschland oder nur der Islam, nur die Idee, oder doch auch die Menschen? Und hier ergibt sich wiederum eine unheimliche Verbindung zur Anrufung des Jüdischen. Denn während das abstrakte Judentum und das Adjektiv jüdisch in der jüdisch-christlichen Tradition so problemlos über die Lippen gehen, fällt immer noch auf, dass in Deutschland kaum jemals öffentlich ohne kleine zögerliche Pause von Juden oder den Juden gesprochen wird. Es ist, als würde das Aussprechen zu sehr an die Massenvernichtung erinnern. Und passend dazu scheint es, als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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wäre wiederum die Anrufung eine Art Kompromissbildung, die zugleich erinnern und ungeschehen machen will. In diesem Sinne mag die spezifische Akzentuierung des Clash-Mythos in Deutschland gleich mehrere Funktionen erfüllen: Er macht es möglich, sich nicht direkt zum streitbaren Huntington bekennen zu müssen, sondern sich in einem einzigen verdichteten Ausdruck zugleich als vergangenheitsbewusste gute Deutsche zu fühlen und die Beunruhigung getrost auf der anderen Seite des »Clash« zu deponieren.

Ausblick Der Erfolg des Clash-Mythos zeigt, dass die moderne Politik sich niemals ganz vom Mythischen entfernt hat, auch wenn es bisweilen so scheint, als hätte das Rationale gewonnen. Zwar mögen manche Zeitgenossen glauben, dass die Aufklärung Politik von Mythos und Aberglaube befreit hat, doch scheint dies weit von der Realität entfernt. Die Ehe von Psychoanalyse und Politischer Philosophie zeigt uns, dass diese Befreiung ein unmögliches Versprechen ist oder, in Adornos und Horkheimers Worten, das Versprechen und zugleich die Dialektik der Aufklärung. Für Unterstützung beim Übersetzen der ursprünglich englischen Passagen danken wir Marie-Sophie Löhlein, für Anregungen und Überarbeitungshinweise Rolf Haubl und Benoit Challand. Die erwähnte Studie zu Holocaust Education wurde von Gudrun Brockhaus, Daphne Cisneros, Heiner Keupp, Holger Knothe, Angela Kühner, Phil C. Langer und Robert Sigel 2006 – 2008 im Auftrag der bayerischen Landeszentrale für politische Bildung und des Auswärtigen Amtes durchgeführt.

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»Ich geh kaputt« – »Gehste mit?« Die Psyche in der Leistungsgesellschaft

Das Grafitto, das den Titel des Aufsatzes liefert, ist sehr viel älter als die aktuelle Krise des Kapitalismus, aber eine Diagnose, die nicht veraltet. Denn der Kapitalismus setzt in vieler Hinsicht auf eine gerne als schöpferisch apostrophierte Zerstörung und nimmt kaum Rücksicht auf die Forderungen der WHO-Charta von Ottawa (1986), in der es heißt: »Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein« (WHO-Charta, 1986, S. 3). Psychische Störungen gehören zu den häufigsten und die Lebensqualität am stärksten mindernden Erkrankungen unserer Zeit (vgl. Lademann, Mertesacker u. Gebhardt, 2006; RobertKoch-Institut, 2008, S. 8 f.; Jacobi, 2009). In Europa macht jede vierte Person in ihrem Leben mindestens eine psychische Krankheitsepisode durch. Auch die durch psychische Störungen entstehenden volkswirtschaftlichen Kosten sind hoch. Sie belaufen sich in Deutschland auf 10 % der Gesamtausgaben für Gesundheit, das sind mehr als 20 Milliarden Euro. FehlzeitenReporte zeigen eine zunehmende Bedeutung psychischer Störungen für Arbeitsunfähigkeit. Trotz insgesamt sinkender Krankenstände sind die Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen über die letzten Jahre deutlich gestiegen. Auffällig ist die Zunahme psychischer Störungen bei jungen Menschen: In der Altersgruppe zwischen 15 und 35 Jahren ist ein überproportionaler Anstieg zu verzeichnen. Dreiviertel aller Diagnosen fallen auf affektive Störungen plus neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen. Die häufigste Einzeldiagnose ist die Diagnose Depression, gefolgt von Angst. Dabei schlägt sich die ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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sellschaftlich bestehende soziale Ungleichheit nach wie vor als Risikofaktor für die psychische Gesundheit nieder : Die Angehörigen der unterprivilegierten sozialen Schichten haben die höchsten Raten an psychischen Störungen, aber die niedrigsten Raten an Psychotherapie. Ob die beobachteten Anstiege psychischer Störungen echte Anstiege sind, wird diskutiert. Immerhin könnte es sich um anderweitige Effekte handeln: Um die Auswirkungen einer verbesserten psychodiagnostischen Kompetenz vor allem der Hausärzte, und/oder um die Auswirkungen einer zunehmenden Entstigmatisierung, die unter den Betroffenen zu einer größeren Bereitschaft führt, bereits von sich aus ihre Lebensprobleme als psychische Probleme zu verstehen und zu artikulieren. Stellt man diese Faktoren in Rechnung, dann ist immer noch ein echter Anstieg denkbar, der aber weniger dramatisch sein dürfte, als er oftmals »gefühlt« wird. Eine der gewichtigsten Ursachen, die für psychische Erkrankungen genannt werden, sind die Arbeitsbedingungen (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2005; Haubl u. Voß, 2011), denn seit Ende der 1980er-Jahre hat ein grundlegender Strukturwandel der Arbeitswelt stattgefunden: Das gewohnte »Normalarbeitsverhältnis« verschwindet, die Berufsbiografien von vielen Menschen werden »brüchig« und ihre Lebenslagen »prekär«. An die Stelle des tradierten Arbeitnehmers tritt der »Arbeitskraftunternehmer« (Voß u. Pongratz, 1998). Als »Unternehmer seiner selbst« wird von ihm erwartet, sein ganzes Leben wie einen Betrieb zu führen. Im Einzelnen sind es Prozesse der »Entgrenzung« (Jurczyk, Schier, Szymenderski, Lange u. Voß, 2009) und »Subjektivierung« von Arbeit (Moldaschl u. Voß, 2010), die den Strukturwandel ausmachen. »Entgrenzung« meint die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, den Übergang von starren Betriebsstrukturen zu einer dynamischen Projekt- und Teamorganisation mit abgeflachten Hierarchien sowie die abnehmende Bedeutung standardisierter beruflicher Spezialisierungen und ihre Folgen für die Berufswege. Hinzu kommt der Abbau der strukturellen Trennung und funktionalen Unterscheidung von erwerbsförmiger »Arbeit« und privatem »Leben« in vielen Berufsfeldern. Dies zeigt sich bei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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spielsweise, wenn Erwerbstätige zunehmend zu Hause oder auf Reisen berufliche Aufgaben erledigen oder fast ständig beruflich erreichbar sein müssen, daher kaum mehr feste Arbeitszeiten und infolgedessen auch keine »Freizeit« kennen. Die Entgrenzung der Arbeitswelt ist ambivalent. Einerseits ergeben sich für die Erwerbstätigen mehr Gestaltungschancen, was im Vergleich mit den bisherigen starren Formen der Arbeitsund Betriebsorganisation nicht nur von den Betrieben, sondern auch von den meisten Beschäftigten begrüßt wird. Andererseits entsteht durch den damit verbundenen Verlust an Halt gebender Strukturierung zunehmend der Zwang, den Arbeitsprozess mehr als bisher aktiv selbstverantwortlich zu organisieren, was mehr Entscheidungsdruck und damit ein größeres Risiko der Überforderung oder gar des Scheiterns zur Folge hat. Betriebliche Detailkontrollen der Arbeitstätigkeiten werden tendenziell zurückgenommen. Im Gegenzug bauen Betriebe indirekte Kontrollen aus, indem sie mehr oder weniger harte Zielvereinbarungen und ein meist datentechnisch basiertes Ergebniscontrolling einführen. Damit sind nicht länger die konkreten Arbeitstätigkeiten der entscheidende Ansatzpunkt für betriebliche Zugriffe auf die Arbeitnehmer. Nur das Ergebnis zählt, auch wenn es nicht selten mit verringerten Ressourcen und steigenden Erfolgserwartungen erbracht werden soll.

Dissoziation statt Ausstieg Nehmen wir als Beispiel für die Veränderungen die Kundenberater von Banken (Haubl, 2010a, S. 66 ff.), die in der Finanzkrise mit dem sittenwidrigen Verkauf von »toxischen« Wertpapieren eine mehr als unrühmliche Rolle gespielt haben (Bergermann, 2008, 2009). Zwar gibt es Unterschiede zwischen den Banken, der Trend aber ist generell. Die Kundenberater werden von ihren Vorgesetzten unter Druck gesetzt, hohe Ertragsziele zu realisieren, das heißt: Für jeden Berater wird für jedes Finanzprodukt festgelegt, wie viele davon er in einer bestimmten Zeiteinheit zu verkaufen hat. Übertrifft er die Vorgaben, locken Boni, unterschreitet er sie, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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drohen negative Sanktionen. Da Abmahnungen arbeitsrechtlich schwer zu legitimieren sind, werden die negativen Sanktionen in der Regel indirekt exekutiert: zum Beispiel über kontinuierliche Rankings, an denen alle Kollegen ablesen können, wer von ihnen ein High-Performer oder ein Low-Performer ist. Über solche Rankings lässt sich Gruppendruck erzeugen, da es neben den individuellen Ertragszielen auch Ertragsziele für die ganze Filiale gibt. Mithin lässt sich an den Rankings ablesen, welcher Kundenberater wie viel zur Erreichung der kollektiven Vorgabe beiträgt. Da auch diese Vorgaben hoch sind, gefährden Low-Performer eine Gesamtperformanz, welche die Vorgabe erfüllt. Folglich müssen sie von den erfolgreicheren Kollegen zu einer höheren Performanz gebracht werden, weil diese sonst selbst ihre Performanz noch weiter steigern müssen. Oder : Die High-Performer sorgen dafür, dass die Low-Performer von sich aus gehen. Dabei sitzen alle in derselben Falle: Erreichen sie ihre Vorgaben nicht, gibt es nicht nur keine Boni, es wird zudem die beschämende Vorstellung hervorgerufen, nicht gut genug zu sein; erreichen sie ihre Vorgaben gibt es zwar Boni, gleichzeitig steigen aber auch die Vorgaben. Diese Situation führt bei Kundenberatern zwangsläufig dazu, Kunden falsch zu beraten, um sich auf deren Kosten zu bereichern, aber eher noch: um negativen Sanktionen zu entgehen. Um sich selbst nicht als Opfer fühlen zu müssen, opfern sie ihre Kunden. Die im Branchenvergleich überdurchschnittliche Zunahme psychischer Belastungen und Störungen in Banken und Finanzinstituten mag ein Indikator für diese verschärfte Situation sein (DAK, 2007), wobei moralische Konflikte allerdings erst gar nicht als Stressoren bilanziert werden. So bleiben Bewältigungsmechanismen wie der einer psychischen Spaltung der ohnehin dürftigen Gesundheitsförderung (Pfaff, Plath, Köhler u. Krause, 2008) in Interesse einer Absatzsteigerung entzogen: So wissen die Kundeberater, dass sie ihren Kunden belügen, wenn sie vorgeben, primär deren Interesse zu vertreten, gleichzeitig leugnen sie aber, dass sie dies tun. Greift diese psychische Spaltung (Nagel, 2009, S. 71 ff.), erleichtert es ihnen, ihre Vorgaben immer rücksichtsloser umzusetzen, womit sie immer erfolgreicher werden, sodass die Vorgaben immer weiter steigen, was zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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einer immer tieferen Spaltung führt und die Beratung der Kunden zu einem unwirklichen Geschehen entstellt, es sei denn, eine eintretende psychische Krise bietet die Chance für eine Neuorientierung. Bilden die Kundenberater die Vorderbühne des Geschäfts, so die Broker die Hinterbühne, auf der das große Geld gemacht wird. Eine Brokerin berichtet, nachdem sie ausgestiegen ist (Anne T., 2009, S. 122): »Der Bonus war das A und O im Händlerleben – eine solche Perspektive motivierte unglaublich. Wer von den Brokern ein Gewinnziel von vier Millionen nachweisen konnte – dafür musste schon einige Milliarden gedealt werden – bekam am Ende des Geschäftsjahres durchaus 200.000 Euro zusätzlich auf sein Konto überwiesen. Das ganze System war zwar undurchschaubar, aber es lohnte sich. Das war ein richtig gutes, geiles Gefühl. Das hatte etwas Orgiastisches an sich, ganz gleich, ob Mann oder Frau in den Genuss kamen. Es wäre gelogen, das abstreiten zu wollen. Dass es gerade die Boni waren, die uns alle motivierten, immer größere und immer riskantere Deals abzuschließen, fiel niemandem auf. Schließlich hatten wir nicht viel zu verlieren, im Worst Case unseren Job. Aber wozu gab es Headhunter. Außerdem würden wir ohnehin schon über alle Berge sein, bevor es Probleme mit den reingeholten Deals geben würde. Das dieses kurzfristige Anreizsystem sich später für die Banken als tödlich erweisen sollte, wäre [uns] nie in den Sinn gekommen. […] Mein nächstes Ziel war glasklar : vier Millionen Euro. Darunter durfte ich im nächsten Jahr nicht kommen, ich wollte schließlich die Herausforderung – und den dazugehörigen Bonus. Das große Partygefühl, das besser als Sex war.«

Riskierte psychische Gesundheit Wie bereits angesprochen, wird die Entgrenzung der Arbeit von ihrer Subjektivierung begleitet. Das bedeutet, dass Unternehmen versuchen, die gesamte Subjektivität ihrer Arbeitnehmer für ihre Profitmaximierung zu nutzen: Neben fachlichen Qualifikationen betrifft dies immer häufiger persönliche Eigenschaften wie Kreativität, Kommunikativität, Verantwortlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Loyalität, sogar Emotionalität und vor allem eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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unbedingte Bereitschaft, sich mit dem Betrieb zu identifizieren und die Erfüllung von dessen Erwartungen als Selbstverwirklichung zu erleben. Arbeitnehmer, die sich derart total einbringen, riskieren ihre psychische Gesundheit, weil sie sehr viel mehr geben, als ihnen der Betrieb, der ihre Subjektivität ausbeutet, zurückgibt. Lassen wir einige Befunde für sich sprechen: So geht das Fürstenberg-Institut (2010) auf Basis einer von FORSA durchgeführten Untersuchung bei 60 % der Arbeitnehmer von psychosozialen Problemen aus, die durch hohe Arbeitsbelastungen bedingt sind. Eine Untersuchung der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (2011) kommt zum selben Ergebnis. Darüber hinaus geben die befragten Personalmanager geschlossen an, dass es präventiver individueller Analysen der psychischen Belastung bedürfe. Diese Forderung wird aber von kaum einem der Unternehmen, aus dem die Befragten stammen, umgesetzt. Dem DAK-Gesundheitsreport von 2009 ist zu entnehmen, dass jeder fünfte Arbeitnehmer der Studie, vor allem dann, wenn er psychisch belastet ist, die Einnahme von Medikamenten zur Leistungssteigerung ohne medizinische Indikation beruflich für notwendig, zumindest aber für vertretbar hält (DAK, 2009). – Mehr als 71 % der Arbeitnehmer in Deutschland sind binnen eines Jahres mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen, rund 30 % sogar gegen den ausdrücklichen Rat ihres Arztes. 13 % nehmen zur Genesung extra Urlaub (Badura, Schröder, Klose u. Macco, 2009). – Obgleich Beschäftigte angeben, dass ihre Arbeit psychisch belastend ist, schreiben sie die Verantwortung für eine Reduzierung der Belastungen nicht in erster Linie den Betrieben zu, sondern sich selbst (Dunkel, Kratzer u. Menz, 2010). Die meisten halten es für ihr persönliches Problem, wenn sie sich dem Leistungsdruck nicht gewachsen fühlen, und das selbst dann, wenn sie offensichtlich überfordert werden. Sie wollen jedem Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit zuvorkommen. Auffällig ist, dass von berufsbedingten Störungen der psychischen Gesundheit in starkem Maße hoch qualifizierte und hoch motivierte Mitarbeiter/-innen und nicht zuletzt Führungskräfte betroffen sind – sowie überproportional häufig Frauen und Dienstleister, denen kontinuierlich Emotionsarbeit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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(Zapf et al., 2000) abverlangt wird. Die beruflichen Gesundheitsrisiken verschieben sich demnach von den klassischen körperlichen Problemen, die es freilich nach wie vor gibt, hin zu psychosozialen Problemen. Dass Arbeitslose und Arbeitnehmer, denen Arbeitslosigkeit droht, gleichfalls mehr denn je stark betroffene Gruppe sind, braucht nicht weiter betont zu werden. Arbeitnehmer, die sich um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes sorgen, weisen deutlich erhöhte psychische Beeinträchtigungen auf, mehr noch als Arbeitslose (Sverke, Hellgern u. Näswall, 2002). – Arbeitsplatzunsicherheit führt zu falscher Ernährung: zu viel, zu fett und zu viel Süßes, zudem zu erhöhtem Nikotinkonsum sowie zu Medikamenten- und Alkoholmissbrauch (Haupt, 2010). – Je größer die Arbeitsplatzunsicherheit in einer Belegschaft ist, desto häufiger kommt es zu Mobbing (de Cuyper, Baillien u. de Witte, 2009). – Arbeitnehmer, die einen Downsizing-Prozess »überlebt« haben, sind von einer erhöhten Rate krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit betroffen (Vahtera et al., 2004). Als Einzelfaktoren der psychosozialen Belastungen in der Arbeitswelt werden genannt: hohes Arbeitsaufkommen, Zeitdruck, geringe Handlungsspielräume, mangelnde kollegiale Unterstützung, überfordernde Vorgesetzte, keine befriedigende Work-Life-Balance, aber auch mangelnde Fairness (Elovainio, Leino-Arjas, Vathera u. Kivimäki, 2006) sowie mangelndes Vertrauen (Rigotti u. Mohr, 2006) – und immer wieder : mangelnde Anerkennung, die oft als mangelnde »Sichtbarkeit« metaphorisiert wird. Vor allem Anerkennungsdefizite bergen nachweislich ein hohes Depressionsrisiko. So haben Arbeitnehmer, die bei ihren Arbeitstätigkeiten eine Gratifikationskrise erleben, weil ihr Arbeitseinsatz und die Anerkennung, die sie dafür erhalten, weit auseinander liegen, ein 6-fach erhöhtes Risiko, depressive Symptome zu entwickeln, als Arbeitnehmer, die sich anerkannt erleben (Larisch, Joksimovic, de Knesebeck, Starke u. Siegrist, 2006). Als Anerkennung wird erlebt: die Übertragung von Arbeiten, die dem Arbeitnehmer liegen, Lob für gute Arbeit, konstruktive Kritik, Förderung von Lernprozessen, Mitsprache, Interesse an der Person. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Chronische Müdigkeit Das vergebliche Ringen um Anerkennung für die Bereitschaft, Höchstleistungen zu erbringen, ist eine der Ursachen für die Erschöpfung, die allseits beklagt wird. Auf diesem Hintergrund ist es interessant, sich die Geschichte des nach wie vor umstrittenen »Chronischen Müdigkeitssyndroms« (CFS) zu vergegenwärtigen (Haubl, 2007), das sich phänomenologisch nicht leicht von einer Depression unterscheiden lässt. Die Lobbygruppe aus Experten und Patientenvertretern behauptet einen Unterschied, der genau besehen die Stigmatisierung der Depression bedient. So kann man in »Harper’s & Queen«, einem populären britischen Magazin lesen: »Personen, die an Chronischer Müdigkeit leiden, sind hoch leistungsmotiviert. Sie haben zuviel Willensstärke, während Depressive so gut wie keine haben«. Was weiß die Forschung über die Lebensführung von Menschen, die an CFS leiden? Gesichert ist ein Subtyp, der in Identifikation mit unerbittlichen elterlichen Leistungserwartungen höchste Leistungsanforderungen an sich selbst stellt. Die Einlösung dieser Anforderungen kann, wenn überhaupt, nur unter Aufbietung aller »Kräfte« gelingen. Reichen sie nicht aus, erleben es die Betroffenen als Schwäche, die sie sich verbieten. Sie ruhen sich nicht aus und klagen auch nicht, überfordert zu sein – aus Angst, Anerkennung zu verlieren, da sie von Kindheit an die Erfahrung gemacht haben, in solchen Situationen mit Beschämungen und/oder Schuldzuweisungen bestraft worden zu sein. Um diese negativen Gefühle nicht (wieder) erleben zu müssen, beantworten sie jede Schwäche mit einer neuerlichen Mobilisierung letzter Reserven, und zwar solange, bis ein kritisches Lebensereignis eintritt, das nicht mehr auf diese Weise zu bewältigen ist: Oftmals sind es gestiegene berufliche Belastungen und daraus folgende Gefährdungen der intimen Beziehungen, die hinter der Somatisierung zum Vorschein kommen. Betrachtet man in dieser Perspektive die Selbstaussagen von Betroffenen, so finden sich etliche darunter, für die gilt, was einer von ihnen über seine prämorbide Lebensführung in die Metapher fasst: »Ich habe die Kerze an beiden Enden gleichzeitig © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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entflammt.« Oder in den Worten eines anderen: »In meinem Leben bin ich immer mit 90 Meilen in der Stunde unterwegs gewesen. Nun bin ich [durch CFS] gezwungen worden abzustoppen und statt fünf Sachen gleichzeitig nur noch eine zu machen.« Besonders betroffen sind Menschen, die ihr Selbstwertgefühl aus ihrem Arbeitsvermögen beziehen. Unter Menschen, die an CFS leiden, gibt es davon anscheinend viele: »Ich bin jemand, der sich sehr über das definiert, was er tut. Und ich fühle, wenn ich nicht arbeiten könnte, würde das das Schlimmste sein, was mir passieren könnte. Ich fühle, dass ich völlig daneben wäre, wenn ich nicht arbeiten könnte.« Deshalb schränken solche Menschen, wenn sie ein CFS entwickeln, auch nicht ihre Arbeit ein, sondern ihr übriges Leben, um »Kräfte« für die Arbeit zu sparen: »Zur Arbeit, ins Bett. Zur Arbeit, ins Bett. Ich hatte kein Leben«. Trotz dieser Ich-Einschränkung versuchen sie, unbedingt eine sozial erwünschte Fassade zu wahren: »Den Eindruck, von dem ich wollte, das ihn andere von mir hatten, war der, dass ich kompetent bin, nicht, dass ich mich nicht wohl fühle. Ich wollte nicht, dass das bekannt wird, weil ich fühlte, dass es mein Geschäft ungünstig beeinflussen würde. Es war wichtig, dass andere Leute die Meinung von mir hatten, dass ich eine gesunde Person und keine ungesunde Person bin. Denn niemand will dich, wenn du nicht gesund bist.« Besonders auffällig ist das instrumentelle Verhältnis, das solche Menschen zu sich selbst haben, wie es in Beschreibungen zum Ausdruck kommt, in denen sie von ihrem Körper sprechen, als sei er nicht sie selbst: »Dein Körper benötigt Ruhe, aber du brauchst Antrieb und du musst irgendetwas tun, was dich auf Touren bringt …«. »Wenn du dich nicht gesund fühlst, wenn dein Körper nicht richtig arbeitet, untergräbt das das Vertrauen in deinen Körper, von dem du gar nicht gewusst hast, dass er da war.« Sogar das Ziel einer gesünderen Lebensführung wird noch aus derselben Distanz formuliert: »lernen, was dir dein Körper sagt«. Änderungen der Lebensführung erweisen sich als schwierig, da die Betroffenen in einer Mitwelt leben, ihre Familien einge-

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schlossen, die sie nicht aus ihren Leistungsverpflichtungen entlässt. In Anbetracht einer vergleichsweise geringen Prävalenz in der Bevölkerung, die für das CFS geschätzt wird, muss die anhaltende Kontroverse verwundern, die um seine Interpretation entbrannt ist. Fokussiert man den hier akzentuierten Subtypus von »Leistungsträgern«, so lässt sich die gesellschaftliche Relevanz dieser Kontroverse begreiflich machen. Betroffen sind Menschen, die das Ideal der Leistungsgesellschaft verkörpern und bei Überforderungen anfangen, darunter zu leiden, dass sie es verkörpern. Ihr Kampf um die wissenschaftliche Objektivierung und gesundheitspolitische Legitimierung des CFS als hirnpathologische Krankheit erscheint in dieser Perspektive als eine Stabilisierung der Leistungsgesellschaft. Statt die gesellschaftlichen Zumutungen zu problematisieren, die auf eine Normalisierung von Überforderungen hinauslaufen, zielen die Gesellschaftsmitglieder, die mitzuhalten suchen, es aber nicht länger können, vorbewusst darauf ab, mit der Krankenrolle »belohnt« zu werden. Es ist keine Frage, dass sie tatsächlich leiden und durch ihre Symptome widerwillig eine mehr oder weniger gravierende Veränderung ihres Lebens hinnehmen müssen, die bezeichnenderweise nicht selten in die Arbeitsunfähigkeit führt. Indem sie die Rolle eines organisch Kranken für sich erkämpfen, erhalten sie einen legitimen Grund für eine Auszeit oder einen Ausstieg. Solange sie dabei Ausnahmen bleiben, kostet dies die Leistungsgesellschaft weniger, als wenn sie ihr hypertrophiertes Grundprinzip in Frage stellen müsste.

Erschöpfte innere und äußere Natur In der Art und Weise, wie Menschen rücksichtslos ihre »Kräfte« ausbeuten, beuten sie auch die Ressourcen der äußeren Natur aus. Insofern dürfte nicht nur physische Gesundheit, sondern auch psychische Gesundheit eine ökologische Dimension haben (Ley, 2001; Küchenhoff, 2005). So lässt sich in Deutschland seit Ende der 1980er-Jahre ein sprunghafter Anstieg von Personen beobachten, die sich um© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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weltkrank fühlen (Brand et al., 2005). Je nach Schätzung sind es an die 40 % der Bevölkerung. Sich umweltkrank zu fühlen, ist eine subjektive Ursachenzuschreibung. Die Leidenden halten sich für schwer krank, meist ohne dass objektivierbare Befunde erhoben werden können. Sie leiden an diffusen »Symptomen«: Atemwegsbeschwerden, Schleimhautreizungen, Allergien, Kopf-, Muskel- und Gelenkschmerzen; körperliche Schwäche, schlechte Durchblutung; Denk- und Konzentrationsstörungen; Lustlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit und eben auch hier chronische Müdigkeit. Viele der Personen, die sich umweltkrank fühlen, laufen von Arzt zu Arzt, um ihre »Symptome« als Krankheit bestätigt zu bekommen. Ein Großteil von ihnen weist dabei psychische oder soziale Erklärungen ihres Leidens weit von sich und wehrt sich gegen eine Etikettierung als »Ökopsychosomatiker«. Wer ihre Selbstdiagnose, Opfer von Umweltschadstoffen geworden zu sein, nicht teilt, wird gemieden oder attackiert. In Selbsthilfegruppen organisiert, bestätigen sie sich wechselseitig ihre Wirklichkeitskonstruktion. Da die Umweltschadstoffe, die sie als Krankheitsursachen ausmachen, im Niedrigdosisbereich liegen, sind sie davon überzeugt, dass in ihren Fällen die toxikologische Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht gilt, worum sich die wissenschaftliche Forschung aber nicht kümmere, um ihr Dogma nicht aufgeben zu müssen. Ihrer Wirklichkeitskonstruktion nach leben die betroffenen Personen in einer feindlichen ökologischen Umwelt, die an Lebenswert verloren hat, weil sie eine denaturierte Umwelt geworden ist. Dabei beruht die in Gang gesetzte ökopsychosomatische Dynamik darauf, dass die Angst, die sich in den »Symptomen« manifestiert, permanent zwischen neurotischer Angst und Realangst changiert (Günther, 2007). Denn dieses Changieren erfordert eine ständige quälende Realitätsprüfung, die zu einem monomanen Lebensthema werden kann. Gesellschaftsdiagnostisch gewendet, klagen die betroffenen Personen die moderne Gesellschaft einer Naturzerstörung an, vor der man zu Recht Angst haben muss, weil sie krank macht. Mit einer erhellenden Metapher ausgedrückt, ist es die Natur, die sich durch diese Krankheiten für den Raubbau an ihr »rächt«! (vgl. dazu auch Tenner, 1996.) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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Globaler Schuldzusammenhang Diese Angst vor »Rache«, so mag man vermuten, verweist auf ein mehr oder weniger unbewusstes Schuldgefühl, das den neoliberalen Kapitalismus prägt. Zum einen wissen wir, dass die Umweltschäden, die infolge unseres exzessiven Verbrauchs von natürlichen Ressourcen entstehen, nicht an nationalen Grenzen Halt machen und deshalb alle Menschen angehen. Zum anderen wissen wir, dass alle Menschen das gleiche Recht haben wie wir, Bedürfnisse zu entwickeln und zu befriedigen. Dies zu wissen und es dennoch denen, die nicht in Wohlstandsgesellschaften leben, schwer zu machen, so zu leben wie wir, obwohl wir ihnen gleichzeitig unseren Lebensstil preisen, verstrickt uns in einen globalen Schuldzusammenhang, den wir in unserem Alltag nur ungern wahrnehmen wollen. Als eine alltägliche Konstellation, Schuldgefühle abzuwehren, bietet sich die ständige Vermehrung von Konsumgütern an, die eine rastlos vorwärts treibende Dynamik in Gang setzt. Denn jeder Konsum von Gütern, die Natur schädigend produziert und unfair gehandelt werden, vertieft die Schuld und verstärkt gleichzeitig das Bestreben, sie durch mehr Konsum nicht fühlen zu müssen. Exzessiver Konsum ist die Freizeitseite exzessiver Arbeit, der aber nicht wirklich für das Arbeitsleid zu entschädigen vermag. Die »Spaßgesellschaft« ist nur auf den ersten Blick eine sorglose Gesellschaft. Der zweite Blick, durch die Zunahme psychischer Störungen hellsichtig geworden, erkennt, wie schwer es dem modernen Menschen als Konsumenten fällt zu genießen. Genussunfähigkeit aber wird durch Gier abgewehrt. Zielt Genuss auf Qualität, so Gier auf Quantität (Haubl, 2010b). Reden wir von Wohlstand, so meinen wir primär Güterwohlstand. Eine sozialökologisch aufgeklärte Gesellschaft wird ihn durch andere Formen des Wohlstandes – zum Beispiel Zeitwohlstand – relativieren. Dazu passen Vorschläge, den Reichtum der Nationen nicht länger über ihr Bruttosozialprodukt zu bestimmen, sondern über einen Happiness-Index, dem die Einsicht zugrunde liegt, dass die Steigerung des Güterwohlstandes über ein bestimmtes Maß hinaus zu keiner weiteren Steigerung des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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subjektiven Wohlbefindens führt (Haubl, 2009). Und der das Ausmaß der gesellschaftlichen Ermöglichung von Sinn stiftender, intrinsisch motivierter Arbeit einzurechnen hätte.

Psychotherapie und kolonialisierte Lebenswelt Welche Funktion hat die Psychotherapie, insbesondere deren sinnverstehende Varianten, zu denen zuvorderst die Psychoanalyse und die psychoanalytische Psychotherapie gehören, in den skizzierten gesellschaftlichen Verhältnissen? Die moderne Gesellschaft ist funktional differenziert (Mayntz, 1988). Die Lebenswelt der Gesellschaftsmitglieder wird von Systemen durchzogen, um nicht zu sagen: »kolonialisiert« (Habermas, 1981, S. 471), die weitgehend autonom sind: Bildung, Medizin, Politik, Recht, Wissenschaft und maßgeblich: Wirtschaft. Kennzeichen von deren Autonomie ist die Macht, die Gesellschaftsmitglieder nach bestimmten Bedingungen zu selektieren: sie ein- oder auszuschließen, je nachdem, ob sie die Bedingungen erfüllen oder nicht. So interessieren im Wirtschaftssystem nur Geld-Zahlungen: Wer über Geld verfügt, ist handlungsfähig, wer nicht, bleibt außen vor. In einer funktional differenzierten Gesellschaft werden alle Gesellschaftsmitglieder in ihre Funktionssystem-Mitgliedschaften zerlegt. Außerhalb der Funktionssysteme existieren sie aber als »ganze Personen«. Der Ort, an dem sie das sein dürfen, ist (noch am ehesten) die Familie. Sie schließt niemanden aus, der von Teilsystemen ausgeschlossen wird: So sorgt sie etwa auch für diejenigen, die kein Geld (mehr) haben, und steht zu denen, die nach Maßgabe des Rechtssystems mit seinem binären Code von »legal« versus »illegal« straffällig geworden sind. Das Medizinsystem funktioniert nach dem binären Code von »gesund« versus »krank« (Luhmann, 1990). Nur wer krank ist, findet Anschluss, wobei das System selbst definiert, was es als Krankheiten anerkennt und was nicht. Das gesamte medizinische Interventionsspektrum zielt auf die Diagnose und Therapie von Krankheiten, mithin reduziert es den Kranken auf seine Krankheit. Dieser Reduktionismus ist nicht unwidersprochen geblie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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ben, sondern unter dem Stichwort der »Ganzheitlichkeit« kritisiert worden. Vor diesem Hintergrund ist Psychotherapie, vor allem sinnverstehende, das soziale System, das die »ganze Person« im Blick behält. Insofern ähnelt es der Familie. Seine spezifische Differenz liegt darin, dass es mit der »ganzen Person« nicht naturwüchsig, sondern auf professionelle Art und Weise befasst ist. Dementsprechend werden Patienten nicht als »Träger« einer bestimmten psychischen Störung oder eines bestimmten Lebensproblems behandelt, komplementär dazu, sind Psychotherapeuten keine bloßen »Anwender« von spezifischen Behandlungstechniken, sondern professionelle Gestalter von hilfreichen Beziehungen, die es erlauben, sich als »ganze Personen« zu begegnen. Das heißt nun aber gerade nicht, personenbezogene Differenzen zu übersehen. Im Gegenteil: Als »ganze Person« ist nur anerkannt, wer für seine Differenzen – seien es geschlechtliche, ethnische und welche auch immer – Anerkennung findet. Mit dieser regulativen Idee erweist sich die Psychotherapie selbst als Produkt einer spezifischen, nicht fraglos generalisierbaren westeuropäischen und nordamerikanischen Weltanschauung, die durch Aufklärung, Säkularisierung, Verwissenschaftlichung und Individualisierung gekennzeichnet werden kann.

Der neoliberale Sozialcharakter in Behandlung Psychotherapie kann ein hilfreiches Angebot sein, kränkenden und krank machenden gesellschaftlichen, insbesondere beruflichen Anforderungen zu widerstehen. Allerdings wird Psychotherapie zunehmend auch von Menschen nachgefragt, die erwarten, für eine erfolgreiche Konkurrenz fit gemacht zu werden. Sozialcharakterologisch konzeptualisiert (Fromm, 1981), handelt es sich um Menschen mit einem neoliberalen Sozialcharakter, wie er seit den späten 1980er-Jahren vermehrt auftritt. Setzt man ihn probeweise mit dem Sinus-Milieu der »Modernen Performer« gleich, dann sind es zwischen 12,4 % (2007) und 8 % (2011) der Bevölkerung, bei denen mit einer entsprechenden Charakterstruktur zu rechnen ist. Vermutlich findet sie sich vor © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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allem in Berufsgruppen, die mit Medien und Finanzen zu tun haben. Da dies besonders einflussreiche gesellschaftliche Gruppierungen sind, darf man eine Top-Down-Dynamik vermuten. Stichwortartig lässt sich der neoliberale Sozialcharakter durch ein bestimmtes Merkmalsbündel beschreiben: (a) Das Leben wird als Projekt gestaltet, in dem es darauf ankommt, jede günstige Gelegenheit, die sich bietet, bis zur nächsten besseren Gelegenheit für sich zu nutzen. (b) Es besteht der Selbstzwang, sich selbst (hohe) Ziele zu setzen. (c) Erfolge und Misserfolge bei der Zielerreichung hat sich jeder selbst eigenverantwortlich zuzuschreiben. (d) Was zählt, ist das Heute, nicht das Morgen. (e) Die Leistung von sich und anderen wird nicht nach Fähigkeit und Bereitschaft beurteilt, sondern nur nach dem Ergebnis. (f) Sicherheitsdenken wird von kalkuliertem Risiko abgelöst. (g) Es besteht die Selbstverpflichtung, marktfähige Kompetenzprofile zu entwickeln, anzubieten und zu evaluieren. (h) Der Selbstvermarktungserfolg »heiligt« die Mittel: gut ist, was nachgefragt wird. (i) Selbstwert bemisst sich nach Geld und geldwertem Besitz. (j) Solidarische lebensweltliche Unterstützung wird durch kostenpflichtige Dienstleistungsverträge ersetzt. (k) Exzessiver Medienkonsum virtueller prosozialer Interaktionen kompensiert Misserfolge im realen Leben, vorstellbare und lebensweltlich realisierbare Lebensentwürfe driften auseinander. (l) Angst wird durch kontinuierliche Emotionsarbeit kontraphobisch, Traurigkeit hypomanisch abgewehrt. (m) Die leitenden moralischen Gefühle gehen von Schuldgefühlen auf Schamgefühle über ; die Angst, sich schuldig zu machen, nimmt ab, die Angst, sich wegen persönlichen Versagen schämen zu müssen, nimmt zu. Jeder dieser Punkte verlangt eine ausgiebige Erörterung, die hier aber den Rahmen sprengen würde. Deshalb nur zum letzten Punkt so viel (Haubl, 2008, S. 321): Persönliches Versagen ist – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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klinisch gesprochen – einer der Auslöser einer narzisstischen Depression. Darüber ist bei den Propagandisten des neoliberalen Sozialcharakters aus gutem Grund nicht die Rede. Denn sie gehört zu den psychosozialen Kosten, die Gesellschaftsmitglieder zu tragen haben, wenn ihnen ausreichende Bewältigungskompetenzen fehlen. Depression ist grundlegend verschieden von Trauer. Menschen mit einer narzisstischen Depression sind nicht traurig, sondern infolge von Enttäuschungen ängstlich und wütend zugleich. Dabei kehren sie die Wut aus Angst vor einem totalen Verlust der sozialen Anerkennung gegen sich selbst und setzen auf diesem Wege die erlebte Entwertung in eine gesteigerte Selbstentwertung um. Die Enttäuschung resultiert daraus, dass das Real-Selbst dieser Menschen trotz aller Anstrengungen hinter ihrem Ideal-Selbst zurückbleibt. Nehmen wir an, ein Gesellschaftsmitglied habe die Merkmale des neoliberalen Sozialcharakters zu seinem Ideal-Selbst erhoben, dem es gerecht zu werden sucht; dann wird es jede reale Erfahrung, diesen Merkmalen nicht gerecht zu werden, als beschämend erleben: nicht nur als Mangel, sondern als Makel, der sein Selbstwertgefühl erniedrigt. In der narzisstischen Depression, die es daraufhin entwickeln kann, bleibt ein »erschöpftes Selbst« (Ehrenberg, 2004) unbewusst an den Anspruch gekettet, der es kränkt und krank macht. Wie bewältigen die Gesellschaftsmitglieder ihre Schamangst? Am Besten hilft zweifellos gesellschaftlicher Erfolg. Um dieses knappe Gut wird dann auch unter Einsatz aller Kräfte konkurriert. Erfolgreiche Gesellschaftsmitglieder stellen ihren gesellschaftlichen Erfolg gut sichtbar heraus, um den Neid ihrer Konkurrenten, die sie hinter sich gelassen haben, als Anerkennung zu verbuchen. Da gesellschaftlicher Erfolg ein knappes Gut ist, kann sich jedes Gesellschaftsmitglied ausrechnen, dass viele auf der Strecke bleiben werden: manche, weil ihre Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft nicht ausreichen, um erfolgreich zu werden; manche aber auch, weil sie unter Aufbietung aller ihrer Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zwar gesellschaftlich erfolgreich werden, ohne aber zufrieden zu sein. Wo gesellschaftlicher Erfolg zu einem persönlichen Muss wird, ist vorstellbar, dass die Gesellschaftsmitglieder versuchen, ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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genüber Enttäuschungen unempfindlich zu werden, um immer wieder von vorne anfangen zu können. Da sich eine solche Unempfindlichkeit aber nicht auf negative Gefühle begrenzen lässt, sondern den emotionalen Haushalt der ganzen Person betrifft, schwindet auch die Fähigkeit, positive Gefühle zu empfinden. So gesehen, verwundert es nicht, wenn Coolness, Indifferenz, Zynismus und Langeweile in der neoliberalen Gesellschaft grassieren. Vermutlich sind Psychotherapeuten für Menschen mit einem neoliberalen Sozialcharakter nicht die erste Anlaufstelle. Die Betroffenen behelfen sich zunächst anders: Sie suchen den grauen Psychomarkt nach Angeboten ab, die entsprechende Erfolge versprechen, wobei sie die Angebote schnell wechseln, um jede Enttäuschung mit einem neuen Versprechen zu besänftigen; oder sie vertrauen, wenn sie der Leitungsebene angehören, auf die Arbeit mit einem Coach, der aus der Wirtschaft kommt und vermeintlich über Insiderwissen verfügt, das ihnen einen Konkurrenzvorteil verschafft. Oder sie rüsten, wie bereits festgestellt, erst einmal psychopharmakologisch auf. In der Perspektive dieser Menschen ist Psychotherapie (wie Medizin und Psychologie insgesamt) eine Dienstleistung, die von ihnen als Kunden nachgefragt wird (Schmeling-Kludas, 2008) – mithin »wunscherfüllende Psychotherapie«. Wie weit sie bereits verbreitet ist? Wer weiß! Dass auch Psychotherapie als Mittel nachgefragt wird, sich für einen Lebensstil fit zu machen, der die psychische Gesundheit immer wieder neu gefährdet, dürfte dagegen außer Frage stehen. Psychotherapeuten müssen sich dazu verhalten. Reduzieren sie ihr Rollenverständnis auf das eines Dienstleisters, werden sie die Therapieziele ihrer Kunden zu den ihren machen. Damit blenden sie aber aus, dass die Ziele selbst eine pathogene Wirkung haben können, weshalb es geboten ist, sie gemeinsam zu reflektieren. So gesehen, lassen sich Therapieziele streng genommen einer Psychotherapie nicht voranstellen, vielmehr sind Zielfindung und psychotherapeutischer Prozess unaufhebbar ineinander verschränkt.

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Psychotherapie unter Effizienzdruck Soweit es interessierten Kreisen wie der Pharmalobby gelingt, Psychotherapie weiter zu marginalisieren, spiegelt sich darin eine Beförderung der Selbstinstrumentalisierung, zu der es unter neoliberalen Bedingungen gesellschaftlichen Erfolges vermutlich eine wachsende Bereitschaft gibt. Sich mit sich selbst als »ganzer Person« auseinanderzusetzen, versteht sich nämlich keineswegs von selbst. Vielen Gesellschaftsmitgliedern erscheint eine solche Selbstverständigung als Zumutung, die ihnen ihre Selbstvermarktung erschwert. Die gesundheitspolitische Organisation von Psychotherapie kann solchen Tendenzen entgegenwirken oder sie beschleunigen. Aktuell sind Beschleunigungsversuche etwa als Qualitätssicherung psychotherapeutischer Behandlungen getarnt. »So machte eine Krankenkasse folgenden Vorschlag zur Qualitätssicherung psychotherapeutischer Leistungen: Patient und Therapeut sollten regelmäßig Rückmeldungen an mehrere Gutachter geben, die die Fortsetzung der Behandlung in Kontingenten von jeweils 10 Stunden genehmigen würden. Beim Verschwinden der Symptome sollte die Behandlung sofort aufhören« (Schmeling-Kludas, 2008, S. 356). Die Fragmentierung des psychotherapeutischen Prozesses, das externe Controlling, die isolierte Betrachtung von Symptomen und deren Verschwinden als sofortiges Abbruchkriterium entspricht der destruktiven Ökonomisierung, die für neoliberales Kurzfristdenken kennzeichnend ist. Folgt man der Hypothese, dass der hohe Prozentsatz psychischer Störungen etwas mit der gesellschaftlichen Zersetzung sicherer Bindungen zu tun hat, die als Schutzfaktoren dienen, dann kann man in Anbetracht solcher vermeintlicher Qualitätssicherungsmaßnahmen den Eindruck gewinnen, es gehe eher darum, unsichere Bindungen einzuüben, als sie zu korrigieren. Leider ist die Psychotherapie schlecht gerüstet, sich gesellschaftsdiagnostisch einzumischen (Keupp, 2005). Ihre Leitfigur des »Homo psychologicus« neigt zu einer Entpolitisierung. Die Konzentration auf die eigene Person als »ganzer Person« verliert die kränkenden und krank machenden gesellschaftlichen Anforderungen leicht aus den Augen. Sie erfahrungsgesättigt zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

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thematisieren und sogar zu politisieren, wäre aus meiner Sicht aber dringend notwendig.

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Die Autorinnen und Autoren

Ulrich Bahrke, PD Dr. med., Leiter der Institutsambulanz am SigmundFreud-Institut in Frankfurt a. M., Facharzt für Psychosomatische Medizin, Facharzt für Neurologie/Psychiatrie, Psychoanalytiker (DPV/IPA), Lehranalytiker (DGPT), 2009/10 Vertretungsprofessur für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Lothar Bayer, Dr. phil. habil., Dipl.-Psych., Dipl.-Soz., Psychoanalytiker (DPV, IPA), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. und niedergelassen in eigener Praxis. Hugo Bleichmar, Professor und Director Postgraduate Program in Psychoanalysis Universidad Pontificia Comillas, Madrid. Lehranalytiker der Argentinischen Psychoanalytischen Vereinigung und der International Psychoanalytical Association (IPA). Chiara Bottici, Dr. phil., Professorin für Philosophie, Department of Philosophy, New School for Social Research, New York. Hans-Joachim Busch, Dr. phil. habil., apl. Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Wissenschaftlicher Angestellter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M., Dipl.-Supervisor (DGSv). Steven J. Ellman, Professor, ehemals Graduate School of City University of New York (CUNY), Direktor des Ph.D.-Programms in Klinischer Psychologie. Mitglied der International Psychoanalytical Association, Lehranalytiker, Leiter des Programmkomitees des IPA-Kongresses in Mexiko City 2011. Robert N. Emde, M.D., Professor für Psychiatrie an der University of Colorado und Professor für Psychologie an der University of Denver, ordentliches Mitglied der American Psychoanalytic Association, Mitbegründer der World Association of Infant Health und ehemaliger Präsident der Society for Research in Child Development. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451298 — ISBN E-Book: 9783647451299

Die Autorinnen und Autoren

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Tamara Fischmann, PD Dr. rer. med., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin DPV/IPA, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. Neben der wissenschaftlichen Tätigkeit klinische Tätigkeit in eigener Praxis. Lilli Gast, Prof. Dr. phil. habil., Dipl.-Psych., Vizepräsidentin und Professorin für Theoretische Psychoanalyse / psychoanalytische Subjekt- und Kulturtheorie an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) sowie apl. Professorin für Sozialpsychologie an der Leibniz-Universität Hannover. Kurt Grünberg, Dr. phil., Dipl.-Psych., Dipl.-Päd., Psychoanalytiker (DPV/ IPA), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. und niedergelassen in eigener Praxis. Charles Hanley, Professor, Lehranalytiker und Supervisor am Canadian Institute of Psychoanalysis (Toronto Branch) und emeritierter Professor (Philosophie) der University of Toronto und President of the International Psychoanalytical Association. Rolf Haubl, Dr. phil. (Sprachwissenschaften), Dr. rer. pol. habil. (Psychologie), Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. und Direktor des SigmundFreud-Instituts in Frankfurt a. M., Gruppenlehranalytiker (DAGG) und Supervisior (DGSv). Angela Kühner, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Soziologie und Psychoanalytische Sozialpsychologie der GoetheUniversität Frankfurt a. M., Gastwissenschaftlerin am Sigmund-FreudInstitut in Frankfurt a. M. Katrin Luise Läzer, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am SigmundFreud-Institut in Frankfurt a. M. und an der Universität Kassel (Fachgebiet Psychoanalyse), in Ausbildung zur Psychoanalytikerin (DPV). Judith Lebiger-Vogel, Dr. phil., Dipl.-Psych., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. und an der Universität Kassel, in psychoanalytischer Ausbildung (DPV). Marianne Leuzinger-Bohleber, Dr. phil. habil., Professorin für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel, Mitdirektorin des Sig-

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Die Autorinnen und Autoren

mund-Freud-Instituts in Frankfurt a. M., Psychoanalytikerin (DPV, SGP), Lehranalytikerin in eigener Praxis. Alexa Negele, Dipl.-Psych., wissenschaftliche Mitarbeiterin am SigmundFreud-Institut in Frankfurt a. M. Nicole Pfenning-Meerkötter, Dipl.-Psych., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M., in Ausbildung zur Psychoanalytikerin am Frankfurter Psychoanalytischen Institut. Tomas Plänkers, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter des SigmundFreud-Instituts in Frankfurt a. M., Psychoanalytiker (DPV, IPA), niedergelassen in eigener Praxis, Lehranalytiker am Frankfurter Psychoanalytischen Institut. JoAnn L. Robinson, Ph.D., Professorin, Director of Early Childhood Education and Early Intervention Department of Human Development & Family Studies University of Connecticut. Stephen Suomi, Ph.D., Laboratory of Comparative Ethology, Eunice Kennedy Shriver National Institute of Child Health and Human Development, National Institutes of Health, Bethesda, Maryland. Joel Whitebook, Philosoph und praktizierender Psychoanalytiker, er lehrt und forscht am Department für Psychiatrie sowie am Zentrum für psychoanalytische Ausbildung und Forschung an der Columbia Universität in New York.

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