Präsenz des Mythos: Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit [Reprint 2012 ed.] 9783110905755, 9783110178012

The volume presents papers on the subject of "Myths in the Middle Ages", and harnesses the theoretical discuss

154 34 12MB

German Pages 380 [384] Year 2004

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Table of contents :
Mediävistische Mythosforschung
Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos
I. Mythos und Kerygma
Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich/Parzival)
Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte
Mythische Variante. Narrative Soteriologie des Descensus Christi
Diß kommt von gelückes zuoualle. Entzauberung und Remythisierung in der Melusine des Thüring von Ringoltingen
II. Mythos und Genealogie
Erzählen vom Ursprung: Mythos und kollektives Gedächtnis im Annolied
Schwanenkinder – Schwanritter – Lohengrin. Wege mythischer Erzählungen
„Herrschaft braucht Herkunft“: Biographie, Ätiologie und Allegorie in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich
Hermes als Gründerfigur im Mittelalter – Transformationsformen des Mythos
III. Mythos und Erzählung
Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der Kudrun
Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds Tristan
Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der „gestörten Mahrtenehe“ (besonders im Ritter von Staufenberg und bei Walter Map)
Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied
Gests Erzählungen. Germanische Mythologie und der ordo narrationis in der isländischen Geschichtsschreibung des Spätmittelalters
Episches Schreiben als inspiriertes Sprechen. Zu einem Typus mythischer Rede am Beispiel von John Miltons Paradise lost
Register
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Präsenz des Mythos: Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit [Reprint 2012 ed.]
 9783110905755, 9783110178012

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Präsenz des Mythos

W G DE

Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield • Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 2

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Präsenz des Mythos Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von Udo Friedrich und Bruno Quast

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-443X ISBN 3-11-017801-X Bibliografische Information Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter G m b H & Co. K G , 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. G m b H & Co. K G , Göttingen

Vorwort Die Beiträge dieses Bandes gehen zum großen Teil zurück auf das Kolloquium Präsenz des Mythos: Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, das vom 18. bis 21. September 2002 im Schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrum ,Kloster Irsee' stattfand. Die Fritz ThyssenStiftung für Wissenschaftsförderung hat diese Veranstaltung durch eine großzügige Unterstützung ermöglicht. Wir bedanken uns an dieser Stelle sehr herzlich dafür. Dasselbe gilt auch für die Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die uns ihre Beiträge für diese Publikation zur Verfügung gestellt haben. Ebenfalls zu danken ist den Herausgeberinnen und dem Herausgeber der Reihe Trends in Medieval Philology für die Aufnahme des vorliegenden Bandes. Das Register wurde von Andreas Linder erstellt, bei der Einrichtung der Texte stand uns Martin Schierbaum zur Seite. Beiden gilt unser aufrichtiger Dank.

Greifswald/Konstanz im Oktober 2004

Udo Friedrich Bruno Quast

Inhaltsverzeichnis

U D O FRIEDRICH/BRUNO QUAST

Mediävistische Mythosforschung

IX

HANS ULRICH GUMBRECHT

Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos

1

I. Mythos und Kerygma RAINER WARNING

Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma {Der arme HeinriehlParzival)

19

CHRISTIAN KIENING

Arbeit am Absolutismus des Mythos Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte

35

CHRISTOPH PETERSEN

Mythische Variante. Narrative Soteriologie des Descensus Christi

59

BRUNO QUAST

Diß kommt von gelückes zuoualle. Entzauberung und Remythisierung in der Melusine des Thiiring von Ringoltingen

83

Π. Mythos und Genealogie SUSANNE BÜRKLE

Erzählen vom Ursprung: Mythos und kollektives Gedächtnis im Annolied

99

BEATE KELLNER

Schwanenkinder - Schwanritter - Lohengrin Wege mythischer Erzählungen

131

Vili

Inhaltsverzeichnis

MONIKA SCHAUSTEN

„Herrschaft braucht Herkunft": Biographie, Ätiologie und Allegorie in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich

155

HARALD HAFERLAND

Hermes als Gründerfigur im Mittelalter Transformationsformen des Mythos

177

ΙΠ. M y t h o s u n d Erzählung JAN-DIRK MÜLLER

Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der Kudrun

197

SUSANNE KÖBELE

Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds Tristan

219

CHRISTOPH HUBER

Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der „gestörten Mahrtenehe" (besonders im Ritter von Staufenberg und bei Walter Map)

247

U D O FRIEDRICH

Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied

275

JULIA ZERNACK

Gests Erzählungen. Germanische Mythologie und der ordo narrationis in der isländischen Geschichtsschreibung des Spätmittelalters

299

MATÍAS MARTINEZ

Episches Schreiben als inspiriertes Sprechen. Zu einem Typus mythischer Rede am Beispiel von John Miltons Paradise lost

329

ANDREAS LINDER

Register

341

UDO FRIEDRICH/BRUNO QUAST

Mediävistische Mythosforschung

1. Modellierungen des Mythischen Auch wenn Christentum und Aufklärung vorgeben, das Mythische als das Irrationale bewältigt zu haben, übt es weiterhin eine tiefe Faszination aus. Versteht man Mythisches nicht nur als heidnische Göttergeschichte oder als bloß vorrationale Erklärung der Welt, sondern gesteht man dem Mythischen in historischer Perspektive eine eigene Rationalität zu, nimmt man überdies an, dass eine rein rationale Haltung gar nicht erreichbar ist, dann erhält das Mythische einen anderen Stellenwert. Noch in der Romantik leistet der Rückgriff auf den Mythos eine besondere Rolle als Orientierung menschlicher Befindlichkeit gegen eine sich absolut setzende Rationalität. In der Moderne sind es zunächst zwei Theorien, die dem Mythos eine positive Funktion zuweisen: Die Ritualtheorie und die psychoanalytische Theorie. Die Ritualtheorie,1 die Ende des 19. Jahrhunderts aufkam2 und Mitte des 20. weiterentwickelt wurde, sieht den Mythos im Zusammenhang mit rituellen Praktiken verankert, die fur den Fortbestand von Gesellschaften notwendig sind. Dagegen hat die Psychoanalyse auf mythische Konstellationen zurückgegriffen, um psychische Grunddispositionen zu erklären: z.B. den Ödipuskomplex oder den Narzissmus. Nahe lag dann der Umkehrschluss, dass die Mythen ihrerseits psychische Konstellationen abbilden. Wenn auch der psychoanalytische Befund kaum einer wissenschaftlichen Überprüfung standhält, so hat er doch nach WALTER BURKERT immerhin den Blick

WALTER BURKERT: M y t h o s und M y t h o l o g i e . In: Propyläen G e s c h i c h t e der Literatur. Literatur und G e s e l l s c h a f t der westlichen Welt. Bd. 1 : Die Welt der A n t i k e 1 2 0 0 v.Chr. bis 6 0 0 n.Chr., Berlin 1 9 8 8 , S. 1 1 - 3 5 , hier S. 18. Vgl. auch DERS.: Antiker M y t h o s - B e g r i f f und Funktion. In: A n t i k e Mythen in der europäischen Tradition. Hrsg. v o n HEINZ HOFMANN, Tübingen 1999, S. 11-26; DERS.: M y t h i s c h e s Denken. Versuch einer Definition an Hand d e s griechischen B e f u n d e s . In: Kratylos 41 ( 1 9 9 6 ) , S. 16-39. 1

Einführend hierzu HANS G. KJPPENBERG: D i e Entdeckung der R e l i g i o n s g e s c h i c h t e . Religio n s w i s s e n s c h a f t und Moderne. M ü n c h e n 1997.

Udo Friedrich/Bruno Quast

χ

dafür geschärft, "in welchem Ausmaß gerade die griechische Mythologie dominiert wird von den Permutationen des 'Familiendramas'". 3 In der Gegenwart haben die verschiedensten theoretischen Ansätze versucht, den Mythos zu rehabilitieren. Erklärungen des Mythos gibt es auf der Basis philologischer, strukturalistischer, ethnologischer, neukantianischer, hermeneutischer und semiotischer Theorien.4 Eine gültige festumrissene Theorie des Mythos wird es nicht geben, ja die Forderung nach einem MythosBegriff oder selbst der Terminus Mytho-Logie binden schon zwei heterogene Größen aneinander. Denn der Mythos lässt sich als das Andere der Vernunft verstehen, das sich einer vollständigen rationalen Auflösung entzieht. Mythostheorien konzeptionalisieren dieses Andere der Vernunft auf je eigene Art. 1.1 André Jolies Wirkungsmächtige mythentheoretische Implikationen besitzt A N D R É JOLLES' Buch "Einfache Formen" aus dem Jahr 1930.5 JOLLES' Ansatz zeichnet sich durch eine Verbindung von hermeneutischen mit lebensweltlichen Praktiken und ihre Koppelung an besondere Typen von Erfahrungen aus: z.B. an Heiligkeit, Familie, Ursprung. JOLLES fuhrt Erzählformen auf Erfahrungsmuster zurück, in denen sich elementare pragmatische Bedürfnisse artikulieren, die er .Geistesbeschäftigungen' nennt. Legende, Sage und Mythe etwa sind für JOLLES solche einfachen Formen. So ist die Mythe eine Sprachgebärde des Wissens, die aus „Frage und Antwort die Welt dem Menschen erschafft" 6 , etwa in Schöpfungsmythen. Die .Antwort ist so, [...] dass im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frage erlischt:"7 Ihr analoge Formen der Wahrsage wären das Orakel oder die Offenbarung. Der Geltungsanspruch der Erzählform Mythe behauptet sich jenseits von Wissenschaft und Geschichte in Grenzbereichen des Wissens. „Die Welt der Mythe [...] ist eine Welt, die Befestigung sucht [...]."8 Die Mythe imaginiert eine Welt, die den Wechsel der natürlichen Erscheinungen in eine stabile Form überfuhrt, die JOLLES .Geschehen' nennt.9 Die Welt in ihren elementaren Erscheinungen, in ihrer Vielfältigkeit und Ste-

3 4

BURKERT: Mythos und Mythologie (Anm. 1), S. 19. Einen ersten Überblick bietet: Texte zur modernen Mythentheorie. Hrsg. von WILFRIED BARNER/ANKE DETKEN/JÖRG WESCHE, Stuttgart 2003. Vgl. auch CHRISTOPH JAMME: „Gott an hat ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1999 (stw 1433).

5

ANDRÉ JOLLES: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1999 (zuerst 1930).

6

Ebd., S. 97.

7

Ebd.

8

Ebd., S . I I 1.

'

Ebd., S. 115. „Gestalten werden in einem Geschehen beweglich."

Mediävistische Mythosforschung

XI

tigkeit, wird in einem Geschehen, über das ein Gegenstand überhaupt erst in die Form der Erzählung überführt werden kann, zur Einheit zurückgeführt.10 J O L L E S schreibt der Mythe die Leistung zu, ein Bedürfnis nach Erklärung zu befriedigen, indem sie einen Anfang setzt. Solche Form der Stabilisierung verbindet er mit dem Begriff ,heil, heilig': ,Alles was Bestand haben soll, muss in seinem Anfang heilig gedeutet werden."11 J O L L E S denkt also die Kategorien Beständigkeit, Anfang und Heil (Ganzheit) zusammen. Die Erzählform Mythe, die Bestand über einen Anfang garantiert, kann auch jenseits von Naturmythen wirksam werden, etwa in Gestalt von Heilsbringermythen oder in der schon verfremdeten literarisierten Form der Kunstmythen. J O L L E S ' Reflexion der Mythe hat wohl am prägnantesten auf das Problem des absoluten Anfangs aufmerksam gemacht und ist maßgeblich geworden für analytische Beschreibungen von Ursprungserzählungen. 1.2 Ernst Cassirer Ganz andere Zugänge zum Mythos sucht die Philosophie. Mit der „Philosophie der symbolischen Formen" hat ERNST CASSIRER 1923 eine Kulturphilosophie vorgelegt, die über die Tradition des Neukantianismus hinaus Grundformen des Geistes zu beschreiben sucht.12 Mit dem Begriff der .symbolischen Form' zielt CASSIRER auf Kulturdimensionen, in denen der sinnbildende Mensch der Wirklichkeit begegnet. Neben der theoretischen Einstellung erhalten die moralische, ästhetische, religiöse und mythische Einstellung ihren Ort im Wahrnehmungsspektrum des Menschen. Philosophie verliert ihr Monopol auf Welterklärung, teilt es mit kategorial anderen Zugangsweisen. Für CASSIRER repräsentiert der Mythos dezidiert eine historische Stufe der Wahrnehmung. Er stützt sich methodisch auf allgemeine Bedingungen der Wahrnehmung, die gerade im Rahmen philosophischer Erkenntnistheorie eine elaborierte Bestimmung erfahren hatten: Subjekt, Objekt, Raum, Zeit, Kausalität, Kraft, Begriffe mithin, die zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehören und die die Einheit des Bewusstseins garantieren sollten. Der Mythos besitzt keinen vollständig anderen Weltzugang als der Logos, beide unterscheiden sich nur durch die Art und Weise, wie sie die Kategorien nutzen. CASSIRER versucht den Wahrnehmungsapparat mythischer Welteinstellung zu rekonstruieren. Der Mythos kennt nicht die komplizierte analytische und 10 11 12

Ebd., S. 114f. E b d , S. 14. ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 1958 (zuerst 1923). Vgl. Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Emst Cassirers. Hrsg. von HANS JÖRG SANDKÜHLER/DETLEF PÄTZOLD, Stuttgart, Weimar 2003. BIRGIT RECKI: Kultur und Praxis. Ein Einführung in Emst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin 2004 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6).

U d o Friedrich/Bruno Quast

XII

synthetische Zerteilung der Wirklichkeit, sondern lebt in „einer Welt reiner Gestalten, die ihm als ein durchaus Objektives, ja als das Objektive schlechthin gegenüberstehen." 13 Während in der wissenschaftlichen Erkenntnis das Subjekt das Objekt begreift, wird im mythischen Denken das Subjekt vom Objekt 'ergriffen', überwältigt. Sein, Wahrheit und Wirklichkeit gehen in der bloßen Präsenz des Inhalts auf.14 Ungeschiedenheit kennzeichnet die spezifische Qualität des mythischen Bewusstseins: die Ungeschiedenheit von Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod, Sache und Bild, Ding und Wort. Dem mythischen Denken drängen sich so alle Inhalte in einer einzigen Realitätsebene zusammen, alles Wahrgenommene besitzt als solches schon Realitätscharakter.15 Vor allem Merkmale der vorwissenschaftlichen Rationalität und der Konkreszenz von Daseinssphären sind maßstabsetzend für die weitere Mythosforschung geworden. C A S S I R E R befragt den Mythos auf dessen Erklärungsleistung hin, und für dieses Unternehmen stellt er ihn symmetrisch neben die etablierten rationalen Erkenntnisstandards der Wissenschaft. Er misst den Mythos bei aller Bemühung, ihm gerecht zu werden, letztlich aber doch am Logos. Für eine Anwendung der Mythostheorie C A S S I R E R S auf literarische Phänomene des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bleibt zu vermerken, dass bei aller Superiorität der analytischen Erkenntnisform gegenüber der vorrationalen C A S S I R E R von der Möglichkeit einer Gleichzeitigkeit von mythischer und rationaler Bewusstseinsform ausgeht. Rationalität schließt mythische Wahrnehmung nicht aus, umgekehrt figuriert die mythische Bewusstseinsform als Vorstufe des Rationalen.

1.3 Claude Lévi-Strauss C L A U D E L É V I - S T R A U S S geht von der Voraussetzung aus, dass die Wahrheit des Mythos nicht in der Analyse oder Interpretation seiner einzelnen Bestandteile aufgefunden werden kann. 16 Mythen werden nicht auf etwas spezifisch anderes zurückgeführt: etwa auf ein Urgefühl, einen Archetypus, einen Himmelskörper, auf historische Ereignisse oder Personen. Mythen sind vielmehr Ausdruck eines allgemeineren Sachverhalts. Wie der Mythos nicht spezifisch referentia-

13

CASSIRER ( A n m . 12), S. 4 7 .

14

Ebd.

15

Ebd., S. 56.

"

CLAUDE LÉVI-STRAUSS: D i e Struktur der Mythen. In: DERS.: Strukturale A n t h r o p o l o g i e I. Frankfurt 1 9 7 7 , S. 2 2 6 - 2 5 4 . V g l . MICHAEL OPPITZ: N o t w e n d i g e B e z i e h u n g e n . Abriss der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a.M. 1 9 7 5 ; RENATE SCHLESIER: Ödipus, Parsifal und die Wilden. Zur Kritik an Lévi-Strauss' M y t h o l o g i e des Mythos. In: D i e Restauration der Götter. A n t i k e R e l i g i o n und N e o - P a g a n i s m u s . Hrsg. von RICHARD FABER/RENATE SCHLESIER, Würzburg 1 9 8 6 , S. 2 7 1 - 2 8 9 .

Mediävistische Mythosforschung

XIII

lisiert werden kann, so entbehrt er auch einer Urform. Der Mythos existiert in der Vielzahl seiner Aktualisierungen. Enthistorisierung ist ein zentrales Moment des Strukturalismus, und LÉVI-STRAUSS überträgt sie auf die Mythenanalyse. Mythen gehören einerseits in das Gebiet des gesprochenen Wortes wie in das der Sprache: einmal erzählen sie eine Geschichte, das andere Mal aber bieten sie eine strukturelle Aussage. Der Sinn der Mythen aber liegt in einem tiefer liegenden Gefüge, einer sprachlichen Aussage, die nicht auf der Ebene der Normalsprache zu finden ist. In Analogie zu dem Analyseinstrumentarium der strukturalen Linguistik, etwa dem Phonem oder Morphem, postuliert LÉVISTRAUSS die Existenz von Mythemen. Mythen thematisieren elementare Probleme einer Gesellschaft auf symbolischer Ebene. Solche Probleme drehen sich nach LÉVI-STRAUSS immer um die Pole Natur und Kultur, die in ganz unterschiedlichen Verkleidungen oder Transformationen zum Ausdruck kommen: im Rohen und Gekochten; im nackten und bekleideten Menschen; aber auch in der Ordnung von Verwandtschaftsverhältnissen (Inzestgefahr).17 In den Mythen werden immer wieder identische Elemente neu kombiniert und in neuen Zusammenhängen artikuliert: der Theologe wird sie als Religionsprobleme auffassen - Mythen als Göttergeschichten; der Historiker wird sie als transformierte Erinnerung an herausragende Ereignisse und Personen ansehen; der Soziologe sieht in ihnen Probleme der jeweiligen Gesellschaftsstruktur; ein Anthropologe wie LÉVISTRAUSS schließlich fahndet nach elementaren anthropologischen Grundstrukturen. Entscheidend und geradezu exemplarisch für diese frühe Stufe des Strukturalismus ist, dass der sprechende und Geschichten erzählende Mensch zum Vollzugsorgan ihm übergeordneter Instanzen wird: An den Mythen interessiert nicht das, was die Menschen daraus machen, sondern das, was die Natur dem Menschen darin verkündet: "Wir behaupten also nicht, zeigen zu können, wie die Menschen in Mythen denken, sondern wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken. Und vielleicht müßte man [...] noch weiter gehen und von jedem Subjekt abstrahieren, um zu erkennen, daß sich die Mythen auf gewisse Weise untereinander denken. Denn es geht nicht so sehr darum, das, was in den Mythen ist [...], als vielmehr das System der Axiome und Postulate freizulegen, die den bestmöglichen Code definieren, welcher geeignet ist, unbewussten Schöpfungen eine gemeinsame Bedeutung zu geben [.,.]."18 Wie der Mensch der Antike zum Spielball der Götter wird, so der von mythischen Erzählungen geprägte Mensch zum Vollzugsorgan mythischer 17

18

CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt a.M. 1971 (zuerst 1964); DERS.: Mythologica II. Vom Honig zur Asche. Frankfurt a.M. 1972 (zuerst 1966); DERS.: Mythologica III. Der Ursprung der Tischsitten. Frankfurt a.M. 1973 (zuerst 1968); DERS.: Mythologica IV. Der nackte Mensch. Frankfurt a.M. 1975 (zuerst 1971). LÉVI-STRAUSS: Mythologica I (Anm. 17), S. 26.

XIV

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Strukturen. Eine eindrucksvolle, mediävistisch signifikante, Illustration seines Verfahrens bietet L É V I - S T R A U S S selbst in der Konfrontation seiner schon klassisch gewordenen Ödipus-Analyse mit dem Parzival-Mythos.19 1.4 Hans Blumenberg Folgt man der philosophischen Mythostheorie H A N S B L U M E N B E R G S , zielt mythische Ermächtigung in der Geschichte der Menschheit bis in die Gegenwart immer wieder in unterschiedlichen Figurationen auf eine Depotenzierung der Unheimlichkeit der Welt, des Absolutismus der Wirklichkeit.20 Der Mythos arbeitet also nach B L U M E N B E R G an der „Entängstigung des Menschen vor allen ihm unbegreiflichen Gewalten"21. Damit schließt B L U M E N B E R G an die Dialektik der Aufklärung von A D O R N O / H O R K H E I M E R an, die im Mythos bereits Aufklärung am Werk sehen, weil er sich dem Unheimlichen entgegenstemme. Die Grundoperation des Mythos besteht nach B L U M E N B E R G darin, numinose Unbestimmtheit in nominale Bestimmtheit zu überfuhren, die Dinge der Welt werden benannt und durch Benennung beherrschbar. Zudem teilt der Mythos die Welt auf und unterstellt das differenzierte Weltgeschehen verschiedenen Mächten bzw. Göttern. Diese kontrollieren sich gegenseitig. Diese archaische Gewaltenteilung als mythisches Instrument, den Absolutismus der Wirklichkeit zu schwächen, wie wir sie in der Antike finden, führte den Prozess der Aneignung des Unbestimmten nach B L U M E N B E R G indes ad absurdum, insofern zu einem bestimmten Zeitpunkt der Mythenentwicklung „alles voll von Göttern ist".22 Eine neuerlich beängstigende mythische Unübersichtlichkeit greife Platz. Der Monotheismus Israels, so B L U M E N B E R G , kann denn auch vorderhand als befreiende Antwort auf den Polytheismus der altorientalischen Nachbarreligionen verstanden werden. Doch ersetzte ein neuer Totalitätsanspruch des einen Gottes den überwunden geglaubten Absolutismus einer unbestimmten Wirklichkeit. Ging im Mythos die Technik der Schwächung des Machtanspruchs der Götter über die Teilung der Macht, versuchen nun Altes und Neues Testament über „Vorformen der Gesetzlichkeit und Vertragstreue"23, Nachweise geschichtlicher Art also, die Zuverlässigkeit der göttlichen Übermacht unter Beweis zu stellen. „Es ist der Gott, der sich an das gehalten hat, was er den Vätern verhieß, der eine in der Geschichtserzählung erkennbare 19

CLAUDE LÉVI-STRAUSS: V o n Chrétien de Troyes zu Richard Wagner. In: DERS.: Der B l i c k aus der F e m e , M ü n c h e n 1 9 8 5 , S. 3 2 6 - 3 4 5 .

20

HANS BLUMENBERG: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential d e s M y t h o s . In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von MANFRED FUHRMANN, M ü n c h e n 1971 ( P o e tik und Hermeneutik 4 ) , S. 11-66.

21

HANS BLUMENBERG: Arbeit a m M y t h o s . Frankfurt a.M. 1 9 9 6 , S. 5 9 7 .

22

Ebd., S. 32.

23

Ebd., S. 140f.

Mediävistische Mythosforschung

XV

Grundform der Bewährung, eine Art von Charakter besitzt. Die Herausstellung dieses Elements der Gottestreue ist mehr als Festschreibung juridischer Vertragsfahigkeit. Bundestreue ist, was nur in der Erzählung einer wahren Geschichte, nicht eines Mythos, nachgewiesen und festgehalten, als prophetischer Vorwurf gegenüber der treulosen Seite des Bündnisses, den Menschen, aufgebracht werden kann. Es kommt nicht darauf an, daß die geschriebene Geschichte wahr ist, sondern darauf, daß sie wahr sein muß."24 Für das Mittelalter sollte nun, folgt man BLUMENBERG weiter, die bildlose Sprache der späteren Konzilsentscheidungen, die Abstraktionen der dogmatischen Entwicklung eine Bedrohung neuer Art darstellen. Ein der Alltagswelt entrückter Absolutismus der Transzendenz - die Rede von der hypostatischen Union etwa, die die Gottmenschlichkeit Christi fixierte, entzog sich jeglicher Anschaulichkeit - ersetzte den anfänglichen Absolutismus der Wirklichkeit. Das mythische Remedium gegen solche Unheimlichkeit hatte im mythischnarrativen Verfahren der Gewaltenteilung bestanden. Die Abstraktion des Dogmas rief dieses Vorgehen laut BLUMENBERG erneut auf den Plan, Satan wurde als Gegenmacht eingeführt. „In Satans Gestalt ist der Mythos zur Subversion der dogmatisch disziplinierten Glaubenswelt geworden."25 Dogma und Mythos, abstrakter Begriff und konkrete Erzählung, konkurrieren fortan miteinander. Die geistliche Literatur des Mittelalters, besonders die geistliche Epik und das geistliche Spiel, spiegeln diesen mythischen Konflikt wider.

2. Mediävistik und Mythosforschung Die Auffassung eines mythisch geprägten Mittelalters hat wohl am nachdrücklichsten PETER CZERWINSKJ vertreten. Den präsentischen Charakter mythischer Denkform hypostasiert er zur Epochensignatur der Gegenwärtigkeit. Auf der Basis der Hegeischen Geschichtsphilosophie entwirft CZERWINSKJ in mehreren Studien Grundlinien einer Geschichte der Wahrnehmung, die einen radikalen Bruch in den Wahmehmungsbedingungen von Mittelalter und Neuzeit konstatieren. Die Alterität einer vorbürgerlichen Adelskultur zeichne sich durch die Absenz von Abstraktion in zentralen Feldern der Wahrnehmung aus: Raumund Zeitbewusstsein, Körperkonzept, Textbegriff. Unter Rekurs auf mythentheoretische, religionswissenschaftliche und ethnologische Forschung versucht CZERWINSKJ für das Mittelalter die Geltung einer nichtbürgerlichen Denkform nachzuweisen. Die Dinglichkeit mittelalterlicher Kultur spürt er im feudalen Körperkonzept auf, in der Ungeschiedenheit von innen und außen, privat und

24 25

Ebd., S. 140f. Ebd., S. 159.

XVI

Udo Friedrich/Bruno Quast

öffentlich, vor allem aber in der Gewalt als Basis materialer Kommunikation.26 In ungebrochener präsentischer Selbstgewissheit behauptet der adelige Körper sein Recht. Raum- und Zeitbewusstsein konstituieren sich nach C Z E R W I N S K I gleichfalls jenseits abstrakter Relationen, sichtbar an nicht geometrischen, vielmehr aggregativen Raumauffassungen bildlicher Darstellungen (Bedeutungsraum) einerseits, an nicht linearen, sondern zyklischen Zeitkonzepten im genealogischen Zusammenhang andererseits. Überall trifft C Z E R W I N S K I auf das Merkmal der Ungeschiedenheit: innen-außen, privat-öffentlich, PersonHerrschaft, Vergangenheit-Zukunft, Bedeutung-Form. C Z E R W I N S K I S Arbeiten zur Mythizität des Mittelalters, so eklektizistisch und methodisch fragwürdig sie verfahren, haben immerhin die Dimensionen ins Bewusstsein gerückt, in die die mythische Bewusstseinsform ausstrahlt und damit das Konzept der Alterität gegenüber dem lange präferierten Gedanken der Kontinuität profiliert. Für die Literatur des Mittelalters lassen sich gegenüber einem monolithischen Postulat der Gegenwärtigkeit drei große, sehr unterschiedliche, historische Mythenkomplexe unterscheiden: antiker, nordischer und keltischer Mythos. Mythisch-Mythologisches ist dabei in der mittelalterlichen Erzählkultur auf allen Ebenen des Erzählens zu greifen: auf der Ebene der Stoffe, Motive und Figuren, der Handlungsschemata, Erzählstrukturen und -motivationen. Die Felder, die vom Problemkreis des Mythischen affiziert sind, können hier nur grob und keinesfalls erschöpfend skizziert werden. Da größere systematische Arbeiten27 oder gar Forschungsberichte zur Mythizität mittelalterlicher Litera26

PETER CZERWINSKI: Das Nibelungenlied. Widersprüche höfischer Gewaltreglementierung. In: E i n f ü h r u n g in die deutsche Literatur des 12.-16. Jahrhunderts. Hrsg. von WINFRIED FREY/WERNER RAITZ/DIETER SEITZ. Bd. 1: Adel und Hof - 12./13. Jahrhundert, Opladen 1979, S. 49-87. DERS.: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der W a h r n e h m u n g II. München 1993. DERS.: K a m p f als .materiale Kommunikation'. Zur Logik edler Körper im Mittelalter (Das Fließen von Kräften und Dingen II). In: Mediaevistik 9 (1996), S. 39-76. Zur K r i t i k an PETER CZERWINSKI vgl. PETER STROHSCHNEIDER: D i e Z e i c h e n d e r M e d i ä v i s t i k . E i n

Diskussionsbeitrag z u m Mittelalter-Entwurf in Peter Czerwinskis ,Gegenwärtigkeit'. In: IASL 2 0 ( 1 9 9 5 ) , S. 1 7 3 - 1 9 1 . 27

A u s n a h m e bildet die an CLAUDE LÉVI-STRAUSS orientierte Arbeit von ELISABETH SCHMID: Familiengeschichten und Heilsmythologie. Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts. Tübingen 1986 (Beihefte zur Zeitschrift f ü r romanische Philologie 211). Zu CLEMENS LUGOWSKIS Theorie des mythischen Analogon (Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von HEINZ SCHLAFFER. Frankfurt 1976 [zuerst 1932]) vgl. MATÍAS MARTINEZ: Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie. In: DERS. (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u.a. 1996, S. 7-24, hier S. 14-17; JAN-DIRK MÜLLER: Der Prosaroman eine Verfallsgeschichte? Zu Clemens Lugowskis Analyse des .Formalen M y t h o s ' . In: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 143-163; JENS HAUSTEIN: Kausalität als Autorität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur. Oder: Clemens Lugowski als mediävistische Autorität? In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages

Mediävistische Mythosforschung

XVII

tur28 nicht vorliegen, sollen in einem ersten, sehr vorläufigen Versuch einige Linien gezogen werden, um Tendenzen der Forschung zu konturieren. Es bietet sich an, entlang gattungssystematischer Differenzierungen, und hier zunächst einzelne Forschungspositionen skizzierend, zu prozedieren. Die Profilbildung mythenkritischer Forschungen, zur Rezeption des antiken Mythos im mittelalterlichen Roman, zur Heldenepik, dem höfischen Roman, zu Geistlicher Literatur/Geistlichem Spiel und genealogisch-historiographischem Schrifttum, soll hier knapp nachgezeichnet werden. Stimmen der Forschung sowie Beobachtungen zu einzelnen Texten können allenfalls exemplarisch aufgerufen werden. Die Verästelungen der Mythenrezeption in der Frühen Neuzeit bleiben in diesem Rahmen unberücksichtigt. 2.1 Antiker Mythos im Mittelalter MAX WEHRLI29 verfolgt verschiedene Modi der Adaptation antiker Mythologie durch das Christentum und arbeitet dessen komplizierte Aneignungsverfahren heraus. Das schwierige Verhältnis von Mythos, Religion und Dichtung begleitet die Mythenforschung seit ihren Anfängen. Schon der antike Mythos ist weitgehend nur als Mythologie greifbar, ihr Geltungsanspruch ambivalent, und die christliche Adaptation zeigt die gleichen Irritationen: Ablehnung als Aberglaube einerseits, Nutzung ihres .einheitlichen metaphorischen Kontinuums' andererseits.30 Geläufige Rationalisierungsformen bilden Euhemerismus, religionsgeschichtliche Homogenisierung und Allegorese mit der Typologie als einer historisierten und damit verbindlicheren Form. Neben der Allegorese als einer gelehrten Form der Rezeption entwickelt sich die Allegoriendichtung, gleichfalls eine künstliche Rezeptionsform, doch mit zusätzlichen Spielräumen der Literarisierung. Gerade die Dichtung erweist sich als der Ort, an dem durchaus gegenläufige ideologische Positionen ineinander gefugt werden können. H A N S ROBERT j A U ß 3 1 konstatiert, durchaus substantiell im Einklang mit WEHRLIS Einschätzung der mittelalterlichen Rezeption des antiken Mythos, dass im Mittelalter als dem Zeitalter der babylonischen Gefangenschaft der antiken Mythologie, genauer um 1200 herum, die Grenze des ornamentalen Gebrauchs der Mythologie überschritten worden sei und in der allegorischen

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1997. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN/INGRID KASTEN/EVA NEULAND. Bd. 2., Bielefeld 1999, S. 553-572. Einen inzwischen veralteten Überblick bietet JAN DE VR1ES, Forschungsgeschichte der Mythologie. Freiburg, München 1961, S. 59-81. MAX WEHRLI: Antike Mythologie im christlichen Mittelalter. In: DVjs 57 (1983), S. 18-32. Ebd., S. 21. HANS ROBERT JAUß: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. In: DERS.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München 1977, S. 285-307.

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Aneignung antiker Mythen und Fabeln ein gegenläufiger Prozess der Remythisierung personifizierter Wesenheiten sich abzeichne. „Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert werden im besonderen die antiken Mythen von Amor und Venus zum Kristallisationskern, um den sich die höfische Literatur ritualhaft verfestigt und ihre neue Mythologie ausbildet." 32 Dies ist vor allem in der neuen Gattung der Minneallegorie im 13. Jahrhundert der Fall. Auch bereits Heinrich von Veldeke führt in seinem Eneasroman den Neuen Mythos als postallegorischen Mythos ein. Der neue Mythos ist ein dezidiert literarischer Mythos, die Götter werden als bereits allegorisch entmachtete Figuren erneut ins literarische Spiel eingebracht. „Der post-allegorische Mythos des Hochmittelalters bleibt stets auf die Zwischenwelt allegorischer Personifikationen bezogen, nicht also auf die erzählbare Struktur kulthafter oder textgebundener Geschichten von Göttern und Menschen. Historisch vorauszusetzen ist hier der von C. S. Lewis beschriebene, schon vor der christlichen Ära einsetzende Prozess, daß die antiken Götter [...] mehr und mehr zu Personifikationen herabsanken, während die menschlichen Affekte wie alle seelischen Kräfte [...] über die psychologische Beschreibung zu personifizierten Wesenheiten von fast mythischem Rang hinauswuchsen." 33 Als einen Grundzug der mittelalterlichen Antikerezeption wertet ELISABETH LIENERT die Anpassungsleistung „an mittelalterliche Verhältnisse, an den christlichen Glauben, an die Lebensgewohnheiten der jeweiligen Jetztzeit" 34 , wobei die Haltungen des Mittelalters zur Antike zwischen Distanzierung und Annäherung schwanken. Dies gilt für alle antiken Romanstoffe, vor allem den Alexander-, Eneas-, Troja- und Thebenstoff 35 , die das hohe Mittelalter über antike Vorlagen wie über frühmittelalterliche mythographische Traditionen 36 erreichen. Diese Ambivalenz ist ebenso in Rechnung zu stellen für die

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36

Ebd., S. 286. Ebd., S. 286f. ELISABETH LIENERT: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 13. Vor allem der Status der antiken Götter im christlichen Mittelalter ist immer wieder Gegenstand von Untersuchungen gewesen. Vgl. etwa die frühe Arbeit von FRIEDRICH VON BEZOLD: Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus. Bonn, Leipzig 1922; zuletzt für den Eneasroman CARSTEN KOTTMANN: Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Studia Neophilologica 73 (2001), S. 71-85; für den Alexanderroman MANUEL BRAUN: Vom Gott gezeugt: Alexander und Jesus. Zum Fortleben des Mythos in den Alexanderromanen des christlichen Mittelalters. In: ZfdPh 123 (2004), S. 40-66; für den Renaissancehumanismus JEAN SEZNEC: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance. München 1990 (frz. London 1940). JANE CHANCE: Medieval Mythography. From Roman North Africa to the School of Chartres A.D. 433-1177. Gainesville [u.a.] 1994.

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„europäische Basis-Mythe"37 des Ödipusstoffes, der sich im Mittelalter in Gestalt des volkssprachlichen Romans (Thebenroman), lateinischer Dichtung aus dem Umfeld der Schule von Chartres (Mathematicus des Bernardus Silvestris) und (höfischer) Legendendichtung (Judaslegende, Gregorius) manifestiert. Neben einer ungebrochenen Persistenz antiken Denkens vor allem im altfr. Thebenroman, die eine explizit heilsgeschichtlich imprägnierte Perspektivierung der Mythe ausschlägt, sieht CHRISTOPH HUBER in der den Ödipusstoff anverwandelnden Legendendichtung einen dezidierten Brückenschlag zum genuin Christlichen. WERNER RÖCKE spricht mit Blick auf den Gregorius von einer „Positivierung des Mythos",38 insofern konstitutiven Mythemen der Erzählung (unschuldig Schuldigsein; Gewalt; Isolation) „ihre Bedrohlichkeit, ihre Zwanghaftigkeit und Gewalt genommen, sie also positiviert, zugleich aber auch dem weiteren Entscheidungsspielraum des Subjekts zugeordnet werden."39 Der antike Mythos begegnet in der Literatur des Mittelalters prominent nicht zuletzt in Gestalt einer einflussreichen und breiten Ovid-Rezeption40, ja das 12. und 13. Jh. gilt der Forschung - vereinfacht formuliert als Aetas Ovidiana.41 Doch bei aller Eignung fur die höfische Minneideologie 42 bleibt Ovid den „Idealvorstellungen einer dem Kriegs- und Hofdienst ergebenen christlichen Ritterschaft"43 letztlich fremd. Daraus resultiere, so KARL STACKMANN, eine eigentümliche Ambivalenz der Ovidrezeption in der erzäh37

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CHRISTOPH HUBER: Mittelalterliche Ödipus-Varianten. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. I, Tübingen 1992, S. 165-199, hierS. 166. WERNER RÖCKE: Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns .Gregorius'. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift fur Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von MATTHIAS MEYER/ HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 627-647. Ebd., S. 635. HARTMUT KUGLER: Ovidius Naso, P. In: Verfasserlexikon 7 ( 2 1989), Sp. 247-273, hier bes. Sp. 259-273. KARL STACKMANN: Ovid im deutschen Mittelalter. In: arcadia 1 (1966), S. 231-254 (mit älterer Literatur), hier S. 233; zur Ovid-Rezeption in der Renaissance BODO GUTHMÜLLER: Picta poesis ovidiana. In: Renatae Litterae. Studien zum Nachleben der Antike und zur europäischen Renaissance. AUGUST BUCK zum 60. Geburtstag am 3. 12. 71 dargebracht von Freunden und Schülern. Hrsg. von KLAUS HEITMANN/ECKHART SCHROEDER, Freiburg i.Br. 1973, S. 171-192. - Zur Rezeption antiker Mythologie in der deutschsprachigen höfischen Literatur MANFRED KERN: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180-1300. Amsterdam, Atlanta 1998 (Amsterdamer Beiträge zur Sprache und Literatur 135).

42

RÜDIGER SCHNELL: Ovids Ars amatoria und die höfische Minnetheorie. In: Euphorion 69 (1975), S. 132-159; DERS.: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern/München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 359-379 (Personifikation und Mythos). Vgl. auch die ältere Arbeit von LUDWIG WOLFF: Die mythologischen Motive in der Liebesdarstellung des höfischen Romans. In: ZfdA 84 (1952/53), S. 47-70.

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STACKMANN (Anm. 41 ), S. 238.

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lenden Literatur des Hochmittelalters. Anders sieht es aus, wenn man die allegorische Auslegung der Metamorphosen Ovids besonders des 14. Jhs. ins Auge fasst. 44 Die Göttergeschichten verwandeln sich unter einem spätmittelalterlichen, dezidiert christlich perspektivierten Zugriff in ein „Schatzhaus christlicher Heilswahrheiten, Tugendlehren, Lebensweisheiten". 45 2.2 Heldenepik Seit JACOB GRJMMS „Deutscher Mythologie" ( 1 8 3 5 ) beschäftigt sich die mediävistische Forschung mit dem Mythos im Mittelalter. Zu unterscheiden sind im Zusammenhang von Heldensage und Heldenepik vor allem zwei genetische Richtungen, eine gattungsgenetische und eine pragmatische, von einer funktionalistischen. Modelliert der gattungsgenetische Ansatz eine historische Abfolge von Mythos, Geschichte und Sage, leitet der pragmatische Ansatz Heldensage aus dem Kult ab (OTTO HÖFLER, JAN DE VRIES, KARL HAUCK, FRANZ 46 ROLF SCHRÖDER). Die funktionalistische Position betont unter weitgehender Ausblendung diachroner Überlegungen die gemeinschaftsstiftende Leistung der Heldensage jenseits konkreter Kulthandlungen (GERD WOLFGANG WEBER).

In Fokus des Interesses lag zunächst das Verhältnis von Mythos, Geschichte und Dichtung. Für JACOB GRIMM gründet Heldensage in zwei Quellen: in der Geschichte und in der „urmenschlichen Gottesoffenbarung" des Mythos 47 (JACOB GRIMM ). Eine frühe naturmythologische Richtung las die Heldensagen als Göttergeschichten (LUDWIG UHLAND) oder als verkappte Naturmythen

STACKMANN (Anm. 41), S. 241. Vgl. hierzu auch FRIEDRICH OHLY: Typologische Figuren aus Natur und Mythus. In: DERS.: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von UWE RUBERG/DIETMAR PEIL, Stuttgart, Leipzig 1995, S. 473-507, hier bes. S. 486-507 (Orpheus/ Ovids Metamorphosen), mit reichen Angaben zur älteren Forschung. - Zur Rezeption der Orpheusmythe KLAUS HEITMANN: Typen der Deformierung antiker Mythen im Mittelalter. Am Beispiel der Orpheussage. In: Romanistisches J a h r b u c h 1 4 ( 1 9 6 3 ) , S . 4 5 - 7 7 ; z u r R e z e p t i o n d e r N a r z i s s - M y t h e v g l . CHRISTOPH H U B E R : N a r -

ziß und die Geliebte. Zur Funktion des Narziß-Mythos im Kontext der Minne bei Heinrich von Morungen (MF 145,1) und anderen. In: DVjs 59 (1985), S. 587-608. 45

STACKMANN ( A n m . 4 1 ) , S . 2 4 1 .

46

Zu diesen Positionen vgl. KLAUS VON SEE: Germanische Heldensage. Ein Forschungsbericht. In: DERS.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981, S. 107-153. DERS.: Was ist Heldendichtung? In: Ebd., S. 154-193. JACOB GRIMM: Gedanken über Mythos und Geschichte, mit altdeutschen Beispielen (zuerst 1813). In: DERS.: Kleinere Schriften. Bd. 4,1: Recensionen und vermischte Aufsätze, Berlin 1869, S. 74-85; DERS.: Deutsche Mythologie. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1875/78. Bd. 13. Graz 1968.

47

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(KARL LACHMANN, MÖLLENHOFF). 48

In diesen Zusammenhang gehören noch, wenn auch methodisch profilierter, religionsgeschichtliche Studien, die heldenepische Figuren und Motive im indoeuropäischen Kontext miteinander verglichen und als verdeckte germanische Mythologeme beschrieben: Siegfried als Gottessohn, Heilsbringer, Wachstumsgott (FRANZ ROLF SCHRÖDER), der Vater-Sohn-Konflikt des Hildebrandsliedes als transformierter Götterkonflikt (JAN DE VRIES).49 Heldensage transportierte Restbestände germanischer Mythologie, die in modifizierter Form weiter wirken sollten. Das Verfahren, das sichtbar dem Säkularisierungsparadigma der 50er Jahre verpflichtet ist, ist substantialistisch und genetisch ausgerichtet, indem es die germanische Heldensage zur Trägersubstanz elementarer metaphysischer Wahrheiten macht. Nicht auf den Mythos, sondern auf die Geschichte hin fokussierte ANDREAS HEUSLER die Entstehung der Heldensage. Heldensage war für HEUSLER vor allem aber Kunstdichtung, die sich als geformtes Gebilde aus historischen Ursprüngen ableitet. 1909 fragt er nach dem Verhältnis von .Geschichtlichem und Mythischem in der germanischen Heldensage' 50 . Während er akribisch die verifizierbaren historischen Spuren (Namen, Ereignisse etc.) auflistet und hinterfragt, wird ihm Mythisches einfach zum Nicht-Historischen mit „übernatürlichen Züge[n]"51: Transzendentes, Magisches, Wunderbares. Man erkennt das Mythische „an [seiner] phantastischen, wunderbaren, übernatürlichen Beschaffenheit."52 HEUSLER reduziert dann das Wunderbare gegenüber dem Historischen auf Produkte der „Phantasiewelt"53 und blockiert damit die weitere Frage nach dem Status des Mythos. Einen Versuch, germanische Heldensage im Anschluss an antike Heldensage pragmatisch zu erklären, liefern Ansätze, die Heldensage im Kultzusammenhang situieren. Im Anschluss an MIRCEA ELIADES religionsethnologische Theorie von der Vergegenwärtigung des Mythos in der Kulthandlung einerseits und unter Rekurs auf antike Heroenkulte andererseits wird in einer synchron-diachronen Doppelperspektive auch die germanische Heldensage als Kultpraxis interpretiert.54 Heldensage gründe in „sakral bestimmten Lebens-

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51 52 53 54

Etwa Vasold als Wetter-, Ecke als Wasserdämon oder Dietrich als Donar. Das Eckenlied. Text, Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von FRANCIS BRÉVART, Stuttgart 1986, S. 316f.; VON SEE: Germanische Heldensage (Anm. 46), S. 110. FRANZ ROLF SCHRÖDER: Mythos und Heldensage. In: G RM 36 (1955), S. 1-21; JAN DE VRIES: Das Motiv des Vater-Sohn-Kampfes im Hildebrandslied. In: G RM 34 (1953), S. 257274. Vgl. VON SEE: Germanische Heldensage, S. 110. ANDREAS HEUSLER: Geschichtliches und Mythisches in der germanischen Heldensage (zuerst 1909). In: DERS.: Kleine Schriften. Bd. 2, Berlin 1969, S. 495-517. Ebd., S. 514. Ebd., S. 513. Ebd., S. 515. JAN DE VRIES: Der mythische Hintergrund der Heldensage. In: DERS.: Heldenlied und Heldensage. Bern, München 1961, S. 302-320.

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Ordnungen oder in haus- und sippengebundener Literatur", die die primordiale Tat des Stifters feiere.55 K L A U S VON S E E hat die Prämissen dieses Ansatzes, die er .Entmythisierung' und ,Archetypisierung' nennt, kritisch hinterfragt. Entweder die Heldensage entsteht aus einer Kultpraxis, die zu einem Ereignis, zu einer außerordentlichen geschichtlichen Begebenheit .säkularisiert' wird, oder ein historisches Ereignis wird zu einem Archetyp hypostasiert.56 Dass es Heldensage vor und außerhalb der Dichtung gegeben hat (HANS K U H N 5 7 ) , scheint akzeptiert zu sein, dass sich Heldensage aber auf Kultpraxis zurückführen lässt, ist für den germanischen Bereich mehr als zweifelhaft. Demgegenüber untersucht G E R D W O L F G A N G W E B E R die Heldensage in ihrer komplexen semiotischen Struktur. Heldensage reinauguriert und bekräftigt seiner Meinung nach aus der Geschichte heraus, was der Mythos als primordiale Setzung des gesellschaftlichen Normensystems primär leistet. Seiner Gestalt nach sei die Heldensage mythenanalog, ihrer Wirkungsweise nach sei sie mythisch.58 Der Kraftakt des Einzelnen dient dem Erhalt des Ganzen. K L A U S VON SEE formuliert eine konträre Position, indem er Heldenepik begreift als Inszenierung heroischer Exorbitanz auf Kosten der Gesellschaft. Damit verliert die Heldensage eine bei W E B E R unterstellte formativ-normative Kraft. 59 Wie sich verschiedene Auffassungen von Mythos an ein und demselben Text abarbeiten, lässt sich im Ausschnitt am Nibelungenlied demonstrieren. Jenseits der Säkularisierungsthese von Siegfried als Wachstumsgott, auch jenseits der These vom Nibelungenlied als kultischer Erinnerung an die Varusschlacht - Siegfried/Arminius - ( O T T O HÖFLER), haben sich andere, mehr oder minder methodisch reflektiertere Ansätze artikuliert. Mythisches artikuliert sich dabei jenseits von Mythologie, Kult und Reinauguration. FRIEDRICH P A N Z E R (1955) fasst das Nibelungenlied zwar grundsätzlich als historische Dichtung auf, doch konstituiere sich das Geschehen zugleich vor dem Hintergrund märchenhafter Konstellationen.60 Jene Elemente, die sich historisch nicht verorten lassen und die traditionell als mythisch qualifiziert wurden, werden bei P A N Z E R zu Bestandeilen einer tiefergreifenden Märchentradition:

KARL HAUCK: Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien. In: Saeculum 6 (1955), S. 186-223; VON SEE: Germanische Heldensage (Anm. 46), S. U l f . 56

VON SEE: Germanische Heldensage (Anm. 46), S. 114f.

57

HANS KUHN: Heldensage vor und außerhalb der Dichtung. In: Edda, Skalden, Saga. Festschrift zum 70. Geb. von FELIX GENZMER, Heidelberg 1952, S. 262-278. GERD WOLFGANG WEBER: „Sem konungr skyldi". Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur. In: Helden und Heldensage. OTTO GSCHWANDLER zum 60. Geburtstag. Hrsg. von HERMANN REICHERT/GÜNTER ZIMMERMANN, Wien 1990 (Philologica Germanica 11), S. 447-481.

58

59

KLAUS VON SEE: Held und Kollektiv. In: ZfdA 122 (1993), S. 1-35.

60

FRIEDRICH PANZER: Das Nibelungenlied. 390.

Entstehung und Gestalt, Stuttgart 1955, S. 306, 386-

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Ereignisse wie Siegfrieds mythische Jugendgeschichte, Brunhildes Brautwerbungsritual; Figuren wie Alberich oder die Meerfeen, schließlich Requisiten wie Tarnkappe, Hort oder Schwert. In die Lücke zwischen historischem und märchenhaftem Substrat gerät bisweilen Mythisches, so wenn PANZER Figuren wie den Fährmann oder Eckehard zwar historisch zu identifizieren sucht, aber auch als ,mythische' Grenzwächter qualifiziert. PANZER aber verfugt über keinen methodisch tragbaren Begriff des Mythos. Den komplizierten Schichtungen historischer Referenzen konfrontiert ALOIS W O L F die Mythenkomplexe Drachenkampf und Horterwerb, kontextualisiert sie literarhistorisch und hinterfragt ihre Funktion im Textzusammenhang. W O L F ergänzt indes seine stoffliche Mythosauffassung um „tiefere Schichten einer archaischen Mentalität", doch fehlt ihm das Instrumentarium, sie methodisch zu fassen. W O L F sieht das Mythische aber schon durch Verschiebung ins Märchenhafte und durch literarische Vereinnahmung um seine genuine Wirkung gebracht.61 Mythische Konstellationen anderer Art verfolgen insbesondere drei neuere Beiträge der Nibelungenlied-Vorsehung. GEORGE T. GILLESPIE hat unter narratologischer Perspektive die mythischen Implikationen der Raum- und vor allem Zeitdarstellung des Nibelungenliedes untersucht.62 Heldensage sei dort mythisch, wo Ereignisse aus der Zeit herausfielen. Strategien präziser zeitlicher Fixierung, wie sie in historischen Referenzen oder in Anspielungen auf Sagentraditionen zum Ausdruck kommen, stehen solche gegenüber, die einen unbestimmten Zeitraum der Vergangenheit eröffnen. Das Nibelungenlied löse dadurch reale Gegenwart in der zeitlosen Vergangenheit auf und erzeuge bei aller Tendenz zur Historisierung zugleich eine .Atmosphäre mythischer Wiederholung des Geschehens".63 Gegen die Bemühungen historischer Verifizierung versucht EHRJSMANN den Mythos wieder ins Spiel zu bringen.64 Er geht von der Figur Siegfried und dem Modell eines Heldenlebens aus, das er in seiner Genese und Wirkungsgeschichte verfolgt. Die Kenntnis des „Mythos Siegfried" als Heldenlebenschema, als Mythem mit festem Motivbestand, setzt EHRISMANN beim mittelalterlichen Publikum voraus, so dass unter den Bedingungen einer Oralitätskultur Rezipienten und Sänger jeweils spezifische MoALOIS WOLF: Mythos und Geschichte in der Nibelungensage und im Nibelungenlied. In: Nibelungenlied. Ausstellungskatalog des Vorarlberger Landesmuseums Nr. 86. Ausstellung zur Erinnerung an die Auffindung der Handschrift A des Nibelungenliedes im Jahre 1779 im Palast Hohenems. 14. Sept. - 28. Okt. 1979, S. 41-54, hier S. 47, 51f. 62

GEORGE T. GILLESPIE: Das Mythische und das Reale in der Zeit- und Ortsauffassung des Nibelungenliedes. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. P a s s a u e r N i b e l u n g e n g e s p r ä c h e 1 9 8 5 . H r s g . v o n FRJTZ PETER K N A P P , H e i d e l b e r g 1 9 8 7 , S . 4 3 -

60. 63

64

GILLESPIE ( A n m . 6 2 ) , S . 5 4 .

OTFRID EHRISMANN: Siegfried. Ein deutscher Mythos? In: Herrscher, Helden, Heilige. Hrsg. v o n ULRICH M Ü L L E R / W E R N E R WUNDERLICH, St. G a l l e n 1 9 9 6 ( M i t t e l a l t e r M y t h e n 1), S . 3 6 7 387.

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dellierungen des „mythischen Heldenlebens" verhandeln konnten. In der schriftlichen Fixierung des Epikers sieht EHRISMANN nicht nur eine Depotenzierung des Mythischen, etwa durch höfische Überformung oder durch Instrumentalisierung mythischer Motive als episches Spielmaterial. Zugleich auch konstatiert er eine Tendenz zunehmender Mythisierung durch Einspielung eines „Horizonts des Andersseins" in die höfisch aufgebaute Welt. Die Mythenzitate wären dann zum einen Erinnerung an den uranfänglichen Mythos, zum andern Markierungen der Fatalität des Geschehens, des mythischen Fluchs.65 „Mythischen Dimensionen" widmet schließlich JAN-DIRK MÜLLER seiner Nibelungenlied-Interpretation ein eigenes Kapitel.66 Orientiert an ERNST CASSIRERS Mythosbegriff, erfasst er das Mythische vor allem unter dem Aspekt der Entdifferenzierung: Auch für MÜLLER unterliegt Mythisches einer Depotenzierung, indiziert durch unbestimmte Raum- und Zeitkoordinaten, durch Abblendung eingeführter Mythologeme oder ihre Entmächtigung durch Integration in den höfischen Raum, formal auch durch eine bewusst gewählte Erzählperspektive. Dennoch: Bei aller Depotenzierung des Mythos verfällt das Geschehen zunehmend dem Bann des Mythischen, wenn die Burgunden auf ihrem Weg zum Etzelhof immer mehr sich den Nibelungen assimilieren und wenn die Katastrophe als unaufhaltsamer Rausch der Vernichtung inszeniert wird. 2.3 Der höfische Roman Die Einschätzungen der literarhistorischen Forschung, inwiefern der arthurische Roman mythische Implikationen aufweise67, gehen diametral auseinander. Sind keltisch-mythische Wurzeln der Artus- und Gralsgeschichten unbestritten68, ist für die einen arthurisches Erzählen im Mittelalter deutlich my-

"

Ebd., S. 373f.

66

J A N - D I R K M Ü L L E R : D a s Nibelungenlied.

Berlin 2 0 0 2 (Klassiker-Lektüren 5), S.

144-155.

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Für den spätmittelalterlichen Roman, der aufgrund seiner intertextuellen Faktur eine besondere Würdigung verlangen würde, vgl. ULRICH WYSS: Partonopier und die ritterliche Mythologie. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 5 (1988/89), S. 361-372; ANNE WAWER: Tabuisierte Liebe. Mythische Erzählschemata in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur und im Friedrich von Schwaben. Köln,Weimar,Wien 2000.

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MAX WEHRLI: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1980 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), S. 273; JOACHIM BUMKE: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Bd. 2. München 1990, S. 135; DAGMAR Ó RlAJN-RAEDEL: Untersuchungen zur mythischen Struktur der mittelhochdeutschen Artusepen. Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet - Hartmann von Aue, Erec und Iwein. Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 91); vgl. aber auch die frühe Arbeit von ROGER SHERMAN LOOMIS: Celtic Myth and Arthurian Romance. N e w York 1927.

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thisches Erzählen 69 , wobei es sich bei den mittelalterlich-arthurischen Mythen um ,neue' 7 0 oder .sekundäre' 7 1 , also historisch-literarisch und rational-systemhaft vermittelte Mythen handele, andere hingegen gewärtigen eher eine Emanzipation höfischer Erzählliteratur von mythischen Substraten 72 , sehen aber gleichwohl zugleich eine Überhöhung des Dargestellten ins Mythische gegeben. 73 HUGO KUHN untersucht bereits in den 50er Jahren die komplizierte Faktur mythischer (und christlicher) Gehalte am Beispiel des Parzival. Drei Komplexe, Orientteil, Artus- und Gralswelt, sind je für sich durch mythisch-christliche Spannungen gekennzeichnet. Der Orientteil des Parzival setzt gegen einen heroischen Herrschaftsgründungsmythos, wie er den Artusroman genuin kennzeichne, ein translatio imperii-Modell als kollektiven Antimythos der Geschichte: Welthistorie gegen Ursprungsmythos. Gegen den Ursprungsmythos vergegenwärtigt der universalgeschichtlich ausgreifende Antimythos ein neues kollektives Selbstbewusstsein des geistlichen und weltlichen Adels. Eine andere Konzeption von Mythos realisiert sich dagegen um die Figur des König Artus. Der Mythos um Artus konstituiert sich durch ein Ensemble von Motiven mit typisch mythenhafter Bedeutung (Namenlosigkeit, Lähmung, bedingtes Freudenland, Trauer im Bereich der Zentralfamilie, Zweikampf etc.). KUHN geht es jenseits von religionsgeschichtlicher und psychoanalytischer Identifizierung um die literarische Funktionalisierung dieser Motive. Der Doppelweg, der, insofern er eine archetypische Wiederholungsgestalt beschreibt, selber traditionell als mythische Figur verortbar ist, erweist sich durch seine literarische Funktionalisierung, den dezidierten Strukturwillen der arthu-

69

NORRIS J. LACY: M y t h o s u n d E n t m y t h o l o g i s i e r u n g . In: H e r r s c h e r , H e l d e n , H e i l i g e ( A n m . 6 4 ) , S. 4 7 - 6 3 , v e r s t e h t d a s a r t h u r i s c h e E r z ä h l e n als g r u n d l e g e n d e n M y t h o s d e r w e s t l i c h e n K u l t u r .

70

HANS FROMM: . A u f k l ä r u n g ' u n d n e u e r M y t h o s im H o h e n M i t t e l a l t e r . In: DERS.: A r b e i t e n z u r d e u t s c h e n L i t e r a t u r d e s M i t t e l a l t e r s , T ü b i n g e n 1 9 8 9 , S. 1 - 2 3 , h i e r b e s . S. 2 2 ; HUGO KUHN: P a r z i v a l . Ein V e r s u c h ü b e r M y t h o s , G l a u b e u n d D i c h t u n g i m M i t t e l a l t e r . In: DERS.: D i c h t u n g u n d W e l t i m M i t t e l a l t e r , S t u t t g a r t 1 9 5 9 , S. 1 5 1 - 1 8 0 .

"

ALFRED EBENBAUER: D e r T r u c h s e ß K e i e u n d d e r G o t t Loki. Z u r m y t h i s c h e n S t r u k t u r d e s a r t h u r i s c h e n E r z ä h l e n s . In: L i t e r a r i s c h e L e b e n . R o l l e n e n t w ü r f e in d e r L i t e r a t u r d e s H o c h - u n d S p ä t m i t t e l a l t e r s . F e s t s c h r i f t f ü r VOLKER MERTENS z u m 65. G e b u r t s t a g . H r s g . v o n MATTHIAS MEYER/ HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S. 1 0 5 - 1 3 1 , h i e r S. 108.

72

WALTER HAUG: D i e Rollen d e s B e g e h r e n s . W e i b l i c h k e i t , M ä n n l i c h k e i t u n d M y t h o s

im

a r t h u r i s c h e n R o m a n . In: L i t e r a r i s c h e L e b e n . R o l l e n e n t w ü r f e in d e r L i t e r a t u r d e s H o c h - u n d S p ä t m i t t e l a l t e r s . F e s t s c h r i f t f ü r V o l k e r M e r t e n s z u m 65. G e b u r t s t a g . H r s g . v o n MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S. 2 4 7 - 2 6 7 ; vgl. a u c h DERS.: D a s V e r h ä l t n i s v o n M y t h o s u n d Literatur. M e t h o d e n u n d D e n k m o d e l l e a n h a n d e i n e r B e i s p i e l r e i h e v o n N j Q r d r u n d S k a d i ü b e r N a i a u n d D a m a y a n t i zu A m p h i t r y o n u n d A l k m e n e . In: DERS.: S t r u k t u r e n als S c h l ü s s e l z u r W e l t . K l e i n e S c h r i f t e n z u r E r z ä h l l i t e r a t u r d e s M i t t e l a l t e r s . S t u d i e n a u s g a b e , T ü b i n g e n 1 9 9 0 , S. 2 1 - 3 6 ; VOLKER MERTENS: D e r d e u t s c h e A r t u s r o m a n . S t u t t g a r t 1 9 9 8 ( R U B 17609). 73

S o MERTENS, e b d . , S. 39.

XXVI

Udo Friedrich/Bruno Quast

rischen Erzähltexte, als gegenläufig zu seinem genuin mythischen Gehalt. Beides ist in den Erzählungen ununterscheidbar präsent: die mythische Vorgabe der Wiederholung und deren antimythische Ausgestaltung. Dieser so gestaltete Doppelweg ist allerdings seinerseits mit immer weiter wuchernden mythologischen Elementen angereichert. Insofern transportiert der antimythische Doppelweg einen ,neuen' Mythos. Mythos, Antimythos und Neuer Mythos sind zusammen zu denken. 74 „Der Gralskomplex ordnet sich ein in die mythische und ideologische Symbolik der Artusmotive, aber auch in das entmythologisierende Ziel ihrer Handlungsstruktur." 75 Im Gralskomplex wird auf einer weiteren, höheren Ebene der Handlung erneut das gegenläufige Verhältnis von „Märchenmythos" 76 und christlicher Einbindung inszeniert: „die gleiche Gegensätzlichkeit zwischen mythisch-kollektiver Bindung und persönlicher Tat, zwischen einer fast paradoxen Endstufe von Mythisierung, nun sogar christlicher, und einer fast paradox zum Selbstsein befreienden Entmythologisierung!" KARL BERTAU beschreibt Assoziationsketten Wolframs mit Hilfe des Instrumentariums der Psychoanalyse 77 : Erotische Metaphern und ihre freie Assoziation (Köcher, Pfeil), Schwellenphobien und ihre Verschiebungen und der Zusammenhang von Deckerinnerung (déjà-vu: Blutstropfenszene) und Verdrängung (Gralsfrage) werden zu Indizien tiefliegender seelischer Vorgänge. BERTAU konstatiert einen Zusammenhang zwischen psychoanalytischem Befund und mythologischer Struktur. Den Assoziationen, Verschiebungen und Verdrängungen liegen letztlich mythische Strukturen zugrunde, die BERTAU in patrilinearen und matrilinearen Mustern festmacht. Wolfram betreibe eine genealogische Totalisierung des Parzivalmythos. BERTAU geht davon aus, dass Wolfram in Chrétiens Perceval mythische Strukturen vorfand, „Ideen, die sowohl in anderen Erzählzusammenhängen als auch innerhalb desselben Erzählzusammenhanges ihrem Grundmuster nach wiederkehren" 78 , und dass Wolftam diese Ideen bearbeitet habe, und zwar bewusst durch Denkarbeit und unbewusst durch innere Erfahrung. Wolframs Arbeit an der literarischen Vorlage läuft so gesehen auf eine Sublimierung mythischer Strukturen hinaus.

74

Vgl. zur Überblendung von vordifferentiell-mythischen und differentiellen Zeichen im Parzival BRUNO QUAST: Diu bluotes mal. Ambiguisierung der Zeichen und literarische Programmatik in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: DVjs 77 (2003), S. 45-60.

75

KUHN(Anm. 70), S. 174.

76

Ebd. KARL BERTAU: Innere Erfahrung und epische Bearbeitung mythischer Strukturen im .Parzival'. In: DERS.: Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, München 1983, S. 110-125.

77

78

Ebd., S. 122.

Mediävistische Mythosforschung

XXVII

ULRICH W Y S S nähert sich wie B E R T A U dem Mythos aus strukturalistischer Sicht unter Rekurs auf L É V I - S T R A U S S . 7 9 Er geht von der Beobachtung aus, dass der arthurische Roman ein Corpus von Mythologemen darstellt. 80 Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen der Artushof als soziales Gefiige funktioniert, sind von vornherein keine sozialen Kommunikationsformen. Die mythologische Systematik des Artushofes setzt tiefer an, sie besteht aus einem Set elementarer Oppositionen, die Ausdruck tiefgreifender „Sozialisationsprozesse" sind: Wie kann ich erwachsen werden? Wie kann ich König werden? Wie kann ich Heilsbringer werden? Solche Problemfelder werden in gegenläufigen Konfigurationen verhandelt, aber nicht beantwortet: Der ewig Jugendliche und der ewig Erwachsene (Perceval/Gauvain); der Souverän und der Heros (Artus/Lancelot); chevalier errant und Heilsbringer als Lebenskonzept. W Y S S hat 1979 den Versuch unternommen 81 , den Lohengrinmythos mit Hilfe von L É V I S T R A U S S ' strukturaler Methode zu analysieren. Er verweist darauf, dass symmetrisch zum Fragegebot im Gralsbezirk hier am Ende ein Frageverbot etabliert wird. Er beobachtet einen latenten Zusammenhang von Sexualität und Wissen. Stand im Ödipusmythos eine geglückte sprachliche Kommunikation (Rätsel der Sphinx) einer missglückten sexuellen gegenüber (Inzest), verhält es sich im Lohengrinmythos umgekehrt: Die sexuelle Kommunikation ist nur wirksam unter der Bedingung einer missglückten sprachlichen Kommunikation. Beide Mythenkomplexe bieten unterschiedliche Lösungen für das problematische Verhältnis von Sexualität und Wissen. Latent wirkt im Lohengrinmythos somit die Struktur des Ödipusmythos weiter.

Im arthurischen Roman, so W A L T E R H A U G , diene eine mythisch-dualistische Schematik (costume der Jagd auf den weißen Hirsch in Chrétiens Eree et Enide, Entfìihrungsschema im Lancelot, Calogrenants Aventiurekonzept im Yvain) „als dichotome Folie für einen Handlungsansatz" 82 , der den Mythos unterlaufe, „indem das Gegenüber von Hof und antihöfischer Welt von außen wie von innen in Bewegung gebracht wird." (ebd.) Im Conte du graal werde die mythische Schematik des unfruchtbaren Landes durch die Unfähigkeit des Helden, in die Erlöserrolle einzutreten und damit die Fruchtbarkeit wieder herzustellen, zunächst einmal abgewiesen, „und zwar durch die Überzeugung des Helden, eine arthurische Identität in unangefochtener Selbstherrlichkeit

79

ALFRED EBENBAUER/ ULRICH WYSS: Der mythologische Entwurf der höfischen Gesellschaft im Artusroman. In: Höfische Literatur - Hofgesellschaft - Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hrsg. von GERT KAISER/ JAN-DIRK MÜLLER, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 513-539.

80

Ebd., S. 530. ULRICH WYSS: Parzivals Sohn. Zur strukturalen Lektüre des Lohengrin-Mythos. In: WolframStudien 5 (1979), S. 96-115.

81

82

HAUG: Rollen (Anm. 72), S. 258.

XXVIII

U d o Friedrich/Bruno Quast

erreichen zu können."83 Mythisches, gefasst als auf einem Dualismus gründende Handlungsschemata, wird also (an)zitiert, um sich von ihm abzusetzen. Höfisches Erzählen, .Literatur' befindet sich bei solcher Fokussierung in einer Art Distanzbewegung zu einem als vorgängig konzipierten und bereits zurückgenommen adaptierten Mythischen. Auch V O L K E R M E R T E N S sieht im Zsrec-Roman einerseits die Ablösung eines mythischen Deutungsmusters (Hirschjagd mit Schönheitspreis) durch ein feudal-hierarchisches (Sperberwettkampf) abgebildet84, andererseits beobachtet er im zweiten Teil des Erec eine Öffnung auf das Wunderbare, das als Signal für Mythisches interpretierbar sei. Die .mythische Stimme' der Romanpartitur „erscheint als Ergänzung und Überhöhung der Zeichnung von Detailrealismen sachlicher, juristischer und gesellschaftlicher Art und der Projektionen von Momenten realer Lebensformen des Adels."85 Man hätte es nach dieser Lesart also mit einer gegenläufigen Bewegung zu tun: im ersten Teil wird ein mythisches Muster verabschiedet, im zweiten Teil lässt sich eine „Zunahme der Märchenmotive und ihrer mythischen Dimensionierung" konstatieren. Mythisches begegnet hier als Handlungsschema wie als Motiv. Mit Blick auf (mittelalterliche) Erzählungen vom Gral fasst M E R T E N S den Mythos (vom Gral) als das „Unabgeschlossene, Auslegungsbedürftige". ,,[E]s gibt keine richtige oder falsche Repräsentanz, jede Zeit sucht die ihre, und meint zu wissen, welche Deutung falsch ist, vielleicht sogar, welche die einzig richtige ist."86 Ganz unter der Perspektive der Gegenwärtigkeit verortet P E T E R C Z E R W I N S K I den Artusroman, indem er in ihm mythische Regenerationsrituale .vergegenwärtigt' sieht.87 Regenerationsrituale, wie sie in Jenseitsreisen zum Ausdruck kommen, setzen einen Prozess der Amorphose, der Auflösung, voraus. Der Held überschreite die Grenze in eine Anderwelt, mache einen Reinigungsprozess durch und werde symbolisch wiedergeboren: ein Schwellenritus (rite de passage). Ein ganzes Set an Motiven - Wegweiser, magische Hilfsmittel, gefahrvoller Übergang, Krise, Auflösung, Purgatorium etc. - begleitet diesen Prozess der Identitätsfindung. C Z E R W I N S K I demonstriert seine These ausfuhrlich am Beispiel des Wigalois und des /wem.88 Einen Hinweis MAX W E H R L I S auf Motivanleihen aus dem Bereich der Jenseitsreise - verzauberter Hirsch, magische Requisiten, Schwertbrücke, Feuermotiv, ritueller Zweikampf - hypostasiert er zum umfangreichen Spurenarsenal eines Regenerationsmythos. Wigalois und Iwein repräsentieren weniger eine feudalaristokratische, 83

Ebd., S. 2 6 2 .

84

MERTENS ( A n m . 72), S. 31.

85

Ebd., S. 39.

86

VOLKER MERTENS: Der Gral. M y t h o s und Literatur. Stuttgart 2 0 0 3 ( R U B 18261 ), S. 2 6 7 .

87

CZERWINSKI: Gegenwärtigkeit ( A n m . 2 6 ) , S. 3 9 4 .

88

Ebd., S. 3 9 4 - 4 1 1 .

Mediävistische Mythosforschung

XXIX

rationalisierende, höfisierende Adaptation mythischer Motive, als dass diese Vergegenwärtigungen eines ubiquitären Regenrationsmythos darstellen. H A N S F R O M M skizziert 1989 anhand ausgewählter literarischer Quellen .perspektivische Linien' des Mythischen im 12./13. Jahrhundert. Unter Mythos versteht er „eine in die Verbindlichkeit von Glaube und Ritus eingelassene Überlieferung, die grundlegende Fragen des In-der-Welt-Seins beantwortet oder deutet," 89 unter Mythologie die ihm folgenden dichterischen Verarbeitungen. F R O M M S Mythenbegriff verortet sich in theologischen und literarischen Kontexten des 12. Jahrhunderts, zwischen rationaler Systematik und archetypischer Phantasie: Mythen stellen „systemhafte Strukturen" dar, die den Wissenden „unter ein strenges Gesetz stellen" 90 . Im Sog rationaler Entwicklungen innerhalb der Theologie profilieren sich auch in der Volkssprache drei große Mythenkomplexe, die das Ideal der Herrschaft umschreiben: Während die Artusmythologie einen Raum idealer Herrschaft entwirft, erweitert der Gralsmythos jenen um die Dimension des Heilsbringers, des .irdischen Heils mit der Erlösung vom Leide'. Der Brief des Priester Johannes entwirft den „Mythos einer endlich erlösten, in geistlich-weltlicher Synthesis existierenden Menschheit." 91 Im Ritus und seiner Verbindlichkeit, die durch Wiederholung sich artikuliert, sieht F R O M M ein Grundelement des Mythischen. Im Artusroman wird es einerseits aufgegriffen, andererseits gebrochen durch ein strukturelles Moment, durch die „korrelative Struktur", die „Wiederholung mit Sinnfortschritt" 92 indiziert. Erzählen im Artusroman knüpft einerseits an mythische Geschichtskonstruktionen um Artus an, andererseits beutet es alte keltische Mythologeme von Jenseitsreise und Heilsbringer aus. Während B E R T A U , W Y S S / E B E N B A U E R und CZERWINSKJ Figurenkonstellationen auf mythische Tiefenstrukturen (Mythologeme/Mytheme) durchsichtig machen und dem Mythischen eine anthropologische Fragedimension abgewinnen, bewegen sich K U H N , M E R T E N S und F R O M M in einem Aufklärungsrahmen, in dem das Mythische weiterhin einen Ort findet. Bei HAUG dagegen emanzipiert sich das Individuum aus mythischer Schematik und gelangt so zu sozialer Verantwortung. Den mittelalterlichen Tristanbearbeitungen ist von der Forschung schon lange ein mythisches Potential zugeschrieben worden. Dieses sieht die Forschung vor allem in der besonderen Gestaltung der Tristanliebe, die in allen Fassungen als ehebrecherische Liebe erzählt wird. Von daher ist sie mit der höfischen Gesellschaft prinzipiell nicht zu vereinbaren. Von FRIEDRICH R A N K E S bahnbrechender Studie zur Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds !9 90

" 92

FROMM (Anm. 70), S. 2. Ebd., S. 21. Ebd, S.19. Vgl. hierzu UDO FRIEDRICH: Zwischen Utopie und Mythos. Der Brief des Priester Johannes. In: ZfdPh 122 (2003), S. 73-92. FROMM (Anm. 70), S. 10.

XXX

U d o Friedrich/Bruno Quast

Tristan93 über Arbeiten von TOMAS TOMASEK 9 4 und ALOIS WOLF 9 5 bis hin zu JAN-DIRK MÜLLER 96

sehen alle Autoren bei Unterschieden im Detail das Erzählen von Topographien 97 als Ausweis der mythischen Dimensionierung dieser Liebe. Denn zum Zeichensystem dieser Liebesgeschichte, wie es PETER VON MATT98 fur Liebesverratsgeschichten generell herausgestellt hat, gehört die Imagination einer Heterotopic, eines anderen, eben mythischen Ortes, der den Liebenden allein vorbehalten bleibt und der sich im Unterschied zu anderen höfischen Romanen mit der erzählten höfischen Welt des Textes nicht vereinbaren lässt. Das Mythische wird in Gottfrieds Tristan nicht aufgelöst, sondern prägt als widerständiges Moment (besonders) diese Version des ursprünglich wohl keltischen Stoffes.

2.4 Geistliche Literatur Die Frage nach der Präsenz des Mythischen hat sich wohl auf keinem Feld der mediävistischen Literaturgeschichtsschreibung so deutlich gestellt wie im Fall des Geistlichen Spiels. RAINER WARNING arbeitet in seiner wegweisenden Studie zum Geistlichen Spiel99 mit der Opposition von Kerygma und Mythos. Er sieht in der Messe die Perpetuierung der heilsgeschichtlichen Erlösung und belegt diesen Umstand mit dem Begriff des Kerygmas, Mythisches sei durch das Kerygma überwunden. Im Geistlichen Spiel, Osterspiel wie Passionsspiel, manifestiere sich allerdings, was Kerygma und Dogma ausgegrenzt hätten, es manifestiere sich ein mythischer Dualismus zwischen Gott und Satan, seinem 93

FRIEDRICH RANKE: D i e Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan.

In: Schriften der

Königsberger Gelehrten G e s e l l s c h a f t 2 ( 1 9 2 5 ) , S. 2 1 - 3 6 . 94

TOMAS TOMASEK: D i e U t o p i e im Tristan

Gotfrids von Straßburg. Tübingen 1 9 8 5 (Hermaea

49). 95

ALOIS WOLF: Gottfried v o n Strassburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt

96

JAN-DIRK MÜLLER: Zeit im Tristan.

1989. In: Der Tristan

Gottfrieds v o n Straßburg. S y m p o s i o n

Santiago de C o m p o s t e l a , 5. bis 8. April 2 0 0 0 . Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/VICTOR MILLET, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S. 3 7 9 - 3 9 7 . 97

ARMIN SCHULZ: in dem wilden

wald.

A u ß e r h ö f i s c h e Sonderräume, Liminalität und mythisie-

rendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart - Béroul - Gottfried. In: D V j s 7 7 ( 2 0 0 3 ) , S. 5 1 5 - 5 4 7 . 98 99

PETER VON MATT: Liebesverrat. D i e Treulosen in der Literatur. M ü n c h e n 1 9 9 1 , S. 6 5 . RAINER WARNING: Funktion und Struktur. D i e A m b i v a l e n z e n d e s geistlichen Spiels. M ü n c h e n 1974; DERS.: Ritus, M y t h o s und geistliches Spiel. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. v o n MANFRED FUHRMANN, M ü n c h e n 1971 (Poetik und Hermeneutik IV), S. 2 1 1 - 2 3 9 ; DERS., D a s geistliche Spiel z w i s c h e n Kerygma und M y t h o s . In: V e s t i g i a 1 ( 1 9 7 9 ) , S. 1 3 - 3 6 ; DERS., Hermeneutische Fallen b e i m U m g a n g mit d e m geistlichen Spiel. In: Mediävistische

Komparatistik.

FS

FRANZ JOSEF WORSTBROCK.

Hrsg. v o n

WOLFGANG

HARMS U. JAN-DIRK MÜLLER in Verbindung mit SUSANNE KÖBELE und BRUNO QUAST, Stuttgart 1 9 9 7 , S. 2 9 - 4 1 .

Mediävistische Mythosforschung

XXXI

Widersacher. Vor allem das Osterspiel mit seiner Descensusszene wird W A R N I N G ZU einem eigentlichen Teufelsspiel mit rituellen Implikationen. Damit werde die Hölle erneut präsent, Heilsgeschichte kehre sich im rituellen Spiel ins Heilsmythische. W A R N I N G geht von einem kulturanthropologischen Schichtenmodell aus, denkt den mythischen Dualismus als Substratum, das, je härter und konsequenter es abgedrängt werde, um so vehementer auf sich aufmerksam mache. FRIEDRICH O H L Y widersprach der Mythosthese W A R N I N G S aufs heftigste.100 Was das Spiel an Nicht-Kerygmatischem biete, sei immer schon Bestandteil des Glaubens gewesen, habe seinen Ort in apokrypher und legendarischer Überlieferung gehabt. Es habe im Spätmittelalter nurmehr die Gattung gewechselt, das Nicht-Kerygmatische tauche nunmehr im geistlichen Spiel prominent auf. J A N - D I R K M Ü L L E R hat fiir die spätmittelalterlichen Passionsspiele den Repräsentationsstatus des geistlichen Spiels dahingehend zu bestimmen versucht, dass das Mythisch-Rituelle der Spiele (Christus als Sündenbock) mimetisch überformt sei.101 Die christliche Gemeinde als Zuschauer der Spiele habe immer schon um die Auferstehung des gefolterten Sündenbocks und damit um die eigene Erlösung gewusst. Dieses Erlösungswissen stehe einer rituellen Sicherstellung von Erlösung im Sündenbockritual diametral entgegen. Das Wissen der Zuschauer um den Geschehensausgang perspektiviere das vermeintlich Rituell-Präsentische des Sündenbockrituals als ein Geschehen, das immer schon auf theatral-mimetische Repräsentation, die nicht zuletzt der compassio diene, ausgerichtet sei. W A L T E R H A U G spricht, hierin W A R N Í N G zustimmend, im Blick auf den kulturgeschichtlichen Umbruch einer Subjektivierung des religiösen Bewusstseins von einem „zugelassenen Mythos" im geistlichen Spiel, „zugelassen im Bewußtsein, daß man bei der dramatischen Vergegenwärtigung der Erlösung spielend nochmals in den Prozeß eintritt, der

100

FRIEDRICH OHLY. In: Romanische Forschungen 91 (1979), S. 111-141 (abgedruckt in: FRIEDRICH OHLY: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von UWE RUBERG/DIETMAR PEIL, Stuttgart, Leipzig 1995, S. 113-144).

""

JAN-DIRK MÜLLER: Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel. In: Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als M e d i u m kultureller Erinnerung. Hrsg. von CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER/BIRGIT WIENS, Berlin 1997 (Geschlechterdifferenz & Literatur 7), S. 75-92; OERS: Mimesis und Ritual. Z u m geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis und Simulation. Hrsg. von ANDREAS KABLITZ/GERHARD NEUMANN, Stuttgart 1998 ( R o m b a c h Litterae 52), S. 541 -571. - Zum Repräsentationsstatus des Spiels vgl. auch URSULA SCHULZE: Formen der Repraesentatio im Geistlichen Spiel. In: Mittelalter und frühe Neuzeit (Anm. 27), S. 312-356. - Eine repräsentationstheoretisch orientierte Modifizierung der Ritualthese WARNINGS für die Osterspiele findet sich bei BRUNO QUAST: V o m Kult zur Kunst. Ö f f nungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Habil.schritt M ü n c h e n 1999, S. 157-200 (erscheint 2004 in der Bibliotheca Germanica).

U d o Friedrich/Bruno Quast

XXXII

zur Überwindung des Mythos geführt hat, ja im Bewußtsein, daß man als Einzelner in ihn eintreten muß, um der Erlösung teilhaftig zu werden".102 Für bibelepisches Erzählen hat BRUNO QUAST aufgezeigt,103 dass das Wiedererzählen biblischer Geschichten im Mittelalter mythisierende Züge aufweist. Die literarische Symbolisierung hauptsächlich in der Liturgie präsenter (biblischer) Texte greift die mythische Schematik des dualistischen Mächtekampfs zwischen Gott/Christus und Satan, wie man sie im spätmittelalterlichen geistlichen Spiel findet, schon früh auf und implementiert sie als strukturbestimmende Determinante. So wird der Mächtekampf zwischen Gott und Satan in Texten wie der Wiener Genesis, obwohl sie sich über weite Strecken strikt an den Wortlaut des biblischen Prätextes halten, zum textorganisierenden Paradigma. Eine mythisierende Erzählalternative tritt neben den primär rituell vollzogenen, sich prinzipiell antimythisch verstehenden biblischen Prätext. Nur im Erzählen, in der literarischen Symbolisierung also, erfolgt demnach die mythisierende Transformation des vorgegebenen Materials. 2.5 Genealogisch-historiographische Literatur Ein zentraler Ort der Wirksamkeit mythischer Strukturen ist die Zeit. Zwar existiert im Mittelalter kein homogener Zeitbegriff, konkurrieren lebensweltlich eine agraische, ökonomische, feudale und religiöse Zeitauffassung, doch ist trotz alledem mittelalterliche Zeitvorstellung stark genealogisch geprägt. Wie sich christliche Heilsgeschichte auf einen Ursprung zurückfuhrt, mittelalterliche Chronistik analog mit der Weltentstehung beginnt, so rekurrieren Adels-, Sippen- und Stammesgeschichten vielfach auf den Gründungsakt eines Spitzenahns, auf eine „primordiale Tat" (HAUCK). Für JURI LOTMAN schlägt sich solch kulturelle Prägung in epochenspezifischen Textmodellen nieder, die den Anfang privilegieren: Ursprungserzählungen.104 ANDRÉ JOLLES postuliert gar eine .Einfache Erzählform' Mythe, die einem elementaren Wissensbedürfnis Ausdruck verleiht. Gegen die Rationalität von Wissenschaft und Geschichte profiliere sich die Mythe als eine Form der „Wahrsage", die in Grenzbereichen des Wissens aus Frage und Antwort eine Welt erschaffe: am signifikantesten in Schöpfungsmythen.105 Studien unterschiedlichster Provenienz postulieren entsprechend Genealogie nicht nur als eine Form der Geschichtsschrei102

WALTER HAUG: Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Spiel des Mittelalters. In: DERS.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2 0 0 3 , S. 6 5 0 - 6 6 3 .

103

QUAST(Anm. 101), S. 6 1 - 1 5 6 .

104

JURI M. LOTMAN: Die Struktur literarischer Texte. M ü n c h e n 2 1 9 8 1 , S. 305.

105

JOLLES (Anm. 5), S. 91-125. Vgl. MLRCEA ELIADE: Die Schöpfungsmythen. Düsseldorf, Zürich 1964 [zuerst Paris 1959]. FRANZ ROLF SCHRÖDER: Germanische Schöpfungsmythen I/II. Eine vergleichende religionsgeschichtliche Studie. In: G R M 19 ( 1 9 3 1 ) , S. 1 - 2 6 u. 81-99.

Mediävistische Mythosforschung

XXXIII

bung, sondern als eine epochenspezifische Denkform, die Natur, Sprach- und Heilsgeschichte gleichermaßen strukturiere.106 Genealogie wird zum universalen Modell in den mittelalterlichen Ordnungen des Wissens. Am Beispiel der Troja- und der Weifengenealogie sowie am Mahrtenehenmodell kann BEATE KELLNER die Wirkungsmacht und Umbesetzungsstrategien genealogischer Modelle nachweisen.107 Für PETER CZERWINSKI gründet die Denkform Genealogie in einer spezifisch archaischen Zeitauffassung, die Zyklik statt Linearität, Präsenz anstelle von Erinnerung auszeichne. Nicht Geschichte im modernen Sinn ist die Signatur des Mittelalters, sondern Vergegenwärtigung in einem homogenen Zeitraum.108 Die schriftliche Tradierung historischen' Wissens im Mittelalter kann mythische Qualität annehmen. So finden sich etwa mit Blick auf die Erinnerung an prominente Gründungsfiguren Muster, die bei aller Variabilität einen stabilen Kern aufweisen. Ein solches .gehärtetes Grundmuster' einer .fundierenden Erzählung' (ALEIDA U. JAN ASSMANN) liegt, wie BERND BASTERT darlegt, nicht zuletzt der Karlsüberlieferung des Mittelalters zugrunde.109 2.6 Tendenzen der mediävistischen Mythenkritik im Überblick Fasst man die Beobachtungen der Forschung zusammen, begegnet das Mythische der Literatur des Mittelalters in narratologischer Hinsicht in Gestalt von Erzählschemata, Mythemen (feste Vorstellungskomplexe) und Motivationsstrukturen, in substantieller Hinsicht firmiert es als das Nicht-heilsgeschichtliche, als im emphatischen Sinne Vor-literarisches, als das Wunderbare, das Offene, Unabgeschlossene und Entdifferenzierte.

106

107

HOWARD BLOCH: Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages. Chicago 1983; WOLF PETER KLEIN: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992; Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation. Hrsg. von PETER WUNDERLI, Sigmaringen 1994; Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von KILIAN HECK/BERNHARD JAHN, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80).

BEATE KELLNER: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004. 108 CZERWINSKI: Gegenwärtigkeit (Anm.26), S. 259-320. I0 * Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos. Hrsg. von BERND BASTERT, Tübingen 2004, S. XIV-XVII. Gleichfalls im Anschluss an ASSMANNS Mythosbegriff untersucht GERD ALTHOFF mittelalterliche Gründungssagen als „zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit". GERD ALTHOFF: Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter. In: Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins 3. Hrsg. von HELMUT BERDING, Frankfurt a.M. 1996, S. 11-33, hier S. 14.

XXXIV

Udo Friedrich/Bruno Quast

Es fällt auf, dass die mediävistische Mythenkritik bis auf wenige Ausnahmen von einem Denken in sich ausschließenden Oppositionen getragen ist. Das zeigt sich in einer Vielfalt dualistischer Relationierungen von Mythischem und Christlichem, Mythischem und Höfischem, Mythischem und Literarischem, Mythischem und Geschichtlichem, einer Vielfalt, die der Heterogenität der Modellierungen des Mythischen zu entsprechen scheint. Diese idealtypischen Relationierungen können stets auch in Überblendungen vorkommen. Was das Verhältnis von Christlichem und Mythischem anbelangt, lassen sich vier - mehr oder weniger konkurrierende - Vorstellungen herauskristallisieren, ohne dass diese Konkurrenzen etwa gattungstypologisch befriedet werden könnten: die Vorstellung von einer ungebrochenen Persistenz des AntikMythischen im christlichen Mittelalter, die Vorstellung der Subversivität eines untergründig perennierenden oder residual aufscheinenden Mythischen in einem christlich dominierten Mittelalter, die Vorstellung der Entmächtigung des Mythischen durch das Christliche und schließlich die Vorstellung vom mythischen Erzählen (arthurischer Mythos als neuer Mythos) als Gegenentwurf zur herrschenden christlichen Heilsgeschichte. Was die Verhältnisbestimmung von Mythischem und Höfischem anbelangt, herrscht die Meinung vor, dass höfische Erzählschemata mythische Konstellationen (vorgängige feste Handlungsrepertoires) ablösen, ja die konfliktuöse Potenz mythischer Mechanik überwinden, daneben kann Höfisches aber jederzeit in Mythisches, gefasst entweder als das Wunderbare oder aber als chaotisierend Entdifferenziertes, überfuhrt werden. Das was die höfische Literatur, hier vor allem der Roman, gegenüber dem Mythischen leistet, wird im Rahmen eines teleologischen Aufklärungsdenkens mit den sehr unterschiedlichen Konzepten Subjektivierung, Historisierung, Sublimierung, Positivierung und Rationalisierung umschrieben. Eine Figur der Überbietung kennzeichnet auch das Verhältnis von Mythischem und Literarischem. Der Neue Mythos der mittelalterlichen Literatur, so eine einflussreiche Position, setzt eine Emanzipation des HistorischLiterarischen von einem als vorgängig imaginierten Mythischen voraus. Daneben wird der Konstituierungsprozess des Literarischen im 12. Jahrhundert, unterstützt durch den Weg in die Schriftlichkeit, gerade auch als Absetzung von mythischen Handlungskonstellationen beschrieben. Die Literatur findet zu sich in der Arretierung und Überwindung des Mythischen. Im Bereich der Heldensage kommt vor allem die Opposition von Mythos und Geschichte zur Geltung. Schon die Sage selbst erscheint als Kondensat historischer und mythischer Faktoren, deren Bestandteile nicht mehr methodisch exakt auszufiltern sind. Im Gefolge des Historismus wird Geschichte im Sinne der Aufarbeitung historischer Referenzen im dominanten Umfang zum leitenden Paradigma der Erschließung von Heldenepik. So sehr aber in den literarischen Texten die Geschichte (hier als feudale Kulturmuster) gegen das

Mediävistische Mythosforschung

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Mythische in Anschlag gebracht wird, so sehr setzt sich die mythische Fatalität des dargestellten Geschehens durch. Hier obsiegt gegenüber anderen Dualismen das Mythische.

3. Mythentheoretisch geleitete Lektüren Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die sich zum einen programmatisch an neueren oder im Zuge kulturwissenschaftlicher Überlegungen in letzter Zeit wiederentdeckten Mythostheorien orientieren. Ein einheitlicher Begriff des Mythischen kann aus sachlichen Gründen nicht vorausgesetzt werden. Um so sinnvoller scheint es, eine mythentheoretische Fundierung der Fragestellungen zu leisten. Zum anderen fokussieren die Beiträge überwiegend den im Untertitel des Bandes herausgestellten Aspekt der Denkform. Man kann im allgemeinen, und das gilt dann auch für das Mittelalter, den Begriff des Mythischen zugleich auf Text- und auf Mentalitätsstrukturen beziehen, auf den Mythos als Erzählform und das sogenannte mythische Denken als eine Texten vorausliegende und sie durchdringende Bewusstseinsform mit einer ihr eigenen Logik110. Im Zentrum der Arbeiten stehen daher also die Fragen nach mythischer Rationalität (wie funktioniert das Mythische) und Korrelation von mythischer und poetisch-erzählerischer Rationalität, weniger die Frage nach mythischer Substantialität (was ist das Mythische), obwohl beide Fragenkomplexe nicht voneinander zu trennen sind. Die Beiträge des Bandes verteilen sich auf drei verschiedene Sektionen: ,Mythos und Kerygma', .Mythos und Genealogie' und ,Mythos und Erzählung'. Der einleitende Beitrag der Herausgeber versucht die Tendenzen der mediävistischen Mythosforschung zu beschreiben. Der programmatische Beitrag von H A N S ULRICH GUMBRECHT skizziert mit Blick auf Mittelalter und Gegenwart in kritischer Auseinandersetzung mit den Mythentheorien von CASSIRER, JOLLES und BLUMENBERG die grundsätzliche Spannung zwischen mythischer Präsenzkultur und hermeneutischer Bedeutungskultur. RAINER W A R N I N G , der die Friktionen von Mythos und Kerygma, Paganem und Christlichem am Beispiel des Armen Heinrich Hartmanns von Aue und des Parzival Wolframs von Eschenbach in die Diskussion bringt, entwickelt einen an MICHAIL BACHTIN angelehnten Begriff des Hybriden, der einer unaufgelösten Spannung zwischen den Polen des Archaischen und Kerygmatischen, wie W A R N I N G sie fixiert, Rechnung trägt. CHRISTIAN KIENING geht anhand von Judas-Viten der Frage einer Mythologisierung christlicher Heilsgeschichte nach, CHRISTOPH PETERSEN entwickelt eine These, der zufolge die narrativierte Soteriologie des Descensus Christi als mythische Variante das 110

Vgl. hierzu 1.1-1.4.

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Udo Friedrich/Bruno Quast

funktionale mythische Äquivalent zur dogmatischen Lehrfigur darstellt. zeigt an der spätmittelalterlichen Melusinenerzählung Thürings von Ringoltingen eine narrativ entfaltete Gegenläufigkeit von Entmythisierungs- und Remythisierungsprozessen auf, die als Kennzeichen einer Epochenschwelle gelesen wird. Alle vier Beiträge verdeutlichten an ganz unterschiedlichen Themenfeldern und Textsorten, dass von vielfältigen Interferenzen zwischen Christlichem und Mythischem auszugehen ist. Die These von der christlichen Gefangenschaft des Mythos im Mittelalter erhält ihr Komplement in Figurationen einer mythischen Gestalt des Christlichen. Mythisches und Christliches lassen sich so gesehen kaum mehr als sich ausschließende Symbolsysteme denken. Dem Zusammenhang von Mythos und Genealogie widmen sich Beiträge, die der spezifischen Leistung von Ursprungsnarrationen nachgehen. Gründungsgeschichten betreffen im Mittelalter alle sozialen Einheiten, Familien, Geschlechter, Stämme und Nationen, wie SUSANNE BÜRKLE am Beispiel des Annoliedes in Auseinandersetzung mit der Theorie des kulturellen Gedächtnisses (ALEIDA und JAN ASSMANN) dargelegt. Dabei erweist sich auch dieser Text nicht als einsinnige mythische Gründungsgeschichte, sondern als eine komplexe Summe divergierender geschichtserinnernder Diskurse. Ausgeprägt mythische Erzählformen lassen sich am Beispiel von Gründungsgeschichten und Genealogien, die sich auf Spitzenahnen berufen, nachweisen. Das Denken des Ursprungs kann, wie MONIKA SCHAUSTEN für den Wilhelm von Österreich aufzeigt, verschiedene Formen annehmen und unterschiedlich strukturiert sein: als Schichtung von Biographie, Ätiologie und Allegorie. Dabei zeigt sich, dass biblische und apokryphe Erzählungen von außergewöhnlichen Geburten, die im Roman zitiert werden, mythisierenden Erzählschemata unterworfen werden können. Die paradoxale Figur des Ursprungs vor dem Ursprung beobachtet BEATE KELLNER in Schwanenkindererzählungen. Hier begegnet eine Form des genealogischen Eskapismus in eine Anderwelt, der die Besonderheit eines Geschlechts markieren soll. Über den Bereich der Literatur hinaus wirkt das mythische Ursprungsdenken bis in den Bereich der Wissenschaftsgeschichte hinein. So widmet sich HARALD HAFERLAND Hermes Trismegistos als Gründerfigur hermetischer Wissenschaft. Eine weitere Gruppe von Beiträgern rückt im engeren Sinne die Mythizität des Erzählens ins Zentrum der Aufmerksamkeit. JAN-DIRK MÜLLER zeigt am Beispiel der Kudrun zeitgenössische Anstrengungen auf, den Mythos mit Mitteln des Mythos zu verabschieden. Die Kudrun, die die Geschichte einer Friedensordnung erzählt, distanziert sich vom heroischen Mythos, wenn Hagens Rettung nicht mit heroischer Exorbitanz begründet wird. Doch noch die Verabschiedung des Heroisch-Mythischen unter der Prämisse christlicher Providenz zehrt indes von mythischen Operationen. SUSANNE KÖBELE, die nach dem Zusammenhang von Mythos und Metapher in Gottfrieds von Straßburg BRUNO QUAST

Mediävistische Mythosforschung

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Tristan fragt, fokussiert ihren Blick auf einen Metaphern und Allusionen eignenden semantischen Überschuss, den sie mythentheoretisch fasst. Im Rekurs auf H A N S BLUMENBERG unterstreicht sie für den Tristan die mythenanaloge Funktion der Metapher. Poetisches und Mythisches rücken hier eng aneinander. CHRISTOPH H U B E R beschreibt Tradierungsprozesse des Mythischen im Schema von der gestörten Mahrtenehe. Versuche, so eine These H U B E R S mit Blick auf den Ritter von Staufenberg, das mythische Schema durch eine christliche Semantisierung der Feenfigur zurückzudrängen, scheiterten. UDO FRIEDRICH untersucht am Beispiel des Eckenliedes Adaptationsprozesse mythischer Strukturen unter den Bedingungen einer mittelalterlichen Adelskultur. Auf der Ebene der Waffendarstellung und körperlicher Reaktionsweisen dokumentiert das Eckenlied mythische Dimensionen, insofern die Protagonisten an Konkreszenzen unterschiedlichster Art teilhaben. Für den Bereich der Nordistik zeigt JULIA ZERNACK, dass selbst innerhalb von Bekehrungsgeschichten mythisch-heroische Themen Aktualität wahren. MATIAS MARTINEZ schließlich interpretiert unter narratologischer Perspektive die Figur des allwissenden Erzählers als ein mythisches Analogon des göttlich inspirierten Autors, wie er als causa efficiens der religiösen Epen Miltons und Dantes inszeniert ist. Bei allen Versuchen der mittelalterlichen Literatur, das Mythische zu bewältigen, erweist sich das Roman- und Epengeschehen als resistent gegenüber Vereindeutigungen. Selbst explizit antimythische Anstrengungen partizipieren an mythischen Strukturen. Mythische Denk- und Erzählformen prägen jenseits des Motivlich-Inhaltlichen weit mehr als erwartet die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Der Blick auf das Mittelalter als eine monolithisch christliche und damit antimythische Kultur bedarf einer entscheidenden Korrektur. Diese Korrektur könnte darin bestehen, die Geschichte der mittelalterlichen Literatur stärker als bisher nicht zuletzt als eine Geschichte der Arbeit am Mythischen zu akzentuieren.

H A N S ULRICH G U M B R E C H T (Stanford University)

Präsenz-Spuren Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos

Außerhalb der historischen Welten ihres Ursprungs haben das narrative Potential der Mythen und die Formen, in denen sie sich artikulieren, die Faszinationskraft von .special effects'. Denn was wir heute - meist im Blick auf visuelle Medien - .special effects' nennen, geht hervor aus der Spannung und der Fusion zwischen den immanenten Logiken unserer eigenen Alltagskultur und spezifischen Gegenständen unserer Erfahrung, denen differente kulturelle Logiken eingeschrieben sind. Anzunehmen, dass Menschen (unter besonderen Umständen jedenfalls) fliegen können, so wie .Batman', oder sich in eine andere Materie als die ihres Körpers verwandeln, so wie der .Terminator', das widerspricht zwar der Logik unseres eigenen Alltags, aber gewiss nicht der Logik aller Alltagswelten, in denen Menschen je zusammengelebt haben. Dass zum Beispiel das Brot und der Wein der Eucharistie der Leib und das Blut Christi ,sein' (und nicht nur .bedeuten') sollen, war offenbar nicht implausibel angesichts eines im Mittelalter dominierenden Symbolbegriffs, der Form und Substanz aneinander koppelte, während dieselbe Vorstellung in der Neuzeit zur intellektuellen Provokation eines .special effect' wurde, der die Grenze zwischen Alltag und Religion tiefer werden ließ. Je nahtloser sie eingepasst sind in ihnen heteronome Alltagswelten, desto unwiderstehlicher ziehen special effects' unsere Aufmerksamkeit auf sich. Mythen und die Mythographie teilen sicher nicht die Alltags-Prämissen unserer Gegenwart - aber sie entsprechen auch nicht den kulturellen Logiken des Mittelalters. Denn der Kultur-Typ, dem wir die Mythen verdanken, ist vom Mittelalter und von unserer Gegenwart in je verschiedener Hinsicht verschieden. Genau darum, um die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Alteritätsverhältnissen zum Mythos, geht es vor allem in diesem Aufsatz. Ich möchte die Doppelfrage nach dem je spezifischen Heteronomie-Status der Mythen in der gegenwärtigen und in der mittelalterlichen Kultur unter das

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Hans Ulrich Gumbrecht

Vorzeichen einer bestimmten These stellen und anhand zweier mit dem Mythos verbundener Phänomen-Typen verfolgen. Die von mir vorausgesetzte (und natürlich noch ausfuhrlicher zu erläuternde) These heißt, dass Mythen vor allem in Kulturen entstehen, welche auf die Produktion von räumlichen Relationen der Präsenz (und nicht, wie die Gegenwartskultur: auf die Produktion von Bedeutung) zentriert sind.1 Die Spuren solcher Präsenz, die ich verfolgen möchte, sind einmal jene sprachlichen, stilistischen oder diskursiven Merkmale des Mythos (ihr Status ist noch kaum geklärt), auf die sich Kulturwissenschaftler vor allem in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Begriff der .Gebärde' bezogen, und zum anderen die historische Überlebensfähigkeit (die ,Zeitresistenz') des narrativen Potentials von Mythen. Der Parcours meiner Argumentation ist denkbar einfach. Ich werde im ersten Teil Begriffe zusammenstellen zum Verständnis der Beziehung zwischen Mythen und dem, was ich für ihr kulturelles Ursprungsmilieu halte. Dabei gehe ich aus von den Thesen dreier großer Theoretiker des Mythos, E R N S T C A S S I R E R , A N D R É J O L L E S und H A N S B L U M E N B E R G ( 1 ) , neben die ich dann meine eigene typologische Unterscheidung zwischen ,Präsenz-Kultur' und ,Bedeutungs-Kultur' stelle (2). Diese Unterscheidung wird erprobt und illustriert in der Analyse eines einschlägigen Textes: Genesis 22,1-22,19, das ist die Episode von der Opferung des Isaak (3). Auf solch dreifacher Grundlage werde ich schließlich Antworten auf die drei bereits formulierten Leitfragen vorschlagen (4): auf die Frage nach einer Definition der „Sprachgebärde" des Mythos, auf die Frage nach den Gründen für seine ,Zeitresistenz' und schließlich auf die Frage nach den je verschiedenen Alteritäten des Mythos gegenüber der Kultur des Mittelalters und gegenüber der Kultur unserer Gegenwart.

1. Der im Dezember 1924 abgeschlossene, dem .mythischen Denken' gewidmete zweite Teil von E R N S T C A S S I R E R S Philosophie der symbolischen Formen lässt sich heute durchaus als eine Theorie - oder mindestens doch: als eine Illustration des Begriffs - der ,Präsenz-Kultur' lesen. Das gilt vor allem deshalb, weil C A S S I R E R immer wieder betont, dass die Mythen selbst, aber auch all das, was in ihrer Kultur als .Repräsentation' zu identifizieren wir geneigt sind, dort eben gerade nicht den Status einer .Repräsentation' von Wirklichkeit haben, sondern als Teil eines Ritus selbst Wirklichkeit sind:

Vgl. zum Präsenz-Begriff und seinen Implikationen mein Buch: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey. Stanford, CA. 2004 (dt. Übersetzung: Diesseits der Hermeneutik. Frankfurt a. M. 2004).

Präsenz-Spuren

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Wo wir ein Verhältnis der bloßen „Repräsentation" sehen, da besteht für den Mythos, sofern er von seiner Grund- und Urform noch nicht abgewichen und von seiner Ursprünglichkeit noch nicht abgefallen ist, [...] ein Verhältnis realer I d e n t i t ä t . Das „Bild" stellt die „Sache"· nicht dar - es i s t die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt. Man kann es demgemäß geradezu als ein Kennzeichen des mythischen Denkens bezeichnen, daß ihm die Kategorie des .Ideellen' fehlt, und daß es daher, wo immer ihm ein rein Bedeutungsmäßiges entgegentritt, dieses Bedeutungsmäßige, um es überhaupt zu fassen, in ein Dingliches, in ein Seinsartiges umsetzen muss. [...] Es ist mit Recht betont worden, daß im Verhältnis von M y t h o s und R i t u s der Ritus das Frühere, der Mythos das Spätere ist. Statt das rituelle Tun aus dem Glaubensinhalt, als einen bloßen Vorstellungsinhalt, zu erklären, müssen wir vielmehr den umgekehrten Weg einschlagen: wir müssen das, was am Mythos der theoretischen Vorstellungswelt angehört, was an ihm bloßer Bericht oder geglaubte Erzählung ist, als eine mittelbare Deutung desjenigen verstehen, was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Willen und Affekt lebendig ist. So gefaßt aber haben alle Riten ursprünglich keinen bloß .allegorischen', nachbildenden, darstellenden, sondern durchaus r e a l e n Sinn: sie sind in die Realität des Wirkens derart eingewoben, daß sie einen unentbehrlichen Bestandteil von ihr bilden. 2

Entscheidend für die Sicht vom ,präsenzkulturellen' Ursprung des Mythos ist Verweis auf das Ausbleiben der Dimension des ,Ideellen' in der mythischen Welt (das heißt: das Ausbleiben einer ausschließlich aus Sinn oder Bedeutung konstituierten Dimension). Da der Mythos die Deutung, wie C A S S I R E R schreibt, von "im Tun und im Willen der Menschen lebendigen Affekten" sei und als solche vom Ritus nicht abzutrennen, können wir umgekehrt die Herkunft des Mythos nur verstehen, wenn wir ihn als Teil jenes Wirklichkeitsvollzugs auffassen, als der ein jeder Ritus existiert. Es gehöre dann, sagt C A S S I R E R weiter, als ein Alteritätsmoment zu jenem rituellmythologischen Wirklichkeitvollzug, dass für ihn Sequentialität identisch mit Kausalität sei. Was immer später kommt, gilt als durch das Frühere bedingt 3 , und zwar ohne Alternative und mithin auch ohne die Möglichkeit jener Art von Reaktion, die wir heute ,kritisch' nennen würden. 4 Eine der kulturellen Techniken, in denen sich solch absolute Kasualität verwirklicht, ist die Magie, die wir längst unvermeidlich als einen , special effect' erleben (und mithin entrealisieren). In der Magie wird die Präsenz gewisser Gegenstände - unvermeidlich - die Präsenz gewisser anderer Gegenstände heraufbeschwören oder - ebenso unvermeidlich - zu ihrem Verschwinden im Raum fuhren. CASSIRERS

2

ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken. Darmstadt'1977, S. 51.

3

Ebd., S. 59. Ebd., S. 47.

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Hans Ulrich Gumbrecht

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Ob C A S S I R E R S Philosophie der symbolischen Formen dem Literaturwissenschaftler A N D R É JOLLES bekannt war und ob sie Einfluss genommen hat auf JOLLES' 1930 veröffentlichtes (offenbar aus Vorlesungsmitschriften entstandenes) Buch Einfache Formen, wissen wir nicht. Die Affinitäten und Konvergenzen könnten jedenfalls auch dann kaum intensiver sein, wenn die beiden Autoren aktiv zusammengearbeitet hätten - was definitiv nicht der biographische Fall war. 5 Dass sich JOLLES' Interesse an „der Mythe" (wie er den Mythos nannte), zunächst - wie bei allen der neun „einfachen Formen", die er untersucht, und stärker als je bei CASSIRER - auf die sprachliche Gestalt ,der Mythe' konzentriert, genauer: auf ihre „Sprachgebärde", ist für einen Literaturwissenschaftler nicht überraschend. In der Rezeption von JOLLES' Buch allerdings ist eine andere Argumentationslinie des Mythos-Kapitels stärker beachtet worden als die Frage nach der „Sprachgebärde" - was damit zusammenhängen mag, dass dieser heute vielleicht wieder interessant erscheinende Begriff über lange Jahrzehnte wohl eine zu starke Konnotation aus der expressionistischen Ästhetik der zwanziger Jahre zu tragen schien. Auf Zustimmung ist jedenfalls in der Welt der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik vor allem die These gestoßen, dass der Mythos „eine Antwort" sei, welche die Imagination so weit über die Frage hinausführe, auf die sie reagiert, dass die primäre Frage „getilgt" werde. 6 Ich möchte auf diesen Gedanken später zurückkommen, aber hier schon anmerken, dass bei JOLLES unklar bleibt, wie jene Frage entstanden und motiviert sein soll, auf die der Mythos angeblich antwortet. Zur „Sprachgebärde" des Mythos hingegen hat JOLLES eine in ihrer Vielschichtigkeit schon beinahe exuberant zu nennende These entwickelt. Zunächst identifiziert er eine spezifische „Geistesbeschäftigung", die der einfachen Form des Mythos entsprechen soll: "in der Mythe wird ein Gegenstand von seiner Beschaffenheit aus Schöpfung." 7 Den Prozess der Entstehung eines komplexen Gegenstands aus den Elementen seiner „Beschaffenheit" - wir würden heute wohl von ,Emergenz' sprechen - nennt JOLLES „ein Geschehen," und eben die Vergegenwärtigung von Geschehen - von Emergenz - "in diesem Sinne bestimmt die S p r a c h g e b ä r d e der M y t h e . " 8 Bei aller Vielfalt seiner stets tentativen - aber stets auch besonders anschaulichen - Formulierungen vermeidet es JOLLES konsequent, vom Mythos als einer Form der Darstellung zu sprechen. Demzufolge liegt der entscheidende Punkt seiner Kon5

ANDRÉ JOLLES: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen s 1 9 7 4 (zuerst Tübingen 1930), S. 91-125 (Mythe). - Die offenbar dramatische Lebensgeschichte des früh zur nationalsozialistischen Ideologie übergelaufenen holländischen Intellektuellen und Leipziger Professors ANDRÉ JOLLES ist noch k a u m untersucht. Vgl. erste Ansätze bei WALTER THYS: André Jolles 1874-1946. In: Yearbook of C o m parative and General Literature 13 (1964), S. 41-48.

6

JOLLES (Anm. 5), S. 113. Ebd., S. 101.

7 8

Ebd., S. 114.

Präsenz-Spuren

5

vergenz mit CASSIRERS Theorie genau in einer Sicht vom Mythos als Vollzug von Geschehen - oder, vorsichtiger formuliert, im Vermeiden von Begriffen, aus denen man auf ein mimetisches Verhältnis zwischen „Geschehen" und „Mythe" schließen müsste. Noch einmal: "in der Mythe wird ein Gegenstand von seiner Beschaffenheit aus Schöpfung." So gesehen rückt der Mythos auch bei JOLLES in die Nähe des Ritus als institutioneller Form und der Magie als kultureller Technik. Und diese beiden Aspekte - der Ritus als Choreographie und die sprachliche Kompaktheit magischer Formeln - machen es schließlich plausibel, dass JOLLES dem Mythos darüber hinaus die Qualität der "Bündigg

keit" zuspricht. In der ein halbes Jahrhundert später formulierten Mythos-Konzeption von HANS BLUMENBERG finden wir zwar eine Reihe der zentralen Motive und Begriffe wieder, auf die wir bei CASSIRER und JOLLES gestoßen sind, doch rücken diese Elemente nun in eine grundsätzlich verschiedene Vorstellung von der Struktur und Pragmatik der mythologischen Rede ein. 10 Entscheidend für BLUMENBERG ist der - vor allem aus rezeptionshistorischer Perspektive nahe liegende - Gedanke einer Spannung und Komplementarität zwischen "Terror" und "Spiel." Die Funktion des Mythos soll sich primär darin bewähren, dass das von ihm vergegenwärtigte Geschehen seine Rezipienten ,in Schranken weist', das bedeutet: auf bestimmte Formen und Grenzen des Verhaltens festlegt. Dieser Aspekt mag an JOLLES' These erinnern, dass die narrative Kraft des Mythos als Antwort die Frage "tilgt", auf die er reagiert. Zugleich aber sieht BLUMENBERG im Mythos die Möglichkeit angelegt, eben den Effekt des Terrors durch spielerischen Umgang mit seinem Inhalt und seiner Sprache immer wieder zu distanzieren. In BLUMENBERGS Theorie folgt aus der SpielDimension die Frage, ob es je möglich sein kann, "einen Mythos zuende zu bringen" 11 und sich so von seiner Terror-Wirkung zu befreien. Dies aber ist eine mögliche Version der traditionellen Frage nach der Zeitresistenz des Mythos (oder seinem historischen Überlebenspotential), welche ihm ja erst die Möglichkeit gibt, wie ein .special effect' in Kulturen hineinzuragen, die grundsätzlich verschieden von seinen Entstehungskontexten sind. Als eine Bedingung solcher Rezeption nennt BLUMENBERG die "gesättigte Anschaulichkeit" der mythischen Rede und legt damit als weitere Konvergenz zu 9 10

Ebd., S. 110. Ausgangspunkt von BLUMENBERGS Theorie war sein Beitrag zum vierten Kolloquium der Forschungsgruppe .Poetik und Hermeneutik', welcher den Titel und die Diskussionen des einschlägigen Sammelbands bestimmte: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von MANFRED FUHRMANN, München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66. Die - auch geschichtsphilosophisch - ausgearbeitete Version derselben Mythos-Konzeption ist das Buch: H B.: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979.

11

V g l . BLUMENBERG: W i r k l i c h k e i t s b e g r i f f ( A n m . 10), S. 3 1 .

12

Ebd., S. 39.

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eine Assoziation mit dem Begriff der Bündigkeit des Mythos nahe. Was mythologische Rede so zeitresistent macht, könnte man weiter spekulieren, ist ihre semantische Substanz, eine Substanz, welche offenbar eher als ein mimetisches Verhältnis zur Wirklichkeit noch einmal ein Verständnis vom Mythos als Geschehen und Teil von Wirklichkeit nahe legt. JOLLES

2. Wenn ich nun - wie einleitend angekündigt - auf Autoren des Kalibers von CASSIRER, JOLLES und BLUMENBERG eine Vorstellung meines eigenen Vorschlags zur typologischen Unterscheidung zwischen ,Präsenzkultur' und ,Bedeutungskultur' folgen lasse, so bedarf diese Fortsetzung einer - möglichst starken - Begründung. Sie liegt in dem Eindruck, dass jene Begriffe aus dem Panorama der klassischen Mythos-Theorien, welche uns heute am intensivsten interessieren („Sprachgebärde" etwa oder „Ritus," „Bündigkeit" und „Terror") nicht in wünschenswerter Komplexität entfaltet werden können, solange wir uns mit der seit DILTHEY alternativenlosen Festschreibung geisteswissenschaftlicher Analysen auf den Akt der Interpretation - und zwar auf den Akt der Interpretation im strikten Verständnis einer Sinnzuweisung - zufrieden geben. In diese Richtung verweist ja auch CASSIRERS Intuition, nach der dem „mythischen Denken die Kategorie des Ideellen" fehlen soll. Als Gegenpol oder besser: als spannungsvolle Ergänzung - zur ausschließlichen Dominanz von Interpretation und Hermeneutik, welche ein Teil und eine Folge der seit H E I D E G G E R ,metaphysisch' genannten Denk-Tradition ist, schlage ich die Ausdifferenzierung eines Begriffes von .Präsenz' vor, der sich auf unser räumliches Verhältnis zu den Dingen der Welt, das heißt: auf ihre Berührbarkeit und somit auch auf die Möglichkeit beziehen soll, dass die Dinge der Welt - in ihrer und durch ihre Substanz - unsere Körper affizieren. Wichtigste Anregung für die damit aufgegebene begriffliche Arbeit war HEIDEGGERS Konzeption des "Wahrheitsgeschehens" als „Selbst-Entbergung von Sein," wobei mir ein Hermeneutik-konformes Verständnis von „Sein" als „Bedeutung" oder „Sinn" ausgeschlossen schien.13 Trotz des Komplexitätsgewinns für geisteswissenschafliche Analysen, den solche Arbeit in Aussicht stellt, vermute ich, dass ausschlaggebend im Hinblick auf das Interesse an .Präsenz' unser - außerwissenschaftlicher - kultureller Kontext ist. Dramatisch verstärkt durch die medientechnischen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts hat der .metaphysische' (oder .cartesianische') Charakter bestimmter Alltagswelten in der Gegenwart wohl einen

Das dritte Kapitel von .Production of Presence' (Anm. 1) enthält eine ausführliche - eben diese Position begründende - Heidegger-Exegese.

7

Präsenz-Spuren

Vollkommenheits-Grad erreicht, der ein Umschlagen ins Gegenteil - konkreter: ein massives Bedürfnis nach Präsenz - motiviert. Eben in dieser Situation ist uns - gegen den Strich des alltäglichen Cartesianismus - wieder bewusst geworden, was eine nur zu selbstverständliche Komponente unserer Praxis ist. Wir reagieren unvermeidlich auf alle Dinge der Welt in zwei Dimensionen, via Sinn-Zuschreibung und durch die Herstellung einer räumlichen Beziehung zwischen diesen Dingen und unserem Körper. Die Tatsache jedoch, dass wir innerhalb unserer Gegenwartskultur dazu tendieren, die Präsenz-Komponente dieses Doppelverhältnisses einzuklammern und uns ausschließlich auf Akte der Sinnzuschreibung festzulegen, macht die gegenwärtige Kultur zu - einem extremen - Fall von ,Bedeutungskultur'. Natürlich kann man sich entsprechende Entwicklungen prinzipiell auch in Richtung der ,Präsenzkultur' vorstellen. Historisch konkrete Fälle .reiner Präsenzkultur' oder .reiner Bedeutungskultur' jedoch kann es natürlich nicht geben. Was ich - in einer Serie von einschlägigen acht Kontrasten - vorstellen möchte, sind jedenfalls idealtypische Begriffs-Register, die sich zu den komplexen Begriffen von .Bedeutungskultur' und .Präsenzkultur' zusammenfügen und uns helfen sollen, historisch spezifische Phänomene und Situationen zu analysieren. 14 Dominante Selbstreferenzen des Menschen sind unter dem Typus der .Bedeutungskultur' - ganz im Sinn von DESCARTES' .Cogito' - Konzepte wie .Geist' und .Bewusstsein', während der menschliche Körper der dem Subjekt als rein spiritueller Selbstreferenz gegenüberliegenden ,Welt der Dinge' zugeschlagen wird. Auf diese Konstellation bezieht sich im wörtlichen Sinn der schon mehrfach benutzte Begriff von .Metaphysik' und setzt sich von der .Präsenzkultur' ab, wo natürlich der Körper im Zentrum menschlicher Selbstreferenz steht. Damit ist - zweitens - impliziert, dass der von den Dingen der Welt umgebene Körper in der , Präsenzkultur' als Teil der göttlichen Schöpfung aufzufassen ist und zwar noch einmal im Gegensatz zur cartesianischen Selbstreferenz des Menschen, die als Subjekt aus ontologisch zwingenden Gründen exzentrisch gegenüber der Welt der Dinge bleiben muss. Drittens ist die Interpretation der Dinge der Welt und somit das Hervorbringen von Wissen über die Welt so zentral für die Rolle des gegenüber der Welt exzentrischen Subjekts in der .Bedeutungskultur', dass daraus seit dem Zeitalter der Aufklärung die Prämisse von der ausschließlichen Legitimität Subjekt-produzierten Wissens geworden ist. Subjekt-produziertes Wissen aber wird zur notwendigen Grundlage für Handlungsmotivationen, das heißt von Projekten zur Transformation der Welt. Dagegen hängt Wissen in der .Präsenzkultur' von Ereignissen der Offenbarung ab (oder genereller: von Ereignissen der Selbstentbergung Vgl. d a z u - e t w a s a u s f ü h r l i c h e r als a u f den f o l g e n d e n Seiten - m e i n e n T e x t : T e n B r i e f R e f l e c t i o n s on I n s t i t u t i o n s a n d R e / P r e s e n t a t i o n . In: Institutionalität u n d S y m b o l i s i e r u n g . V e r s t e t i gungen

kultureller O r d n u n g s m u s t e r

MELVILLE, K ö l n 2 0 0 1 , S. 6 9 - 7 5 .

in V e r g a n g e n h e i t

und

Gegenwart.

Hrsg. von

GERT

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Hans Ulrich Gumbrecht

der Welt), welche außerhalb menschlicher Verfugung stehen und daher nicht selten die Furcht vor dem Verlust von Wissen zu einer Obsession anschwellen lassen. ,Bedeutungskulturen', hier liegt ein vierter Kontrast, erfahren die Welt als ein vor dem Subjekt liegendes Bild 1 5 aus Begriffen und auf diese Begriffe (als .Signifikate') beziehen sich Wörter in ihrer Materialität als .Signifikanten'. Daraus folgt, dass zu .Bedeutungskulturen' jener Typus des Zeichen-Konzepts gehört, an den wir uns seit FERDINAND DE SAUSSURE fast ohne Alternative gewöhnt haben. Angemessener fur eine .Präsenzkultur' ist aber der aristotelische Zeichenbegriff, welcher Substanz mit Form kombiniert, und zwar .Substanz' als das, was Raum einnimmt, und .Form' als jene Dimension, welche die Substanz erst wahrnehmbar macht. Dem aristotelischen Zeichenkonzept zufolge kann es in der ,Präsenzkultur' nicht so etwas wie eine reine Sphäre der Bedeutung oder des Sinns geben, was erklärt, warum hier jeder Gebrauch von Sprache ein Vollzug von Wirklichkeit und also Geschehen ist - in den meisten Fällen sogar ein in seinen Formen bereits festgelegtes Geschehen, also ein Ritual. Dominante Dimension von ,Präsenzkulturen' ist deshalb - fünftens der Raum, wie er sich um jeden (substantiellen) Gegenstand konstituiert, während zusammen mit Geist, Bewusstsein und Handeln als Zentralbegriffen der .Bedeutungskultur' die Dimension der Zeit im Vordergrund steht. Wenn wir nun - sechstens - als .Gewalt' das Einnehmen oder Blockieren von Räumen mit Körpern definieren, so wird deutlich, dass für die ,Präsenzkultur' Ereignisse und Rituale der Gewalt zentral sein müssen. .Bedeutungskulturen' hingegen spielen manifeste Gewalt in (meist unsichtbare) Gewalt-Potentiale über, welche sie .Macht' nennen und im Gegensatz zur Gewalt als prinzipiell legitim ansehen. Wenn Weltinterpretationen des Subjekts in der .Bedeutungskultur' zur Voraussetzung für Projekte der Weltveränderung durch Handeln werden können und wenn es andererseits zur menschlichen Selbstreferenz in der , Präsenzkultur' gehört, Teil einer kosmologischen Ordnung zu sein, dann folgt daraus siebtens - , dass einzig in der .Bedeutungskultur' der Begriff des Ereignisses konstitutiv mit einem Moment von Überraschung verbunden ist. Ihr Äquivalent in der .Präsenzkultur' bezieht sich zwar auch auf Momente der Veränderung, aber dort handelt es sich um Momente kosmologisch erwartbarer Veränderung. Gibt es aber - achtens - in der ,Präsenzkultur' nicht die auf Ziele der Weltveränderung hin orientierte Dimension des ernsthaften Handelns, so schließt dies auch die für eine .Bedeutungskultur' so zentrale Modalität des Handelns ohne klare Motivation aus, die wir ,Spiel' (und in einem abgeleiteten Sinn: .Fiktion') nennen. Sucht man in der .Präsenzkultur' nach einem Äquiva-

Ich greife erneut einen Gedanken von MARTIN HEIDEGGER auf: D i e Zeit des Weltbilds ( 1 9 3 8 ) . In: DERS.: H o l z w e g e . Frankfurt a. M . 7 1 9 9 4 , S. 7 5 - 1 1 4 .

Präsenz-Spuren

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lent des Spiels - oder mindestens nach einer Struktur, die unter anderen Vorzeichen jener des Spiels nahe kommt - , so bietet sich am ehesten die Vorstellung von der ,verkehrten Welt' an, als Vorstellung von der Kehrseite einer als existierend vorausgesetzten Weltordnung.

3. Wenden wir uns nun der alttestamentarischen Episode vom Opfer Abrahams zu, um einige Aspekte des Begriffs von ,Präsenzkultur' zu illustrieren. Vorab sollte ich wohl noch einmal betonen, dass keine historisch-spezifische Kultur nicht die Kultur des Alten Testaments und schon gar nicht die Kultur des Mittelalters - im Sinn einer Konkretisation voll und ganz der Konzeption unseres Idealtyps entspricht. Gewiss, wir gehen von der Annahme aus, dass die Kultur des Alten Testaments dem Typ der ,Präsenzkultur' erheblich näher stand als etwa die Kultur unserer Gegenwart. Aus dieser Distanz entsteht ja genau der .special effect', welchen Mythos und Mythographie in modernen Kulturen hervorbringen können. Aber man kann natürlich trotzdem fragen, ob nicht schon die - im Falle des Alten Testaments gegebene - Verschriftlichung eines Mythos in Mythographie diesen Mythos auf entscheidende Distanz vom Habitus der .Präsenzkultur' rückt. Wie lässt sich - wenn überhaupt - die Dimension von Text und Schriftlichkeit mit der typologischen Vorgabe in Einklang bringen, dass dominante menschliche Selbstreferenz in der .Präsenzkultur' der menschliche Körper ist? Diese Frage genau möchte ich auf zwei Ebenen, auf der Ebene des Inhalts und auf der Ebene der historisch spezifischen Funktion (,Pragmatik') in der alttestamentarischen Episode verfolgen, die ich nun zunächst - weil es auf den Wortlaut ankommt - ohne Kürzungen wiedergeben möchte:

Das Opfer Abrahams Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe und sagte zu ihm: "Abraham!" Dieser antwortete: "Hier bin ich!" Er sprach: "nimm deinen Sohn, den einzigen, den du liebhast, den Isaak, und gehe in das Land Morija und bringe ihn dort auf einem der Berge, den ich dir bezeichnen werde, als Brandopfer dar!" Abraham stand früh am andern Morgen auf, sattelte seinen Esel, nahm zwei Knechte mit sich und seinen Sohn Isaak. N a c h d e m er Holz zum Brandopfer gespalten hatte, brach er auf und begab sich nach d e m Ort, den ihm Gott genannt hatte. A m dritten Tag erhob Abraham seine Augen und sah den Ort von ferne. Da sagte Abraham zu den Knechten: "Bleibt mit dem Esel hier! Ich und der Junge wollen dorthin gehen, um anzubeten, dann kommen wir zu euch zurück." Darauf nahm Abraham das Holz zum Brandopfer und lud es seinem Sohne Isaak auf; er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand. S o gingen sie beide

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miteinander. Da sprach Isaak zu Abraham, seinem Vater: "Mein Vater!" Er antwortete: "Ja, mein Sohn!" Der sagte: "Siehe, da ist das Feuer und das Holz, wo ist denn das Lamm zum Brandopfer?" Abraham erwiderte: "Gott wird sich das Lamm zum Brandopfer schon ersehen, mein Sohn." So schritten sie beide zusammen weiter. Als sie an den Ort kamen, den Gott bezeichnet hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, band seinen Sohn und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Dann streckte Abraham seine Hand aus, nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da rief der Engel Jahwes vom Himmel her zu ihm und sprach: "Abraham, Abraham!" Er antwortete: "Hier bin ich!" Da sprach er: "Strecke deine Hand nicht nach dem Jungen aus und tu ihm nichts zuleide. Denn nun weiß ich, daß du Gott furchtest und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast." Als Abraham seine Augen erhob, sah er einen Widder, der sich mit seinen Hömern im Dickicht verfangen hatte. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn an Stelle seines Sohnes zum Brandopfer dar. Abraham nannte diesen Ort "Jahwe sieht." So daß man noch heute sagt: "Auf dem Berge, wo Jahwe vorsieht. Darauf rief der Engel Jahwes Abraham zum zweiten Male vom Himmel her zu und sprach: "Ich schwöre bei mir selbst, — Spruch Jahwes —, weil du dies getan und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast, will ich dich reichlich segnen. Ich werde deine Nachkommenschaft zahlreich machen wie die Steme des Himmels und wie den Sand am Gestade des Meeres; deine Nachkommen sollen das Tor ihrer Feinde besetzen. Durch deine Nachkommen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden, weil du auf meine Stimme gehört hast." Abraham kehrte zu seinen Knechten zurück. Sie brachen auf und gingen zusammen nach Beerscheba. Und Abraham blieb in Beerscheba. 16 Nicht zu übersehen ist, wie der jeweilige Selbstbezug und die wechselseitigen Beziehungen z w i s c h e n den Protagonisten in diesem Text primär in der Dimension des Körpers artikuliert sind. Abraham, der Vater, ist als Vater derjenige, der über den Körper und mithin das Leben seines Sohnes Isaak verfugen kann. D a s s er dieses Recht besitzt, wird nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern ist eine notwendige Voraussetzung der Geschichte. U n d dasselbe Recht gilt auch unter weniger dramatischen Bedingungen als denen des zentralen OpferMoments: Vorher schon hat Isaak, der Sohn, auf Befehl seines Vaters das H o l z für das Opferfeuer auf den Berg getragen, und später wird Isaak, als potentieller Opfer-Körper, durch einen Widder als Opfertier ersetzt werden. A l s Teil der göttlichen Schöpfung unterwirft sich Abraham bedingungslos d e m Willen und d e m Befehl Jahwes. Die Bewährung dieser bedingungslosen Unterordnung ist das zentrale Motiv im Mythos v o n Abrahams Opfer. Gegenüber der Welt und d e m Willen seines Gottes bezieht Abraham nie die exzentrische Position eines autonom handelnden Subjekts. Abraham interpretiert seiIch zitiere nach der folgenden deutschen Ausgabe des Alten und Neuen Testaments: Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe. Freiburg "1966, S. 19.

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nen Gott nicht und entwickelt keine Strategien des Handelns, mit denen ihm zu begegnen wäre. Aus neuzeitlicher Perspektive mag eine psychologisierende Lektüre des Dialogs zwischen Abraham und Isaak im vierten Absatz des zitierten Texts nahe liegen: so als klinge in Isaaks Frage nach dem nicht vorhandenen Opfertier eine Ahnung von seinem Schicksal an, während der Vater es nicht übers Herz brächte, den Sohn in die volle Wahrheit und Konsequenz des göttlichen Befehls einzuweihen. Dagegen lässt sich aber - ,präsenzkultureir die Auffassung wenden, dass es in der Gegenwart eines jeden Handlungsschrittes allein darauf ankommt, vollkommen konform mit und ganz aufgehoben in dem Willen Gottes zu sein, was alle Sorge über die Zukunft - selbst über die unmittelbare Zukunft - suspendiert. Abraham verbirgt dem Isaak die Zukunft nicht aus subjektiv empfundener Vorsicht oder aus Mitleid. Vielmehr geht er davon aus, dass jede Zukunft - auch die allernächste - allein in der Hand Gottes liegt. Darin genau muss die Bedeutung des Namens liegen, den Abraham dem Berg als potentieller Opferstätte gibt: "wo Jahwe vorsieht." Im vorletzten Absatz des Textes, das heißt: in der abschließenden Rede Jahwes durch seinen Engel, wird nachvollziehbar, dass die Pragmatik und Funktion der Episode ursprünglich wohl nicht - jedenfalls nicht primär - die einer Darstellung (oder .Repräsentation') des erzählten Geschehens gewesen sein kann. Der Text muss als Parcours eines Ritus fungiert haben, welcher den Juden den Nachvollzug, die Vergegenwärtigung und also die Erneuerung ihres Bundes mit Jahwe ermöglichte. Anders formuliert: Jede Lektüre und jedes Vernehmen dieses Textes waren ein Gegenwärtig-Machen des Geschehens, welches zum Bund des Alten Testaments gefuhrt hatte und damit seine neue Besiegelung - so wie beispielsweise jeder Gebrauch rechtlicher Formeln das Rechtssystem, dessen Teil sie sind, zugleich bestätigt und stärkt. Während nun diese Pragmatik des Mythos den zeitlichen Abstand zwischen der Welt des Abraham und dem Moment jeder Erneuerung des Bundes aufhebt, wird die räumliche Dimension vielfach betont und vielschichtig profiliert. Nicht allein, weil das Geschehen an einen spezifischen Ort in der Geographie des Alten Testaments gebunden ist. Auffällig ist ja auch und vor allem, dass jede Rede Gottes zu Abraham mit einer Vokativ-Form einsetzt, welche nach Abraham im Raum zu suchen scheint. Deshalb muss seine erste Antwort lauten: "Hier bin ich!" Vor allem aber vollzieht sich das Geschehen des Mythos wesentlich durch Bewegungen der Protagonisten im Raum. Abraham, Isaak und die Knechte brauchen drei Tage, bis ihnen die von Jahwe bestimmte Opferstelle in Sicht kommt. Dann ersteigen Vater und Sohn den Berg, auf dem sich der zentrale Moment und der Wendepunkt des Geschehens ereignen werden. Techniken der räumlichen Inszenierung, ja der Dramatisierung von Erzählhandlungen sind uns natürlich sehr wohl und vielfältig vertraut, und sie sind beileibe nicht auf den Topos (,Topos' im doppelten Sinn dieses Wortes) des Berges beschränkt. Neben dem Berg, auf dem - allein - im Rolandslied Zaragoza liegt,

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die Stadt der heidnischen Antagonisten Karls des Großen, und neben dem Stein, auf dem der spätere Heilige Gregorius Buße tut, gibt es auch Gesten der Enge und der räumlichen Beschränkung, die häufig mit Situationen apokalyptischen Endspiels verbunden sind - nirgends eindrucksvoller und mit bedrückenderer Wirkung als im zweiten Teil des Nibelungenlieds,17 In einer Welt mit massiven räumlichen Konturen, wo Protagonisten als Körper vorhanden sind und nicht über die autonomen Reaktionen ihres Bewusstseins, kann Gewalt nicht unter einem Tabu stehen. Dass ein Vater das Messer zur rituellen Opfer-Abschlachtung des Sohnes erhebt, ist - soviel wissen wir aus Frühgeschichte und Anthropologie - nicht unter allen kulturellen Bedingungen ein Skandal. Zu so etwas wie einer Zumutung fiir Abraham wird Gottes Befehl erst unter der (im Text ja sehr explizit werdenden) Bedingung, dass Isaak Abrahams einziger Sohn ist und dass angesichts des fortgeschrittenen Alters von Abraham und Sara alle Hoffnung auf weitere Nachkommenschaft ausgeschlossen sein muss. Nicht vor allem die Liebe zu seinem Sohn ordnet Abraham dem Befehl Jahwes unter, sondern seinen Stolz auf die Gründung und Erhaltung einer genealogischen Linie. Doch wenn schon die Geste des über Isaak erhobenen Messers in der Urprungswelt des Textes nicht skandalös wirkte, dann können wir auch vermuten, dass die rettende Intervention „im letzten Moment" durch Jahwes Engel wohl kein überraschendes TextEreignis war. Denn gegenüber dem Willen - und vielleicht können wir sogar sagen: gegenüber den Launen - des einen Gottes gibt es keine Dimension mehr oder weniger plausibler Erwartungen, was also auch Überraschung als Kehrseite solcher Erwartungen ausschließt. Ebenso wenig sollten wir Dimensionen wie das Didaktische, das Fiktionale oder gar das Ästhetische in unsere Bemühung um ein historisches Verständnis dieses Textes einbeziehen. Denn sie alle setzen ja (in je verschiedenen Weisen) die Distanz einer Subjektposition gegenüber der Welt voraus, während dieser Text nach seiner Ursprungsbestimmung wohl einfach das Geschehen vergegenwärtigte, verwirklichte und verstärkte, welches nach dem Alten Testament zum Bund zwischen Jahwe und Israel gefuhrt hatte. Natürlich haben wir uns - schon seit dem Beginn der christlichen Ära - so weit von diesem primären Kontext entfernt, dass beispielsweise eine Lektüre der Episode vom ,Opfer Abrahams' als Psychodrama zwischen Vater und Sohn durchaus denkbar ist.18 Aber um den Horizont solcher in den verschiedenen Nachwelten gegebenen Rezeptions-Möglichkeiten ging es uns ja nicht. Ich wollte allein zeigen, dass sich in Genesis 22ff. - trotz des historischen und kulturellen Abstands, der den Text vom primären Kontext

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Vgl. JAN-DIRK MÜLLER: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenlieds. Tübingen 1998, S. 297-344 (Räume). Vgl. zum historisch problematischen Status solcher .Psychologisierung' noch einmal MÜLLER (Anm. 17), S. 20Iff.

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der Episode trennt - noch immer jene Spuren von Präsenz nachweisen lassen, welche den Mythen heute die Wirkung von .special effects' geben.

4. Unsere ,präsenzkulturell' justierte Lektüre hat gewiss die Plausibilität von ERNST CASSIRERS Vorschlag verstärkt, Mythen in Hinblick auf Rituale zu sehen, die ihr Kontext waren und deren uns greifbare Fragmente sie heute sein können. Aber auch für A N D R É JOLLES' These, nach der „in der Mythe ein Gegenstand von seiner Beschaffenheit aus Schöpfung" wird 19 , ist Genesis 22ff. eine geradezu ideale Illustration. Hingegen hat die andere Hauptthese von JOLLES, nach der sich im Mythos „dem Menschen eine Welt aus Frage und Antwort erschafft," durch unsere Beschäftigung mit einem Textbeispiel wohl eher an Überzeugungskraft verloren - jedenfalls was den Ursprungskontext von Genesis 22ff. angeht. Denn wenn es auch zutrifft, dass Mythen im Lauf der Zeit zu intellektuellen Räumen werden können, wo Fragen über die bestehende Welt zu formulieren und zu beantworten sind, setzt doch der Akt solcher Fragen über die Welt eine Exzentrizität und Distanz des Fragenden zur Welt voraus, wie sie zumindest im Idealtypus der ,Präsenzkultur' einfach nicht angelegt ist. Faszinierend - aber auch eigenartig unbestimmt - bleibt aber weiterhin der Begriff der sprachlichen .Gebärde', wie er sich bei der Analyse von Myelographie und beim Nachdenken über Phänomene des Mythischen beinahe unwiderstehlich aufzudrängen scheint. Natürlich würde die naive Frage: "Was ,ist' eine sprachliche Gebärde?" beliebig viele und beliebig weit divergierende Antworten produzieren. Aber auch eine Antwort auf die bescheidenere Frage: "Was meint Autor X, wenn er von ,Gebärde' spricht?" ist wohl nicht möglich, weil sich keiner unserer Vorgänger auf eine ausführliche Klärung oder gar eine Definition dieses Begriffs eingelassen hat. Was uns bleibt, ist der Versuch, jene - offenbar semantisch nie ganz erfasste - Intuition zu benennen und zugleich etwas zu erhellen, welches mit dem Wort ,Sprachgebärde' verbunden gewesen sein muss. Diese Intuition, vermute ich, konvergiert mit zwei anderen - ebenso unterbestimmten - Begriffen, die uns bei der Diskussion einiger klassischer Mythentheorien begegnet waren: Ich meine die Begriffe „Bündigkeit" (JOLLES) und „gesättigte Anschaulichkeit" (BLUMENBERG). Was in ihnen zur Sprache kommt, ist ein Eindruck von textuellen Inhaltsdimensionen, die besonders konturiert, besonders stark motiviert und mithin wohl auch weniger verrückbar zu sein scheinen, als dies sonst bei sprachlich evoziertem Weltbezug der Fall ist. Mein Vorschlag zum Gebrauch des Begriffs „Sprachgebärde"

"

JOLLES ( A n m . 5 ) , S. 1 0 1 .

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läuft deshalb - erstens - auf eine Assoziation mit eben jenem Eindruck semantischer Konturiertheit hinaus. Zweitens und vor allem aber postuliert er, dass Sprachgebärden hervorgehen aus der Konvergenz zwischen einer Semantik, welche menschliches Dasein als eingeordnet in eine feste Weltordnung erscheinen lässt, und einer Pragmatik, welche die entsprechenden Texte zu funktionierenden Teilen der semantisch evozierten Weltordnung macht. Genesis 22ff. .beschreibt' im Sinne dieser semantisch-pragmatischen Konvergenz den Ursprung des Bundes zwischen Jahwe und Israel und wird dabei zugleich zu einem Medium, in dem das den Bund begründende Geschehen immer neu .vollzogen' werden kann. Ganz ähnlich beschwören Zaubersprüche, um nur ein weiteres Beispiel ,gebärdenhafter' Sprache zu nennen, Veränderungen im Rahmen von Weltordnungen herauf, die sie zugleich beschreiben.20 Was nun das theoretische Motiv von der ,Zeitresistenz' der Mythen angeht, so lässt sich natürlich aus der Reflexion über einen einzigen Text, auch wenn es sich dabei um einen besonders alten und eminenten Text handelt, kein definitiver Aufschluss gewinnen. Zugleich ist es ausgeschlossen, im gegebenen Rahmen unserer Überlegungen die Rezeptionsgeschichte wenigstens eines Mythos exemplarisch aufzurollen. Aber immerhin gibt uns der Begriff der ,Präsenzkultur' Anlass zur Skepsis gegenüber der These BLUMENBERGS, welche die Überlebensfahigkeit der Mythen aus dem Zusammenspiel von „Terror und Spiel" erklären will. Skepsis ist zum einen natürlich angebracht, weil die Komponente des Terrors, das heißt: die Komponente der Verpflichtung auf bestimmte Verhaltensformen durch Androhung von Strafen und Katastrophen, sollte sie denn je existiert haben, für die Mythenrezeption in neuzeitlicher Umwelt ganz erheblich abgenommen haben muss. Trotz aller ,Reaktualisierungsbemühungen' heutiger Theater- und Fimregisseure glaubt ja wohl niemand, dass Ödipus deshalb noch immer in unserem kulturellen Gedächtnis lebt, weil die Geschichte von seinem Schicksal weiterhin kollektives und individuelles Verhalten in die Schranken weise. Darüber hinaus - und vor allem aber sind Zweifel gegenüber der Vermutung anzumelden, dass die Möglichkeit einer Distanzierung vom Terror durch Spiel schon in der ,präsenzkulturellen' Ursprungswelt des Mythos angelegt war. Bestimmte Kulturen der Vergangenheit mögen ihren polytheistischen Himmel weniger ernst genommen haben, als wir uns das gemeinhin - meist in schlechter Erinnerung an gewisse monotheistische Exzesse - vorstellen; aber es ist unwahrscheinlich, dass sie zwischen dem Ernst des Tenors und der Gelöstheit des Spiels mit einer Prägnanz unter20

V g l . m e i n e n Aufsatz: 7 4 4 : Foundation by B i s h o p B o n i f a c e , o f a Monastery at Fulda, where, around the M i d d l e o f the Tenth Century, T w o Germanic Charms were Written on an Empty Page in a C o d e x with Sacramental Texts. Charms in Germanic and Old High German Literature. In: N e w History o f German Literature. Hrsg. von DAVID WELLBERY, C a m b r i d g e , Mass. 2 0 0 4 ( N a c h d r u c k unter anderem Titel in: Zeit und Text. Festschrift für WOLF-DIETER STEMPEL. Hrsg. v o n WULF OESTERREICHER, M ü n c h e n 2 0 0 4 ) .

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scheiden konnten, welche es ihnen erlaubt hätte, Terror und Spiel als Polaritäten funktionieren zu lassen. Wie anders aber lässt sich die unübersehbare Zeitresistenz des Mythos - oder theologisch formuliert: sein Kerygma, seine anhaltende Faszinations- und Sagkraft - erklären, wenn wir B L U M E N B E R G S These nicht übernehmen wollen? Vielleicht sollten wir noch einmal auf jene Spuren von Präsenz rekurrieren, die den Mythen als eine Mitgift ihrer Ursprungskontexte eingeschrieben sind. Denn plausibel ist der Gedanke, dass solche Präsenz-Spuren in dem Maß zu einem Gegenstand der Sehnsucht geworden sein könnten, wie sich unser moderner Alltag in eine fast vollkommen .bedeutungskulturelle' Umwelt verwandelt hat. In der Tat sind wir heute ja nicht etwa an einer Distanzierung von Mythen interessiert oder gar daran, sie ,zuende zu erzählen', sondern wollen eher das Potential ihrer .special effects' in denkbar großer Intensität zur Entfaltung bringen. Genau die These über den Hintergrund unserer Faszination durch Mythen legt schließlich die Vermutung nahe, dass Mythen der mittelalterlichen Kultur zugleich näher und ferner waren als heute. Sie waren ihr näher, weil ,präsenzkulturelle' Elemente und Strukturen im Mittelalter gewiss eine sichtbarere Rolle spielten als zu irgendeinem Zeitpunkt der Neuzeit. Zugleich aber waren Mythen dem Mittelalter ferner als unserer Gegenwart, weil ihre Möglichkeit, als ,special effects' zu wirken, dort vergleichsweise eingeschränkt gewesen sein muss. Vielleicht wäre es lohnend, mit der These vom Mittelalter als dem Ausnahmefall eines ausbalancierten Verhältnisses zwischen Präsenz- und .Bedeutungskultur' zu experimentieren. Die frühneuzeitliche Geschichte der christlichen Theologie lässt uns annehmen, dass die Eucharistie, der zentrale Ritus des Mittelalters, zugleich als ein Heraufbeschwören der Realpräsenz Gottes erlebt wurde und als zeichenhafte Erinnerung an die Fleischwerdung Gottes. Die im mittelalterlichen Alltag so allgegenwärtigen Heiligen waren zugleich allegorische Figuren zur Veranschaulichung von Tugendbegriffen und wurden als magische Helfer angerufen. 21 Höfische Literatur war die komplexe Allegorie einer bestimmten Adelsethik, deren Lektüre aber doch stets zum Vollzug eben dieser Ethik als Lebensform wurde. Die Präsenzspuren der Mythen, sollten wir also annehmen, waren den Menschen im Mittelalter wohl kaum mehr restlos vertraut, aber sie waren ihnen auch noch nicht unvertraut genug, um so faszinierend zu wirken wie in der Kultur unserer Gegenwart.

Vgl. meinen A u f s a t z Faszinationstyp Hagiographie - ein historisches E x p e r i m e n t zur Gattungstheorie. In: D e u t s c h e Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. H u g o Kuhn z u m G e d e n k e n . Hrsg. von Christoph C o r m e a u , Stuttgart 1979, S. 37-84.

I. Mythos und Kerygma

RARNER W A R N I N G

(Universität München)

Narrative Hybriden Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich/Parzivat) Der Begriff der Hybride bzw. der Hybridisierung geht als literaturwissenschaftlicher Terminus zurück auf M I C H A I L M . B A C H T I N . In seiner Abhandlung über „Das Wort im Roman" aus den Jahren 1934/35 lautet die zentrale Definition wie folgt: Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei »Sprachen«, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale - kompositorische und syntaktische - Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes, oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen. 1

Das Zitat ist bezogen auf eine Poetik des Romans, die wesentlich dialogisch konzipiert ist. Dabei meint dialogisch bzw. Dialogizität nicht das konsensorientierte Gespräch, sondern den spannungsvollen Agon zweier oder auch mehrerer Redeweisen, Stile, Sprachen als Träger unterschiedlicher Wertsysteme, unterschiedlicher Ideologien. Der Roman wird so zur , Arena" dieses Kampfes, der statt hat auf allen Konstitutionsebenen, also der der Pragmatik, der Semantik, der Syntaktik und der Lexik.2 B A C H T I N selbst hat diese Dialogizität und die ihr zugeordnete Hybridisierung entwickelt und illustriert am Roman des 19. Jahrhunderts, den Begriffen aber zugleich systematischen Status zugesprochen. Unter diesem Aspekt möchte ich sie fruchtbar machen für unser Thema. Mein Gegenstand sind also prominente Formen mittelalterlichen Erzählens, die

MICHAIL M. BACHTIN: Das Wort im Roman. In: DERS.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. 1979, S. 154-300, hier S. 195. Zu diesem agonal gedachten Begriff des Dialogs siehe S. 249f., zur Arena S. 175, 235, 244.

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zwei Sprachen im Sinne zweier Ideologien, zweier Werthorizonte hybridisieren: einen christlichen und einen mythischen. Dabei möchte ich zur These machen, dass diese Hybridisierung quer steht zu jedweder Form von Synthetisierung, d.h. die mit ihr bezeichneten Spannungen und Gegenstrebigkeiten bleiben erhalten und müssen als solche herausgestellt werden. Verfehlt wäre das Bestreben nach Harmonisierung, nach klassisch-klassizistischen Einheitsvorstellungen. Die notorische Unfähigkeit der Forschung, über Grundfragen dieses Erzählens Konsens zu erzielen, läge dann nicht am subjektiven Unvermögen der an diesem Forschungsprozess Beteiligten, sondern an objektiven Struktureigentümlichkeiten der Texte selbst. Mein Vorgehen ist ein Widerspiel von Induktion und Deduktion, meine theoretischen Referenzen sind neben BACHTIN

HANS

BLUMENBERGS

Arbeit

am

Mythos

und

CLAUDE

LÉVI-

STRAUSS' Pensée sauvage, meine Textbeispiele Hartmanns Der arme Heinrich und Wolframs Parzival, also eine Kurz- und eine Langform hochmittelalterlichen Erzählens.

1. Heinrich und die reine maget in Salerno Der Arme Heinrich ist eine Erzählung, in die verschiedene Erzählschemata eingegangen sind: das Legendenschema mit der Heilung des Aussätzigen durch Menschenblut, das Märchenschema mit der Hochzeit von armem Mädchen und reichem Prinzen, schließlich das Konversionsschema mit der Zurückweisung des zunächst akzeptierten Blutopfers. Nur letzteres kann als genuin christlich bezeichnet werden, die beiden ersteren sind auch vor- bzw. außerchristlich belegt. Was die Forschung mindestens seit den fünfziger Jahren, also seit über einem halben Jahrhundert umtreibt, ist im Grunde nur eine Frage: Sind diese heterogenen Schemata bruchlos vermittelt oder nicht? Konsens ließ sich darüber bislang nicht herstellen. Die wichtigsten Argumente pro und contra sind bekannt, so dass ich mich darauf beschränken kann, sie kurz aufzurufen. Da es im Wesentlichen um drei Streitpunkte geht, liste ich zunächst die contra-Argumente auf, also die Argumente gegen bruchlose Vermittlung, und sodann, in derselben Sequenz, die pro-Argumente, also die Versuche, konsistente Lesungen herzustellen. Der Streit entzündet sich zunächst an der Frage der maget. Als reine maget (460)3 konnotiert sie die Jungfrau Maria, ihre Opferbereitschaft indes scheint überzogen, steht im Verdacht der superbia oder, pathologisierend, der Hysterie. PETER WAPNEWSKI spricht von der „eifernden Predigt" im Gespräch mit den Eltern, vom „sacro egoismo der Besessenen".4 Zweiter Streitpunkt ist die 3

Ich zitiere nach der Ausgabe Hartmann von Aue: Der arme Heinrich.

Hrsg. von HERMANN

PAUL, 17., neu bearbeitete Auflage von KURT GÄRTNER, Tübingen ( A T B 3) 2001. 4

PETER WAPNEWSKI: Hartmann von Aue. Stuttgart 6 1976, S. 110.

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Salemo-Szene. Ausgerechnet sie, die .Krise', scheint schwer integrierbar ins Konversionsschema, einmal insgesamt, bleibt sie doch, wie GERHARD EIS formuliert, „in das magische Licht einer märchenhaften Unwirklichkeit" getaucht5, sodann durch Details mit erotischen Konnotationen: die Nacktheit des Mädchens, seine Fesselung, die Rede vom strichen (1219) und wetzen (1221) des Messers, schließlich der voyeurhafte Blick Heinrichs. Damit wird das Motiv der conversio selbst ambig: ist es Mitleid oder Begehren, das Begehren eines lîp der was vil minneclich (1233)? Schwierigkeiten bereitet, schließlich und drittens, das Ende, die märchenhafte Hochzeit. Dass beide nâch siiezem lanclîbe eingehen in das êwige rîche (1514-16) will sich schwer vertragen mit der Weltabsage der opferbereiten maget, und dem Legendenschema generell. Wie nun suchen die Harmonisierer mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden? Ich folge hier durchweg einem der konsequentesten Vertreter dieser Richtung, THEODOR VERWEYEN, ohne dessen Vorgaben eigens mit aufzurufen.6 Die reine maget, so also VERWEYEN, bleibt auch in ihrer Opferbereitschaft rein. Die vermeintlich Besessene ist eine Mystikerin, HARTMANN zitiert hier mit dem bäuerlichen Bräutigam den sponsus multiformis der Brautmystik aus den Hohelied-Predigten Bernhards von Clairvaux.7 Was sodann die Salerno-Szene betrifft, so ist gerade das vermeintliche Ärgernis, also die Fesselung des Mädchens an Händen und Füßen das entscheidende Integrationsmoment: Die Fesselung ist Golgatha-Zitat, Heinrichs Wandlung also zu sehen sub specie crucis.8 Und was den lîp vil minneclich betrifft, so nimmt man ihn, jedenfalls VERWEYEN tut es, kurzerhand aus dem „Sehfeld" Heinrichs heraus: nu begunde er suochen unde spehen, unz daz er durch die want ein loch gânde vant, und ersach si durch die schrunden nacket und gebunden. ir lîp der w a s vil minneclich. nû sach er si an unde sich und gewan einen niuwen muot ( 1 2 2 8 - 1 2 3 5 )

6

GERHARD EIS: Salemitanisches und Unsalernitanisehes im Armen Heinrich des Hartmann von Aue (1957), zit. nach: Hartmann von Aue. Hrsg. von HUGO KUHN/CHRISTOPH CORMEAU, Darmstadt 1973, S. 135-150, hier S. 147. THEODOR VERWEYEN: Der Arme Heinrich Hartmanns von Aue. München 1970. Die Arbeit ist eine Replik auf CHRISTOPH CORMEAU: Hartmanns von Aue Armer Heinrich und Gregorius. Studien zur Interpretation mit dem Blick auf die Theologie zur Zeit Hartmanns. München 1966. VERWEYEN mobilisiert alles, was je im Interesse einer konsistenten figuraltypologischen Lesung des Textes ins Feld gefuhrt wurde - aber eben auch nur dies. Seine Analyse gewinnt damit eine Glätte, die CORMEAU mit guten Gründen gerade aufzusprengen suchte und die auch mir dem Text selbst nicht gerecht zu werden scheint.

7

VERWEYEN ( A n m . 6 ) , S. 4 6 , mit B e z u g n a h m e a u f SCHWIETERING.

8

Ebd., S. 77.

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Gesehen wird das Gebundensein. Vers 1233 ist, so V E R W E Y E N , eine Autoreinschaltung und als solche geradezu eine Provokation der höfischen Werteskala: „gerade in seinem Nackt- und Gebundensein ist dieser lîp minneclich und kann so den höfischen Wertbegriff transzendieren".9 Entsprechend gelesen wird schließlich das Ende: der siieze lanclîp ist Erfüllung der alten Zeit, die Hochzeit figura des ewigen rîche.10 Solcherart wird alles Sinnliche entsinnlicht, was sich dieser Tendenz sperrt, wird ignoriert, heraus kommt eine Erzählung, die bruchlos eine „typologische Denkform" inszeniert, ein „typologisch-figurales Verfahren" befolgt, eine Geschichte „steigernder Verwandlung", der „ein erzählerisches Gesetz der Steigerung" entspricht, eine Teleologie zulaufend auf den „Endgipfel" des ewigen Reiches." Nun liegen über eine solche Stringenz indes nicht erst moderne Exegeten im Streit. Mit dem vermeintlichen „Endgipfel" hatte man vielmehr schon im Mittelalter seine Schwierigkeiten. Das zeigt die B-Fassung, die statt des weltlichen Schlusses der Α-Handschrift mit einem Moniage endet: Die gaben sie im zv einer eliche[n] kone Nach wertlicher wone Wolden sie beide niht Zweier engel zv versieht Schein an in beiden Do sie sich mvsten scheiden Er hette sie wol beslafen Nach wertlichem schafen. Vor gote er sichez getroste Er tet sich in ein kloster Vn bevalch sich der vrien Gotes mvter sente marien. 12

Derartige Varianten werden heute immer noch zu wenig ausgewertet. Auch und gerade wenn man für gleichberechtigte Lesarten plädieren will, gilt es weiter zu fragen nach den semantischen Interessen, die in solchen Varianten manifest werden. Sie irritieren das schöne Bild eines heilen christlichen Mittelalters, da jedes Wort von vornherein seinen geistigen Sinn gehabt haben soll. Ich will hier nicht diskutieren, welchen hermeneutischen Vorurteilen sich ein solches Mittelalterbild verdanken mag. Ich möchte nur gegen derartige ' ,0

" 12

Ebd., S. 75. Ebd., S. 92. Ebd., S. 9 , 1 1 , 2 8 , 9 7 . Hartmann von Aue: Der arme Heinrich (Anm. 3), S. 63. Zur religiösen Stimmigkeit der EiFassung generell siehe jetzt HANS-JOCHEN SCHIEWER: Acht oder Zwölf. Die Rolle der Meierstochter im Armen Heinrich Hartmanns von Aue. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens. Hrsg. von MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 649-667.

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Vorurteile bestehen auf dem, womit uns die Texte selbst konfrontieren, und das sind jene Gegenstrebigkeiten, von denen eingangs die Rede war. Die .Krise' in Salerno mag man sub specie crucis lesen, aber damit ist nicht das „magische Licht einer märchenhaften Unwirklichkeit" verloschen, um an die Formel von Eis ZU erinnern. Erloschen ist es für christliche Dogmatik. Für sie hat der Kreuzestod Jesu diesem magisch-rituellen Syndrom ein für alle Mal ein Ende gesetzt. Für die Dogmatik ist die mit Gottes Hingabe seines Sohnes vollbrachte moralische Überwindung des transgressiven Opfers irreversibel. Das Imaginäre mittelalterlicher Fiktionen aber - und natürlich nicht nur mittelalterlicher dieses Imaginäre also dokumentiert demgegenüber die Fortdauer eines archaischen Transgressionsbedürfhisses unter historischen Bedingungen. Die Salerno-Szene bedient dieses Bedürfnis, sie holt es herein in die Welt christlicher Moralität und spielt das eine aus gegen das andere, das Kerygma gegen den Archaismus, aber ebenso auch den Archaismus gegen das Kerygma. Alle kontroversen Details sind kontrovers, weil sie ihren Ort auf beiden Ebenen haben, auf der mythisch-magischen wie auf der christlich-moralischen. Die Kontroverse also i s t , lösbar' nur in dem Maße, wie man sie zurückführt auf ein Identitätsdenken, das der hybriden Struktur dieses Textes nicht angemessen ist. Diese Hybridisierung schlägt durch von der Makrostruktur bis auf die Ebene der Lexik - also bis zu den erwähnten Lexemen wie binden, gebunden, minneclich. Das gilt für Kurzformen wie den Armen Heinrich ebenso wie für Langformen wie den höfischen Roman. Schon 1955 hat JEAN FOURQUET in einem Aufsatz über Chrétiens Umgang mit seinen bretonischen Vorgaben gesprochen vom Prinzip der doppelten Kohärenz: L e s p r i n c i p e s d ' i d e n t i t é et d e n o n - c o n t r a d i c t i o n n ' e x i s t e n t p o u r a i n s i d i r e p a s i c i : u n objet a d e u x e x i s t e n c e s , parce qu'il est e n g a g é dans d e u x réseaux d e relations, c e l l e s d u plan c h e v a l e r e s q u e et c e l l e s d u plan m y t h i q u e , qui c o e x i s t e n t s o u s le c o u v e r t d u m ê m e s c h é m a , d e la m ê m e s é q u e n c e é p i q u e . 1 3

Ich selbst habe in einer Abhandlung zum höfischen Roman diese Beobachtung FOURQUETS weiter zu führen versucht zu einer strukturalen Beschreibung der beiden Beziehungsebenen. 1 4 Für die mythisch-märchenhafte habe ich das Aktantenmodell von ALGIRDAS J. GREIMAS bemüht. 15 Danach sind an einer Handlung drei Akteure beteiligt, die drei aktanzielle Rollen erfüllen. Im Rah-

JEAN FOURQUET: Le rapport entre l'œuvTe et la source c h e z Chrétien de T r o y e s et le problème des sources bretonnes. In: R o m a n c e Philology 9 ( 1 9 5 5 ) , S. 2 9 8 - 3 1 1 , hier S. 3 0 0 . RAINER WARNING: Formen narrativer Identitätskonstitution im h ö f i s c h e n Roman. In: Identität. Hrsg. v o n ODO MARQUARD/KARLHEINZ STIERLE, M ü n c h e n 1 9 7 9 (Poetik und Hermeneutik VIII), S. 5 5 3 - 5 8 9 . Eine kürzere Version erschien unter d e m Titel: Heterogenität d e s Erzählten - H o m o g e n i t ä t des Erzählens. Zur Konstitution des h ö f i s c h e n R o m a n s bei Chrétien de Troyes. In: Wolfram-Studien 5 ( 1 9 7 9 ) , S. 7 9 - 9 5 . ALGIRDAS J. GREIMAS: Sémantique structurale. Paris 1966.

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men dieser Erfüllung kommt es zu einem Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution. Eine initiale Mangelsituation wird behoben um den Preis, dass am Ende eine neue entsteht. Der Dreischritt beschreibt also einen zirkelhaften und damit serialisierbaren Werttransfer, bei dem immer nur gewonnen werden kann, was ein anderer verliert. Es geht somit auf dieser Ebene um ein Erzählen im Paradigma, das heißt um die potentiell unendliche Variation desselben Schemas. Die zweite Ebene ist demgegenüber teleologisch angelegt. Sie ist bekannt geworden unter dem Stichwort des .doppelten Kursus' 16 , den ich in den kulturgeschichtlich weiteren Kontext mittelalterlich-figuralen Denkens gestellt habe. Der höfische Roman ist zweigeteilt, wobei die beiden Teile die Einzelabenteuer in ein Verhältnis steigernder Reprise bringen. Der .doppelte Kursus' beschreibt damit einen Weg der Identitätsfindung, der axiologisch mit höfischen Werten einschließlich zumindest nominell in Anspruch genommener christlicher Werte besetzt ist. So ist Laudine in Chrétiens Yvain auf aktanzieller Ebene die Brunnenfee, der ihr Beschützer geraubt wurde und also ersetzt werden muss. Auf der Ebene des von mir so genannten Figuralschemas aber ist sie höfische Dame und eine schöne Christin in eins, une des plus belles dames und tres bele crestienne (1146 ff.).17 Und Yvain ist gleichermaßen doppelt besetzt. Auf aktanzieller Ebene ist er es, der den Schaden restituiert, und auf der Ebene des Figuralschemas sind die Begegnungen mit Laudine Stationen eines Weges höfischer Bewährung. Diese Bewährung bleibt wesentlich eine innerweltlich-diesseitige, christliche Werte werden eher usurpiert denn wirklich integriert. Entscheidend also war mir der Nachweis einer Nichtsynthetisierbarkeit der beiden Ebenen. Die Figuren sind immer beides zugleich, einerseits Akteure in bestimmten aktanziellen Funktionen und andererseits Individuen, die ihre Identität suchen und in dieser Suche finden, was nicht ein anderer verlieren muss. Beim Armen Heinrich, um auf ihn noch einmal zurückzublicken, lässt das Legendenschema die beiden Ebenen nicht so deutlich erkennen. Gleichwohl sind sie vorhanden. Als Akteur in einer Aktantenrolle kann Heinrich nur gewinnen, was ein anderer bzw. eine andere verliert, eben das Mädchen, das ihr Leben bzw. die Eltern, die ihre Tochter verlieren würden. Als höfischer Christ hingegen gewinnt er eine Identität, die das archaische Blut moralisiert und also gar nicht erst fließen lässt. Aber auch wenn es nicht fließt, so wird doch mit seinem Fließen gespielt. Wer versucht, die Salerno-Szene sub specie crucis restlos in Golgatha aufgehen zu lassen, verschließt die Augen vor ihrer manifesten Bildlichkeit. Nun aber zu Wolfram, bei dem ich den Grundgedanken Der Begriff stammt von HUGO KUHN und wurde von ihm exemplarisch dargestellt am Beispiel von Hartmanns Erec (1948). Jetzt in: Hartmann von Aue. Hrsg. von HUGO KUHN/CHRISTOPH CORMEAU ( A n m . 5 ) , S . 1 7 - 4 8 . 17

Zitiert nach der Ausgabe von WENDELIN FOERSTER: Der Löwenritter

(Yvain). Halle 4 I 9 I 2 .

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einer Heterogenität zweier Erzählebenen vertiefen und um einen weiteren ergänzen möchte.

2. Parzival und der Gral: Bedeutung und Bedeutsamkeit Eine gängige Handbuchauskunft lautet, mit dem Parzival sei die religiöse Thematik dominant und das christliche Wertsystem zur Grundlage des höfischen geworden. Das gelte zumindest für Wolfram von Eschenbach. Bei Chrétien ist man sich nicht einig, ob der Fragmentstatus kontingente Ursachen hat oder ob Chrétien an dem Syntheseversuch gescheitert sei. Ich will diese Frage nicht diskutieren, sondern sogleich beginnen mit der These, dass die behauptete Hierarchisierung und damit Harmonisierung weder bei Chrétien noch bei Wolfram strukturell nachweisbar ist. Strukturell bieten vielmehr beide Texte jene Heterogenität in Reinform, von der eben die Rede war, und der Einfachheit halber will ich das gleich dort zu zeigen versuchen, wo immer wieder die Synthese behauptet wird: nicht bei Chrétien, sondern gleich bei Wolfram. 18 Die Ebene der Paradigmatik, also der Serialisierung des Aktantenschemas wird hier besetzt von den Abenteuern Gawans. Dessen Weg ist kein Doppelweg, er ist nicht teleologisch angelegt im Sinne des .doppelten Kursus'. Zwar gewinnt Gawan gleichsam als Lohn für das bestandene Abenteuer von Schastel marveil Orgeluse, aber der Rahmen des massenhaften Zu Paare-Treibens am Artushof in Joflanze bindet seine Heirat ein in eine proliferierende Märchenhaftigkeit. Nicht um das Ziel einer individuellen Bewährung geht es, sondern um ein ganz dem keltisch-paganen Substrat geschuldetes Erzählen im Paradigma, das im Prinzip noch weiter hätte aufgefüllt werden können, bevor es mit der obligaten Hochzeit gleichsam arretiert wird. Ganz anders hingegen der Weg Parzivals, der über den Artushof hinaus führt zum Gralskönigtum. Hier wird die Teleologie des Figuralschemas so deutlich wie kaum je zuvor in der Geschichte des höfischen Romans. Beide Begegnungen Parzivals mit Anfortas, also Verfehlung und Erlösung, sind bezogen auf die ,Krise', die hier diskursiv angelegt ist als Belehrung durch Trevrizent. Parzival- und Gawanhandlung sind also auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, die blockartig einander ablösen. Damit ist schon strukturell deutlich, dass eine bruchlose Integration des Christlichen in höfische Ideologie unmöglich ist. Aber was strukturell heterogen bleibt und also die Synthese verweigert, lässt sich sehr wohl hybridisieren. Das geschieht nun bekanntlich bereits im Gral. Was an sich das Kerygma symbolisieren müsste, erweist sich in der

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Über die wesentlichen Divergenzen der einzelnen Handlungsphasen bei Wolfram gegenüber Chrétien informiert JOACHIM BUMKE: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart '1997.

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groß angelegten Inszenierung des Speisewunders von Buch V und XVI sowie in den erläuternden Ausführungen Trevrizents in Buch V eher als ein mythischer „bricolage", um ein zentrales Konzept der Mythentheorie von CLAUDE 19 LÉVI-STRAUSS ZU zitieren. Zusammengebastelt wurde er aus keltischen und orientalischen Märchenmotiven, die entsprechend auch die explizit christlichen Elemente, also den Kelch Josephs von Arimathia und die Karfreitagstaube mit ihrer Oblate einfarben.20 Das erinnert strukturell an die Salerno-Szenen aus dem Armen Heinrich: Golgatha-Konnotationen eingebettet in das magische Licht märchenhafter Unwirklichkeit. Solcherart hybridisiert aber ist nicht nur der Gral als gleichsam transzendentales Signifikat des Figuralschemas. Hybridisiert sind auch die beiden Ebenen miteinander, so dass trotz der Heterogenität das Ganze nicht völlig auseinander fällt, eine werkhafte Einheit gewahrt bleibt. Wenn also Parzival und Gawan auf ihren getrennten Wegen dieselben Stationen aufsuchen (Bearoche/Schanpfanzun/Logrois/Joflanze), so hebt das zwar nicht die semantische Differenz des Parzival-Wegs von dem Gawans auf. Wohl aber werden damit formale Brücken geschlagen, die Vereinbarkeit suggerieren, statt die Differenz zu strapazieren bis hin zu einer offenen Kluft zwischen Artuswelt und Gralswelt. Dieses Bestreben wird besonders deutlich in der atmosphärischen Analogisierung von Munsalvaesche und Schastel marveil. Hier wie dort steht die Brechung eines Zauberbanns auf dem Programm. Aber Parzival, der, wie bei den eben genannten Stationen auch bei Schastel marveil einen Tag früher als Gawan war, hat dieses Abenteuer als ein nicht ihm bestimmtes erkannt und also nicht angenommen. Entsprechendes gilt für die Analogie von Gral und Wundersäule. Bei Cundrie, die alles mit allem ver-

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CLAUDE LÉVI-STRAUSS: La p e n s é e sauvage. Paris 1962. D i e zentrale D e f i n i t i o n lautet w i e folgt: „Or, le propre de la p e n s é e mythique, c o m m e du bricolage sur le plan pratique, c ' e s t d'élaborer d e s e n s e m b l e s structurés, n o n pas directement a v e c d'autres e n s e m b l e s structurés, m a i s en utilisant d e s résidus et des débris d ' é v é n e m e n t s : ,odds and e n d s ' , dirait l'anglais, ou, en français, d e s bribes et des morceaux, témoins f o s s i l e s de l'histoire d ' u n individu ou d'une s o c i é t é " (S. 32). Eine ausdrückliche Vermittlung dieses „bricoIage"-Konzepts mit seiner strukturalen M y t h e n - A n a l y s e hat LÉVI-STRAUSS nicht unternommen (The Structural Study o f Myth. In: Journal o f American Folklore 78 [ 1 9 5 5 ] , S. 4 2 8 - 4 4 4 ) . Letztere sucht bekanntlich die eine, überhistorische B e d e u t u n g d e s M y t h o s zu ermitteln, i n d e m s i e alle Varianten in einer Blattstruktur übereinander projiziert. In der Kritik HANS BLUMENBERGS impliziert d i e s e s Verfahren „die A u s f a l l u n g d e s Zeitfaktors: alle Varianten werden einer u n b e s t i m m t e n Zeitebene zugeordnet". D a g e g e n entwickelt BLUMENBERG seinen Grundgedanken, d e m z u f o l g e der M y thos i m m e r s c h o n als Rezeption vorliegt, i m m e r s c h o n als j e n e u e Antwort a u f e i n e die M e n s c h h e i t umtreibende Frage. D i e „Stabilität der narrativen Kerne" erklärt er mit der „gering e n Vielfalt derjenigen m e n s c h l i c h e n Sachverhalte, B e d ü r f n i s s e und Situationen, die s i c h in m y t h i s c h e n Konfigurationen abbilden" (Arbeit a m M y t h o s . Frankfurt a. M .

4

1 9 8 6 , S. 3 0 1 -

3 0 3 ) . LÉVI-STRAUSS' B e g r i f f d e s „bricolage" bezieht BLUMENBERG in d i e s e Kritik nicht ein, w o h l weil er mit s e i n e m e i g e n e n historisch-hermeneutischen A n s a t z durchaus vermittelbar ist. 20

S i e h e hierzu näherhin BUMKE ( A n m . 18), S. 1 0 7 - 1 1 3 .

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knüpft, gilt es gleichwohl zu unterscheiden, wo solche Verknüpfungen in ein und demselben semantischen Raum statt haben oder wo die beiden heterogenen Räume hybridisiert werden. Ersteres ist zum Beispiel der Fall, wenn sie Sigune in ihrer Klause mit Nahrung versorgt, letzteres dann, wenn sie Heilsalbe von Munsalvaesche nach Schastel marveil fiir den dort daniederliegenden Gawan bringt. Bedenkt man die theologisch-dogmatischen Beschädigungen, die Wolfram schon bei der hybriden Makrostruktur seines Textes in Kauf nahm, so wirkt es einigermaßen absurd, darüber zu streiten, welche Theologie näherhin denn nun die christlichen Anteile dieser Hybride beherrsche. War es die Mystik, fragen die einen, und wenn ja, die Bernhards von Clairvaux oder die der Viktoriner, oder war es Augustin, oder doch nicht mehr Thomas? Waren es gar Ketzerbewegungen des 12. Jahrhunderts - oder nur einfach Laienfrömmigkeit? Für letztere muss dann Trevrizent herhalten, an dessen Autorität man aber spätestens bei Parzivals zweiter Einkehr im 16. Buch ebenfalls irre wird. Ich will die Frage anders angehen, wozu ich mir Sukkurs hole bei H A N S BLUMENBERG, näherhin bei seiner Bestimmung des Mythos über die Kategorie nicht der Bedeutung, sondern der „Bedeutsamkeit". Mythen haben keine Bedeutung, die sich überhistorisch durchhält, sondern sie existieren immer schon als je historische Antworten auf Fragen, ja sie gehen noch hinter die Fragen zurück. Der Mythos erfindet, „bevor die Frage akut wird und damit sie nicht akut wird." Er zeigt die Menschheit dabei, „etwas zu bearbeiten und zu verarbeiten, was ihr zusetzt, was sie in Unruhe und Bewegung hält." Seine Bedeutsamkeit ist also bezogen auf Endlichkeit: „Sie entsteht unter dem Diktat des Verzichts auf das Vogliamo tutto, das der geheime Antrieb des Unmöglichen bleibt."21 Was BLUMENBERG mit der „Bedeutsamkeit" mythischer Antworten im Blick hat, könnte man auch als ,Endlichkeitshilfen' bezeichnen. Zu diesen Endlichkeitshilfen zählt wesentlich die Tilgung der Indifferenz von Raum und Zeit. Hierin besteht die Überlegenheit des Mythos gegenüber der Dogmatik. Dogmatik muss die Pluralität mythisch-imaginativer Ausschweifungen ersetzen durch eine Geschichte, durch die eine christliche Heilsgeschichte, an deren Stimmigkeit sie unablässig kommentierend, korrigierend tätig ist. Denn diese Heilsgeschichte ist ja Produkt einer realgeschichtlichen Verlegenheit, Produkt der vom Urchristentum nicht mit in Rechnung gestellten Parusieverzögerung. Dogmatik muss das Interimsbewusstsein wach halten, ist also an raumzeitlichen Füllungen nicht interessiert. Vor dieser Folie profilieren sich „mythische Bedeutsamkeiten als eine Strukturierung gegen die Unerträglichkeit der Indifferenz von Raum und Zeit. [...] Der Mythos läßt Indifferenzen nicht erst aufkommen. Bedeutsamkeit erlaubt eine ,Dichte', die Leerräume und Leerzeiten

BLUMENBERG ( A n m . 19), S. 2 1 9 , 3 0 3 , 77.

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ausschließt, aber auch eine Unbestimmtheit der Datierung und Lokalisierung, die der Ubiquität gleichkommt."22 Sucht man in Wolframs Erzählen nach Einlösungen solcher Dichte, so bieten sich eine Reihe von Merkmalen an, die im Prinzip bekannt und je für sich auch schon detailliert genug untersucht wurden, ohne dass man sie einem übergreifenden Konzept zuzuordnen versucht hätte. Ich nenne, ohne systematischen Anspruch, die wichtigsten, wobei man als Oberbegriff die anlässlich der Gawan-Handlung schon erwähnte narrative Proliferation ansetzen könnte. Sie äußert sich in den zahlreichen Deskriptionen von Objekten, Figuren, Situationen, Ereignissen. Diese Deskriptionen füllen Raum und Zeit, allem voran, mit Namen. „Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten" hat BLU23 M E N B E R G das zweite Kapitel der Arbeit am Mythos überschrieben. Man kann bei Wolfram geradezu von einem onomastischen Imaginären sprechen - oder wieder mit BLUMENBERG: von einem „Apotropaion der Namengebung".24 Das gilt für Figuren wie für Orte. Die Erde bleibt nicht leer. Sie wird überzogen mit einem Netz realer Länder-, Städte- und Flussnamen, die freilich keine geographische Spezifizierung leisten wollen. Die Stationen der beiden Handlungsstränge bleiben unbestimmt: Soltane, Belrapeire, Bearoche, Munsalvaesche, Joflanze. Solche Unbestimmtheit aber konnotiert Ubiquität und damit eben Dichte, Fülle, und diese Ubiquität färbt von den unbestimmten auf die biographisch bestimmten Orte ab. Proliferation hat sodann statt im Gegenzug zu zeitlicher Indifferenz. Das wichtigste Prinzip ist hier das der Wiederholung von Begegnungen, die Wiederkehr von Stationen, die das Gefühl für zeitliche Differenzen und damit ein Zeitbewusstsein überhaupt weckt. Die kerygmatische Tendenz einer Entleerung der Gegenwart zugunsten jenseitiger Erfüllung wird kompensiert durch Zeitsemantiken, die bereits das Diesseits füllen. Zwar ist die Zeit, in die Trevrizent mit dem Kalendarium in seinem Psalter Parzivals verlorenes Zeitbewusstsein restituiert, eine letztlich jenseitsbezogene Heilszeit, aber es bleibt nicht bei dieser kalendarischen, auf den Karfreitag der conversio bezogenen Zeit. Die Lebenszeit des Protagonisten ist nämlich zugleich Anlass für die Entfaltung einer imaginären Zeit der Genealogie, die zurück reicht bis Titurel und Mazadan und vorausweist bis hin zu Parzivals Urenkeln in Brabant - ein zeitliches Komplement also zur Evokation eines imaginären Raumes, der insbesondere über die Figur des Feirefiz die gesamte Erde erfasst. Leider kann ich hier nicht näher eingehen auf Struktur und Funktion dieser Genealogie. Aber ich will andeuten, was mich reizen würde unter der Perspektive meines Themas. Das Interesse an Familie, Stamm und Blutsverwandtschaft teilt Wolframs Roman mit Mythos und Sage. Aber er scheint sich von 22 23 24

Ebd., S. 110, 109. Ebd., S. 40ff. Ebd., S. 22.

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diesen zugleich zu trennen, indem er das Konzept der Sippe hypostasiert zur Menschheit, die auf Adam zurückgeht. Diese Hypostase liegt der vielzitierten Metapher Trevrizents vom Sündenwagen zugrunde: unt daz diu sippe ist sünden wagen, sô daz wir sünde müezen tragen (465, 5-6)25 Mit der Gleichsetzung von Sippengeschichte und Heilsgeschichte ist die Spefizität mythischer Familiengeschichten getilgt. Zugleich aber wird diese Tilgung rückgängig gemacht mit Parzivals Weg selbst. Denn wenn dieser Weg einerseits zum kerygmatisch besetzten Gral fuhrt, so fuhrt er doch andererseits immer wieder zurück in das Netz matrilateraler Verknüpfungen der Gralswelt in Opposition zur patriarchalischen Artusweit. KARL BERTAU hat, angeregt von CLAUDE LÉVI-STRAUSS, hinter der Konstellation Gahmuret / Herzeloyde / Parzival eine „sublimierende Umsetzung des Ödipus-Mythos sehen wollen". 26 Dem möchte ich nicht folgen - darin steckt mir zuviel LÉVI-STRAUSS und zu wenig BLUMENBERG. Für BLUMENBERGS Interesse an mythischer Dichte scheint mir das dichte genealogische Netz schon genug herzugeben. CLEMENS LUGOWSKI hat seinem Kleist-Buch ein Kapitel vorangestellt über „Die märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit im heroisch-galanten Roman". Es geht ihm dort um die märchenspezifische Rätselspannung, die sukzessiv eine in sich festgefügte Welt freilegt, eine Welt, die gleichsam vor ihrem Erzähltwerden schon existiert. 27 Eben diese Erfahrung aber lässt Wolfram Parzival machen mit der Entdeckung immer neuer Verwandtschaftsbeziehungen. MythischMärchenhaftes also dringt in das Figuralschema selbst ein. Es ist zugleich zukunftsoffen wie vergangenheitsorientiert, es ist schon in sich selbst hybridisiert. Mein letztes Beispiel für narrative Proliferation mit dem Ziel der Evokation von Fülle, Erfiilltheit, Dichte wäre die Hyperbolik. HANS ULRICH GUMBRECHT wäre hier bei Wolfram noch weit fündiger geworden als im Rolandslied oder im Yvain.2B Ein wiederum sich anbietendes Beispiel ist natürlich die Gralszeremonie, das Speisenwunder im fünften Buch. Es ist auch von besonderer Aussagekraft für die hier zur Diskussion stehende Hybridisierung. Mit dem Gral ist ja ausdrücklich auch die christliche Eucharistie zitiert. ARNOLD GEH-

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Zitiert nach Wolfram von Eschenbach. Band I: Lieder, Parzival und Titurel. Hrsg. von KARL LACHMANN. 7. Ausgabe, neu bearbeitet von EDUARD HARTH, Berlin 1952. KARL BERTAU: Innere Erfahrung und epische Bearbeitung mythischer Strukturen im Parzival. In: DERS.: Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte. München 1983, S. 110-125, hier S. 124. CLEMENS LUGOWSKI: Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung bei Heinrich von Kleist. Frankfurt a. M. 1936, S. 1 -25. HANS ULRICH GUMBRECHT: Funktionswandel und Rezeption. Studien zur Hyperbolik in literarischen Texten des romanischen Mittelalters. München 1972.

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LEN sieht die von ihm so genannte „absolute Kulturschwelle" des Monotheismus unter anderem charakterisiert durch eine „Tendenz zur Minimisierung des Ritus".29 Wolfram nimmt Elemente christlicher Eucharistie als Bausteine seines hybridisierenden „bricolage", und das Ergebnis ist das genaue Gegenteil: eine ,Maximierung des Ritus', die Substitution von dogmatischer Bedeutung durch mythische Bedeutsamkeit.

3. Bedeutsamkeit, Ironie und Individualität Ich habe in meinem bereits erwähnten Chrétien-Artikel der Heterogenität des Erzählten eine Homogenität des Erzählens gegenübergestellt. Ausgangspunkt war bei Chrétien und ist bei Wolfram die Unterscheidung von Schriftlichkeit und schriftlich inszenierter Mündlichkeit. Der schreibende Autor Wolfram projiziert sich in die Rolle eines mündlichen Erzählers, so dass realer Autor und fiktiver Erzähler einander wechselseitig implizieren. Die Art des erzählerischen Rollenspiels, also das, was wir heute zu ,Erzählsituationen' typisiert haben, ist somit eine Wahlentscheidung des Autors, und zwar eine solche von großem, ja von entscheidendem Gewicht. Denn diese Wahl trifft die pragmatische Basis des Erzählten selbst. Die Semantik des Erzählten ist fundiert in der Pragmatik der je gewählten Erzählhaltung. Wolframs Erzählhaltung ist die, die wir heute als auktorial bezeichnen.30 Der Begriff impliziert schöpferische Heraussetzung und Wahrheitsgarantie in eins. Mit dieser Wahrheitsgarantie kann gespielt werden. Dann haben wir es zu tun mit einem unzuverlässigen Erzähler, einem, wie W A Y N E C. B O O T H ihn nennt, „unreliable narrator".31 Wolframs Erzähler ist höchst unzuverlässig. Er überbietet den Chrétiens hierin bei weitem. Chrétiens Unzuverlässigkeit ist wesentlich die eines ironischen Spiels. Was auf Inhaltsebene inkonsistent bleibt, wird über eine alle Positionen ironisierende Vermittlung homogenisiert. Hyperbolik ist ein bevorzugtes Stilmittel. Frau Noroisons Zofe, so Chrétien, hätte fünf Scheffel Salbe in Yvains Heilung investieren können (2995-3009). Das ironisiert mit der Zofe zugleich jene modernen Exegeten, die darüber streiten, ob das nun eine magische Wundersalbe sei oder die biblische Mariensalbe. Bei Wolfram kehrt dieses Spiel wieder, aber unter verschärften Bedingungen, sind doch jetzt Magisches und Kerygmatisches zu zwei semantischen Räumen gespreizt. Doch erfasst das ironische Erzählerspiel gleichermaßen

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ARNOLD GEHLEN: Urmensch und Spätkultur. Frankfurt a. M., Bonn 1964, S. 57. Nach der Typologie von FRANZ K. STANZEL: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979. WAYNE C. BOOTH: The Rhetoric of Fiction. Chicago UP 1961, S. 158f.

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beide Welten. Selbst in Buch V, also Parzivals erster Gralsbegegnung, ist sie so deutlich eingesetzt wie selten sonst: man sagte mir, diz sage ouch ich ûf iuwer ieslîches eit, daz vor dem gràie waere bereit (sol ich des iemen triegen, sô müezt ir mit mir liegen) swâ nâch jener bôt die hant, daz er al bereite vant spîse warm, spîse kalt, spîse niuwe unt dar zuo alt (238, 8-16) Die Wahrheit des Speisewunders wird beeidet, aber spielerisch in der Form, dass der Erzähler sie nicht auf seinen, sondern auf den Eid des Lesers nimmt. Und wenn's dann doch nicht stimmt, dann lügen eben beide, Erzähler wie Leser. Will man zwischen dieser Stelle und Buch XVI eine Beziehung herstellen, wäre das erzählerische Spiel mit der Lüge eine Vorbereitung der Selbstbezichtigung Trevrizents, über den Gral gelogen zu haben, zwar in Parzivals Interesse, aber jedenfalls gelogen: ich loue durch ableitens list vome grâl, wie ez umbe in stiiende (798, 6-7) Auf die umstrittene Frage nach den gleich darauf in diese Lüge einbezogenen verstoßenen Engeln brauche ich nicht einzugehen, weil es mir allein auf die Sequenz von Erzählerlüge und Figurenlüge ankommt, wird doch damit zunächst pragmatisch und dann semantisch das Zentrum des christlichen Raums getroffen: der Gral als das, was ich oben das transzendentale Signifikat dieses Raums genannt habe. Zielt die Erzählerlüge auf die magische Komponente, so die Figurenlüge auf ein Theologumenon. Die Welt von Munsalvaesche ist also nicht glaubwürdiger als die von Schastel marveil. Wolframs Ironie doppelt die Hybridisierung auf Inhaltsebene mit einer solchen auf Vermittlungsebene, er erzählt vorbehaltlich, tendenziell selbstreflexiv, macht das Religiöse zum Gegenstand eines narrativen Spiels. Damit freilich ist noch nicht die Frage beantwortet, auf die meine bisherigen Beobachtungen zulaufen. Wir haben zum einen eine Geschichte, für die ich B L U M E N B E R G S Kategorie mythischer Bedeutsamkeit bemüht habe. Und wir haben zum andern eine erzählerische Vermittlung, die mit ironischen Distanznahmen spielt, womit natürlich noch längst nicht alle Modalitäten dieses Spiels erfasst sind. So scheut Wolframs Erzähler bekanntlich auch nicht zurück vor derberen Formen der Komisierung. Man hat das hinlänglich untersucht und aufgelistet, aber auch die Frage nach der Vermittlung oder überhaupt einer

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Vermittelbarkeit von Geschichts- und Diskursebene habe ich in der WolframLiteratur sehr wenig gefunden. Dabei scheint gerade sie entscheidend zu sein für die Diskussion der Ausbildung von Individualität, von personaler Identität bei Wolfram. Hier muss man nun, denke ich, deutlich unterscheiden zwischen dem Autor Wolfram, seinem Erzähler und dessen Protagonisten. Der Erzähler stellt diesen seinen Protagonisten, Parzival also, in einen Bezugsrahmen, für den einerseits alle Merkmale greifen, über die LUGOWSKI das „mythische Analogon" bestimmt hat.32 Dabei denke ich insbesondere an das dichte Beziehungsnetz, das die „Motivationen von vorn" verknüpft mit den „Motivationen von hinten". Das Figuralschema ist in dieses Netz perfekt integriert. Insofern ist Parzival ebenso wenig eine Keimform des Entwicklungs- oder Bildungsromans wie der Erzählungen Chrétiens oder Hartmanns. Gesprengt oder, mit LUGOWSKI selbst gesprochen, „zersetzt" wird das mythische Analogon zunächst, aber nicht programmatisch konsequent, mit der Hybridisierung. Die Gawein-Handlung ist in ihren komplexesten Phasen nicht unmotiviert, wohl aber schlecht motiviert, insbesondere in den Abenteuern um Orgeluse. Und die Verzahnung von Gawan- und Parzival-Handlung bleibt bei aller offenkundigen Anstrengung doch häufig - einige Beispiele habe ich genannt - eine formale, die über semantische Unverträglichkeiten nicht hinwegtäuschen kann. Offenkundig also will der Erzähler das mythische Analogon nicht in sich zersetzen. Wohl aber geht er über die Pragmatik auf ironische Distanz. Sein „bricolage" mit magischen und kerygmatischen Elementen ist spielerisch grundiert. Er wird in seiner Fiktivität bloßgelegt, ohne insgesamt als unwahr diskreditiert, in seiner Bedeutsamkeit in Frage gestellt zu werden. B L U M E N B E R G zitiert Nietzsches schöne Formel von seiner Sehnsucht, „das mythische Gefühl der freien Lüge wieder sich lebendig zu machen". 33 Diese „freie Lüge" scheint mir eine Möglichkeit, das mythische Analogon, wie Wolfram es im Widerspiel von Geschichts- und Vermittlungsebene modelliert, angemessen zu perspektivieren. Angemessen und auch aufschlussreich für die Frage nach der ,Form der Individualität', die in diesem Widerspiel sich artikuliert. Sie ist nicht zuvörderst beim Weg des Protagonisten zu suchen, also bei Parzivals conversio. Denn diesem Weg vorgelagert ist die Figur des Erzählers und dieser wiederum der Autor Wolfram. Letztlich um ihn geht es bei dieser Individualität. Sie ist nicht ableitbar aus zeitgenössischer Philosophie und Theologie. Sie artikuliert sich nicht diskursiv, sondern in souverän distanzierendem Spiel mit literarischen wie diskursiven Versatzstücken. Als ein solcher Autor aber ist er über die Bausteine, mit denen er seinen Erzähler spielen lässt, hinaus. Das 12. Jahr32

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CLEMENS LUGOWSKI: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung (1932). Frankfurt a. M. 1976. BLUMENBERG (Anm. 19), S. 269.

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hundert hat nicht die Fiktion erfunden, wohl aber markiert es mit seinen Fiktionen den Ort der avanciertesten Reflexion von Person, personaler Verantwortung und personaler Identität. In diesem Sinne ist Hybridisierung und Hybridität zugleich auch ein historischer Index, der auf die Souveränität solch konterdiskursiver Selbstartikulation zielt. Sie bleibt hinter diskursiven Eindeutigkeiten philosophischer oder theologischer Art nicht zurück, sondern ist ihnen überlegen.

CHRISTIAN K I E N I N G

(Universität Zürich)

Arbeit am Absolutismus des Mythos Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte

I

Wer von Mythos spricht, tut gut daran, den Begriff pragmatisch zu verwenden, also weder die ebenso faszinierende wie vage Aura des Archaischen zu beschwören noch vorbehaltlos eine der zahlreichen Mythostheorien zu adaptieren, die ihrerseits nicht selten Züge von Mythologien tragen. Die Definitionen sind Legion: Mythos als traditionelle Erzählung, als bildhafte Ausgestaltung natürlicher oder geschichtlicher Vorgänge, als Erklärung, Herleitung oder Autorisierung sozialer Gegebenheiten, als Vergegenwärtigung eines Ursprungs, als Relikt oder Begleiterscheinung ritueller Zusammenhänge, als eigenlogische symbolische Basisform des menschlichen Geistes, als Bewältigung einer übermächtigen, namenlosen, unbegreifbaren Wirklichkeit durch distanzschaffende Verdichtung. Wie auch immer aber man Mythos definieren will, die Definition wird sich beziehen müssen auf die Spezifik von Kulturen, Kontexten und historischen Situationen.' Gerade die je neuen Anläufe, den Mythos als anthropologische, psychologische oder ontologische Universalkategorie zu etablieren, zeigen die Macht einer Denkgewohnheit, mit der sich eine komplex gewordene Rationalität einen vielseitig verwendbaren Gegenpart schafft.2 Vom Mythos im Singular zu sprechen kann sinnvoll sein, wenn damit eine phänomenologisch gestützte analytische Kategorie gemeint ist, die nicht '

Einen begriffsgeschichtlichen Überblick geben die Artikel , M y t h o s / M y t h o l o g i e ' . In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6 (1984), Sp. 281-318, und in: Theologische Realenzyklop ä d i e 2 3 ( 1 9 9 4 ) , S p . 5 9 7 - 6 6 5 ; a u ß e r d e m : ALEIDA u n d JAN ASSMANN: . M y t h o s ' .

In:

Hand-

buch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 4 (1998), S. 179-200 (sehr konzise); CHRISTOPH JAMME: , M y t h o s ' . In: Metzler Lexikon Religion. Gegenwart - Alltag - Medien 2 (1999),

S.

(1999), Sp. 2

515-521;

DAGMAR

BURKHART:

.Mythos'.

In:

Enzyklopädie

des

Märchens

9

1092-1104.

GERHART VON GRAEVENITZ: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987, bes. Einleitung S. VI-XXVI.

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Christian Kiening

der bloßen Etikettierung und Klassifizierung von angeblich Mythischem dient, sondern der differenzierenden Analyse von Aspekten und Prozessen kultureller Überlieferung. Zu den Aspekten gehört das je neu zu beobachtende Zusammenwirken mythischer und nicht-mythischer Elemente, zu den Prozessen das im historischen Ablauf zu bemerkende Wechselspiel von Entmythisierung und Remythisierung. Ein Verständnis von Mythos als phänomenologisch gestützte analytische Kategorie findet in ERNST CASSlRERs Philosophie der symbolischen Formen reiches Anschauungsmaterial.3 CASSIRER systematisiert das mythische Denken in Bezug auf Raum und Zeit, Identität und Kausalität, Lebenswelt und Kosmos. Er orientiert sich weniger an den inhaltlichen Dimensionen bestimmter Mythen als an den weltkonstituierenden Formen mythischer Anschauung im Allgemeinen. Er präpariert strukturelle Muster heraus, die allerdings auf einer Homogenisierung heterogener kultureller Bestände beruhen und abendländische Rationalitätstypen zum Maßstab des Vergleichs nehmen. Problematisch ist dieses phänomenologische Unternehmen vor allem im Hinblick auf seine erkenntnispsychologischen und entwicklungsgeschichtlichen Implikationen: Einerseits werden in Kantischer Tradition die Anschauungsformen der mythischen Wirklichkeit als Kategorien des menschlichen Bewusstseins entworfen, andererseits wird das mythische Denken als Form der Protorationalität verstanden und eine historische Abfolge von Mythos und Logos, von Konkretheit und Abstraktheit, von magischer Wirklichkeitsbewältigung und wissenschaftlicher Wirklichkeitsgestaltung nahegelegt. Will man nicht in solche Dichotomien verfallen und nicht den Mythos zu einem scheinbar einheitlichen Typus der Weltkonstitution hypostasieren, ist es nötig, Beschreibungsmodelle einzubeziehen, die der formalen und pragmatischen Dimension des Mythischen Rechnung tragen. Das semiologische Modell von ROLAND BARTHES beispielsweise definiert das mythische Prinzip als dreistellige Relation von signifié, signifiant und signification, die sich in der Spannung eines linguistischen und eines metalinguistischen Systems situiert. Eben diese Spannung verleihe dem Mythos seine charakteristische Gleichzeitigkeit von Statik und Dynamik, von Leere der Form und Fülle des Sinns und erlaube es, Geschichtliches, Künstliches, Wandelbares als Ursprüngliches, Naturhaftes, Unwandelbares erscheinen zu las3

ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Berlin 1925, Nachdr. Darmstadt 1964 u. ö.; Auseinandersetzung mit CASSIRER bei HELMUT HOLZHEY: Cassirers Kritik des mythischen Bewußtseins. In: Über Emst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Hrsg. von HANS-JÜRG BRAUN/HELMUT HOLZHEY/ERNST WOLFGANG ORTH, Frankfurt a. M. 1988, S. 191 ff.; JÜRGEN MOHN: Mythostheorien. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung zu Mythos und Interkulturalität. München 1998, S. 84103; ENNO RUDOLPH: Über einige Schwierigkeiten, sich dem Thema Mythos (philosophisch) zu nähern. In: Rationalitätstypen. Hrsg. von KAREN GLOY, Freiburg, München 1999, S. 129145, hier S. 134-140.

Arbeit am Absolutismus des Mythos

37

sen. 4 BARTHES öffnet damit den Blick für funktionsanalytische Beschreibungen des Mythischen, für verschiedene Text- und Bildformen, für mikro- wie makrostrukturelle Phänomene, in denen implikationsreiche Überblendungen von Sinnschichten und konnotative Anreicherungen von Bedeutung stattfinden. Doch bleibt dieser Blick sowohl zu allgemein, um das historisch Spezifische, wie zu abstrakt, um das konkret Überlieferte zu erfassen. Reduzierte CASSIRER mit der Universalisierung des Bewusstseins das materiell Vorfindliche zur Anschauungsform, so reduziert BARTHES mit der Verabsolutierung semiotischer Relationen das Vorfindliche zum Demonstrationsobjekt der ideologiekritischen Tätigkeit des ,Mythologen'. Wo kulturelle Texte im Allgemeinen oder traditionelle Erzählungen im Besonderen zur Diskussion stehen 5 , wird es darum gehen müssen, eine Ebene mittlerer Allgemeinheit zu finden, einen Weg, der sich zwischen der Beschreibung mythischen Denkens auf der einen, der Analyse mythisierender Semiose auf der anderen Seite bewegt und doch beides im Blick behält: Das eine kann fruchtbar sein für die Beschreibung der narrativ entworfenen Welten und deren Regeln, das andere für die Analyse der sprachlichen Operationen, die zumal in jenen Texten besonders komplex sein können, in denen mythische Elemente in hybridisierter Form begegnen. Auf mittelalterliche Texte bezogen bedeutet dies auch, inhaltliche Aspekte mythischen oder mythisierenden Erzählens nicht ganz zu übergehen, formale und pragmatische Aspekte wiederum historisch angemessen zu konturieren. Inhaltlich kann heißen: Die Erzählung - d. h. ein Text mit narrativer Struktur - betrifft das Verhältnis des Menschen zu übermenschlichen Mächten, sie bezieht sich auf Ursprünge, Übergänge und Gründungsmomente, die mit dem Zeilenabstand nicht an Präsenz verloren haben, vielleicht aber mit Bedeutung angereichert worden sind. Formal kann heißen: Die Erzählung arbeitet mehr mit Bildern und Pathosformeln als mit diskursiven Begründungen, sie lässt kausale und psychologische Motivierungen zugunsten finaler in den Hintergrund treten. Pragmatisch schließlich: Sie steht in sakralen, rituellen oder pararituellen Kontexten, ist eingebunden in soziale Vollzüge und Sinnbildungsprozesse und besitzt deshalb sowohl performative Dimension wie, aufgrund ihres (scheinbaren) Alters oder ihrer (scheinbaren) Evidenz, autoritativen Charakter. Nicht für jeden mythischen oder mythisierenden Text ist das Zusammenspiel

4

ROLAND BARTHES: Mythologies. Paris 1956 u. ö. (dt.: Frankfurt a. M. 1964 u. ö ). Meine knappen Bemerkungen können der semiologischen Komplexität von BARTHES' Modell nicht gerecht werden; einen Versuch, dieses Modell auf mittelhochdeutsche Texte anzuwenden, findet sich bei HARTMUT KOKOTT: Mittelhochdeutsche Mythen. In: Acta Germanica 13 (1980), S. 15-29.

5

Zu Mythos als .traditioneller Erzählung' GEOFFREY STEPHEN KJRK: Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion (engl. 1974). Reinbek bei Hamburg 1987 (rowohlts enzyklopädie 444), S. 20 u. ö.

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Christian Kiening

dieser Aspekte im gleichen Maße gegeben. Doch dürfte gelten, dass der formale oder der pragmatische Aspekt allein noch nicht genügen, um die Kategorie des Mythischen analytisch sinnvoll zu verwenden. Der formale, von LUGOWSKJ im Anschluß an CASSIRER beschrieben6, kennzeichnet viele mittelalterliche Texte, ebenso der pragmatische, der aber auch suspendiert oder ins Imaginäre verschoben sein kann. Zielt man nicht auf eine allgemeingültige Definition oder ein probates Suchraster, entfällt der Zwang, über den Grad an .Mythizität' eines Textes entscheiden zu wollen. Vielmehr geht es um Kategorien, die es erlauben, Dimensionen narrativer Sinnstiftung zu beschreiben, die sich zwar im Einzeltext manifestieren, aber nicht in ihm allein begründet liegen, ebensowenig aber auf der Ebene der Gattungen und Typen anzusiedeln sind. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, traditionelle Erzählungen als kulturelle Texte zu analysieren, also auf den gesamten Fundus und weiten Horizont mythischen Wissens zu beziehen, der mit dem einzelnen Text aufgerufen sein kann. Die Schöpfimgsmythen der biblischen Genesis haben bekanntlich ihren Ort im Rahmen der babylonischen, sumerischen und ägyptischen Schöpftmgsmythen.7 Der Passionsmythos des Neuen Testaments steht im Kontext hellenistischer Mysterienreligionen und ihrer Vorstellungen von Tod, Wiedergeburt und Apotheose eines Gottes.8 Jeweils ist der Mythos, wie BLUMENBERG feststellt, immer schon Rezeption, immer schon Aufnahme und Anverwandlung anderer Mythen.9 Von daher bezieht auch das strukturalistische Verfahren seine Berechti6

CLEMENS LUGOWSKI: D i e Form der Individualität i m R o m a n ( 1 9 3 2 ) . M i t einer Einleitung v o n HEINZ SCHLAFFER. Frankfurt a. M. 1 9 7 6 u. ö. (stw 151); Formaler M y t h o s . Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von MATÍAS MARTÍNEZ, Paderborn u. a. 1 9 9 6 ; JAN-DIRK MÜLLER: Der Prosaroman - eine Verfallsgeschichte? Zu C l e m e n s L u g o w s k i s A n a l y s e des .Formalen M y t h o s ' (mit e i n e m Vorspruch). In: Mittelalter und frühe N e u z e i t . Übergänge, U m b r ü c h e und Neuansätze. Hrsg. v o n WALTER HAUG, Tübingen 1 9 9 9 (Fortuna vitrea 16), S. 143-163.

7

D i e S c h ö p f u n g s m y t h e n . Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten. M i t e i n e m Vorwort v o n MIRCEA ELIADE, Darmstadt 1 9 6 4 u. ö.; CLAUS WESTERMANN: G e n e s i s 111. Darmstadt 1 9 7 2 u. ö. (Erträge der Forschung 7); HANS-PETER MÜLLER: M y t h o s - Kerygm a - Wahrheit. G e s a m m e l t e A u f s ä t z e z u m Alten Testament in seiner U m w e l t und zur B i b l i schen T h e o l o g i e . Berlin, N e w York 1991 ( B e i h e f t e zur Zeitschrift für die alttestamentliche W i s s e n s c h a f t 2 0 0 ) ; MICHAELA BAUKS: D i e Welt a m A n f a n g . Z u m Verständnis von V o r w e l t und W e l t e n t s t e h u n g in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur. N e u k i r c h e n - V l u y n 1997 ( W M A N T 74).

8

CARL SCHNEIDER: G e i s t e s g e s c h i c h t e der christlichen Antike (zuerst 1954). M ü n c h e n 1970, S. 4 4 f . , 1 5 3 - 1 5 7 ; L. K.OEP: Art. .Consecratio I'. In: Reallexikon für A n t i k e und Christentum 3 ( 1 9 5 7 ) , S. 2 6 9 - 2 8 3 ; DIETER ZELLER: D i e M e n s c h w e r d u n g des S o h n e s Gottes i m N e u e n Testament und die antike R e l i g i o n s g e s c h i c h t e . In: M e n s c h w e r d u n g Gottes - V e r g ö t t l i c h u n g von M e n s c h e n . Hrsg. von DEMS., Freiburg/Schweiz, Göttingen 1988 ( N o v u m T e s t a m e n t u m et Orbis A n t i q u u s 7 ) , S. 1 4 1 - 1 7 6 , mit weiterer Literatur.

9

HANS BLUMENBERG: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential d e s M y t h o s . In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von MANFRED FUHRMANN, M ü n c h e n 1971 (Poe-

Arbeit a m A b s o l u t i s m u s d e s M y t h o s

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gung: Die Bestandteile des narrativen Inventars grundsätzlich gleichbehandelnd ermöglicht es, die Bedeutung der einzelnen Version des Mythos an den Differenzen zu den anderen festzumachen. 10 Doch genau darin liegen auch seine Grenzen: Um eine Vergleichsgrundlage zu schaffen, sind Abstraktionen nötig, die wiederum tendenziell die einzelne Version um ihre Eigenart bringen. Diese Eigenart besteht nicht nur in der spezifischen Form der Rezeption und Variation, sondern in der Gesamtheit der semantischen Strukturen, der rhetorischen und pragmatischen Mittel, mit denen ein Text operiert. Erst sie lassen erkennen, wie mythische Elemente funktionalisiert, reflektiert oder transformiert werden, wie eine nicht-diskursive Begründung von Bedeutsamkeit' sich vollzieht. Das gilt nicht zuletzt für die Mythen der christlichen Heilsgeschichte. Weder durch Herausbildung des biblischen Kanons noch durch Dogmatisierung der Glaubenssätze wurden sie obsolet und doch traten sie in Spannung zu nicht-mythischen Begründungen des Heilssystems. 11 Sie blieben Gegenstand theologischer Interpretation, philosophischer Reflexion und poetischer Imagination, ihre widerständige Bildhaftigkeit blieb Herausforderung für das Universalität beanspruchende dogmatische System, Reibefläche für die an der Botschaft, nicht der Form interessierte Verkündigung der Lehre, Faszinosum für eine auf Vergegenwärtigung zielende Literatur und Kunst. Man verstellt sich den Blick auf die historische Komplexität, wenn man die Grenzlinien zwischen Mythos und Kerygma auf der einen, Mythos und Dogma auf der anderen Seite zu scharf zieht. Die kerygmatische, auf das geschichtlich Faktische bezogene Betonung der christlichen Wahrheit tendiert zwar dazu, Mythisches zu instrumentalisieren, nicht aber gehorcht sie jenem mythenkritischen

tik und Hermeneutik 4 ) , S. 11-66, hier S. 2 8 ; DERS.: A r b e i t e r n M y t h o s . Frankfurt a. M. 1 9 7 9 , passim. 10

CLAUDE LÉVI-STRAUSS: D i e Struktur der Mythen ( 1 9 5 5 ) . In: ders.: Strukturale A n t h r o p o l o g i e I. Frankfurt a. M. 1967 u. ö. (stw 2 2 6 ) , S. 2 2 6 - 2 5 4 ; ders.: M y t h o l o g i c a I-[V (frz. 1 9 6 4 - 1 9 7 1 ) . Frankfurt a. M. 1 9 7 1 - 1 9 7 5 ; DERS.: M y t h o s und Bedeutung. Frankfurt a. M. 1 9 8 0 (es N F 27); MICHAEL OPPITZ: N o w e n d i g e B e z i e h u n g e n . Abriß der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a. M . M 9 9 3 (stw 101), S. 2 0 4 - 3 2 6 .

"

Z u m Problem des M y t h o s im biblischen und frühchristlichen Kontext JACOB TAUBES: Der d o g m a t i s c h e M y t h o s der Gnosis. In: FUHRMANN ( A n m . 9), S. 1 4 5 - 1 5 6 ; WOLFHART PANNENBERG: Späthorizonte des M y t h o s in biblischer und christlicher Überlieferung. In: ebd., S. 4 7 3 5 2 5 ; Erste D i s k u s s i o n : M y t h o s und D o g m a . In: ebd., S. 5 2 7 - 5 4 7 ; z u m (christlichen) M y t h o s im Mittelalter HANS ROBERT JAUSS: Allegorese, Remythisierung und N e u e r M y t h o s . B e m e r kungen zur christlichen G e f a n g e n s c h a f t der M y t h o l o g i e im Mittelalter. In: FUHRMANN ( A n m . 9), S. 1 8 7 - 2 0 9 ; JEAN-CLAUDE SCHMITT: Problèmes du m y t h e dans l ' O c c i d e n t médiéval (zuerst 1988). In: DERS.: Le corps, les rites, les rêves, le temps. Essais d ' a n t h r o p o l o g i e m é d i é v a l e . Paris 2 0 0 1 , S. 5 3 - 7 6 ; HANS FROMM: . A u f k l ä r u n g " und neuer M y t h o s i m H o h e n Mittelalter. In: DERS.: Arbeiten zur deutschen Literatur d e s Mittelalters. Tübingen 1 9 8 9 , S. 1-23.

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Christian Kiening

Existenzialismus, den B U L T M A N N und andere ihr zuschreiben wollten. 12 Die dogmatische Verfestigung etabliert zwar vielfaltige Spannungen zwischen Begrifflichem und Bildlichem, erst in ihrer zur purifizierenden Systematik geronnenen Verselbständigung aber stellt sie jenes Korsett dar, gegen das 13 B L U M E N B E R G wiederum den Mythos sich listig behaupten sah. Präzisere Analyse wird versuchen müssen, die Differenzen zwischen den verschiedenen Typen der Glaubensbegründung weder einzuebnen noch überzubetonen. Sie wird den Blick auf die verschiedenen Formen der Vergegenwärtigung richten müssen, auf die Versuche, das Wirkungspotential des Mythischen im Hier und Jetzt zu nutzen, aber auch es auszudehnen: auf Anlagerungen, Ergänzungen und Weiterdichtungen. Manche von ihnen wiederholen den Grundmythos unter kleinen Ausgestaltungen und Retuschen. Andere setzen ihn voraus und konzentrieren die Erzählung auf das, was vorher ungesagt blieb. Ihr Verhältnis zum Prätext ist also ein supplementäres, ihr Ziel nicht in erster Linie die Arbeit am Absolutismus der Wirklichkeit, sondern die am Absolutismus des Mythos. Tenor ist nicht nur, worauf die mythische Erzählung reagiert, sondern auch, was sie ausübt - durch ihre radikale, nicht selten lakonische Prägnanz. Was sie nicht zu erklären und zu begründen brauchte, rückt in den Supplementen ins Zentrum. Die Eigenart der mythischen Erzählung wird sichtbar in ihrer Umschrift.

RUDOLF BULTMANN: Neues Testament und Mythologie. In: Kerygma und Mythos. Hrsg. von HANS WERNER BARTSCH, Hamburg 1948, S. 15-48; DERS.: Jesus Christus und die Mythologie. Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik. Gütersloh 1964 u. ö.; Auseinandersetzung mit Bultmann u. a. bei ROGER ALAN JOHNSON: The Origins of Demythologizing. Leiden 1974; KURT HÜBNER: Die Wahrheit des Mythos. München 1985, S. 324-348; HANS-PETER MÜLLER: Mythos und Kerygma. Anthropologische und theologische Aspekte. In: DERS. (Anm. 7), S. 188-219. RAINER WARNING: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 35) hat bei seiner prägnanten Herausarbeitung von Remythisierungstendenzen im ganzen die Opposition von Mythos und Kerygma zu sehr als eine starre angesetzt; in diesem Punkt behalten die Einwände FRIEDRICH OHL Ys, darauf zielend, das Christentum habe in der A u s m a l u n g von Glaubensinhalten j e neu die Grenzen des dogmatisch Annehmbaren umspielt, ihr Recht (Rez. von WARNING, In: Romanische Forschungen 91 [1979], S. 111-141; wieder in: DERS.: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von UWE RUBERG und DIETMAR PEIL, Stuttgart, Leipzig 1995, S. 113-144); Weiterentwicklungen jetzt bei JAN-DIRK MÜLLER: Mimesis und Ritual. Z u m geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis und Simulation. Hrsg. von ANDREAS KABLITZ/GERHARD NEUMANN, Freiburg 1998 (Rombach Wissenschaften. Litterae 52), S. 541-571; WALTER HAUG: Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Spiel des Mittelalters. In: DERS.: Die Wahrheit der Fiktion. Tübingen 2003, S. 650-663. ENNO RUDOLPH: Mythos - Logos - Dogma. Eine Auseinandersetzung mit Hans Blumenberg. In: Mythos und Religion. Interdisziplinäre Aspekte. Hrsg. von OSWALD BAYER, Stuttgart 1990 (Calwer Taschenbibliothek 3), S. 58-79; JOACHIM VON SOOSTEN: Arbeit a m Dogma. Eine theologische Antwort auf Hans Blumenbergs .Arbeit a m M y t h o s ' . In: ebd., S. 80-100.

Arbeit a m Absolutismus des Mythos

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Ich will diesen Prozess an zwei bekannten Fallbeispielen vorführen: der Geschichte des Urmenschenpaars und der des Judas Ischariot, und zwar jeweils an einer lateinischen und einer deutschen Version. Das ist nicht zuletzt deshalb aufschlussreich, weil die deutschen Texte mit der Bibel und der lateinischen Vorlage zumindest zwei Prätexte besitzen, ihr supplementärer Charakter also noch eine zusätzliche Dimension aufweist.

Π

Schon in vorchristlicher Zeit scheinen im Rahmen der Apokryphen und Pseudepigraphen auch Texte in hebräischer oder aramäischer Sprache entstanden zu sein, die über das in der Genesis von den Ureltern Erzählte hinausgingen und weit verbreitet waren.14 Eine der ältesten erhaltenen Versionen fand sich unter den in der Bibliothek von Nag Hammadi wieder entdeckten gnostischen Schriften, die sog. Apokalypse Adams, die davon berichtet, wie der Menschenvater in einer Revelation vom Ursprung der eigenen Sterblichkeit erfahrt und von den Engeln das wahre Wissen erhält, das er an Seth weitergibt. Gnostische Elemente sind auch in anderen Versionen der Geschichte, griechischen, armenischen, georgischen und slavonischen, nicht ganz getilgt, oft aber marginalisiert. So in der lateinischen Vita Adae et Evae, die das Bild, das das abendländische Mittelalter sich vom biblischen Urelternpaar machte, entscheidend bestimmte. Wie seine Vorgänger und Parallelen verdankt auch dieser Text seine Entstehung nicht nur der Neugier auf das, was geschah, nachdem Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben waren. Er diskutiert am Gegenstand des Ursprungsszenarios zentrale Theologumena von Heil und Erlösung. Er entwirft neu, was vor der Vertreibung geschah und bewältigt so zugleich die mythische Härte, die ein zürnender Gott gegenüber den von ihm geschaffenen Menschen an den Tag legt und die der biblische Redaktor des Sündenfallmythos im Raum stehen ließ. Diese Bewältigung war indes offen für verschiedene narrative Formen. Dementsprechend ist die Vita nicht nur reich, sondern auch in starker Variation überliefert. Jede Abschrift und jede Übersetzung betrieb Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Übersetzt und hrsg. von EMIL KAUTZSCH. 2. Bd.: Die Pseudepigraphen des Alten Testaments, Tübingen 1900, Nachdr. Darmstadt 1975, S. 506-528; Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel. Übersetzt und erläutert von PAUL RIESSLER, Augsburg 1928, S. 138-155 (Apokalypse des Moses), 668-681 (Leben A d a m s und Evas); A Synopsis of the Books of A d a m and Eve. Ed. by GARY A. ANDERSON and MICHAEL E. STONE, Atlanta/Georgia 1994 (Society of Biblical Literature. Early Judaism and Its Literature 5); historischer und îkonographischer Überblick zu den Ad a m b ü c h e m bei HANS MARTIN VON ERFFA: Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Quellen. Bd. 1. München 1989, S. 248-314; Forschungsüberblick bei MICHAEL E. STONE: A History of the Literature of A d a m and Eve. Atlanta/Georgia 1992 (Society of Biblical Literature. Early Judaism and Its Literature 3).

Christian Kiening

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durch Zusätze oder Weglassungen, durch Umstellungen oder Verknüpfungen ihre je eigene Arbeit am Mythos. Ich gehe aus von der sog. Gruppe I, bestehend aus lateinischen Handschriften des 9. bis 12. Jahrhunderts. 15 Der Bezugspunkt des Textes ist gegeben mit dem ersten Satz: Quando expulsi sunt de paradiso. Sündenfall und Vertreibung sind vorausgesetzt. Die Geschichte konzentriert sich auf das nachparadiesische Leben des Urelternpaars: ihre Versuche, durch Buße wieder in den Stand der Gnade zu gelangen, ihr sukzessives Sich-Einrichten in einer Welt des Wandels, der Gewalt und des Schmerzes, ihr Hervorbringen von Nachkommen, ihr schließlicher Tod. Eine Geschichte mit Übernatürlichkeiten, Visionen und Wundern, die an Muster der Heiligenvita anschließt. Eine Geschichte aber auch, die den biblischen Prätext nicht einfach ergänzt, sondern neu konfiguriert. Sie behandelt, was der Bibeltext zwischen der Austreibung aus dem Paradies und der Zeugung Kains und Abels nicht fur nötig befunden hatte mitzuteilen. Zugleich fuhrt sie neue Motivationskomplexe ein, entwirft neue Gründungsszenarien und zeigt die alten in neuem Licht. Mit fortschreitender Handlung überlagert sich die Erzählung sowohl mit der nachparadiesischen Bibelerzählung, die sie als Ereignisrahmen nutzt, wie mit der paradiesischen, die sie in Rückblicken einblendet. Auf der Ebene der Handlung wird ein Zwischenzustand konturiert. Das Urmenschenpaar lebt zeitlich und räumlich weiterhin in Bezug auf das Paradies. Es sehnt sich danach zurückzukehren, es tut Buße, um Gott milde zu stimmen, es verkehrt mit Engeln und Teufel. Von der englischen Speise abgeschnitten, ist es anfangs unfähig, sich überhaupt zu ernähren. Das Paradies bleibt erreichbar, nicht aber betretbar, nur in Visionen wird Adam und Seth der unmittelbare Anblick Gottes zuteil. Doch eben diese Situation erlaubt auch eine im Göttlichen wurzelnde Begründung von Praktiken und Institutionen: Durch den Erzengel Michael versieht Gott Adam mit Pflanzensamen und zeigt ihm, „wie er die Erde bearbeiten und bebauen solle, damit sie Früchte hätten, von denen sie und ihre Nachkommen leben könnten"; in einigen Handschriften lehrt er auch Eva, „wie sie ihren Sohn stillen und ernähren solle"; durch Michael und Uriel erhalten die Nachkommen mit Adams Tod zugleich ein Modell fur künftige Riten - „Wie ihr es gesehen habt, so begrabt eure Toten." 16

Vita Adae et Evae. Hrsg. und erläutert von WILHELM MEYER, München 1878 (Abhandlungen der Philosophisch-Philologischen Classe der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften 14), S. 187-250; Texte nach anderen Handschriften bieten JOHN HENRY MOZLEY: The Vita Adae. In: Journal o f Theological Studies. Old Series 30 (1928), S. 121-149; GERHARD EIS: Beiträge zur mittelhochdeutschen Legende und Mystik. Untersuchungen und Texte. Berlin 1935 (Germanische Studien 161), S. 241-255. 16

Vita, ed. MEYER, S. 228 (§ 22): mis it dominus dedit Adae et ostendit omnes generationes

ei laborare

deus per Michahel

angelum

et colere terram, ut habeant fructum,

semina diversa

unde viverent

eorum [angelus vero domini ostendit Evae, qualiterpuerum

ret et nutrire]·, ebd., S. 242 (§ 48): sicut vidistis, similiter

sepelite

mortuos

laclare

vestros.

et

ipsi et debe-

Arbeit am Absolutismus des Mythos

43

Die Klage, die zu Beginn des Textes dem Verlust eines zu spät begriffenen Idealzustands galt, gilt am Ende dem Verlust des in seiner Gottzugewandtheit unerschütterten Stammvaters. Zwar erzählt der 930 Jahre alte, dem Tod nahe Adam, von Seth gefragt, was Schmerz sei, die Geschichte des Sündenfalls, die Weichen ftir die Zukunft der nächsten Generationen aber sind schon gestellt. Sowohl heils- wie menschheitsgeschichtlich verwandelt sich die rückwärts gewandte Perspektive in eine vorwärts gewandte: Verwiesen ist auf die künftige Erlösung Adams und des Menschengeschlechts aus dem Bann des Todes (mit dem Jüngsten Gericht in 5500 Jahren), aber auch auf die Ausbreitung der 62 noch lebenden Adamskinder über die Erde. Der Text beschreibt die Übermittlung von Erfahrungen über den Wechsel von Generationen hinweg - und dies mit Hilfe der Schrift: Am Ende trägt Eva, die durch den Erzengel Michael von künftigen Katastrophen des Menschengeschlechts gehört hat, ihren Söhnen auf, ihr und Adams Leben auf Tafeln festzuhalten, einmal auf solchen von Stein, die das Wasser, und einmal auf solchen von Lehm, die das Feuer zu überstehen vermögen. Während in der biblischen Genesis das urgeschichtliche Desaster des Menschen und die folgende, Geschichte aufspannende Kette von Genealogien in harter Fügung nebeneinander stehen, werden in der Vita die Ereignisse des Anfangs konsequent als Elemente einer Geschichte des Menschen erzählt: emotionalisiert und dramatisiert, zum paradigmatischen Bericht über den gefallenen und doch hoffenden Menschen geordnet. Wichtigstes Stilmittel ist die Betonung der Figurenperspektive. Fast alle Elemente der Geschichte werden im Dialog oder Monolog geboten, entscheidende Punkte der Vorgeschichte im Rückblick. Seinen Kindern erzählt Adam, in anderen Fassungen durch Eva ergänzt, von den fatalen Geschehnissen im Paradies. Ihrerseits bekommen Adam und Eva erzählt, was diesen Geschehnissen, ja sogar ihrer eigenen Erschaffung vorausliegt. Eine pointierte Situation: Buße tuend im Jordan lässt Eva sich wieder vom Teufel täuschen, diesmal kommt er in der Erscheinung eines Engels und verfuhrt sie dazu, den Fluss schon vor Ablauf der vorgesehenen Bußzeit zu verlassen. Als sie dank Adam den Versucher erkennt, bricht sie in Klage aus: „Wehe dir, Teufel, warum bekämpfst du uns ohne Grund? Was hast du mit uns? Was haben wir dir getan, daß du uns so listig verfolgst?" 17 Das ist das Stichwort, den Teufel selbst berichten zu lassen - von der Erschaffung des Menschen, dem Unwillen mancher Engel, das später geschaffene Ebenbild Gottes anzubeten, dem Zorn Gottes, dem Sturz der Engel, ihrem Hass auf den Menschen. 1 8 Damit erhält der biblische Fall seine Erklärung. Die 17

18

Ebd., S. 224 (§ 11): ve tibi, diabole, quid nos expugnas gratis? quid tibi apud nos? aut quid tibifecimus, quoniam dolose nospersequeris? Zur Rolle des Teufels NEIL FORSYTH: The Old Enemy. Satan and the Combat Myth. Princeton, New Jersey 1987, S. 232-242; zum Engelsturz JOHANN MlCHL: Art. .Engel'. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 5 (1962), Sp. 53-258; PETER SCHÄFER: Rivalität zwi-

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Kette der Ursachen verlängert sich zurück bis zu einem Punkt, der zwar selbst nicht erklärt wird, aber auch nicht erklärt zu werden braucht. Das mythische Prinzip, vom Dogma aufgegriffen, zielt darauf, Ursprünge von Ursprüngen zu erzählen und als solche zu setzen, d. h. die Möglichkeit eines regressus ad infinitum im gleichen Moment, in dem sie sich andeutet, auszuschließen. Warum Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf und den Engeln befahl, ihn anzubeten - dafür gibt es keine Begründung. Der Text erzählt nicht nur chronologisch, sondern auch logisch von der Existenz des Menschen her. Die Finalität der Ereignisse im Blick auf die sich in der Passion vollziehende Nobilitierung des Menschen lässt er anders als andere Texte aus dem Spiel. Stattdessen entwirft er im Einklang mit jüdischer Apokalyptik Züge eines kosmischen Dramas, das den Gegner als eine Figur der Nähe begreift19, die Gefahr eines gnostischen Mächtedualismus aber abwehrt: Der Konflikt zwischen Gott und den Engeln wird nicht als objektives Faktum geboten, sondern als subjektiver Bericht des Hauptbetroffenen, und dieser erscheint in der Handlungsgegenwart der Geschichte nicht als gleichwertiger Gegner des Höchsten: Wo sich die Menschen, vom Teufel geplagt, an Gott mit der Bitte um Hilfe wenden, muss diabolus postwendend das Weite suchen. Die Vita bietet also Erklärungen fur im Bibeltext unerklärt Gebliebenes, sie stellt Kausalitäten her zwischen unverbunden Gebliebenem, sie mildert das undurchschaubar und maßlos wirkende Handeln Gottes durch Verschiebungen der Perspektive. Gleichzeitig zielt sie auf Anteilnahme am Schicksal des Ureltempaars und reagiert auf Fragen, die sich an den Bibeltext stellen konnten, zum Beispiel, warum Abel Schafhirt und Kain Ackerbauer wird. Die Antwort: Ein unheilvoller Traum Evas bei der Geburt Abels habe dazu geführt, die beiden Brüder räumlich und in ihren Tätigkeitsfeldern zu trennen - an der Geschichte der Söhne, am Grund des Brudermords, über den die jüdische und frühchristliche Tradition spekulierte, ist der Text nicht interessiert. Er rationalisiert das Mythische und hält gleichzeitig an dessen Sinnpotential fest. Er verweigert sich einer mythischen Opferlogik - der Gedanke, den zürnenden Gott gnädig zu stimmen durch ein Menschenopfer, hier das Opfer des Sündenbocks Eva, wird Eva selbst in den Mund gelegt und dann von Adam explizit zurückgewiesen - und vermehrt doch andererseits mythische Erzählelemente. Zwischen dem Teufel als Gegner und den Engeln als Helfern bewegt sich der Mensch im Spannungsfeld übermenschlicher Mächte. Der ansatzlose Zorn Gottes und des Teufels steht neben den sentimentalen Affekten der Menschen. Die Gestirne verfinstern sich und dienen als Übermittler von Botschaften, die sehen Engeln und M e n s c h e n . Untersuchungen zur rabbinischen Engelsvorstellung. Berlin, N e w York 1 9 7 5 ; HANS BLUMENBERG: Matthäuspassion. Frankfurt a. M. 1 9 8 8 (Bibliothek Suhrkamp 9 9 8 ) , S. 1 1 9 - 1 2 1 ; ELAINE PAGELS: Satans Ursprung (engl. 1 9 9 5 ) . Frankfurt a. M. 1 9 9 8 (st 2 8 6 8 ) , p a s s i m . 19

PAGELS ( A n m . 18), S. 84f.

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Wasser des Tigris bleiben bei Adams Buße stehen, die Tiere umringen den Menschenvater, Kain kann nach seiner Geburt sofort laufen und seiner Mutter einen Halm bringen - auch dies wohl ein ätiologisches Moment, bezogen auf Evas Satz in der Genesis: possedi hominem per Dominum (4,1).

Die mythischen Elemente werden auf solche Weise funktional: Sie dienen der Profilierung einer Welt, die als Vorzeitwelt erscheinen soll, und dienen gleichzeitig der Profilierung einer Erzählung, die bereits einer anderen Rationalität gehorcht, aber ihre eigene Distanz zu den Ursprüngen kaschiert. Die Ambivalenz des Endes macht dies sichtbar: Die vorliegende Geschichte erweist sich als gegründet in einer scheinbar mehrfach gesicherten Urschrift, von der aber genau genommen doch nichts die Zeiten überdauert haben kann. Eva missversteht offensichtlich die Ankündigung des Engels von zwei aufeinander folgenden Strafgerichten, sie lässt Tafeln anfertigen, die zwar jeweils die eine der beiden Katastrophen überstehen, spätestens in der andern aber zugrunde gehen. Es bleibt also offen, auf welche Geschichte der gegenwärtige Text sich tatsächlich stützt. Eben dies bot aber auch, so darf man vermuten, die Möglichkeit, am Text beständig weiterzuarbeiten. Die Vita Adae et Evae hatte zwar autoritativen, aber nicht kanonischen Status. Sie blieb offen fur Veränderungen verschiedener Art, Veränderungen, die durchaus nicht nur die weitere Entfernung von der Bibel, sondern auch den näheren Anschluss an sie suchten.20 Einige Handschriften fugen am Beginn des Textes zwei Kapitel hinzu, die Motive aus Genesis 3 aufnehmen und damit die Vita enger mit der Bibelerzählung verknüpfen. Andere setzen am Ende des Textes hinzu, wie Salomon die von Seth angefertigten Tafeln findet, und beheben damit das Problem der Übermittlung der authentischen Geschichte. Wieder andere lassen die Vita in eine Geschichte des Kreuzholzes münden. Eine dieser letztgenannten Handschriften war die Vorlage der vielleicht im 14. Jahrhundert entstandenen mittelhochdeutschen Bearbeitung Lutwins.21

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Zu den m i t t e l h o c h d e u t s c h e n Versionen BRJAN MURDOCH: T h e R e c a p i t u l a t i o n of the Fall. A m s t e r d a m 1974 ( A m s t e r d a m e r Publikationen zur S p r a c h e und Literatur 11); DERS.: Ein d e u t s c h e s A d a m b u c h und die A d a m l e g e n d e n des Mittelalters. In: D e u t s c h e Literatur d e s spät e n M i t t e l a l t e r s . H r s g . v o n W O L F G A N G H A R M S / L . PETER J O H N S O N , B e r l i n 1 9 7 5 , S . 2 0 9 - 2 2 4 ;

DERS.: H a n s Folz and the A d a m - L e g e n d s . Texts and Studies. A m s t e r d a m 1 9 7 7 ( A m s t e r d a m e r P u b l i k a t i o n e n zur S p r a c h e und Literatur 28); DERS.: A d a m ' s Grace. Fall a n d R e d e m p t i o n in M e d i e v a l Literature. W o o d b r i d g e 2 0 0 1 ; a u ß e r d e m BOB MILLER: Eine d e u t s c h e V e r s ü b e r s e t z u n g d e r lateinischen V i t a A d a e et Evae in der W e l t c h r o n i k H e i n r i c h s v o n M ü n c h e n . In: Studien zur W e l t c h r o n i k H e i n r i c h s von M ü n c h e n . B d . 1 : Ü b e r l i e f e r u n g , F o r s c h u n g s b e r i c h t , U n t e r s u c h u n g e n , Texte. Hrsg. von HORST BRUNNER, W i e s b a d e n 1998 [ 1 9 9 9 ] (Wissensliteratur im Mittelalter 2 9 ) , S. 2 4 0 - 3 3 2 mit A u s g a b e und reichen L i t e r a t u r a n g a b e n a u c h zur lateinischen F a s s u n g . 31

Ich zitiere n a c h der A u s g a b e von MARY BESS HALFORD: L u t w i n ' S Eva und A d a m . S t u d y T e x t - T r a n s l a t i o n . G ö p p i n g e n 1984 ( G A G 4 0 1 ) , S. 101-236.

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Markanter Zug des Textes oder auch schon seiner Vorlage ist die Umstellung der Erzählordnung zugunsten der Chronologie. Der Text beginnt mit der Erschaffung der Welt und des Menschen, dem Neid der Engel und dem Sündenfall, der später ein weiteres Mal aus der Perspektive Adams erzählt wird. Ein heilsgeschichtlicher Bogen spannt sich vom innergöttlichen Schöpfungsentschluss bis zum menschheitsgeschichtlichen Neubeginn nach der Sintflut ein stringentes Heilswerk, dessen Ordnung sich am Ende im Wiederzusammenkommen der von den paradiesischen Bäumen stammenden Zweige und im Ausblick auf die in Christus verkörperte Heilseraeuerung manifestiert. Konsequenterweise ist in diesem Rahmen von der Sicherung der Ursprungsgeschichte nicht die Rede. An der Stelle der Überlieferung der Schrift steht die Überlieferung der Zweige, an der Stelle der von Menschenhand stammenden Urkunde das aus dem Paradies selbst stammende Zeichen des Heils. Lutwin erzählt die Geschichte von Adam und Eva vor dem Hintergrund einer langen Auslegungstradition. Er schickt deshalb den Menschenvater nach seinem Tod in die Hölle, lässt aber Gott selbst erklären, wie sein Zorn zum Erliegen kommen und er die Fesseln der Hölle sprengen werde. Im eigentlichen Vitenteil entspricht die Handlung weitgehend der lateinischen Fassung. Nur die descriptiones sind gelegentlich erweitert, zum Beispiel bei den protokulturellen Tätigkeiten des Urmenschenpaars und bei ihren Affekten. Größeres Gewicht erhalten die Klagen beim Tod Adams, und gänzlich neu ist die Rolle der Minne. In der Genesis sind die erste sexuelle Begegnung von Adam und Eva, Empfängnis und Geburt des ersten Sohnes bekanntlich in einem einzigen lakonischen Satz zusammengefaßt (4,1: Adam vero cognovit Havam uxorem suam quae concipit et peperit Cain). In der Vita gibt es zwar reichere Beziehungsnuancen, wie Eva aber schwanger wurde, wird nicht näher ausgeführt. Hier setzt Lutwin ein. Als Adam nach Absolvierung seiner Bußzeit aus dem Jordan kommt, überwältigt ihn ein bisher unbekanntes Gefühl: Das er des nit envenden künde, | Er müste begynnen an der stunde \ Mit Eua seltzammer gedat, \ Als nach menschlich nature hat (v. 1516-1519). Die zum Vorschein kommende Natur ist aber offensichtlich bei Eva im Übermaß ausgeprägt: Sie zieht das neue Liebesglück dem Paradiesesglück vor und handelt sich damit Adams Schelte ein; er würde für ein Ästlein aus dem Paradies auf die Liebe verzichten. Mit diesem Dissens motiviert der Text die folgende durch die Vita vorgegebene räumliche Trennung von Adam und Eva. Zugleich deutet er voraus auf die am Ende erzählte Geschichte der Zweige der Paradiesesbäume. Die Treue zur Vorlage schließt also Versuche zur Plausibilisierung und Homogenisierung nicht aus. Das Verhältnis des Textes zur biblischen Geschichte ist zwar eindeutig ein supplementäres, zugleich aber auch ein ordnendes und kommentierendes. Lutwin erzählt nicht einfach die Geschichte von Adam und Eva. Er macht das Erzählen zu einem Akt didaktischer Heilsver-

Arbeit am Absolutismus des Mythos

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mittlung. Verwiesen ist immer wieder auf die Genesis und andere Quellen, unterbrochen der Fortgang der Handlung durch allegorische Deutungen und ironische Bemerkungen, durch Heranziehen von Exempelfiguren, Einschub einer Memento-mori-Predigt und Anrede des (weiblichen) Publikums. Nicht selten weiten sich die Digressionen zu seitenlangen Kommentaren, die auch theologische und exegetische Probleme berühren. Zurückkehrend zur narrativen Chronologie, war ja noch nicht die schwierige Aufgabe gelöst, der eigentümlichen Geschichte des Verhältnisses von Gott und Mensch einen Sinn zuzuweisen, einen Sinn, der überdies nicht bloß von Menschen ausgedacht sein soll. Der Text liefert deshalb Begründungen sowohl fur die Entstehung der Schöpfung wie fur Fall und Erlösung des Menschen. Die Muster sind bekannt: die Schöpfung als notwendige Manifestation der zur Selbstentfaltung drängenden Güte der Gottheit, der Sündenfall als Paradigma, an dem diese Güte in extremster Weise zum Vorschein kommen kann. Damit war aber auch das zentrale Problem der göttlichen Providenz aufgeworfen. Lutwin betont Gottes Vorherwissen bezüglich Adams Sünde und lässt doch den Teufel scheinbar autonom agieren. Der Reiz, die Geschichte als Handlung zu erzählen, und das Bedürfnis, sie zu erklären, treffen immer wieder spannungsvoll aufeinander. Deutlich ist das Vergnügen, einen agierenden Gott zu zeigen: zornig, wenn er es mit den Intrigen des Teufels und den Verfehlungen der Menschen zu tun hat, barmherzig, wenn er dem sterbenden Adam sine götliche hant uff das houbet legt (v. 3124f.) und mitsamt seinen Scharen den Leichenzug bildet. Deutlich ist aber auch: Die Fragen haben sich vermehrt, das mythische Restpotential muss durch metanarrative Elemente kompensiert werden.

III Das zweite Beispiel: die Geschichte des Judas. Auch sie ist Zeugnis einer jahrhundertelangen Arbeit am Mythos. Schon an den Evangelien läßt sich eine zunehmende Dämonisierung der Figur ablesen - parallel zu derjenigen Satans. 22 In der Patristik wird sie dann zum Gegenstand der Diskussion von Prädestination und Willensfreiheit, von Gnade und Verdammung, gleichzeitig auch zum Paradigma des ungläubigen Volkes Israel. 23 Erzählerische Ausge22

PAGELS ( A n m . 18).

23

Z u r J u d a s f i g u r i m N e u e n T e s t a m e n t u n d in d e r Alten K i r c h e WERNER VOGLER: J u d a s Iskario t h . U n t e r s u c h u n g e n zu T r a d i t i o n u n d R e d a k t i o n von T e x t e n d e s N e u e n T e s t a m e n t s u n d a u ß e r k a n o n i s c h e r S c h r i f t e n . Berlin 1 9 8 3 ( T h A 4 2 ) ; HANS-JOSEF KLAUCK: J u d a s - ein J ü n g e r d e s H e r r n . F r e i b u r g 1 9 8 7 ( Q u a e s t i o n e s D i s p u t a t a e 111); PERI TERBUYKEN/CHRISTIAN JOSEF KREMER: . J u d a s I s k a r i o t ' . In: R e a l l e x i k o n f ü r A n t i k e u n d C h r i s t e n t u m . L f g . 146 ( 1 9 9 8 ) , S p . 1 4 2 - 1 6 0 ; z u r W i r k u n g s g e s c h i c h t e PETER DLNZELBACHER: J u d a s t r a d i t i o n e n . W i e n 1 9 7 7 ; J u d a s Iskariot. M e n s c h l i c h e s o d e r h e i l s g e s c h i c h t l i c h e s D r a m a . H r s g . von HARALD WAGNER, F r a n k f u r t a. M . 1 9 8 5 ; BERNHARD DIECKMANN: J u d a s als S ü n d e n b o c k . E i n e v e r h ä n g n i s v o l l e G e -

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staltungen begegnen seit dem 12. Jahrhundert, und auch sie sind mehr als bloß Ausmalungen eines in den Evangelien primär mit Blick auf Christus präsentierten Ereigniszusammenhangs.24 Sie rekurrieren wie die Vita Adae et Evae einerseits auf das christliche Verhältnis von Gnade und Verdammung, andererseits auf das mythische Skandalon von Verrat und Opfer. Ihr Kontext sind die in jener Zeit sich ausbreitenden Dramatisierungen, Narrativierungen und Mythologisierungen der christlichen Heilsgeschichte, die schnell auch die Volkssprachen erfassen. Ihr Bezugspunkt ist aber auch die sich in der gleichen Zeit vollziehende Neuaufnahme des Ödipus-Mythos, der so umerzählt wird, dass auf die Vorgeschichte der Passion Christi ein neues Licht fallen kann.25 Die älteste überlieferte lateinische Version ist am deutlichsten der ÖdipusGeschichte verpflichtet. Ein Sohn aus wohlhabender Jerusalemer Familie wird mit durchbohrten Unterschenkeln ausgesetzt, weil seinem Vater in einer Traumvision verheißen wurde, das Kind werde ihm nach dem Leben trachten. Von Hirten aufgefunden, wächst Judas in Scarioth heran und tritt in die Dienste des Königs Herodes. Als er fur diesen aus einem fremden Garten Früchte besorgen soll, erschlägt er, ohne es zu wissen, den eigenen Vater und wird von Herodes ebenfalls unwissentlich der eigenen Mutter vermählt. Sie erkennt ihn an einer Narbe, er wendet sich reumütig von ihr ab und Jesus zu, der ihn unter seine Jünger aufnimmt. Hier wird er jedoch zunächst zum Dieb, sodann zum Verräter und schließlich zum von Reue gepackten Selbstmörder. Eine zweite Version reichert dieses Gerüst durch weitere, teils biblische Erzählmotive an. Der Traum wird nun wie in der Vita Adae et Evae der Mutter zugeschrieben. Die Aussetzung erfolgt - wie bei Moses - in einem Korb auf dem Meer. Neu

s c h i c h t e v o n A n g s t und Vergeltung. M ü n c h e n 1991; CHRISTFRIED BÖTTRICH: Judas Iskarioth z w i s c h e n Historie und Legende. In: Gedenkt an das Wort. Festschrift für WERNER VOGLER z u m 65. Geburtstag. Hrsg. von CHRISTOPH KAHLER, Leipzig 1 9 9 9 , S. 3 4 - 5 5 . WILHELM CREIZENACH: Judas Iscarioth in L e g e n d e und S a g e d e s Mittelalters. In: Beiträge zur G e s c h i c h t e der deutschen Sprache und Literatur 2 ( 1 8 7 6 ) , S. 1 7 7 - 2 0 7 ; Ε. K. RAND: M e d i e v a l Lives o f Judas Iscariot. In: Anniversary Papers b y C o l l e a g u e s and Pupils o f GEORGE LYMAN KITTREDGE, B o s t o n 1 9 1 3 , S. 3 0 5 - 3 1 6 ; PAULL FRANKLIN BAUM: The M e d i a e v a l Legend o f Judas Iscarioth. In: Publications o f the M o d e m Language A s s o c i a t i o n 3 1 , N . S. 2 4 ( 1 9 1 6 ) , S. 4 8 1 - 6 3 2 ; ELIAS VON STEINMEYER: D i e Historia apocrypha der Legenda aurea. In: M ü n c h e n e r M u s e u m für P h i l o l o g i e d e s Mittelalters 3 ( 1 9 1 7 ) , S. 1 5 5 - 1 6 6 ; PAUL LEHMANN: Judas Ischariot in der lateinischen Legendenüberlieferung d e s Mittelalters. In: DERS.: Erforschung des Mittelalters II. Stuttgart 1 9 5 9 , S. 2 2 9 - 2 8 5 ; FRANZ JOSEF WORSTBROCK: .Judaslegende'. In: Verfasserlexikon. D i e deutsche Literatur des Mittelalters 4 ( 2 1 9 8 3 ) , Sp. 8 8 2 - 8 8 7 ; DIECKMANN ( A n m . 2 3 ) , S. 2 3 - 1 2 1 , 3 2 9 - 3 4 6 . LEOPOLD CONST ANS: La l é g e n d e d'Œdipe, Etudiée dans l'antiquité, au m o y e n - â g e et dans les temps m o d e r n e s , en particulier dans le roman de Thèbes. Paris 1 8 8 1 ; LOWELL EDMUNDS: Oedipus. The ancient legend and its later analogues. Baltimore, London 1 9 8 4 ; CHRISTOPH HUBER: Mittelalterliche Ödipus-Varianten. In: Festschrift WALTER HAUG und BURGHART WACHINGER. T ü b i n g e n 1992, S. 1 6 5 - 1 9 9 . FRITZ PETER KNAPP: legenda aut non legenda [...]. In: G R M 5 3 ( 2 0 0 3 ) , S. 1 3 3 - 1 5 4 .

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ist auch: Judas wird zu einer Insel getrieben und dort von der Königin als eigenes Kind aufgezogen. Als ihr ein leiblicher Sohn geboren wird und er von der eigenen Findlingsexistenz erfahrt, erschlägt er wie Kain den Jüngeren. Nach Jerusalem zurückgekehrt, tritt er dann nicht in die Dienste des Herodes, sondern des Pilatus: Die beiden Geschichten wurden, wie wir noch sehen werden, auch in der Überlieferung häufig verknüpft. Das Judasleben scheint auf die Frage zu reagieren, wie es dazu kommen konnte, dass einer aus dem Kreis der Jünger, also aus der nächsten Nähe des Heilands, diesen verriet. Als Antwort entwirft sie eine Geschichte des zugleich Ausgezeichneten und Ausgegrenzten, des Protagonisten, der dazu auserkoren ist, dem Sohn Gottes den entscheidenden Schritt zum Tode zu bahnen: im Sinne HYAM MACCOBYS ein Heiliger Henker,26 Die Geschichte fungiert als Vorgeschichte zur Geschichte christlicher Heilserneuerung und zeichnet einerseits den Weg ins Verderben in mythischen Konstellationen nach, fuhrt andererseits vor, dass selbst der größte Sünder, durch Vatermord und Inzest befleckt, gerettet werden kann - bzw. könnte, wenn er nicht neuerlich auf die Bahn des Unheils einschwenkte. Seit Augustinus wurde dies so gedeutet, daß die entscheidende Sünde des Judas nicht sein Vatermord, nicht der Verrat gewesen sei, sondern die zum Selbstmord fuhrende Verzweiflung. 27 Die Judas-Vita zielt indes nicht so sehr auf die desperatio als auf den doppelten Umschlagsmoment am Ende: die barmherzige Aufnahme und dann folgende definitive Ausschließung aus dem System der Gnade. Während die erste einen radikalen biografischen Bruch zu signalisieren scheint, stellt die zweite die biografische Kontinuität wieder her. Zugleich ergibt sich eine Spannung zwischen der Geltung und der Überwindung des mythischen Musters. Die Folie der Ödipus-Geschichte dient zunächst dazu, das Judasleben unter das Zeichen der Unentrinnbarkeit zu stellen. Die anfängliche Traumvision etabliert, eher im Sinne der antiken Fortuna als der christlichen Providentia, eine schicksalhafte Dimension des Geschehens und trägt gleichzeitig dazu bei, sie zu erfüllen. Am Ende jedoch dient die Abblendung der Folie der ÖdipusGeschichte dazu, das Geschick als scheinbar doch nicht unentrinnbares zu zeigen und im nächsten Atemzug wiederum die Scheinbarkeit hervorzuheben. Auch in der Abblendung bleibt also das mythische Muster präsent - als transformiertes: Die auf Unausweichlichkeit und Selbsterfiillung setzende Logik des Mythos wird aufgehoben durch die auf Barmherzigkeit und Gnade basierende Logik des Ethos, die ihrerseits aufgehoben wird durch die von Providenz und Sinntotalität geprägte Logik des Heilsplans, welche nun aber selbst mythische Züge trägt. HYAM MACCOBY: Der Heilige Henker. Die M e n s c h e n o p f e r und das Vermächtnis der Schuld (engl. 1982). Stuttgart 1999. 27

FRJEDRJCH OHLY: Der Verfluchte und der Erwählte. V o m Leben mit der Schuld. Opladen 1 9 7 6 ( R h e i n i s c h - W e s t f ä l i s c h e A k a d e m i e der Wissenschaften. Vorträge G 2 0 7 ) .

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Die Schlechtigkeit des Verräters und die Güte des Erlösers sind damit gleichermaßen gesichert, allerdings auf Kosten einer unauflöslichen Ambivalenz. Je nach Perspektive erscheint Judas als tragisch (Mythos), schändlich (Ethos) oder notwendig (Heilsplan), wobei sich das, was handlungsstrukturell aufeinander folgt, in den Semantiken der Texte wiederum überlagert. Schon die älteste Version kündigt eingangs die Geschichte dessen an, der malus in orte, peior in vita, pessimus in fine gewesen sei. Die Zeichen, unter denen der Lebenslauf steht, sind klar. Die Möglichkeit, dass sich die Frevel durch Reue und Buße schließlich in einen exemplarischen Heilsgewinn verwandeln, erscheint von vornherein als unwahrscheinlich. Das heißt aber auch: Die theologische Figur der immer möglichen Rettung und die narrative Logik des zu erwartenden Untergangs bringen sich nicht zur Deckung. Der Text muss behaupten, dass es eine Chance gebe, auch wenn es sie de facto im vorliegenden Fall nicht gibt und auch gar nicht geben darf. Eben dies aber, dass Judas als Verräter verdammenswert und als Instrument zur Erfüllung des Heilsplans notwendig ist, lässt sich auf der Textoberfläche nicht explizit zur Sprache bringen. Sowenig wie der Teufel in der Adamsgeschichte kann Judas im Passionsgeschehen einfach als Erfüllungsgehilfe Gottes erscheinen. Er ist deshalb böse und doch nicht ganz böse. Er agiert prototypisch und wird doch mit individuellen Zügen versehen.28 Er behält handlungslogisch und theologisch eine Freiheit, die erzähllogisch und heilsgeschichtlich eine scheinbare ist, als scheinbare im Text aber nur durch Einspielung einer antiken Schicksalsmacht und durch die Anverwandlung des mythischen Musters (Determination zum Unheil) markiert werden kann. Daraus erklärt sich die schwankende Beurteilung der Judasfigur nicht erst in modernen Adaptationen.29 Schon in manchen mittelalterlichen Versionen - so der der Legenda aurea - wiederholt sich nach dem Verrat die Reue. Judas wirft die 30 Silberlinge in den Tempel zurück, bevor er sein schreckliches Ende findet, und selbst diesem Ende konnte noch ein Moment der Barmherzigkeit eingeschrieben werden: Die Brandan-Legende berichtet von Brandans Begegnung mit dem Verdammten, der dank Gottes Erbarmen jeweils in der Nacht zum Sonntag von seinen Höllenqualen befreit ist.30 Der Dominikaner Vinzenz Ferrer war unter anderem deshalb in einen Häresieprozess verstrickt, weil er in einer Predigt von 1391, ältere Traditionen aufnehmend, erzählt haben soll, Judas habe nach dem Verrat bereut und versucht,

Vgl. JUTTA EMING: Judas als Held. Formen des Erzählens in der mittelalterlichen Judaslegende. In: Z f d P h 120 (2001), S. 394-412. 29

Vgl. KJM PAFFENROTH: Judas. Images of the Last Disciple. Louisville 2001. Populärwissenschaftliche Versuche zur Rehabilitierung des Judas gibt es zahlreiche, z. B. GERT BUCHHEIT: Judas Iskarioth. Legende - Geschichte - Deutung. Gütersloh 1954; WILLIAM KLASSEN: Judas. Betrayer or Friend of Jesus? Minneapolis 1996.

30

PAULL FRANKLIN BAUM: Judas' Sunday Rest. In: M o d e m Language Review 18 (1923), S. 168-182.

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Jesus um Vergebung zu bitten, sei aber am Kalvarienberg durch die Menge nicht bis zu ihm vorgedrungen. Nach dem Selbstmord habe sich die Seele zum Kreuz aufgemacht, Vergebung erlangt und den Weg ins Himmelreich genommen.31 Die Momente der Reue und Gnade stehen in Kontrast zu den Momenten, in denen das Böse durchbricht, und sie ermöglichen es, den mythischen Absolutismus der Prädestination abzuschwächen und den Eindruck zu kaschieren, die Welt sei nur Bühne des göttlichen Heilsplans. Schon Jacobus de Voragine, der die Judas-Geschichte in der seines Nachfolgers, des Apostels Mathias, versteckte, war sich ihres beunruhigenden Potentials bewusst und zog ihre Wahrheit in Zweifel.32 Das beunruhigende Potential liegt nicht zuletzt darin, dass in der Frage, was einen der Jünger dazu gebracht habe, Jesus zu verraten, offensichtlich noch die ganz andere Frage steckt: was Gott dazu gebracht habe, seinen Sohn fiir die von ihm selbst geschaffene Menschheit zu opfern. Die theologische Antwort bezog sich, wie bei Lutwin gesehen, in der Regel auf die unendliche Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Menschen, seine Selbstoffenbarung in der Geschichte. So brisant und logisch angreifbar diese Antwort war, bot sie doch zumindest dem mittelalterlichen Christen einen unübersehbaren Vorteil: Sie ließ sich dahingehend verstehen, dass Gott durch seine Selbstoffenbarung den Menschen eine Möglichkeit eröffnet habe, die nicht von allen genutzt wurde, die eine entscheidende kulturelle und religiöse Differenz begründete. Sosehr, aufs Ganze der Heilsgeschichte gesehen, der Alte Bund als Vorstufe und Grundlage des Neuen galt, sosehr galt, historisch-zeitgeschichtlich gesehen, die gegenwärtige Judenheit als verblendet und vom Heil abgeschnitten. Das Judasleben liefert fur diese Trennung eine Ätiologie, bezogen nicht auf das Verhältnis zwischen Jesus und der jüdischen Gemeinde, sondern auf den einzelnen, der im Mittelalter schon namentlich als Paradigma der Judenheit interpretiert wurde. Er nun, dieser einzelne, repräsentiert im Sinne GlRARDs den impliziten Sündenbock, dessen Geschichte mit jener des expliziten Sündenbocks Jesus so verknüpft wird, dass der Mythos des Opfers des Gottessohns ein Pendant im Gründungsmythos der christlich-jüdischen Differenz erhält.33

31

DINZELBACHER ( A n m . 2 3 ) , S. 65; DIECKMANN ( A n m . 2 3 ) , S. 139f.; Ρ AFFENROTH ( A n m . 2 9 ) , S. 120f.

32

Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übersetzt v o n RAINER NICKEL, Stuttgart 1 9 8 8 ( R e c l a m U B 8 4 6 4 ) , S. 1 7 8 - 1 8 5 .

33

RENÉ GIRARD: Das Heilige und die Gewalt. Freiburg 1 9 8 7 , Frankfurt a. M. 1 9 9 2 ; DERS.: Das Ende der Gewalt. A n a l y s e eines Menschheitsverhängnisses. Freiburg i. Br., Basel, Wien 1 9 8 3 ; DERS.: A u s s t o ß u n g und V e r f o l g u n g . Eine historische Theorie des S ü n d e n b o c k s . Frankfurt a. M. 1 9 9 2 u. Ö.; DERS.: Ich sah den Satan v o m Himmel fallen w i e ein Blitz. Eine kritische A p o logie d e s Christentums. M ü n c h e n 2 0 0 2 .

52

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Judas ist wie der Satan der Adamsgeschichte eine Figur der Nähe.34 Er kommt aus Jerusalem, ist kein Fremder, sondern ein Vertrauter: von Christus mehr geschätzt als andere (diligebatur pre ceteris) heißt es in der zweiten lateinischen Fassung, vnserm herrn so gehaim vnd so lieb, dass er zum Verwalter der Almosen wurde, heißt es im Schaffhausener Judasleben.35 Es gibt Hinweise, dass im Kontext der Evangelien Judas sogar noch als Bruder Jesu galt.36 Auserwählt, dem Opfer den Weg zu bereiten und selbst ausgestoßen zu werden, ist also einer, der aus dem innersten Kreis kommt und diesen zugleich vertritt - gerade auch in seinem Verrat. B L U M E N B E R G hat ihn als den vielleicht konsequentesten Vertreter der messianischen Ungeduld verstanden, die sich auch bei anderen Jüngern äußere, am deutlichsten in der dreifachen Verleugnung des Petrus.37 Das Judasleben stellt zumindest in seinen ältesten Versionen diesen Zusammenhang nicht explizit her. Es beschränkt sich auf die Lebensgeschichte, die erst am Ende in die biblische Geschichte einmündet und dabei ihre Peripetien findet. Diese Beschränkung begründet zugleich die mythische Dimension eines Textes, der im Wesentlichen zeigt und nicht deutet, verborgene Hintergründe der neutestamentlichen Heilsgeschichte aufdeckt und doch auch im Mysteriösen belässt: „nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt, und nichts verborgen, was nicht bekannt werden wird" - die Worte Christi aus der Aussendungsrede (Mt 10,26) stehen am Beginn der ältesten Version, doch die ¿SMihüllung erfolgt im mythischen Gewand. Andere Versionen gehen andere Wege. Sie trennen explizit zwischen biblischem und außerbiblischem Teil des Judaslebens, integrieren dieses aber auch in den vollständigen Ablauf der Passionsgeschichte oder fugen noch weiteres Material, etwa zur Situation des Judas in der Hölle, hinzu. Verbreitet ist, wie angedeutet, die Verknüpfung mit der Pilatusgeschichte, die auch Johannes Rothe, der thüringische Chronist, bietet.38 Rothes volkssprachiges Kompendium gibt sich als Auszug aus einem größeren Werk und konzentriert sich auf vier Themen: Leben des Judas, Erfindung des Geldes und Geschichte der 30 Silberlinge, Leben des Pilatus, Zerstörung Jerusalems. Das Ganze wirkt auf den ersten Blick disparat. Auf den zweiten zeigen sich zahlreiche Korrespondenzen. Judas und Pilatus sind durch ihr Zusammentreffen in Jerusalem hand34

A l s , S p i e g e l f i g u r ' versteht ihn ALBRECHT KOSCHORKE: Die H e i l i g e Familie und ihre Folgen.

35

O H L Y ( A n m . 2 8 ) , S. 142.

Frankfurt a. M . 2 0 0 0 , S. 8 5 - 8 8 . 36

MACCOBY ( A n m . 2 6 ) , S. 2 0 2 - 2 0 7 ; BERNHARD DIECKMANN: Judas als D o p p e l g ä n g e r Jesu? E l e m e n t e und Probleme der Judastradition. In: Dramatische Erlösungslehre. Hrsg. v o n JÓZEF NIEWIADOMSKI und WOLFGANG PALAVER, Innsbruck 1 9 9 2 (Innsbrucker t h e o l o g i s c h e Studien 3 8 ) , S. 2 2 7 - 2 4 2 .

37

BLUMENBERG ( A n m . 18), S. 167.

38

Johannes R o t h e s Passion. Mit einer Einleitung und e i n e m A n h a n g e . H r s g . v o n ALFRED HEINRICH, Breslau 1 9 0 6 (Germanistische Abhandlungen 2 6 ) ; vgl. VOLKER HONEMANN: .Rothe'. In: Verfasserlexikon. D i e deutsche Literatur des Mittelalters 8 ( 2 1 9 9 2 ) , Sp. 2 7 7 - 2 8 5 .

A r b e i t a m A b s o l u t i s m u s des M y t h o s

53

lungsweltlich verbunden. Sie sind aber auch strukturell verbunden: Auch der römische Statthalter ist ein unter besonderen Vorzeichen geborenes Kind. Auch er tötet seinen Spielkameraden, den legitimen Sohn des Herrschers. Auch er endet im Selbstmord. Auch er ist ein Instrument in dem das Opfer des Gottessohns ermöglichenden Bedingungsgefiige und zugleich ein Instrument fur die an Umbruchsstellen orientierte Heilsgeschichte. Verbindet sich mit Judas der Ursprungspunkt der Verblendung des jüdischen Volkes, so verbindet sich mit Pilatus der Ursprungspunkt der Christianisierung des römischen Weltreichs. 39 Details kommen dazu: die Geldgier der beiden, die ihren historischen Hintergrund erhält in der als Scharnier zwischen den Lebensläufen dienenden Genealogie des Geldes. Unter Ninus wurde von Trare, dem Vater Abrahams, das erste gleichmäßige Münzgeld erfunden, von dem der Erfinder selbst 30 Silberlinge als Lohn behielt. Diese Silberlinge wechselten im Folgenden durch Vererbung, Verkauf und Schenkung zwischen den Familien und Völkern und blieben doch, dank göttlicher Lenkung, immer zusammen: Abraham kauft mit ihnen den Acker, in dem Adam und Eva begraben liegen, vom Verkäufer gelangen sie an seinen Neffen, von ihm als Brautgabe an die Hismaheliten, dann an einen Kaufmann, der Joseph in Ägypten seinen Brüdern abkauft, dann von diesen an den Pharao, von ihm an Moses, dessen Frau und Töchter, schließlich an die Königin von Saba, die das Geld der Tempelkasse in Jerusalem stiftet, von wo Nabuchodonosor es nach Babylonien mitnimmt und einem arabischen König schenkt. Aus dem Orient bringen dann die Heiligen Drei Könige die Silberlinge wieder mit und schenken sie Maria, die sie dem Tempel stiftet, von wo sie als Lohn an Judas kommen, der sie aber reumütig wieder in den Tempel wirft, wo man beschließt, von dem Geld einen Acker zu kaufen, der als Begräbnisstätte fur Pilger dienen soll. Am Ende des Textes, im Kontext der Zerstörung des Tempels, ist nochmals darauf Bezug genommen: So wie Jesus um 30 Silberlinge verraten wurde, so werden nun 30 gefangene Juden um jeweils einen Pfennig verkauft. 40

39

Ü b e r b l i c k zu d e n P i l a t u s l e g e n d e n bei JOACHIM KNAPE: . P i l a t u s ' . In: D i e d e u t s c h e Literatur d e s M i t t e l a l t e r s 7 ( 2 1 9 8 9 ) , Sp. 6 6 9 - 6 8 2 . Z u r P i l a t u s f i g u r JEAN-PIERRE LÉMONON: P o n c e P i l a te: d o c u m e n t s p r o f a n e s , N o u v e a u T e s t a m e n t et t r a d i t i o n s e c c l é s i a l e s . In: A u f s t i e g u n d N i e d e r g a n g d e r r ö m i s c h e n W e l t . G e s c h i c h t e u n d K u l t u r R o m s i m S p i e g e l d e r n e u e r e n F o r s c h u n g . Tl. II: P r i n c i p a t . B d . 2 6 (1. T e i l b d . ) R e l i g i o n . H r s g . v o n WOLFGANG HAASE, B e r l i n , N e w Y o r k 1 9 9 2 , S. 7 4 1 - 7 7 8 ; BETTINA MATTIG-KRAMPE: D a s P i l a t u s b i l d in d e r d e u t s c h e n B i b e l - u n d L e g e n d e n e p i k d e s M i t t e l a l t e r s . H e i d e l b e r g 2 0 0 1 ; ANDREAS SCHEIDGEN: D i e G e s t a l t d e s P o n tius P i l a t u s in L e g e n d e , B i b e l a u s l e g u n g u n d G e s c h i c h t s d i c h t u n g v o m M i t t e l a l t e r b i s in d i e f r ü h e N e u z e i t . F r a n k f u r t a. M . 2 0 0 2 ( M i k r o k o s m o s 68).

40

V g l . a u c h LEOPOLD KRETZENBACHER: „ V e r k a u f t u m d r e i ß i g S i l b e r l i n g e " . A p o k r y p h e n u n d L e g e n d e n u m d e n J u d a s v e r r a t . In: S c h w e i z e r i s c h e s A r c h i v f u r V o l k s k u n d e 5 7 ( 1 9 6 1 ) , S. I - I 7 ; MARJATTA WIS: D i e d r e i ß i g S i l b e r l i n g e . In: N e u p h i l o l o g i s c h e M i t t e i l u n g e n 71 ( 1 9 7 0 ) , S. 6 9 9 - 7 0 9 ; BLUMENBERG ( A n m . 18), S. 1 8 6 - 1 9 1 ; DIECKMANN ( A n m . 2 3 ) , S. 1 0 7 - 1 1 8 .

54

Christian K i e n i n g

Die Prinzipien, um die es Rothe geht, sind deutlich: einerseits der göttliche Plan in der menschlichen Geschichte, andererseits der Verrat der Juden. Der göttliche Plan wird am scheinbar Nebensächlichen sichtbar gemacht. Die Zirkulation der Silberlinge als eines paradigmatischen Kulturprodukts enthüllt Heilsgeschichte in nuce: der Weg des Volkes Israel, der Übergang vom Alten zum Neuen Bund, die Beziehung zwischen Urmenschenpaar und Neuem Menschen - die Genealogie erzählt, im weiten Bogen zwischen den beiden Äckern und der dreimaligen ,Einkehr' des Geldes im Tempel, von den verschlungenen Wegen des Heils. Das verbindet sie mit den Geschichten von Judas und Pilatus. Auch diese spielen ihre Rolle im Heilsplan, eine verwerfliche und doch notwendige. Die verwerfliche auszumalen lässt Rothe keine Möglichkeit aus: Er schildert den beständigen Konflikt zwischen Pilatus und den Juden und zeigt dadurch beide in negativem Licht. Die notwendige bleibt auch bei ihm überwiegend implizit; nur im Blick auf die Geschichte der Silberlinge macht er die göttliche Providenz explizit. Das ist kein Zufall: Eben dort, wo die Heilsgeschichte an einem auratischen Objekt betrachtet wird, wo das mythische Prinzip zu dominieren scheint, wo vorgeführt wird, wie ein Ursprung über die Zeiten hinweg seine materielle Präsenz behält, dort wird die theologische Sicherung wirksam, die das mythische Schema durch providentielle Geschichtsmächtigkeit überformt. Rothes Text ist in dieser Hinsicht ein Lehrstück. Seine vier Teile sind so um Leben und Passion Christi herum geordnet, dass sie diese nur en passant streifen und doch konturieren - durch Geschichten des Davor und des Danach, Geschichten, die die Größe des Heilswerks gerade im Blick auf die hervortreten lassen, die sie nicht begreifen und doch ermöglichen. Obschon der thüringische Chronist die Ereignisse historisch präzise situiert, zielt er nicht schlicht auf die Historisierung, sondern in perspektivischer Auffächerung auf den Mythos der notwendigen Negativität. Er zeichnet sich selbst dort ab, wo die traditionelle theologische Hermeneutik im Vordergrund steht, wo also beispielsweise die in der Geschichte implizierte Parallele zwischen Judas und Moses expliziert wird. Rothe entfaltet diese Parallele systematisch im Blick auf die Jugendgeschichte der Figuren, ihre Bedeutung für das jüdische Volk und ihre Rolle im Heilswerk. Er bezieht den Verräter Christi typologisch auf eben den, der im Mittelalter meist selbst als Typus Christi galt, und stellt ins Zentrum den Gedanken: was der eine der beiden gotis botin (v. 275) den Juden gewonnen habe, habe der andere verwirkt. Beide sind sie also Repräsentanten entscheidender Punkte in der Geschichte des Alten Bundes, und beide sind sie bezogen auf den Heilsbringer Christus - wobei auch hier die Funktion des Judas für die beginnende Geschichte des Neuen Bundes unausgesprochen bleibt. Der Mythos der notwendigen Negativität schreibt sich fort in den Konstellationen, hier in jener Dreieckskonstellation, die auch Judas in mehrfacher Hinsicht ans Heilswerk bindet.

Arbeit a m A b s o l u t i s m u s des M y t h o s

55

Diese Fortschreibung dehnt sich auch auf die Pilatus-Geschichte aus. Rothe erzählt von den Schwierigkeiten, die sich nach dem Tod des römischen Statthalters mit dessen Leiche ergeben. Zunächst wirft man sie in die Rhone, wo aber die Dämonen ihr Spiel mit ihr treiben, Stürme verursachen und Schiffe zum Untergang bringen. Sodann versucht man sie bei Lausanne tief unter der Erde zu begraben, erneut mit negativen Folgen: Die Dämonen lassen Steine umherfliegen, Hagel und Unwetter über die Felder kommen. Schließlich versenkt man sie auf dem Grund eines Gebirgssees, doch kommt es weiterhin zu Unruhe, Unwettern und Todesfallen. Der Herzog von Österreich lässt ein Kloster in der Nähe bauen und die Mönche durch ihre Gebete der Macht der Dämonen entgegenwirken. Die Gefährdung indes bleibt - bis in die eigene Gegenwart hinein, wie Rothe betont. Es geht hier um mehr als nur eine geschichtsschreiberische Namensätiologie des bei Luzern gelegenen Pilatusberges, der schon im Mittelalter als mons Pilati bekannt war. 41 Es geht darum, die beständige Gefahrdung des Menschen durch das Böse zu zeigen - ein Böses, das in der Leiche des Pilatus einen klaren Ursprung und Bezugspunkt hat, damit aber auch eben jene Gegenwärtigkeit besitzt, die für mythisches Erzählen wichtig ist. Die eine Brücke zwischen Einst und Jetzt genügt zu zeigen: Die Geschichte ist nicht vergangen, sie wirkt fort, weil das Negative, heilsgeschichtlicher Narrativik zufolge, zwar im paradigmatischen Opfer um seinen Universalitätsanspruch gebracht, nicht aber gänzlich überwunden wurde. In Judas und Pilatus wiederholt sich das mit dem Engelsturz angebrochene heilsgeschichtliche Drama und sind zugleich die Bedingungen fur dessen Lösung entworfen. Aber eben nur die Bedingungen. Da die Lösung selbst vorerst ausbleibt, braucht es des Mythos, um von dem zu erzählen, das bis zum Ende der Zeiten, wenn der Heilsplan Gottes auch den Menschen zugänglich würde, eine narrative Evidenz beanspruchen kann, die, so supplementär die Geschichten auch sein mögen, durch keine theologische Stringenz auszulöschen ist.

IV Texte wie diese zeigen: Man darf es sich nicht zu leicht machen mit der sogenannten christlichen Gefangenschaft des Mythos. 42 Man sollte nicht darüber entscheiden wollen, ob ein Text noch oder schon nicht mehr ein Mythos sei. Der historischen Komplexität wird man dadurch nicht gerecht. Auch dort, wo die theologische Deutung, die historische Situierung, die didaktische Geste HERSCHEL: Zur Pilatussage. In: A n z e i g e r für Kunde der deutschen Vorzeit N . F. 11 ( 1 8 6 4 ) , Sp. 3 6 4 - 3 6 9 ; HEINRJCH ( A n m . 38), S. 8 6 - 8 8 . JAUSS ( A n m .

11); M y t h o s in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma R o m s . Hrsg. von

FRITZ GRAF, Stuttgart, L e i p z i g 1 9 9 3 ( C o l l o q u i u m Rauricum 3).

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Christian Kiening

dominieren, können mythische Elemente präsent bleiben - schon deshalb, weil das Verhältnis zwischen göttlichem Plan und menschlichem Handeln in seinem Kern mysteriös blieb, weil Bilder und Geschichten nötig waren zu zeigen, was diskursiv und begrifflich nicht genauso effektvoll zu erfassen war. Die Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte stehen zwar in kommentierendem Verhältnis zu ihrem kulturellen Prätext, doch der Kommentar bedient sich seinerseits der Bilder, Geschichten und mythischen Absolutismen. Sie arbeiten zwar zweifellos in dem Sinne am Mythos, dass sie dessen Härten und Sprünge abzugleichen versuchen. Sie partizipieren aber auch an ihm, suchen seine Faszination in der Umschrift zu bewahren. Dies allerdings vollzieht sich in durchaus unterschiedlicher Weise. Im Falle von Adam und Eva geht es um die Anfänge der Menschheitsgeschichte, von denen vor biblischem Horizont zu erzählen immer auch hieß, Kontinuitäten zu stiften dort, wo der biblische Text radikale Brüche gesetzt hatte: im Verhältnis zwischen dem paradiesischen und dem nachparadiesischen Zustand. Im Falle von Judas geht es um die Neuanfänge der christlichen Geschichte, von denen zu erzählen zugleich die Möglichkeit bot, den Ursprung einer radikalen kulturellen Differenz mit heilsgeschichtlicher Dignität zu versehen. In beiden Fällen ist die Erzählung geprägt von der Spannung zwischen dem göttlichen Wollen und der menschlichen Schwäche, zwischen der Macht des Bösen und seiner Domestizierung, zwischen der Erhabenheit des Ursprungs und der Distanz zu ihm.43 Und in beiden Fällen ist es die Kategorie des Opfers, der Preisgabe des Menschen an die Geschichte und der Erlösung aus ihr, die es erlaubt, Gott und Mensch in eine Beziehung zu setzen, die wiederum die jeweilige Erzählung, oszillierend zwischen Nachschrift, Umschrift und Neuschrift, performativ entfaltet. Es dürfte wichtiger sein, diese Formen narrativer Vergegenwärtigung und performativer Entfaltung analytisch zu beschreiben, als Festlegungen vorzunehmen, wie auch immer abgeleitet, vermittelt und vermindert bestimmte mythische Restbestände seien. Mit der Distanz zu einer Theologie, die den wahren Glauben nur sichern zu können meinte, indem sie seine narrativen Verkleidungen in religiöse Botschaften zurückverwandelte,44 wird auch der Blick frei für die genuine Leistung des Unbegrifflichen, fur das Zusammenspiel von Konkretem und Abstraktem, für die kulturelle Wirksamkeit des Ambivalenten. Die Arbeit am Mythos zu Ende zu bringen oder die Rede von der Arbeit am Mythos zu Ende zu bringen45 - das sind nicht die Alternativen für

44 45

Zur Paradoxie des Ursprungs KLAUS HEINRICH: Parmenides und Jona. Basel, Frankfurt a. M. 3 1992, S. 9-28: Die Funktion der Genealogie im Mythos. Vgl. Anm. 12. BLUMENBERG, Arbeit (Anm. 9), 291-326; ODO MARQUARD: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie. In: Philosophie und Mythos. Hrsg. von HANS POSER, Berlin,

Arbeit am Absolutismus des Mythos

57

eine historische Kulturwissenschaft. Sie hat, ohne Denkgewohnheiten zu verfallen, deren Logiken zu rekonstruieren: Logiken des Sowohl-als-auch, des Hin und Her, des Gegen und Mit in ihrer jeweiligen Historizität. In diesem Sinne hat die Auseinandersetzung mit der Rolle des Mythischen im angeblich mythenfeindlichen Kontext erst begonnen.

New York 1979, S. 40-58; wieder in: Ο. M: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1981 (RUB 7724), S. 91-116.

CHRISTOPH PETERSEN (Universität München)

Mythische Variante Die narrative Soteriologie des Descensus Christi

Mythisches Denken, verstanden als eine symbolische Ordnung sui generis, als distinkte ,Art und Form der Objektivierung" von Welt 1 , existiert in geschichtlicher Zeit allein in Residualform, abgedrängt in kulturelle Sonderräume von mehr oder minder begrenzter Ausdehnung. Dass mythisches Denken kulturgeschichtlich gleichwohl nicht als obsolet, als zur „künftigen Aufhebung" anstehend 2 angesehen werden kann, macht es nötig, die Funktionalität mythischer Residuen in einem nicht-mythischen kulturellen Kontext zu bestimmen. BLUMENBERG stellte eine solche Funktionalität unter das Zeichen eines spezifischen Wirkungspotentials des Mythos, auf das er dessen aktualisierende Rezeption zurückführte. 3 Der folgende Versuch knüpft an das Konzept eines solchen Wirkungspotentials an, ohne dessen psychologisch-anthropologische Begründung bei BLUMENBERG ZU übernehmen. Statt die aktualisierende Rezeption des Mythos auf die wiederkehrende Modulation terroristischer Realitätserfahrung in das ästhetische Spiel mythischer Erzählung zurückzufuhren, versuche ich sie im Sinne einer integrierten Alternative zu beschreiben: Die Aktualität mythischen Denkens soll in einem kulturellen Kontext historisch verortet werden, in dem es als Variante eines anderen Denkens fungiert. Angewandt wird das Konzept der mythischen Variante auf einen Bereich, der im Mittelalter - gemessen an seinen in der frühen Neuzeit entstandenen Verhärtungen - von hoher Integrationskraft war und sich insofern für eine Funktionsbestimmung mythischen Denkens als Variante von vornherein eignet: auf den Bereich der Religiosität. Innerhalb dieses Bereichs wiederum stellt der Des1

ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Oxford 1924, S. 19.

2 3

Ebd., S. 33. HANS BLUMENBERG: Arbeit am Mythos. Sonderausgabe nach der 3., erneut durchgesehenen Aufl. Frankfurt a. Μ. 1996; dazu DERS.: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von MANFRED FUHRMANN, München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66.

60

Christoph Petersen

census Christi ad inferos einen prominenten, als Forschungsfeld zudem einschlägig etablierten Erprobungsgegenstand dar. In der scholastischen Theologie wurde der Descensus weitestgehend marginalisiert. Vorgefunden und weiter diskutiert wurde eine Position, die ihn der Passion funktional strikt unterordnete: Im Descensus habe Christus die am Kreuz vollendete Erlösung auch an die im Limbus patrum sitzenden vorchristlichen Gerechten (iusti) kommuniziert.4 In Folge dieser Unterordnung wurde er dann an den Rand seiner Negation gespielt und wiederum vor seiner manifesten Redundanz bewahrt. In der Erlösungslehre Anselms von Canterbury besaß der Teufel keine systemrelevante Bedeutung mehr, und entsprechend erwähnt Anselms Cur Deus homo auch den Descensus mit keinem Wort nicht einmal dort, wo er von der Notwendigkeit der Erlösung Adams und Evas handelt.5 Wo Heilsgeschichte im Zeichen von Satisfaktion konzipiert wird, hat der Descensus keinen Ort mehr. Die weitere Beschäftigung mit ihm war von der Tatsache bestimmt, dass der Abstieg Christi in die Unterwelt fester Bestandteil des Glaubensbekenntnisses war.6 Abaelard erklärte die DescenditFormel im Sinne eines Abstiegs secundum effectum: ,Man sagt, dass die Seele Christi in die Unterwelt gestiegen sei, weil die vorchristlichen Gerechten die Wirkkraft der Passion, durch die sie erlöst worden sind, verspürt haben' {Ipsa quoque anima [...] ad inferos dicitur descendisse, quia passionis illius efficaciam justi senserunt antiqui per earn a poenis liberati)? Der Descensus wird nominalisiert, indem die Vorstellung vom Abstieg der Seele Christi lediglich als Umschreibung dafür verstanden wird (dicitur descendisse, quia ...), dass die , Wirkkraft der Passion' auch die Gerechten erreicht hat. Abaelards radikale Descensus-Deutung wurde auf der Synode von Sens verurteilt und gewann auch später keinen bestimmenden Einfluss.8 Maßgeblich war vielmehr eine Position, in der die Eigenständigkeit des Descensus als eines Heilsaktes bewahrt werden konnte. Logisch fundiert findet sich die Position bei Thomas von Aquin: Die Passion als allgemeine Ursache fur das menschliche Heil (causa universalis humanae salutis) werde jeweils über etwas Besonderes zu ihren

4

Zur t h e o l o g i s c h e n D i s k u s s i o n des D e s c e n s u s vgl. detailliert MARKWART HERZOG: D e s c e n s u s ad inferos. Eine r e l i g i o n s p h i l o s o p h i s c h e Untersuchung der M o t i v e und Interpretationen mit besonderer B e r ü c k s i c h t i g u n g der monographischen Literatur seit d e m 16. Jahrhundert. Frankfurt a. M . 1 9 9 7 (Frankfurter theologische Studien 53); als Überblick über Grundlagen und D e u t u n g s g e s c h i c h t e vgl. ERNST KOCH: .Höllenfahrt Christi'. In: T R E 1 5 ( 1 9 8 6 ) , S. 4 5 5 ^ 6 1 .

5

A n s e l m von Canterbury: Cur Deus

homo.

Besorgt u. übersetzt v o n FRANCISCUS SALESIUS

SCHMITT O S B , Darmstadt 1956,11,16. 6

S o ausdrücklich bei Johannes D u n s Scotus, vgl. HERZOG ( A n m . 4 ) , S. 54. Zur

Descendit-

F o r m e l i m Glaubensbekenntnis vgl. FERDINAND KATTENBUSCH: Das a p o s t o l i s c h e S y m b o l . S e i n e Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche S t e l l u n g im Kultus und in der T h e o l o g i e der Kirche. Bd. 2. Leipzig 1900 (Nachdr. Darmstadt 1 9 6 2 ) , S. 8 9 5 - 9 1 5 . 7

Petrus Abaelardus: Expositio

8

Vgl. HERZOG ( A n m . 4 ) , S. 8 1 - 8 3 .

symboii

Apostolorum.

In: PL 178, Sp. 6 1 7 - 6 3 0 , hier Sp. 6 2 6 .

Mythische Variante

61

einzelnen Wirkungen gebracht (Causa [...] universalis applicatur ad singulares ejfectus per aliquid speciale)·, deshalb sei die Kraft der Passion, die den Christen durch die Sakramente vermittelt werde, den vor Christus Gestorbenen durch den Descensus vermittelt worden (Onde, sicut virtus passionis Christi applicatur viventibus per sacramenta [...], ita etiam applicata est mortuis per descensum Christi ad inferos)? Durch seine Analogisierung mit dem kirchlichen Sakrament, die es schon Petrus Lombardus ermöglichte, den Descensus selbst als sacrament[um] zu bezeichnen 10 , wird der Abstieg Christi als eigener Heilsakt in Einklang gebracht mit seiner funktionalen Unterordnung unter die Passion: Er mediatisiert deren Wirkung. Dass der Descensus jedoch ungeachtet dieser Marginalisierung eine immense Rezeption im Mittelalter erfuhr, deutet darauf hin, dass er einen spezifischen Anhaltspunkt fur ein Interesse bot, das die scholastische Theologie hinter sich ließ und deshalb auch nicht bedienen konnte. Im Blick auf das geistliche Spiel wurde diese Annahme von WARNING analytisch fruchtbar gemacht, indem er das Interesse des Spiels am Descensus im Sinne eines systemtheoretischen Funktionsmodells auf die ,J~1ereinnähme von Ausgegrenztem, die Positivierung von Negativität" zurückführte"; in diesem Modell erscheint die Höllenfahrtsszene als erstrangiges Symptom einer im Spiel veranstalteten „monumentalen Remythisierung der Heilsgeschichte". 12 Zentral fur WARNINGS Bewertung des Descensus als eines Mythos ist dabei seine dualistische Konstellation und deren Divergenz gegenüber der von Paulus über Augustin zu Anselm wesentlich antidualistisch konzipierten Erlösungstheologie. 13 Indes ist Dualismus zwar eine christlich-theologische Kontraposition, doch noch nicht mythisch. Und auch die Tatsache, dass die Vorstellung vom Descensus Christi im kulturellen Kontext ihrer Entstehung einem Arsenal analoger Vorstellungen anderer Religionen eingefügt war 14 , macht den Dualismus des Descensus im Mittelalter, das dieses Arsenal vergessen oder zum imaginativen Bildspender verfestigt hatte, nicht zum mythischen Signal. Eine Bestimmung des Descensus als eines Mythos, die den kulturellen Kontext seiner Rezeption einbezieht, muss an dem Wirkungspotential ansetzen, das der Descensus in diesem Kon9

10

" 12 13 14

Thomas von Aquin: Summa theologica I—III. Lat. u. Dt. Hrsg. vom Katholischen Akademieverband der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln. Bd. 28, Heidelberg u. a. 1956, III q. 52 a. 1 ad 2. Magistri Petri Lombardi [...] Sementine in IV libris distinctae. Bd. 2. Grottaferrata 3 1981 (Spicilegium Bonaventurianum 5), III dist. 25 cap. 3. Nach HERZOG (Anm. 4), S. 288, geht die Analogisierung mit dem Eucharistiesakrament auf Rupert von Deutz zurück. RAINER WARNING: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), S. 32. Ebd., S. 31; zur Funktion der Höllenfahrtsszene S. 57-78. Ebd., S. 162-184. Vgl. JOSEF KROLL: Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampfe. Leipzig, Berlin 1932 (Studien der Bibliothek Warburg 20) (Nachdr. Darmstadt 1963).

Christoph Petersen

62

text besaß. Der Bestimmung dieses Potentials lege ich im Folgenden nicht wie WARNING das Modell systemtheoretischer Funktionsoppositionen zugrunde, sondern das Konzept der Variante. Der Descensus Christi, so die These, ist im Mittelalter abseits der scholastischen Theologie als mythische Variante des Erlösungsdogmas rezipiert worden. Ansatzpunkt ist dabei eine zentrale Essenz des Descensus, die mit seiner dualistischen Konstellation verbunden ist: seine Narrativik.15 In der Descensus-Erzählung, die das apokryphe Nicodemus-Evangelium dem Mittelalter tradierte16, wird die Unterordnung des Höllenabstiegs unter die Passion konterkariert, indem hier das, was am Kreuz bereits erreicht ist, anschließend neuerlich ausagiert wird: Die Macht von Tod und Teufel wird gebrochen, nun in einer Konfrontation zwischen Christus und dem Widersacher.17 Nach dem von Satan berichteten Tod Christi (Cap. IV) ertönt eine Stimme in der Unterwelt, welche die Öffnung der Höllentore verlangt - Tollite portas principes vestras, et elevamini portae aeternales, et introibit rex gloriae (V,l). Die Unterwelt mobilisiert jedoch ihren Widerstand: Satan wird von Inferus, der personifizierten Unterwelt, zum Kampf gegen den Ankömmling ausgeschickt (si tu es praeliator potens, pugna adversum regem gloriae, ebd.); die Tore werden verriegelt und die Handlanger der Unterwelt zur Gegenwehr aufgerufen (Claudite portas crudeles, aereas et vectes ferreos supponile et fortiter resistite, ebd.). Nach der zweiten Aufforderung Tollite portas (V,3) erscheint nun Christus, zerbricht die Tore (ebd.), tritt den personifizierten Tod nieder (VI,2), ergreift Satan und übergibt ihn der ewigen Verwahrung durch Inferus (ebd. u. VII). Dann werden die Gerechten befreit und ins Paradies geführt (Vili u. IX). Die Erzählung ist ein Paradebeispiel für das, was LOTMAN einen sujethaltigen Text genannt hat18: Christus überschreitet die klassifikatorische Grenze des Höllentores und verändert die Ordnungsnormen der erzählten Welt, indem er Satan entmachtet und die Gerechten befreit. Aufgrund ihrer Sujethaltigkeit ist die Descensus-Erzählung narratologisch unabhängig von der Erlösung am 15

Ich schließe hierin an an B R U N O Q U A S T : Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Habil. München 1999 (erscheint Tübingen, Basel 2004 [Bibliotheca Germanica 48]), S. 61-156.

16

Evangelia apocrypha. Hrsg. von K O N S T A N T I N V O N T I S C H E N D O R P . 2., vermehrte Aufl. Leipzig 1876 (Nachdr. Hildesheim 1966), S. 389-416 (lat. Α-Redaktion) u. 417^t32 (lat. BRedaktion). Zur mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte vgl. den umfassenden Überblick: The Medieval Gospel of Nicodemus. Texts, Intertexts, and Contexts in Western Europe. Hrsg. von Z B I G N I E W I Z Y D O R C Z Y K , Tempe/Az. 1997 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 158).

17

Das Folgende wird zitiert nach der lateinischen Α-Redaktion (Anm. 16); zu relevanten Abweichungen der B-Redaktion siehe unten. J U R I J M. L O T M A N : Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von R O L F - D I E T R I C H K E I L . München 2 1 9 8 6 (UTB 1 0 3 ) , S. 3 3 8 ; zur Sujethaltigkeit der Descensus-Erzählung vgl. auch

18

QUAST (Anm.

15), S.

132.

Mythische Variante

63

Kreuz: In der Entwicklung des Sujets wird Erlösung an die Grenzüberschreitung gebunden, nicht an den Kreuzestod. Relevanz besitzt der Tod lediglich im Rahmen einer Semantisierung der Ausgangssituation für das sujetkonstituierende Ereignis: Christi Fähigkeit zur Grenzüberschreitung sowie zur Entmachtung Satans und Befreiung der Gerechten wird mit der Kreuzigung begründet der Tod öffnet den Weg in die Unterwelt 19 , das Leiden ermächtigt zum Sieg. 20 Im Sujet der Descensus-Erzählung wird somit eine Vorstellung von Erlösung entfaltet, die dem Erlösungsdogma geradewegs entgegensteht: Erlöst werden die Gerechten nicht durch das Kreuzesopfer, sondern dadurch, dass Hölle und Teufel dem Gott in einer Konfrontation unterliegen. Die Descensus-Erzählung modelliert christliche Erlösung nach einer archetypischen Vorstellung: als Sieg im Kampf. 21 Die B-Redaktion des Evangeliums profiliert diese Vorstellung noch schärfer, indem sie einerseits die Hinführung der Gerechten ins Paradies auf eine Nebenbemerkung kürzt (IX,2), andererseits die Semantisierungen der Grenzüberschreitung und der Entmachtung Satans erweitert. Die zweimalige Aufforderung Tollite portas wird zur Trigemination gesteigert (11,1 u. VII,1 u. 3), die Zerstörung des Höllentores wird ausgemalt (VIII); vor allem die Auseinandersetzung mit Satan findet Interesse: Christus legt ihn in Ketten, setzt

So wird es im Gespräch zwischen Satan und Inferus vor der Ankunft Christi angesprochen (Praepara temetipsum suscipere Iesum ... und ... in proximo est eius mors, ut perducam eum ad te ..., IV,1 u. 2). So unterstreicht es auch die Abfolge der drei im Text erzählten Ankünfte in der Unterwelt: zunächst des Simeon (supervenit [...] Simeon, 11,2), dann Johannes' des Täufers (supervenit quasi heremicola, 11,3), schließlich Christi (supervenit in forma hominis dominus maiestatis, V,3). Forsitan tu es ille lesus, befürchten die Dämonen, de quo princeps noster Satan dicebat quod per mortem tuam crucis totius mundi potestatem accepturus esses (VI,1). Und Christus verkündet den Seelen: Qui per lignum et diabolum et mortem damnati fuistis, modo videte per lignum damnatum diabolum et mortem (VIII, 1). Mit dem Begriff Archetyp verbinde ich weder seine Verankerung in einem kollektiven Unbewussten (CARL GUSTAV JUNG) noch seine Funktionsbestimmung als Erklärungsmodell literarischer Strukturen (NOTHROP FRYE). Als archetypisch gilt mir eine Vorstellung, die sich der gültigen Prägung durch eine symbolische Ordnung entzieht. Die Vorstellung vom Sieg im Kampf kann auf unterschiedliche symbolische Ordnungen (etwa den christlichen Erlösungsglauben) angewandt werden und diese Ordnungen spezifizieren; doch sie selbst wird durch eine solche Anwendung nicht spezifiziert. - Die Archetypik der Erlösungsvorstellung in der Descensus-Erzählung wird dadurch unterstrichen, dass die christliche Überlieferung zwei Entsprechungen zum Descensus-Sieg kennt: den Sturz Luzifers am Beginn der Zeit (Is 14,12; Le 10,18) und die Niederwerfung des Teufels in der Endzeit (Ape 20,1-3 u. 10); Synthetisierungen der drei Vorstellungen sind auch belegt (vgl. JEF JACOBS: Der Descensus ad inferos als Bericht und Exempel in frühmittelhochdeutscher religiöser Dichtung. In: ABäG 26 [1987], S. 17-34, hier S. 28f ). Die Archetypik spiegelt sich femer darin, dass der christliche Descensus Analogien zu anderen Descensus-Vorstellungen besitzt (vgl. KROLL [Anm. 14]) und dass in seiner Rezeption diese Analogien wieder aufgerufen (vgl. HERZOG [Anm. 4], S. 9 7 - 1 2 6 ) bzw. neue Analogien gebildet (vgl. QUAST [Anm. 15], S. 151-153) werden können.

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Christoph Petersen

einen Fuß in seinen Rachen, während er ihn verflucht, und stürzt ihn in den Abgrund der Hölle (ebd.). Die Descensus-Erzählung entfaltet aber nicht nur eine dem Dogma entgegenstehende Vorstellung von Erlösung, sondern stellt diese Vorstellung auch in eine Zeitstruktur, die mit der Zeit der biblisch verbürgten Erlösungsgeschichte konkurriert. Die Handlung setzt ein mit dem plötzlichen Aufscheinen eines Lichts (subito factus est aureus solis calor pupureaque regalis lux, ARed., 11,1), auf das Adam und die Propheten sogleich (statim, ebd.) ihre Erlösungshoffhung gründen. Während ihres Jubels (et cum exsultaremus ..., 11,2) erscheint Simeon und berichtet von der Darbringung Jesu im Tempel (ebd.). Danach (Et posthaec ..., 11,3) erscheint Johannes der Täufer, berichtet von Jesu Taufe und verkündet, dass der Erlöser demnächst ankommen werde (in proximo est visitare nos, ebd.). Während des erneuten Jubels der Seelen (Et cum exultarent ..., IV,1) tritt Satan auf, zitiert Christi Gebet in Gethsemane (ebd.) und berichtet von seinem bevorstehenden Tod (in proximo est eius mors, IV,2). Während des anschließenden Gesprächs mit Inferus (Et cum haec ad invicem loquerentur ..., V,l) ertönt dann wiederum plötzlich (subito) die Stimme, die das Öffnen des Höllentores verlangt (ebd.), und die Erlösung nimmt ihren Lauf. Die Erzählung ruft anhand einzelner Stationen die gesamte Vita Christi von Geburt bis Tod auf22 und synchronisiert sie mit der Zeit des Descensus, deren Voranschreiten durch ein episches ,und', .sogleich', .plötzlich', ,danach', .während' strukturiert und an den erzählten Bewegungen im Unterweltsraum orientiert ist. Die historische Zeit der Vita Christi wird dem Chronotopos23 der Höllenfahrt anverwandelt. Dessen Zielpunkt ist jedoch nicht das Kreuz, sondern der archetypische Erlösungssieg. So konstruiert die Descensus-Erzählung eine Erlösungsgeschichte, die mit der biblischen Geschichte konkurriert - eine Variante, die auf die Frage nach dem Ziel dieser Geschichte eine andere Antwort gibt. Diese Antwort erlangt Evidenz in der Erzählfolge des Descensus-Sujets24, so dass die Frage nach dem Ziel der Erlö-

D a s Erscheinen des Lichts kann als Zeichen fur die Geburt verstanden werden g e m ä ß Lc 1,78f. : visitavit legt

ist

nos oriens

dieses

ex alto inluminare

Verständnis

in

einer

his qui in tenebris

et in umbra

spätmittelalterlichen

sedent.

Be-

Descensus-Adaptation;

mortis

vgl.

IZYDORCZYK ( A n m . 1 6 ) , S . 7 2 .

MICHAIL M . BACHTIN: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg.

von

EDWARD

KOWALSKI/MICHAEL

WEGNER.

Aus

dem

Russischen

von

MICHAEL

DEWEY. Frankfurt a. M . 1989 (Fischer W i s s e n s c h a f t ) , S. 7f. D i e B e g r i f f s v e r w e n d u n g folgt HARALD WEINRICH: Structures narratives du mythe. In: Poétiq u e s 1 ( 1 9 7 0 ) , S. 2 5 - 3 4 , hier S. 29: „L'ordre des é v é n e m e n t s m y t h i q u e s réside tout entier dans la s é q u e n c e narrative, sans b e s o i n de faire intervenir la causalité"; vgl. dazu WARNING ( A n m . 11), S. 68.

Mythische Variante

65

sungsgeschichte in der Bündigkeit ihrer Antwort verstummt. 25 Die DescensusErzählung transformiert die biblische Geschichte in einen Mythos. Vom theologischen Diskurs des Mittelalters wird dieser Erlösungsmythos freilich historisch eindeutig fixiert, und zwar dadurch, dass seine Wirkung begrenzt wird. Denn anders als die Passion, deren Wirkung die Kirche institutionell perpetuierte, galt die Befreiung der vorchristlichen Gerechten als ein einmalig wirkender, in der Vergangenheit zu Ende gekommener Akt. Aus dieser Perspektive stellt die Descensus-Erzählung einen die kanonischen Evangelien ergänzenden historiographischen Bericht dar; als solcher ist sie schon im Nicodemus-Evangelium inszeniert 26 , und als solcher wurde sie auch 27 im Mittelalter rezipiert. Der theologische Diskurs arretiert den Erlösungsmythos in einem von der Gegenwart abgeschnittenen .Damals' und stellt auf diese Weise sein Wirkungspotential still. Die mittelalterliche Rezeption der Descensus-Erzählung zeigt nun aber ebenso, dass die historische Arretierung des Mythos wiederum aufgehoben und sein Wirkungspotential aktiviert worden sind. Ich bestimme zunächst den genaueren Kontext, in dem dieses Potential zum Tragen kam, um dann die Verfahren seiner Aktivierung beispielhaft zu beschreiben. Die Descensus-Erzählung stellt einen möglichen Artikulationsraum fur eine Vorstellung bereit, die im Mittelalter ubiquitär ist: die Vorstellung vom Erlösungssieg, von der victoria Christi. Die Vorstellung ist als metaphorisches Interpretament des Erlösungsdogmas zu verstehen: Erlösung wird als victoria gedeutet. In der näheren Explikation der Metapher, die auch weitere Begriffe des mit victoria eröffneten semantischen Feldes einbezieht {bellum, pugna, vindicta usw.), wird dann auch derjenige aufgerufen, gegen den der Kampf ausgefochten, über den der Sieg errungen worden ist: der Teufel. In der theologisch-diskursiven Explikation der Metapher ist der Teufel dabei selbst wiederum als Metapher fur Abstrakta wie Tod, Sünde, Schuldverhaftung usw. zu verstehen, so dass die Vorstellung vom Erlösungssieg auf die biblische Ge-

25

Vgl. ANDRÉ JOLLES: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 7 1999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), S. 97: Der Mythos gibt auf eine Frage eine Antwort derart, „daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frage erlischt; diese Antwort ist entscheidend, sie ist bündig."

26

In der erzählerischen Rahmung des Descensus-Berichts veranlassen die Hohenpriester zwei aus der Unterwelt befreite Augenzeugen, die Ereignisse niederzuschreiben (I); nach der Niederschrift werden die Ereignisse auch Pilatus übermittelt, der sie ebenfalls aufschreiben lässt (XI) und schließlich gemeinsam mit dem Bericht über die Passion offiziell verwahrt (XIII).

27

So z. B. bei Vinzenz von Beauvais: Speculum maius Vincentii Burgundi praesulis Bellovacensis. Douai 1624 (Nachdr. Graz 1965), Tl. 4: Speculum historíale VII,58-63 (zu weiterer historiographischer Rezeption vgl. IZYDORCZYK [Anm. 16], S. 81 f.) oder in den mhd. Übertragungen Konrads von Heimesfurt, Gundackers von Judenburg und Heinrichs von Hesler (vgl. WERNER J. HOFFMANN: The Gospel of Nicodemus in high German literature of the middle ages. In: IZYDORCZYK, S. 287-336, hier S. 288-302).

Christoph Petersen

66

schichte rückfíihrbar bleibt, das bellum und die victoria mit dieser Geschichte also kompatibel sind. Dem Versuch jedoch, die victoria Christi nicht diskursiv, sondern narrativ zu explizieren, d. h. durch einen Plot zu vermitteln, stellt die Passion zwei unhintergehbare Probleme entgegen: Am Kreuz hat der Teufel keinen Platz; und der Tod, der als Zeichen der Niederlage evident ist, kann mittels eines Plots nicht zum Zeichen des Sieges gemacht werden. Als Sieg kann die Passion zwar interpretiert, nicht aber durch ihre Handlungsfolge plausibilisiert werden. Man kann dies verdeutlichen anhand von Texten, welche die Kreuzigung tatsächlich in einen solchen Plot zu bringen versuchen. Ich gebe zwei Beispiele, die ganz unterschiedliche, im Mittelalter gleichermaßen prominente Verfahren anwenden. Im angelsächsischen Dream of the Rood2*, in dem das Kreuz dem Visionär von der Kreuzigung berichtet, ist die Erlösungsgeschichte in heldenepisches Formelgut gekleidet, heroisch kodiert. Darüber hinaus wird sie aber auch durch Umbesetzungen von Handlungen zur Siegestat umgeschrieben. Der Text etabliert dazu zwei Handlungsstränge, in denen die Zeichen der Passion und die Zeichen des Sieges auf zwei Instanzen verteilt sind, auf das Kreuz und den Erlöser. Das Kreuz wird als Objekt fremdbestimmter Handlungen vorgeführt. Feinde, ,starke' und zahlreiche Feinde' (strange feondas, V. 30; feondas genüge, V. 33), holzen es ab und stellen es auf dem Kreuzigungshügel auf. Eine Gegenwehr des Kreuzes wird zwar als möglich vorgestellt, zugleich aber unterbunden: Wohl hätte es, wie es sagt, .vermocht, die Feinde gänzlich zu fällen' (Ealle ic mihte/feondas gefyllan, V. 37f.), doch ,wagte' es nicht, jemandem von ihnen Schaden zuzufügen' (Ne dorste ic hira nœnigum sceôôan, V. 47). Stattdessen wird hervorgehoben, wie das Kreuz die Marter duldet: .Sie durchbohrten mich mit dunklen Nägeln. An mir sind die Verletzungen sichtbar, / offene Todeswunden' (Purhdrifan hi me mid deorcan nœglum. On me syndon t>a dolg gesiene, / opene inwidhlemmas, V. 46f.); ,ganz mit Blut begossen' (eall mid blöde bestemed, V. 48), ,ganz von Pfeilen verwundet' (eall mid strœlum forwundod, V. 62) steht es da. Höchst einsichtig wird in dieser Handlungsfolge, dass das Kreuz .bitteres Leid' (sarra sorga, V. 80) erlitten habe, dass die Passion ein .schreckliches Schicksal' (egeslic wyrd, V. 74) gewesen sei.

28

Altenglische Lyrik. Engl./Dt. Obersetzt u. hrsg. von ROLF BREUER u. RAINER SCHÖWERLING. 2., durchgesehene u. bibliographisch erweiterte Aufl. Stuttgart 1981 (RUB 7995), S. 62-73. Der zitierte Text ist aus dem 10. Jh. überliefert, eine in Einzelheiten abweichende Teilfassung jedoch bereits auf dem um 700 entstandenen Ruthwell-Kreuz. Die Abweichungen der Fassungen sind für meinen Zusammenhang unbedeutend; zu ihnen vgl. UTE SCHWAB: Exegetische und homiletische Stilformen im Dream of the Rood. In: Geistliche Denkformen in der Literatur

des

Mittelalters.

Hrsg.

von

KLAUS

GRUBMÜLLER/RUTH

SPECKENBACH, M ü n c h e n 1 9 8 4 ( M M S 5 1 ) , S . 1 0 1 - 1 3 0 .

SCHMIDT-WIEGAND/KLAUS

Mythische Variante

67

Parallel dazu gestaltet der Text die Erlösungstat Christi als eine Reihe von selbstbestimmten Akten des Erlösers. Christus, der junge Held' (geong heeled, V. 39), wird nicht zur Kreuzigungsstätte geführt, sondern ,eilt mit großer Tatkraft' heran (efstan eine myele, V. 33f.); er wird nicht entblößt, sondern .entkleidet sich stark und entschlossen' selbst (Ongyrede [...] / sträng ond stiômod, V. 39f.); er wird nicht ans Kreuz geheftet, sondern .besteigt den Galgen, beherzt unter den Augen vieler', selbst (Gestah he on gealgan heanne / modig on manigra gesyhôe, V. 40f.); er hängt nicht am Kreuz, sondern ,umarmt' es (ymbelypte, V. 42). Ebenso wie die Passion des Kreuzes als ein .schreckliches Schicksal' plausibilisiert der Text die Erlösung als einen, wie es heißt, .gewaltigen Sieg' (mielan gewinne, V. 65), indem er die Kreuzigung in einen vom biblischen Bericht abweichenden Plot bringt. Die Umschrift der Kreuzigung versucht, die Vorstellung vom Erlösungssieg narrativ zu explizieren.29 Allerdings wird dieser Versuch nicht konsequent zu Ende geführt, denn der Tod, die Vollendung der Erlösung, ist nicht mehr als selbstbestimmter Akt des Erlösers formuliert und - konsequenter Weise - aus der Folge narrativer Ereignisse überhaupt ausgeklammert.30 Und entsprechend dieser Ausklammerung findet auch die Frage, worin denn eigentlich Christi .gewaltiger Sieg' besteht, in der Handlungsfolge keine Antwort. Sie muss durch ein entsprechendes Vorverständnis bzw. durch diskursiven Nachtrag ergänzt werden, was im Text dann auch geschieht (V. 78-121). Die Geschichte vom Erlösungssieg am Kreuz

9

30

Es greift meiner Ansicht nach zu kurz, diese Umschrift lediglich als Akkommodation der Historia Christi an germanische Dichtungstraditionen zu fassen, wie man sie vor allem anhand des Heliand beschrieben hat; im Dream of the Rood dient die heroische Kodierung der Kreuzigung der narrativen Umsetzung einer Vorstellung, die von germanischer Heldenepik unabhängig ist. - Zum Begriff vgl. JOHANNES RATHOFER: Der Heliand. Theologischer Sinn als tektonische Form. Vorbereitung und Grundlegung der Interpretation. Köln, Graz 1962 (Niederdeutsche Studien 9); KLAUS GANTERT: Akkommodation und eingeschriebener Kommentar. Untersuchungen zur Übertragungsstrategie des Helianddichters. Tübingen 1997 (ScriptOralia 111); zum Dream of the Rood. BERNHARD F. HUPPÉ: The Concept of the Hero in the Early Middle Aes. In: Concepts of the Hero in the Middle Ages and the Renaissance. Papers of the fourth and fifth annual Conferences of the Center for Medieval and Early Renaissance Studies, State University of New York at Binghamton, 2 - 3 May 1970, 1 - 2 May 1971. Hrsg. von NORMAN T. BARNS/CHRISTOPHER J. REAGAN, Albany/NY 1975, S. 1 - 2 6 , hier S. 7f. Der Tod Christi wird zwar als ,des Königs Fall' (cyninges fyll, V. 56) bezeichnet, also ebenfalls heroisch kodiert, ist aber nicht Bestandteil der erzählten Handlungsfolge. Erwähnt wird der Tod nicht als Ereignis auf der narrativen histoire-Ebene, sondern allein als Gegenstand diskursiver (klagender) Reflexion (V. 50-56). - In der Kreuzigungsgeschichte des Heliand ist umgekehrt einzig der Tod als ein selbstbestimmter Akt des Erlösers formuliert (Heliand und Genesis. Hrsg. von OTTO BEHAGHEL. 10., überarbeitete Aufl. von BURKHARD TAEGER, Tübingen 1996 [ATB 4]). Das biblische Kreuzeswort in manus tuas commendo spiritum meum (Lc 24,46; Heliand V. 5654-56) wird als performativer Sprechakt gedeutet, mit dem Christus seinen Geist aufgibt (V. 5657f ), um sich weiteren Grausamkeiten am Kreuz zu entziehen: furdor ni uuelda / is só bittres anbitan (V. 5652f.; vgl. auch V. 5699-5703).

68

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kommt nicht im Tod selbst, sondern erst im Kommentar, der den Tod als Sieg umzudeuten vermag, zu Ende. In einem Kapitel der Gesta Romanorum wird die Erlösung am Kreuz typologisch auf eine Anekdote bezogen, die von dem Selbstopfer des sagenhaften athenischen Königs Kodros in einem Krieg gegen Sparta berichtet.31 Der Kapitelüberschrift nach (De victoria Christi et caritate ejus nimia) wird durch diese typologische Bezugnahme einerseits die .außerordentliche Liebe' des Erlösers exemplifiziert32 und andererseits die Erlösung am Kreuz als ,Sieg' erzählt. Beide Geschichten werden so präsentiert, dass die wesentlichen Handlungen zur Deckung gebracht sind. Wie Kodros im bevorstehenden Krieg gegen die Spartaner von Apollon, so habe Christus im bevorstehenden Krieg gegen den Teufel von Gottvater erfahren, dass er nur durch seinen Tod siegen werde (quod aliter non vincerei, nisi ipse gladio interiret hostili, Z. 17-19, bzw. quod genus humanum non posset redimi, nisi si ipse moreretur, Z. 25-27). Wie Kodros sich unerkannt in die Schlacht begeben habe, so sei auch Christus in seiner göttlichen Natur unerkannt gekreuzigt worden (mutato regis habitu arma accepit et exercitum penetravit, Z. 20f., bzw. mutavit habitum suum quando naturam humanam assumpsit, Ζ. 28-30). Wie Kodros so habe auch Christus von einem Soldaten einen tödlichen Lanzenstich empfangen (unus militum cum lancea eum usque ad cor penetravit, Z. 21 f. bzw. 30f.). 33 Und nach beiden Opfertaten hätten jeweils beide Parteien - die Athener und die Spartaner, die Apostel und die Teufel - den Tod des Erlösers beklagt (de morte ejus factus est planctus magnus ex utraque populiparte, Z. 23f., bzw. De cujus morte dolor est ex utraque parte, hoc est demones multum dolebant, quod per

Gesta Romanorum. Hrsg. von HERMANN OESTERLEY, Berlin 1872 (Nachdr. Hildesheim 1963), Cap. 41 (40), S. 340, Ζ. 15-35. Zum Erzähl- und Auslegungsverfahren des Textes vgl. BRIGITTE WEISKE: Gesta Romanorum. 2 Bde. Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 4). Ihrer Funktion, einen außerordentlichen amor patriae zu exemplifizieren, verdankt die Kodros-Anekdote ihre Überlieferung in römischer Antike und Mittelalter; vgl. vor allem Valerius Maximus: Valeri Maximi Facta et dicta memorabilia. Hrsg. von JOHN BRISCOE. 2 Bde. Stuttgart, Leipzig 1998 (Bibliotheca Teubneriana), V,6 ext. l;Augustin: S. Aurelii Augustini De civitate Dei libri XXII. 2 Bde. Tumhout 1955 (CC 47/48), XVIII, 19; und Vinzenz von Beauvais: Speculum mains (Anm. 27), Tl. 2: Speculum doctrinale IV,42. Die Umschreibung des Lanzenstichs (.einer der Soldaten drang mit seiner Lanze bis zum Herzen in ihn ein') ist ambig. Einerseits könnte ihre Umständlichkeit d a r a u f h i n d e u t e n , dass sie zwei Vorgänge zu harmonisieren versucht, die in einem wesentlichen Punkt divergieren: Während Kodros durch die Lanze getötet wird, erfolgt, dem Johannes-Evangelium gemäß, der Lanzenstich des Soldaten unter dem Kreuz erst nach Christi Tod (Io 19,34). Andererseits könnte die Formulierung aber auch die im Mittelalter verbreitete Auffassung spiegeln, dass Christus durch den Longinus-Stich tatsächlich getötet worden ist (vgl. CARLA DAUVEN-VAN KNIPPENBERG: ,... einer von den Soldaten öffnete seine Seite ...'. Eine Untersuchung der Longinuslegende im deutschsprachigen Spiel des Mittelalters. Amsterdam, Atlanta/GA 1990, S. 123-173). Die Umschreibung des Lanzenstichs in den Gesta Romanorum lässt beide Verständnismöglichkeiten gleichermaßen zu.

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Mythische Variante

ejus mortem genus humanam erat salvatum, ex alia parte tristes erant apostoli de nece sui domini, Ζ. 32-35). Beide Geschichten lassen aber auch - wie der Dream of the Rood - die Frage offen, auf welche Weise der Tod der Erlöserfiguren den Sieg herbeigeführt hat: Warum eigentlich beklagen die Spartaner die Tötung des feindlichen Feldherren? Für den Text ist die Klärung dieser Frage offenkundig irrelevant; er überlässt die Deutung beider Geschichten einem entsprechenden Vorverständnis. Das andernorts überlieferte Ende der KodrosAnekdote34 ist indes für die Logik, die der im Text konstruierte Plot beider Geschichten enthält, aufschlussreich: Die Spartaner geben den Krieg auf, weil gemäß der Prophezeiung nun, nach dem Kodros-Opfer, Apollon gegen sie stünde. Am Horizont des in den Gesta Romanorum konstruierten Erlösungsplots steht somit ein zweiter Heilsakt, der die victoria erst eigentlich erbringt: die potentielle Überwindung des Gegners nach dem freiwilligen Opfer. Das Opfer bedingt den Sieg, vollendet ihn aber nicht.35 Der Dream of the Rood und das Kodros-Kapitel der Gesta Romanorum veranschaulichen, dass der Versuch, die biblische Erlösungsgeschichte in einen Plot zu bringen, der sie als pugna und victoria plausibilisiert, letztlich an der Tatsache scheitert, dass Passion und Tod mit einem solchen Plot nicht kompatibel sind, dass die biblische Geschichte sich für eine narrative Explikation der victoria Christi schlechterdings nicht eignet. Der Versuch verdeutlicht, dass das christliche Erlösungsdogma im Gegenteil eine gegen den Archetyp ,Sieg im Kampf gerichtete, in diesem Sinne anti-mythische Substanz hat. Im Descensus hingegen kann Erlösung tatsächlich als Sieg erzählt werden. Die Descensus-Erzählung stellt einen Plot bereit, in dem die victoriaVorstellung problemlos narrativ umgesetzt werden kann. Genau dies ist der Punkt, an dem das Wirkungspotential des Descensus-Mythos im Mittelalter aktiviert worden ist. Im Kontext der v/'c/ona-Vorstellung konnte die Descensus-Erzählung fur das Erlösungsdogma eintreten, fungierte sie als mythische Variante der biblischen Erlösungsgeschichte. So wurde die vj'c/ona-Vorstel-

Siehe oben Anm. 32. Dass der Erlösungsplot der Kodras-Geschichte gegen jede realweltliche Kriegslogik verstößt, verdeutlicht eine Stelle bei Otfried von Weißenburg (Otfrids Evangelienbuch.

Hrsg. von

OSKAR ERDMANN. 6. Aufl. besorgt von LUDWIG WOLF, Tübingen 1973 [ATB 49]). Wenn die woroltkuninga

in der Schlacht fallen, hat dies die Lähmung, Zerstreuung, Unterwerfung oder

Flucht des ganzen Heeres zur Folge (111,26, V. 39-46). Dass im Gegensatz dazu der Tod Christi seine Gefolgschaft zusammenhält und zum Widerstand gegen die Feinde erst befähigt (V. 4 7 - 5 2 ) , kann vor dieser Folie nur als .Ratschluss' bezeichnet werden, der ,alles weltliche Geschehen übersteigt' ( u b a r allo dati

wuntarlih

girali;

V. 38), als Geschehenslogik, die

.nicht von dieser Welt' ist. Die Otfried-Stelle zeigt, dass der Versuch der Gesta

Romanorum,

die christliche Erlösungsgeschichte mit einer weltlichen Kriegsgeschichte zu harmonisieren, letztlich aporetisch ist. Gelöst wird die Aporie nur durch die Möglichkeit des zweiten Heilsaktes (Apollon steht nach dem Opfer für den Sieg ein). A u f der Ebene der Christus-Geschichte führt dies geradewegs auf den Descensus zu.

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Christoph Petersen

lung zum Einfallstor und Narration zum Realisierungsmodus mythischen Denkens: In der erzählerischen Explikation des Erlösungssieges wird das Dogma mittels des Descensus mythisch umformuliert. Die folgende Beispielreihe soll zeigen, dass diese Mythomotorik sich das Mittelalter hindurch unabhängig von bestimmten Textsorten und Gebrauchskontexten, unabhängig auch von einer direkten Rezeption des Nicodemus-Evangeliums36 verfolgen lässt, dass die verschiedenen Adaptationen der Descensus-Erzählung vielmehr die jeweilige Aktualität eines Denkens spiegeln, das christliche Erlösung mythisch, als mythische Variante des Dogmas fasst. Wie das Kreuz als Ort der Erlösung im Zeichen der vi'c/oria-Vorstellung vom Descensus zurückgedrängt wird, kann an einem anonymen Osterrhythmus des 7./8. Jahrhunderts nachvollzogen werden.37 Der Descensus wird hier zunächst dem Kreuz untergeordnet, indem er, theologisch konform, als dessen ,Frucht' bezeichnet wird (Audite omnes canticum mirabile / De cruce Christi, quantum fructum prebuit, Str. 1,1 f.), die das, was das Kreuz den .Lebenden' gebracht habe, auch an die in der Unterwelt Sitzenden vermittle (Eripuisti vivos crucis trophea, / Nos de morte et inferno libera, Str. 9,4f.). Die Passion wird dabei als bellum bezeichnet (Str. 2,1); Erlösung wird als Sieg über den auctor mortis interpretiert (Str. 1,5). Erzählt werden Kampf und Sieg aber erst anschließend im Descensus, in dem der Erlöser die ,Höllentore bricht' (Str. 2,3), ,den mächtigen Fürsten niedertritt' (Str. 2,4), die .Dämonenscharen zerstreut' (Str. 4,5), den .niedergezwungenen Drachen' der Unterwelt übergibt (Str. 7,1 f.) und die Seinen befreit. Die .Frucht' des Kreuzes wird als ein zweites bellum entfaltet, das durch den ,Sieg' am Kreuz nicht schon erledigt, sondern erst ermöglicht ist. Damit wird die theologische Unterordnung des Descensus aber unterlaufen: Der Text erzählt, wie die .Frucht' des Kreuzes einerseits die Erlösung in die Unterwelt vermittelt, andererseits aber den Sieg über den auctor mortis erst eigentlich erbringt. So verdrängt die narrative Explikation des Erlösungssieges dessen metaphorische Applikation, der Descensus-Sieg den Kreuzes-,Sieg'. Und dass diese Konstellation auch ein Potential zur weiteren Anwendung auf die individuelle Erlösungshoffnung des Christen besitzt, deutet der Rhythmus abschließend an. Im Bericht von der Hinfuhrung der Gerechten ins Paradies wird das biblische Gleichnis von der verlorenen Drachme und dem verlorenen Schaf zitiert (Str. 11,3-5; Lc 15,4-10), so dass auch die heilsdidaktische Aussage des Gleichnisses auf den Descensus über-

36

37

Die Beispielreihe skizziert also nicht eine Rezeptionsgeschichte des Nicodemus-Evangeliums, sondern eine Wirkungsgeschichte der von ihm maßgeblich ins Mittelalter überlieferten Vorstellung. Poetae Latini aevi Carolini. Bd. IV,2. Hrsg. von KARL STRECKER, Berlin 1896 (MGH. Poetae RV,2) (Nachdr. 1964), Nr. 42, S. 565-569. Die Sprache des Rhythmus zeigt romanisierenden Einschlag; nach IZYDORCZYK (Anm. 16), S. 98, stammt er „from Italy or Gaul".

Mythische Variante

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tragbar, die Befreiung der Seelen 38 verstehbar ist als bildhaftes Exempel für den einzelnen Sünder, dessen Reue den Himmel erfreue (Lc 15,10). Die Möglichkeit individueller Erlösung des Christen wird nicht mit dem Kreuz, sondern mit dem Descensus-Mythos assoziiert; im Descensus ist die Erlösungsmöglichkeit des Einzelnen verbürgt. Die Verdrängung des Kreuzes durch die Descensus-Erzählung begegnet in anderer Form auch in der Gemma animae des Honorius Augustodunensis, einer allegorischen Erklärung der Liturgie, in der die liturgischen Zeichen als Vergegenwärtigung der Geschichte Christi gedeutet werden. 39 Im Kanon der Messe, so Honorius in der einleitenden summarischen Kanonallegorese, würden die Opfertat (hostia) und der Kampf {pugna) Christi vergegenwärtigt (1,44, Sp. 557). Die Erlösung wird also in zwei einander beigeordneten Aspekten differenziert. Beide Aspekte seien in einer Szene des Buchs Exodus präfiguriert, als Moses auf dem Hügel mit ausgebreiteten Armen betete, während Josua, der auch Jesus genannt wird, gegen Amalech kämpfte, das Reich des Besiegten verwüstete und das Volk in Siegesfreude zurückführte (quando in monte extensis manibus orabat, dum Josue, qui et Jesus, cum Amalech pugnabat, devicti regnum vastabat, acpopulum cum victori-

ae laetitia reducebat, ebd.; vgl. Ex 17,8-16). In der präfigurierenden Amalech-Schlacht sind Opfer und Kampf auf zwei simultan agierende Instanzen verteilt: auf den mit ausgebreiteten Armen betenden Moses und den die Schlacht gegen Amalech schlagenden Josua. Beim Antityp ist eine derartige Verteilung nicht möglich, so dass die entsprechenden Handlungen Christi in parataktisch gereihter Abfolge aufgezählt werden. Christus habe

38

Der Text vermeidet, den Kreis der Erlösten zu spezifizieren: Es sind die obpressi (Str. 3,3), die multi und plurimi (Str. 7,3 u. 5), die turbae (Str. 8,3), zu denen der Erlöser kommt; es sind die beati (Str. 11,1), die in den Himmel geführt werden. Die allgemein gehaltenen Bezeichnungen für die Erlösten leisten einer Übertragung des Berichteten auf jeden Christen Vorschub.

39

Honorius Augustodunensis: Gemma animae sive De divinis officiis et antiquo ritu missarum deque horis canonicis et totius anni solemnitatibus. In: PL 172, Sp. 541-738. - Zum Verfahren allegorischer Liturgiedeutung im Mittelalter vgl. RUDOLF SUNTRUP: Zeichenkonzeptionen in der Religion des lateinischen Mittelalters. In: Semiotik / Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur / A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture. Hrsg. von ROLAND PoSNER u. a. 1. Teilbd., Berlin, New York 1997 (HSK 13,1), S. 1115-32; zur Einordnung des Folgenden in den Textzusammenhang der Gemma vgl. CHRISTOPH PETERSEN: Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter (erscheint voraussichtlich Tübingen 2004 [MTU 125]), im Abschnitt „Von ritueller zu narrativer Kohärenz".

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auf dem Hügel des Kreuzes mit ausgebreiteten Armen für das ungläubige und widerspenstige Volk gebetet, habe sodann als besiegter Feldherr gegen Amalech, das heißt den Teufel, mit dem Banner des heiligen Kreuzes gekämpft, das Reich des Besiegten verwüstet, die Unterwelt nach Überwindung des boshaften Feindes beraubt und das aus der Dunkelheit entrissene Volk im Siegestriumph in die himmlische Heimat zurückgerufen (Sic Christus in monte crucis extensisque manibus pro populo non credente et contradicente oravit, et victus dux cum Amalech, id est cum diabolo, vexillo sanctae crucis pugnavit, devicti regnum vastavit, Dominus infernum superato maligno hoste spoliavit, populum de tenebris ereptum cum gloria victoriae ad coelestia revocavit, ebd.).

In beiden typologisch aufeinander bezogenen Szenen sind die .ausgebreiteten Arme' der Protagonisten die Bedingung für den Sieg im Kampf. Doch die Formulierung, mit der Honorius die alttestamentliche Szene erinnert, zeigt bereits an, dass er den entscheidenden Akzent von der Kreuzhaltung auf die Kampfhandlung verschiebt: Während die biblische Erzählung sich auf die Wirkung von Moses' Gebets- und Segensgestus konzentriert40, stellt Honorius die gleichzeitigen Handlungen Josuas in den Vordergrund, indem er sie in die narrativ organisierte Skizze eines Schlachtverlaufs integriert (Kampf - Verwüstung des gegnerischen Reiches - Rückkehr). Diese Skizze ist nicht mehr dem Buch Exodus entnommen. Sie ist vielmehr dadurch bestimmt, dass sie auf die Handlungen ihrer typologischen Entsprechung, der Descensus-Erzählung (Teufelskampf - Verwüstung/Beraubung der Unterwelt - Heimführung der Gerechten), ausgerichtet ist. Und dies wiederum verdeutlicht, dass Honorius auch den Akzent der Erlösungstat Christi vom Kreuzesopfer auf den Descensus-Kampf verschiebt und so ersteres abwertet. In der Bemerkung, dass Christus ,mit dem Banner des heiligen Kreuzes' gegen den Teufel gekämpft habe, bleibt der Sieg zwar an das Opfer zurückgebunden: Die Präpotenz des Erlösers im Unterweltskampf beruht auf seiner Ermächtigung durch das Kreuz. Doch damit ist - entschiedener noch als in dem Osterrhythmus - das in der Theologie geltende funktionale Verhältnis zwischen Tod und Descensus umgekehrt: Christus habe sich als .besiegter Feldherr' dem Teufel gestellt; die ermächtigende Niederlage am Kreuz ist die Voraussetzung für den Erlösungssieg, der anschließend in der Unterwelt erfochten wird. Auf diese Weise tritt der Descensus explizit für das Erlösungsdogma ein. Der Descensus-Sieg ist bei Honorius formuliert als mythische Variante des Dogmas.41 40

Den Sieg über Amalech garantiert Moses: Sinken seine Arme, wendet die Schlacht sich gegen Israel; entschieden wird sie dadurch, dass Aaron und Hur Moses' müde Arme stützen (Ex

41

Inkonsistenter als bei Honorius sind Kreuz und Descensus mit einem typologisch zugeordneten Ausschnitt der Moses-Geschichte in Ezzos Lied verquickt (Das Ezzolied. In: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150. Hrsg. von WALTER HAUG/BENEDIKT KONRAD VOLLMANN, Frankfurt a. M. 1991 [Bibliothek des Mittelalters 1], S. 5 7 0 - 5 9 5 [Vorauer Fassung]). Das Kreuzesopfer wird auf die Schlachtung des jüdischen

17,11-13).

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Mythische Variante

Das Verhältnis, in das Honorius Kreuzigung und Descensus mittels ihrer typologischen Verankerung stellt, begegnet in szenisch kongruenter Entsprechung auch in einem französischen Passionsspiel, der Passion du Palatinus des 14. Jahrhunderts.42 Die bei Honorius durch den Doppelbezug auf Moses und Josua diskursiv konstruierte Simultaneität von Kreuzestod und Descensus-Sieg ist hier ins Bild gesetzt: Der am Kreuz hängende und der hinabsteigende Christus sind auf der Bühne gleichzeitig präsent. Während ein Christusdarsteller am Kreuz hängt, begibt sich ein anderer Darsteller vor die Hölle (Ovrez les portes infernaus, V. 1396), schlägt Satan in die Flucht (Va, Sathanas, si te maudie, V. 14IO)43 und befreit die Gerechten (V. 1421-50). Erst im Anschluß an den Descensus wird der Gekreuzigte entfernt: Joseph von Arimathia und Nicodemus nehmen den Leichnam vom Kreuz (V. 1451-1553) und tragen ihn fort zur Grablegung (Puis le métrons en sepulture, V. 1553), die nicht mehr dargestellt wird. Die Simultaneität der Bilder, die durch die Verschiebung des Descensus vor die Grablegung erzeugt wird, lässt den Höllenabstieg Christi als Veranschaulichung dessen erscheinen, was am Kreuz erreicht ist. Der Descensus visualisiert in szenischer Narration die am Kreuz vollendete Erlösung; das Dogma wird veranschaulicht durch seine mythische Variante. - Pour vous sauver ai mort sofferte, verkündet der Hinabgestiegene (V. 1433). Ähnlich wie bei Honorius besitzt diese dramatisch-narrative Veranschaulichung jedoch auch ein Eigengewicht gegenüber dem Bild des Gekreuzigten, denn die Sujethaftigkeit der Descensus-Erzählung wird auch hier ausgespielt: Die Grenzüberschreitung Christi wird durch den Widerstand Satans akzentuiert {Je suis sires des infernaus, / Sus moy ne puet avoir victoire, V. 1400f.; Se tu t'approches plus avant, / [...] / Je te monterai sus la pance, V. 1407-09), die Veränderung der Normen der inszenierten Welt wird an die Grenzüberschreitung gebunden (Maintenant vous sera overte / La porte d'enfer et li huis, V. 1434f.). Die Palatinus-Passion setzt den Descensus als Erlösungsmythos ins Bild.

Pessachlamms, der Descensus auf die Tötung der ägyptischen Erstgeburt und die R ü c k f ü h rung Israels aus Ägypten bezogen (Str. 27f.; vgl. Ex 12). Dadurch, dass letzteres zusätzlich mit einem Hinweis auf das Taufsakrament verbunden ist, wird der klare typologische Bezug in ein Assoziationsgeflecht überfuhrt, in dem die sakramentale Heilsbürgschaft mittelbar mit dem Descensus-Sieg verbunden ist. Die hypotaktische Satzkonstruktion, die Kreuzigung und Descensus zusammenfasst, spiegelt dieselbe Hierarchisierung wie die Deutung des Honorius: duo daz mitre oslerlamp

/ chom in der Juden gewalt / unt daz opher mœre / lag in crucis

re, / duo wuoste der unser wigant / des allen wuolriches den verswalh

daz role toufmere

alta-

lanl. / den lievel uni allez sin here /

(Str. 28,5-12).

42

La Passion du Palatinus. Mystère du XIV E siècle. Hrsg. von GRACE FRANK, Paris 3 1972 (Les

43

Nach der V e r f l u c h u n g kapituliert Satan und will sich davonmachen, um sein Leben in der

classiques français du moyen âge 30). Z u m Folgenden vgl. WARNING (Anm. 11), S. 162-165. Lombardei weiter zu fristen, seinem Bezwinger zum Trotz: Or m'en louz jours

mais user ma vie, / En despit du roy Jhesucrist

irai en Lumbardie

(V. 1418-20).

/ A

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Das Spiel lässt aber auch ein weiteres Wirkungspotential des DescensusMythos erkennen, das für seine Attraktivität besonders im Spätmittelalter in Anschlag zu bringen ist. Der Erlösungssieg des Descensus findet in der Palatinus-Passion nicht nur in synchroner Nachbarschaft zum Kruzifixus statt, sondern auch in diachroner Nachbarschaft zu den Marterungen Christi (V. 768952) und den Klagen von Maria und Johannes unter dem Kreuz (V. 10711234). Im Anschluss an das vergegenwärtigte Leiden und Mitleiden vermag der in der Unterwelt ausgehandelte Sieg ein interpretatorisches und (in der Auffiihrungssituation) wohl auch emotional wirksames Korrektiv zu setzen. Den Zeichen der Erniedrigung und Niederlage wird ihre heilsgeschichtliche Bedeutung nachgeliefert: Beklagte Maria noch das Elend des Gekreuzigten (Lasse, lasse, lasse, chetive, V. 1088), so nimmt Enfers, die personifizierte Unterwelt, dann Reißaus vor dem nahenden roys de gloire (V. 1394f.). Der contritio antwortet der Jubel: Marias Klage endet mit der Bitte um Tröstung (V. 1234), der Descensus mit dem Dank der Erlösten (Merci, sire, merci, merci, V. 1444) und dem Resümee, dass es mit der Menschwerdung Gottes eben doch gut ausgegangen sei (Bon feusse tu en terre nez, V. 1450). Eine solche Akzentverteilung zwischen Kreuzigung und Descensus ist in den Passionsspielen, vor allem des deutschsprachigen Raumes, allenthalben zu beobachten. Die Spiele fugen sich damit in den Kontext einer Frömmigkeitshaltung ein, die im 12. Jahrhundert ausgebildet wird und im Spätmittelalter besondere Virulenz erlangt. Bereits das Leben Jesu der Frau Ava deutet diese Haltung und die entsprechende Akzentverteilung an. Die Schilderung des Kreuzigungsgeschehens wird bei Ava44 von eingestreuten Kommentaren begleitet, in denen die heilswirksame Bedeutung des Todes diskursiv festgehalten ist (Str. 149,1-3; 150,3b u. 4b; 153; 154,3b-6). Die Häufung der Kommentare spiegelt aber umgekehrt auch die Erklärungsbedürftigkeit des erzählten Geschehens. Denn in der Narration ist die Passion nicht als Erlösung akzentuiert, sondern als Agonie: da vaht er in agone daz chamf unze an die none (Str. 155,4). In diesem Todeskampf trägt folgerichtig nicht der Erlöser den Sieg davon, sondern sein Körper: do wart gesceiden der strit, do gesigte ims an der lip (Str. 155,5). Und ebenso konsequent wird in dem Rezipientenappell, der an den Tod angeschlossen ist, nicht die Erlösungstat hervorgehoben, sondern das Leiden, dem der Dank der Gläubigen zu folgen habe: durch unsich leid er die not, nu sehet, wie ir im sin lonot (Str. 155,8).45 Die Vergegenwärtigung des Leidens überlagert dann auch die weitere Ereignisfolge. Lanzenstich, Kreuzabnahme und Grablegung werden lediglich als Akzidenzien im Rahmen einer anhaltenden kompassionierten Klage erwähnt:

44

Die Dichtungen der Frau Ava. Hrsg. von FRIEDRICH MAURER, Tübingen 1966 (ATB 66), S.

45

Die Betonung des Leidens durchzieht die ganze Kreuzesszene; vgl. Str. 150,3f.; 151,2; 152,5.

11-57.

Mythische Variante

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Owi, Maria Magdalena, w i e gestunte du ie da, da du dinen herren guoten sähe hangen unde bluoten, unde du sähe an sinem libe di gestochen wunden! (Str. 1 5 6 , 1 - 3 ) Owi, Josep der guote, d o du minen herren abe d e m criuce huobe! hete ich d o gelebet, ich hete dir vaste zuo gechlebet ze der bivilde here mines vil lieben heren. (Str. 157) Owi, N y c h o d e m u s , wane moht ich dir etewaz liebes erbieten ze lone unde ze mieten, daz du in abe huobe unde in so scone begruobe! (Str. 158)

Der anschließende Descensus ist, anders als bei Honorius und in der PalatinusPassion, als zeitlich distinkter Akt von der Kreuzigung abgehoben 46 ; er setzt damit nicht nur den Erlösungssieg narrativ um, sondern auch der Vergegenwärtigung des Leidens die Vergegenwärtigung des Sieges entgegen. Die Elemente der Descensus-Darstellung fugen sich zur Kontrafaktur der Kreuzigung zusammen. War Christus am Kreuz seinem lip unterlegen, so gesigt er nun über den höllischen Widersacher (Str. 161,1); leit, das zuvor dem Gekreuzigten widerfahren war, erfährt jetzt sein Gegner (Str. 161,2). Der eben noch am galgen hing (Str. 155,3), agiert jetzt als Heros: gewaltichlichen und mit lewen chreften zersprengt Christus die grintel des Höllentores (Str. 160,3 u. 5), bricht seinem Widersacher, der als helle hunt vorgestellt wird, sine chiwen, fesselt ihn mit siner zeswen hant, wirft ihn an den hellegrunt und klemmt ihm einen Reif in sinen munt, so dass er diesen nicht mehr zu schließen vermag (Str. 161,1—4 u. 7).47 Das Ergebnis des Descensus ist als dem der Kreuzigung analog formuliert, denn die Bändigung des Höllenhundes bewirkt, dass die Hölle fortan jeden, der aufgrund seiner sunde einmal in ihren slunden fahre, durch bihte unde durch buoze wieder laufen lassen müsse (Str. 161,6 u. 8). Der Sieg über den Höllenhund hat die Hölle entmachtet; sie steht nur mehr im Dienst kirchlicher Heilslehre. Und dem entspricht, dass die Befreiung der Seelen am Ende des Descensus als ein repräsentativer, allgemeingültiger Akt dargestellt ist. Die aus der Hölle Befreiten werden namentlich nicht genannt; Christus kehrt sich unspezi-

46

47

Er ist vom Kreuzestod durch eine einleitende Zeitangabe ausdrücklich abgesetzt: Do er do zwene tage geruowet in dem grabe, / in der friste do zestorte er die hellevesle (Str. 1 6 0 , l f ) . Zur inkonsistenten Überlagerung der beiden hier evozierten Vorstellungen vom Höllenhund, der einerseits ,auf den Grund der Hölle geworfen' und dessen Maul andererseits mit dem .Höllenschlund' selbst identifiziert wird, vgl. QUAST (Anm. 15), S. 143-156. QUAST kontrastiert das in dieser Erzählweise zum Ausdruck kommende mythische Erlösungsdenken mit Avas sonstigem, historisierendem Erzählverfahren: „Das Leben Jesu der Frau Ava entfaltet sich als Erzählbewegung zwischen den Polen einer antimythischen Vita, die mit erzählerischer Vehemenz auf ihre geschichtlichen Füße gestellt wird, und eines Mythos der Erlösung, deren Überzeitlichkeit in einem delinearisierenden Vertikalismus der Bilder Gestalt findet" (S. 148).

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fisch ze den sinen (Str. 162,1) und verkündet ihnen: ich han durch iuwere not erliten einen grimmeclichen tot. / die mich habent geminnet, [wie sonst auch] di wil ich fuoren hinnen (Str. 163,2f.). Ihnen allen geliche verleiht er wider sin riche, das sie von sculden heten verlorn (Str. 164,2f.). Die Befreiung der vorchristlichen Gerechten wird formuliert als Restitution des Menschen in seinen Zustand vor dem Sündenfall; der Descensus leistet eben das, was theologisch der Passion zugeschrieben wird.48 Und so steht auch der Satz, der die Hinfiihrung der Seelen ins Paradies kommentierend beschließt, durchaus im Einklang mit dem anselmischen Satisfaktionsgedanken: do was gestillet sin zorn (Str. 164,3). 49 Doch die ira des durch den Sündenfall in seiner Ehre verletzten Gottes ist an dieser Stelle, nach Kreuzesopfer und Descensus-Sieg, nicht unterscheidbar vom zorn des Heros, den der Höllenhund soeben zu spüren bekommen hatte. Im Kontext des Descensus-Mythos erzählt Avas Text auch Genugtuung als mythische Variante: die Kompensation des Sündenfalls im Bild einer siegreichen Entfaltung heroischen zorns. In den deutschen Passionsspielen des Spätmittelalters werden die bei Ava schon früh zu belegende Akzentverteilung zwischen Kreuz und Höllenfahrt sowie die Archetypik des Descensus-Sieges ausfuhrlich in Szene gesetzt. Am 48

49

Der Gedanke hat auch die Konzeption anderer deutscher Texte des Hoch- und Spätmittelalters bestimmt, in denen die Heilsgeschichte zwischen die Pole Sündenfall und Descensus gespannt ist. Das Anegenge aus dem 12. Jh. wertet den Kreuzestod im Sinne der Redemptionslehre: Mit dem Tod Christi hat der Teufel sein mit dem Sündenfall erworbenes Recht auf den Menschen verloren (V. 3125-56), was dann am Descensus narrativ ausgeführt wird (V. 3157-96). Der Tod ist das ,Lösegeld', das den Erlösungsakt in der Unterwelt ermöglicht: Dô daz der tievel geriet, / daz man als einen diep / den gewîhten gotes sun er/iie, / dô vuor er hin ze helle und hiez die, / daz st sich üf ícete (V. 3157-61 ). In der Hölle erscheint dabei ausdrücklich die ganze Dreieinigkeit; der Erlösungsakt ist allumfassend: dô chom der voter und dersuon, / dô si uns genäde wolden tuon, / und der heilige geist / den armen ze volleist, / die dä wären in dem êwigen verlor (V. 3183-87). (DIETRICH NEUSCHÄFER: Das Anegenge. Textkritische Studien, diplomatischer Abdruck, kritische Ausgabe, Anmerkungen zum Text, München 1966 [Medium aevum 8]; zur Konzeption des Textes vgl. PETER-ERICH NEUSER: .Anegenge'. In: VL 1 [ 2 1978], Sp. 352-356; zur Descensus-Darstellung JACOBS [Anm. 21], S. 22-24 u. 2 6 f . ) - Der spätmittelalterliche Text Sündenfall und Erlösung, der auf der deutschen Spieltradition basiert, konstruiert den Bogen zwischen Sündenfall und Descensus dadurch, dass er - gegen jedes Vorbild - die Höllenfahrt erst nach Auferstehung, Grabbesuch der Marien und Erscheinung vor Maria Magdalena zum Schlusspunkt der erzählten Heilsgeschichte macht. (WERNER WILLIAMS-KRAPP: Überlieferung und Gattung. Zur Gattung Spiel im Mittelalter. Mit einer Edition von Sündenfall und Erlösung aus der Berliner Handschrift mgq 496. Tübingen 1980; zum Inhalt ebd., S. 34-38.) Anselm begründet die Tatsache, dass die Genugtuung vom trinitarischen Sohn geleistet wurde, unter anderem damit, dass der Sohn durch die Anmaßung einer falschen Ebenbildlichkeit mit Gott von Mensch und Teufel auf besondere Weise gekränkt worden sei: Illi itaque, cui specialius fit iniuria, convenienter attribuitur culpae vindicta aut indulgentia (Cur Deus Homo [Anm. 5], 11,9). Satisfaktion schließt die spezielle Genugtuung für den Sohn ein. - Eine Rezeption der Satisfaktionslehre durch Ava sei mit meiner Beobachtung im übrigen nicht behauptet.

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konsequentesten verwirklicht dies das Alsfelder Passionsspiel aus dem frühen 16. Jahrhundert. 50 Die Kreuzigungsszene ist begleitet von Klagen der Getreuen Christi, vor allem der Gottesmutter, die das Bild des Gekreuzigten einer eindringlichen Interpretation unterziehen.51 Zielpunkt der Klagen ist der im Zentrum der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit stehende individuelle Erlösungsweg des Christen, der über rechte compassio und contritio fuhrt. 52 Der Stimulation und Anleitung dieser Haltung dient die abundant variierte Vergegenwärtigung des Leidens und der Erniedrigung Christi, der Trübsal Marias sowie des Mitleidens mit beiden, in das auch das Publikum über immer wieder eingestreute Appelle einbezogen wird.53 Aus der Perspektive dieser Vergegenwärtigung wird die am Kreuz angezeigte allgemeine Erlösung in den Hintergrund gedrängt, erscheint das Leiden gar im Kontrast zur Erlösung (ζ. Β. V. 5350-55), als Heilsverlust (ζ. Β. V. 6154f.), als Geschehen, das besser vermieden worden wäre (ζ. Β. V. 5952f.); in den Marienklagen wird der Kreuzigungstag perspektiviert als gnodenloszer tagk (V. 6228). Dass dieser Tag den Christen auch Erlösung bedeutet, wird zwar gelegentlich erwähnt in tröstenden Zusprächen des Johannes, die den Zeichen des Heilsverlusts ein interpretatorisches Korrektiv entgegenhalten. Doch diese heilsgeschichtlichen Korrekturen sind vor allem zukunftsgerichtet, indem sie auf eine noch anstehende, eigentliche Korrektur des Todes vorausweisen: auf die Auferstehung (V. 6754—58), insbesondere aber auf die Befreiung aus der Hand des Teufels, deren Bedingung das Leiden Christi sei (V. 6007-17 u. 6817-20). Die Zuspräche des Johannes artikulieren angesichts des Kreuzes die Erwartung eines zukünftigen Zeichens der Erlösung: ich hoffen nach zu disszer frist, nu syn martel ergangen ist, das mer viel schyer werden getroist. (V. 6 4 8 3 - 8 5 )

50

Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Hrsg. von JOHANNES JANOTA. Bd. 2: Alsfelder Passionsspiel. [...] Edition der Melodien von HORST BRUNNER, Tübingen 2 0 0 2 , S. 2 0 7 - 9 0 5 .

51

Die Klagen begleiten das gesamte Kreuzigungsgeschehen: vor und auf dem Kreuzweg (ebd., V . 5 3 2 8 - 3 9 , 5 3 5 0 - 6 7 u. 5 5 2 0 ^ T 5 ) , u n t e r d e m K r e u z b i s z u m T o d ( V . 5 8 0 8 - 6 2 7 3 ) u n d n a c h

dem Lanzenstich des Longinus (V. 6396-6504), schließlich während Kreuzabnahme und Grablegung (V. 6657-6838). 52

"

Z u m Ü b e r b l i c k v g l . U L R I C H K Ö P F : . P a s s i o n s f r ö m m i g k e i t ' . In: T R E 2 5 ( 1 9 9 7 ) , S .

722-764,

hier S. 725-732; zur literarischen Verarbeitung vgl. Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Hrsg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12). So abschließend auch in Marias Fazit nach der Grablegung: Ir lieben frauwen vnd ir man, / merckel hude alle dar an: /[...]/ vch syn Hude vorgeben / alle vwer sunde gemeyn, / die Hude myt mer armen weynen. / das helffe mer der milde goti / dorch synen vnschuldigen doit (Anm. 49), V. 6 8 2 5 - 3 8 .

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Und in welcher Szene dieses Zeichen dann ausgespielt werden wird, kündigt der Gekreuzigte selbst in einer Deutung des evangelischen Durstschreis (Io 19,28) kurz vor seinem Tod an: Mich dorstet nach den frunden myn, die da iigen yn der helle pyn. dorch die vorgyssze ich hude myn blut, das sie erlost werden vß der helle glut. (V. 6 2 5 4 - 5 7 )

Dementsprechend ist dann der Descensus gestaltet. Christus schreitet in Begleitung von sechs Engeln in triumphaler Prozession zur Hölle (Salvator cum angelis facit processionem ad infernum, vor V. 7077). Deren Tore stehen dem Erlöser freilich nicht schon deshalb offen, weil er vorher ,sein Blut vergossen' hat; das Descensus-Sujet wird in einem ritualisierten Vorgang ausgespielt: Dreimal schreitet die Prozession auf der Bühne umher, dreimal singen die Engel ihr Tollite portas (vor V. 7123, 7133 u. 7157), bevor Christus schließlich das Höllentor aufstößt (Jhesu trudente ianuam inferni, vor V. 7157). 54 Die Grenzüberschreitung wird mittels der Ritualisierung als Ergebnis einer Machtentfaltung semantisiert, welche die Verriegelung des Höllentores durch Satan (V. 7089-92) und die Gegenwehr Luzifers (ich gebe em eynen kulenslagk, / hie feilet nidder vff synen sagk, V. 7129f.) hinfallig macht. Das Verhältnis dieser Machtentfaltung zum Kreuzestod wird dabei ausdrücklich spezifiziert. Auf Luzifers Frage, wie sich denn das Machtgebaren des Ankömmlings mit dem blude roit vertrage, das auf seinem Gewand zu sehen sei (V. 7137^40), legt Christus ihm (und dem Publikum) auseinander, was es mit seiner zweifachen Natur sowie mit Kreuz und Höllenfahrt auf sich hat: Ich byn mentsche vnd gott. an der mentscheit hon ich gelidden den doit, das alle dyn gewalt, die du an den mentschen host gestalt, sai dir syn benommen vnd vort den mynen zu hilff kommen. (V. 7 1 4 1 - 4 6 )

Der Kreuzestod, den er als mentsche erlitten hat, ist die Voraussetzung für die bevorstehende Erlösung, für die er nun als konig der eren (V. 7124 u. ö.) antritt. Im Alsfelder Spiel folgt auf das Leiden des Menschen am Kreuz die Erlösung durch den Gott im Descensus.

Zur Ritualisierung der Höllenfahrt in den Spielen vgl. WARNING ( A n m . 11), S. 6 8 - 7 4 ; zu Herkunft und V e r w e n d u n g der lateinischen G e s ä n g e , die den S z e n e n v e r l a u f strukturieren, vgl. BARBARA THORAN: Studien zu den österlichen Spielen d e s Mittelalters (Ein Beitrag zur Klärung ihrer A b h ä n g i g k e i t voneinander). 2., durchgesehene u. ergänzte A u f l . G ö p p i n g e n 1 9 7 6 ( G A G 199), S. 1 3 1 - 2 0 2 .

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Mythische Variante

Die Archetypik des Erlösungsakts selbst, der Fesselung des Teufels und der Befreiung der Seelen, wird mit einem anderen Mittel als bei Ava herausgestellt: Das Spiel verbindet den Descensus-Sieg mit eschatologischen Motiven.55 Gefesselt wird der Teufel nicht, wie im Nicodemus-Evangelium, durch den Erlöser, sondern durch den Erzengel Michael, dem Christus aufträgt: nym Luciper, den hellehunt, / vnt bynt en yn der helle grunt (V. 7233f.); so tritt genau derjenige Engel in Aktion, dem es auch in der Johannes-Apokalypse zufállt, den Teufel niederzuwerfen (Ape 12,7-9). Die heilsgeschichtliche Fixierung des Descensus-Sieges wird damit aufgelöst; die Fesselung Luzifers erscheint als zeitenthobener Sieg über den Widersacher von Gott und Menschheit. Der Teufel, so Michael, wird im Descensus ein für alle Mal unschädlich gemacht: ich wel dich bynden sere, das du nu nach nummer mere keynen mentschen mögest betriegenn myt dynen boszen, falschen liegenn. (V. 7245-48) 5 6

Die eschatologische Überblendung bestimmt auch die Befreiung der Seelen. Anders als bei Ava sind diese Seelen im Alsfelder Spiel zwar als die vorchristlichen Gerechten von Adam bis Johannes dem Täufer kenntlich gemacht (V. 7161-7224). Doch in ihre Befreiung aus der Hölle sind Vorstellungen vom endzeitlichen Gericht hineinkopiert, so dass die Gerechten als Stellvertreter aller Christen erscheinen. Christus ruft die Seelen heran mit der Antiphon Venite benedicti patris mei (vor V. 7249), die der Weissagung vom Weltgericht im Matthäus-Evangelium (25,34) entstammt; und entsprechend werden dann die maledicti verurteilt: Blibet, ir vorfluchten, yn der ewigen pyn. / do solt er ewiglichen yn syn (V. 7255f.). Der Descensus endet mit einem Gericht, dessen eschatologische Stilisierung - den compassio-Appellen der Kreuzigungsszene entsprechend - Bezug nimmt auf die Erlösungshoffnung des Publikums; die Erlösung durch den Descensus steht fur die erhoffte individuelle Erlösung der Christen am Ende der Zeit. Und so kann die von HymnenZur eschatologischen

P e r s p e k t i v e d e s D e s c e n s u s in d e n d e u t s c h s p r a c h i g e n

Spielen

vgl.

ELISABETH KUNSTEIN: D i e H ö l l e n f a h r t s s z e n e i m g e i s t l i c h e n Spiel d e s M i t t e l a l t e r s . Ein B e i t r a g z u r m i t t e l a l t e r l i c h e n u n d f r ü h n e u z e i t l i c h e n F r ö m m i g k e i t s g e s c h i c h t e . D i s s . K ö l n 1 9 7 2 , S. 70-85. WARNING s c h r e i b t d e r D e s c e n s u s s z e n e d e s h a l b „ d i e latente F u n k t i o n ritueller E n t l a s t u n g v o m D r u c k d e r D ä m o n e n f u r c h t " zu ( A n m . 11, S. 74). Z u r F r a g e , i n w i e w e i t e i n e s o l c h e E n t l a s t u n g m i t d e r in e i n i g e n S p i e l e n a n g e s c h l o s s e n e n S e e l e n f a n g s z e n e in E i n k l a n g s t e h t , vgl. GERHARD WOLF: Z u r H ö l l e m i t d e m T e u f e l ! D i e H ö l l e n f a h r t C h r i s t i in den P a s s i o n s - u n d O s t e r s p i e l e n d e s M i t t e l a l t e r s . In: D i e V e r m i t t l u n g g e i s t l i c h e r Inhalte i m d e u t s c h e n M i t t e l a l t e r . I n t e r n a t i o n a les S y m p o s i u m , R o s c r e a 1994. H r s g . v o n TIMOTHY R. JACKSON u. a., T ü b i n g e n 1 9 9 6 , S. 2 7 1 2 8 8 ; QUAST ( A n m . 15), S. 1 5 7 - 2 0 0 ; PETERSEN ( A n m . 3 8 ) i m A b s c h n i t t „ D e r e n t m a c h t e t e Teufel".

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Gesängen begleitete Prozession der Seelen ins Paradies57 als ein nicht nur interpretatorisches, sondern auch emotional wirksames Korrektiv zur Passionsdarstellung fungieren: Gelobet sijstu, milder Crist, frohlockt Eva unterm Himmelstor, want du eyn geweidiger konig bist. / [...] / wo il vns, das vnszerye wart gedacht (V. 7291 f. u. 7296). Der Zerknirschung, deren Anlass das Kreuz war, antwortet der Gottespreis am Ende der Höllenfahrt. Gegründet ist dieser Jubel aber nicht auf einen heilsgeschichtlich eindeutig definierbaren Akt, sondern auf den mythischen Erlösungssieg. Die Höllenfahrtsszene des Alsfelder Passionsspiels ist an die Auferstehungsszene angeschlossen, was der Praxis der meisten Spiele entspricht. Die Position des Descensus im geistlichen Spiel zeigt zum einen in deutlichster Form, dass das Descensus-Sujet von seiner dogmatischen Einbindung unabhängig, dass der Erlösungsmythos innerhalb des heilsgeschichtlichen Kontextes isolier- und verschiebbar ist. Und sie verweist zum anderen auf den kultischen Sitz im Leben, den der Descensus im Mittelalter besaß. Am Ostertag, der in Liturgie, Hymnik, Ikonographie und Predigt als Tag des Christus victor gefeiert wird58, gewinnt der Descensus-Sieg kultische Aktualität. Seine Fähigkeit, die victoria Christi narrativ zu explizieren, wird auf die Auferstehung angewandt: Der Sieg über den Tod wird mittels der Descensus-Erzählung als Sieg über den Teufel entfaltet; die in der Auferstehung Christi verheißene Auferstehung aller Christen findet in der Befreiung der Gerechten ihr gültiges Urbild. Das am Ostertag aufgeführte Osterspiel nimmt diese kultische Aktualisierung auf, indem es die soteriologische Bedeutung der Auferstehung in der anschließenden Höllenfahrtsszene ausspielt.59 Wie ein fur die Verbreitung der Descensus-Erzählung im Mittelalter hochautoritativer pseudo-augustinischer Ostersermo die Freude der ,aus der Hand der Hölle befreiten' Leser aus dem Descensus-Sieg ableitet60, so bindet etwa auch das Innsbrucker Osterspiel die Quintessenz der Aufführung an die Höllenfahrtsszene zurück. Am Ende des Spiels verkündet Johannes dem Publikum:

s?

Gloria tibi, domine,

qui surrextisti

a mortuis (vor V. 7291) und Gaudent

in celis anime

sanc-

torum (vor V. 7299). Ersteres ist die in Osterhymnen übliche Doxologiestrophe; vgl. Analecta hymnica medii aevi. Hrsg. von GUIDO M. DREVES/CLEMENS BLUME. Bd. 51, Leipzig 1908, zu Nr. 83, S. 88. 58

OSBORNE B. HARDISON: Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages. Essays in the Origin and Early History of Modern Drama. Baltimore 1965, S. 139-177.

59 60

Vgl. K.UNSTEIN (Anm. 54), S. 8 6 - 1 0 8 . Exsultent mundum beravit.

ergo populi catholica

christiani,

gratuletur

Unde exsultantes

lere secum dignetur

pro quibus sanguis

Ecclesia,

effusus est Christi.

quia Christus Dominus

voce humili supplicemus,

[...] Omnis per

[...] hominem

ut [...] liberatos

totum

quem fecerat

nos de manu inferi

liattol-

in caelum (Ps.-Augustin: Sermo 160 De Pascha II. PL 39, Sp. 2 0 5 9 - 2 0 6 1 ,

hier Sp. 2061). Zum Textverhältnis zwischen Nicodemus-Evangelium dessen Wirkung vgl. IZYDORCZYK (Anm. 16), S. 49f. u. 98.

und Sermo sowie zu

Mythische Variante

81

wir schullen vns frewen alle, daz wir sint erlost von dem ewigen valle. got hat vor vns geleden den tot vnd hat vns erlost vz der helle not: er hat gebunden den tufel mit seyner hant vnd hat czubrochen den helle bant. (V. 1293-98)61 Das Osterspiel reiht sich damit in die verschiedenen Ausdrucksformen des mythischen Erlösungsdenkens im Mittelalter ein. Es initiiert nicht eine „Remythisierung" der Heilsgeschichte 62 , sondern stellt aufgrund seiner szenischnarrativen Struktur einen Handlungsraum bereit, in dem die mythische Variante christlicher Erlösung sich performativ entfalten lässt. Seiner österlich-kultischen Aktualität verdankt der Descensus auch die Aufnahme in die Legenda aurea, wo er etwa ein Drittel des Auferstehungskapitels ausfüllt. 63 Ein Blick auf diesen im Spätmittelalter unübersehbar verbreiteten Text führt die bis hierher nachgezeichneten Formen mittelalterlicher Aktivierungen des Descensus-Mythos abschließend wieder zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück, zur Divergenz der mythischen Erzählung gegenüber dem theologischen Diskurs. Im Auferstehungskapitel der Legenda aurea werden sechs Fragen, die sich auf verschiedene mit der Auferstehung verbundene Theologumena richten, in der Manier scholastischen Distinktionsverfahrens erörtert, in Unterpunkte bis zur dritten Ebene zergliedert und meist mithilfe biblischer oder kirchenväterlicher Zitate beantwortet. Die Auferstehung wird nicht als Historia präsentiert, sondern als theologisches Problem, das mittels eines diskursiven Rationalisierungsverfahrens gelöst wird. Erzählung kommt dabei nur einmal ins Spiel, in einer mit kirchenväterlicher Autorität überlieferten Vision, die ein im Diskurs begründetes Theologumenon zu unterlaufen scheint. 64 Von der Beantwortung der ersten sechs Fragen hebt sich dann jedoch die Beantwortung der siebten, letzten Frage, der Descensus-Frage (qualiter sanctos patres, qui erant in limbo, inde eduxit et quid ibi egit, S. 242), gründlich ab. Der Descensus wird nicht diskursiv erörtert, sondern narrativ entfaltet und dies in kommentarlos anein61

62

63

64

Das Innsbrucker Osterspiel. Das Osterspiel von Muri. Mhd./Nhd. Hrsg., übersetzt, mit Anmerkungen u. einem Nachwort versehen von RUDOLF M EIER, Stuttgart 1967 (RUB 8660/61 ). WARNING ( A n m . 12).

Jacobi a Voragine Legenda aurea vulgo Historia Lombardica dicta. Hrsg. von THEODOR GRAESSE, Bratislava 3 1890, Cap. 54 (52), S. 235-245. Vgl. IZYDORCZYK (Anm. 16), S. 73f. An die Feststellung, dass Christus immortaliter auferstanden sei, wird die von Dyonisius in epistola ad Demophilum überlieferte Vision eines gewissen Carpus angeschlossen, in der Christus behauptet, zur Erlösung der Menschen auch nochmals das Leiden auf sich nehmen zu können (paratus sum rursus pro hominibus salvandis pati, S. 237). Die Vision wird erzählt, gerahmt freilich von dem theologischen Diskurs geschuldeten Vorbehalten (per hoc videtur, si possibile esset, adhuc pro hominibus mori paratus esset, ebd.; Hanc autem visionem, quam récitât Dyonisius, gratia hujus verbiposuimus, S. 238).

82

Christoph Petersen

ander gereihten Referaten des oben genannten pseudo-augustinischen Ostersermo (S. 242), des Nicodemus-Evangeliums (S. 242-244) und einer Gregor von Nyssa zugeschriebenen Stelle (S. 244f.), in denen die DescensusErzählung sich dreimal - variiert nur in Ausführlichkeit und Formulierung wiederholt. In der Antwort auf die Descensus-Frage tritt, im Text unreflektiert, Narration an die Stelle des theologischen Diskurses. Die Legenda aurea tradiert den Descensus als am Ostertag aktualisierte Erlösung, deren Erzählung einer diskursiven Rationalisierung enthoben ist, deren theologische Befragbarkeit erloschen ist in der Evidenz der narrativen Soteriologie des Mythos.

BRUNO QUAST (Universität K o n s t a n z )

Diß kommt von gelückes

zuoualle

Entzauberung und Remythisierung in der Melusine des Thüring von Ringoltingen

Geschichten von Feen und Meerjungfrauen sind weltweit verbreitet, sie zählen zu den poetischen Universalien. Schenkt man ethnologisch orientierten Untersuchungen Glauben, finden sich in ihnen Spuren eines totemistischen Hintergrunds, insofern diese Erzählungen die enge, häufig verwandtschaftliche Verbindung von Menschen mit Tieren oder halbtierischen Wesen zur Sprache bringen. Mit dem Totem, dem Tier, von dem eine Sippe abstammt, verbindet sich oft ein Tabu. Totemtiere dürfen von Sippenmitgliedern häufig weder berührt noch gegessen werden, von diesem Berührungs- und Speisetabu leite sich das fur Erzählungen von Meerjungfrauen zentrale Verbot her, der Identität der zumeist geheimnisvoll aufgefundenen anderweltlichen Frau auf den Grund zu gehen.1 Die wahre Identität der Undinen muss verborgen bleiben, deren Aufdeckung mündet regelmäßig in eine Katastrophe. Mythisches und Genealogisches ist hier von Anfang an aufs Engste miteinander verknüpft. Das Hochmittelalter kennt eine ungebrochene Begeisterung fur diesen Erzähltypus.2 So berichtet etwa Gervasius von Tilbury in den Otia imperialia (1209/1214) von einer adligen Herrin, die regelmäßig zu spät zur Messe kam und bei der Konsekration der Hostie nicht bleiben konnte. Da ihr Gemahl sie mit Gewalt in der Kirche zurückhielt, flog sie, als die Worte der Weihe gesprochen wurden, als Drachenfrau davon. Die halbtierischen Frauen der in Frage stehenden Erzählungen sind polymorph, mal kommen sie als dem Wasser entsteigende Schlangenfrauen daher, mal als Drachenfrauen, sie können 1

Z u m t o t e m i s t i s c h e n H i n t e r g r u n d vgl. J. KOHLER: D e r U r s p r u n g d e r M e l u s i n e n s a g e . ethnologische Untersuchung. Leipzig musdiskusion

1 8 9 5 , hier b e s . S. 3 2 f . u n d

in d e r n e u e r e n h i s t o r i s c h - v e r g l e i c h e n d e n

S. 3 7 f . Z u r

Eine

Totemis-

Ethnologie im allgemeinen,

zum

K o n z e p t t h e r i o m o r p h e r A h n e n im b e s o n d e r e n vgl. KARL-ΗΕΓΝΖ KOHL: D i e M a c h t d e r D i n g e . G e s c h i c h t e u n d T h e o r i e s a k r a l e r O b j e k t e . M ü n c h e n 2 0 0 3 , S. 1 7 6 - 1 9 1 , h i e r b e s . S. 178f. 2

BEATE KELLNER:

Ursprung

und

Kontinuität.

M i t t e l a l t e r . M ü n c h e n 2 0 0 4 , S. 4 0 2 - 4 1 3 .

Studien

zum

genealogischen

Wissen

im

84

Bruno Quast

auch beide Gestalten in sich vereinigen. In der Regel haftet ihnen etwas Dämonisches an. Melusine, so der französische Historiker JACQUES LE GOFF, sei „die mittelalterliche Form der Göttin-Mutter, die Fee der Fruchtbarkeit." 3 Sie sei Urbarmacherin und Erbauerin, schließlich in genealogischer Hinsicht „der Bauch, aus dem ein edles Geschlecht entsteht." 4 Den Ursprung eines Geschlechts aus der Verbindung eines Menschen mit einem jenseitig-halbtierischen Wesen behandelt auch Jean d'Arras' spätmittelalterlicher Melusinenroman. Jean d'Arras hat seinen Prosaroman La noble histoire de Lusignan - ein anderer Titel lautet Le Roman de Melusine en prose - fur den Herzog Jean de Berry und dessen Schwester Marie, Herzogin von Bar, in den Jahren 1387 bis 1394 verfasst. Der Pariser Buchhändler Couldrette schrieb wenige Jahre später, zwischen 1401 und 1405, einen Melusinenversroman, mit dem Titel Le Roman de Melusine ou Histoire de Lusignan. Thiirings von Ringoltingen Prosaroman Melusine ist 1456 nach Couldrettes Vorlage verfasst worden. Es handelt sich um eine bearbeitende Übersetzung. 5 1474 wurde der Roman in Augsburg in Johann Bämlers Offizin gedruckt und mit vielen Holzschnitten illustriert. Das literarhistorische Interesse an Thürings Melusine richtete sich in den letzten Jahren zum einen nachhaltig auf genderspezifische Aspekte. So gibt VOLKER MERTENS ZU bedenken, dass Melusine, da sie samstäglich einen wurms schwantz aufweise, als phallische Mutter, als machtvolle Frau imaginiert sein könnte. Sie würde dann eine mythische Ungeschiedenheit der Geschlechter repräsentieren. 6 Daneben hat die genealogische Konstruktion der Melusine die Forschung beschäftigt 7 , und hier insbesondere der Konnex von 3

4 5

6

7

JACQUES LE GOFF: Melusine - Mutter und Urbarmacherin. In: DERS.: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts, Weingarten 1987, S. 147-174, hier S. 163. Ebd., S. 164. Zu den Bearbeitungsstrategien des deutschen Prosaromans vgl. ELISABETH PINTO-MATHIEU: Le roman de Melusine de Coudrette et son adaptation allemande dans le roman en prose de Thiiring von Ringoltingen. Göppingen 1990 (GAG 524); zur funktionsgeschichtlichen Kontextualisierung, speziell zur Lösung volkssprachlicher Epik aus dem Kontext haus- und sippengebundener Literatur vgl. JAN-DIRK MÜLLER: Melusine in Bern. Zum Problem der .Verbürgerlichung' höfischer Epik im 15. Jahrhundert. In: Literatur - Publikum - historischer Kontext. Hrsg. von GERT KAISER, Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1977 (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 1), S. 29-77, hier bes. S. 55, 64, 75; ANNA MÜHLHERR: .Melusine' und .Fortunatus'. Verrätselter und verweigerter Sinn. Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea 10), S. 5. VOLKER MERTENS: Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert. In: Festschrift WALTER HAUG und BURGHART WACHINGER. Hrsg. von JOHANNES JANOTA. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 201-231, hierbes. S. 214f. BEATE KELLNER: Aspekte der Genealogie in mittelalterlichen und neuzeitlichen Versionen der Melusinengeschichte. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von KJLIAN HECK/BERNHARD JAHN, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), S. 13-38.

Entzauberung und Remythisierung

85

Gewalt und Gründung eines adligen Geschlechts8, den man kulturtheoretisch mit RENÉ G I R A R O S Theorie des gewalttätigen Ursprungs von Kultur befragt hat9. Wie in vielen Gründungsgeschichten - man braucht nur an den Städtebauer Kain zu denken, der zuvor seinen Bruder Abel erschlägt - , bildet auch in der Melusine ein Gewaltakt, die Verwandtentötung, den Auftakt zur Gründung eines Geschlechts. Reymund tötet seinen Onkel, bevor er Melusine trifft. Ich möchte in diesem Beitrag Überlegungen vorstellen, die die Thesen zur genealogischen Konstruktion aufgreifen und der Frage nachgehen, welche Instanzen der Roman für das mit Gewalt durchsetzte dynastische Ursprungsgeschehen verantwortlich macht. In Thürings Melusinenroman ist es vordergründig die jenseitig-anderweltliche Fee, die als wirklichkeitsmächtige Instanz das Geschick eines adligen Geschlechts steuert. Es lässt sich jedoch beobachten, wie bei Thüring eine Umbesetzung der wirklichkeitssteuernden Instanz vorgenommen wird. Die bedrohlichen Elemente, die mit der Melusinenfigur und ihrem familiären Hintergrund im Zusammenhang stehen, werden auffällig zurückgedrängt. Auch wenn dies nicht ganz gelingt, könnte man von einer Entzauberung der Melusine sprechen.11' Melusine wird zur braven Christin. Doch lässt sich so etwas wie eine Gegenbewegung zu dieser Neutralisierung anderweltlicher Elemente konstatieren. Das Geschick des adligen Geschlechts, das aus der Verbindung von Melusine und Reymund hervorgeht, verdankt sich bei näherem Hinsehen nämlich weit weniger den jenseitig-anderweltlichen Kräften der Melusine als vielmehr der den Weltenlauf steuernden Fortuna, die dämonische Züge trägt. Melusine wird entzaubert, Fortuna, dies die gegenläufige Bewegung, erhält ein dämonisches Gesicht. Wir haben es hier nicht mehr mit der providentiell gezähmten Fortuna des Hochmittelalters zu tun, die durch einen göttlichen Lenker kontrolliert wird, sondern mit einer freigesetzten chaotisch-dämonischen Macht. Diese Einfuhrung einer neuen unberechenbaren Macht, die den Lauf der Dinge reguliert, kommt einer Remythisierung der Welt gleich. Die Remythisierung der Welt stellt die Kehrseite der Entzauberung des Melusinengeschlechts dar. Das Dämonische der Melusine wird zurückgedrängt, es verschwindet aber nicht, könnte man sagen, sondern taucht in der Vorstellung einer dämonischen Fortuna wieder auf. Dies scheint mir eine zentrale poetische Aussage des spätmittelalterlichen Melusinenromans zu sein. Nicht mehr das unverfugbare jenseitig-anderweltli8 9

10

KELLNER (Anm. 2), S. 424-458. RENÉ GIRARD: Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt a.M. 1992; zuletzt DERS.: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. München, Wien 2002, S. 109-124 (Der Gründungsmord). Z u m Entzauberungsgestus des Erzählens

in der Melusine

des Thüring von Ringoltingen vgl.

GERHILD SCHOLZ WILLIAMS: Magie entzaubert: Melusine, Paracelsus, Faustus. In: Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200-1500. Hrsg. von JAMES F. POAG/THOMAS C. FOX, Tübingen 1989, S. 53-71, hier S. 54.

86

Bruno Quast

che Wesen Melusine, sondern die nicht minder unverfiigbare Fortuna steuert den Lauf der Dinge. Wenn Melusine, als sie sich von Reymund für immer verabschieden muss, klagt: Diß kommt von gelückes zuùalle, erkennt sie fur sich das Glück als eine ihr überlegene kosmische Kausalitätsinstanz an. Die Fee, die im Erzählschema der gestörten Mahrtenehe 11 , das der Melusine zugrunde liegt, als anthropomorphe Garantin von beständigem Glück auftritt, wird abgelöst durch ein abstraktes Glücks-Prinzip. Die Kausalitätsinstanz der Fortuna, das Glück als Weltenlenker, erweist sich nun jedoch als wesentlich unberechenbarer als die Fee. Melusine hatte dynastisches Wohlergehen und irdischen Reichtum an die Auflage gebunden, auf keinen Fall ihrer Identität nachzuspüren. Fortuna dagegen gibt keine Garantien, ihr Prinzip ist die Unberechenbarkeit des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs, sie erhöht und verwirft, wie es ihr gefallt. Man kann die Gegenläufigkeit von Entzauberung und Remythisierung mit Blick auf MAX WEBERS Überlegungen zur Modernisierung in der okzidentalen Kultur als Ausdruck eines ambivalenten Rationalisierungsprozesses fassen. WEBER pointiert seine Haltung in einer Formulierung, die es zu einiger Berühmtheit gebracht hat: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf." 12 Die dämonischen Züge der Melusine werden zurückgedrängt, der Zauber aus der Welt vermeintlich verbannt und eine abstrakte Schicksalsinstanz eingeführt. Die Rationalisierung, von der hier die Rede ist, wird freilich mit der Münze einer letztlich größeren Unberechenbarkeit erkauft. Im Schatten der Rationalisierung breitet sich eine neue Unheimlichkeit der Welt aus. Ich werde im folgenden an drei handlungstragenden Szenen des Thüringschen Melusinenromans 13 , die ich jeweils kurz skizziere, die erzählerischen Zum Schema der Mahrtenehe in diesem Band CHRISTOPH HUBER: Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der „gestörten Mahrtenehe" (besonders im Ritter von Staufenberg und bei Walter Map). MAX WEBER: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 3 1968, S. 665; zu Webers Rationalisierungstheorie STEPHEN KALBERG: Max Weber's Types of Rationality. Cornerstones for the Analysis of Rationalization Processes in History. In: American Journal of Sociology 85 (1980), S. 1145-1179, hier bes. S. 1146; zum Konzept der Entzauberung JOHANNES WLNCKELMANN: Die Herkunft von Max Webers .Entzauberungskonzeption'. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie 32 (1980), S. 12-53; WOLFGANG J. MOMMSEN: Rationalisierung und Mythos bei Max Weber. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hrsg. von KARLHEINZ BOHRER, Frankfurt a.M. 1983, S. 382-402, hier S. 390f.; HANS G. KIPPENBERG: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne. München 1997, S. 218-243 (Der große religionsgeschichtliche Prozeß der Entzauberung). Ich zitiere nach der Ausgabe: Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Frankfurt a.M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1,1), S. 9-176.

Entzauberung und Remythisierung

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Strategien der Entzauberung, der Neutralisierung anderweltlicher Aspekte, und die Gegenbewegung der Remythisierung, der Etablierung einer dämonischen Fortuna als neuer Kausalitätsinstanz nachzeichnen. Abschließend versuche ich, diese Konstruktion des Melusinenromans in einen größeren kulturgeschichtlichen Rahmen einzuordnen.

1. Entzauberung - Christianisierung des Dämonischen Die Szene: Reymund, nachdem er seinen Onkel bei einem Jagdunfall versehentlich getötet hat, begegnet drei Frauen an einem Brunnen, unter ihnen Melusine. Melusine fängt den ob seines getöteten Onkels untröstlich dahinreitenden Reymund, der sie offenbar nicht wahrnimmt, am Zaum seines Pferdes. D a R e y m o n d d i e s c h o n j u n c k f r a w e r s a c h e r s c h r a c k er/ v n d w e s t n i t o b e r l e b e n d i g o d e r t o d w a s / o d e r o b d a s e i n g e s p e n s t o d e r f r a w w a e r A l s o s a c h d i e j u n c k f r a w w o l d a s er toetlich

gestalt

was

vor

leid

vnd

von

schrecken/

vnd

das

er

sich

entfärbte

on

vnderlaß.(22,16-23,3)

Die erste Begegnung zwischen dem Adligen und der anderweltlichen Figur 14 unterliegt einer strengen Regie der Blicke. Reymunds Wahrnehmung der Wirklichkeit ist getrübt, er weiß nicht, ob er tot oder lebendig ist. Er befindet sich subjektiv in einer Art Zwischenzustand, es ist dies ein Schwanken zwischen Tot- und Lebendigsein, das ihn der anderweltlichen Jungfrau, die ja eine Untote ist, angleicht. Hier wechselt die Erzählregie auf den Blick der Melusine. Die Jungfrau sieht Reymund auf sich zureiten, der wie ein Toter aussieht und zunehmend an Farbe verliert. Sie erfasst damit also das Übergangshafte des reitenden Adligen, der sich, so hat es von außen den Anschein, zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten aufhält, der das Reich der Lebenden zu verlassen sich anschickt. Wichtig ist jedoch, dass bei aller Angleichung Reymunds an die anderweltliche Jungfrau eine ,innere' Ursache fur den Zwischenzustand Reymunds angeführt wird, seine Trauer und sein Leid. Die .psychische' Plausibilisierung eines Zwischenzustands wird dem Übergangshaften einer anderweltlichen Figur, die sich definitionsgemäß zwischen zwei Welten aufhält, entgegengesetzt. Die Angleichung der Figuren mündet hier in eine Differenz. Wie Reymund in auffälliger Weise Melusine angeglichen wird, so präsentiert sich umgekehrt eine Melusine, die dem Christen Reymund in nichts 14

V g l . F r i e d r i c h W o l f z e t t e l : Fee, F e e n l a n d . In: E M 4 ( 1 9 8 4 ) , S p . 9 4 5 - 9 6 4 ; L a u r e n c e H a r f L a n c n e r : Les f é e s au m o y e n âge. M o r g a n e et M e l u s i n e . La n a i s s a n c e d e s f é e s . G e n è v e 1 9 8 4 ; z u A n d e r w e l t - V o r s t e l l u n g e n in d e r d e u t s c h e n Literatur d e s M i t t e l a l t e r s vgl. e t w a H . R . PATCH: T h e O t h e r W o r l d A c c o r d i n g to D e s c r i p t i o n s in M e d i e v a l Literature. N e w Y o r k 1970.

88

Bruno Quast

nachsteht. Reymund wundert sich, dass Melusine ihn beim Namen nennt und sie offenbar auch vom Jagdunfall informiert ist. Erst wenn Reymund aus Melusines Mund den Namen Gottes hört, ist seiner Irritation ein Ende bereitet. Nun mag ich ettwas trostes haben das die jungfrauw kein gespenste noch keins vngelaubens/ sunder von Christenlichem bluot kommen/ vnd nicht ungelaubig sey. (24,15-18) Melusine versucht denn auch Reymunds Verdacht, es handle sich bei ihr um ein unchristliches Gespenst, aus der Welt zu schaffen: Doch so zweyfel auch nit das ich nit von gottes genaden vnd warlichen ein guot Cristen mensch sey/ wann ich gelaub alles das das ein guott cristen mensch sol halten oder gelauben Das gott von einer keuschen magt geboren ist/ vnd für vns arm sünder gelitten hab/ got vnd mensch/ auch erstanden/ zu himeln gefaren. (25,3-9)

Weiter heißt es summarisch: vnd alle artikel des Cristen gelaubens künde sy jm gar ordenlich erzelen. (25,9f.) Fassen wir die erzählerische Bewegung der Begegnungsszene noch einmal zusammen: Reymund als einer, der zwischen Leben und Tod steht, wird Melusine, der Untoten, angeglichen, um in einem ersten Schritt die Differenz zwischen den beiden Figuren um so deutlicher aufscheinen zu lassen. Die Welten, denen Reymund und Melusine angehören, gehen zwar ineinander über, dies aber nur scheinbar, denn Reymunds getrübte Wahrnehmung hat einen inneren Grund, die Trauer. In einem zweiten Schritt nun wird umgekehrt Melusine Reymund assimiliert, um erst hier die bei aller Ähnlichkeit aufscheinende Differenz in einer beiden gemeinsamen christlichen Identität aufzuheben! Auf diese zweite Angleichungsbewegung steuert die Szene zu, weil damit die Voraussetzung gegeben ist, dass Reymund sich auf Melusine einlassen kann. Den unsicheren Identitäten ist damit ein Ende bereitet. Das anderweltliche Wesen erweist sich als rechtgläubige und katechetisch unterwiesene Christin. Melusine hat schon eine Seele, wenn Reymund und Melusine zum ersten Mal einander begegnen. Paracelsus wird einige Jahre später den Grund für die Beseelung der Meerfee in der christlichen Eheschließung sehen. Bei Thüring jedoch ist die Meerfee von vornherein eine in die christliche Heilsgeschichte integrierte Figur. Das Dämonische ist christlich absorbiert. Entzauberung begegnet in dieser Szene in Gestalt der Angleichung des Anderweltlich-Dämonischen an ein christliches Weltbild.

2. Entzauberung - Historisierung des Mythischen Die Szene: Der Melusinensohn Geffroy mit dem Zahn ist auf der Suche nach dem Riesen Grymold, der eine Höhle bewacht, und entdeckt in der Höhle das Familiengeheimnis der Melusine. Im Kampf Geffroys gegen den Riesen gelingt es dem Ungeheuer, durch einen Felsspalt in eine Höhle zu entkommen.

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A m anderen Tag macht sich Geffroy auf, den Felsspalt zu suchen. Er bekreuzt sich und begibt sich blind suchend in die Höhle. vnd gieng fuerbaß weit vnd preit/ do er vand einen schein des tages do nam er sein glen [seine Lanze] fur sich vnd tastete mit der glene piß das er ein schoene kamer vand. dieselb in den felsen gehawen was/ vnd nit mer dann ein thuer hette.( 137,19-22) In der Mitte einer Kammer, die er in der Höhle vorfindet, entdeckt er ein Grab auf sechs goldenen Pfeilern. Es was auch auff dem erhaben kosparlichen vnd schoenen grabe gehawen von Calcedonien ein künig gewoppenet vnd gekroenet also ligende vnd was dabey zuo desselben kiinigs fuessen ein gehawen frawenpilde/ das hett ein tafel in den henden. (138,4-8) D i e s e Tafel enthält die Geschichte von Melusines Eltern. dar jnnen stuond geschriben. Dises ist der durchleuchtig vnd großmechtig künig Heimas mein allerliebster gemahel. der hie begraben leit. Vnd er was künig vnd herre zuo Albanie in dem künigreich/ Der hat mir geschworen do er mich zuo einem weib nam. das er sein lebtag die zeit vnd weil so ich in der kindtpedt leg/ mich nymmer besuochen. besehen/ noch nyemandt gestatten zuo thun/ oder befelhen/ Jn der zeyt keyn wissen haben, noch durch nyemandt anders erfaren woelte. vnd wann er mir nun diß nit gehalten/ vnd seinen eyde vnd gelüb übersehen hat. so hat er mich verloren.(138, 8-17) Heimas hat sein Gelübde, Persine nicht im Kindbett aufzusuchen, gebrochen. D i e Tafel berichtet weiter: Persine habe im gleichen Jahr drei Töchter zur Welt gebracht, sich v o n Heimas w e g e n des Tabubruchs getrennt und in den folgenden Jahren ihre Kinder allein großgezogen. Im Alter von fünfzehn Jahren habe sie ihren Töchtern v o n ihrem Vater erzählt. Do hab ich in [den Töchtern] gesagt die untrew. so ir vater mein gemahel der künig von Albanie/ so hie gegenwertig leit/ mir thett in Awelon do das gespenst ist./ Do ich meinen toechtem diß gesagt Do wart Melusina die iüngste vnder den tochtem also ser erzürnet vnd sprach/ muoter jch wil dich an meinem vater vmb dise missetat rechen. (139,6-11) Mit den beiden anderen Schwestern beschließt Melusine, ihren Vater zur Strafe im Felsen einzusperren. N a c h seinem T o d im Felsen hat ihm Persine, Melusines Mutter und Heimas Ehefrau, das aufwendige Grab zukommen lassen. Vnd do er gestarb/ do bestettiget ich in vnder disen stein so hie gegenwertig steet/ Vnd ich ließ dieses grab also machen vnd darauff sein gestalt hawen Darumb das die/ die dise tafel ansehen oder lesen sein ingedenck weren/ dann darein hat kein mensch mügen kommen Es were dann desselbigen geschlechtes von mir Oder von meinen

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90

toechtem herkommen Den risen so sy wartet den hab ich seyt das mein gemahel der künig herkam/ dar gelegt/ der diser abenthewr gehuetet hat das nyemandt darzuo komm der nit von vnserm geschlecht were.(139,14-24)

Weiter findet Geffroy auf der Tafel den Hinweis auf das Geheimnis seiner Mutter Melusine. Um das Schicksal ihres Mannes zu rächen, belegt Persine Melusine mit dem Fluch, sich samstäglich in eine Schlange verwandeln zu müssen. Wenn Melusine einen Mann finden würde, der sie samstags ungestört ließe, könnte sie das Schicksal einer Untoten abstreifen und wie ein normaler Mensch sterben. Geffroy erfährt mithin im Berg Avalon anhand der Schrifttafel, die das gehauene Frauenbild in Händen hat, die Geschichte seiner Familie. Das Besondere dieser Handlungskonstruktion gilt es nun deutlich zu machen. Wie der Brunnen, an dem Reymund die drei Jungfrauen trifft, auf die Anderweltlichkeit der Frauen hinweist - das Motiv ist keltischen Ursprungs und wird im Mittelalter immer wieder aufgegriffen -, so deutet die Höhle, in die Geffroy sich begibt, darauf hin, dass hier gleichfalls eine andere Welt betreten wird. Die Verortung der Anderwelt kann eine vertikale (Unterwelt, Himmel) oder horizontale (etwa entfernte Insel) sein. Der Zugang zur Anderen Welt ist schwierig, eine Form des Eingangs ist die Höhle. Heimas hat Persine im Kindbett verbotenerweise aufgesucht, und dieses Geschehen wird lokalisiert, es sei in Avelon passiert. Gemeint ist damit das jenseitig-anderweltliche Feenreich Avalon. Es überrascht nun zunächst, dass dieses Feenreich, ohne dass eine Erklärung des Erzählers beigefügt würde, mit dem Berg identifiziert wird, in dem Geffroy sich aufhält. Die Kammer mit der Grablege befindet sich nämlich, so heißt es in der Erzählung, in dem Berg Avelon. Die merkwürdige Ineinssetzung von Feeninsel Avalon und Berg ist erklärungsbedürftig. Nach mythischer Logik werden Vergehen und Strafe nicht getrennt gedacht. ERNST CASSIRER schreibt in seiner Mythentheorie im zweiten Band der .Philosophie der symbolischen Formen', auf die ich mich hier stütze, dass es die Ungeschiedenheit von Begriff und Sache, Bild und Ding, Darstellung und Dargestelltem, Ursache und Wirkung sei, die die mythische Denkform entscheidend konturiere.15 Weil Vergehen und Strafe nicht getrennt gedacht werden, kann, ja muss der Berg der Gefangenschaft mit dem Feenreich des Tabubruchs identifiziert werden. Wenn nun nach mythischer Logik einerseits die Räume von Tabubruch und Bestrafung zusammenwachsen, mit CASSIRER gesprochen, eine mythische räumliche „Konkreszenz"16 beobachtbar ist, so sind andererseits Vergehen und Bestrafung durch eine zeitliche Differenz voneinander geschieden. Wenn dêr ERNST CASSIRER: P h i l o s o p h i e der s y m b o l i s c h e n Formen. 2. Teil: D a s m y t h i s c h e Denken. D a r m s t a d t ' 1 9 9 4 , S. 5 1 , 5 9 - 6 1 . 16

Ebd., S. 8 2 .

91

Entzauberung und Remythisierung

erste Tabubruch zeitlich auch nicht bestimmt werden kann, er liegt in einem Außerhalb historischer Zeit, erzählt Persine ihren Töchtern erst nach fünfzehn Jahren von der Untreue ihres Mannes, erst dann ereilt ihn die Strafe des Eingesperrtwerdens. Hier sind wir mit einer sehr deutlichen Temporalisierung des mythischen Geschehens konfrontiert. Zeit, historische Zeit, dringt in den mythischen Raum ein, und dies in einem buchstäblichen Sinn. Denn die Kammer in der Anderwelt des Berges ist nichts anderes als ein Gedächtnis- und Erinnerungsraum17, in dem Geschichte auf besondere Weise hergestellt wird. Dies geschieht in zweierlei Form. Die Grablege als dynastische Repräsentationsform stiftet Erinnerung18, Geschichte, die nicht einfach da ist, sondern konstruiert werden muss, wird auf diese Weise sichtbar gemacht. Geschichte wird aber auch lesbar gemacht durch das Speichermedium der Schrifttafel, die die Familiengeschichte enthält. Über das Monument der Grablege und das Medium der Erinnerung verstetigenden Schrift wird historische Dauer hergestellt. Mythisches, der erste ,historisch' nicht verortbare Tabubruch und die Folgen der Bestrafung, wird über Medien der Erinnerung, über Grablege und Schrift, ins Historische überführt. 19 Ein Effekt der Historisierung des Mythischen ist der Sachverhalt, dass das Tabu der Melusine, der Fluch der samstäglichen Verwandlung, nicht wie häufig in Melusinengeschichten einfach gegeben ist, sondern bei Thüring familien-geschichtlich als Bestrafung durch die Mutter plausibilisiert wird. Die anderweltlichen Wesen, allen voran Melusine und ihre Schwestern, haben eine Geschichte. Melusine als Ahnfrau des Geschlechts wird historisch legitimiert. Entzauberung nimmt hier also die Form einer Historisierung des Anderweltlich-Mythischen an.

17

Vgl. ALEIDA ASSMANN: Erinnerungsräume. Gedächtnisses. München 1999.

"

Vgl. MICHAEL BORGOLTE: Art. .Grablege'. In: LMA 4 (1999), Sp. 1628-1630; KURT BAUCH: Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa. Berlin 1976; RENATE KROOS: Grabbräuche - Grabbilder. In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hrsg. von KARL SCHMID/JOACHIM WOLLASCH, München 1984, S. 285-353. Zur Transformation des Mythos in Geschichte in der Melusinenerzählung des Jean d'Arras vgl. eine anders gelagerte Perspektive bei GERHILD SCHOLZ WILLIAMS: Magie und der Mythos der Bannverletzung. Mélusine de Lusignan von Jean d'Arras (1393). In: DIES.: Hexen und Herrschaft. Die Diskurse der Magie und Hexerei im frühneuzeitlichen Frankreich und Deutschland, München 1998, S. 37-59, hier S. 40. Der Mythos wandle sich zur Geschichte ,,[d]urch die Einbettung des Mythos in die Erzählung von für wahr gehaltenen Ereignissen".

"

Formen

und

Wandlungen

des

kulturellen

Bruno Quast

92

3. Remythisierung - Dämonisierung der Fortuna Die Szene: Bevor Reymund auf Melusine trifft und das genealogische Gründungsgeschehen seinen Anfang nimmt, reitet er mit seinem Oheim zur Jagd. Eine Stemenkonstellation deutet an diesem Abend daraufhin, dass jemand, der seinen Herrn tötet, zu großem Reichtum gelangen wird. DO sy nun ritten/ vnd der Graff das gestiem des himels vnd der planeten begunde achten/ wann er ein guotter Astronomus was/ vnd ettwas künfftiger ding sich wiste zuo berichten/ so sieht er vnder ander Sternen einen steren/ do er den ersach erseüffczet er ser tieff vnd sprach Ach got wie ist dein wunder so groß vnd so manigualtig/ oder wie mag die natur an ir selbs ein soeliche gestalt haben/ das sy einen man laest werden der von seinem übel tuon vnd seiner missetatt sol in grossen vnd zeittlichen eren erhoecht werden/ wann es doch vnzimlich ist das von übel tuon yemant sol auffkommen/ gelobt oder geeret werden.( 18,11 -19,6)

In einem zweiten Anlauf konkretisiert Graf Emerich gegenüber Reymund das Gesehene, die Missetat besteht darin, dass einer seinen Herrn tötet: Da sich ob auff dise stund yeezund einer seinen herren toettet er wurd gewerlicher herr/ vnd wurd maechtiger vnd gelückhaffiiger/ reycher vnd gewaltiger denn keiner seiner freund oder beysaessen ye ward.(19,10-I4)

Nachdem es sich so zugetragen hat, wie es in den Sternen steht, Reymund beim Versuch, einen aus dem Unterholz hervorbrechenden Eber zu erlegen, unwillentlich seinen Oheim tötet, bricht er in eine bittere Klage aus: Ach gelück wie hastu mich so gar mit jamer/ mit eilend/ herczlaid vnd vngefelle beladen Niemant sol sich an dich lassen/ wann du vil laids vnd iamers kanst zuofuegen dem du es ganst/ vnd kanst machen auß dem armen einen reychen/ auß dem reychen einen armen/ dem einen hilffest auf/ dem andern nider/ einem bist du sueß/ dem andren bitter Ach gelück was hastu mich jungen armen toren gezigen/ wann du hast mich an leib vnd an sei/ an eren vnd an guott verderbt/ vnd mich in grosse noett vnd eilend vnd arbeyt bracht.(21,2-11).

Auffällig ist die Pluralität der Instanzen, die bemüht werden, für den Auf- bzw. Abstieg verantwortlich zu sein. Die Rede des Grafen spricht von den Sternen, von Gott und gleich danach von der Natur an ir selbs, Sterne, Gott und Natur sind nicht in Beziehung gesetzt. In Reymunds Klage ist nur mehr vom Glück die Rede, das für das Auf und Ab zuständig sei. Die Hierarchisierung der schicksalsbestimmenden Mächte, die die mittelalterliche Diskussion beherrscht20, steht hier aus, welche Instanzen das Geschehen bestimmen, bleibt 20

F . P. PICKERING: Literatur und darstellende K u n s t i m Mittelalter. B e r l i n 1 9 6 6 ( G r u n d l a g e n der Germanistik 4), S. 112-145.

Entzauberung und Remythisierung

93

unentschieden. 21 Zwar entwickelt sich die Handlung der Melusine wie die Umdrehung des Fortunarades, sie beginnt mit dem sozialen Aufstieg Reymunds durch die Adoption, erreicht ihren Höhepunkt in der in jeglicher Hinsicht fruchtbaren Melusinenehe und beginnt mit der Abwärtsbewegung, als Reymund seiner Neugierde nachgibt und die samstägliche Verwandlung der Melusine erspäht. Doch bereits der Aufstieg Reymunds erweist sich für ihn als Abstieg - du, gemeint ist das Glück, du hast mich an leib vnd an sei/ an eren vnd an guott verderbt, heißt es aus Reymunds Mund. Die Berechenbarkeit der Umdrehung des Rades erweist sich als trügerisch. Das Glück, das im Melusinenroman am Werk ist, arbeitet mit unerwarteten Peripetien, Aufstieg und Abstieg sind nicht kalkulierbar. Die dämonische Amoralität des Glücks wird dadurch besonders deutlich, dass der gesellschaftliche Aufstieg Reymunds mit der unwillentlich-zufälligen Tötung eines Menschen einhergeht. Indem Reymund auf Anraten Melusines den Verwandten des Grafen den Jagdunfall verheimlicht, macht er sich zum Komplizen dieser Amoralität. 22 Melusine ist der Willkür der Fortuna wie jede(r) andere unterworfen, Melusine wird zur Figur in einem für alle Beteiligten unberechenbaren und undurchschaubaren Spiel. An die Stelle der dämonischen Melusine, die den Aufstieg eines Geschlechts befördert, tritt die dämonische Fortuna, sie ist es, die den Lauf der Dinge bestimmt. Die Melusinengeschichte als Ursprungsmythos eines adligen Geschlechts erfahrt in den spätmittelalterlichen Melusinenromanen eine Umbesetzung, insofern die schicksalsmächtige Protagonistin, „der Bauch, aus dem ein edles Geschlecht entsteht", gewissermaßen ausgetauscht wird. Die Ursprungsgeschichte als Schöpfungsgeschichte eines Geschlechts wird mittels der Fortunapassage, die der Begegnung mit Melusine vorangeht, neu gerahmt, und es ist dieser Rahmen, der die Melusinengeschichte steuert. Man kann diese Neuperspektivierung des Melusinenstoffes auf eine schöpfungstheologische Formel bringen: Am Anfang war die entfesselte Fortuna. Die Remythisierung der Welt tritt in Gestalt einer Dämonisierung der Fortuna auf.

V g l . WALTER HAUG: P e t r a r c a - C u s a n u s - T h ü r i n g . Drei P r o b e s t ü c k e zu e i n e r G e s c h i c h t e d e r I n d i v i d u a l i t ä t i m 14 / 1 5 . J a h r h u n d e r t . In: I n d i v i d u a l i t ä t . H r s g . v o n MANFRED FRANK/ANSELM HAVERKAMP, M ü n c h e n

1988 (Poetik

und Hermeneutik

13), S. 291-324, h i e r S. 321; vgl.

auch

JAN-DIRK MÜLLER: Die F o r t u n a d e s F o r t u n a t u s . Z u r A u f l ö s u n g m i t t e l a l t e r l i c h e r S i n n d e u t u n g d e s S i n n l o s e n . In: F o r t u n a . Hrsg. von WALTER HAUG/ BURGHART WACHINGER, T ü b i n g e n

1995, S. 216-238, h i e r

b e s . S.

223-227.

V g l . ANNA MÜHLHERR: G e s c h i c h t e

und

Liebe i m M e l u s i n e n r o m a n .

In: P o s i t i o n e n

des

R o m a n s i m s p ä t e n Mittelalter. H r s g . v o n WALTER HAUG/ BURGHART WACHINGER, T ü b i n g e n 1991 ( F o r t u n a V i t r e a 1), S. 3 2 8 - 3 3 7 , hier S. 3 3 I f .

94

Bruno Quast

IV. Willkürgott und Zufall Die Dämonisierung der Fortuna kann man als erzählerische Antwort auf die Entzauberung des Melusinengeschlechts begreifen. Der Zauber verschwindet nicht, er nimmt in der Vorstellung einer willkürlich agierenden Fortuna neue Form an. Die Entzauberung des Melusinengeschlechts mittels Christianisierung und Historisierung mündet über eine Dämonisierung der Fortuna in eine Remythisierung der Welt. Fasst man die Entzauberung als Rationalisierung, insofern die anthropomorphe Glücksbringerin Melusine einem überlegenen abstrakten Glücksprinzip untersteht, so zeigt sich, dass im Rücken einer solchen Rationalisierung eine neue unberechenbare Macht heraufzieht, eine entfesselte und bedrohliche Fortuna. Diß kommt von gelückes zuoualle (119,16), klagt Melusine gegenüber Reymund, als sie ihren Ehemann verlassen muss. Wir müssen das Zitat hier vervollständigen, um erkennen zu können, welches Glück gemeint ist. Diß kommt von gelückes zuoualle. das einen hoehet den andern nydert. Aber du [damit ist Reymundt gemeint] pist selbs schuldig daran, vnd von deiner grossen vnwahrheit vnd untrew wegen, so wirdest du dein herczliebes liep verlieren vnd vmb sy kommen. (119, 16-120,2) Die Glücksvorstellung, die hier zugrunde liegt, schließt die Vorstellung eines entscheidungsmächtigen Subjekts keineswegs aus. Reymund hätte sich anders verhalten, anders entscheiden können. Niemand hat ihn gezwungen, Melusine öffentlich als Schlange zu denunzieren. Er hat sich von Affekten, von Grimm und Zorn, leiten lassen. Zufall und Verantwortung gehen prinzipiell zusammen. Der entscheidungswillige Mensch kann die Zeit, die unberechenbar daherkommt, für sich nutzen, indem er entschlossen handelt. Jeder ist seines Glückes Schmied. Es ist der gegenüber Thüring von Ringoltingen historisch jüngere Machiavelli, der im 25. Kapitel seines II Principe, 1513 entstanden und 1532 postum veröffentlicht, diese frühneuzeitliche Fortunavorstellung theoretisch entwerfen wird.23 Reymund hat die Chance, die er hatte, verspielt. Der Erzähler klagt, nachdem Reymund Melusine öffentlich bloßgestellt hat: Ach got reymunnd wie hast du dich so gar von aller venunfft gescheiden vnd ließt vnbescheydenheit in dir regieren so gewaltigklichen. (115,6-9) Als das Glück von Melusine und Reymund noch ungetrübt ist, kurz bevor der Glückswechsel mit Reymunds Tabubrach einsetzt, drei ihrer Söhne zu Königen gekrönt geworden sind, der vierte sich Fürst nennen darf und der fünfte, Freimund mit Namen, ins Kloster eintreten will, da heißt es: beyde, also Reymund und Melusine, danckten [...] got von herczen vnd mit mund seiner genaden das er inen so grosses gelück vnd seid hette zuogefueget. (94,23-25) "

Vgl. hierzu MOLLER (Anm. 21), hierbes. S. 231-234.

95

Entzauberung und Remythisierung

Nur wenige Zeilen später mischt sich der Erzähler ein, um den Glückswechsel einzuläuten. Wo Glück nicht mit Leiden und Kummer ein Ende nehme, so ist es doch ein gewißheit der ewigen verdamnuß. (95, 7f.) Dann zitiert er Augustinus: das die gelückselikeyt diser weit ist ein gewises zeichen der ewigen verdamnuß. (95,11-13) Gott, der die Zufalle steuert und mit seiner Hand das Rad der Fortuna 24 dreht, ist eine im Mittelalter beliebte Vorstellung. 25 Das Konzept der providentiellen Steuerung des Zufalls findet sich bei dem spätantiken Autor Boethius, in dessen im Mittelalter weitverbreiteter Schrift De Consolatione philisophiae.26 Der Augustinismus, wie er uns im Kommentar des Erzählers begegnet, und die boethianische Vorstellung des gelenkten Zufalls gehen Hand in Hand, insofern beide von einer göttlichen Einmischung ins Weltgeschehen ausgehen. Zwischen die mittelalterliche Vorstellung einer göttlich-providentiell gezähmten Fortuna und die frühneuzeitliche Vorstellung einer vernunftbetonten Selbstermächtigung des Subjekts, das entschlossen die nicht mehr providentiell gelenkten Wechselfalle der Zeit fur sich zu nutzen weiß, tritt in Thürings Melusinenroman eine unzähmbare fortuna velox, eine willkürlich agierende, sich rasend schnell bewegende Fortuna, die weder Gott noch der Mensch im Griff hat. Die Tötung eines Verwandten passt nicht in das Bild eines göttlich gelenkten Zufalls, und in Reymunds Verhalten wider jede Vernunft, wie der Erzähler sagt, indem er Melusine denunziert, spiegelt sich ein Weltverhältnis, das von einer Selbstermächtigung des Subjekts noch weit entfernt ist. Die Fortunavorstellung im Melusinenroman des Thüring von Ringoltingen ist nicht mehr mittelalterlich und noch nicht frühneuzeitlich. Es ist dieses Nicht mehr und Noch nicht, es ist überdies die produktive Spannung des Melusinenromans, unterschiedliche, sich einer Hierarchisierung widersetzende Instanzen für den Lauf der Dinge verantwortlich machen zu können, die diesen Roman als Dokument eines epochalen Umbruchs ausweist. H A N S B L U M E N B E R G hat die Überlegung angestellt, dass die absolute Mächtigkeit des unverlässlichen nominalistischen Gottes als Voraussetzung zu begreifen sei für die frühneuzeitliche Selbstbehauptung des Menschen gegen eine rücksichtslose Welt. „Der nominalistische Gott ist der überflüssige Gott, er kann durch den Zufall [...] ersetzt werden." 27 Der Zufall im Melusinenroman Zur Ikonographie des Fortunarades in Mittelalter und Renaissance vgl. PICKERING ( A n m . 20), S. 141-143; EHRENGARD MEYER-LANDRUT: Fortuna. Die Göttin des G l ü c k s im Wandel der Zeiten. Berlin 1997, S. 39f. Alfred Doren: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance. In: Vorträge der Bibliothek W a r b u r g 1 9 2 2 / 2 3 . H r s g . v o n FRJTZSAXL, Leipzig/Berlin 1 9 2 4 , S. 7 1 - 1 4 4 . Z u r B o e t h i u s - R e z e p t i o n i m d e u t s c h e n u n d l a t e i n i s c h e n M i t t e l a l t e r vgl. FIDEL RÄDLE/ FRANZ JOSEF WORSTBROCK, B o e t h i u s , A n i c i u s M a n l i u s S e v e r i n u s . In: hier Sp.

2

VL

1 (1978), Sp.

908-927,

916-927.

HANS BLUMENBERG: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a . M . 1996 ( s t w 1 2 6 8 ) , S.

165.

96

Bruno Quast

Thürings trägt allerdings die Spuren des nominalistischen Willkürgottes, der Prozess der Selbstermächtigung des Menschen ist noch nicht so weit vorangetrieben, dass der Mensch das Glück, das sich ihm bietet, selbstbewusst ergreifen könnte. Thürings Melsuinenroman macht deutlich, dass der von BLUMENBERG skizzierten Fortschrittsgeschichte vom theologischen Absolutismus des Spätmittelalters zur frühneuzeitlichen Selbstbehauptung des Menschen die gegenläufige Bewegimg einer Remythisierung eingeschrieben ist. In Thürings Roman wird dem Melusinenzauber in Form von Christianisierung und Historisierung ein Ende bereitet. Doch darf man das Beharrungsvermögen des Dämonischen nicht unterschätzen. Es taucht in neuer Gestalt auf, in der Gestalt einer weltimmanenten, ungezähmten und menschlich nicht beherrschbaren Fortuna, die man, nicht mehr mittelalterlich und noch nicht frühneuzeitlich, als Signatur eines epochalen Umbruchs werten darf.

II. Mythos und Genealogie

SUSANNE BÜRKLE

(Universität Köln)

Erzählen vom Ursprung: Mythos und kollektives Gedächtnis im Annolied

Sich mit Mythos, seiner Erforschung und Präsenz im Mittelalter zu beschäftigen, sei es Mythos als Denkform, bedeutsame Erzählung, als .formale' (Erzähl)Struktur, seien es die der mittelalterlichen Kultur hinterlassenen antiken Götter- und Heroengeschichten, hätte der wissenschaftlichen Redlichkeit halber, zumindest als vororientierendes Konzept, eine begriffliche Klärung, womöglich in Abgleichung mit dem Gebrauch des Begriffes bzw. seiner Alternativen im Mittelalter zur Voraussetzung. Im Blick auf die lange Geschichte der Applikation und Verwerfung des Mythosbegriffs wie die der wissenschaftlichen Mythosforschung wäre damit allerdings aufs Engste eine Vorentscheidung auf einen methodischen Zugriff 1 verbunden. Angesichts der Vielfalt der Mythostheorien, innerhalb derer sich das Phänomen Mythos geradezu als Schnittstelle verschiedener kulturwissenschaftlicher Diskurse 2 erweist, scheint die vor kurzem von FRANK BEZNER formulierte Skepsis gegenüber selbstständigen, dem Gegenstand vorgeordneten .Ansätzen', gegenüber stabilen, konsistenten Theorien, die sich als Methoden auf die mittelalterliche Literaturwissenschaft .anwenden' ließen, durchaus angebracht; er plädiert hingegen dafür, "die Rolle theoretischer Intervention in historiéis radikal pragmatisch zu den-

Die Definition bzw. der methodische Zugriff in Abhängigkeit von einer herrschenden wissenschaftstheoretischen Einstellung betont MANFRED FRANK: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. 1 Teil. Frankfurt a. M. 1982 (es 1142), S. 80. Vgl. dazu die verschiedenen Forschungsdisziplinen zugeordneten "Sieben Mythosbegriffe" in: ALEIDA

ASSMANN/JAN

ASSMANN:

.Mythos'.

In:

Handbuch

religionswissenschaftlicher

G r u n d b e g r i f f e 4 ( 1 9 9 8 ) , S . 1 7 9 - 2 0 0 , h i e r S . 179ÍT. Ü b e r b l i c k e b i e t e n a u c h : A X E L HORST-

MANN: Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. In: Archiv für Begr i f f s g e s c h i c h t e 2 3 ( 1 9 7 9 ) , S. 7 - 5 4 ; S . 1 9 7 - 2 4 5 . CHRJSTOPH JAMME: E i n f ü h r u n g in d i e P h i l o -

sophie des Mythos. Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991; .Mythos'. In: TRE 23 ( 1 9 9 4 ) , S . 5 9 7 - 6 7 8 ; L U C BRISSON: E i n f ü h r u n g in d i e P h i l o s o p h i e d e s M y t h o s . B d . 1: A n t i k e , M i t t e l a l t e r u n d R e n a i s s a n c e . A u s d e m F r a n z ö s i s c h e n v o n ACHIM RUSSER. D a r m s t a d t

1996;

JÜRGEN MOHN: Mythostheorien. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung zu Mythos und Interkulturalität. München 1998.

100

Susanne Bürkle

ken [...] und problembezogene Lösungen zu entwickeln"3. Das kann allerdings nicht bedeuten, den Mythosbegriff im gänzlich Unbestimmten zu belassen, wie etwa in seiner alltagssprachlichen Verwendung, die sich in etlichen mediävistischen Studien findet - beispielsweise der Mythos Karl der Große4 - , in der Hoffnung auf einen assoziativ sich einstellenden Mehrwert, ohne jedoch abzuklären, was ein so beschworenes Phänomen zum Mythos macht. Es erscheint mir darüber hinaus ebenso wenig hilfreich, Aspekte des Zyklischen oder der Jederzeitlichkeit im vermeintlichen Konsens der Forschung unhinterfragt, also ohne nähere Bestimmung, mit dem Etikett des Mythischen, als spezifisch mythisches Denken, zu belegen, implizit also Zeitkonstruktionen eines womöglich für den griechischen Mythos typischen5 und religionswissenschaftlich virulenten Begriffs zu unterstellen und zu verallgemeinern. Auch die durchaus berechtigten Versuche der Spurensuche mythologischer Relikte - etwa der keltischen Mythologie 6 - in mittelalterlicher Literatur scheinen, wenn sie damit zugleich an kollektive, präreflexive, mithin vorschriftliche Vorstellungsgeflechte heranzureichen suchen, nicht nur abhängig von einem traditionellen Paradigma der Mythosforschung7, sondern auch mit einem über thematische Bezüge hinausweisenden, weiten Mythosbegriff ganze Problemkomplexe eher zu verschleiern als zu klären: und zwar jene von Mentalitäts- und Mediengeschichte hinterlassenen, bislang ungelösten Fragen nach den Residuen des

3

FRANK BEZNER: Latet Omne Verum? Mittelalterliche 'Literatur'-Theorie interpretieren. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, W e i m a r 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 575-611, hier S. 6 1 0 und S. 575-586.

4

So etwa MAX (CERNER: Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos. Köln, W e i m a r 2000.

5

Dazu KLAUS KOCH: Q u ä d ä m . Heilsgeschichte als mythische Urzeit im Alten (und N e u e n ) Testament. In: V e r n u n f t des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift z u m 60. Geb. von WOLFHART PANNENBERG. Hrsg. von JAN RÖHLS/GUNTHER WENZ, Göttingen 1988, S. 252-288, hier S. 284, 252ff. Zur Zyklizität i m griechischen Wirklichkeitsbegriff bei HANS BLUMENBERG: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des M y thos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von MANFRED FUHRMANN, München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66, hier S. 52ff. A u c h BLUMENBERG reserviert, abgeleitet aus d e m griechischen Mythos, generell die zyklisch-geschlossene Grundfigur für den Mythos und setzt ihn ab gegen die linear-offene Struktur der Geschichte. HANS BLUMENBERG: Arbeit a m Mythos (1979). Frankfurt a. M. 1996 (Sonderausgabe der 5. Aufl. 1990), S. 142. Zur Zyklizität vgl. den Diskussionsbericht zu BLUMENBERG: Mythos und Dogma. In: Terror und Spiel, S. 527-547, hier S. 532f. (MANFRED FUHRMANN).

6

Vgl. z u m Problem etwa JAN-DIRK MÜLLER: Zeit im Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5.-8. April 2000. Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/VICTOR MILLET, Tübingen 2002, S. 381-397, hier S. 390.

7

O b man im Mythischen Reflexivität respektive Selbstreflexivität entdeckt, hänge v o m wissenschaftlichen Paradigma ab. So mit Bezug auf CLAUDE LÉVI-STRAUSS bei GERHART VON GRAEVENITZ: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung. In: D V j s 73 (1999), S. 94-115, hier S. 106.

Erzählen vom Ursprung

101

Populären in einer Gelehrtenkultur8, nach Strukturen und Schemata mündlichen Erzählens in schriftliterarischen Texten. Auch das Interesse am Erzählen vom Ursprung scheint unumgänglich von Mythos und Mythischem besetzt: Wird doch die Figur des Ursprungs fast schon generalisierend mit Mythos oder mythischer Vorstellung respektive archaischem Denken in traditionalen Gesellschaften identifiziert: So etwa erzähle der Mythos immer ein Ursprungs-Geschehen, was sich ab initio ereignet habe9, d. h. er habe "... in der Urzeit, d. h. im Anfang der jetzigen Lebensordnung Geschehenes zum Gegenstand"10, oder er versuche, die Unbegreiflichkeit des Anfangs durch Ursprungsgeschichten zu beseitigen oder wenigstens zu erklären." Von solchen Voreinstellungen und anthropologischen Prämissen wird hier zunächst einmal abgesehen. Vielmehr soll im folgenden die Frage nach der Möglichkeit der Applikation eines Mythoskonzepts und dessen 8

'

Vgl. etwa: ROGER CHARTIER: Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten. In: Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Hrsg. von ULRJCH RAULFF, Berlin 1987, S. 69-96; im Überblick: URSULA PETERS: Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion. In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 1. Hrsg. von JOHANNES JANOTA U. a., Tübingen 1992, S. 63-86, hier S. 80ff. MIRCEA ELIADE: Gefüge und Funktionen der Schöpfungsmythen. In: DERS.: Schöpfungsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten, Darmstadt (1991) 1993, S. 9-34, hier S i l : "Einen Mythos erzählen heißt verkünden, was sich ab initio ereignet hat. [...] Der Mythos verkündet das Eintreten einer neuen kosmischen .Situation' oder erzählt ein Ursprungs-Geschehnis. Er ist also der Bericht einer .Schöpfung': man erzählt, wie was bewirkt wurde, wie etwas zu sein angefangen hat." (ebd.) In struktureller Identität zum Schöpfungsmythos beweise und berichte jeder Ursprungsmythos "eine .neue Situation' - neu in dem Sinne, daß sie nicht seit dem Anfang der Welt bestand. Ursprungsmythen fuhren den kosmogonischen Mythos weiter und ergänzen ihn: sie berichten, wie die Welt umgewandelt wurde ..." (hier S. 32). Vgl. weiter: MIRCEA ELIADE: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Aus dem Französischen von EVA MOLDENHAUER. Frankfurt a. M., Leipzig 1998 (it 2242), S. 8Iff., S. 85ff. Vgl. ζ. Β. die Mythos-Definition im Glossar von: Grundzüge der L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t . H r s g . v o n HEINZ LUDWIG ARNOLD/HEINRICH DETERJNG,

München

2

10

"

1997, S. 679f.: "Primär mündliche Ursprungserzählung, die das übernatürlich-wunderbare Entstehen [...] darstellt. Die [...] mythische Welt ist gekennzeichnet durch zyklische (nichtlineare) Zeitvorstellung ..."; HERWIG GÖRGEMANNS: Anfang. In: Reallexikon fur Antike und Christentum. Supplement-Bd. 1 (2001), Sp. 401-448. Eine mögliche Typologie von Ursprungsmythen der Religionswissenschaft bietet der Artikel , Mythos' (Anm. 2, 1994), S. 615f. WOLFHART PANNENBERG: Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung. In: Terror und Spiel (Anm. 5), S. 473-525, hier S. 474. HANS-ROBERT JAUSS: D i s k u s s i o n s b e r i c h t zu BLUMENBERG ( A n m . 5), S. 5 3 7 . Z u m k o n t r o v e r s

diskutierten Verhältnis von Ätiologie und Mythos, von explanatorischem und begründendem Erzählen, von .echtem Mythos' und bloß ätiologischer Erzählung vgl. hier S. 535f. Für eine scharfe Trennung plädieren: HERMANN BAUMANN: Mythos in ethnologischer Sicht. I. In: Studium Generale 12,1 (1959), S. 1-17, hier S. 3ff.; PANNENBERG (Anm. 10), S. 476f.; dagegen . M y t h o s ' ( A n m . 2, 1 9 9 4 ) , S. 6 5 4 ; vgl. a u c h ASSMANN ( A n m . 2 ) , S. 1 8 6 ; HILDEGARD CANCIK-

LlNDEMAIER. Ätiologie (Aitiologie). In: Handbuch (Anm. 2), S. 391-394.

Susanne Bürkle

102

Praktikabilität am konkreten Gegenstand Annolied im Blick auf dessen Erzählen vom Ursprung entwickelt und erprobt werden. Nach einem kursorischen Textdurchgang mit dem Fokus Ursprung der universalhistorischen Abschnitte (1-33) stehen anschließend jene auffallend im Annolied positionierten und erstmals zusammengefugten Herkunftsgeschichteri der vier gentes, oder in älterer Terminologie12 der vier Stämme - die der Schwaben, Bayern, Sachsen und Franken - im Zentrum, die im Falle der origo gentis der Franken einer vergleichenden Lektüre mit den entsprechenden lateinischen Versionen unterzogen und auf ihre Variation, Funktionalität und konzeptionellen Konsequenzen hin analysiert und diskutiert werden sollen.

I. Erzählen vom Ursprung und die Auratisierung der Vergangenheit {Annolied 1-33) ... qui non respicit initium non prospicit finem...: „Wer nicht auf den Anfang zurückblickt, erkennt das Ende nicht."13 Dieses auf Augustinus zurückgehende Zitat fasst prägnant die fur die mittelalterliche Geschichtsschreibung wie auch für das Annolied grundlegende christliche Zeit- und Geschichtsvorstellung zusammen: die Bündelung der drei Zeitebenen, innerhalb derer Gegenwart vergangenheitsorientiert und zukunftsperspektiviert bestimmt ist. Zugleich könnte diese Aussage mit der ihr eigenen Privilegierung des Anfangs im Blick auf künftige Zeiten geradezu Programmatik, Konzeption und thematische Vielschichtigkeit des Annoliedtextes umreißen: Denn Erzählungen vom Ursprung sind für das Annolied konstitutiv. Bereits DORIS KNAB erkannte in den 60er Jahren im "Rückgriff auf die Anfänge, auf den Ursprung", das entscheidende "Prinzip der Darstellung."14 Trotz seines schmalen Umfangs ist der äußerst spät, erst durch Martin Opitz' Druck vollständig und ohne Autorsigna12

KARL FERDINAND WERNER: .Volk, Nation', III-VI. Mittelalter. In: Geschichtliche Grundbegriffe 7 (1992), S. 171-281, hier S. 174ff. HANS-WERNER GOETZ: Gentes. Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese im 9. Jahrhundert. In: M1ÖG 108 (2000), S. 85-47, hier S. 85ff.

13

Aurelius Augustinus: De civitate Dei. Hrsg. von B. DOMBART/A. KALB, Leipzig 1928/29, VII,7, S. 283. Dt. Übersetzung: Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe. Eingeleitet und übertragen von WLLHLEM THIMME, Zürich 1955, S. 368. Dazu HANS-WERNER GOETZ: Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein. In: HZ 255 (1992) S. 61-97, hier S. 66. Vgl. auch DERS.: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter. Berlin 1999 (Orbis mediaevalis - Vorstellungswelten des Mittelalters 1), S. 208-242.; MATHIAS HERWEG: Ludwigslied, De Henrico, Annolied. Die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung. Wiesbaden 2002 (Imagines Medii Aevi 13), S. 274: "Die Vergangenheit liefert Exempel, ist Instrument und Medium der Mahnung, Warnung und Orientierung für gegenwärtiges Tun und Denken ..."

14

DORIS KNAB: Das Annolied.

Probleme seiner literarischen Einordnung. Tübingen 1962, S. 73.

Erzählen vom Ursprung

103

tur überlieferte Text15 von großer Komplexität: Er zeigt Diskursinterferenzen zu deutschen und lateinischen Texten, die Kombinatorik verschiedener geschichtsdeutender Positionen und Texttypen, die virtuose Verwendung des figuralen Repertoires in Zahlensymbolik und Typologie, entziffert zwischen den Zeilen den massiven Konflikt zwischen der Politik des Bischofs und den Interessen der Kölner Bürgerschaft16, vor allem aber komprimiert er in seinem "chronistischen Doppelkursus"17 über ein dichtes Netz von Referenzen Geschichten und Geschichte der Welt, von Reichen, gentes, Städten und der ecclesia. Der in der Forschung bekanntlich inzwischen in drei Teile - Heilsgeschichte (1-7), Profangeschichte (8-33), Anno-Exemplum (34-49) 18 - gegliederte Text entfaltet über die Figur des Ursprungs auf diesen Ebenen ein ganzes Spektrum an jeweils intertextuell vernetzten Geschichten: Das meint mehr 15

Folgende Ausgaben werden zugrunde gelegt: Das Annolied. Hrsg. von MARTIN OPITZ, Ulm 1639. Diplomatischer Abdruck besorgt von WALTER BULST, Heidelberg 1 9 4 6 , 3 1 9 7 6 (Editiones Heidelbergenses 2); Das Annolied. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt u. kommentiert von EBERHARD NELLMANN, Stuttgart 5 1999 (RUB 1416); Das Annolied. In: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150. Hrsg. von WALTER HAUG/BENEDIKT KONRAD VOLLMANN, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 596-647, S. 1425-1449. Im Folgenden zitiert AL mit Abschnitts- und Versangabe nach NELLMANN. Herangezogen auch: WILHELM WLLMANNS: Über das Annolied. Beiträge zur Geschichte der älteren deutschen Litteratur Heft 2, Bonn 1886, S. 3-135.

16

Zum Gesamtkomplex vgl. die Forschungsüberblicke: URSULA LIEBERTZ-GRÜN: Zum Annolied. Atypische Struktur und singulare politische Konzeption. In: Euphorion 74 (1980), S. 223-256; STEPHAN MÜLLER, Vom Annolied zur Kaiserchronik. Zu Text- und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik, München, Heidelberg 1999 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), der trotz der anachronistisch anmutenden Quellenfrage (Stichwort .ältere Reimchronik') teils festgefahrene Forschungspositionen zu Recht in Frage stellt; kritisch zu MÜLLER allerdings HERWEGS (Anm. 13), S. 402ff.; 423ff., perspektivenreiche Sichtung der Forschung, die ich erst kurz vor der Drucklegung zur Kenntnis nehmen konnte. Vgl. auch GISELA VOLLMANN-PROFE: Wiederbeginn volkssprachlicher Schriftlichkeit im hohen Mittelalter. 1050/60-1150/60 (1986). 2. durchges. Aufl. Tübingen 1994 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, 1,2); WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfangen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung. Darmstadt 2 1992 (Germanistische Einführungen), S. 46-74, hier S. 60ff. Zu Typologie und städtischem Konflikt v. a. ANSELM HAVERXAMP: Typik und Politik im Annolied. Zum Konflikt der Interpretationen im Mittelalter. Stuttgart 1979. Neuerdings: DERS: 1074-1119 Cologne after Anno II: the Anno-Lied. Erscheint in: N e w History of German Literature. Hrsg. von HANS-ULRICH GUMBRECHT/ DAVID WELLBERY, Cambridge MA (Havard University Press), S. 1-22.

17

HERWEG (Anm. 13), S. 277. Zur forschungskontroversen Strukturierung nun HERWEG (Anm. 13), S. 373ÍT. LlEBERTZGRÜN (Anm. 17), S. 224, wie auch zunächst CHRISTIAN KLENING, Annolied. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von WALTHER KJLLY, Gütersloh, München 1988, S. 185-187, hier S. 186, qualifizieren den 3. Teil als "Darstellung der Lebensgeschichte". Bezogen aber auf Abschnitt 34,1-3 (Den vili tiurlîchin man muge wir nú ci bîspili havin, den als ein spiegil anesin), ist er als Exemplum zu lesen. Vgl. dazu HAUGS Komm. (Anm. 15), S. 1444; DERS. (Anm. 16), S. 63f.; HAVERKAMP, Typik (Anm. 16), S. 59ff.

"

104

Susanne Bürkle

oder weniger selbständige Episoden, die bisweilen narrativ ausgestaltet, manchmal auf bloße Anspielungen, fast bis an die Grenze zur Leerstelle, reduziert sind. Wie in den Konventionen der Universalgeschichtsschreibung19 setzen die heilsgeschichtlichen Abschnitte (1-7) mit der Schöpfungsgeschichte als absolutem aneginne (2,1) der Welt durch Licht und Logos ein, wo Chaos in Ordnung überfuhrt wird und Gott den Menschen - Adam - erschafft in der anthropologischen Konzeption als dritte Welt zwischen einer materiellen und immateriellen, weil er aus Körper und Seele bestehe.20 Wie Luzifer sei auch der erste Mensch Adam gefallen, habe anders als die Gestirne, Elemente und Tiere die von Gott am Ursprung verliehene Ordnung verkehrt und sei damit wie die folgenden fünf werlt (Weltalter 4,4) der Hölle preisgegeben. Durch die Inkarnation Christi, also zu Beginn des sechsten Weltalters, werden die Menschen nach Sündenvergebung und Taufe nun zu man (4,13), d. h. zu Gefolgsleuten Christi; in dessen direkter Nachfolge die Apostel diu heidinscapht (5,4) überwinden, über die Begründung der sedes apostolicae und gefolgt von Märtyrern und Heiligen sozusagen die civitas Christi21, die ecclesia, über die Welt hin ausdehnen. In diesen heilsgeschichtlichen Abschnitten, die anhand der sechs aetates, dem mittelalterlich geläufigen Ordnungskonzept der Heilsgeschichtsdarstellung, den programmatischen Rahmen des Annolieds abstecken, markieren Schöpfung und Inkarnation Christi die zentralen Einschnitte von absolutem Anfang und Wiederbeginn. Während Christus gemäß dem Weltalterkonzept, das die Heilsgeschichte strukturiert, den Beginn der sechsten aetas einleitet, bleibt allerdings der im Konzept erwartbare und im Geschichtsdiskurs des Mittelalters durchaus eingelöste22 Ausblick auf das absolute Ende, quasi die

" 20

Vgl. ANNA-DOROTHEE VON DEN BRJNCKEN: Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising. Diisseldorfl 957, S. 234. Zur Drittweltkonzeption vgl. ALOIS MARIA HAAS: Der Mensch als dritte werilt im Annolied. In: ZfdA 95 (1966), S. 271-281. Zur Interpretation unter dieser Perspektive vgl. auch: JOHANNES RATHOFER: Das Annolied und Denkmäler der Dichtkunst. In: Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter. Eine Ausstellung des Schnütgen-Museums der Stadt Köln und der Cäcilienkirche 1975, Köln 1975, S. 75-87; HERWEG (Anm. 13) S. 276f., S. 288.

21

Hier in Anlehnung an Otto von Freising: Chronica sive historia de duabus civitatibus [lat.-dt ] Hrsg. von WALTHER LAMMERS, übersetzt von ADOLF SCHMIDT, Darmstadt 3 1974 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters - FSGA 16), III, 14, S. 238; vgl. LAMMERS, Einleitung, S. XLVII.

22

Etwa Otto von Freising (Anm. 21), VIII, S. 583ff. Vgl. VON DEN BRJNCKEN (Anm. 19), Tafel III. Gegen VON DEN BRJNCKEN gibt allerdings Paulus Orosius: Historiae adversum paganos libri VII. Hrsg. von CAROLUS ZANGEMEISTER, Wien 1882 (CSEL 5); dt. Übersetzung: Paulus Orosius: Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht. Übersetzt, erläutert von ADOLF LLPPOLD, eingeleitet von CARL ANDRESEN, Zürich, München 1985 (Die Bibliothek der alten Welt), 7,27,16; 1 prol. 15f., ebenfalls einen Ausblick auf die Endzeit. Dazu: HANS-WERNER

Erzählen vom Ursprung

105

siebte aetasn als eschatologische Dimension, in diesem Teil ausgeblendet: Demnach ist das Erscheinen Christi nicht nur heilsgeschichtlich konsequent in den Mittelpunkt gerückt, sondern bereits hier markant als Wendepunkt oder Schwelle 24 positioniert, die den Beginn der neuen Zeit mit einer auf völlig veränderten Bedingungen aufruhenden Ordnung markiert. Der Aspekt des neuen Anfangs" verstärkt sich im profangeschichtlichen Teil (8-33): Auch dieser kulminiert gegen Ende (31) in der Geburt Christi als König unter Augustus, und zwar in der Begründung eines niuwefnj kunincrîch[es] (31,15) mit dem für die Geschichtskonstruktion des Textes so entscheidenden Verdikt, dass demi muoz diu werilt al intwichin (31,16). 26 Das in der Forschung hoch umstrittene neue, christliche Königreich mit seiner Verwerfung der Welt konkretisiert sich zunächst einmal in Parallele zum GOETZ: Die Geschichtstheologie des Orosius. Darmstadt 1980 (Impulse der Forschung 32), S. 53. GOETZ (Anm. 13, 1992), S. 65, betont die Applikation des ne/nto-Konzepts für die Funktion der heilsgeschichtlichen Epochengliederung mit der zeitlichen Zäsur der Inkarnation; DERS. (Anm. 13, 1999), S. 199. Zur augustinischen Grundlegung des Konzepts vgl. ALFRED EBENBAUER: Historiographie zwischen der Spätantike und dem Beginn volkssprachlicher Geschichtsschreibung im Mittelalter. In: La littérature historiographique des origines à 1500, Tome

l , dir. HANS ULRICH GUMBRECHT/URSULA LINK-HEER/PETER MICHAEL SPANGEN-

BERG, Heidelberg 1986 (GRLMA XI/1), S. 57-113, hier S. 72. "Erst die Geburt Christi trennt die Weltgeschichte von der Heilsgeschichte des israelitischen Gottesvolkes." Vgl. auch RODERICH SCHMIDT: Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte. In: Zeitschrift fur Kirchengeschichte 67 (1955/56), S. 288-317. Vgl. generell zur christlichen Epochenschwelle WALTER HAUG: Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. von REINHART HERZOG/ REINHART KOSELLECK, München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 167-194, hier S. 179ff. Christus, typologisch gewendet als zweiter oder letzter Adam seit Paulus vgl. Rm 5.14; 1 Cor 15.22.45; GÖRGEMANNS (Anm. 9), Sp. 427; vgl. auch PANNENBERG (Anm. 10), S. 521f., und dessen Überlegungen zu mythischen Elementen der Inkarnation, S. 517fT. Über AL 2,2 stimma/Logos ist wohl hier wie im Straßburger Fragment des Ezzoliedes (in: Frühe deutsche Literatur [Anm. 15], S. 566-570), II, 13, Schöpfung und Erlösung zusammengenommen. Zur Figur der 2. Schöpfung in Bezug auf Christus als neuer Adam vgl. GÖRGEMANNS (Anm. 9), Sp. 440. Eine durchaus plausible Lesart mit futurischer Bedeutung, auf das Ende aller Zeiten bezogen, schlägt HERWEG (Anm. 13), S. 288, vor. So auch Otto von Freising (Anm. 21), LAMMERS, Einleitung, S. LII: Das Erscheinen Christi präfiguriert den endgültigen Sturz des Weltstaates. Allerdings bleibt das muezen (Al 31,16) durchaus ambig. Auch scheint es mir nicht um den f a k t i s c h e n Bestand des Reiches zu gehen, das tatsächlich in .seiner Substanz erhalten bleibt', sondern um die Prädominanz und Geltung der Weltgeschichte. "Das neue Königreich Christi ist nicht von der Art, daß es etwa mit dem Kaisertum in Wettbewerb und Streit überhaupt nur geraten könnte" (ERNST VON REUSNER: Das Annolied: Historische Situation und dichterische Antwort. In: DVjs 45 [1971], S. 212-236, hier S. 226 und ebd. Anm. 40). Die Positionen der Forschung zum .neuen Königreich' bei MÜLLER (Anm. 16), S. 307ff.; HERWEG, hier S. 349, Anm. 572, S. 431, Anm. 721.

106

S u s a n n e Biirkle

heilsgeschichtlichen Teil im Ursprung der ecclesia, ihrer Errichtung in Rom durch Petrus, der die Stadt, die bis dahin der Macht des Teufels unterstand, ci Cristis eigine (32,4), also in den Besitz Christi, überschreibt. Rom ist Ausgangspunkt der im weiteren auf die gens der Franken und die Stadt Köln enggefiihrten Kirche. Wie auch immer man dieses neue Königreich Christi zunächst einmal konkret konzeptualisiert, unbestritten ist die Evidenz der im Annolied mit der Inkarnation Christi radikal gesetzten, p r o g r a m m a t i s c h e n Z e i t e n w e n d e , die das erzählte Geschehen insgesamt perspektiviert und textorganisatorisch wie konzeptionell quasi ,νοη hinten' motiviert. Sie konfligiert auf den ersten Blick mit dem Weltreichsschema der Danielschen Traumvision (11-17), das diesen zweiten Teil des Textes geschichtstheologisch bestimmt und das für "jüdische wie christliche Historiographen ein durch göttliche Offenbarung sanktioniertes Ordnungssystem der Weltgeschichte und zugleich ein prophetisches und eschatologisches Programm"27 bereithielt. Nicht nur scheint die radikale - christliche - Epochenschwelle im Kontext der regna-Theorie fur profanhistorische Diskurse eher untypisch28, sondern, damit einhergehend, stellt sich in diesem Zusammenhang das Problem der Kontinuität und Diskontinuität des letzten der vier Weltreiche, des Römischen Reiches. Denn mit dem im Annolied so akzentuierten und positionierten christlichen Anfang ist gleichzeitig auch ein - relatives - Ende29 bedeutet: zum einen der civitas diaboli Rom (32,2), zum andern, in durchaus antithetischem Bezug auf das ,neue' Rom, das Ende der heidnischen Städte, repräsentiert durch Ninive und Babylon, und der vier heidnischen Weltreiche, deren .Geschichte' der profanhistorische Überblick präsentiert. Und dabei wird äußerst

27

EBENBAUER ( A n m . 2 3 ) , s . 7 0 .

28

Zur V e r w e n d u n g d e s W e l t r e i c h s s c h e m a s in der mittelalterlichen Chronistik vgl. ebd.; VON DEN BRINCKEN ( A n m . 19), S. 2 3 5 , Tafel V. Zur Einschätzung i m A L und zu vergleichbaren profan-historiographischen Diskursen vgl. KNAB ( A n m . 14), S. 61 ff.; PETER KNOCH: Unters u c h u n g e n z u m Ideengehalt und zur Datierung d e s Annoliedes.

In: Z f d A 8 3 ( 1 9 6 4 ) , S. 2 8 0 f f . ,

v. a. aber die N ä h e zu Rupert von Deutz, S. 2 8 8 . Einen Überblick von H i e r o n y m u s bis ins 12. Jh. der D e u t u n g e n d e s letzten R e i c h s und der Epochenzäsuren gibt ANNEGRET FIEBIG: tier wilde. von

W e l t d e u t u n g nach Daniel in der Kaiserchronik.

vier

In: D e u t s c h e Literatur und Sprache

1 0 5 0 - 1 2 0 0 . Festschrift für Ursula H e n n i g z u m 65. Geb. Hrsg. von ANNEGRET FLE-

BIG/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Berlin 1995, S. 2 7 - 4 9 , hier S. 3 I f f . Zur .doppelten Zäsur' (Inkarnation und Konstantinische W e n d e ) vgl. bei Otto von Freising ( A n m . 2 1 ) , IV,4, S. 3 0 6 f f . : Vide regno

Christi

crescente

regnum

mundi paulatim

imminui

(hier S. 3 1 0 ) . Anders

h i n g e g e n setzt Orosius ( A n m . 2 2 ) , 111,8,8, die Hauptzäsur mit d e m Wirken A u g u s t u s ' und der Geburt Christi. 29

Vgl. dazu auch A L 4,3: Sô vuorter

cir hellin

die vunf werlt

alle, unze got gesante

Der profanhistorische Teil des A L setzt an der S c h w e l l e der 2. zur 3. aetas der durch Christus eingeleiteten 6. aetas;

sinin

sun.

ein und endet mit

vgl. KNAB ( A n m . 14), S. 61 ff. D i e aetates

entspre-

chen in der A b f o l g e deijenigen der Weltreiche, die i m historiographischen Diskurs, w i e i m A L , mit d e m Gewaltherrscher N i n u s einsetzen; das 4. Reich steht an der S c h w e l l e der 6. aetas.

Erzählen vom Ursprung

107

selektiv im Vergleich zur lateinischen Weltchronistik verfahren. Der Konflikt latent divergierender geschichtsdeutender Diskurse, der in der Konfrontation von Heils- und Weltgeschichte aufscheint und die Kontinuitätsproblematik und die Frage nach der weiteren Präsenz der historia mundana nach der christlichen Epochenzäsur tangiert, erklärt sich nämlich nicht zuletzt in der Auswahl der thematisierten vorchristlichen Geschichte. Wie die antik-heidnische Universalgeschichtsschreibung stellt das Annolied an den Beginn der Profangeschichte die Partien zum Heiden Ninus (8-11)30 und ist thematisch explizit auf die grimmin heidinscapht (8,3) auch im Weiteren fixiert. Unter nahezu konsequenter Aussparung des heilsgeschichtlich bedeutsamen israelitischen Gottesvolkes und der vor allem typologisch relevanten alttestamentarisch-jüdischen Figuren31 - Moses, David, Hiob etwa werden erst im Anno-Teil als Präfigurationen ins erzählte Geschehen eingebunden32 - wird hier sozusagen p a g a n e G e s c h i c h t e geboten. Sie erscheint unter dem Verdikt dieser strikt christlichen Zeitenwende radikal verworfen, wenngleich sie über punktuelle Anspielungen33 heilsgeschichtlich rückgebunden ist. Fast schon dualistisch anmutend, scheinen sich hier strenggenommen zwei Epochen abzuzeichnen, vergleichbar etwa Orosius, diejenige der tempora Christiana und jene vorchristliche antikheidnische Periode mit Unglauben, Krieg und Sünde.34 In der ^¿-Forschung üblicherweise ,nur' als Profanhistorie qualifiziert - wobei derart der besondere Fokus in diesem Teil des Textes auf heidnisch-außerjüdische Geschichte35 in seiner Brisanz tendenziell übersehen wird - , wird ihre, zwar schon immer irritierende36, Insertion in das heilsgeschichtliche Konzept des Textes notdürftig etwa wirkungsstrategisch mit dem im 11. Jahrhundert erwachten Interesse 30

Vgl. VON DEN BRJNCKEN (Anm. 19), S. 234, und die Reflexionen von Orosius (Anm. 22), 1,1,1-15. Dazu GOETZ (Anm. 22), S. 12ff., S. 18ff.

31

Im Unterschied dazu etwa die ersten Passagen der im literarhistorischen Kontext des Annolieds bedeutsamen Annalen Lamperts von Hersfeld (Annales. Hrsg. von OSWALD HOLDEREGGER, neu übers, von ADOLF SCHMIDT, eri. von WOLFGANG DIETRICH FRITZ, mit einem Nachtrag von STEFFEN PATZOLD, Darmstadt 4 20 00 [Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters - FSGA 13]), oder Ottos von Freising Chronica (Anm. 21), die die Personen der ,Welt- und Heilsgeschichte' gemeinsam aufführen.

32

Dazu v. a. HAVERKAMP (Anm. 16, 1979), S. 37ff.; 102ff.; HAUG (Anm. 16), S. 65f.

33

Vgl. etwa A L 9,14 die Anspielung auf Jonas und damit auf die Rettung der Heidenstadt Ninive durch Gott als Zeichen dafür, dass Gott Mitleid mit den Heiden hat, Ion 3,1 ff.; vgl. auch Ninive als Heidenkirche im Z u s a m m e n h a n g von Jonas im Walfischbauch bei Augustinus (Anm. 13), XVIII,44; A L 10,26 die Erwähnung Jerusalems oder AL 20,17 Noahs.

34

Vgl. Orosius (Anm. 22), Einleitung, S. 35. GOETZ (Anm. 22), S. 56ff. Die massive Epochenzäsur bei Orosius schließt auch hier die Kontinuität des römischen Reiches unter christlichen Vorzeichen nicht aus (GOETZ, S. 76ff.).

35

Punktuell ist die heidnische Komponente im 2. Teil von AL, v. a. in Bezug auf die Weltreiche, immer gesehen, selten aber argumentativ einbezogen worden; anders etwa: P. A. THURLOW: A u g u s t i n e ' s City of God, Pagan History and the Unity of the Annolied. In: Reading Medieval Studies 6 (1980), S. 44-67, hier S. 46ff.

36

Vgl. dazu oben Anm. 18.

108

Susanne Btirkle

der Laien an Welt und der klerikal-christlichen Durchdringung der profanen Sphäre erklärt.37 Die Hereinnahme und Akzentuierung profan-paganer Geschichtsereignisse lässt sich meines Erachtens jedoch anders plausibilisieren: Offensichtlich geht es in diesem Teil der auf die ,alte Welt' der Heiden konzentrierten Profangeschichte um Geschichtserinnerung der Urzeit der Kultur bzw. der menschlichen Zivilisation und um den Anfang der weltlichen Geschichte von Städten, Reichen und gentes, das heißt um den Anfang der gegenwärtigen soziokulturellen Ordnungen und deren konstituierender Wirkung. Profan-pagane Geschichte ist zwar nach der Epochenschwelle unter christlichen Vorzeichen .verdammt' und überwunden38, sie ist aber, quasi im dialektischen Umschlag,' zugleich als gegenwartswirksame, bedeutsame Vergangenheit in das Konzept der Heilsgeschichte hereingeholt. "Thus the Annolied implies and presupposes to an extraordinary extent Roman history and Cologne's place in this history, in spite of the great divide between the ancient and the contemporary .modern' world."39 Das gelingt insofern, als dass die dem Thematischen übergeordnete, also die der Geschichtskonstruktion inhärente Tendenz der Negativierung der ,alten Welt' über eine narrativ erzeugte, sinnstiftende Aufladung dieser , weltlichen' Vergangenheit konterkariert wird. Sie setzt ein mit dem grundsätzlichen aneginne (8,2) der Stadt - typologisch konfrontiert mit dem kurz zuvor gepriesenen, bereits christlichen Köln (7) - , entwirft in den ersten Abschnitten (8-10) eine Art Kulturätiologie, präsentiert in Form ambivalent besetzter kollektiver Erinnerungsfiguren40. Abgesetzt von einem zwar nicht mehr vorzivilisatorischen - so Otto von Freising in Bezug auf Eusebius-Rufinus41 - , aber urzeitlichen Friedenszustand, einer Re37

WALTER HAUG: Schriftlichkeit und Reflexion (1983). In: DERS.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 51-67, hier S.

38

Vgl. oben Anm. 29. HAVERKAMP, Cologne (Anm. 16), S. 2 Ohne die weitreichenden Implikationen werden Erinnerungsfiguren verwendet in Anlehnung an JAN ASSMANN: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. von DERS./TONIO HÖLSCHER, Frankfurt a. M. 1988 (stw 724), S. 9-19, hier S. 12: Erinnerungsfiguren sind Fixpunkte des kulturellen Gedächtnisses als "schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit [...]" Vgl. weiter: JAN ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992). Nach der 2., durchges. Aufl. 1997. München 2000 (Beck'sche Reihe 1307), S. 37ff. Drei Merkmale bestimmen die Besonderheit der Erinnerungsfiguren: der konkrete Bezug auf Zeit, Raum und eine Gruppe und die Rekonstruktivität als eigenständiges Verfahren. Zu Erinnerungsfiguren und Mythos vgl. hier S. 52.

5 8 ; DERS. ( A n m . 16), S. 6 0 f . 39 40

41

Otto von Freising (Anm. 21), 1,6, S. 68, in dt. Übers.: "... hatte sein Sohn Ninus [...] als erster Kriegswirren über die Welt gebracht und fast den ganzen Orient seiner Herrschaft unterworfen. Das konnte er um so leichter, als die Menschen, noch unzivilisiert (homines rudes) und ungebildet, wie sie waren, weder durch Waffen geschützt, noch in Kriegsführung geübt waren; sie besaßen noch keine Kenntnis des Kriegswesens, hatten sich noch nicht zu Gemeinschaften zusammengeschlossen und kannten weder Gesetze noch Künste und Wissenschaften;

Erzählen vom Ursprung

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miniszenz an ein goldenes Zeitalter42, stiftet der Assyrer Ninus43, etymologisch plausibilisiert, die Stadt Ninive und ganz im Sinne der augustinischmittelalterlichen Deutung als Begründer der Weltherrschaft Krieg und Zerstörung, errichtet dessen Ehefrau Semiramis die Stadt Babylon44 aus den Trümmern des alten babylonischen Turms, bringen Nimrod und andere andersweltliche Giganten mit der Erbauung des Turms als Provokation Gottes die Vielfalt der Sprachen in die Welt. Dem Ursprung der mit Krieg und Verwüstung konnotierten .weltlichen' Stadt, die in der Zerstörung der .heiligen' Stadt Jerusalem gipfelt, folgt die bereits erwähnte und anders perspektivierte, vom Ende her gedachte und aufs Ende zielende Exegese der Danielschen Prophetie und regwa-Theorie45 über die vier sich ablösenden und vergehenden heidnischen Weltreiche. Sie strukturiert in positivierender, die Schrecknisse minimierender Umdeutung des Hieronymuskommentars46 das am Vergehen orientierte Nacheinander der Reiche. Qualitativ und quantitativ gesteigert, in zunehmender topographischer Ausdehnung und personifiziert in ihren Herrschern, zerstören Darius (Meder) und Cyrus (Perser) Babylon, umgreift bereits der griechische Alexander fast den ganzen Erdkreis47, bis den Römern diu werlt al gehörsam (16,12) ist. Die an

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wie Eusebius sagt: ,Mehr wie wilde Tiere umherschweifend, kannten sie keine Städte, [...], keine Morallehren, [...], keine Gesetze, [...]. Künste, Wissenschaften und Philosophie waren ihnen noch nicht einmal dem Namen nach bekannt' ..." HERWEG (Anm. 13), S. 279, deutet diesen vorzivilisatorischen Zustand jedoch ,als paradiesischen Urzustand', weist allerdings auch auf die zivilisatorischen Aspekte der Ninus-Partien hin. Zur .Erfindung' der zivilisatorischen Ursprünge in der Geschichtsschreibung vgl. auch GOETZ (Anm. 13, 1999), S. 166f. Vgl. Komm. HAUG (Anm. 15) zu 602,8,13f. mit Verweis auf Vergi Is 4. Ekloge, also der Darstellung der pax Augusta. Vgl. dazu: ALEIDA ASSMANN: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Köln, Weimar, Wien 1999 (Beiträge zur Geschichtskultur 15), S. 31 ff. So bereits Augustinus (Anm. 13), IV,6, XVI und XVIII, 2; Orosius (Anm. 22), 1,1,1-5; 1,4; 11,2,1-4; 11,3,1 f.; VII,2,13. Nach ARNO BORST, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Stuttgart 1957-1963. Bd. 2,1, S. 593, sei der Turmbau im AL so präsentiert, "als ob er schon mitten in der Epoche der heidnischen Weltreiche stattgefunden [habe] und eng mit ihr zusammengehangen hätte." Quasi historisch korrekt folgt im AL die Danielprophetie (Dn 7) nach der Zerstörung Jerusalems (vgl. AL 10,26) durch das Neubabylonische oder Chaldäische Reich unter Nebukadnezar (Jerusalem 597 vor Chr. erobert, der Tempel bereits 586 zerstört). Nach Dn 5,30 ist Belsazar letzter König Babylons, mit dem Dn 7,1 einsetzt. Deshalb bietet der Bericht AL 12 die konsequente Fortsetzung des Babylonischen Reichs. Dazu NELLMANN (Anm. 15), Komm. S. 84 zu 11-17. Im Detail: EBERHARD NELLMANN: Die Reichsidee in deutschen Dichtungen der Salier- und frühen Stauferzeit. Annolied - Kaiserchronik - Rolandslied - Eraclius. Berlin 1963 (Philologische Studien und Quellen 16), S. 50ff.; FIEBIG (Anm. 28); HERWEG (Anm. 13), S. 28Iff., S. 444ff. Driu deil her der werlite (AL 15,22) ließen sich mit Augustinus vielleicht v. a. als der 3. Teil verstehen, den Asien repräsentiert, das Alexander dem Großen zugesprochen wird: "... der sich ganz Asien, ja fast den Erdkreis teils durch Waffengewalt, teils durch Schrecken unterworfen hatte" (Anm. 13, dt. Übers ), XVIII,42, S. 491.

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dieser Stelle erwartbare narrative Konkretisierung der Welteroberung unter dem positiv herausgestellten Caesar, die die Unterwerfung der Welt durch ein Reich - gemeinsam mit den deutschen gentes - besiegelt, erzählt das Annolied allerdings außerhalb des Rahmens der prophetisch-finalistisch orientierten Danielexegese; sie ist vielmehr .historisch' korrekt an der Schwelle der Zeitenwende zum regnum Christi positioniert. Mit dem dort präsentierten apokalyptischen Szenario der Pharsalusschlacht (26-27), die das Annolied trotz aller Untergangsimplikationen als Sieg Caesars feiert, scheint der Zenit der weltlich-paganen Geschichte erreicht und die historische Voraussetzung zur Wende und zur .neuen' Zeit gegeben. Den Abschluss der Danielprophetie hingegen bildet der eschatologische Ausblick auf das absolute Ende, das traditionell als letzte Schlacht der Römer48 (17) gegen den Antichrist gedeutet wird. Konsequent ist die im heilsgeschichtlichen Abriss auffallend fehlende eschatologische Dimensionierung - sie ist im Prolog im memento mori individuelltropologisch gewendet und im Anno-Teil über die Präfigura Moses eingelöst in den "Grundtext der apokalyptischen Literatur"49 verlegt. Über den Texttypus der apokalyptischen Vision scheint die heilsgeschichtliche Dimension in die Profanhistorie hereingeholt und mit der Weltgeschichte synchronisiert.50 Die Schlachten der Römer repräsentieren und markieren demzufolge die zentralen heilsgeschichtlichen Epochenschwellen: einmal das Ende der ,alten' paganen Welt, zum anderen das absolute Ende der Geschichte. Die assoziative Koinzidenz beider Schlachten und ihre .umgekehrte' narrative Anordnung, innerhalb derer die in der Danielvision enthaltene prospektive Offenheit der Dauer des römischen Reichs der Pharsalusschlacht vorausgeht, diese also im Konfligieren mit der Ankündigung des neuen regnum Christi ein zumindest vorläufiges Ende des ,alten' römischen Reiches bedeuten könnte51, lässt dessen wie auch immer geartete Kontinuität in der Schwebe. Der Effekt solcher erzählstrategischen Verfahren und semantisch-thematischen Verschränkungen ist die Evokation konzeptioneller Ambiguität und polyvalenter Bedeutsamkeit des profanhistorischen Abrisses, wie sie die Kontroversen der Forschung zu diesem Punkt eindrücklich bezeugen.

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Im A L (17,1 f.) allerdings steht g e g e n Hieronymus der Verbund der R ö m e r m i t den zehn K ö n i g e n ; vgl. dazu NELLMANN ( A n m . 15), K o m m . S. 8 9 f . ; DERS. ( A n m . 4 6 ) , S. 5 4 f . ; v. a. auch KNOCH ( A n m . 2 8 ) , S. 291 ff. Er weist auch auf die plausiblere D e u t u n g d e s A u g u s t i n u s hin, der sie als s y m b o l i s c h e Gesamtzahl aller K ö n i g e , n a c h denen der Antichrist k o m m e n wird, deutet ( A n m . 13), X X , 2 3 .

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A. ASSMANN ( A n m . 4 2 ) , S. 21.

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V g l . HAUG ( A n m . 2 4 ) , S. 182.

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Im strikten S i n n e gelesen, könnte die Pharsalusschlacht als g e w a l t i g s t e , endzeitliche Schlacht eine Konkretisierung der letzten Schlacht des letzten Weltreichs mit Interferenzen z u m Danielteil darstellen; vgl. etwa REUSNER ( A n m . 2 6 ) , S. 2 2 0 f f . G e g e n ü b e r jeder e i n s i n n i g e n Lektüre dominiert j e d o c h auch in d i e s e m Passus die Ambiguität.

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Als integrale Bestandteile der präsentierten Caesarischen Welteroberung gestalten sich die vier Ursprungsgeschichten der Schwaben, Bayern, Sachsen und Franken texttypenspezifisch gefasst: als origines gentium52 (19-23). Sie illustrieren die Anciennität der als ,Helden' qualifizierten Figuren, widerständigen Heroismus und Ranggleichheit der später Verbündeten und einstigen Gegner Caesars. Als narrativ relativ selbständige, teils durch Quellenberufungen autorisierte Partien, eingelagert in die zehn Jahre währenden kriegerischen Aktionen gegen Gallia und Germania, zeigen sie, partiell mit der Darstellung der vier Weltreiche interferierend53, eine Potenzierung im Umfang, vor allem aber an zunehmend wertbesetzter Konkretheit in Raum und Zeit. Über quasi kulturell semiotisierte Chronotopoi54 sind die origines organisiert. Die origo der Schwaben (19), die übers Meer und auf den Berg Suêvo (19,7) gekommen sind, ist im topographisch Unbestimmten und in einer zeitindifferenten Urzeit lokalisiert. Diejenige des geslehtes (20) der Bayern fuhrt nach Armenien, wo Noahs Arche anlandete, womit Herkunft und Ursprung konnotativ nahe an die Zeit der Weltentstehung herangerückt sind. Die Episode über die Sachsen (21) mit den bereits topischen Versatzstücken ihrer Perfidie, von Landnahme und Namensätiologie - über das sahs genannte Messer - fundiert den Anfang in Unter origines gentium werden Texte vom 6. bis 13. Jh. gefasst, häufig aber die frühen origines, etwa eines Jordanes, Paulus Diaconus, von den späteren abgesetzt. Im Überblick: HERBERT GRUNDMANN: Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen - Epochen - Eigenart. Göttingen 3 1978 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1209), S. 12ff.; dazu kritisch: WERNER (Anm. 12), S. 177f.; HEINZ THOMAS: Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV. In: Die Salier und ihr Reich. Publikation zur Ausstellung "Die Salier und ihr Reich" veranst. vom Land Rheinland-Pfalz in Speyer 1991. Bd. 3. Hrsg. von STEFAN WEINFURTER, Sigmaringen 1991, S. 245-277, hier S. 248f.; vgl. auch JOHANNES FRIED: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. Berlin 1994 (Propyläen Geschichte Deutschlands 1), S. 1 Off. Speziell zu den erwähnten vier gentes und Texttypen im Überblick: FRANTISEK GRAUS: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln, Wien 1975, S. 73ff. Kritisch zu dessen Ansatz: GERD ALTHOFF: Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter. In: Mythos und Nation. Hrsg. von HELMUT BERDING, Frankfurt a. M. 1996 (stw 1246), S. 11-33, hier S. 1 Iff. Darüber hinaus: ANNELIESE GRAU: Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters. (Trojasage und Verwandtes). Phil. Diss. Leipzig, Würzburg 1938; HARTMUT KUGLER: Das Eigene aus der Fremde. Über Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern. In: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter. Hrsg. von DERS., Berlin, New York 1995, S. 174-193; HERWEG (Anm. 13), S. 432ff. "

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V g l . v. a. NELLMANN ( A n m . 4 6 ) , S. 5 8 , in B e z u g a u f MAX ITTENBACH: A u s d e r F r ü h z e i t

rheinischer Dichtung. Das Annolied. In: Euphorion 39 (1938), S. 17-28, hier S. 23, der die "Steigerung der Bedeutsamkeit" gesehen hat. Vgl. auch HERWEG (Anm. 13), S. 444ff. Der auf MICHAIL BACHTIN zurückgehende Begriff wird hier eingeschränkt verwendet als isolierter, motivlicher Chronotopos im Sinne der Verschmelzung von Zeit und Ort: Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von Zeit mit Sinn erfüllt. Vgl. dazu RAINER WARNING: Der Chronotopos Paris bei den .Realisten'. In: DERS.: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 269-312, hier S. 271 ff.

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deren vasallischem Verhältnis zu Alexander dem Großen, damit in einer zwar historischen, gleichwohl aber weit zurückliegenden Vergangenheit. Diese Gründung in heroisch-historischer Frühzeit gilt gleichermaßen fiir die wenn auch in Alter und Aura überlegene origo der Franken, mit ihrem Ursprung in der alten civitas Troja (22).55 Die Akzente liegen hier freilich nicht auf gewaltsamer Landnahme und Vasallität, vielmehr - orientiert am Modell des Vergilschen Prätexts - auf Irrfahrt, Stadtgründung und Verwandtschaft mit der Caesarischen, also der alten trojanischen, Gens Iulia.56 Konsequent ist folglich die gens der Franken im Heros Eponymos57 Franko repräsentiert, der, den Trojanern Helenus (Buthrotum/Pergamon)58, Antenor (Padua)59, Eneas (Alba Longa)60 ebenbürtig, als Gründer des .kleinen Troja' (Xanten) fungiert. Gegenüber den uniformen Kollektiven der übrigen gentes scheint der Ursprung der Franken durch die Präsenz des Spitzenahns auf traditionsbildende Ordnungsstrukturen der Genealogie hin angelegt. Doch negiert der Text, wie sich noch zeigen wird, gerade jede weitere genealogische Kontinuität. Der Kreis schließt sich: Am Anfang war die Stadt, so nun auch am Ende des profangeschichtlichen Teils. Den trojanischen Städtegründungen, noch Teil der origo francorum (Al 23), folgt der zur christlichen Zeitenwende unter Augustus überleitende Katalog der nicht minder bedeutsamen römischen, vor allem Caesarischen Gründungen der Bischofsstädte. Er kulminiert in der Gründung Kölns, deren Ursprung letztlich ebenso auf die Gens Iulia, den .ruhmvollen' Augustus zurückgeführt wird.61 Offensichtlich, so lässt sich resümieren, entwerfen die sogenannten profangeschichtlichen Abschnitte des Annolieds über eine Reihe von UrsprungserVgl. die Einteilung der sechs aetales nach saecula bzw. Generationen (dazu: ASSMANN, Kulturelles Gedächtnis [Anm. 40], S. 50) bei Lampert von Hersfeld (Anm. 31), S. 4ff., im Rekurs auf Beda und Isidor, wobei der trojanische Krieg in der 3. aetas situiert ist, der auch Abraham und Moses angehören, somit in die Heilsgeschichte eingebettet ist. Hingegen gehört Alexander der Große der 5. aetas an. 56

P. Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von EDITH und GERHARD BINDER, in 6 Bde. zu je 2 Büchern, bislang Bde. 1-4, STUTTGART 1994-2001 (RUB 96809683), Buch I, 265ff. und Anm. S. 147f.; siehe hier, S. 182, den Stammbaum der Dardanerund Iulier-Genealogie.

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V g l . GRAUS ( A n m . 5 2 ) , S. 109.

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Vergil (Anm. 56), III, 293ff., 349 und ebd., Komm, zu 294, 349: "Helenus erbaute in Buthrotum [in Epirus] ein Klein-Troja, ein Phantasialand der Heroenzeit" (S. 149), das wie das große Troja eine Stadtburg (Pergamum) besitzt (S. 150). Pergamum bezeichnet den Namen der Burg von Troja wie auch trojanische Neugründungen in Epirus und auf Kreta (S. 201).

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Vergil (Anm. 56), 1,242-249.

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Vgl. Komm, zu AL 23,13ff. bei NELLMANN und HAUG (Anm. 15). AL 29,2 wird Augustus als Neffe Caesars bezeichnet. Vgl. oben Anm. 56 und GERHARD BINDER: V o m Mythos zur Ideologie. Rom und seine Geschichte vor und bei Vergil. In: Mythos. Erzählende Weltdeutung im Spannungsfeld von Ritual, Geschichte und Rationalität. Hrsg. von GERHARD BINDER/BERND EFFE, Trier 1990 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 2), S. 137-161, hier S. 146.

61

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zählungen einen weit ausgreifenden kulturellen Kosmos der vorchristlichheidnischen Vergangenheit, der bis an den Ursprung der Weltherrschaft zurückreicht. Er steht unter den Vorzeichen des wiederholten Anfangs und des Vergänglichen, vor allem unter den negativen von Eroberung und Zerstörung und ist vordergründig aus der christlichen Sicht des neuen Königreichs in der Zeitenwende der gänzlichen Überwindung anheimgegeben. Im historischen ,Doppelkursus' des Textes scheinen demnach zwei geschichtserinnernde Diskurse zu kollidieren: Zum einen die radikal heilsgeschichtliche, finalistische Dimensionierung mit dem Ziel der Wiederherstellung der im Anfang gegebenen göttlichen Ordnung, die mit der christlichen Zeitenwende begonnen hat. Zum andern die pagane historia mundana als Erinnerung an eine gründende Geschichte, an eine chronologisch nicht exakt ausgemessene Urzeit bzw. Frühzeit, welche die gegenwartsbestimmenden Ordnungen - Sprache, Krieg, Städte, Reiche - auch ätiologisch aus ihrem Ursprung erklärt. Jedoch ist gerade wegen der Gegenwartsrelevanz der paganen Vergangenheit der vermeintlich permanent wiederholte Anfang in die heilsgeschichtlich-figurale, auf künftige Erfüllung zielende, sich steigernde Reprise integriert und überfuhrt, innerhalb derer "die Bedeutung von Ereignissen ihr bloßes Geschehensein übersteigt". 62 Und ebenso ist die Verwerfung der vorchristlich-paganen Vergangenheit nicht nur in den Dienst der Heilsgeschichte als historischer und allein die Präsenz garantierender Voraussetzung für die ,Wende' gestellt 63 , sondern v. a. durch gestufte Wertbesetzungen, verdichtet in Erinnerungsfiguren und Chronotopoi, d. h. durch die semiotische Auratisierung der Vergangenheit, blockiert.

II. Aspekte des Mythos. Mythos als fundierende Erzählung Jene tendenziell negativen Vorzeichen des profangeschichtlichen Teils bestimmen zunächst einmal auch die ersten Verse des Prologs und stellen über den Gebrauch des anaphorischen ,Wir' das Moment des Kollektiven besonders heraus. Im appellativen Gestus kollektiv-literarischer Erinnerung - Wir hörten ie dikke singen von alten dingen (1,1) - akzentuieren diese wie jener die Vergänglichkeit von Städten, Königen und personalen Bindungen. In analoger Ambiguität werden auch hier, nicht zuletzt über die topische Evokation heroischer Dichtung 64 , die erzählte Vergangenheitsbindung und .gründende Urzeit',

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PANNENBERG ( A n m . 10), S. 5 1 3 .

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RATHOFER (Anm. 20), S. 86, und weiter ebd.: "Im Augenblick, da die heidnische Weltherrschaft ihren Zenit erreicht hat, bricht das Christusereignis in die Zeit ein, wird ein .neues Königreich der Gnade' errichtet [...], dem sich die ganze Welt beugen muß." Das singen von alten dingen (AL 1,1) wird in der Regel mit mündlich einheimischer Heldendichtung assoziiert und nicht als möglicher Gattungsindex gewertet. Dass hier ausschließlich

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die alten dine und ,kämpfenden Helden' nicht gänzlich desavouiert, sei dem Alten noch so pointiert die Mahnung von Heil und Erlösung im niî ist cît (1,7) entgegengehalten. Der profanhistorische Teil erscheint deshalb geradezu als narrative Konkretisierung der programmatischen Vorgabe des Prologs. Die kontroversen Beurteilungen dieser Prologverse bewegen sich zwischen rigoristisch klerikaler .Abwehr' von Sinnlosigkeit und Unverbindlichkeit profanheimischer Dichtung, so WALTER HAUG65, oder bemerkenswert unpolemischer A k z e p t a n z , s o EBERHARD NELLMANN. 66 V o r Jahren hat HUGO KUHN d e n B e g -

riff des Mythos in diesem Zusammenhang als "unverbindlich mythische Geschichtsdichtung [...] dieser unbestimmten, fast .zeitlos' heroischen Geschichtslieder" ins Spiel gebracht und "gegen die irdische Existenz unter den .Zeichen' Christi"67 ausgespielt. Mit HAUG gemeinsam ist KUHN die Prämisse einer grundsätzlichen Opposition von geistlichen und weltlichen Texten, v. a. einer Frontstellung und Aversion klerikal-christlicher Kultur gegen profane Literatur und Mythos. Aus dem Blickwinkel klerikal-laikaler Konfrontation kann deshalb diesen beiden kulturellen Äußerungsformen lediglich Unzulänglichkeit und Unverbindlichkeit unterstellt werden. Hierbei unterschätzt man jedoch die dem Mythischen, neben der von Blumenberg massiv beschworenen Distanzierung 68 , ebenso eigentümliche Funktion der Legitimation oder beglaubigenden Begründung 69 gerade auch in christlichen Diskursen. Gleichwohl

profan-heimische, sogar mündliche Dichtung gemeint ist, scheint mir jedoch nicht evident. Gerade im Blick auf den weiteren AL-Text sind Anspielungen auf lateinische Texte, wie etwa Vergils Aeneis, durchaus denkbar. Vgl. SUSANNE GERHAHER: Der Prolog des Annoliedes als Typus in der frühmittelhochdeutschen Literatur. Phil. Diss. München 1965, S. 2ff.; HAUG (Anm. 16), S. 60ff.; CHRISTIAN KIENING: Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts. In: DVjs 66 (1992), S. 405-449, hier S. 416. 65

HAUG ( A n m . 16), S. 6 0 f . , u n d DERS. ( A n m . 15), K o m m , zu A L 1, S. 1 4 2 7 .

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NELLMANN (Anm. 15), Komm, zu AL 1, S. 76; im Anschluss daran auch KIENING (Anm. 64), S. 416; Nach VOLLMANN-PROFE (Anm. 16), S. 27, werde die weltliche Dichtung, das "Heldenlied, nicht als gefahrlich herausgestellt, sondern als unzulänglich." HUGO KUHN: Gestalten und Lebenskräfte der frühmittelhochdeutschen Dichtung. Ezzos Lied, Genesis, Annolied, Memento mori (1953). Wieder in: DERS.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 122ff.; so später auch GERHAHER (Anm. 64), S. 2ff.; dazu HAVERKAMP, (Anm. 16, 1979), S. 65f. Zur Bannung des Absolutismus der Angst erregenden Wirklichkeit habe der Mensch in der abendländischen Kultur als Maßnahme der Distanzierung den Mythos 'gesetzt'. "Nicht der Stoff des Mythos, sondern die ihm gegenüber zugestandene Distanz des Zuhörers und Zuschauers ist das entscheidende Moment." BLUMENBERG (Anm. 5, 1971), S. 17, S. 42f., 49f.; BLUMENBERG (Anm. 5, 1996), S. 15. - "Diese anthropologische Fundierung ist deutlich von Gehlens Kompensationsanthropologie inspiriert" (JAMME [Anm. 2], S. 119). Vgl. FRANK (Anm. 1), S. 11, S. 76ff. Zum funktionalistischen Mythosbegriff mit legitimierender und fundierender Funktion vgl. den 3. Mythosbegriff bei ASSMANN (Anm. 2), S. 180, S. 185f. Zu diesem besonders von Ethnologie und Religionswissenschaft präferierten Begriff vgl. auch PANNENBERG (Anm. 10), S. 474ff. Mythos als .traditionelle' Erzählung - d. i. eine

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suggeriert K U H N S Applikation des zwar diffus bleibenden Mythosbegriffs, der wohl stofflich 70 über Heroengeschichte motiviert ist, einen .sinnhaften' Mehrwert. Dieser sollte allerdings keinesfalls mit der womöglich ,heimischen Heldendichtung' identifiziert werden und den damit einhergehenden traditionellen Vorstellungen des Mythologischen, sondern auf aktuelle Erzählungen kollektiv bedeutsamer Vergangenheit geöffnet werden. In diesem Sinne, häufig als Mythos qualifiziert71, lesen historische Studien zur Ethnogenese und mittelalterlichen Nationen-Bildung den Texttypus der origo gentis, wie ihn das Annolied als Intertext präsentiert. Ganz im Gegensatz zur literarhistorischen Forschung, die sie als "gelehrte Erfindungen"72, als bloß intertextuell entstandene Lektüreprodukte73 vom Originär-Authentischen und von Geschichte, verstanden als historische Faktizität, absetzt. So betrachtet, kann allenfalls deren textinterne Position im thematischen Gefüge des Annolieds in den Blick geraten, nicht jedoch die für diesen Texttypus symptomati-

Überlieferung, die nicht an eine Ersterzählung gebunden ist - von kollektiver Bedeutsamkeit mit erklärender und begründender Funktion bei WALTER BURKERT: Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen. In: Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms. Hrsg. von FRITZ GRAF, Stuttgart, Leipzig 1993 (Colloquium Rauricum 3), S. 9-24, hier S. 1 6 f f , mit kritischem Rekurs auf seine älteren Studien und den Begriff der .angewandten Geschichte'; vgl. dazu DERS.: Mythisches Denken. Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes. In: Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium. Hrsg. von HANS POSER, Berlin, N e w York 1979, S. 16-40, h i e r S . 29ff. 70 71

Stoffliche Eingrenzungen Ζ. B. bei FRANK (Anm. 1 ), S. 81 f., im Rekurs auf ULRICH GAIER. Ζ. B. FRIED (Anm. 52), S . L L ; ARNOLD ANGENENDT: Der eine A d a m und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der Origo gentis im Mittelalter. In: Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation. Akten des GERDA HENKEL Kolloquiums, veranstaltet v o m Forschungsinstitut fur Mittelalter und Renaissance der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf 1991. Hrsg. von PETER WUNDERLL, Sigmaringen 1994, S. 27-52, hier S. 27ff.; WALTER POHL: Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung: eine Zwischenbilanz. In: Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung. Hrsg. von KARL BRUNNER/BRIGITTE MERTA, Wien, München 1994 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 31), S. 9-26, hier S. 22ff.

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NELLMANN ( A n m . 1 5 ) , S. 9 2 .

73

KUGLER (Anm. 52), S. 183. So auch in den vielen Studien zur Nationenforschung von JOACHIM EHLERS u. a.: Mittelalterliche Voraussetzungen für nationale Identität in der Neuzeit. In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von BERNHARD GIESEN, Frankfurt a. M. 2 1991 (stw 940), S. 77-99, hier S. 82, S. 88f.; DERS.: Was sind und wie bilden sich Nationes im mittelalterlichen Europa (10.-15. Jahrhundert)? Begriff und allgemeine Konturen. In: Mittelalterliche nationes - neuzeitliche Nationen. Probleme der Nationenbildung in Europa. Hrsg. von ALMUT BUES/REX REXHEUSER, Wiesbaden 1995 (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien 2), S. 7-26, hier S. 15: "gelehrt-antiquarisch wirkende fränkische Trojanersage". Gegen die Unterscheidung von .Ursprünglichem und Sekundärem' als Relikt der Romantik und zum Hinweis, "daß auch sekundäre, später .gefundene' Mythen durchaus die mythischen Funktionen erfüllen", etwa die "Troja-Abstammungen" im Mittelalter, BURKERT (Anm. 69, 1993), S. 20.

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sehe, mit der Auratisierung des Vergangenen einhergehende, identitätskonstituierende Funktion. Die einschlägigen historischen Forschungen betonen dagegen den realitätskonstruktiven Charakter solcher Texte, die als Teil einer Formation ethnischer Diskurse das, was man dort abgebildet zu finden glaubt, eine ethnische Gruppe, ein ,Volk' und dessen vermeintliche Homogenität, erst erzeuge.74 Deshalb komme den origines gentium eine nicht unerhebliche Rolle im Prozess der sogenannten ,Traditionsbildung' zu, die in traditionalen Gesellschaften unter den Faktoren zur Identitätskonstitution von Kollektiven mit an erster Stelle rangiert. Die "Überzeugung, eine gemeinsame Geschichte zu haben"75, gehöre, so JOACHIM EHLERS, neben den politisch-staatlichen Faktoren, jedoch unabhängig von der im 19. Jahrhundert emphatisch postulierten Sprachgemeinschaft, zu den konstitutiven Elementen des mittelalterlichen, strikt schichtenspezifischen Selbstverständnisses von gentes oder parallel dazu von Nationen und ihrer Formierung als solche.76 Das heißt: Herkunftsgeschichten postulieren homogene Gebilde und promulgieren Identität. Vorgänge der Etablierung, Sicherung, Stilllegung und Überlieferung gemeinsamen und identitätskonkreten Wissens77, die man mit Traditionsbildung zu fassen sucht, hat JAN ASSMANN gegen den zu starren, auf Bestand ausgerichteten Traditionsbegriff 78 in seinem weit ausgreifenden Konzept zum kulturellen Gedächtnis beschrieben. ASSMANN hat das seit Jahren von ihm an frühen Hochkulturen entwickelte Gedächtniskonzept, das über Medien der Kommunikation organisiert ist, mehrfach modifiziert und differenziert. In Anlehnung an ALEIDA ASSMANN und im Rekurs auf frühere Studien79 hat er in jüngster Zeit die zweistellige Relation von kommunikativem Generationengedächtnis und gruppenbezogenem kulturellen Gedächtnis, dessen "Fixpunkte [...] schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit" seien, "deren Erinnerung durch kulturelle Formung [...]

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POHL(Anm. 71), S. 19ff. EHLERS(Anm. 73, 1991), S. 87. Zur Forschung siehe Anm. 73 und im Überblick JOACHIM EHLERS: Die Entstehung des deutschen Reiches. München 2 1998 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 31), S. 69ff. Zur Diskussion um den parallelen Prozess zweier Verbandsbildungen von gentes und Nation: BERND SCHNEIDMÜLLER: Reich - Volk - Nation. Die Entstehung des deutschen Reiches und der deutschen Nation im Mittelalter. In: Mittelalterliche nationes (Anm. 73), S. 73-101, hier S. 82ff., und POHL (Anm. 71), S.13. Mit JAN ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. 39, meint Identitätskonkretheit den Bezug auf eine wirkliche und lebendige Gruppe. JAN ASSMANN: Körper und Schrift als Gedächtnisspeicher. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. In: Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. Hrsg. von MORITZ CSAKY/PETER STACHEL, Wien 2000, S. 199-213, hier S. 208. ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN: Gestern im Heute. Medien des sozialen Gedächtnisses. In: Medien und Kommunikation. Konstruktionen von Wirklichkeit. Studienbrief 5, Tübingen 1990, S. 41-82.

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und institutionalisierte Kommunikation [...] wachgehalten" 80 werde, um eine mittlere Ebene erweitert: um jene Ebene des medial offenen, normativen Bindungsgedächtnisses, dem als k o l l e k t i v e s Gedächtnis die Aufgabe zukomme, eine kollektive Identität zu vermitteln. Das auf Schrift fixierte kulturelle Gedächtnis mutiert damit zum .komplexen, pluralistischen, labyrinthischen' Bildungsgedächtnis, dem auch verschiedene Bindungsgedächtnisse inhärent sind.81 Das hat zwar nicht unbedingt zur Prägnanz des Konzepts beigetragen, doch ist im kollektiven Gedächtnis das gemeinschaftsstiftende Moment, das, wie es sich gezeigt hat, fiir den Typus origo gentis konstitutiv ist, medial konkret als fundierende Erzählung, als Mythos, operationalisiert. Näher erläutert in seiner Studie zum Kulturellen Gedächtnis von 1992, ist Mythos zunächst nichts anderes als eine f u n d i e r e n d e Geschichte, die "erzählt wird, um Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen"82, die darüber hinaus Vergangenheit verdichte und fortdauernd normative wie formative 83 Verbindlichkeit für die Zukunft besitze. Im Ergebnis konstituiert sich Mythos, nach ASSMANN, durch einen fiir Erinnerung symptomatischen Akt der Semiotisierung, Sinnstiftung oder Transformation von absoluter oder historischer Vergangenheit in fundierende Geschichte. Als h i s t o r i s c h e gehe es nicht um Vergegenwärtigung einer Urzeit 84 im Modus der zyklischen Wiederholung, sondern die Vergangenheit fundiere das Selbstbild einer Gruppe, die ihr ge-

80

ASSMANN (Anm. 40, 1988), S. 12; DERS. (Anm. 40, 2000), S. 52ff. Zu den terminologischen Problemen von Gedächtnis und Erinnerung vgl. CLEMENS WLSCHERMANN: Kollektive versus "eigene" Vergangenheit. In: Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft. Hrsg. von DERS., Stuttgart 1996 (Studien zur Geschichte des Alltags 15), S. 9-17, hier S. 15. Darin weitere Aufsätze. Einen Gesamtüberblick über das Gedächtniskonzept im Rahmen der Memoria-Forschung bietet OTTO GERHARD OEXLE: Memoria als Kultur. In: Memoria als Kultur. Hrsg. von DERS., Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), S. 9-78, hierS. 30ff.

81

ASSMANN (Anm. 78), S. 203ff. und 211. Zur dreistelligen Gedächtniskonzeption vgl. etwa: ALEIDA ASSMANN: Geschichte im Gedächtnis. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hrsg. von. MARTIN HUBER/GERHARD LAUER, Tübingen 2000, S. 15-28.

82

ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. 52.

"

ASSMANN (Anm. 40,2000), S. 52; in Bezug auf Texte hier, S. 142. Zum Folgenden, S. 74ff. ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. 78. ASSMANN gebraucht nicht den Begriff der Urzeit, er stützt sich jedoch mit der Bestimmung des Mythos als fundierender Erzählung auf den in Religionswissenschaft und Ethnologie virulenten Begriff (vgl. Anm. 69), in dessen Kontext Urzeit an eine spezifische Zeitvorstellung gekoppelt ist. Insofern meint Urzeit nichts anderes als absolute Vergangenheit, die, nach CASSIRER, jene andere Zeit sei, "zu der die fortschreitende Gegenwart in immer gleicher Distanz" bleibe "und die eher eine Art von Ewigkeit" bedeute (S. 78). Vgl. dazu ELIADE (Anm. 9, 1998), S. 81: Die Zeit des Ursprungs bzw. "diese .ursprüngliche Situation' ist nicht historischer Ordnung, sie entzieht sich chronologischer Berechnung; es handelt sich um ein mythisches .Früher', die Zeit des .Ursprungs', das, was ,zu Anbeginn', in principio geschehen ist."

84

118

Susanne Biirkle

schichtliches Werden verinnerlicht habe. 85 ASSMANNS mit Fundierung und Legitimation konnotierter, funktionalistischer und als solcher weithin konsensfähiger Mythosbegriff 86 ist mehrdimensional: Zum einen bezieht er den von der Religionswissenschaft präferierten, vornehmlich für schriftlose Kulturen reservierten, lebenspraktisch eingebundenen Mythosbegriff mit ein, was schon die Verwendung von Erzählung im Unterschied zu Text signalisiert 87 : etwa MLRCEA ELIADES Bestimmung des Mythos als Erzählung von grundlegenden Ereignissen, einer Geschichte dessen, was Götter und Kulturheroen am Anbeginn der Zeiten getan haben, in ilio tempore, die das funktionale Moment an eine spezifische übergeschichtliche, absolute Zeitlichkeit koppelt. 88 Zum andern öffnet ASSMANN den Mythosbegriff auf Geschichte als die Gegenwart fundierende historische Vergangenheit. 89 Daraus ergeben sich konstruktive

85

ASSMANN ( A n m . 4 0 , 2 0 0 0 ) , S. 7 8 .

86

Vgl. dazu Anm. 69 und 84. Vgl. dazu das Kapitel Schriftkultur: ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. 87ff. Vgl. ELIADE (Anm. 9, 1998), S. 81. Dazu WALTER BURKERT: Literarische Texte und funktionaler Mythos: Zu Iätar und Athrahasis. In: Funktion und Leistung des Mythos. Drei altorientalische Beispiele. Hrsg. von JAN ASSMANN/WALTER BURKERT/FRITZ STOLZ, Freiburg/ Schweiz, Göttingen 1982 (Orbis biblicus et orientalis 48), S. 63-82, hier S. 64. Vgl. auch PANNENBERG (Anm. 10), S. 475: "Urzeitlichkeit der Mythen besagt weder, daß sie tatsächlich aus unvordenklicher Zeit stammen, noch liegt ihr irreduzibles Grundmotiv in der Ehrwürdigkeit der Vorzeit überhaupt; vielmehr steht die Urzeitlichkeit des Mythos in genauem Zusammenhang mit seiner die gegenwärtige Weltordnung begründenden Funktion, und erst daraus ergibt sich die Ehrwürdigkeit [...] der urzeitlichen Wirklichkeit." Das Verhältnis von Mythos und Geschichte ist umstritten und hängt am Moment der Zeitlichkeit, insofern als Mythos konventionell mit Zykliztät identifiziert und als ewige Wiederkehr des Gleichen begriffen wird und vom scheinbar universalen Denkmodell oder mythischen Denken des antiken oder griechischen Mythos abgeleitet erscheint. Bei PANNENBERG (Anm. 10), S. 492ff., S. 499, S. 5 l l f f . , S. 518, als reiner oder echter Mythos verstanden, wovon er das Christentum absetzt. Vgl. auch BLUMENBERG (Anm. 5, 1996), S. 141 f., zum Unterschied von chronologischer, genealogischer Ordnung in biblischer Theologie und Mythos; BLUMENBERG (Anm. 5, 1971), S. 29 ("Die mythische Struktur steht gegen die der Geschichte; sie hat Generationen, Weltalter, Herrschaftszeiten"), S. 43ff., S. 53ff. MlRCEA ELIADE: Kosmos und Geschichte [frz. Le mythe de l'étemel retour: Archétypes et répétition, 1949]. Aus dem Französischen von GÜNTER SPALTMANN. Frankfurt a. M., Leipzig 1994 (it 1580), S. 48ff., zur Verwandlung von Geschichte, Geschehnissen, Persönlichkeiten in Mythos, das meint, versetzt ins mythische Modell, die Aufhebung historischer und persönlicher Besonderheiten, S. 119ff., S. 141ff., zur jüdischen und christlichen Reaktualisierung des Göttlichen. Kritisch dazu JAMME (Anm. 2), S. 134ff.: Bei ELIADE stehe das Problem der Geschichte, "genauer der ,Hauptunterschied zwischen dem Menschen der archaischen und traditionsbezogenen und dem Menschen der modernen Gesellschaften'" im Mittelpunkt. Der archaische Mensch sei untrennbar mit den kosmischen Rhythmen verbunden und verstehe deshalb Mythos als "ewige rituelle Wiederholung eines Ur-Ereignisses und damit als Aufhebung der profanen Zeit. [...] ,Die Wiederholung bringt [...] die Aufhebung der profanen Zeit mit sich und stellt den Menschen in eine magisch-religiöse Zeit hinein, die [...] die ewige Gegenwart der mythischen Zeit ist.'" Basis dafür sei eine archaische Ontologie; mythisches Denken sei unhistorisch. "Das Mythische wird als zyklisch-geschlossen vom linear-offenen Geschichtlichen

87 88

89

Erzählen vom Ursprung

119

Perspektiven für die mittelalterliche Geschichtsschreibung, die immer den Standort der eigenen Gegenwart in der Konstruktion von Vergangenheit gewinnt. So sind die von der literarhistorischen Forschung für die origines gentium aufgemachten Oppositionen von gelehrter Konstruktion versus historischer Faktizität, von Originärem und Sekundärem im fundierenden Mythos aufgehoben: Sinnstiftende Vergangenheit unterscheidet nicht zwischen res fictae und res factae. Darüber hinaus bieten sich breite Anschlussmöglichkeiten, wie sie GERD ALTHOFF vor kurzem an einer Reihe von Beispielen vorgeführt hat. ALTHOFF geht allerdings, im Rekurs auf ASSMANN, noch einen Schritt weiter, indem er g r u n d s ä t z l i c h die Identität von Mythos und Geschichtsschreibung einkalkuliert, die in "Formen dargeboten" werde, "die man als mythische bezeichnen" könne, nämlich "als Erzählungen mit hohem Erklärungswert [...] und so identitätsstiftende Funktionen erfüllen."90 Eine solche Sicht birgt allerdings erhebliche Probleme. Sie bedeutet im Blick auf die mittelalterliche Geschichtsschreibung einen Verlust an Prägnanz und, prinzipieller: die Nivellierung jeglicher mit der Bestimmung als Mythos einhergehenden Differenzqualität: Nicht jeder Geschichtsdiskurs ist fundierend, nicht jeder legitimierende ist .fundierender Mythos' im Sinne eines konkreten Gruppenbezugs.91 Assmann differenziert dagegen sehr genau zwischen b e d e u t s a m e r Vergangenheit, und nur als solche wird sie überhaupt erinnert, und Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte, zum Mythos gerinnt. Deshalb müssen meines Erachtens zwei Aspekte miteinbezogen werden, wenn sich Vergangenheit im Geschichtsdiskurs des Mittelalters zu fundierendem Mythos transformiert. Erstens: Nicht Vergangenheit per se, sondern wertbesetzte Formen kultureller Bedeutsamkeit92, in erster Linie verschieden ausgestaltbare ,Anciennität', die HANS ULRICH GUMBRECHT93 als "oberste[r]

Legitimationstitel" der mittelalterlichen Geschichtsschreibung gilt, kann für einen fundierenden Mythos konstitutiv sein. Anciennität konkretisiert sich streng unterschieden." Kritisch auch FRITZ STOLZ: Einleitung. In: Funktion und Leistung (Anm. 88), S. 7-11, hier S. 9. Vgl. auch oben Anm. 5. 90

A L T H O F F ( A n m . 5 2 ) , S . 14.

91

Vgl. dazu die Funktionstypen bei JÖRN RÜSEN: Annäherung: Funktionstypologie der historiographischen Narration. In: La littérature historiographique (Anm. 23), S. 40-49, hier S. 44ff.

92

Z u m Begriff der Bedeutsamkeit in B e z u g a u f DILTHEY V. a. BLUMENBERG ( A n m . 5, 1996), S.

77ff. BLUMENBERG (Anm. 5, 1971), S. 35, S. 48, S. 66: Er fasst darunter die Qualität des My-

53

thos, bestimmten Dingen, Zeiten, Räumen Wertbesetztheit, Prägnanz zu verleihen, die sich als Funktion der Wiederholung einstelle und durch Erinnerung als Organ der Tradition und Selektionsverfahren erzeugt werde. HANS ULRJCH GUMBRECHT: Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. von ALEIDA und JAN ASSMANN/CHRJSTOF HARDMEIER, M ü n c h e n 1983, S. 158-174, hier S. 165. Bei GUMBRECHT

markiert sie allerdings nicht Veränderung in der Zeit, sondern "Zurückführung von in der Gegenwart bestehenden Institutionen [...] auf den [...] ordo." ZUT Aura von Herkunft, Alter und Rang mit konkreten Beispielen vgl. ALTHOFF (Anm. 52), S. 14ff.

120

Susanne Biirkle

etwa im Anfang einer Institution, im Spitzenahn eines genealogisch strukturierten Geschlechts, in einem Ort der Frühzeit und garantiert d i a c h r ο η die fortdauernde Präsenz94 des Ursprungs. Gerade deshalb war es jederzeit opportun, und zwar nicht "als Gefangene im Triumphzug" des Christentums im Sinne BLUMENBERGS95, pagane Stoffe oder antike Mythen und Heroen, auch jenseits historiographischer Rekonstruktion und chronologischer Ordnung, in die christliche Geschichtsschreibung hereinzuholen und, wenn man so will, anstelle der viel beschworenen allegorischen Stillstellung zu remythisieren. Zweitens muss das dem Mythos spezifische seriell-mediale Moment beachtet werden. Auch ein fundierender Mythos ist kein einmaliger Akt, vielmehr handelt es sich um eine gattungsunabhängige Geschichte96, die sich in einer potentiell unabgeschlossenen Reihe von Versionen entfaltet97, und insofern in dem von ASSMANN stets mitbedachten Prozess von Stiftung und Verstetigung, von Vertextung, Umschreibung und intertextueller Variation. "Die proteische Qualität"98 des fundierenden Mythos, dessen generische Stabilität bei gleichzeitiger Variabilität die "ikonische Konstanz"99 garantiert, muss sich in seiner Rezeption erweisen. 94 95

Vgl. unten Anm. 128. BLUMENBERG (Anm. 5, 1971), S. 66; zur Diskussion um die christliche Gefangenschaft des antiken Mythos S. 19ff.; vgl. dazu etwa: HANS ROBERT JAUSS: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter. In: Terror und Spiel (Anm. 5), S. 187-209. ALFRED EBENBAUER/ULRICH WYSS: Der mythologische Entwurf der höfischen Gesellschaft im Artusroman. In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld 1983. Hrsg. von GERT KAISER/JAN-DIRK MÜLLER, Düsseldorf 1986, S. 513-539. WERNER RÖCKE: Positivierung des Mythos und die Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns Gregorius. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für VOLKER MERTENS z u m 65. Geb. Hrsg. von MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü b i n g e n

96 97

98

99

2002, S. 627-649. Vgl. etwa BURKERT (Anm. 69, 1979), S. 18. Im Rekurs auf CLAUDE LÉVI-STRAUSS' Begriff der Variation JAN ASSMANN: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur (1997). München/Wien 1998, S. 36. ASSMANN (Anm. 2), S. 189. Hier auch zur Variabilität, Variation und zur Umschreibung von Mythen: "Der Variabilität oraler Überlieferung entspricht im Rahmen der Schriftkultur die Unabschließbarkeit der Rezeptionsgeschichte." Mythos als immer schon durch Rezeption, mithin durch Variation bedingtes Phänomen betont BLUMENBERG (Anm. 5, 1971), S. 13, 21 f. BLUMENBERG (Anm. 5, 1996), S. 40ff„ 193ff. "Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit" (hier, S. 40). BLUMENBERG (Anm. 5, 1996), S. 165f. Paradigmatisch in Bezug auf den griechischen Mythos als .Kembestand', .hochgradige Haltbarkeit' gefasst, die seine Ausbreitung in Zeit und Raum sichere. "Die Grundmuster von Mythen sind eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne, daß sie immer wieder überzeugen ..." (hier S. 166). Vgl. dazu: ASSMANN (Anm. 2), S. 190; JAN ASSMANN: Die Zeugung des Sohns. Bild, Spiel, Erzählung und das Problem des ägyptischen Mythos. In: ASSMANN/BURKERT/STOLZ (Anm. 88), S. 13-

Erzählen vom Ursprung

121

Gewendet auf das Annolied und dessen Auratisierung von Vergangenheit, bedeutet eine solche Differenzierung eben nicht, dass der Text allein schon über die ihm eingeschriebene Figur des begründenden Ursprungs umstandslos in den Sog des Mythos gerät. Zweifellos sind auch die für das Annolied zentralen heilsgeschichtlichen Stationen von Schöpfimg und Inkarnation als Ursprung der Welt, von Christentum und ecclesia, die ohnehin schon, wie PANNENBERG gezeigt hat, an archaischen Mythen partizipieren100, fundierende Geschichten mit hoher Verbindlichkeit. Doch besteht ein Unterschied, um mit ASSMANN zu sprechen, ob fundierendes Wissen bereits fest im kulturellen Gedächtnis verankert und in kanonisierter Form stillgestellt ist, also aus der Sicht des Annoliedes nur noch des Kommentars und der Aktualisierung bedarf, oder ob ein identitätskonkretes Bindungsgedächtnis gestiftet, dann aber auf Dauer gestellt wird, das heißt die ,zerdehnte Situation'101 sich erst durch Medien der Kommunikation konstituiert. Auch die seit Augustinus und Orosius zum Repertoire der christlichen Geschichtsschreibung gehörenden Ninus-Partien im profangeschichtlichen Teil des Annoliedes (8-10) begründen zwar aus dem Ursprung gegenwartsrelevante, wenn auch teils negativ konnotierte Ordnungen; in der Applikation der seriellen Wiederholung im AL-Text aber erklären sie nur ätiologisch und fundieren nicht und erlangen hier, anders als zum Beispiel in den nahezu zeitgleichen Gesta Treverorum102, nicht den Status einer konkret gruppenbezogenen Geschichte im Sinne eines fundierenden Mythos. Anders die origines gentium. Die narrativ komprimierten Partien sind Teil einer seit dem Frühmittelalter zunehmend ausdifferenzierten Formation zirkulierender Texte - etwa Widukinds von Corvey Res gestae Saxonicae oder Geoffrey's von Monmouth Historia Regum Britanniae - über Ursprung und Herkunft von gentes und Nationen. Selbst wenn man die Frühdatierung des Annoliedes um 1080 beibehält, basieren bereits die origines der Sachsen103 und 61, hier S. 38ff. ASSMANN fasst im Rekurs auf BLUMENBERG .ikonische Konstanz' als .fundamentale Konstellationen', die der Geschichte zugrunde liegen, als .Kristallisationspunkte', die aus dem Handlungsablauf vollkommen ablösbar seien. Hier stellen sich Bezüge zur Erzählforschung und Schemadiskussion ein. ,0

°

"" 102

103

PANNENBERG ( A n m . 1 0 ) , S . 4 8 8 f f . V g l . a u c h ASSMANN ( A n m . 9 9 ) ; K O C H ( A n m . 5 ) .

ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. 22, S. 93ff., S. lOlff. Die Ursprungsgeschichte der Gesta Treverorum bedürfte in Bezug auf das AL einer eigenen Diskussion, die sich von den dominierenden Datierungsfragen zu lösen (vgl. im Überblick HERWEG [Anm. 13], S. 349ff., und kritisch v. a. MÜLLER [Anm. 16], S. 313ff.) und die funktionalen Aspekte der Texte zu berücksichtigen hätte. Zu Ninus als Spitzenahn der Trierer, dessen Sohn Trebetas von seiner Stiefmutter Semiramis vertrieben worden war, an die Mosel gelangte und Trier gründete, vgl. Goetz (Anm. 13, 1999), S. 222ff.; KNAB (Anm. 14), S. 68f., S. 8 7 ff. Vgl. zur Sachsen-origo: WILMANNS (Anm. 15), S. 30ff.; GRAU (Anm. 52), S. 13ff., S. 39ff.; KNAB (Anm. 14), S. 70ff., hier auch zur Umdeutung der Sachsen-ongo auf die Schwaben; GRAUS (Anm. 52), S. 112ff. Zu Widukind von Corvey und der Umcodierung des Spitzenahns

122

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Franken auf einer bis ins 9. bzw. 7. Jahrhundert reichenden Reihe variierender Versionen, die in Typenspezifik und Format je verschieden kollektives Gedächtnis institutionalisierten und einen gewias-spezifischen fundierenden Mythos konstituierten.104 Demgegenüber zieht das Annolied eine neue Ebene ein. Die fundierende Funktion, die der Text jenseits der Vielfalt paralleler Ethnogenesen zu generieren versucht, resultiert aus der spezifischen Montage und Umfiinktionierung der vier - auch später dominierenden - ongo-Geschichten. Die textuelle Kombination der vier origines und ihr Bezug auf die gemeinsamen kriegerischen Aktionen der gentes unter Caesar mit der Begründung des imperialen Rom formieren jene zum u n i f o r m e n Kollektiv. Nimmt man die nahezu ausschließliche Konzentration des Epithetons ,deutsch' in den CaesarPartien hinzu und darüber hinaus die territoriale wie ethnische Extension des Sprachbegriffs auf lant und liuti105, dann wird im Annolied die Konstruktion einer, von H E I N Z T H O M A S so genannten, Origo gentis Teutonicorum evident. Deren Ursprung spannt sich demnach fast von der Urzeit der Welt bis in die heroisch-historische Frühzeit aus. An Alter damit den Römern sogar überlegen106, garantiert die Troja-Referenz mit ihren genealogischen Filiationen die gemeinsame Abstammung der nunmehr quasi im Imperium Romanum vereinigten Römer und deutschen liuti (28,12). Mit dieser «na-gens-Konstruktion steht das Annolied am Schnittpunkt diverser Diskurse des 10. bis 12. Jahrhunderts, deren Spektrum von - vor allem italienischen - Diplomen über päpstliche und kaiserliche Schreiben bis hin zu historiographisch-hagiographischen Texten reicht.107 Gemeinsam ist ihnen im Ansatz eine historische Reflexion der deutschen Ethnogenese, der Versuch einer ersten Festschreibung der Formation und Signatur dessen, was de facto nur als Pluralität der .Völker', regna und terrae unter dem strukturell-politischen Dach eines nur imperial-römisch

104

der Sachsen vom perfiden Heiden zum Gründer der sächsischen Kirchen vgl. v. a. ALTHOFF (Anm. 52), S. 177ff.; zusammenfassend: KUGLER (Anm. 52), S. 185ff.; HERWEG (Anm. 13), S. 432ff. Zu den origines der Schwaben und Bayern: WILMANNS (Anm. 15), S. 27ff.; GRAU (Anm. 52), S. 17ff.; GRAUS (Anm. 52), S. 109ff.; KUGLER (Anm. 52), S. 189ff.; HERWEG (Anm. 13), S. 440ff. Vgl. auch: Thomas Zotz: Ethnogenese und Herzogtum in Alemannien (9.-11. Jahrhundert). In: MIÖG 108 (2000), S. 48-66, hier S. 64ff.

105

Vgl. AL 18,14; 20,22; 24,8; 28,12.17; ansonsten nur 7,4: in diutischemi lande; vgl. dazu THOMAS (Anm. 52), S. 259. Zur Geschichte des Wortes .deutsch' im Überblick: WOLFGANG HAUBRICHS: die tiutsche und die andern zungen. Von der Vielfalt und Entwicklung eines Sprach- und Volksbegriffs. In: Kultureller Wandel und die Germanistik der BRD. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991. Hrsg. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 1993, Bd. 1, S. 21-41.

106

Motiviert v. a. über die Noah-Anspielung der Bayern-or/go (AL 20,17); vgl. dazu auch GRAU (Anm. 52), S. 19: "... ein hohes oder noch höheres Alter" als etwa die trojanischen Franken. THOMAS (Anm. 52), S. 261 ff.; FRIED (Anm. 52), S. 18ff.; EHLERS (Anm. 76), S. 36ff., S. 44, S. 90ff.; SCHNEIDMÜLLER (Anm. 76), S. 95ff.

107

123

Erzählen vom Ursprung

denkbaren Reiches existierte.108 Ohne hier auch nur im Ansatz die hoch komplexen und in der neueren historischen Forschung kontrovers diskutierten Prozesse supragentiler ,deutscher' Identitätsbildung nachzeichnen zu können, sei hier nur so viel herausgegriffen: Fernab von neuzeitlichen, im 19. Jahrhundert kulminierenden, biologistischen respektive germanischen Kontinuitätsvorstellungen 109 ist die Perzeption einer universa gens Teutonica (Norbert von Iburg) 110 Ende des 11. Jahrhunderts ein Novum. Das einst von HERBERT G R U N D M A N N beklagte Defizit einer gemeinsamen Vergangenheit, den Mangel einer origo der Deutschen" 1 , scheint das Annolied über den Versuch der Konstitution eines fundierenden Mythos .bewältigt' zu haben. "Die Entstehung des deutschen Volkes", so das Resümee von B E R N D SCHNEIDMÜLLER, "war damit endlich in das Kontinuum mittelalterlicher Ethnogenesen eingefugt, der Wahrnehmung des Neuen entsprach seine historische Fundierung."" 2 Dem zwar neuzeitlichen nationalen Konfigurationen nahekommenden Origo-Mythos des Annoliedes war freilich wenig Erfolg beschieden. 113 Jenseits dessen Rekurrenz in der Kaiserchronik wurde die Rezeption zunächst einmal arretiert, somit konnte der Mythos sich nicht im kollektiven Gedächtnis festsetzen.

III. Arbeit am Mythos: Die origo gentis

Francorum

Mythos als fundierende Geschichte/Erzählung bot die Möglichkeit, über die Momente der medialen Vermittlung und Funktionalität eine Differenzqualität in das Erzählen vom Ursprung im Annolied einzuziehen. Im Hinblick auf die origines gentium und die hier nur skizzierte ,deutsche' Identitätskonstitution positionierte sich der Annoliedtext in einer spezifischen Formation von kollektives Gedächtnis stiftenden Diskursen, deren gruppenbezogene Konkretheit jedoch einer eigenen Analyse bedürfte. Diese weit über den singulären Text ausgreifende ,extratextuelle' Dimension erfasst freilich nur einen Gedächtnisraum der origo-Mythen des Annoliedes·, jenen anderen, bereits angedeuteten, erschließt die intertextuelle Relation als Ein-, Umschreibung und Verarbeitung ihrer Vorläuferversionen und ermöglicht als reziproke Bedingtheit von Gedächtnis und Text" 4 Rückschlüsse auf die textinteme Konzeption des 108 109 110

"' 112 113

lu

SCHNEIDMÜLLER (Anm. 76), S. 96-99. WERNER (Anm. 12), S. 173ff., S. 237ff. Im Überblick: SCHNEIDMÜLLER (Anm. 76), S. 76-83. Um 1090/1100 die Vila des Bischofs Benno von Osnabrück von Norbert von Iburg, FRIED (Anm. 52), S. 20; vgl. auch SCHNEIDMÜLLER (Anm. 76), S. 96. GRUNDMANN (Anm. 52), S. 17. SCHNEIDMÜLLER (Anm. 76), S. 96f. GRAUS (Anm. 52), S. 219ff.; im Anschluss daran SCHNEIDMÜLLER (Anm. 76), S. 97; anders hingegen THOMAS (Anm. 52), S. 257. Vgl. dazu RENATE LACHMANN. Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990, S. 34ff.: "Der Gedächtnisraum ist auf dieselbe Weise in den

124

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Annolieds. Genaugenommen geht es auch hier um die Leerstelle im Text, nämlich um das prekäre, weitgehend ungeklärte115 Verhältnis des weltlich römischen und christlichen Reiches, an deren Nahtstelle die gen/es-Geschichten, insbesondere die Franken-ongo situiert sind. Mit der Dignität ihres trojanischen Ursprungs repräsentieren die Franken in Zuspitzung auf die civitas Köln (AL 6,1; 32,6) Schwelle und Kontinuität von vorchristlicher und christlicher Zeit. Wie sie sich gestaltet, klärt die Relektüre der Franken-ongo im Annolied und demonstriert zugleich dessen ,Arbeit am Mythos'. Im veritablen Sinn bestätigt die Franken-ongo die rezeptive Beweglichkeit 116 des fundierenden Mythos. Denn als älteste der später weit verbreiteten Troja-Ableitungen von Adelsgeschlechtern, Dynastien, mithin Nationen partizipiert er seinerseits im Rekurs auf die Vergilsche Aeneis am trojanischen ,Ursprungsmythos ' der auf die Gens Julia enggefuhrten Römer. 117 Vom fränkischen Ursprung aus dem zerstörten Troja, ein in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung historisch fixiertes Ereignis, berichten bekanntlich unabhängig voneinander im 7. und 8. Jahrhundert erstmals die sogenannte Frede gar-Chronik, eine heilsgeschichtlich fundierte Kompilation von Welt-, gentesund Frankengeschichte (um 660), und der Liber Historiae Francorum (um 730). 118 Zusammengenommen stellen bereits diese beiden Versionen das sich in Konstanten und Variablen ausdifferenzierende Inventar des On'go-Mythos

Text eingeschrieben, wie sich dieser in den Gedächtnisraum einschreibt. Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität" (S. 35). Vgl. dazu ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. lOlff. Der LACHMANNSCHE Gedächtnisbegriff schließt das ein, was ASSMANN unter textueller Kohärenz fasst, Texte die über Jahrhunderte hinweg präsent, anschlussfähig bleiben. "5 116

"7 1,8

V g l . LIEBERTZ-GRÜN ( A n m . 16), S. 2 4 9 .

Dazu auch HERWEG (Anm. 13), S. 437. Vergil (Anm. 56), VI,788, und Komm., S. 235. Dazu: BINDER (Anm. 61), S. 152ff. Fredegar: Chromcarum quae dicuntur Fredegarii Scholastic! libri IV cum Continuationibus. In: MGH SS rer. Mer. II. Hrsg. von BRUNO KRUSCH, 1888, S. 1-168 (193), 11,4-9, S. 45-47; 111,2-9, S. 93-95. Vgl. ANDREAS KUSTERNIG: Einleitung zur Chronik Fredegars. In: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Unter Leitung von HERWIG WOLFRAM neu übertragen von ANDREAS KUSTERNIG, Darmstadt 1982 [= I1,53-IV, S. 44-271] (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters - FSGA 4a), S. 3-43. Liber Historiae Francorum [lat.-dt.]. In: Ebd., S. 338-379, cap. 1-5, S. 341-347 [= LHF]. Vgl. auch die Auszüge bei WILMANNS (Anm. 15), S. 107ff. Grundlegend: HANS HUBERT ANTON: TrojaHerkunft, origo gentis und die frühe Verfaßtheit der Franken in der gallisch-fränkischen Tradition des 5. bis 8. Jahrhunderts. In: MIÖG 108 (2000), S. 1-30, auf dessen Ausführungen ich mich hauptsächlich stütze; hier S. 2, Anm. 4, zum Fredegar-Problem. Weitere Literatur zur Franken-origo: GRAU (Anm. 52), S. 3ff., S. 27ff.; GRAUS (Anm. 52), S. 81ff.; H. HOMEYER: Beobachtungen zum Weiterle[b]en der Trojanischen Abstammungs- und Gründungssagen im Mittelalter: In: Res publica litterarum 5 (1982), S. 93-123. FRANTISEK GRAUS: Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter. In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes. Hrsg. von WILLI ERZGRÄBER, Sigmaringen 1989, S. 25-43; KUGLER (Anm. 52), S. 181 ff.

Erzählen vom Ursprung

125

für spätere Adaptationen bereit, vor allem aber generieren sie entscheidend die strukturelle Ordnung der Franken-ongo, die weitere Anschlussmöglichkeiten erlaubt und künftig dominierend wird. Gemeinsam ist ihnen bei allen Unstimmigkeiten und partiellen Differenzen gewissermaßen die Lösung der in der Frankengeschichte von Gregor von Tours (538-594) hinterlassenen "Aporie über die Anfänge des Königtums bei den Franken"" 9 , das heißt: Es geht um das Problem von Herrschaftsgenese und -sukzession, um den Mangel einer die gemeinsame Abkunft fundierenden königlichen Familie. Diesen offenkundigen Mangel beseitigt der trojanische Ursprung der Franken, der zwar in beiden Texten je verschieden gestaltet ist, jedoch zum identischen Ergebnis führt: Die Begründung des Königtums der Franken wird nach einer duces-Phase im patrilinear-genealogischen Bezug auf einen den Ursprung repräsentierenden trojanischen Spitzenahn - Priamus 120 - zurückgeführt; oder, wie bei Fredegar in Kapitel 111,9, auf die quasi bereits zu einem Königsgeschlecht formierten trojanischen ,Stammväter' - Priamus, Frigas, Francio - der künftig durch Wanderung und Landnahme entstehenden Völker. Der Ursprung bedeutet den Anfang einer Dynastie. Die personale Konkretisierung dieses primordialen Herrschergeschlechts fällt allerdings recht unterschiedlich aus: auf der einen Seite, bei Fredegar (111,9) die königliche stirps Priamus, Frigas, Francio, die über Frigas mit dem rex Latinorum Aeneas 121 verwandt ist, auf der anderen Seite im Liber der trojanische rex Aeneas mit den als alii ex principibus bezeichneten Priamus und Antenor. Die divergenten Personenkonstellationen erweisen sich offenbar bereits in den ersten Versionen als eine der für den ongo-Mythos typischen Variablen, die je nach topographisch und herrschaftsbegründendem Interesse flexibel kombiniert und eingesetzt werden können. Die .ikonische Konstanz' des Franken-Mythos hingegen basiert auf der wie auch immer konkretisierten Abstammung der gens aus Troja und auf der für sie konstitutiven Ordnung: dem - auch durch Herrscherwahl .erzeugten' - genealogischen System eines agnatisch strukturierten Geschlechts. Schon bei Fredegar, aber deut-

'"

120

121

ANTON (Anm. 118), S. 3. Gregor von Tours: Historiarum Libri decern [lat.-dt.]. 2 Bde. Nach der Ed. von BRUNO KRUSCH, auf Grund der Übersetzung von W. GLESEBRECHTS neubearbeitet von RUDOLF BUCHNER, Darmstadt 1970 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters - FSGA 2-3), Bd. 1, 11,9, S. 81. Vgl. zum Problem der Unterbrechung der Königsherrschaft GRAUS (Anm. 118), S. 34, das seiner Meinung nach weder bei Fredegar noch im LHF gelöst ist. In Fredegar (Anm. 118) wird dreimal vom Fall Trojas berichtet, leitendes Motiv ist der Zusammenhang bzw. in Ill,2ff., die Gleichheit von Franken und Römern: 11,4-6 (Herkunft der Franken von Priamus als primus rex abgeleitet.); II, 8-9 (Römer); 111,2-9 (Franken-or/go mit Varianten und Konkretisierungen von 11,4-6). Zu den Details und zum Verhältnis der Versionen vgl. ANTON (Anm. 118), S. 18ff.; LHF (Anm. 118), c. 1;4. Nach Fredegar (Anm. 118), 11,8, S. 47, ist Frigas der Bruder des rex Latinorum Aeneas.

126

Susanne Bürkle

licher noch im Liber ist der erste ,gelockte' König - rex crinitus122 - der Merowinger ,teleskopartig'123, quasi im Überspringen der Lücke'24, indem Ursprungszeit und jüngere Vergangenheit fast nahtlos aneinander stoßen, in patrilinearer Folge unmittelbar an den Enkel des trojanischen Spitzenahns Priamus angeschlossen, so dass sich eine ununterbrochene genealogische Kette von Priamus zu Merowech 125 ergibt, die dann künftig verbindlich wird. Konsequent wurde etwa am Ende des 11. Jahrhunderts in der origo Francorum der Weltchronik Frutolfs von Michelsberg die genealogische Sukzession auf die Karolinger, letztlich auf Karl den Großen hin verlängert und ausgeschrieben126, bis sie schließlich in die Herrschergenealogie des Kapetingischen Königtums in Frankreich einmündete.127 Die stets aufs Neue erinnerte Geschichte vom trojanischen Ursprung der Franken verankert die zum königlichen Geschlecht formierte gens dauerhaft im kollektiven Gedächtnis; sie verdichtet die fur die je aktuelle Gegenwart kollektiv bedeutsame Vergangenheit zum fundierenden Mythos. Legitimiert die Anciennität des Ursprungs als wertbesetzte Vergangenheit die edle Abkunft und Genealogie des Geschlechts, garantiert umgekehrt die genealogische Sukzession historische Kontinuität und Präsenz128 des begründenden Ursprungs. 122

Zu den reges criniti (gelockten Königen) vgl. bereits Gregor von Tours (Anm. 119), 11,9, S.

123

ANTON ( A n m . 118), S. 2 5 ; vgl. a u c h ANGENENDT ( A n m . 7 1 ) , S. 2 8 .

124

Z u m ß o a t i n g - g a p - P h ä n o m e n vgl. ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. 48ff.

89; Fredegar (Anm. 118), 111,9, S. 94f.; LHF (Anm. 118), c. 4; 5, S. 344.

125

LHF (Anm. 118), cap. 4-6, S. 344ff.: Priamus - Markomer - Faramund - Chlodio - Merowech - Childerich; vgl. auch ANTON (Anm. 118), S. 25.

126

Frutolf von Michelsberg: Chronik

= Ekkehard von Aura: Chronicon

Universale.

In: M G H

SS.VI. Hrsg. von G. WAJTZ, 1843, S. 33-211, S. 115ff., präsentiert die Sukzession bis zum Übergang der Königswürde auf Pippin 751 bzw. bis zum Jahr 754, der Salbung Pippins durch Papst Stephan, die auch seine Söhne, Karlmann und Karl der Große, einschließt. Vgl. KNAB (Anm. 14), S. 83. Zu den Karolingern vgl. auch ANGENENDT (Anm. 71), S. 42f. Distanziert zur trojanischen A b k u n f t der Franken im Blick auf Franco: Otto von Freising (Anm. 21), 1,26, S. 92ff. ; aber zu Priamus, Antenor und den Merowingischen Königen, IV,32, S. 366ff. 127

Zur Trojanischen A b k u n f t seit dem 9. Jh. vgl. GRAUS (Anm. 52), S. 85ff.; GRAUS (Anm. 118), S. 34ff. Im Überblick: HOMEYER (Anm. 118). Vgl. ANGENENDT (Anm. 71), S. 42ff., mit d e m S t a m m b a u m etwa der Grafen von Flandern.

128

Präsenz meint hier nicht die Präsenz des Anfangs in der Gegenwart, d. h. Gegenwärtigkeit verstanden als A u f h e b u n g jeder historisch-zeitlichen Differenz im Sinne von Zyklizität und Simultaneität, die somit für archaische Gesellschaften als mythisch zu bezeichnen wäre; so u. a. die These von PETER CZERWINSKI zur Präsenz des Ursprungs in der Genealogie. Vgl. P. C.: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der W a h r n e h m u n g II. München 1993. Kritisch dazu die Rezension von OTTO GERHARD OEXLE. In: IASL 20 (1995), S. 203-207; hier v. a. S. 206f.; PETER STROHSCHNEIDER: Die Zeichen der Mediävistik. Ein Diskussionsbeitrag z u m Mittelalterentwurf in PETER CZERWINSKIS .Gegenwärtigkeit'. In: LASL 20 (1995), S. 173-191, hier S. 178ff. Zu Genealogie und mythischem Denken vgl. auch KLAUS HEINRICH: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythos. Basel, Frankfurt a. M. 1982, S. 11 ff.: "Die Funktion der Genealogie im Mythos ist es, die heilige

Erzählen vom Ursprung

127

Blicken wir zurück auf die Präsentation der Franken-on'go im Annolied, zeigt sich der Mythos im Vergleich zu den Vorläuferversionen, trotz oder gerade wegen der evidenten Dignität des trojanischen Ursprungs, auffällig am Vergilschen Prätext orientiert und gewissermaßen auf thematische Versatzstücke des Trojafundus reduziert. Angelegt auf den Effekt der Wiedererkennbarkeit, tendieren etwa die durchaus bedeutsamen Verweise auf Agamemnon 129 oder auf Odysseus und die Zyklopen fast schon dysfunktional zu einem narrativen Überschuss, während die konstanten Merkmale der Vorläufertexte nahezu beseitigt sind. Obgleich die Flucht der Trojaner ausdrücklich als göttlicher Willensakt motiviert, somit die Niederlassung Frankos am Rhein und die Städtegründungen der Trojaner Teil des göttlichen Heilsplanes sind, blendet der Text die konstitutiven Aspekte von Herrschaftsbegründung, Königtum und genealogischer Sukzession der Franken aus. In programmatischer Variation wird im Annolied die Brücke zwischen Ursprung und prospektiver Zukunft, die kontinuitätsgarantierende Ordnung der Genealogie gekappt. Der origoMythos der Franken ist um einen entscheidenden Faktor seiner kollektiven Verbindlichkeit gebracht. Damit zeichnen sich meines Erachtens konzeptionelle Konsequenzen im Blick auf jene für das Annolied signifikante Leerstelle der Kontinuitätsproblematik des römisch-heidnischen Weltreiches ab, die mit der brisanten Konstruktion 130 des neuen christlichen Reiches und dessen Verwerfung der Welt kollidierte. Kontinuität und Diskontinuität des Imperium Romanum wurden zumeist im Kontext der Translatio-Theorie stets kontrovers diskutiert und hin und her gewendet; teils gänzlich abgelehnt 131 , teils durch die Integration der gentes ins römische Reich fur erledigt erklärt 132 oder vage als "'getaufte' [...] translatio imperii an die Deutschen" 133 interpretiert. Zwar steht die weltgeschichtliche Fortsetzung des römischen Reiches außer Frage, doch scheint mir die bruchlose Kontinuität des Welt-Reiches, in Form einer wie auch immer gelagerten Translatio, so kein im Horizont des Textes aufscheinendes Problem zu sein. Indiziert durch die Kappung der genealogischen Sukzession der Fran-

Macht der Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende" (S. 12). Dabei bezeichne die Genealogie zugleich das Verbindende wie das zeitlich bedingte Trennende vom Ursprung. Weiter: Einleitung zu: Genealogie als Denkform in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von KILIAN HECK/ BERNHARD JAHN, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), S. 1-9. Vgl. auch ASSMANN (Anm. 40, 2000), S. 50. 129

AL (22,15) verweist auf die Ermordung Agamemnons, vgl. dazu WlLMANNS (Anm. 15), S. 39.

130

So MÜLLER (Anm. 16), S. 310.

131

KNOCH (Anm. 28), S. 290ff.

132

U. a. NELLMANN (Anm. 46), S. 57ff.; NELLMANN (Anm. 15), Komm, zu AL 28, S. lOOf; Al 31, S. 103f.; HAUG (Anm. 15), Komm. AL 31, S. 1442; umsichtig LIEBERTZ-GRÜN (Anm. 16), S. 248ff.

133

KUHN (Anm. 67), S. 124; HAUG (Anm. 16), S. 62.

128

Susanne Biirkle

ken, wird die Fortdauer des Welt-Reiches auf völlig andere Vorzeichen und auf neue Bedingungen gestellt, d. h. Diskontinuität innerhalb der Kontinuität134 betont. Bezeichnenderweise klafft ja in der Herrschaftssukzession zwischen dem römischen Caesar und Heinrich III. (AL 34,5) eine Lücke; Karl der Große und die Ottonischen Kaiser bleiben ausgespart.135 Die genealogische Ordnung mit ihrer Abfolge von Herrschern und Dynastien als verwandtschaftlich relationierte Abstammungsgemeinschaft ist durch das radikal a n t i f a m i l i a l e , nicht auf verwandtschaftliche Bindungen setzende Prinzip der Nachfolge Christi abgelöst136: verkörpert in der ecclesia und ihren Repräsentanten in absteigender Reihe von den Aposteln bis zu den Bischöfen (AL 5-6; 32-33). Nach der christlichen Zeitenwende entscheiden nicht Anciennität und Abstammung über herrscherliche Qualität, sondern allein der Vollzug der Imitatio Christi. Im regnum Christi ersetzen die milites Christian^1', und als solche werden die Franken nunmehr präsentiert, die säkularen Heroen. Sie finden im Bischof, Reichslenker und Stadtherrn Anno ihren exemplarischen und aktuell zeitbedingten Ausdruck. Dass auch nach der christlichen Zeitenwende Krieg und Zerstörung, Sünde und Verfehlungen des Menschen in zirkulärer Wiederholung das irdische Geschehen beherrschen, demonstriert in teleskopartiger Fokussierung auf Anno und Köln der dritte Teil des Annoliedes (34-49). Doch mit dem alles entscheidenden Unterschied: Im Gegensatz zur vorchristlichen Ära besteht im finalistisch, auf das absolute Ende ausgerichteten göttlichen Heilsplan nun für den Repräsentanten der christlichen Nachfolge die Option zu Einsicht und Buße, und damit die Bedingung der möglichen Rettung seiner Seele. Das Annolied formuliert keinen konsistenten Geschichtsentwurf, etwa im Sinne der stringenten Applikation einer .theoretisch' vorgedachten geschichtstheoretisch-theologischen Konzeption - wenn überhaupt ließe sich noch am ehesten an das augustinische «Vitas-Konzept138 in der Lesart Ottos von Freising denken, in der die ecclesia als civitas permixta langsam aus der Verbor134

Vgl. zur Polarisierung von Welt- und Heilsgeschichte HAVERKAMP (Anm. 16, 1979), S. 58; zur Kontinuität in der Diskontinuität HAVERKAMP, Cologne (Anm. 16), S. 2.

135

So schon KNAB (Anm. 14), S. 65. Vgl. auch LIEBERTZ-GRÜN (Anm. 16), S. 246f.; HERWEG (Anm. 13), S. 4 3 0 f f .

136

Dazu V. a. ANGENENDT (Anm. 71), S. 32ff. Zur Nachfolge Christi auch HAUG (Anm. 16), S. 65f. Vgl. AL 33, hier in Anlehnung an MÜLLER (Anm. 16), S. 224ff.

138

Dass keine konsistente Erklärung aus einem geschichtsphilosophischen Konzept möglich ist, demonstrieren die verschiedenen Herleitungen der Forschung: Vgl. HAAS (Anm. 20); KNOCH (Anm. 28); HAVERKAMP (Anm. 16); zum Rupert von Deutz-Komplex nun MÜLLER (Anm. 16), S. 212ff. Zu Augustinus vgl. die anregende Studie von THURLOW (Anm. 35), der immer wieder auf die Konzeption Ottos von Freising referiert. Ältere Studien haben teils auch die augustinische Position des A L betont: etwa KNAB (Anm. 14), S. 64. HAUG (Anm. 16) indirekt; neuerdings MÜLLER (Anm. 16), S. 310; HERWEG (Anm. 13) S. 2 8 8 , allerdings fehlt eine kritische Diskussion zu diesem Punkt.

Erzählen vom Ursprung

129

genheit heraustritt. 139 Es ist vielmehr eine Summe latent divergierender, geschichtserinnernder Diskurse, deren Kollision zugleich im komplementären und typologischen Bezug und in der wechselseitigen Bedeutsamkeit aufgehoben erscheint: Wie die pagan-profane Vergangenheit funktionale Dignität und sinnstiftende Aufladung als ,heroische' Vorgeschichte der christlichen Zeitenwende erfahrt, so mildert jene die Radikalität der Epochenschwelle und des .neuen' christlichen Ethos ab. Die verschiedenen Diskurse leuchten gewissermaßen Vergangenheit im Blick auf die gegenwartsrelevanten, geistlich-weltlichen Ordnungen aus und halten den Text für multiple Lektüren wie für das Nebeneinander kollektiver Verbindlichkeiten offen. Den Schnittpunkt dieser komplementären Geschichtserinnerungen des chronikalischen ,Doppelkursus' bildet allerdings die Anno-Stadt Köln. Ihre Gründung zu Zeiten der pax Augusta140 fällt exakt in die heidnisch-christliche Schwellenzeit, und sie überragt, an Alter zwar jünger, die übrigen auf Caesar zurückgehenden Bischofsstädte durch die ihr programmatisch zugeschriebene heilsgeschichtliche Position. Heilsgeschichte, repräsentiert durch die apostolische Sukzession der milites Christiani und Bischöfe, und historia mundana, verkörpert in Städten, Reichen und ihren Herrschern, münden, überschneiden und vereinigen sich in Anno und Köln. Von Anfang an sind der bischöfliche Stadtherr und die Stadt im providentiellen Heilsplan Gottes füreinander bestimmt.141 Als Bindeglied zwischen der durch Anno vermittelten reichspolitischen Aktualität und vorchristlicher Vergangenheit schließt die .fränkische' civitas gleichsam die im Text evozierten Gedächtnisräume von Städten und Reichen, der gentis Francorum und der ecclesia in sich ein. Den Ursprung der Colònia (Al 29) erhellen die Ursprungsgeschichten des Annoliedes mit all ihren positiven wie negativen Facetten im Blick auf die gegenwärtige, durchaus auch heilsgeschichtliche Stellung der Stadt in Kirche, Reich und Bürgerschaft. So betrachtet, d. h. über die in die civitas Colonia eingeschlossene(n) Heils- und Weltgeschichte(n), ließe sich womöglich das Annolied, trotz und gerade wegen ihres Stadtherren Anno, an dem der Status sub gratia exemplarisch vorgeführt ist, als Geschichte der für die Stadt142 kollektiv bedeutsamen Vergangenheit, mithin als fundierender Mythos lesen.

139

140

Otto von Freising (Anm. 21), Prolog zu Buch V, S. 374ff., zu VII, S. 496ff., zu VIII, S. 582ff.; vgl. dazu auch LAMMERS, Einleitung, S. XLVIff. Zur pax Augusta vgl. ASSMANN (Anm. 42), S. 33.

'·"

HERWEG ( A n m . 1 3 ) , S . 2 7 7 .

I4!

Summarisch zu den Forschungslektüren VOLLMANN-PROFE (Anm. 16), S. 38f., hier auch zur Bedeutung des AL als .städtischer' Literatur im Rekurs auf HAVERKAMP (Anm. 16). Dieser betont die stadtpolitische Funktion des Textes als Kompromissangebot ("... eine im engsten mönchischen Beraterkreis des Erzbischofs angeregte Kompromißschrift", S. 125ff.) im Blick auf den Konflikt zwischen bischöflichem Stadtherrn und der Kölner Bürgerschaft, kalkuliert als Adressaten des Textes allerdings v. a. ein laikales Publikum ein.

130

Susanne Bürkle

Nicht die Ursprungserzählung als solche, das sei abschließend noch einmal betont, lässt sich im mittelalterlichen Geschichtsdiskurs als Mythos qualifizieren. Erzählungen vom Ursprung erfüllen ganz unterschiedliche Funktionen: Sie vermitteln Anciennität und Aura, haben Erklärungswert und legitimierenden Charakter und können sich unter den spezifischen Bedingungen von Identitätskonkretheit und medialer Vermittlung zum fundierenden Mythos verdichten.

BEATE KELLNER

(Universität Dresden)

Schwanenkinder - Schwanritter - Lohengrin Wege mythischer Erzählungen

I

Die Geschichten von den Schwanenkindern, vom Schwanritter und von Lohengrin stellen Wandererzählungen dar, die sich mit der Genealogie verschiedener Adelshäuser verbinden können.1 Die französische Chanson du Chevalier au Cygne, die stets zusammen mit den Chansons um Godefroi de Bouillon überliefert ist und insofern als Vorgeschichte zu diesen Kreuzzugsgesten dient2, bringt den Mythos - ähnlich wie auch frühe historiographische Zeugnisse3 - mit dem Haus Bouillon in Zusammenhang: Der Schwanritter erscheint als der Großvater des berühmten Kreuzfahrers und Königs von Jerusalem Gottfried von Bouillon, das genealogische Bindeglied wird in Ida von Nieder-

' 2

Grundlegend dazu noch immer: THOMAS CRAMER: Lohengrin. Edition und Untersuchungen. München 1971. Die ältere Forschung wird hier umfassend berücksichtigt. Die überwiegende Zahl der Handschriften der Chanson du Chevalier au Cygne überliefert diese als Teil eines Gestenzyklus, welcher mehrere Texte genealogisch verknüpft und folgende Branchen umfassen kann: Chanson du Chevalier au Cygne, Enfances de Godefroi de Bouillon, Chanson d'Antioche, Chanson des Chétifs, Chanson de Jérusalem. Den ältesten Teil des Zyklus bildet dabei die aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammende Chanson d'Antioche.

V g l . CRAMER ( A n m . l ) , S. 5 3 - 6 8 ; vgl. KARL-HEINZ BENDER: D e G o d e f r o y à S a -

ladin. Le premier cycle de la croisade: entre la chronique et le conte de fées (1100-1300). Partie h i s t o r i q u e .

In: L e s é p o p é e s r o m a n e s .

Hrsg. von

RITA LEJEUNE/JEANNE WATHELET-

WILLEM/HENNING KRAUSS, H e i d e l b e r g 1 9 8 6 ( G R L M 111.1/2), S. 3 3 - 8 7 . 3

Vgl. Wilhelm von Tyrus: Belli sacri historia libri IX, c. 6. In: Receuil des historiens des Croisades. Bd. 1, Paris 1844, S. 371 f.; Brief des Guy de Bazoches (zwischen 1171 und 1180 zu datieren), vgl. WILHELM WATTENBACH: Aus den Briefen des Guido von Bazoches. In: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 16 (1891), S. 67-113, hier S. 85f. Vgl. auch die Belege für die Verbindung des Hauses Bouillon mit dem Schwanritter bei CRAMER ( A n m . 1), S. 6 9 - 7 3 .

132

Beate Kellner

lothringen4, der Mutter Gottfrieds und Tochter des Schwanritters, gesehen. Über jene, die mit Eustache de Boulogne verheiratet war, läuft auch die genealogische Verknüpfung des Schwanritters mit den Grafen von Boulogne. 5 Die deutschen Dichtungen von Wolframs Parzival über Konrads von Würzburg Schwanritter, den Jüngeren Titurel, den strophischen Lohengrin bis hin zum Lorengel und zu Ulrich Füetrers Erzählungen von Lohergrim im Buch der Abenteuer verlagern den Mythos nach Brabant.6 Die Abstammung der Brabanter Herren vom Ritter mit dem Schwan wird darüber hinaus auch in historiographischen Quellen - kritisch - reflektiert.7 Daneben verlängert Konrads von Würzburg Erzählung die Genealogie des Schwanritters bis auf die Grafen von Geldern, von Kleve und Rieneck, (V. 1596ff.) 8 , und schließlich gibt es, so resümiert T H O M A S CRAMER, „vom 12. bis ins 16. Jahrhundert [...] kaum ein bedeutendes Adelsgeschlecht im nordwestdeutsch-flandrischen Raum, das den

4

Den historischen Quellen nach war sie eine Tochter Gottfrieds II., des Bärtigen (1044-1069), welcher aus nicht bekannten Gründen mit dem Schwanritter identifiziert wurde. Vgl. dazu CRAMER ( A n m . 1), S. 6 8 f .

5

6

So erwähnt Lambertus Ardensis in seiner Historia Comitatum Ghisnensium eine Schwanrittertradition der Grafen von Boulogne. Vgl. Lambertus Ardensis: Historia Comitatum Ghisnensium. Hrsg. von JOHANNES HELLER, Hannover 1879 (MGH SS XXIV), S. 550-642, hier S. 570. Vgl. weitere Zeugnisse bei CRAMER (Anm. 1), S. 73f. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Berlin 1965 (Reprint der sechsten Ausgabe von KARL LACHMANN, Berlin, Leipzig 1926), 823,27ff.; Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg II: Der Schwanritter. Das Turnier von Nantes. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER. Mit einem Nachwort von LUDWIG WOLFF, o. 0 . [Dublin, Zürich] 5 1974, S. 1-41; Lohengrin. Hrsg. von CRAMER (Anm. 1); Albrechts Jüngerer Titurel. Bd. III/l und Bd. III/2 (Str. 4395-6327). Nach den Grundsätzen von WERNER WOLF kritisch hrsg. von KURT NYHOLM, Berlin 1985 und 1992 (DTM 73 und 77), Str. 5997ff.; Ulrich Füetrer: Das Buch der Abenteuer. Teil 1 : Die Geschichte der Ritterschaft und des Grals. Nach der Handschrift A (Cgm. 1 der Bayerischen Staatsbibliothek) in Zusammenarbeit mit BERND BASTERT hrsg. von HEINZ THOELEN, Göppingen 1997 (GAG 638), Str. 2608ff.; Str. 2921ff.; Lorengel. Hrsg. von DANIELLE BUSCHINGER. M e l o d i e h r s g . von HORST BRUNNER, G ö p p i n g e n 1 9 7 9 ( G A G 2 5 3 ) .

7

8

Vgl. etwa Jacob van Maerlant: Spiegel historiael. Hrsg. von MATTHIAS DE VRIES/EELCO VERWIJS. Bd. I, Leiden 1863, IX part. IV, lib. 3, c. 22, V. 78ff.; Jan de Klerk [= Jan van Boendale]: Rymkronyk van Braband. Hrsg. von JAN FRANS WILLEMS, Bruxelles 1839 (Brabantsche Yeesten I), S. 1 f., V. 1-30; ders.: Corte Coronike van Brabant. Hrsg. von JAN HENRI BORMANS, Brüssel 1869 (Brabantsche Yeesten III), S. CXLIII, V. 7-21. Vgl. die Belege bei CRAMER (Anm. 1), S. 76f. Vgl. auch die sich in Brabant ausprägende Sage von Brabo, die Elemente der Schwanrittertradition verarbeitet. Dazu JAN FREDERIK DAVID BLÖTE: Das Aufkommen der Sage von Brabon Silvius, dem brabantischen Schwanritter. Amsterdam 1904 (Verhandelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen te Amsterdam. Afdeeling Letterkunde. Nieuwe Reeks. Deel V, 4); CRAMER (Anm. 1), S. 78-98. Ob das Scharnier für den Übergang der Schwanrittertradition auf das Haus Brabant in der Bezeichnung der Bouilloner Herren als Herzöge von Niederlothringen und der Brabanter Herzöge als duces Lotharingiae zu sehen ist, sei dahingestellt. Zur Diskussion siehe CRAMER (Anm. 1), S. 75f. Reiches Belegmaterial für die Verknüpfung des Hauses Kleve mit der Schwanrittertradition b i e t e t CRAMER ( A n m . 1), S. 9 8 - 1 2 2 .

Schwanenkinder

133

Schwanritter nicht fur seine Genealogie in Anspruch nimmt." 9 Im Zuge vielfacher Rezeptionen, Brechungen und Umdeutungen kann der Mythos in der Neuzeit diese genealogischen Perspektivierungen und Funktionalisierungen verlieren, büßt jedoch seine Faszinationskraft nicht ein: Lohengrin oder der Schwanritter gehören zu den wenigen Figuren der mittelalterlichen Erzählwelten, die auch heute noch im kulturellen Gedächtnis breiterer Schichten verankert sind. 10

Π

Im Zentrum der mittelalterlichen Erzählungen um Lohengrin, den Schwanritter und die Schwanenkinder steht die Frage nach dem genealogischen Herkommen, nach dem Ursprung einer genealogischen Ordnung, und damit arbeitet der Mythos an einem der fundamentalen Probleme der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, denn: Adel wird in den mittelalterlichen Ordnungen des Wissens ganz wesentlich über die Herkunft, über Abstammung und Geblüt definiert und die Identität des Einzelnen ist entscheidend durch sein Wissen um seine Eltern und Vorfahren bestimmt. Aus der genealogischen Vergangenheit werden dabei in der Regel Ansprüche für die Gegenwart und Zukunft der Familien und Verwandtschaftsverbände abgeleitet: Insofern trifft die Frage nach dem genealogischen Herkommen ins Zentrum mittelalterlicher Legitimation und Selbstdarstellung von Macht, Herrschaft und von Ansehen überhaupt. 11 Daher ist es etwa im Rahmen derjenigen genealogischen Diskurse, die den Herrschaftsanspruch einer Gruppe begründen sollen, entscheidend, wie und wie weit in die Vergangenheit eine Genealogie zurückreicht und wie lückenlos 9

CRAMER ( A n m . 1 ), S. 4 6 .

10

Eine zentrale Rolle in diesen Rezeptionsprozessen spielt zweifellos Richard Wagners 1850 uraufgeführter Lohengrin. Zur Bedeutung des Genealogischen im Mittelalter siehe u. a.: HOWARD BLOCH: Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages. Chicago, London 1983; DERS.: Genealogy as a Medieval Mental Structure and Textual Form. In: La littérature historiographique des origines à 1500. Tome 1. Hrsg. von HANS ULRICH GUMBRECHT/

"

URSULA LINK-HEER/PETER-MICHAEL SPANGENBERG, H e i d e l b e r g

1986

(GRLM

XI. 1), S.

135-156; URSULA PETERS: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1999 (Hermaea. N. F. 85); Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von KILIAN HECK/ BERNHARD JAHN, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80); Generation and Degeneration. Tropes of Reproduction in Literature and History from Antiquity through Early Modem Europe. Hrsg. von VALERIA FINUCCI/KEVIN BROWNLEE, Durham, London 2001; Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte. Hrsg. von SIGRID WEIGEL, Berlin 2002; BEATE KELLNER: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004.

134

Beate Kellner

das Heil von einer Generation in die nächste übertragen wurde. Genealogien entwerfen Generationenketten, die prima vista nach dem Prinzip der Reihe, dem Voranschreiten in der Zeit, angeordnet sind, doch sie gehen über das transpersonale Konstrukt der Kontinuität und Identität des Blutes12 nicht in der Ordnung der Linearität und Sukzession auf. Im Nachfahren nämlich wird dem genealogischen Denken entsprechend - das Heil vergangener Generationen vergegenwärtigt, und zugleich antizipiert jener die künftigen Glieder der Familie, Sippe oder Dynastie. Die solchermaßen angenommenen Verschränkungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zwischen den einzelnen Gliedern der Geschlechter wiederum zeigen, dass sich im Genealogischen, wie ich postulieren möchte, Momente einer linearen und einer zyklischen Zeitauffassung, mithin Momente eines Denkens in Sukzessionen und eines Denkens der Präsenz verbinden.13 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in diesem Modell keine voneinander ausdifferenzierten, keine gesonderten Zeitstufen, sondern vielmehr gehen sie ineinander über, sie bilden ,eine Zeit'. Und es ist eben diese Vorstellung von der ,Einen Zeit', in der das Ende mit dem Anfang und der Anfang mit dem Ende übereinstimme, welche CASSIRER im zweiten, dem mythischen Denken gewidmeten, Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen als charakteristisch für die mythische Auffassung von Zeit gesehen hat. In eben diesem Sinne hat er die Zeit geradezu als den Schlüssel zum mythischen Denken betrachtet, und dürfte man unterstellen, dass dem Genealogischen im Mittelalter Züge dieser Auffassung von Zeit inhärent sind, so ergäbe sich - schon von daher - dessen Bedeutung für das mythische Denken.14 Im Rekurs auf Schelling15 entwickelt CASSIRER, dass die mythische Zeit unteilbar sei16, und insofern sei sie, die mythische Zeit, dem geschichtlichen Zeitbegriff entgegen1

Vgl. zum Genealogischen als transpersonale Konstruktion von Kontinuität besonders GERT MELVILLE: Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft. In: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Hrsg. von PETER-JOHANNES SCHULER, Sigmaringen 1987, S. 203-309; BEATE KELLNER: Kontinuität der Herrschaft. Zum mittelalterlichen Diskurs der Genealogie am Beispiel des Buches von Bern. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER/HORST WENZEL, Stuttgart, Leipz i g 1999, S. 4 3 - 6 2 .

13

14

Dies gegen CzERwrNSKl, der Genealogien als reines Denken der Präsenz zu beschreiben sucht. PETER CZERWINSKI: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung. Bd. 2. München 1993, hier S. 259-320. Vgl. ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische D e n k e n . D a r m s t a d t ' 1 9 9 4 , b e s o n d e r s S. 1 2 9 - 1 4 5 .

15

Vgl. CASSIRER (Anm. 14), S. 131; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Ausgewählte Werke. 2. Abteilung. Bd. 1. Darmstadt 1990 (Reprint der aus dem hs. Nachlass hrsg. Ausgabe von 1856), S. 182.

16

CASSIRER ( A n m . 1 4 ) , S . 1 3 3 .

135

Schwanenkinder

gesetzt, da dieser gerade eine feste Chronologie mit einer strengen Unterscheidung in ein Früher und ein Später voraussetze. Analog zum mythischen Raumbegriff, nach dem ein Teil das Ganze nicht nur vertrete, sondern nach dem jedes Teil das Ganze sei, gelte auch fur die Zeitvorstellung: „Das magische .Jetzt' ist keineswegs b l o ß e s Jetzt, ist kein einfacher und abgesonderter Gegenwartspunkt, sondern es ist, um den Leibnizischen Ausdruck zu gebrauchen, .chargé du passé et gros de l'avenir' - es enthält das Vergangene in sich und geht mit der Zukunft schwanger." 17 Inwieweit diese - in unzulässiger Kürze - skizzierte Form von C A S S I R E R S mythischem Zeitbegriff dem genealogischen Denken nahekommt und inwiefern sich dieses zwischen den Polen von mythischer und geschichtlicher Zeit bewegt 18 , wird im Verlauf der konkreten Analysen an den Manifestationen des Schwanrittermythos deutlicher zu konturieren sein. An dieser Stelle sei vorweg die Hypothese aufgestellt, dass es gerade jene skizzierte Vorstellung von der .einen Zeit' ist, welche die Kontinuität der genealogischen Reihen garantiert und bewirkt, dass Genealogien stabilitas in den Wechselfällen der Zeit zuzuschreiben ist.19 Vermögen Genealogien Herrschaft durch solche Inszenierungen von Dauer, von hohem Alter und Ansehen zu begründen und zu festigen, so spitzt sich das Problem der Legitimierung einer genealogisch fundierten Herrschaftsordnung im Blick auf die Anfänge der Gemeinschaft zu: Die Frage nach dem Herkommen, nach dem Spitzenahn20, die - wie bereits angedeutet - im Zentrum der mythischen Entwürfe von Lohengrin, dem Schwanritter und den Schwanenkindem steht, bildet sozusagen die crux jeder genealogischen Ordnung, denn einerseits soll er den Beginn einer genealogischen Linie markieren, andererseits aber ist er der genealogischen Systematik gemäß über seine Ahnen zwangsläufig wiederum selbst in eine Generationenkette eingebunden, die sich über den vermeintlichen Ursprung hinaus zurückverfolgen lässt. Das Problem liegt also in der zunächst trivialen Feststellung, dass eine genealogisch strukturierte Reihe prinzipiell zwar nicht unendlich, aber theoretisch doch bis Adam fortsetzbar ist, schlicht weil alle Glieder wieder um die 17

CASSIRER (Anm. 14), S. 137.

18

Eine ausführlichere Diskussion dieser Fragen findet sich bei KELLNER (Anm. 11).

"

So sieht etwa HANS ULRJCH GUMBRECHT die Funktion des „epochenspezifischen Grundkonzept[s] .Genealogie'" besonders in der Ausblendung der diesseitigen mutabilitas

der Zeit. Vgl.

HANS ULRICH GUMBRECHT: Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: Schrift und Gedächtnis. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN/CHRJSTOF HARDMEIER, München 1983 (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 158-174, h i e r S . 165. 20

Den Terminus Spitzenahn

übernehme ich von KARL HAUCK: Haus- und sippengebundene

Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter von Adelssatiren des 11. und 12. Jahrhunderts her erläutert (1954). In: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus den Jahren 1933-1959. Hrsg. von WALTHER LAMMERS, Darmstadt 1965 (Wege der Forschung 21), S. 165-199, hier S. 173.

136

Beate Kellner

Elterngeneration verlängerbar sind. Das genealogische System der Verwandtschaft droht sich von daher stets aufzulösen in der universalen, gleichzeitig gültigen christlichen Ordnung der Verwandtschaft aller Menschen von Adam her. Zielt die genealogische (Selbst)beschreibung auf die Privilegiertheit einer Gruppe und häufig auf deren elitären politischen Führungsanspruch, so liegt in der Konstruktion von der adamitischen Verwandtschaft aller Menschen, und, unmittelbar damit verbunden, von Gott als dem einen Vater für alle, ein diametral anderer, ein starker paritätischer Appell, der den beschriebenen Exklusivitätsanspruch gerade einzuebnen droht. Radikal zugespitzt bedeutet dies, dass das genealogische Denksystem in der Gefahr steht, in eine Aporie zu münden und damit seine legitimatorischen Funktionen mit den Mitteln seiner eigenen Logik zu unterlaufen: Die große, die universale Geschichte vom Ursprung der Welt und der Menschheit konfligiert mit den partikularen Erzählungen vom genealogischen Ursprung einzelner Gruppen.21 Hierin eben liegt die Aporie jeder genealogischen Ordnung, und entscheidend ist dabei, dass der Ursprung sich nicht in einem rationalen Sinne erklären oder gar aufklären lässt: Seiner Natur nach muss er unsichtbar und unaussprechlich bleiben.22 Das mit dem Ursprung nicht selten verbundene Tabu verweist darauf, so gerade auch das Frageverbot der Lohengrin- und Schwanrittergeschichten.23 Wenn in den Mythen der verschiedensten Kulturen und Völker dennoch häufig und besonders ausfuhrlich vom Ursprung erzählt wird, so richtet sich dieses Erzählen gegen ein Erklären, und man könnte mit B L U M E N B E R G sagen, „dann eben wird nicht erklärt und nicht nach Erklärung verlangt. Es wird eben nur erzählt."24 Und weiter ließe sich noch einmal mit B L U M E N B E R G fortfahren: „Ein spätes Vorurteil will, dies leiste nichts Befriedigendes."25 Die Leistung jenes Erzählens vom Ursprung könnte man vielmehr gerade darin sehen, die Aporien des Ursprungs narrativ zu bewältigen, also auszusprechen, was eigentlich unaussprechlich ist, sichtbar zu machen, was Zum Problemkomplex vgl. etwa ARNOLD ANGENHNDT: Der eine Adam und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der Origo gentis im Mittelalter. In: Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation. Akten des Gerda Henkel Kolloquiums. 13.-15. Oktober 1991. Hrsg. von PETER WUNDERLI, Sigmaringen 1994, S. 27-52; KELLNER (Anm. 11). 22

Vgl. HANS BLUMENBERG: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 5 1990, S. 143: „Es beschreibt die ganze Zeugungsmacht mythischer Potenzen, daß für sie der Satz des Aristoteles nicht gilt, ein Gleiches bringe immer wieder ein Gleiches, der Mensch einen Menschen, hervor. Aus der Nacht kann alles an Grauenhaftem und Ungestaltem hervortreten, um die Ränder des Abgrunds zu besetzen, damit der Blick nicht in die Leere geht."

23

Vgl. dazu PETER STROHSCHNEIDER: Ur-Sprünge. Körper, Gewalt und Schrift im Schwanritter Konrads von Würzburg. In: Gespräche - Boten - Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Quellen und Studien 143), S. 127-153.

24

BLUMENBERG (Anm. 22), S. 143. Ebd.

25

Schwan enkinder

137

eigentlich unsichtbar ist. Darin läge, so meine ich, das Mythische der Erzählungen vom Ursprung, denn gerade als Ursprungsmythen arbeiten sie, einer Bestimmung des mythischen Denkens durch CLAUDE L É V I - S T R A U S S folgend26, an der Bewältigung des Widersprüchlichen. Insofern enthüllt das mythische Erzählen vom Ursprung, zumindest partiell, jene Vorgänge, welche die Bedingung der Möglichkeit darstellen für die Konstituierung der neuen Ordnung im Ursprung. So eröffnet dieses Erzählen einen Blick auf das, was durch den Ur-sprung mit aller Macht abgeblendet werden soll, mithin eröffnet es einen Blick auf die Regellosigkeit, das Chaos vor der Ordnung.27 Insofern kann es auch nicht verwundern, dass in die Geschichten vom Ursprung in aller Regel Gewalttaten, Verfehlungen, Verbrechen verflochten sind.28 Im Blick auf die Geschichten vom Ursprung genealogischer Ordnungen ist nun insbesondere nach der Faktur dieses Erzählens zu fragen, mithin nach den Strategien und Argumentationsmustern, Erzählschemata und Redeformen, die entwickelt werden, um dieses Problem zu bewältigen und damit Herkunft zu legitimieren. Versucht man nun, zumindest einige dieser Strategien vorab unter systematischen Aspekten - zu vergegenwärtigen, so ist zunächst an jene Versuche zu denken, welche den Ursprung gewissermaßen verlagern, indem sie genealogische Ordnungen über ihren eigentlichen Beginn' hinaus verlängern. Solche Entwürfe, welche es unternehmen, mittelalterliche Geschlechter über Ansippungen bis in ferne, mitunter ahistorische Zeittiefen zurückzuführen, entschärfen das Problem des Ursprungs einer Genealogie, indem sie ihren Beginn verschieben, ihn sozusagen im Modus einer Kontinuität umschreiben, doch sie handeln sich damit zugleich die crux einer Entdifferenzierung der in Frage stehenden genealogischen Ordnung ein. Wenn diese in extremis in die biblische Urgeschichte mündet, geht sie auf in der allgemeinen Geschichte des Menschengeschlechts und insofern steht die gesamte Konstruktion in der oben beschriebenen - Gefahr, den Anspruch, auf den sie eigentlich zielt, nämlich die Legitimierung eines Geschlechts als eines besonderen, eines herausragenden, gerade wieder einzubüßen. Durchschlagender als diese Strategien erscheint es daher, am Ursprung eine Zäsur zu setzen, welche die entstehende genealogische Ordnung aus der größeren Gemeinschaft des Menschengeschlechts ausgrenzt und ihr ihre Unver26

27

28

Vgl. CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Strukturale Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1991, S. 226254. Diese Denkbewegung eignet bekanntlich Kosmogonien der verschiedensten Völker und Zeiten. Vgl. etwa AXEL HORSTMANN: Mythos und Mythologie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6 (1984), Sp. 281-318, passim. Vgl. zur Verschränkung von Gewalt und Gründung besonders die Arbeiten von RENÉ GIRARD: Das Ende der Gewalt. Analyse eines Menschheitsverhängnisses. Freiburg i. Br., Basel, Wien 1983; DERS.: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 1992; DERS.: Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt a. M. 1992.

Beate Kellner

138

wechselbarkeit verleiht. Daher muss mit dem Spitzenahn gewissermaßen gegen die Logik genealogischer Sukzession ein Neubeginn inszeniert werden, indem er zu einem Gründer stilisiert wird, der besonderes Legitimationspotential mit- und einbringen kann. Eine ebenso wirkungsvolle wie dementsprechend auch kulturgeschichtlich verbreitete Denk- und Argumentationsfigur ist die Bindung der Gründergestalten an den Raum der Transzendenz: Strukturell betrachtet lässt sich hier ein breites Spektrum von Möglichkeiten erkennen: Der Spitzenahn kann ein Halbgott, ein Heros (wie etwa der Heros eponymos der origo gentis Geschichten), entsprechend ein Heiliger (z. B. Karl der Große oder der heilige Arnulf), ein Gralsgesandter (Lohengrin), eine Fee oder ein Dämon (Melusine) sein. Dass das aus der antiken Mythologie vertraute Muster einer unmittelbaren genealogischen Herleitung bedeutender Geschlechter von Göttern oder Halbgöttern im christlichen Mittelalter nicht ohne weiteres funktionieren kann, versteht sich schon aus den veränderten religionsgeschichtlichen Bedingungen des jüdisch-christlichen Monotheismus.29 Dennoch werden gewissermaßen gegenläufig zur monotheistischen Ausrichtung des Christentums Herkunftsmodelle entwickelt, die - wie ich meine - strukturelle Analogien zum Polytheismus aufweisen oder aus jenem entlehnt zu sein scheinen30: In diesen Kontext gehört auch und vor allem das den verschiedenen Versionen des Mythos von den Schwanenkindern, vom Schwanritter und von Lohengrin zu Grunde liegende Schema der gestörten Mahrtenehe^: Es versucht den Ursprung privilegierter Geschlechter, so die These, in einer dem Polytheismus analogen Weise zu erklären, denn im Zentrum der Erzählstruktur steht die sexuelle, ja die eheliche Verbindung eines irdischen mit einem überirdischen Partner. Da der Gründer insofern aus den bloß horizontalen genealogischen Verbindungen der Menschenwelt gelöst und gewissermaßen vertikal in die Nähe des Göttlichen gerückt ist, wird er auratisiert, mit besonderem mythischem Heil ausgestattet, von dem - durch die Übertragungen im Geblüt - auch seine 29

D a s s mit Christus ein Sohn Gottes geboren wird, m u s s dementsprechend im Konstrukt der Trinität a u f g e f a n g e n und in der Idee der göttlichen S e l b s t z e u g u n g in den M o n o t h e i s m u s zur ü c k g e b u n d e n werden. G e n e a l o g i s c h e Verbindungen mit Jesus waren über s e i n e Verwandten und vor allem über die Vorstellungen von spiritueller V e r w a n d t s c h a f t und Ä m t e r s u k z e s s i o n denkbar.

30

Ich m ö c h t e m e i n e A u s f ü h r u n g e n hier an die Überlegungen RAINER WARNINGS zur Hybridisierung heidnischer und christlicher Inhalte und Strukturmuster binden. V g l . RAINER WARNINGS Beitrag in d i e s e m Band, S. 19-33.

31

S i e h e dazu: Merlin

und Seifrid

de Ardemont

von Albrecht von Scharfenberg in der Bearbei-

tung Ulrich Füetrers. Hrsg. von FRIEDRICH PANZER, Tübingen 1 9 0 2 (Bibliothek des litterarischen V e r e i n s Stuttgart 2 2 7 ) , S. VII-CXXXIII, hier S. LXXIII-CIX; STITH THOMPSON: M o t i f Index o f Folk-Literature. 6 Bde. Kopenhagen 1 9 5 5 - 1 9 5 8 , Β 2 9 , C 3 0 f . , C 9 3 2 , F 3 0 2 , G 2 4 5 ; LUTZ RÖHRICH: Erzählungen d e s späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und V o l k s d i c h t u n g bis zur Gegenwart. Bd. 1. Bern, M ü n c h e n 1 9 6 2 , S. 2 7 - 6 1 , S. 2 4 3 - 2 5 3 ; DERS.: Mahrtenehe: D i e gestörte Mahrtenehe. In: EM 9 ( 1 9 9 7 ) , Sp. 4 4 - 5 3 .

Schwanenkinder

139

Nachkommen zehren können. In den mittelalterlichen (Selbst)darstellungen des Adels ist es daher gerade die Berufung auf einen solchen Spitzenahn, welche zusammen mit einer möglichst langen und möglichst lückenlosen Kette der genealogischen Glieder vom Ursprung her die dynastischen Ansprüche auf Macht, Herrschaft und Ansehen begründen und insofern legitimieren soll. Das genealogische Modell gewährleistet dabei, den Bruch zu überwinden zwischen dem Ursprung und allem, was jenem entspringt. Seine besondere Leistung liegt darin, die dem Ursprung innewohnende Auszeichnung, Macht und Heiligkeit auf das Nachfolgende als das davon Abstammende zu übertragen. Das Genealogische kann man daher wohl als zentrale Funktion des Mythos, näherhin eines ursprungsmythischen Denkens bestimmen. 32

III Die skizzierten Strategien, genealogische Ordnungen herzuleiten und dabei ihren Ursprung zu inszenieren, finden sich nun, so die These, in den Erzählungen von den Schwanenkindern, dem Schwanritter und von Lohengrin gebündelt. In geradezu paradigmatischem Sinne handelt es sich hier um Ursprungsmythen: Als „Geschlechtermythologien", um einen Terminus J A N - D I R K M Ü L 33 LERS aufzugreifen, sichern sie einem adeligen Haus sein Gedächtnis. Die Erzählungen sind insofern auch als Manifestationen einer Haushistoriographie zu verstehen, denn Mythos und Geschichte gehen in den literarischen und historiographischen Entwürfen vielfache Allianzen ein, und gerade in dieser Spannung zwischen Mythos und Historie wohnt ihnen ein - nicht zu unterschätzender - Wahrheitsanspruch inne. Die literarischen und historiographischen Texte präsentieren dabei nicht einfach dieselbe Wahrheit, sondern sie stellen sie in ihren je eigenen Vertextungsregeln, Gattungsmustern, Erzählschemata, Symbolisierungen und Figurationen dar. Das Verbot, die prekäre Frage nach dem Ursprung des Schwanritters oder Lohengrins zu stellen, bildet den Dreh- und Angelpunkt fast aller französi-

Vgl. KLAUS HEINRICH: Die Funktion der Genealogie im Mythos. In: DERS.: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie. Basel 3 1992, S. 9-28; v g l . d a z u HORSTMANN ( A n m . 2 7 ) , S p . 2 8 1 - 3 1 8 , hier S p . 3 1 2 .

Vgl. JAN-DIRK MÜLLER: Melusine in Bern. Zum Problem der Verbürgerlichung höfischer Epik im 15. Jahrhundert. In: Literatur - Publikum - historischer Kontext. Hrsg. von GERT KAISER, Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1977 (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 1), S. 29-77, hier S. 48; DERS.: Gattungstransformation und Anfänge des literarischen Marktes. Versuch einer Theorie des frühen deutschen Prosaromans. In: Textsorten und literarische Gattungen: Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1.-4. April 1979, Berlin 1983, S. 432-449, hier S. 439.

140

Beate Kellner

sehen und deutschen Dichtungen.34 Übereinstimmend berichten sie auch, dass die Frau der Lohengrin- oder Schwanritterfigur dieses Tabu nach Jahren des Zusammenlebens bricht, worauf jener - magischem Zwang gehorchend - seine irdische Partnerin und seine Kinder verlassen muss. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten, die sich als Elemente des Erzählschemas von der gestörten Mahrtenehe abstrahieren lassen35, dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Umstände und Gründe für das Verbot sowie seine Übertretung von Erzählung zu Erzählung erheblich variieren, wodurch auch die Vorgeschichte des Schwanritters, auf die im Folgenden das Augenmerk gerichtet werden soll, je unterschiedlich gefasst sein kann.36 Am radikalsten setzt Konrad von Würzburg das Tabu in seiner kurzen Erzählung um, denn bei ihm darf nicht nur die Herzogin von Brabant nicht nach der Genealogie des Vaters ihrer Kinder fragen, sondern Konrad klärt dessen Herkunft auch fur die Rezipienten nicht auf.37 Der Schwanritter bleibt in der gesamten histoire namenlos, er bleibt merkwürdig geschichtslos, er ist der Gottgesandte38, der aus dem Nirgendwo auftaucht und schließlich wieder ins Nirgendwo verschwindet. Der Schwan, der den schlafenden Ritter über das Wasser zieht und schließlich wieder holt39, erscheint als rätselhaftes Fragment eines Mythos, welcher narrativ nicht entfaltet wird. In Wolframs Parzival dagegen wird nicht nur Loherangrîns Herkunft als Parzivals Sohn (826,22) und Gralsgesandter (823,27ff.; 824,27ff.) zumindest für die Rezipienten deutlich, sondern das Tabu wird darüber hinaus noch aus der Vorgeschichte des Vaters begründet: Das Frageverbot40, dem alle Gralsboten bei ihrer Aussendung un-

Dass es auch Lohengringeschichten ohne das Frageverbot geben kann, zeigen etwa die Erzählungen von Lohengrins zweiter Aussendung zu Pelaie i m Jüngeren Titurel, Str. 5918ff.; und bei Fiietrer, Buch der Abenteuer, Str. 292Iff. 35 36

Vgl. dazu die unter Anm. 31 verzeichneten Forschungstitel. LECOUTEUX dagegen kommt es letztlich darauf an, den Mythos respektive die Sage hinter den verschiedenen Fassungen von den Schwanenkindern und vom Schwanritter zu erheben. Vgl. CLAUDE LECOUTEUX: Zur Entstehung der Schwanrittersage. In: ZfdA 107 (1978), S. 18-33; DERS.: Melusine et le chevalier au cygne. Préface de JACQUES LE GOFF. Paris 1982, S. 109158.

37

38

Vgl. dazu ausführlich STROHSCHNEIDER (Anm. 23), S. 127-153, besonders S. 131f.: „Das Tabu ist im .Schwanritter' ein factum brutum." (Zitat, S. 132); vgl. auch HORST BRUNNER: Genealogische Phantasien. Zu Konrads von Würzburg Schwanritter und Engelhard. In: ZfdA 110 (1981), S. 274-299, hier S. 278f.; RÜDIGER BRANDT: Konrad von Würzburg. Darmstadt 1987 (Erträge der Forschung 249), S. 100-105, hier S. 101. Konrad von Würzburg: Schwanritter,

V. 1627-1629. Vgl. dazu STROHSCHNEIDER (Anm. 23),

S. 131, mit Anm. 11 und Anm. 67. 39

Konrad von Würzburg: Schwanritter,

40

Wolfram von Eschenbach: Parzival,

V. 237ff.; V. 1566ff. V. 818,25ff.

Schwanenkinder

141

terliegen, erscheint durch die unterlassene Mitleidsfrage Parzivals determiniert (819,3ff.). Insofern korrespondiert es mit dem vorausgehenden Fragegebot. 41 Während diese Bezüge in Wolframs Roman nur in knappster Form angedeutet sind, werden sie im strophischen Lohengrin*1 und später dann im 15. Jahrhundert im Lorengeiund in Füetrers Buch der Abenteuer44 breiter entfaltet, doch wird die genealogische Vorgeschichte Lohengrins auch hier nicht in einer eigenen Erzählung ausfabuliert. Jene wird in den deutschen Dichtungen, versucht man zu resümieren, entweder ganz ausgespart oder bloß angedeutet, fragmentarisiert, verdunkelt, zumindest aber marginalisiert. Als eine Chiffre dafür könnte man vielleicht die Partie aus dem Rätselspiel des WartburgkriegKomplexes lesen, mit welcher der strophische Lohengrin einsetzt. Indem die Geschichte des Gralsboten hier dem Erzähler Wolfram in den Mund gelegt wird, erscheint sie - narratologisch betrachtet - als Bestandteil seines Rätselwettstreits mit Klingsor. 45 Da die Erzählung von Lohengrin sozusagen durch das Rätselspiel präludiert ist, wird zweifellos ihr eigener rätselhafter Charakter unterstrichen, und gerade Lohengrins Geschichte, die Erhellung seiner Existenz als Gralsritter und Gralsgesandter, welche am Übergang zwischen dem Rätselwettstreit und der langen Erzählung Wolframs steht46, wird auf diese Weise - narratologisch klug inszeniert - einmal mehr verrätselt. Eine Begründung fur die Existenz des Schwanes als Begleiter des Ritters, dessen Identität ganz wesentlich an der Verbindung mit jenem hängt, wird in den genannten deutschen Dichtungen nirgends gegeben. Sie geht allein aus den sogenannten Schwanenkindergeschichten hervor, welche die genealogische Vorgeschichte des Schwanritters ihrerseits als eine mythische präsentieren.

41

Vgl. dazu ULRICH WYSS: Parzivals Sohn. Zur strukturalen Lektüre des Lohengrin-Mythos. In: Wolfram-Studien 5 (1979), S. 96-115, hier S. 97f.; JOACHIM BUMKE: Parzival und Feirefiz Priester Johannes - Loherangrin. Der offene Schluss des Parzival von W o l f r a m von Eschenbach. In: DVjs 65 (1991), S. 236-264, hier S. 242-244, S. 255-264; ALEXANDRA STEIN: ,wort unde were'. Studien zum narrativen Diskurs im Parzival Wolframs von Eschenbach. Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 31), S. 156-168, S. 250-253; STROHSCHNEIDER (Anm. 23), S. 129-131. Auch im Jüngeren Titurel wird die Identität Lohengrins als Gralsritter und Sohn Parzivals vorausgesetzt. Vgl. etwa Jüngerer Titurel, Str. 5997ff.

42

Lohengrin, V. 371ff.; vgl. auch V. 7071 ff. Lohengrin eröffnet hier nach der verhängnisvollen Frage Elsams seine Identität vor dem versammelten Hof, d. h. Elsam erfährt seine Vorgeschichte, bevor er sie verlässt. Insofern bleibt ihr und ihren Kindern immerhin das Wissen um die genealogische Herkunft des Familienoberhaupts. Vgl. STROHSCHNEIDER (Anm. 23), S. 132, mit Anm. 18.

43

Lorengel, Str. 14ff. (Ich orientiere mich am Text der Wiener Piaristenhandschrift Cod. vindob. 15478, Sigle W).

44

Ulrich Füetrer: Buch der Abenteuer,

45

Die Lohengrinerzählung Wolframs ist die Antwort auf ein Rätsel Klingsors (Str. 2 3 I f f . ) . Narratologisch liegt sie daher auf derselben Ebene wie Wolframs Lösungen der vorangehenden Rätsel.

46

Lohengrin,

V. 2 3 I f f .

Str. 2624ff., Str. 2893ff.

142

Beate Kellner

IV Nun zeigen gerade die erwähnten Schwanenkindergeschichten, die ich im Folgenden ins Zentrum meiner Überlegungen stellen möchte, wie am Problem des genealogischen Ursprungs gearbeitet wird. Indem jene die Genealogie des Schwanritters als Spitzenahn aus fabulieren, erzählen sie gewissermaßen vom Ursprung des Ursprungs und legen den Finger darauf, dass es sich um ein Problem handelt, das in einem regressus ad infinitum zu verschieben ist. Die Ursprungsgeschichte selbst greift über den Ursprung hinaus, was im genealogischen Denksystem - wie erläutert - grundsätzlich möglich ist, weil jeder Gründer wieder Vorfahren hat und damit jede Genealogie prinzipiell weiter verlängerbar ist, bis hinein in die Uranfänge des Menschengeschlechts. Zwar bieten die Schwanenkindergeschichten als Ätiologien Erklärungspotential im Blick auf die Identität des Schwanritters selbst, doch verlagern sie das Problem im Grunde nur auf die vorangehende Generation. Im Falle der Schwanritter-, Lohengrin-Überlieferung erscheint jenes Ausfabulieren des Ursprungs besonders prekär, weil das Tabu, nach eben dieser Herkunft zu fragen, den Kern seiner Geschichte bildet. Der Mythos von den Schwanenkindern präsentiert daher gerade das, so meine These, was in der späteren Geschichte des Schwanritters und im Verlauf der späteren Genealogie abgeblendet werden muss. Er bannt das Problem47, denn er erzählt im Wortsinne das, wonach man dann nicht mehr fragen soll und darf: Um es an die eingangs formulierten Überlegungen zu binden und nun mit einem Bild zu sagen: Er präsentiert die Rückseite der entstehenden genealogischen Ordnung, er erzählt - logisch nicht auflösbar - von der Zeit vor dem Ursprung, und gerade deshalb möchte ich die Aufmerksamkeit auf ihn lenken.48 Überliefert ist die Erzählung von den Schwanenkindern in mehreren Versionen und unterschiedlichen Konstellationen: Zum einen ist sie als Vorgeschichte der Chanson du Chevalier au Cygne in den großen Gestenzyklus integriert, welcher in seinen verschiedenen Branchen die genealogische Linie vom Chevalier au Cygne zu Gottfried von Bouillon auszieht.49 Da die Chanson

48

45

Vgl. BLUMENBERG (Anm. 22), S. 142: „Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar." Mir geht es im Folgenden also um eine Lektüre der Schwanenkindergeschichte als Ursprungsmythos. Von genetischen Erklärungen der Erzählungen aus der germanischen oder keltischen Mythologie möchte ich absehen. Vgl. dazu LECOUTEUX 1979 (Anm. 36), S. 18-33; DERS. 1982 (Anm. 36), S. 143-158, mit zahlreichen Hinweisen auf ältere mythologische Deutungen. V g l . BENDER ( A n m . 2 ) , S. 3 3 - 8 7 , b e s o n d e r s S. 6 5 - 6 9 ; CRAMER ( A n m . 1), S. 4 8 , S. 5 1 - 5 3 , S.

54-56; vgl. dazu FRIEDRICH WOLFZETTEL: Zur Stellung und Bedeutung der Enfances in der altfranzösischen Epik I. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 83 (1973), S. 317-348; DERS.: Zur Stellung und Bedeutung der Enfances in der altfranzösischen Epik II. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 84 (1974), S. 1-32.

Schwanenkinder

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du Chevalier au Cygne ihrerseits als Vorgeschichte zu den Kreuzzugsepen und insbesondere zu den Enfances Godefroi erscheint, zeigt sich gerade mit den, chronologisch gesehen, wohl im nachhinein angehängten Enfances du Chevalier au Cygne gewissermaßen auch textgenealogisch, wie sich eine Präambel an die andere, eine Ursprungsgeschichte an die andere schließt.50 Neben jenen im Verbund mit der Chanson du Chevalier au Cygne überlieferten Erzählungen von den Schwanenkindem, welche in der Forschung nach dem jeweiligen Namen der Mutter der Schwanenkinder als Elioxe- oder Sea fr ix-Version tituliert werden", gibt es auch Fassungen, die im Kontext der (in zahlreichen orientalischen und abendländischen Versionen vorliegenden) Erzähltraditionen von den sieben weisen Meistern stehen.52 So stellt die narratio von den Schwanenkindem in der ältesten lateinischen Version, dem Dolopathos des Johannes de Alta Silva53, eine der Binnengeschichten dar, mit denen die sieben weisen Meister dem sizilischen Prinzen Lucinius, der von seiner Stiefmutter verleumdet und von seinem Vater Dolopathos zum Tode verurteilt worden war, einen Aufschub der Hinrichtung bewirken.54 Eine umfangreiche französische Versbearbeitung des lateinischen Dolopathos entstand durch den Dichter Herbert von Paris im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts55, darüber hinaus sind sechs der Binnenerzählungen - ohne Hinweise auf den Rahmenzyklus - in

50

Vgl. BENDER (Anm. 2), S. 65-69. Zur divergierenden Anordnung in den sogenannten manuscrits cycliques vgl. ROBERT F. COOK/LARRY S. CRIST: Le deuxième cycle de la croisade. Deux études sur son développement: Les textes en vers par ROBERT F. COOK, Etude sur Saladin, suite et fin du deuxième Cycle de la croisade par LARRY S. CRIST. Genève 1972 (Publications Romanes et Françaises 120), S. 80.

51

Beschreibung der Überlieferung und Edition der Texte: La Naissance du Chevalier au Cygne. Elioxe. Hrsg. von EMANUEL J. MICKEL. Beatrix. Hrsg. von JAN A. NELSON. With an Essay on the Manuscripts of the Old French Crusade Cycle by GEOFFREY M. MYERS. Alabama 1977 (The Old French Crusade Cycle 1). Dominant ist die Beatrix-Version überliefert, die ElioxeVersion findet sich in nur zwei Handschriften: Paris, BN, Ms. 12558, und Paris, Bibl. de l'Arsénal, Ms. 3139. Vgl. zur Überlieferung auch AUGUST G. KRÜGER: Die Quellen der Schwanritterdichtungen. Gifhorn (Hannover) 1936, S. 28-33.

52

Vgl. CRAMER (Anm. 1), S. 48-53; vgl. dazu den Überblick bei UDO GERCES: Sieben Meister. In: 2 V L 8 (1992), Sp. 1174-1189.

53

Johannes de Alta Silva: Dolopathos sive De rege et Septem sapientibus. Nach den festländischen Handschriften hrsg. von ALFONS HLLKA, Heidelberg 1913 ( S a m m l u n g mittellateinischer Texte 5: Historia Septem sapientum 2). Zur Überlieferung und Textgeschichte, ebd., S. VIIXIV. Da Johannes seinen Text dem von 1179-1212 amtierenden Bischof Bertrand von Metz widmet ( D o l o p a t h o s , Praefatiuncula, S. 1), wird er auf diesen Zeitraum datiert.

54

Johannes de Alta Silva. Dolopathos (Anm. 53), S. 80-87. Mit Blick auf die Rahmenerzählung, die V e r l e u m d u n g des Prinzen durch seine Stiefmutter, wird die Binnengeschichte als Exempel für die Bosheit der Frauen funktionalisiert.

55

Li Romans

de Dolopathos.

weise

Publié pour la première fois en entier d ' a p r è s les deux manuscrits

d e la B i b l i o t h è q u e I m p é r i a l e p a r CHARLES BRUNET/ANATOLE DE MONT AIGLON, P a r i s 1 8 5 6 .

Die Schwanenkindergeschichte findet sich ebd., V. 9178ff.

144

Beate Kellner

einer Leipziger Sammelhandschrift aus dem 15. Jahrhundert in deutsche Prosa übersetzt.56 Ich konzentriere mich bei der folgenden Analyse der Schwanenkindergeschichte auf die älteste uns erhaltene Fassung aus dem lateinischen Dolopathos und deren Übersetzungen.57 Von besonderem Interesse ist dabei, dass sich auch in dieser frühen Version bereits Hinweise auf die Geschichte des Schwanritters finden58, welche die Erzählung von den Schwanenkindern als seine mythische Vorgeschichte ausweisen.

V

Rasch wird deutlich, dass auch der Mythos von den Schwanenkindern wie die Schwanrittergeschichte selbst - mutatis mutandis, nämlich unter der Umkehrung des Geschlechterverhältnisses - nach dem Modell einer Mahrtenehe gestaltet ist. Wie sich der Schwanritter, dessen Herkunft in allen poetischen Versionen in den mythischen Bereich hinübergespielt wird, mit einer irdischen Partnerin vermählt, so ist er selbst - eben dies erfährt man aus der Schwanenkindergeschichte - aus der Verbindung eines jungen Adligen mit einer Fee hervorgegangen. Strukturell wiederholt die eine Geschichte die andere, und das Wunderbare, so könnte man folgern, verliert im Gesetz der Serie seine Einmaligkeit.59 Der in der Fassung des Dolopathos anonym bleibende nobilis, der Vater des späteren Schwanritters, begegnet während einer Hirschjagd einer hier ebenfalls namenlosen nimpha60, die nackt in einer Quelle badet und eine goldene Kette in der Hand hält. Durch ihre Schönheit entbrennt der junge Adlige unverzüglich in Liebe, stürzt auf die Fee zu und kann sie bezwingen, nachdem 56

Leipzig, U B , M s . 1279, Bl. 2 3 6 ' - 2 9 4 ' . Ebd., Bl. 2 4 8 v - 2 5 9 \ die S c h w a n e n k i n d e r g e s c h i c h t e . V g l . die B e s c h r e i b u n g der Handschrift in: V e r z e i c h n i s der deutschen mittelalterlichen Handschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig. Bearbeitet v o n FRANZJOSEF PENSEL. Z u m Druck gebracht v o n IRENE STAHL, Berlin 1998 ( V e r z e i c h n i s s e altdeutscher Handschriften 3. D T M 7 0 ) , S. 1 7 3 - 1 7 5 . Vgl. den Abdruck bei MORJZ HAUPT: M ä r c h e n und Sagen. In: Altdeuts c h e Blätter 1 ( 1 8 3 6 ) , S. 1 1 3 - 1 6 3 , hier S. 1 1 9 - 1 5 6 ; ebd., S. 1 2 8 - 1 3 6 , die S c h w a n e n k i n d e r g e schichte. Im F o l g e n d e n wird a u f diesen Abdruck verwiesen. D i e zitierten Textstellen sind an der Handschrift geprüft und nach dieser wiedergegeben.

57

Ein V e r g l e i c h aller Fassungen wäre in anderem Rahmen dringend erforderlich.

58

Dolopathos

( A n m . 5 3 ) , S. 86; vgl. Herbert: Li Romans

de Dolopathos

( A n m . 5 5 ) , V. 1 0 6 0 f f ;

vgl. die d e u t s c h e Version nach HAUPT ( A n m . 5 6 ) , S. 135. s

'

Zur W i e d e r h o l u n g von G e s c h i c h t e n i m M y t h o s vgl. LÉVI-STRAUSS ( A n m . 2 6 ) , S. 2 5 3 . Gerade die W i e d e r h o l u n g e n sollen, s o LÉVI-STRAUSS, die Struktur d e s M y t h o s deutlich m a c h e n : . J e der M y t h o s besitzt also eine Blätterstruktur, die in und durch den V o r g a n g der W i e d e r h o l u n g an der O b e r f l ä c h e durchscheint, w e n n man s o sagen darf." (Ebd.).

60

Dolopathos

( A n m . 5 3 ) , S. 81. Im französischen Text ( A n m . 5 5 ) wird s i e als fée ( V . 9 2 3 3 ) , im

deutschen als wünschelwybere

(Bl. 2 4 9 ' , vgl. Haupt [ A n m . 5 6 ] , S. 1 2 9 ) a u s g e w i e s e n .

Schwanenkinder

145

er ihr jene Kette von Gold entrissen hat, welche in den Texten als Metonymie ihrer Jungfräulichkeit beschrieben wird: cathenamque in qua uirtus et operatio uirginis constabat auferens (S. 81).61 Noch in derselben Nacht wird an der Quelle unter freiem Himmel Hochzeit gefeiert.· statim sibi desponsauit uxorem eademque nocte sub diuo iuxta fontem nuptias celebrauit (S. 81). 62 Und ebenfalls noch in derselben Nacht erkennt die Fee aus den Sternen und enthüllt ihrem Vermählten zitternd, dass sie sieben Kinder, sechs Jungen und ein Mädchen, empfangen hat.63 Dass die Herkunft der Fee im Dunkeln bleibt, dass sie weder fur den Edelmann und seine Familie noch fur die Rezipienten aufgeklärt wird, zeigt, so meine These, dass mit ihr ein Anfang bezeichnet werden soll. Sie wird als Ahnfrau einer zu stiftenden genealogischen Ordnung gesehen, durch ihre feenhafte Natur wird eine starke Differenz zum Vorhergehenden gesetzt und der zu gründenden künftigen Familie ihr Siegel aufgedrückt. Statt des Ruhms, der sich etwa aus einer langen Reihe berühmter Vorfahren ableiten ließe, bringt sie ihre Feengaben in die Ehe ein: Dies manifestiert sich in ihrer außergewöhnlichen Fruchtbarkeit, mit der sie durch die simultane Empfängnis von sieben Kindern sogar noch eine andere berühmte Fee der mittelalterlichen Literatur, Melusine, zu übertreffen scheint, sowie auch unmittelbar in ihrem Vermögen,

41

Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9253Γ: La chaaigne esloil sans doute //Sa vertu et sa force toute. Vgl. die deutsche Version, Bl. 249': dy kettene [...] | dorynne sünderliche kraft ynne waß | und planeten ynguß adder ynfloß \ dor ümme werden suiche frowen wünschelwybere genant. (Vgl. HAUPT [Anm. 56], S. 129).

62

Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9261-9272: ... Et disi ki la prendroit à fame: //Riche seroit et haute dame. //La pucele an prist la fiance, //La séurteit et I 'aliance; // A icel tans plus η 'en faisoient, // Mais, puis ke fianceit estoient, // So portoit Ii uns I 'autre honor // Loiauteit et foi et amor. // La nuit sor la fontainne jurent; // Onkes d'iluec ne se remurent; // Si fut elle despucelée, // Que prox fut et saige et senée. Vgl. die deutsche Version, Bl. 249': ... unde erwelte sy ym czu eyner brut \ und czu eyner elichen frowen \ altzu leyte he sy by sich yn das geczeelt by dem flyße \ und beslyeff sy dy selbige nacht \ und volbrachte met yr syne hochczyet. (Vgl. HAUPT [Anm. 56], S. 129). Im Gegensatz zu anderen Mahrtenehen steht die Verbindung nicht unter einem Tabu.

63

Dolopathos (Anm. 53), S. 81: Sub mediantis autem noctis silentio nimpha iam uirginitatis priuata nomine stellarum cursum considérons sex filios cum filia se concepisse cognouit hocque tremens et pauens insinuami coniugi. Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9277-9283: Au cors des estoiles esgarde; // Ne fut pas folle ne musarde; // Par nature assez an savoit, // Et vit ke conséut avoit / / . VI. fiz et une damoiselle. // Son signor en dist la novelle. //Mais moult an fut espoantée. Vgl. die deutsche Version, Bl. 249'": Gar schyre noch der mytter nacht sach dy iungfrowe yn das gesterne doch waß sy nicht [249 v ] me jungfrowe \ Sunder sy erkante an dem gesterne | das sy entphangen hatte sechs söne und eyne thochter \ das offenbarte sy dem selbigen yrem hern yn großer sorge und vörchte ... (Vgl. HAUPT [Anm. 56], S. 129). In der sogenannten Elioxe-Version der Schwanenkindergeschichte blickt die Fee noch weiter auf ihre Genealogie voraus, bis hin zu einem König des Orients, in dem man wohl einen Verweis auf Gottfried von Bouillon sehen kann. Vgl. £/ioxe-Version, V. 257-267; siehe neben der unter Anm. 51 zitierten Ausgabe auch CRAMER (Anm. 1 ), S. 51.

146

Beate Kellner

die Wahrheit aus den Sternen zu erkennen und kommende Ereignisse zu prophezeien.64 Gerade indem jene bereits im Moment der Empfängnis auf ihre Kinder, also ihre Genealogie, vorausblicken kann, wird deutlich, dass im Ursprung, der mit ihr gegeben ist, bereits alles beschlossen ist, auch das, was geschehen wird. Ihr Zittern und ihre Angst, welche im Text deutlich unterstrichen werden, könnte man auch als Hinweis darauf lesen, dass sie bereits weiß, welche schrecklichen Ereignisse auf sie und ihre Kinder warten. Insofern alles Geschehen am Ursprung haftet, kann es im Vorhinein gewusst werden. Zugrunde liegt also eine mythische Auffassung der Zeit65, nach der die Zukunft des Geschlechts sich als Fortdauer des Anfangs erweist, wie man paradox formulieren könnte. Genealogie, das wurde eingangs des Beitrags bereits skizziert, stellt durch ihr Sukzessionsprinzip zunächst eine lineare Zeitordnung dar. Doch diese lineare Ordnung der zeitlichen Bewegung wird zumindest bis ins Spätmittelalter - durch ein zyklisches Element unterlaufen, indem die Ahnen die Nachfahren antizipieren und sich in jenen vergegenwärtigen, - um es noch einmal zusammenzufassen.66 Die goldene Kette, welche die Fee trägt, bringt, so möchte ich weiter folgern, diese zeitliche Ordnung sinnfällig zur Anschauung, man könnte sie geradezu als Metonymie der genealogischen Verkettung verstehen. Sie ist keine Repräsentation, sie ist die Genealogie im Sinne von CASSlRERs Vorstellung von der Einheit von „Bild" und „Sache" im Mythos.67 Bedeutete die goldene Kette zunächst die virginitas der Fee, so wird sie nun zur besonderen Signatur des Geschlechts, denn alle sieben Kinder der Fee werden mit eben solchen goldenen Ketten um den Hals geboren.68 Und diese Symbolisierung der GeMit ihrer Fähigkeit zur Weissagung erinnert sie an eben j e n e gottgleichen fatae oder fadae, auf deren weit verbreitete Verehrung durch das sogenannte Volk in der Brechung des gelehrten Diskurses immer wieder verwiesen wird. Zugeschrieben wurde den heidnischen Feen neben der Weissagung auch häufig die Funktion als Glücks- und Gabenspenderin. Vgl. z. B. Guillaume d ' A u v e r g n e : De Universo, Pars III, c. XXIV. In: Opera omnia. Bd. 1. Paris 1674, S. 791. Vgl. FRIEDRICH WOLFZETTEL: Fee, Feenland. In: EM 4 (1984), Sp. 945-964, hier Sp. 946f.; vgl. auch LAURENCE HARF-LANCNER: Les fées au moyen âge. Morgane et Mélusine. La naissance des fées. Genève 1984, S. 17-25. 65

Vgl. CASSIRER (Anm. 14), S. 129-145; vgl. etwa auch GÜNTER DUX: Struktur und Semantik der Zeit im Mythos. In: Das Heilige. Seine Spur in der Moderne. Hrsg. von DIETMAR KAMPER/CHRISTOPH WULF, Frankfurt a. M. 1987, S. 528-547, hier S. 536-539.

66

Vgl. Abschnitt II dieses Beitrags.

67

Diese Identität stellt nach CASSIRER den Kern des mythischen Denkens dar. Vgl. CASSIRER (Anm. 14), S. 39-77, prägnant besonders S. 51 : „Wo wir ein Verhältnis der bloßen .Repräsentation' sehen, da besteht für den Mythos, sofern er von seiner Grund- und Urform noch nicht abgewichen und von seiner Ursprünglichkeit noch nicht abgefallen ist, vielmehr ein Verhältnis realer .Identität'. Das ,Bild' stellt die .Sache' nicht dar - es .ist' die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt."

68

Dolopnthos (Anm. 53), S. 81 : Verum ipsa cum utero cottidie intumescente ad tempuspariendi peruenisset, sex natos cum filia, sicut iam dudum ante predixerat, cathenulas aureas in circulorum modum circa Collum habentes [...] enixa est. Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos

Schwanenkinder

147

nealogie zieht sich, soviel vorab, geradezu leitmotivisch durch die gesamte Erzählung: Die Ketten fungieren nicht nur als Erkennungszeichen der Familienmitglieder, sondern sie verkörpern, wie noch zu zeigen sein wird, die besondere Daseinsform der Kinder als Schwanenkinder, mithin als Wesen an der Grenze zwischen Tier und Mensch. Die Kostbarkeit der Ketten, welche in ihrer Substanz, dem Gold, augenfällig wird, verweist, so ließe sich weiter folgern, ebenso auf die besondere Auszeichnung des Geschlechts wie ihre Beständigkeit69 auf dessen Dauer. Die einzelnen Familienmitglieder sind wie Glieder dieser Kette, die in ihrem Bestand durch die Vergänglichkeit der Individuen nicht gefährdet ist. Für den irdischen Partner bedeutet die Verbindung mit der feenhaften Ahnfrau persönliches Glück, Erfüllung in der Liebe, sowie genealogischen Reichtum, doch diese Gaben werden in der Gestalt der eifersüchtigen (Schwiegermutter bedroht. Um die Ehe ihres Sohnes mit der unbekannten Schönen zu trennen, sinnt sie auf Verbrechen und vertauscht die sieben neugeborenen Kinder mit sieben jungen Hunden.70 Die damit verbundene ungeheure Unterstellung, die Schwiegertochter habe, statt Kinder zu gebären, junge Hunde zur Welt gebracht, mindert den kreatürlichen Status der Fee auf die Ebene des Tierischen, ja des Monströsen herab. Die Vielzahl der Kinder, die per se bereits abnorm wirkt, erleichtert, so könnte man vermuten, diese List, denn sie

(Anm. 55), V. 9349-9370: Chascun jor plus grosse devint // Jusc'à jor ke Ii termes vint // D 'afanter ceu dont grosse estoit. [...] Car, si com Deu en tallant vint, //Se délivrait la damoiselle // De . VI. filz et d'une pucelle // Dedens l escors sa maie suivre // Qui plus fu desloiax que vuivre. // Cil. VII. enfant trop bel estoient // Une chaaigne d'or avoient // Chascuns antor son col fermée, // Que nature li ot donée. Vgl. die deutsche Version, Bl. 250'"v: Under den geschichten begunde der jungen frowen yr buch uff czu gende \ und naete sich czu der czyet der geberunge \ dor noch yn [250 v ] korczer czyet | do gebaer dy jungefrowe sechs frische söne | und eyne tochter \ alzy vor erkant und gesoyt hatte | dy hatten alle güldene rynge an yren heißen. 69

70

( V g l . HAUPT [ANM. 5 6 ] , S. 1 3 0 ) .

Ich verweise auf die Episode beim Goldschmied: Dolopathos (Anm. 53), S. 83f. ; vgl. Herbert, Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9646ff.; vgl. die deutsche Version nach HAUPT [Anm. 56], S. 132. Dazu im folgenden genauer. Dolopathos (Anm. 53), S. 81 f.: Tunc etiam et socrus scelus quod iam dudum conceperat animo oportunitate temporis operibus complens Septemßlios matri furata est, pro quibus Septem catellos infra nouem dies natos iuxta dormientis ledum collocai. Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9371 -9383: Quant la vielle les anfans voit, //Que tant de mal en li avoit //Et de sa brus avoit anvie, //Bienfîst ke mortèz anemie. // Celle estoit malade et grevainne; // Por la dolor et por la painne // Qu 'ele avoit soffert et aite, //Ne s'an a pas aparçéue; // Toz les . VII. anfans li anblait. // Por les . VU. anfans assamblait / / . VII. chaaillons k 'elle savoit // D'une braichète k 'elle avoit, // Qui furent neit cele semainne. Vgl. die deutsche Version, Bl. 250": Czu hant quam das böße aide wyeb \ dy muter des jungen hern \ und bewyste yre große falsche boßheyt \ dy sye yn yrem hertczen betracht und ußerdacht hatte \ unde nam dy soben kynderchynne | dy wyle dy muter slyeff | unde thrug sy weg | unde legete söben junge welferchynne \ an dye steet \ dy och yn der nacht geborn warn. (Vgl. HAUPT [ANM. 56], S. 130).

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legt den Gedanken an die Geburt von Tieren, an einen Wurf, nahe. Möglicherweise deutet sich in dieser Verleumdung auch ein Reflex auf jene in den gelehrten naturwissenschaftlichen und theologischen Diskursen des Mittelalters verbreitete Meinung an, nach welcher Dämonen, zu denen in aller Regel auch Wesen wie Feen und Nymphen gerechnet wurden, keine menschlichen Nachkommen bekommen können.71 Vincenz von Beauvais etwa erläutert diese Problematik in seinem Speculum naturale an Melusinen- und Schwanrittergeschichten ähnlich wie an Fällen aus dem Umkreis von König Artus und Merlin (lib. 2, c. 126-128).72 Indem er die Autorität der Sententia prudentum gegen die Evidenz der Beispielfälle ausspielt, kommt er zu dem Schluss, dass Wesen dämonischen Charakters nicht in der Lage seien, Kinder zu zeugen oder zu gebären (üb. 2, c. 128). Um zur Erzählung von den Schwanenkindern zurückzukehren: Im narrativen Ablauf der Geschichte gelingt es der alten Frau, durch ihren verbrecherischen Tausch die junge von ihrem Platz innerhalb der Familie zu vertreiben. Strukturell gesehen nimmt jene damit die Position einer Hüterin der Grenze zwischen der menschlichen Sphäre und jener der Feen oder - negativ gesagt der Dämonen ein.73 Im Gegensatz zu anderen Mahrtenehengeschichten, die wie die Geschichte des Schwanritters - über das Muster von Tabu, Tabubruch und Entschwinden des überirdischen Partners organisiert sind, wird die Fee hier allein qua Verleumdung von ihrem nur allzu leichtgläubigen Mann verstoßen.74 Archaisch und grausam mutet die Strafe an, welcher sie unterzogen Vgl. KELLNER (Anm. 11), S. 409-412; DIES.: Melusinengeschichten im Mittelalter. Formen und Möglichkeiten ihrer diskursiven Vernetzung. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (GermanistischeSymposien-Berichtsbände 23), S. 268-295, hier S. 279f. Vincentius Bellovacensis: Speculum Quadruplex. 4 Bde. Bd. 4: Speculum naturale. Graz 1965 (Reprint der Ausgabe Douai 1624). Solche Figuren, welche die Trennung der Mahrtenehen betreiben, vorbereiten oder bewirken, finden sich in zahlreichen Erzählungen ähnlichen Typs. Vgl. dazu KELLNER (Anm. 11), S. 397-471, mit Verweisen auf weitere Literatur und Forschung. Die Zuneigung des Ehemanns verkehrt sich beim Anblick der Welpen unverzüglich in Hass. Vgl. Dolopathos (Anm. 53), S. 82f.: Credulus nimium ille matri horruit uxorem, cuius amore primo intanlum ßagrabat, conuersusque lotus in odium eius catellos quidem submergi fecit, ipsam uero nulla sibi pro se respondendi aut negandi crimen facúltate concessa uiuam in medio palatii sui infodi usque ad mamillas iubet, precipiens omnibus militibus, seruientibus, scurris etparasitis utpransuri aut cenaturi manus super uxoris caput abluerent absternentque capillis nullusque ei alius ad refìciendum daretur cibus quam qui canibus parabatur. Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9496-9523: Li damoiselz, ki tant souloit // Servir et honorer la feie // Plus ke riens nule ki fust neie, // Et de si grani amor l'amoit // Q'amie et dame la clamoit, //Par la traison de sa meire, // Qui fut fellonnesse et amère, // L'acoillit en trop grant haine. // Ne laissait pas por la gesine, // Ν 'onkes ne s'an volt escondire; // Sans plus targier et sanz plus dire, // C 'onkes ne volt parole oír, // Maintenant la fist enfoïr //An son pallais jusqu 'as mámeles, //Que elle avoit blanches et beles. //Bien fut sa grant amor chaingié // Qu 'il comandali à sa maisnie // Que grant ne petit ne menor, // Ne li

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wird, ohne dass man ihr die Möglichkeit einräumt, sich zu verteidigen und das Verbrechen abzustreiten: Im Burghof gräbt man sie bis zur Brust ein, Ritter wie Diener sollen sich nach den Mahlzeiten die Hände über ihrem Kopf waschen und an ihren Haaren abtrocknen. Ihre einzige Speise bildet das Fressen der Hunde, und auch darin manifestiert sich wieder, wie man jene - der Unterstellung der Schwiegermutter entsprechend - auf den Status des Tierischen herabsetzen will. Diese Reduktion der schönen höfischen Dame auf die bloße Kreatur schlägt sich auch im Verlust ihrer Schönheit nieder, denn ihr Körper wird ausgezehrt, durch die Bestrafungen gedemütigt, besudelt, befleckt, ihre Kleider werden verschlissen, sie verliert die schneeweiße Farbe ihrer Haut, ihr Antlitz und ihre Haare färben sich schwärzlich, ihre Augen fallen ein, die Stirn legt sich in Falten. In solchem Zustand ist die Fee nicht länger ein Glied der Menschenwelt, sieben Jahre lang verharrt sie bewegungslos, sozusagen lebend begraben, in einem Grenzbereich zwischen Leben und Tod. 75 Komplementär zu ihrer Ausstoßung betreibt die Schwiegermutter die Beseitigung der sieben neugeborenen Kinder: Ein Diener soll sie - wiederum wie junge Tiere - ersticken und verscharren oder ertränken. 76 Aus Mitleid aber oder dem Entsetzen vor einem solchen Verbrechen (misericordia seu horrore sceleris, [Dolopathos, S. 82]) entschließt sich jener, die Kinder heimlich im Wald auszusetzen. 77 Die auf solche Weise aus ihrer Familie und dem höfischen Umfeld Ausgegrenzten finden Zuflucht in der Höhle eines Einsiedlers, wo sie sieben Jahre lang von der Milch einer Hirschkuh genährt werden (Dolopathos, S. 82). 78 In gewisser Weise kommt daher der Hindin die Funktion einer Nährund Ziehmutter zu, in der Einsamkeit und Wildnis des Waldes nähern sich die portassent point d 'onnor, // Et comandoit tote sa gent // Qu 'escuter, garson et sergent. // Tuit sor son chief lor mains lavassent HA ses chevox les essuaissent [...]. A grant honte la fìst trailer, // Qu 'il comandait au panetier // Que del ' pain as chiens fust péue. Vgl. die deutsche Version, Bl. 2 5 Γ - 2 5 2 ' : do der herre das sach \ he glöbete syner muter \ und wart der jungen frowen czu male gram | und gehaß dy he vor gar lyeb hatte \ und Wolde keyne wort hörn yrer entschüldegunge | sunder he lyeß sy myttene uff dem pallas \ yn dy erde graben \ und setczen [252'] by s an dy brüste \ und lyß u f f y r höbet setczen | eyn hant vas adder eyn begken met wassere I und gebout alle synem volke | hern \ knechten | gesynde | frowen \ unde mannen | wen sy sich czu tysche setczten \ so solden sich uf yrem höbte waschen \ und an yre schönen haer throgken \ och solde man yr keyne andere spyße czessene geben \ wen dy man den hunde machte und bereytte. (Vgl. HAUPT [Anm. 56], S. 130f.). 75

Dolopathos (Anm. 53), S. 83; vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos vgl. die deutsche Version nach HAUPT [Anm. 56], S. 131.

76

Dolopathos, S. 82; vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos, V. 9386ff.; vgl. die deutsche Version nach HAUPT, S. 130. Die sich hier abzeichnende Analogie zur Tötung von Tieren bestätigt sich auch, wenn man sieht, dass der Edelmann die Welpen, die er bei seiner Frau findet, ertränken lässt. Dolopathos (Anm. 53), S. 82.

77

Vgl. Herbert: Li Romans

de Dolopathos

(Anm. 55), V. 9528ff.;

(Anm. 55), V. 9397ff.; vgl. die deutsche Version nach

H A U P T ( A n m . 5 6 ) , S. 130. 78

Vgl. Herbert: Li Romans

de Dolopathos

H A U P T ( A n m . 5 6 ) , S . 130.

(Anm. 55), V. 9415ff.; vgl. die deutsche Version nach

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Kinder, so ließe sich folgern, den Tieren an. Im Verlauf der Erzählung wird die Herkunft der Kinder damit auf zweifache Weise mythisiert: Über ihre leibliche Mutter können sie sich rühmen, von einer Fee geboren zu sein, andererseits werden sie von einer Tiermutter genährt. Die Grenzen zwischen der Menschenwelt und der überirdischen Anderwelt der Feen sowie zwischen der Menschen- und Tierwelt verschwimmen, und deutlich sichtbar wird hier eine für Erzählungen von Gründungsvorgängen charakteristische Entdifferenzierung basaler kultureller Unterschiede am Ursprung.79 Besonders augenfällig wird dies in der Fähigkeit der Kinder, sich in Schwäne zu verwandeln: Nach sieben Jahren entdeckt der Vater seine Kinder durch Zufall bei der Jagd im Wald. Er bemerkt die goldenen Ketten und fühlt sich - bedingt durch die verwandtschaftliche Zusammengehörigkeit - zu ihnen hingezogen (naturali statim tactus ajfectu, [Dolopathos, S. 83])80, doch sie entschwinden, ehe er sie fassen kann. Als er seiner Mutter davon erzählt, entsendet sie erneut ihren Diener, um die Kinder zu verderben: Jener findet die sechs Jungen, in Schwäne verwandelt, im Fluss spielend vor, nur das Mädchen erscheint in menschlicher Gestalt und bewahrt am Ufer die Ketten der Brüder.81 Die Kinder der Fee erweisen sich als Tiermenschen82 - , und die Kraft zur Überschreitung der Grenze hängt im Wortsinne an den goldenen Ketten. Als der Diener der Alten diese raubt, ist es den Schwänen nicht mehr möglich, in ihre menschliche Gestalt zurückzukehren.83 Die goldenen Ketten, die ich weiter oben bereits als die Metonymie der Genealogie bezeichnet hatte, verkörpern diese Stellung der Kinder zwischen Menschen und Schwänen, sie zeigen gerade darin die unverwechselbare Besonderheit dieses Geschlechts.84 79 80

Vgl. die Leitthesen bei GIRARD 1992, Das Heilige (Anm. 28), grundlegend S. 9-61. Vgl. Herbert: Li Romans

de Dolopathos

(Anm. 55), V. 9561 ff.; vgl. die deutsche Version, Bl.

252 v : Die Formulierung im deutschen Text ist unter genealogischem Gesichtspunkt besonders brisant: Czu hant bewegete und hette sy gerne ergryffen.

sich das blutyn

ym von natuerlicher

lybe | und volgete

en nach |

(Ebd., vgl. HAUPT [Anm. 56], S. 131). Die Ketten erweisen sich

hier und i m folgenden als Erkennungszeichen. 81

Dolopathos

(Anm. 53), S. 83; Herbert: Li Romans de Dolopathos

(Anm. 55), V. 9584ff.; vgl.

die deutsche Version nach HAUPT (Anm. 56), S. 131 f. 82

Vgl. zu Phänomenen der Grenzüberschreitung zwischen Mensch und Tier: UDO FRIEDRICH: Menschentier und Tiermensch. Phantasmen der Grenzüberschreitung in der Literatur des Mittelalters, Habil. masch. München 2 0 0 0 .

83

Dolopathos

(Anm. 53), S. 84: Pueri uero transformati

nulis suis ad formant

humanam

redire non potuerunt.

ut dictum est in cygnos omissis Vgl. Herbert: Li Romans de

cathe-

Dolopathos

(Anm. 55), V. 9 6 3 4 f f . ; vgl. die deutsche Version nach HAUPT (Anm. 56), S. 132. 84

Es geht mir nicht um genetische Erklärungen solcher Wesen aus der germanischen Mythologie. Vgl. zur Vorstellung von Schwanjungfrauen JACOB GRIMM: Deutsche Mythologie. 3 Bde. Graz 1968 ( U m eine Einleitung vermehrter Reprint der 4. Auflage von 1 8 7 5 - 1 8 7 8 ) , hier S. 3 5 4 - 3 5 7 . N o c h LECOUTEUX sieht in der Mutter der Schwanenkinder eine Schwanjungfrau, wie sie in der nordischen Mythologie Odin und Freyja zugeordnet sind. Zugleich handele es sich um eine Fruchtbarkeitsgöttin, „vielleicht sogar die Hypostase der nordischen Freyja" (LECOUTEUX 1979 [Anm. 36], S. 23-26, Zitat, S. 26).

Schwanenkinder

151

Dass jene weder durch das Feuer noch durch die Hämmer des Goldschmieds, dem sie von der Großmutter der Kinder übergeben werden, zu vernichten sind, lässt sich, so meine Hypothese, als Bild dafür deuten, dass die Genealogie der Fee nicht durch die Schwiegermutter zerstört werden kann. Um den Auftrag der Alten, einen Pokal aus den Ketten zu machen, zumindest dem Scheine nach zu erfüllen, verwendet der Goldschmied daher anderes Gold, die Ketten der Kinder behält er zurück, eine freilich wird beschädigt. 85 Die Bewahrung der Ketten ist, dies ergibt sich zwingend aus den bisherigen Überlegungen, die Bedingung der Möglichkeit für die spätere Rückverwandlung der Schwäne. Diese werden von ihrer Schwester, die einzig die menschliche Gestalt behalten hat86, in einem Teich in der Nähe der Burg ihres Vaters gehegt (Dolopathos, S. 84f.).87 Allgemein fällt auf, dass das Mädchen der verstoßenen Nymphe, der Gemahlin des Burgherrn, ähnlich ist, und es ist insbesondere ihre goldene Kette, welche an jene erinnert (Ebd., S. 85). 88 Insofern stellt die puellula, um in der Metaphorik der Kette zu bleiben, das Bindeglied zwischen den Schwänen, ihren Brüdern, ihrer Mutter und ihrem Vater dar, durch sie wird die Familie wieder vereint, denn von natürlicher Zuneigung getrieben (naturali compulsa affectu [Dolopathos, S. 85])89, fühlt sie sich zu ihrer leidenden Mutter hingezogen, und schließlich fragt sie der Vater, in welchem sich ebenfalls der Affekt natürlicher Liebe (naturali amore cogebatur [Ebd., S. 85]) regt, nach ihrer Herkunft, ihren Eltern und ihrem Verhältnis zu den Schwänen: Tunc ilico sue recordans nymphe: Die, ait, michi, o puellula, que sis aut unde, qui parentes tui et quomodo cignos ad te de stagno uenire facias. (Ebd., S. 85). 90 Nur unvollkommen kann jene Auskunft geben, denn sie kennt ihre Eltern nicht (Ebd., S. 85f.).91

15

86

87

Dolopathos (Anm. 53), S. 83Γ; vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9646ff.; vgl. die deutsche Version nach HAUPT (Anm. 56), S. 132. Dem Diener der Alten gelang es nicht, ihre Kette zu rauben. Dolopathos (Anm. 53), S. 83; vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9638ÍF.; vgl. die deutsche Version nach HAUPT (Anm. 56), S. 132. Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos

(Anm. 55), V. 9683ff; vgl. die deutsche Version nach

HAUPT ( A n m . 5 6 ) , S. 1 3 2 f . 88

Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos

(Anm. 55), V. 9857ff.; vgl. die deutsche Version nach

HAUPT ( A n m . 5 6 ) , S. 1 3 3 f . 89

Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 9842ff.: Par nature si fort l'amoit, // Por nule rien ne s'en tenist //Que chascune nuit η 7 venist //Dormir; grantpitiet en avoit, // Et nule raison η Ί savoit //Par coi i metoit si sa cure: Mais chascuns trait à sa nature; vgl. die deutsche Version, Bl. 256': ... und wy dygke sy by der frowen gyng \ so bewegete sich natürlich I das mütterliche blut \ yn dem meydiehynne ... (Vgl. HAUPT [Anm. 56], S. 133).

90

Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos

(Anm. 55), V. 9879ff.; vgl. die deutsche Version nach

HAUPT ( A n m . 5 6 ) , S. 1 3 4 .

"

Vgl. Herbert: Li Romans de Dolopathos HAUPT ( A n m . 5 6 ) , S. 134.

(Anm. 55), V. 9887ff.; vgl. die deutsche Version nach

152

Beate Kellner

Gerade diese Szenen zeigen, inwiefern Genealogie als Ordnung der Natur und zugleich als Ordnung des Wissens entworfen wird. Der Natur, d. h. dem Blut nach, fühlen sich Eltern und Kinder zueinander hingezogen, doch ohne das Wissen um ihre gemeinsame Abkunft kann es kein Wiedererkennen und keine Vereinigung geben. Die naturgemäße Liebe zwischen den Familienmitgliedern konterkariert dabei in gewissem Sinne die Kette der sich häufenden Verbrechen, die in die Ursprungserzählung geknüpft sind. Um diese noch einmal zu resümieren: Die Schwiegermutter verleumdet ihre Schwiegertochter, sie gibt den Auftrag, ihre sieben Enkelkinder zu töten und lässt jene ihrer menschlichen Gestalt berauben, ihr Sohn verstößt seine Frau und bestraft sie auf grausame Weise. - Die Familie, das wird deutlich, wird zunächst und vor allem als Ort der Gewalt vor Augen gestellt. Die Geschichte löst sich auf, als ein neuer Mordanschlag der Alten und ihres Dieners die Kette der Gewalttaten wiederum zu verlängern droht, denn der Burgherr kann die geplante Tötung seiner Tochter vereiteln, und die Alte und ihr Diener werden gezwungen, die Wahrheit zu bekennen (Ebd., S. 86).92 Die Bestrafung der Schwiegermutter, welche den Platz ihrer Schwiegertochter einnehmen muss93, ihre Ausstoßung, lässt sich nun als eben jene gewaltbegrenzende Gewalt verstehen, die R E N É G I R A R D in zahlreichen Analysen von Gründungsgeschichten als violence fondatrice beschrieben hat.94 Das neue Geschlecht, das sich von der Fee als Ahnfrau ableitet, kann sich als wahrhafter Familienzusammenhang erst konstituieren, nachdem die alte Burgherrin, die in ihrer Eifersucht und Rivalität sozusagen die alte Ordnung verkörperte, beseitigt ist. Die feenhafte Natur der Ahnfrau, welche ihre Widersacherin immer wieder ins Zwielicht zu setzen versuchte, markiert nicht nur die Zäsur zum Vorhergehenden, sondern verweist im positiven Sinne auf die Herausgehobenheit ihres Geschlechts. Komplementär dazu lässt sich auch die Stellung der Kinder als Wesen, welche zwischen menschlicher und tierischer Gestalt zu wechseln vermögen, als Faszinosum des Ursprungs begreifen. Den verleumderischen

Vgl. Herbert, Li Romans

de Dolopathos

(Anm. 5 5 ) , V. 9 9 6 7 f f . ; vgl. die deutsche V e r s i o n nach

HAUPT ( A n m . 5 6 ) , S. 134f. 93

V g l . Herbert, Li Romans

de Dolopathos

( A n m . 5 5 ) , V. lOlOOff.; vgl. die d e u t s c h e Version

nach HAUPT ( A n m . 5 6 ) , S. 135. In der Elioxe-Version

wird der M y t h o s deutlich ins Christli-

c h e g e w e n d e t . K ö n i g Lothair verzeiht seiner Mutter Matrosilie. Gerade hier werden Hybridisierungen d e s M y t h i s c h e n und Christlichen besonders sichtbar. D i e christliche Interpretation der S c h w a n e n k i n d e r g e s c h i c h t e zeigt sich in der Elioxe-Version

a u c h darin, dass die Ehefrau

d e s K ö n i g s nicht a u f grausame W e i s e von ihm bestraft wird. E l i o x e stirbt nach dieser Fassung bei der Geburt, und der K ö n i g errichtet ein Kloster zu ihrem Gedächtnis. V g l . besonders den versöhnlichen S c h l u s s , Elioxe-Version,

V. 3 3 1 3 f f . ; vgl. dazu CRAMER ( A n m . 1), S. 51 f. Ge-

gen CRAMER würde ich allerdings nicht von einer „ e m p f i n d s a m e n W e n d u n g " (Ebd., S. 5 2 ) der Ereignisse sprechen. 94

Grundlegend dazu besonders GIRARD 1992, Das Heilige ( A n m . 28).

Schwanenkinder

153

Verbindungen der Fee mit dem Tierischen, welche die Schwiegermutter hergestellt hatte, eignet dagegen der Charakter des Bedrohlichen. Hier spielt die Erzählung aus, dass die Position der Gründerfiguren an der Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Menschenwelt und überirdischer Anderweit, zwischen Immanenz und Transzendenz, jenen eine Ambivalenz verleiht, welche ins Positive oder ins Negative gewendet werden kann. Und es gehört zur glücklichen Fügung der Geschichte, dass die Schwäne nach der Rückgabe ihrer goldenen Ketten ihre Fähigkeit zur Metamorphose wieder erhalten, dass sie also auch die menschliche Gestalt wiedererlangen können, mit Ausnahme jenes einen freilich, dessen Kette vom Goldschmied beschädigt oder - je nach den Fassungen divergierend - zum Ring umgestaltet wurde: Er bleibt Schwan, er wird zum Begleiter seines Bruders, des Schwanritters, werden und er wird dessen Schiff ziehen: Hic reforman nequaquam potuti, sed cignus permanens uni suorum adhesit fratrum. Hic est cignus de quo fama in eternum perseuerat quod cathena aurea militem in nauicula traxit armatum (Dolopathos, S. 86). Diese Verweise verbinden, wie schon gesagt, die Schwanenkinder- und Schwanrittergeschichten genealogisch95, und in der französischen Versbearbeitung Herberts wird sogar noch der Konnex mit dem Hause Bouillon hergestellt.96

VI Um zum Schluss zu kommen: Die Schwanenkindergeschichte legt die mythische Herkunft des Schwanritters offen und zeigt, dass der Schwan, der ihn begleitet, eigentlich sein Bruder ist. Damit erzählt sie, wie bereits gesagt, von eben jenem Ursprung der Genealogie, der im Tabu der Schwanrittergeschichte verhüllt bleiben soll. Die Häufung der Verbrechen am Beginn der Genealogie, die Konstitution der neuen Ordnung qua Gewalt und die geschilderten AmbiAus dieser Sicht relativiert sich THOMAS CRAMERS Aussage, Schwanenkinder- und Schwanrittergeschichten seien zum Teil in der Überlieferung mechanisch verknüpft, aber sachlich zusammenhanglos. Vgl. CRAMER (Anm. 1), S. 53. 96

Herbert, Li Romans de Dolopathos (Anm. 55), V. 10060ff.: Tuit devinrent home, fors ./., // Celui cui la chaaine estoit //Dont li orfevres brisiet avoit //./. anelet taht soulemant; //Por ceu ne pot outréemant // En forme d'ome revenir, // Por rien ki poïst avenir, // Ains puis à nul jor de sa vie; //Mais tot adès fist compaignie //Al un de ses frères par tot. //N'est pas raison ke nus en dout; // Cil ne fut puis ce signes non; // Mais cil fut moult de grant renon // A cui il fut acompagniés; // Chevaliers fut bien enseigniés; // Toz jors mais cerait an memoire, // Car il est escrit en l'istoire; // L'istoire est et veraie et digne; //Ce fut li Chevaliers ou Cigne, // Que proz fut et de grant savoir, // Et cil fut Ii eignes por voir // Qui les chaainnes d'or avoit // A col, de coi la nef traioit // Où li chevaliers armez ière, // Qui tant fut de bone manière, // Puis tint de Boillon la duchiet. Vgl. die deutsche Version, Bl. 258": Von dem selbygen swane vynt man yn andern schryften vyl ebenthure geschreben dy hy her nicht gehört. (Vgl. HAUPT [Anm. 56], S. 135).

154

Beate Kellner

valenzen, die mit dem ontologischen Status der Fee und ihrer Kinder verbunden sind, weisen auf die Aporien des Ursprungs hin. Das mit der Schwanenkindergeschichte als Erzählung vom Ursprung des Ursprungs verbundene Beunruhigende wird, so könnte man folgern, in den deutschen Traditionen vom Schwanritter entschärft: Er wird nicht in seiner mythischen Existenz als Wesen zwischen Mensch und Tier vor Augen gestellt, sondern er ist der Ritter mit dem Schwan. In jenem deutet sich die mythische Vorgeschichte nur noch an, ohne doch kontextuell vergegenwärtigt zu sein. Der Schwan ist hier nur noch das Fragment eines .verblassten' Mythos, welches nun im Sinne der Repräsentation einer Dynastie auch als Wappenzeichen fiinktionalisiert und verstanden werden kann. Und um die Wege des Mythos noch einen Schritt weiter zu verfolgen, möchte ich zuletzt auch an jene Entzauberungen des Wunderbaren in historiographischen Texten erinnern, die von einer Person mit dem Namen Swane sprechen, die mit Brabo, dem Ahnherrn der Brabanter Herzöge, verheiratet gewesen sein soll.97

Vgl. etwa Hennen van Merchtenen: Comicke van Brabant. Hrsg. von GUIDO GEZELLE, Gent 1896, V. 48-774. Vgl. CRAMER (Anm. 1), S. 78-98, mit Rekursen auf weitere Quellen. Vgl. auch BLÖTE (Anm. 7).

MONIKA SCHAUSTEN (Universität Köln)

„Herrschaft braucht Herkunft"1: Biographie, Ätiologie und Allegorie in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich Biographien sind Erfindungen

der Wahrheit. (Peter Ackroyd)

1. Einleitung Dass die Frage nach dem Mythos bei der Analyse mittelalterlicher Erzählliteratur bislang nur eine allenfalls untergeordnete Rolle gespielt hat, verwundert auf den ersten Blick kaum. Denn was den Mythos ausmacht, das vermag niemand so ganz genau zu sagen, ja, in der beinahe topisch konstatierten Undefinierbarkeit des Begriffes sieht die Forschung gerade die Ursache für das besondere Faszinosum, das von ihm ausgeht, mehr noch, das Wesen des Mythos bestimmt sich, so könnte man vielleicht sagen, am ehesten im Rekurs auf diese ihm eigene Polyvalenz.2 Die schillernde Mehrdeutigkeit des Terminus provozierte dann auch die Teilhabe vielfaltiger Disziplinen an seiner genaueren Klärung. Was der Mythos ist, so hat es den Anschein, hängt somit entscheidend von der Perspektive des Betrachters ab: Die Geschichte des Mythos ist im Wesentlichen immer schon die Geschichte seiner Rezeption, eine Auffassung, die wohl am deutlichsten von H A N S BLUMENBERG vertreten worden ist.3

2

3

ALEIDA ASSMANN: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 138. Vgl. hierzu den Eintrag: Mythos. In: Theologische Realenzyklopädie 23 (1994), Sp. 597-678, hier Sp. 652: „Was Mythos ist, ist schwer zu fassen. Es ist, wie viele Beispiele zeigen, offenbar nicht möglich, Mythos zu definieren. Das rührt vor allem daher, daß mythische Phänomene überaus wandelbar sind und sich auch vielfältig in anderes übersetzen." Vgl. dazu auch GERHARD PLUMPE: Das Interesse am Mythos. Zur gegenwärtigen Konjunktur eines Begriffs. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 236-253, hier S. 236-237. HANS BLUMENBERG: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von MANFRED FUHRMANN, München 1971 (Poe-

156

Monika Schausten

Es ist daher sicher nicht ein Mangel an etablierten Untersuchungen, die gerade auch im 20. Jahrhundert - aus strukturalistischer, anthropologischer, philosophischer und pychologischer Perspektive - die Bedeutung des Mythos fur die Kulturgeschichte dargelegt haben, welcher die offensichtliche Zurückhaltung germanistischer Mediävisten gegenüber dem Thema erklären könnte. Vielmehr ist es das vor allem in der religionswissenschaftlichen Forschung viel diskutierte Problem, wie man sich nun genau die Beziehung der christlichen Religion zum Mythos, genauer, das Verhältnis von Eschatologie und Mythos zu denken habe, vor welches sich auch die Literaturwissenschaft des Mittelalters immer wieder gestellt sah.4 In diesem Zusammenhang sind es - in den Augen etwa von HARALD WEINRICH und HANS ROBERT JAUSS - die Verfahren der Bibelexegese, welche die Rezeption der antiken Mythologie in der volkssprachlichen Literatur bestimmen. Der antike Mythos erstarre in der personificatio und würde somit in einer der Allegorie impliziten Vereindeutigung von Sinn stillgelegt.5 Einer solchen Auffassung vom „mythenfeindlichen Mittelalter" 6 ließe sich mit Blick auf volkssprachliches Erzählen im hohen Mittelalter zum Teil schon entgegentreten, und an vereinzelten Versuchen einer Modifizierung der JAUSSCHEN Thesen fehlt es nicht. 7 Was bislang freilich weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist, sind Untersuchungen, die sich systematisch dem Potential zuwenden, welches die transzendentale Bestimmung des Mythos als einer Denkform und die hieraus resultierende Konstatierung eines formalen Mythos für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Mediävistik mit ihrem erklärten Interesse an der Aufdeckung von historischen, sinngenerierenden sprachlichen Strukturen, eben an der Arbeit an einer solchermaßen definierten symbolischen Ordnung, bergen könnte. 8 In einem auf diese Weise fixierten Mythosbegriff, wie ihn aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bereits in den 30er Jahren des letzten Jahr-

4

5

6

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8

tik und Hermeneutik 4), S. 11-66, hier S. 16: In den Augen BLUMENBERGS geht die Mythologie in Dichtung über, und dieser Übergang verwandelt rückwirkend sein Material. Zur Bewertung dieser Problematik in der Religionswissenschaft vgl. WOLFHART PANNENBERG: Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung. In: Terror und Spiel (Anm. 3), S. 473-525. Vgl. HARALD WEINRICH: Erzählstrukturen des Mythos. In: Literatur fur Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, Stuttgart u. a. 1971, S. 137-149, hier S. 143f., sowie HANS ROBERT JAUSS: Allegorese, Remythisierung und Neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter. In: Terror und Spiel (Anm. 3), S. 187209, hier S. 189. HANS ROBERT JAUSS: Fünfte Diskussion. Mittelalter und Renaissance: Zitat und Wiederkehr des Mythos. In: Terror und Spiel (Anm. 3), S. 617-637, hier S. 618. Vgl. dazu z. B. ALFRED EBENBAUER und ULRICH WYSS: Der mythologische Entwurf der höfischen Gesellschaft im Artusroman. In: Höfische Literatur - Hofgesellschaft - Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum fur interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hrsg. von GERT KAISER/JAN-DIRK MÜLLER, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 513-537, sowie auch ALOIS WOLF: Gottfried von Strassburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt 1989. Vgl. dazu UDO FRIEDRICH: Konkurrenz der symbolischen Ordnungen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4 6 (1999), S. 562-572, hier S. 571.

Herrschaft braucht Herkunft

hunderte

157

LUGOWSKI wohl besonders im Anschluss an E R N S T Philosophie der symbolischen Formen entwickelt hat9, korreliert dessen transzendentale Bestimmung mit einer Perspektive, welche die Erzählung als in besonders vielen Kulturen maßgebliche Realisationsform des Mythos begreift.10 Am Beispiel frühneuhochdeutscher Prosaromane erprobt LUGOWSKI mithin ein Verfahren, das die Erzähllogik seines Textmaterials aus den diesem inhärenten mythosanalogen Strukturen heraus zu erfassen sucht. Diese Strukturen seien erzähltextanalytisch mit der Anwendung bestimmter Kategorien aufzudecken, welche alle maßgeblich die Ergebnisorientiertheit der Texte unterstützten. Diese Ausrichtung der Texte an ihrem Resultat (eben deren „Motivation von hinten") wiederum setzt deren Ganzheit als Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses voraus, „sich eine sinndurchwaltete Welt zu schaffen"11, und somit eine Weltsicht, die sich, dies hat J A N - D I R K M Ü L L E R beschrieben, in den Augen LuGOWSKJS zwar einem bereits als überholt gedachten Mythos verdankt, jedoch gleichwohl weiterhin die narrati ven, eben formalen Strukturen und damit die „mythische Künstlichkeit" älterer Texte bestimmt.12 Die problematischen Aspekte von LUGOWSKJS Studie sind bekannt.13 Sie betreffen das Erkenntnisinteresse des Autors ebenso wie seine Definition des mythischen Analogons, welche, das haben einschlägige Arbeiten herausgestellt, eben doch nicht eine rein formale Bestimmung mythosanaloger narrativer Strukturen, sondern eben doch auch die auch andernorts betonCLEMENS

CASSIRERS

9

10

"

12

13

Vgl. ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt M 987 [zuerst 1925]. LUGOWSKI bezog sich wohl vor allem auf den zweiten Teil von CASSIRERS Untersuchung: "Das mythische Denken". Vgl. WEINR1CH (Anm. 5), S. 139, der CLAUDE LÉVI-STRAUSS zitiert: J e d e r Mythos erzählt eine Geschichte." Für WEINRJCH (ebd.) können die verschiedenen Künste als verschiedene Codes des Mythos angesehen werden, wobei allerdings der erzählende C o d e als Basis und Referenzsystem dient. Zur Bedeutung des Erzählens für die Bestimmung des Mythos, welche auf die ursprüngliche Semantik des griechischen Begriffs zurückgeht, vgl. nochmals den Eintrag: Mythos. In: Theologische Realenzyklopädie (Anm. 2), S. 612: Die Tiefenstruktur des Mythos bestehe in einer „irreversiblen Anreihung von Bedeutungsträgern, welche einen Vorgang konstituieren. Diese Tiefenstruktur ist an der Oberfläche in besonders vielen Kulturen durch die Erzählung im engeren Sinne des Wortes [...] realisiert." CLEMENS LUGOWSKI: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932 (Neue Forschung. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker 14) Nachdruck: Hildesheim, N e w York 1970, S. 206. Vgl. dazu JAN-DIRK MÜLLER: Der Prosaroman - eine Verfallsgeschichte. Zu Clemens Lugowskis Analyse des .Formalen M y t h o s ' (mit einem Vorspruch). In: Mittelalter und frühe Neuzeit: Übergänge und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999, S. 143-163, hier S. 149, sowie ΗΕΓΝΖ SCHLAFFER: Introduction. In: CLEMENS LUGOWSKI: Form, Individuality and the Novel. An Analysis of Narrative Structure in Early German Prose. Cambridge 1990, S. VII-XX, hier S. XIII. Zur „mythischen Künstlichkeit" der Literatur bei LUGOWSKI vgl. besonders MATIAS MARTINEZ: Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von MATIAS MARTINEZ, Paderborn u. a. 1996, S. 7-24, h i e r S . 12. Z u m „fanatischen Nationalsozialismus" LUGOWSKIS vgl. MÜLLER (Anm. 12), S. 147 mit weiterführender Literatur.

158

Monika Schausten

te kompensatorische Funktion des Mythos in Bezug auf die Bewältigung der Kontingenz menschlichen Daseins voraussetzt.14 Diese Unschärfe der Terminologie hat HEINRICH DETERING ZU der Forderung veranlasst, man müsse die Beziehungen zwischen dem in einem Text explizit formulierten oder implizit vorausgesetzten Mythos und dem ihn als Text konstituierenden mythischen Analogon klären. 15 Wenn es, trotz aller berechtigten Kritik an LUGOWSKI, richtig sein sollte, dass besonders das Erzählen im Roman auch dem Mittelalter den Mythos in dessen formaler Struktur bewahrt, dann wären, und damit ist bereits begonnen worden 16 , die volkssprachlichen Romane des hohen und späten Mittelalters auf diese strukturellen Implikationen und ihre Funktion hin emeut zu befragen, wobei besonders die eschatologische Dimension dieser Erzählliteratur Berücksichtigung finden müsste. Im Hinblick auf das mir vorliegende Material scheint es mir erforderlich zu sein, die narratologische Perspektive um jenen oftmals betonten funktionalen Gesichtspunkt zu erweitern, welcher dem sogenannten poetischen Mythos dezidiert eine gründende und begründende Funktion im Sinne einer ätiologischen Erzählung zuspricht, weil eben diese anders als der Mythos nicht den „Charakter urbildlicher Wirklichkeit hat" 17 , sondern auf das Fundieren und Legitimieren gegenwärtiger Sachverhalte zielt.18 Gerade im Hinblick auf Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, einem bis weit ins Spätmittelalter hinein populären Roman, der laut Epilog 1314 vollendet worden ist und wie viele andere Romane dieser Zeit auf keiner einheitlichen stofflichen Grundlage beruht, sondern vielmehr ein Bestreben erkennen lässt, „die erzählte Geschichte in den Rahmen historischer Ereignisse [...] zu stellen"19, ist eine solche Erweiterung erforderlich. Denn die bisherigen Arbei-

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Zu Ursprung und Ursprünglichkeit des Mythos in Terror und Spiel vgl. BLUMENBERG (Anm. 3), S. 14. BLUMENBERG rekurriert hier auf CASSIRER, der davon ausgegangen war, dass der Mythos eine Objektivation der sozialen Erfahrung, der Erfahrung von Unausweichlichkeit, von Zwang und Unverstandenem ist. HEINRICH DETERING: Zum Verhältnis von „Mythos", „mythischem Analogon" und „Providenz" bei Clemens Lugowski. In: Formaler Mythos (Anm. 12), S. 63-79, hier S. 68. Vgl. dazu JENS HAUSTEIN: Kausalität als Autorität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur. Oder: Clemens Lugowski als mediävistische Autorität. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN/ INGRID KASTEN/EVA NEULAND, Bielefeld 1999 (Band 2), S. 553-572. HAUSTEIN geht es freilich darum zu zeigen, dass auch der mittelalterlichen Literatur Tendenzen zur kausalen Motivation des Erzählten nicht abzusprechen seien, dass also, wenn man so will, das Zurücktreten des mythischen Analogons nicht erst eine Erscheinung der Neuzeit sei (S. 562). Vgl. PANNENBERG (Anm. 4), S. 476: „Weil der Mythos [...] den Charakter urbildlicher Wirklichkeit hat, darum muß in der Tat die auf das Erklären gegenwärtiger Sachverhalte zielende ätiologische Erzählung vom Mythos unterschieden werden. Der echte Mythos hat nur für unsere Betrachtung, nicht aber für das mythische Bewußtsein selbst eine Erklärungsfunktion. Geht es doch in ihm um die in sich selbst ruhende ursprüngliche Wirklichkeit."

18

S o PANNENBERG ( A n m . 4 ) , S. 4 7 6 .

"

MAX WEHRLI: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfangen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1997, S. 504. Ich zitiere den Text Johanns nach folgender Ausgabe: Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift. Hrsg.

Herrschaft braucht Herkunft

159

ten zu diesem als Minne- und Aventiureroman nur sehr unzureichend klassifizierten Text betonen einerseits auf die ein oder andere Weise seine pragmatische Funktion als „genealogischer Ursprungsmythos"20 der Habsburger und sprechen dem Roman somit aus funktionsgeschichtlicher Perspektive eine Kohärenz zu,21 die sie ihm andererseits im Hinblick auf seine Poetik absprechen: Aus dieser Perspektive erscheint der Roman, der sich einer Amalgamierung unterschiedlicher Erzählgenres des Mittelalters verdankt, als hybrid im Sinne MICHAIL BACHTINS, demzufolge eine Äußerung, „die ihren [...] kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen [...], zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen", eben als „hybrid" zu gelten habe.22 Auffallend an den vorliegenden Textlektüren zum Roman Johanns ist vor allem, dass seine ätiologische Dimension vorwiegend mit den Referenzen begründet wird, die besonders in der durch die Handschrift H vertretenen Fassung des Wilhelm auf die Eigennamen prominenter Vertreter der Babenberger und Habsburger und deren Geschichte festzumachen sind.23 Die Namen von

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21

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von ERNST REGEL, Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 3). Die Zitate werden fortlaufend durch Versangaben in Klammem nachgewiesen. Datierung des Textes V. 19579. URSULA PETERS: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1999 (Hermaea 85), S. 197. So ζ. B. THOMAS CRAMER: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2), S. 29: „Die eigentliche Absicht des Romans erschließt sich von seinem Ende her: die romanhafte Mythologisierung einer Dynastie. Im Jahre der Entstehung des Romans, 1314, befindet sich einer der Widmungsadressaten, Friedrich der Schöne von Österreich, mit Ludwig dem Bayern nach einer Doppelwahl in Konkurrenz um die deutsche Königskrone. Glaubt man dem Romangeschehen, so kann sich Friedrich Nachfahre eines Geschlechts nennen, dessen Befehlsgewalt sich alle mächtigen Adligen des Imperiums im großen Heidenkampf unterordnen." MICHAIL BACHTIN: Das Wort im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von RAINER GRÜBEL, Frankfurt a. M. 1979 (es 967), S. 154-300, hier S. 195. Zu den beiden durch die Handschriften H und G vertretenen österreichischen bzw. schwäbischen Versionen des Wilhelm vgl. zuletzt KLAUS RLDDER: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben. Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12 [246]), S. 160: „Die durch die Handschrift H vertretene Fassung weist einige österreichische bzw. spezifisch habsburgische Anspielungen auf, die dem von Regel abgedruckten Text der Handschrift G fehlen, während einige der diese Version kennzeichnenden schwäbischen bzw. HohenbergHaigerlochschen Tendenzen der Handschrift H fremd sind. Mit GÖHRKE kann man daher mit einigem Recht von einer Habsburger und einer Hohenberger Version sprechen." Vgl. dazu auch ebd. S. 166. Vgl. dazu außerdem MANFRED GÜNTER SCHOLZ: Zum Verhältnis von Mäzen, Autor und Publikum im 14. und 15. Jahrhundert. Wilhelm von Österreich - Rappoltsteiner Parzifal - Michel Beheim. Darmstadt 1987, S. 63. SCHOLZ weist bereits auf den auffallenden Umstand hin, dass in H und ihrer Familie in der Passage 13230ff. ein Lob König Rudolfs von Habsburg und seines Nachkommen Leopolds zu finden ist, während G an dieser Stelle ein Lob der Grafen von Hohenberg-Haigerloch und des Esslinger Bürgers Dieprecht verzeichnet. Zur auch in der mittelalterlichen Chronistik auffallenden Tendenz der Ansippung der Habsburger an die Babenberger vgl. GERD ALTHOFF: Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter. In: Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der

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Wildhelms Vater und Sohn, Leopold und Friedrich, werden von einem Teil der Forschung einerseits auf die Widmungsträger des Romans, Friedrich den Schönen (1289-1330) und Leopold I. (1290-1326), beide Habsburger24, andererseits auf die Babenbergerherzöge Leopold V. (1177-94) und Leopold VI. (1198-1230) zurückgeführt, die beide berühmte Teilnehmer von Kreuzzügen (nämlich des 3. und 5. Kreuzzugs) gewesen sind.25 Bei der Interpretation dieser Bezüge scheiden sich allerdings bereits die Geister: Der Umstand, dass der Sohn des epischen Wildhelm Friedrich heißt, gibt z. B. ALBRECHT JUERGENS Anlass zu der Vermutung, dieser sei mit dem gleichnamigen Widmungsträger zu identifizieren: in diesem Fall würde über die im Mittelpunkt des Romans stehende Generation des Wildhelm eine Brücke zwischen den zur Abfassungszeit des Textes bereits ausgestorbenen Babenbergern und den Habsburgern hergestellt, d. h. der Text etablierte solchermaßen die Habsburger als Nachfolger der Babenberger bzw. die Geschichte der Babenberger als Vergangenheit der Habsburger. CORA DIETL hingegen identifiziert wie schon EUGEN MAYSER

den fingierten Friedrich mit Friedrich dem Streitbaren, der wiederum als Sohn Leopolds VI. der letzte Babenberger gewesen ist.26 Während einige Beiträge so weit gehen, auch die fiktive Figur des Wildhelm mit einem Babenberger zu identifizieren27, belassen es andere lediglich dabei, entweder von einem generellen Interesse der Habsburger an der Etablierung ihrer Vergangenheit über eine wie auch immer gestaltete Ansippung an die Babenberger zu sprechen, weil eben nicht alle im Text erwähnten Namen auf nur eine historische Person-

N e u z e i t 3. Hrsg. v o n HELMUT BERDING, Frankfurt a. M. 1 9 9 6 ( s t w 1 2 4 6 ) , S. 1 1 - 3 3 , hier S. 21 f. 24

V g l . ALBRECHT JUERGENS: Wilhelm von Österreich. Johanns v o n Würzburg .Historia Poetic a ' v o n 1 3 1 4 und A u f g a b e n s t e l l u n g e n einer narrativen Fürstenlehre. Frankfurt a. M . u. a. 1 9 9 0 ( M i k r o k o s m o s 2 1 ) , S. 44: Im Jahr der V o l l e n d u n g d e s R o m a n s steht Friedrich der S c h ö n e L u d w i g d e m Bayern als Gegenkandidat u m die deutsche Krone g e g e n ü b e r , allerdings h a b e der Habsburger k a u m e i n e „ihn verläßlich legitimierende österreichische Tradition hinter sich". Er sei „mit der Hypothek w e n i g ausgewiesener Herrschaft belastet".

25

S o z. B. JUERGENS ( A n m . 2 4 ) , S. 4 4 ; CORA DIETL: Minnerede, R o m a n und .historia': Der . W i l h e l m v o n Österreich' Johanns v o n Würzburg. Tübingen 1 9 9 9 (Hermaea 8 7 ) , S. 69.

26

EUGEN MAYSER: Studien zur D i c h t u n g Johanns v o n Würzburg. Berlin 1931 ( G e r m a n i s c h e Studien 101), S. 8 4 f . DIETL ( A n m . 2 5 ) , S. 6 9 f , ähnlich auch CHRISTIAN KLENING: Wer aigen mein die weit... Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher M i n n e - und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. D F G - S y m p o s i o n 1991. Hrsg. v o n JOACHIM HEINZLE, Stuttgart, W e i m a r 1991 (Germanistische S y m p o s i e n und B e richtsbände 14), S. 4 7 4 - 4 9 4 , hier S. 4 8 2 .

27

S o DIETL ( A n m . 2 5 ) , S. 70: „ W i l h e l m sollte laut V 5 5 4 zuerst n a c h s e i n e m Vater Liutpolt getauft werden. Es läge daher nahe, ihn mit Leopold VI. oder L e o p o l d s VI. i m Knabenalter verstorbenen S o h n zu identifizieren." Ähnlich CRAMER ( A n m . 2 1 ) , S. 2 1 7 , der W i l h e l m mit Leopold VI. identifiziert.

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lichkeit bezogen werden können 28 , oder gar eine Distanz des Autors zu den adligen Auftraggebern zu konzedieren. 29 Diese Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass die Verwendung bestimmter für die beiden historischen Adelsgeschlechter signifikanter Eigennamen im Text zwar möglicherweise begrenzt Aufschluss über ein spezifisches Interesse der Auftraggeber an der Abfassung des Texts gibt, dass aber eine solche, letztlich marginal bleibende, historische Kontextualisierung des Romans allein nicht ausreicht, das erzählte Geschehen selbst als Gründungsmythos etwa der Habsburger auszuweisen. Einem solchen Vorhaben scheint die zu Recht konstatierte Poetik der Intertextualität entgegenzustehen, welche zuletzt von A R M I N SCHULZ als Spezifikum spätmittelalterlicher Minne- und Aventiureromane erarbeitet worden ist.30 SCHULZ spricht von einer dem Text inhärenten intertextuellen Kontamination mehrerer Erzählprogramme, hinter der er ein eigenes „Erzählprogramm des Minneromans" vermutet, das im wesentlichen von den Haupträumen der Handlung, vom Herkunfts- und Zielraum des Protagonisten sowie von der damit verbundenen Geschichte des Liebespaares bestimmt sei, deren Schluss eben die Vereinigung dieses Paares fordere. 31 Damit geht seine Untersuchung zwar von der Koexistenz verschiedener mythischer Analoga in Johanns Roman aus, die die unterschiedlichen in den Roman integrierten Erzählgattungen bestimmen, bezieht die Analoga aber wieder auf ein Erzählschema des Minneromans, welcher somit letztlich „von hinten", also von der glücklichen Vereinigung des Liebespaares her, motiviert sei. So überzeugend diese Überlegungen im Hinblick auf die Etablierung einer differenzierteren Poetik der von der Forschung lange vernachlässigten späten Romane auch sein mögen, so sehr springt doch für den hier vorliegenden Fall des Wilhelm ins Auge, dass dieser Roman eben nicht mit der glücklichen Vereinigung des Paares seinen Abschluss findet, ein Umstand übrigens, der die Forschung zu diesem Text seit langem irritiert hat. 32 Vielmehr erzählt der Roman am Ende die Einsetzung des Infanten Friedrich in die großväterliche Position der österreichischen Landesherrschaft, welche von den loyalen Ministerialen bewerkstelligt wird, die den unmündigen Sohn des verstorbenen Wild28

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So etwa RLDDER (Anm. 23), S. 188f., der vom ,,freie[n] Umgang mit Elementen dynastischer Geschichte" bei Johann spricht. Ähnlich auch PETERS (Anm. 20), S. 195: Der Text präsentiere eine „höchst attraktive Amalgamierung" literarischer und historischer Dynastenfamilien. So THOMAS CRAMER: Aspekte der höfischen Romans im 14. Jahrhundert. In: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981. Hrsg. von WALTER HAUG/TIMOTHY R. JACKSON/JOHANNES JANOTA, Heidelberg 1983 (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 45), S. 208-220, hier S. 214. Schon RlDDER (Anm. 23), S. 15 spricht vom ,,kompilatorische[n] Charakter" des Romans. ARMRN SCHULZ: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Wiliehalm von Orlens - Partonopier und Meiiur - Wilhelm von Österreich - Die schöne Magelone. Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), S. 45. Vgl. dazu z. B. CRAMER (Anm. 29), S. 214: „Zu Anfang des Romans ist der Hof reduziert auf die Herzogsfamilie, am Ende dient er nicht einmal mehr dazu, das glücklich verheiratete Paar heimkehren zu lassen."

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helm aus dem Land seiner Mutter nach Österreich schaffen, und d. h. er erzählt im Fahrwasser mittelalterlicher Chronistik wenn nicht den Akt einer Herrschaftsgründung so doch zumindest den einer Herrschaftsstabilisierung. Wie aber, so wäre hier im Anschluss an L U G O W S K I S Thesen zu fragen, wird dieser Akt der Herrschaftssicherung im Text motiviert? Lässt sich die von der Forschung behauptete mythische Dimension des Textes nicht gerade auch im Hinblick auf die Erzählstruktur des Romans unter Berücksichtigung seiner intertextuellen Poetik nachweisen, d. h. generiert nicht gerade der erzählte Akt der Herrschaftsetablierung und -Sicherung das erzählte Geschehen? Oder anders formuliert: Fordert dieser Abschluss des Romans nicht die narrative Etablierung eines spezifischen Zusammenhangs, eine Motivation im Sinne L U G O W S K I S , welche das Ende der Erzählung und damit den Anspruch einer Dynastie auf Herrschaft in ihrem Anfang begründet? Imaginiert der Roman damit nicht gerade aufgrund seiner spezifischen Poetik eine zur fingierten Herkunftsgeschichte österreichischer Herrschaftskonstituierung verdichtete außergewöhnliche Vergangenheit eines Adelsgeschlechts?33 Eine Annäherung an diese Fragen soll im Folgenden über eine detaillierte Auseinandersetzung mit der bislang weitestgehend vernachlässigten Vorgeschichte zu Johanns Roman erfolgen, weil gerade hier das Phänomen des Anfangs, dessen Gestaltung bei der Herstellung mittelalterlicher dynastischer Gründungsmythen bekanntlich auch andernorts immer besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde34, durch die Biographisierung des als Spitzenahn fingierten Vaters von Friedrich, Wildhelm, d. h. durch die Konstruktion einer außergewöhnlichen personalen Vergangenheit, narrativ gestaltet wird.35 Damit partizipiert dieser Text an der von FRIEDRICH WOLFZETTEL herausgearbeiteten Tendenz einer immer deutlicher hervortretenden biographischen Dimensionierung der höfischen Romane, die diesem zufolge durch einen modifizierenden Rekurs auf die Enfancegeschichten der Chansons de geste zurückzuführen ist. Anders als die französischen Epen, in denen das lineare Entwicklungsmuster der heldischen Kindheitsgeschichten insofern mit einer märchenhaften Kreis-

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Vgl. dazu ALTHOFF (Anm. 23), S. 14: ALTHOFF behauptet, dass man alle Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung insofern als mythisch bezeichnen könne, als es sich um „detaillierte Erzählungen mit hohem Erklärungswert [handele], die für Gruppen und Gemeinschaften die Fragen ihrer Herkunft, ihres Alters, ihres Ranges oder Aufstiegs, ihrer Leistungen unzweifelhaft beantworten und so identitätsstiftende Funktionen erfüllen."

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Vgl. dazu ALTHOFF ( A n m . 23), S. 16. Es ist auffallend, dass sich auch die neueren Arbeiten zum Wilhelm der Vorgeschichte kaum zugewendet haben. Während SCHULZ (Anm. 31), S. 45, diese bewusst von seinen Überlegungen ausschließt, welche sich, wie erwähnt, auf die Haupträume der Handlung zur Erschließung einer Struktur des Minneromans konzentrieren, sieht RLDDER (Anm. 23), S. 102, die Funktion der Vorgeschichte darin, den in der Haupthandlung dominanten Konflikt zwischen Christen und Heiden an dieser Stelle aufzuheben. Zur besonderen Bedeutung des Phänomens des Anfangs im Diskurs der Geschichtserinnerung von Gemeinschaften vgl. ALTHOFF (Anm. 23), S. 16. Letzterer verdeutlicht, dass die Bemühungen mittelalterlicher Adelsfamilien um ihre Anfange oft mit der Konturierung eines Spitzenahns einhergingen.

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bewegung korreliere, als diese gewöhnlich mit der Erzählung der Einsetzung des Sohnes in die väterliche Herrschaftsposition ihren Abschluss fanden, öffneten die Vorgeschichten höfischer Romane diese zyklische Struktur, indem sie das Motiv der Vaterrache und die damit verbundene Herrschaftsproblematik zurückdrängten und stattdessen die Eltern- und Jugendgeschichte des Protagonisten mit der ritterlichen Queste verbänden. Somit lasse sich in den Romanen eine Ausdehnung der am Schema des Lebensverlaufs orientierten Enfancestruktur auf den gesamten Roman beobachten.36 Entsprechend seiner intertextuellen Konstruktion jedoch entwirft der Roman Johanns seinen Protagonisten gleich im Referenzrahmen unterschiedlicher Erzählgenres sowie der mit diesen einhergehenden mythischen Analoga und begründet damit bereits in der Kindheitsgeschichte die außergewöhnliche Biographie des Wildhelm, mithin eine Herkunftsgeschichte, die sich sehen lassen kann.

2. Der Anfang oder die Er-Zeugung des Helden Johanns Roman konstruiert seinen Helden, so lässt sich grob vereinfachend festhalten, ganz besonders deutlich im Referenzrahmen der deutschsprachigen Bearbeitungen derjenigen „narrativen Großformen", welche das französische Mittelalter laut K A R L H E I N Z S T I E R L E „eigenständig hervorgebracht hat", Chanson de geste und höfischem Roman, genauer im Spannungsbogen von Wolframs Willehalm und Gottfrieds Tristan.3? Damit entwirft der Text eine Heldenfigur, welche die Züge des berühmten christlichen Ritters und Überwinders der Heiden mit denen des nicht weniger bekannten (problematisch) Liebenden in sich vereint. Die Vorgeschichte initiiert diese durch den Referenzrahmen der Intertexte vorgegebene Kennzeichnung der Figur samt ihrer Geschichte, indem 36

Vgl. dazu FRIEDRICH WOLFZETTEL: Zur Stellung und B e d e u t u n g der E n f a n c e s in der altfranz ö s i s c h e n Epik I. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 8 3 ( 1 9 7 3 ) , S. 3 1 7 - 3 4 8 , hier S. 3 1 8 u. S. 3 2 6 . WOLFZETTEL behauptet g e g e n die weitverbreitete A u f f a s s u n g , die Poetik des h ö f i s c h e n R o m a n s gründe auf der Doppelwegstruktur des Artusromans, dass gerade in der z u n e h m e n d e n Biographisierung der R o m a n e das entscheidende p o e t i s c h e Paradigma der Texte zu finden sei. V g l . dazu auch FRIEDRICH WOLFZETTEL: Zur S t e l l u n g und B e d e u t u n g der E n f a n c e s in der altfranzösischen Epik II. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 8 4 ( 1 9 7 4 ) , S. 1 - 3 2 , hier S. 18. Zur B e d e u t u n g von WOLFZETTELS T h e s e für die Poetik des höf i s c h e n R o m a n s vgl. MONIKA SCHAUSTEN: Ich bin, alse ich hân v e r n o m e n , z e wunderlichen maeren k o m e n . Zur Funktion biographischer und autobiographischer Figurenrede fur die narrative Konstitution von Identität in Gottfrieds von Straßburg Tristan. In: P B B 123 ( 2 0 0 1 ) , S. 24-48.

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KARLHEINZ STIERLE: D i e Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Literatur in der G e s e l l s c h a f t des Spätmittelalters. Hrsg. von HANS ULRICH GUMBRECHT, Heidelberg 1 9 8 0 ( B e g l e i t h e f t e z u m G R L M A 1), S. 2 5 3 - 3 1 3 , hier S. 2 5 7 . Im Hinblick auf die Vielzahl literarischer Einflüsse, die im Wilhelm verarbeitet sind, ist d i e s e Festlegung natürlich eine grobe V e r e i n f a c h u n g , w e l c h e sich vielleicht nur dadurch rechtfertigen lässt, dass Tristanroman und C h a n s o n de geste selbst intertextuell verfertigte Gattungen sind. Zu den literarischen B e z ü g e n im Wilhelm vgl. vor allem SCHULZ ( A n m . 31), S. 125.

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sie den Anfang des Heldenlebens ganz ähnlich wie Gottfrieds Text als Geschichte der Er-Zeugung des Protagonisten konstruiert. Doch der Text entwickelt diese Initiation ganz anders als die assoziierten Genres der französischen Heldenepik und des höfischen Romans, indem er ein fur die Romanliteratur der Zeit relativ neues Motiv aufgreift, nämlich das der Wallfahrt um einen Erben, die der österreichische Herzog Liutpolt zum Grab des Evangelisten Johannes nach Ephesus unternimmt.38 Anders aber als etwa der Reinfried von Braunschweig oder der F/ore-Roman Konrad Flecks verhandelt Johanns Text das dem Motiv implizite, für die mittelalterliche Adelsgesellschaft äußerst brisante Problem der Kinderlosigkeit39, indem er deutlich auf eine immer wiederkehrende lebensgeschichtliche Dimensionierung rekurriert, die sowohl im Alten als auch im Neuen Testament und in den Apokryphen die Einzigartigkeit tragender Personen damit begründet, dass sich deren bereits im fortgeschrittenen Alter befindliche Väter an Gott wenden und diesen um Nachkommen bitten. Ebenso wie Liutpolt im Text Johanns dem Evangelisten in Ephesus „grozziu opfer" (449) darbringt, initiiert bekanntlich auch Zacharias, der Vater Johannes' des Täufers im Tempel Rauchopfer, als ihm ein Engel die Geburt seines Sohnes verkündet (Luk. l,5ff.). Bereits Isaak, der Sohn Abrahams und Saras, ist ein Nachkomme alter Eltern, dessen Mutter als unfruchtbar gilt und die deshalb die Engel des Herrn lachend empfängt, als diese ihr die Geburt des Sohnes ankündigen (Gen. 18, 1-16). Und das Protevangelium des Jakobus erzählt im Rekurs auf die Geschichte Abrahams40, dem Interesse der Apokryphen an der Biographisierung zentraler Figuren des Neuen Testaments ent38

Das Motiv der Wallfahrt um einen Erben lässt sich im Roman des frühen 14. Jahrhunderts mehrfach nachweisen. In Konrad Flecks Flore und Blanscheflur wird es wie im Wilhelm in der Vorgeschichte verwendet. Allerdings erfüllt es dort eine gänzlich andere Funktion: hier begründet das Motiv den Konflikt zwischen Christen und Heiden sowie die gemeinsame Kindheit des späteren Liebespaares im gewaltsamen und unstatthaften Verhalten eines heidnischen Königs, der die schwangere Mutter Blanscheflurs entfuhrt, die sich auf einer Wallfahrt nach Santiago befindet, während im Reinfried von Braunschweig der Protagonist selbst ausfahrt, um einen Erben zu erbitten. Zur intertextuellen Relation des Wilhelm zu den genannten Romanen vgl. bes. RJDDER (Anm. 23), S. 102, sowie DIETRICH HUSCHENBETT: Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von HORST BRUNNER, Stuttgart 1993 (RUB 8914), S. 412-433, hier S. 427-428, der aber grundsätzlich im Wilhelm von Österreich die Adaptation der Romanstruktur des Flore-Textes nachweisen zu können glaubt.

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Damit partizipiert der Roman, und das hat die Forschung wiederholt betont, an einem zentralen Diskurs adeliger Familiengeschichte und ihrer spezifischen Probleme. Vgl. dazu v. a. URSULA PETERS: Familienhistorie als neues Paradigma der mittelalterlichen Literaturgeschichte. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 134-162, hier S. 147. HUSCHENBETT (Anm. 38), S. 417, spricht von Johanns Text als einem „Adelsroman" und erinnert daran, dass Leopold VI. 1208 zum Dank für die Geburt seines Sohnes das Kreuz genommen habe (S. 418). Vgl. außerdem RIDDER (Anm. 23), S. 102: Das Handeln der Eltem ziele auf die Sicherung der Dynastie.

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ERICH WEIDINGER: Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel. Himberg bei Wien 1996, S. 433: „Und es kam ihm (Joachim, M.S.) vom Erzvater Abraham in den Sinn, daß Gott ihm wenigstens noch am letzten Tage einen Sohn, den Isaak, gegeben hatte."

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sprechend, die Geburt Marias als Folge eines Bußganges ihres Vaters Joachim, der vierzig Tage und Nächte lang in der Wüste gefastet habe, bis der Engel seiner Frau Anna die Geburt eines Kindes verkündete, welches „in aller Welt genannt werden" würde.41 Das in den biblischen und apokryphen Texten topisch eingesetzte Erzählschema, demzufolge die Schwierigkeit, ein Leben überhaupt in Gang zu setzen, gerade auf die Einzigartigkeit und Auserwähltheit des unter Mühen empfangenen Kindes verweist, bestimmt nun den Text Johanns, welcher dieses in die Vorgeschichte eines höfischen Romans integriert. Damit aber wird dieses Erzählschema zugleich modifiziert, indem der anvisierten Wallfahrt Liutpolts Züge einer Aventiurefahrt nach dem Muster des Minne- und Aventiureromans zugeschrieben werden.42 Der Roman berichtet davon, wie der Herzog von der stürmischen See in das Reich des heidnischen Königs von Zyzya, Agrant, verschlagen wird, welcher, weil ebenfalls kinderlos, gemeinsam mit dem österreichischen Herzog in Hoffnung auf die Geburt eines Kindes nach Ephesus reist.43 Gott, so der Erzähler, gewährt beiden Männern diese Bitte: auch fuogt do diu gotes kraft dem haiden durch den christen, daz zu den selben vristen die vrawen wurden swanger ... (532-535)

Das schon in der Antike verwendete mythische Motiv der gleichzeitigen Geburt des füreinander bestimmten Paares wird hier aus einer christlichen Perspektive begründet. Der Erzählerkommentar schreibt dem Text ein als männlich definiertes Schöpferprinzip ein, in dem sich, wenn man so will, das Potential, das die vom Ergebnis des Romans her motivierte Integration biographisie-

A p o k r y p h e n ( A n m . 4 0 ) , S. 4 3 4 . Z u m biographisierenden Erzählen in den A p o k r y p h e n vgl. ULRICH WYSS: Legenden. In: E p i s c h e S t o f f e des Mittelalters. Hrsg. von VOLKER MERTENS/ULRICH MOLLER, Stuttgart 1 9 8 4 (Kröners T a s c h e n a u s g a b e 4 8 3 ) , S. 4 0 - 6 0 , hier S. 52. Der e i g e n t l i c h e O p f e r g a n g in Ephesus ist im Text im V e r g l e i c h zur längeren S c h i l d e r u n g der Hin- und Rückreise Liutpolts verhältnismäßig kurz abgehandelt. V g l . WILHELM VON ÖSTERREICH ( A n m . 19), V. 4 3 8 - 4 5 5 . Zur Struktur der die Form d e s hellenistischen R o m a n s adaptierenden M i n n e - und Aventiureromane vgl. WERNER RÖCKE: H ö f i s c h e und u n h ö f i s c h e M i n n e und Aventiureromane. In: Epische S t o f f e des Mittelalters ( A n m . 4 1 ) , S. 3 9 5 - 4 2 3 , hier S. 3 9 7 . V g l . dazu RIDDER ( A n m . 2 3 ) , S. 102: Ridder interpretiert die g e m e i n s a m e Wallfahrt der K ö n i g e als V e r s u c h , die A u f h e b u n g aller „religiösen und kulturellen G e g e n s ä t z e " dadurch zu plausibilisieren, dass sich der h e i d n i s c h e König Agrant im Text Johanns der Pilgerreise d e s österreichischen Herzogs anschließt. Es gilt aber selbst an dieser Stelle zu b e d e n k e n , dass der Text die g e m e i n s a m e Wallfahrt durchaus mit hierarchisierenden T e x t e l e m e n t e n versieht: Agrant ist v o m Z u s a m m e n t r e f f e n mit d e m österreichischem Herzog, d e m er i m m e r s c h o n habe b e g e g n e n w o l l e n , sehr beeindruckt, und sein Entschluß, an der Wallfahrt t e i l z u n e h m e n , ist durch d i e e i g e n e Kinderlosigkeit motiviert. Überdies unterstellt Agrant s i c h der v o n Liutpolt v o r g e s c h l a g e n e n Wallfahrt nur v e r s u c h s w e i s e .

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render Schreibweisen in die Vorgeschichte des Romans birgt, verdichtet.44 Diese ermöglicht die narrative Konstituierung einer heldischen Identität als von Gott gestifteter und allein deshalb außerordentlicher. Und mehr noch: Der Kommentar setzt die verschiedenen Schöpferinstanzen in eine kausale und damit hierarchisierende Beziehung zueinander. Nicht allein Gottes Anteil, sondern besonders auch der des österreichischen Herzogs an der Geburt des Kindes wird hier eigens hervorgehoben: Gotteskindschaft und adelige Abkunft des Protagonisten werden im Verweis auf die Wallfahrtserzählung erklärt, wobei der Text so weit geht, auch die Erschaffung des heidnischen Kindes nicht allein dem christlichen Gott, sondern auch Liutpolt zuzuschreiben. Dieser übermäßige Anteil des Vaters Liutpolt an der Erschaffimg des Erben wird parallel dazu auf der Ebene des erzählten Geschehens sehr sorgfaltig entwickelt. Der Text erzählt hier Differenzen zwischen dem österreichischen Herrscherpaar. Nicht allein die geschilderte ängstlich ablehnende Reaktion der Herzogin, die im Text namenlos bleibt, gegenüber der geplanten Wallfahrt ihres Mannes45, sondern vor allem auch ihr an die Debatte um die Namensgebung Johannes' des Täufers46 erinnernder Widerstand gegen die von Liutpolt vorgeschlagene Benennung des Erben nach der Geburt, etablieren Wildhelm einmal mehr als väterliches Geschöpf. Liutpolt lehnt es ab, dem Sohn seinen eigenen Namen zu geben. Stattdessen besteht er darauf, seinen Erben Wildhelm zu nennen, nicht nur weil er um seinetwegen, wie es heißt, manche Fahrt durch fremde Gebiete unternommen habe (auch han ich durch in genomen/ vil wilder vert, 558f.), sondern auch weil der Sohn von hohen gnaden (557) gekommen, also göttlicher Abkunft sei. Damit berichtet die Vorgeschichte davon, wie Liutpolt die eigene Geschichte seiner Wallfahrt im Namen des Sohnes festhält. Die väterliche Erzählung fixiert so bereits das Leben des Sohnes in seinem Anfang, indem sie diesen nicht allein auf seine Position als künftiger Erbe österreichischer Landesherrschaft festlegt, sondern darüber hinaus auch auf den göttlichen Anteil seiner Identität. Über die Integration des Adjektivs wilt in dessen Namen aber bezeichnet Liutpolt seinen Sohn schließlich auch als Fremdling. Bereits im Prozess der Namensgebung erfolgt somit die Bestimmung des heldischen Lebens durch die Liutpoltfigur in einem nicht geringen Umfang analog zu den verwendeten christlichen biographischen Schreibweisen sowie deren Implikationen. Die Vorgeschichte präfiguriert die Lebensgeschichte des Wildhelm damit insofern, als sie dessen vom Ergebnis der Erzählung her mo44

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Zur Vaterschaft als schöpferischem Prinzip und Quelle von Autorität vgl. CLAUDIA OPITZ: Mutterschaft und Vaterschaft im 14. und 15. Jahrhundert. In: Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte. Hrsg. von KARIN HAUSEN/HEIDE WUNDER, Frankfurt a. M., New York 1992 (Geschichte und Geschlechter 1), S. 137-153, hier S. 140-143. Wilhelm von Österreich (Anm. 19), V. 238-241: do sprach diu herzoginne zart:/ ,herre, ez mag niht anders sin!/ waer aber der gewalt min,/ ir muest bi mir bliben hie! ' Siehe Luk. 1,57-80: Das Evangelium berichtet davon, dass die Verwandten dem Kind den Namen des Vaters, Zacharias geben wollen, während Elisabeth und Zacharias auf dem Namen Johannes bestehen.

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tiviertes Potential als christlicher Kämpfer gegen die Heiden und Spitzenahn österreichischer Landesherrschaft fundiert. Die Entfaltung der Figur wird hier überdies durch die intertextuellen Bezüge zur französischen Heldenepik und deren deutschsprachiger Adaptation durch Wolfram unterstützt. In diesem Referenzrahmen memoriert der von Liutpolt für seinen Erben gewählte Name ganz offenbar mehr als lediglich die Geschichte des österreichischen Herzogs, sondern er assoziiert darüber hinaus den Protagonisten wohl auch mit dem berühmten Guillaume, dessen Heiligkeit in den verschiedenen Texten des französischen Zyklus nicht zuletzt durch seine Kämpfe und sein Heldentum auf dem Schlachtfeld fundiert wird. 47 Insgesamt entwickelt die Geschichte seiner Erschaffung, welche die Gotteskindschaft des Helden und letztlich auch die seiner Minnepartnerin erzählt, die Basis fiir die Heiligkeit des Protagonisten, während Willehalm dieses Attribut bekanntlich in Wolframs Prolog ohne jede weitere Erläuterung zugeschrieben wird. 48 Deutlich wird bereits hier, dass besonders die Inanspruchnahme biblischer Schreibweisen im Zusammenspiel mit den erwähnten Intertexten die von WOLFZETTEL betonte zyklische Erzählstruktur vieler Chansons de geste überbietet. Damit ist der Roman nicht allein von der Restituierung der väterlichen Herrschaftsposition durch den Sohn her motivert, sondern darüber hinaus auch von eben jener heilsgeschichtlichen Dimension, die in der Vorgeschichte entwickelt wird. Die intertextuelle Relationierung unterschiedlicher Erzählgenres impliziert also bereits hier die Amalgamierung unterschiedlicher „Motivationen von hinten"; die anzitierte Gattung der französischen Heldenepen mit zyklischer Struktur erfordert die Einsetzung des Protagonisten als Nachfolger in die väterliche Position, wohingegen die durch die biographischen Muster biblisch-hagiographischer Provenienz erzeugte göttliche Vorbestimmung des heldischen Lebens die Handlung transzendent determiniert. 49

3. Frau Venus oder das ,Wilde' des Wildhelm Der Horizont der heldischen Biographie wird so bereits bei der Erzählung seiner Geburt durch die Narrationen anderer Figuren fixiert, eine Technik,

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Vgl. dazu zuletzt PHILIP E. BENNETT: Heroism and Sanctity in the Cycle de Guillaume. In: Wolfram's Willehalm. Fifteen Essays. Hrsg. von MARTIN H. JONES/TIMOTHY MCFARLAND, Rochester, NY, Suffolk 2002 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. 120, hier S. 8: "It is, indeed, through battle and in the heroism of the battlefield that sanctity is predominantly expressed in these poems." Vgl. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von WERNER SCHRÖDER. Völlig neubearbeitete Übersetzung, Vorwort und Register von DIETER KARTSCHOKE. Berlin, New York 1989, V. 4,13: herre sancì Willehalm. Zu dieser Differenzierung von verschiedenen „Motivationen von hinten", vgl. MATIAS MARTINEZ: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996 (Palaestra 298), S. 20.

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welche schon Gottfried im Tristan angewendet hatte, die hier freilich zur Konstruktion eines von Tristan verschiedenen Heldentypus anders eingesetzt wird. Johanns Text lässt andere Figuren die soziale Identität des Protagonisten entsprechend den mythosanalogen Strukturen der den Roman konstituierenden Schreibweisen unterschiedlicher Gattungen entwerfen. Während also Liutpolt seinen Sohn ganz überwiegend im Kontext von im weitesten Sinne hagiographischen Genres konzipiert, tritt zusätzlich in der Vorgeschichte ein Astronom in prophetischer Funktion auf, welcher einen anderen Aspekt von Wildhelms Identität entwerfen hilft, der wiederum auf den höfischen Roman, besonders den Tristanroman zurückgeht. Hier ist es die Konstellation der Gestirne in der Geburtsstunde des Wildhelm, welche im Zeichen der Venus steht, die als weiteres Merkmal die Biographie des Helden vorformuliert, zumal die Vorgeschichte überdies festlegt, dass dessen zukünftige Minnepartnerin Aglye, die Tochter Agrants, zur selben Stunde geboren wird, ein Umstand, der, wie schon gesagt, im Text als Resultat der gemeinsamen Wallfahrt der Väter erklärt wird. Damit aber entwickelt der Beginn der Erzählung die Aglyefigur von vornherein als integralen Bestandteil der heldischen Biographie. Anders als der Willehalm konzipiert der spätere Text die heidnische Prinzessin im Bericht ihres Lebensanfangs als Gotteskind und antizipiert und plausibilisiert so bereits an dieser Stelle die aus Wolframs Epos bekannte Korrelation von Frauendienst und Kampf gegen die Heiden in der Figur der heidnischen Königstochter.50 Johanns Text bietet in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel für die spezifisch mittelalterliche Adaptation antiker erzählender Mythen in der personificatio. Venus wird nicht nur als Bestandteil der kosmischen Ordnung zitiert, sondern ihre Auswirkungen auf den von ihr Betroffenen werden in bekannter Manier eindeutig beschrieben. Ihr Feuer brinnet uf von gründe/ Wildehelme in dem sinne (660-661), Venus macht den Helden zu ihrem Dienstmann, sie macht sich ihn gefugig, indem sie ihn geißelt und schlägt, und erreicht schließlich, dass der Held seinen Willen ihrer Macht unterordnet.51 Wie Tristan und Riwalin wird auch Wildhelm zum Gefangenen der Minne oder, um mit Lugowski zu sprechen, von ihr „gehabt".52 Anders als in den Tristantexten wird bei Johann das mit der Minneentstehung einhergehende Motiv der Vereinzelung des Liebenden von seiner sozialen Umgebung nicht im Kontext der Heimlichkeit situiert. Vielmehr ist hier die Separierung des Helden vom österreichischen Hof als ein Auseinandertreten der verschiedenen Konzeptionen erzählt, die andere Figuren dem Helden bereits bei seiner Geburt

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51

52

Vgl. dazu KIENING (Anm. 26), S. 478: „Wildhelm [...] ist schon biographisch auf die Ferne verpflichtet, auf sein fernes Pendant, die am gleichen Tage geborene Heidin ..." Wilhelm von Österreich (Anm. 19), V. 657-674: Nu waget mich der maere/ wer der zunder waere/der daz lieht enzunde/ daz brinnet uf von gründe/ Wildehelme in dem sinne!/ ez tet Venus, diu Minne,/diu wolt in han ze dienstman [...]/ ir besem rises buerde/ wart dick uf im erswungen ;/ sus maistert si den jungen/ und kund in gaiseln, Villen,/ biz daz si in ir willen/ Wildehelmen den fuersten hoch/ aller dinge hin gezoch. Zur Kategorie des „Gehabtseins" vgl. LUGOWSKI (Anm. 11), S. 68.

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als Bestandteile seiner künftigen Identität und Geschichte .angedichtet' hatten. Dabei werden die miteinander konfligierenden mythischen Analoga der den Roman konstituierenden unterschiedlichen Schreibweisen in der direkten Figurenrede zum Thema einer Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Während Liutpolt, als Wildhelm diesen mit seiner Minne, genauer mit dem ihm ständig vor Augen schwebenden Bildnis der Aglye, konfrontiert, den heiligen Johannes anruft, also einen Hauptbürgen fur die von ihm konstruierte Identität seines Sohnes, reagiert der Sohn ebenfalls mit Rekurs auf eine seiner Lebensbestimmungen: ,wilt du mich haben ze kinde', äußert die Wildhelmfígur, ,so hilf du mir geswinde/ daz mir werde daz bilde,/ oder dir wirt wilde/ min gebarn vroelich! ' (721-725) Dieser Dialog zwischen Vater und Sohn lässt bereits erkennen, dass der Einbruch der Minne in die Biographie Wildhelms seine anderen Lebensbestimmungen dominieren wird. Venus hat den Protagonisten so sehr in der Gewalt, dass dieser selbst sein zukünftiges Leben an ihrem Maßstab ausrichtet: ergedaht: ,ufmin triwe! min muot hat des vereinet sich, soelt daz lant ze Osterrich mir immer wesen wilde, ich kum do min bilde ist also schone lebende als ez mir vor ist swebende mit liehtem anblicke: mir ist reht als ein wicke baidiu erbe und aigen.' (790-799) In diesem inneren Monolog des Protagonisten formuliert der Text eine reflektierte Entscheidung Wildhelms fur einen risikoreichen, unkalkulierbaren Lebensweg, welcher ihm von der Minne aufgegeben worden ist und welcher gleichzeitig einen bewussten Entschluss des Helden gegen die vorformulierte dynastische Existenz, für die Entfremdung von der öffentlich markierten Lebensbestimmung impliziert. Darin korrespondiert die Identitätskonstruktion in Johanns Text der des Gottfriedschen Tristan, der ebenfalls mit Rückgriff auf biographisierende Erzählmuster einen Helden als Typus des .Fremden' konstruiert. Johanns Text radikalisiert diesen Typus jedoch einerseits, indem er Wildhelm selbst die eigene Identität als .fremd' (wilde) in Bezug auf seine Herkunft bestimmen lässt, und er nimmt doch die Radikalität des Gottfriedschen Textes im weiteren Verlauf des erzählten Geschehens wieder zurück, indem, zumindest punktuell, Wildhelm doch noch eine Verbindung seiner öffentlich bestimmten Lebensaufgabe mit seiner Minnebestimmung gelingt. Dass der Roman nun im weiteren das wichtige, durch die Minne motivierte Moment der Ausfahrt des Helden im Kontext einer Legende, nämlich der des heiligen Brandan, inszeniert, ist wohl mehr als ein literarisches Zitat, das die Überdetermination der Handlung durch intertextuelle Bezüge einmal mehr

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belegt. Indem die völlige Isolierung Wildhelms von seinen österreichischen Gefolgsleuten nicht ohne Komik in der Metapher des vereinzelten Helden auf dem Baum, welcher sich auf dem Rücken des Riesenfisches Cetus befindet, zum Ausdruck gebracht wird, hält der Text die Bestimmung des Protagonisten als Heiligen mit dieser Brandanreferenz gerade anlässlich seiner durch die Minne motivierten Ausfahrt präsent. 53 Aventiure und Fahrt, als deren fruht Wildhelm an anderer Stelle bezeichnet wird 54 , ein „Unterwegssein grundsätzlicher Art" 55 , werden hiermit als integraler Bestandteil von Wildhelms von seinem sozialen Kontext entfremdeter Identität erzählt. D i e Überformung der Minnehandlung durch christliche biographische Schreibmuster wird auf der reflektierenden Ebene der Erzählung anlässlich von Wildhelms Ausfahrt nachdrücklich durch einen Passus, welcher den Helden als in N o t geratenen Christen und nicht als Minneritter anspricht, präsent gehalten: ach Got! vor dem eilende behuet die reinen cristenhait und hilf auch uz der aerbait dem jungen Wildehelme, der in jamers gelme dich helflich an schriet! (1106-1111) Indem hier erzählt wird, wie die Minnebestimmung den Protagonisten vollständig von seinem sozialen Umfeld trennt, markiert die Erzählung einmal mehr die besondere Bedeutung, welche dem Anfang in genealogischen Geschichten zukommt. Der Held, der buchstäblich keinen festen Grund mehr unter den Füßen hat, muss sich seine gesellschaftliche Position mühsam wieder erwerben. Für den Fall der hier imaginierten Geschichte österreichischer Landesherrschaft baut die Erzählung den Protagonisten als Spitzenahn über seine spektakuläre Lebensgeschichte auf, die hier ihren Anfang nimmt. D i e Entfernung Wildhelms v o m österreichischen Hof, sein Ausgesetztsein in einer fremden Topographie, bedroht zwar die für die Legitimation adeligen Machtanspruchs so zentrale Bedeutung, die dem Nachweis einer lücklosen verwandtschaftlichen Kette von Vorfahren und Nachfahren zukommt. 5 6 Mit der Inszenierung eines in der Welt verlorenen Protagonisten insistiert die Erzählung aber zugleich auch auf dem Anfang, den dieser selbst mit seiner Geschichte setzen wird. Damit wird im Roman Johanns das genealogische System der

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Wilhelm von Österreich (Anm. 19), V. 1036ff. Wilhelm von Österreich (Anm. 19), V. 3188f. : du bist der aventuere fruht,/du geborn.

bist zu

aventuer

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S o KJENING ( A n m . 2 6 ) , S. 4 7 7 .

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Vgl. dazu BEATE KELLNER: Aspekte der Geneaologie in mittelalterlichen und neuzeitlichen Versionen der Melusinengeschichte. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von KILIAN HECK/BERNHARD JAHN, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), S. 13-38, hier S. 23.

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Vor- und Nachfahren, die am Beginn des Textes scheinbar so unproblematisch entfaltete genealogische Kette zwischen Liutpolt und Wildhelm, zumindest zum Teil bewusst unterwandert: Die Erzählung von der Ausfahrt des Helden und die über diese motivierten erzählten Ereignisse fundieren die Position des Spitzenahns, welche schließlich eben Wildhelm und nicht seinem Vater Leopold in der Erzählung zuerkannt werden wird.

4. Biographie und ätiologische Erzählung Ich breche meine Überlegungen zu der spezifischen narrativen Ausfaltung der Wildhelm-Figur im Kontext der unterschiedlichen Gattungen am Anfang des Romans an dieser Stelle ab. Es ließe sich zeigen, dass der Text die über die Integration von im weitesten Sinne hagiographischen Schreibweisen und biographisierenden Erzählelementen des höfischen Romans erzeugte Identität seines Helden auch an anderen Stellen immer wieder betont, der heilbringende, besondere, von göttlicher Aura umgebene Aspekt seiner Personalität wiederholt angesprochen und auch in den erzählten, zum Teil wunderhaften Begebenheiten bestätigt wird. Aus diesem Entwurf der Heldenfigur als Heiligem resultiert auch die Erzählung von seinem Tod: Nachdem er - und dies ist im Rekurs auf den Willehalm gestaltet - mit Hilfe aller zu dieser Zeit wichtigen Königs- und Fürstengeschlechter ein riesiges heidnisches Heer überwältigt hat, ein Umstand, der ihm nicht allein die Eheschließung mit Aglye, sondern auch die Christianisierung der besiegten Heiden einträgt5 , wird Wildhelm dennoch hinterrücks - wie Siegfried - von einem heidnischen König ermordet. Im Rekurs auf die Christus-Natur-Allegorese des Physiologus lässt der Text überdies seinen Helden bei dem Versuch sterben, ein Einhorn zu jagen. 58 Von hier aus lässt sich abschließend festhalten, dass Johanns Text das erzählte Geschehen letztlich, und zwar durchaus im Rückgriff auf seine Poetik der Kontamination, von seinem Ende her organisiert. Die Einsetzung von Wildhelms Erben Friedrich in die Position der österreichischen Landesherrschaft generiert demnach die Imagination seiner Vergangenheit als genealogische Abkunft von einem Spitzenahn, generiert damit eine Vergangenheit, die in der Vorgeschichte im Referenzrahmen verschiedener Schreibweisen und der diesen impliziten mythischen Analoga fundiert wird. Der Roman lässt diese künftige Herrschaft Friedrichs aus einer biographisch orientierten, ätiologischen Erzählung hervorgehen, einer Narration also, auf der diese Herrschaft gründet und welche diese Herrschaft genealogisch, und zwar auffallend über 57 58

Vgl. dazu ζ. B. Wilhelm von Österreich (Anm. 19), V. 18159ff. Zu den Anklängen dieser Erzählung vom Tod des Helden an das Nibelungenlied schon ECKART FRENZEL: Studien zur Persönlichkeit Johanns von Würzburg. Berlin 1930 (Germanische Studien 84), S. 66. Zur Allegorie des Einhorns im Physiologus, wo das Tier für Christus steht, vgl. ζ. B. SCHULZ (Anm. 31), S. 149; SCHULZ macht darauf aufmerksam, dass das Einhorn in der Legende Barlaam und Josaphat für den Tod steht.

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die Betonung einer agnatischen Linie, begründet.59 Mit der Erzählung von Wildhelms Leben und Tod konstituiert der Roman bereits in der Vorgeschichte einen Protagonisten im Spannungsbogen von christlich geprägten biographischen Gattungen und allegorisiertem antiken Mythos. Wenn auch die für die „Verwilderung" des spätmittelalterlichen Romans charakteristische Kontamination dieser Schreibweisen gerade das ,Wilde' des Protagonisten als Entfremdung von seinem sozialen Kontext erzeugt60, den Helden also, wenn man so will, als einen hybriden konstruiert, so wird doch auch deutlich, dass das Ende des Textes die verschiedenen mythischen Analoga der intertextuell miteinander verbundenen gattungsspezifischen Schreibweisen im Hinblick auf die ätiologische Funktion der Erzählung in einen ganz spezifischen, und zwar durchaus kohärenten, Zusammenhang setzt. Die Minnebestimmung des Helden ist in diesem Fall, anders eben als in anderen Minne- und Aventiureromanen, nicht mit der glücklichen Wiedervereinigung des Paares erfüllt, hier wird die öffentliche Identität des Protagonisten eben nicht langfristig in der legitimen Eheschließung mit seiner privaten zur Deckung gebracht.61 Vom Resultat der Erzählung her besteht die entscheidende Funktion der den Hauptteil motivierenden Liebesgeschichte - und dies ist wohl inversiv auf den Willehalm bezogen - in der Zeugung des Nachkommen62 sowie in der mit dieser Minnebestimmung verbundenen Aufgabe des Helden, heidnische Völker und Gebiete als eine Art christliche Erlösergestalt zu usurpieren.63 Aus dieser Perspektive und eben wohl doch nicht aufgrund erzähllogischer Inkohärenzen erklärt sich dann auch das deutliche Zurücktreten der Liebe als Motivation für das Agieren der Wildhelmfigur nach der Heirat des Paares im letzten Teil des Romans.64

59

Von der Forschung ist immer wieder zu Recht betont worden, dass Wildhelm im Verlauf des Textes auch über seine mütterliche Verwandtschaft als in die Gralfamilie eingebunden erzählt werde (seine Mutter ist die Kusine Titurels). So etwa PETERS (Anm. 20), S. 195; JUERGENS (Anm. 24), S. 4 5 : Dort, „wo ein dem Gralsgeschlecht verwandtschaftlich verbundener Infant [...] die Regierung übernimmt", werde der gesamte Roman zur Vorgeschichte, „die wohl retrospektiv unter dem Gesichtspunkt des .Jüngeren Titurel' bedacht werden will". Dabei müsste allerdings beachtet werden, dass die mütterliche Verwandtschaft des Helden in der Vorgeschichte als durch die Dynastie der Österreicher „verursachte" konstruiert wird. Eben hier gründet die Dominanz der väterlichen Linie, die der Text erarbeitet.

60

So STIERLE (Anm. 37), S. 258: Die Vermischung der beiden narrativen Großformen von höfischem Roman und Chanson de geste erzeuge eine neue, „hybride" Struktur des Romans, welche letzten Endes die dialektische Form des Romans herausgebildet habe, einen gattungskonstitutiven Widerspruch, „der gleichsam die Unruhe bildet, die den Roman immer wieder neu aus seinen Verfestigungen ausbrechen ließ."

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SCHULZ ( A n m . 31), S. 73.

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So a u c h CRAMER ( A n m . 29), S. 216. Der Vorrang, welcher dem Anteil des Heiligen gegenüber dem des Liebenden in der Figur des Wildhelm am Ende des Romans zugesprochen wird, wird vor allem in den Passagen deutlich, die von der Bekehrung Aglyes und Agrants zum Christentum berichten. Noch bevor die Ehe vollzogen werden kann, besteht Wildhelm darauf, dass seine Geliebte sich taufen laesst. Vgl. Wilhelm von Österreich (Anm. 19), V. 15890-15903. An dieser Stelle zeigt sich die Wirkung einer „Motivation von hinten": Nach der erzählten Eheschließung Wildhelms tritt die Minne als Motivation des Handelns für die Wildhelm-Figur

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Besonders aber die Erzählung vom Tod des Helden und den darauf folgenden Ereignissen unterstützt einmal mehr die Etablierung der Wildhelm-Figur als einen würdigen Spitzenahn österreichischer Landesherrschaft. In Anknüpfung an den Anfang der Geschichte erweist sich Wildhelm hier nun endgültig als Heilsbringer, welcher schließlich auch seinen dynastischen Bestimmungen gerecht wird, indem sein Sohn als Regent einsetzbar ist. Die Konstruktion der heldischen Biographie analog zu im weitesten Sinne hagiographischen Strukturen erzeugt in Johanns Roman so etwas wie eine narrative Struktur der Geschlossenheit, von der LUGOWSKl gesprochen hat. Es ist eine Eigenart von Johanns Text, dass dieser auf diese zyklische Geschlossenheit eigens verweist. Dem Roman ist an seinem Ende eine ,Jetzt'-Zeit des Sich-Erinnerns eingeschrieben, welche dem erzählten Leben und Sterben des Protagonisten nachgestellt wird. Auf der Ebene des erzählten Geschehens kann so die Festlegung der österreichischen Dienstherren auf den in seiner Legitimität anerkannten unmündigen Erben des Wildhelm erzählt werden und damit auch die Anerkennung der heldischen Biographie als die österreichische Landesherrschaft fundierende .Geschichte'. Die Berufung auf eine fingierte Quelle im Epilog jedoch bindet darüber hinaus die mythische Vorstellung einer gründenden Vorzeit an den Moment der Abfassung des schriftlichen Textes. Indem der implizite Autor, der sich an dieser Stelle als Hanss der schribaer (19561) bezeichnet, erklärt, dass die Quelle der Erzählung eine von König Agrant in Auftrag gegebene lateinische Version des Erzählten gewesen sei, die er dann ins Deutsche übertragen habe, durch daz si verstau/ waz triwe und werdes leben si (19568f.), verlegt er den Moment der verbindlichen Einsetzung der Wildhelm-Biographie als ätiologische Erzählung einer genealogisch motivierten Herrschaftsgründung in die Gegenwart der am Ende übriggebliebenen Figuren und imaginiert diese Erzählung gleichzeitig als eine bereits schriftlich tradierte. Dass der Text in diesem Zusammenhang Agrant die Fixierung der Vita in einem lateinischen Buch zuschreibt65, plausibilisiert gemeinsam mit der Erwähnung des impliziten Autors, den Text in der cruetz wochen (19579) vollendet zu haben, einmal mehr den bereits in der Erzählung selbst generierten Aspekt der Wildhelm-Figur als christlicher Erlöser und Heilsbringer, eben als Osterman (11629). Durch die erzählte Vertextung der Biographie Wildhelms in der Schrift macht der Roman Johanns eigens auf einen Vorgang aufmerksam, welcher dem erzählten Leben Wildhelms einen Teil seines historischen Ereignischarakters nimmt und die Wiederholbarkeit und Aktualisier-

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zurück, und darin zeigt sich, dass der Text sich durch keine zureichende Motivation von vorne auszeichnet. Vgl. dazu MARTINEZ (Anm. 49), S. 18. Vgl. Wilhelm von Österreich (Anm. 19),V. 19561-19565: ich Hanns der schribaer/ dis aventuer ahtbaer/ich in latine geschriben vani./ von Zyzya kuenc Agrant/ hiez si also beschriben. Zuvor, anlässlich der berichteten Versöhnung von Christen und Heiden, bereitet der Text diese Passage vor: In der direkten Figurenrede lässt er den König Agrant sich an die Pilgerfahrt nach Ephesus erinnern: Jierre herzöge Liutpolt, do ir/ und ich fuorn gaen Ephesum,/da soll ich wol Altissimum/ymmer han erkennet bi./ von im min liebes kint Agly mir wart ...' (V. 18188-18193).

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barkeit der herrschaftsbegründenden Vergangenheit für die Christen und die bekehrten Heiden eben durch die Transformation dieses Lebens in die Schrift gleichermaßen sicherstellt. Die Imagination einer in der Schrift festgehaltenen Biographie signifiziert damit die Fixierung kollektiven Erinnerns auf die gründende Vorzeit eines christlichen Herrschergeschlechts, welche wohl, wiederum von der Einsetzung des Wildhelm-Sohnes her, als typologische gelesen werden soll: In dieser Zeit des Wildhelm gründet eben die künftige Herrschaft seines Sohnes. Die über die topische, fingierte Quellenberufung des Textes geschickt integrierte Buchentstehungsgeschichte, die die Transformation des Heldenlebens in die Schrift imaginiert, erzeugt am Schluss der Erzählung damit die Vorstellung einer mythischen „Präsenz des Anfangs in der Gegenwart" des erzählten Geschehens und weist überdies das Schreiben des neueren, vorgeblich auf dieser Quelle basierenden Textes als Re-aktualisierung dieser Präsenz 66

aus. Abschließend ließe sich festhalten, dass Johanns Roman von seinem Ende her, welches die Einsetzung eines österreichischen Landesherrn genealogisch, darin der mittelalterlichen Geschichtsschreibung verwandt, fundiert, ein besonderes Beispiel für die spezifisch literarische Diskursivierung adeliger Familiengeschichte liefert, von der URSULA PETERS gesprochen hat. 67 Die intertextuelle Poetik konstruiert hier einen Helden, dessen Dimensionierung im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte dem erzählten Geschehen von Anfang an implizit ist. Die Verknüpfung unterschiedlicher Schreibweisen erzählender Gattungen zu einer intertextuellen Poetik des Romans integriert die diesen impliziten, teilweise punktuell konfligierenden mythischen Analoga letztlich im Hinblick auf diese heilbringende Bestimmung des Protagonisten. Dabei wird auch die Rezeption antiker Mythologie in der personificatio der Venus in Bezug auf diese Funktion modifiziert. In der Analyse seiner Ergebnisorientiertheit erweist sich somit letztlich ein kohärenzerzeugender und damit zugleich ordnungsstiftender Aspekt der den Roman bestimmenden Poetik der Intertextualität. Ist nun aber diese für die Konstruktion des Romans so wesentliche formale, aber auch inhaltliche Orientierung des Wilhelm an der christlichen Heilsgeschichte, so ließe sich fragen, nur ein weiteres Indiz für die „Mythenfeindlichkeit des Mittelalters"? Ich würde diese Frage verneinen. Wenn GERD A L T H O F F Recht hat, der die mittelalterliche Geschichtsschreibung im Rekurs auf JAN ASSMANN generell als mythisch bezeichnet hat, insofern diese Auskunft über Ursprünge und Herkunft von Gemeinschaften und Gruppen gebe, welche iden66

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KILIAN HECK/BERNHARD JAHN: Einleitung. Genealogie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Leistungen und Aponen einer Denkform. In: Genealogie als Denkform (Anm. 56), S. 1-9, hier S. 3f. Vgl. dazu PETERS (Anm. 39), S. 161 ; die fiktionale Thematisierung der Familie entferne sich in der höfischen Dichtung weit von den Gegebenheiten der mittelalterlichen Adelsfamilie. Ähnlich auch KELLNER (Anm. 56), S. 17. KELLNER bezeichnet die Melusinengeschichten als „literarische Formen genealogischer Geschichtsschreibung".

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titätsstiftende Funktionen erfülle68, dann ließe sich für den vorliegenden Roman sagen, dass er zwar nicht eindeutig einem pragmatischen Funktionszusammenhang - etwa als Gründungsmythos der Habsburger - zugeordnet werden kann, dass er aber gleichwohl eine ätiologische Erzählung österreichischer Landesherrschaft sowie deren schriftliche Fixierung in einer Buchentstehungsgeschichte imaginiert.69 Der Roman erzählt mit der besonderen Konstruktion seines Protagonisten die in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung übliche Berufung von Adelsgeschlechtern auf Heilige aus, indem er einen adligen Spitzenahn erfindet, welcher zugleich heilig ist. Dies gelingt durch eine Poetik der Kontamination, deren Etablierung nicht allein eine Freude am Spiel mit mythosanalogen Strukturen im Mittelalter signalisiert70, sondern nicht zuletzt auch die Reflexion darüber zum Ausdruck bringen kann, wie solche Strukturen und das ihnen eigene Potential als Interpretament von Vergangenheit für die Etablierung einer Herrschaft durch Herkunft eingesetzt werden können.

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V g l . ALTHOFF ( A n m . 2 3 ) , S. 14, s o w i e JAN ASSMANN: D a s kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. M ü n c h e n 1 9 9 2 , S. 7 8 . Zur legitimierenden Funktion d e s M y t h o s vgl. außerdem: LAURENCE COUPE: Myth. London, N e w York

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Ich würde m i c h damit in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g ARMIN SCHULZ a n s c h l i e ß e n , der behauptet hat, d a s s Texte v o m S c h l a g e des Wilhelm wohl nicht unmittelbar der Legitimation von D y n a s tie dienen konnten, a l s o nicht allein aufgrund der ihnen e i n g e s c h r i e b e n e n N a m e n in pragmatischer Hinsicht als Gründungsmythen zu verrechnen seien. Vgl. dazu SCHULZ ( A n m . 3 1 ) , S. 80.

70

V g l . dazu BLUMENBERG ( A n m . 3), S. 23. Hier zeigt s i c h also durchaus j e n e Freiheit der Imagination im U m g a n g mit Geschichten, von der BLUMENBERG g e s p r o c h e n hat.

1 9 9 7 , S. 6.

H A R A L D HAFERLAND

(Freie Universität Berlin)

Hermes als Gründerfigur im Mittelalter Transformationsformen des Mythos

PtE β vi ci? \ wòn SfS F. C SM i .tO ;μιIMmlFf, riehen borten giengen. ( 1 5 7 , 1 - 3 )

Nach dem Wiedersehen mit den Eltern und der höfischen Einkleidung, die gleich mehrfach erwähnt wird, ist das Abenteuer in der Anderwelt beendet. Der heroischen folgt eine dreifache, ausfuhrlich erzählte Investitur des Helden als Ritter, Dynast und Herrscher, Schwertleite, Hochzeit und Übertragung der Herrschaft (171-193).49 Kontinuität wird mittels der üblichen feudalen Rituale gesichert. Das Greifen-Abenteuer wirkt nur darin nach, dass es Hagen die Frau verschafft, mit der er seine Erbin zeugen wird. Nur an der auffälligen Störung narrativer Kohärenz in dieser Überleitungsphase, am a-logischen Fortspinnen der Handlung50, kann man noch Spuren der Bewältigung jener Anderwelt sehen. Bald lenkt der Erzähler zu den Brautwerbungsgeschichten zurück, die die Handlung in Gang halten. Hagen, der Sieger über eine übermächtigfeindliche Wildnis, wird ein mächtiger, wenn auch, wie sich herausstellt, nicht unbesiegbarer Herrscher.

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Das ist weit verbreitet, ob in Siegfrieds Auftritt vor Brünhild oder der ,Auszeichnung' der heroischen Söhne Melusines. MCCONNELL (Anm. 18), S. 23 u. 24, spricht zurecht von einer zweiten Initiation. Die erste allein ist eben nicht gültig. MÜLLER (Anm. 23), S. 122-124. - Das Zeitebenen vermischende, Ursache und Folge vertauschende Erzählen ist dem Erzählen des Mythos verwandt. Der Zusammenhang mythischen Erzählens mit Mündlichkeit, der sich hier andeutet (vgl. JAMME [Anm. 5], S. I), kann hier nicht näher erläutert werden. Es bildet sich vor allem in auffalligen Wiederholungsstrukturen ab.

Verabschiedung des Mythos

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6. Verabschiedung des Mythos Die mythischen Züge der Greifenepisode wurden seit langem gesehen, nicht jedoch die planmäßigen Strategien ihrer Aufhebung. Hagen erfüllt die Rolle eines mythischen Heros: Er wird aus der bekannten Welt buchstäblich .ausgebürgert'; er ist Sieger über das Chaos. Er unterwirft sich sukzessive einen angstbesetzten Raum, verleibt sich seine außermenschlichen Gegner ein, kleidet sich in ihre Hülle und wird ihnen ähnlich. Doch ist dieser Prozess identisch mit seiner allmählichen Rückkehr in die höfische Kultur. Mit Hilfe eines Mythos wird der Mythos verabschiedet. Auch die mythomorphe Welt heroischer Selbstmächtigkeit steht unter Gottes Lenkung, auch in der zivilisationsfernen Wildnis wächst der junge Mann unter der Leitung höfischer Frauen heran, und auch in ihr wird die Erinnerung an eine höfische Ordnung wachgehalten (Kleider, Essen). Der vormalige Schrecken ist nurmehr an den schreckhaften Reaktionen derer, die die Bewohner jener Welt wahrnehmen, ablesbar, doch erweist er sich letztlich als Täuschung. Zuerst liegt sie ,ganz woanders', dann am Rand der bekannten Welt, und schließlich gibt es sogar Verbindungen zwischen beiden, so beschwerlich sie sein mögen. Warum dann aber überhaupt der Schlenker, der auffällig schlecht in das raumzeitliche Kontinuum der Epenwelt integriert ist?51 Offenbar kann auch ein Heldenepos, das den heldenepischen Weltentwurf zu überwinden trachtet, den mythischen Grund, auf dem Heldensage ruht, die mythischen Motive, die sie aufruft, und die mythischen Strukturen der Aneignung von Welt, die sie zitiert, nicht einfach beiseite lassen.52 Eingekapselt in eine geschlossene, syntagmatisch nur oberflächlich integrierte Episode wird eine Sonderwelt aufgebaut, die Entfaltungsraum heroischer Potenz ist. In ihr kann Hagen Heros werden und ineins damit die Grenzen dieser Welt sprengen. Auch später bleibt er, angezeigt durch seinen Namen, eine erratische Gestalt, der ,wilde Hagen' (199,4), der välant aller kunige (168,2; 196,4). Er ist eine Sagengestalt: des hörte man in dem lande von dem helde sagen oder singen (166,4). Er ragt mit dieser Wildheit in die Feudalwelt hinein und wird von Fall zu Fall in ihr als Bedrohung erfahren. Aber diese Bedrohung wird immer nur angespielt, um sofort Das verbindet die Episode mit der Bewältigung des Mythischen im Nibelungenlied. Hagens Erzählung von Siegfrieds Jugendtaten (Müller [Anm. 23], S. 130-136). Anders als diese wird die „mythologische Qualität" hier geradezu ,wegerzählt' (vgl. aber SCHMITT [Anm. 20], S. 82). Entmythologisierung durch Umbesetzung des Mythischen findet sich auch an späterer Stelle: Der Befreiung Kudruns geht eine Prophezeiung voraus, die diese Befreiung emphatisch als Uberwindung eines rechtlosen Zustands, aus der Perspektive des Mythos: als Überwindung des Chaos, erscheinen lässt. Diese Prophezeiung ist jedoch 1 ) christlich konnotiert (es ist ein Engel Gottes, der das Erscheinen der Retter ankündigt), und sie ist 2) im handlungslogischen Zusammenhang überschüssig (sie hat keinerlei Konsequenz, denn als die angekündigten Retter kommen, reagiert Kudrun, als habe sie nie etwas von Rettung gehört. Sie verkennt die Retter, versucht sich ihnen zu entziehen und glaubt der Vorhersage nicht). Die Prophezeiung ist also zugleich christianisiert und entwertet.

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Jan-Dirk Müller

bewältigt oder aber in den Kategorien der gewöhnlichen Welt entschärft zu werden: Der wilde Heros entpuppt sich als der gefährliche Nachbar, mit dem man einen Frieden aushandeln muss. Es ist ausgerechnet der vâlant aus der Wildnis, der als erster Friedensstifter wirkt, indem er den feindlichen Grafen mit seinen Eltern versöhnt. Der Abschluss der Episode - das durch die Entfuhrung unterbrochene Fest wird fortgesetzt - präfiguriert das Friedensfest, das das Epos insgesamt beschließt. Anders als Siegfried im Nibelungenlied muss der refeudalisierte Hagen daher nicht beseitigt werden, und anders als im Nibelungenlied beginnt die mythische Anderwelt nicht zu wuchern und die bekannte zu verschlingen, sondern wird, dank Gottes Hilfe, von einem schwachen Kind bezwungen und später von einer Frau gebannt.53 Sie ist extraterritorial, anfangs weit jenseits' aller erreichbaren Orte, doch nach und nach immer näher an die höfisch-feudale Ordnung sich angleichend. Das ist die Gegenbewegung zu der im Nibelungenlied, die über den Verrat an Siegfried in die Barbarisierung des Schlusses führte. Hier bleibt vom Ausflug in die Wildnis (fast) nichts zurück. Im weiteren Verlauf werden die Bahnen gewöhnlicher Kriegshandlungen nicht mehr verlassen. Die Friedensordnung, die Kudrun stiftet, ist umso stärker, je deutlicher sie sich ihre heroische Gegenwelt unterworfen hat. Der zu überwindende heroische Weltentwurf ist fortan nicht mehr mythenförmig. Er steht zwar in einem Spannungsverhältnis zur christlichen Rechtsordnung; doch diese Spannung wird unter den Bedingungen der gewöhnlichen Welt ausgetragen: Beim ersten Krieg der Hetelinge gegen die Normannen requiriert Wate Pilgerschiffe, die - Gott sei dank {got tuoi mit gewalte als ez umbe in stât [838,2]) - in der Nähe sind. Die Proteste der Pilger prallen an ihm ab: er ahte ez niht ein brät (943,2), verspricht nur unbestimmt Entschädigung nach der Rückkehr (842,4). Das ist die Praxis einer Kriegergesellschaft, die keine Rücksicht nehmen zu müssen glaubt. Alle teilen Wates Ansicht: Hetele der enruochte, ob si immer ûf das mer/ mit ir kriuze koemen (844,1 f.). Nur der Erzähler fragt, ob solch ein Vorgehen sich auszahlt: Ich weiz, ob des engulte Hetele und sine man (845,1); ich wœne got rœche dà selbe sinen anden (845,4). In der Tat, die Schlacht geht übel für die Hetelinge aus. Nach der Niederlage gibt Wate die Schiffe zurück, Hilde lässt den Pilgern ihren Schaden bezahlen, kein Pilger flucht mehr über die gewaltsame Enteignung. Wate handelt dabei nicht nur aus Gerechtigkeitssinn, sondern aus dem nüchternen Kalkül, dass man Gott besser nicht gegen sich aufbringt: ob wir mère strîten, daz uns danne baz miige gelingen (931,4). Und tatsächlich, die Korrektheit gegenüber den Dienern Gottes zahlt sich dann schließlich auch aus. Andere christliche Gesten kommen hinzu: Auf Wülpensand gründet man ein Kloster (914-917; 949f.). Es soll die Gebetssorge für die Gefallenen über-

Das entspricht übrigens auch dem Ausgang der 451 f.

Nibelungenklage\ vgl.

MÜLLER (Anm. 23), S.

Verabschiedung des Mythos

217

nehmen, die unvorbereitet in den Tod gehen mussten.54 So wird der heroische Tod nachträglich christlich überformt. Doch bewegt sich das innerhalb der Grenzen einer christlichen Kriegergesellschaft, die nirgends mehr überschritten werden. Erzählt wird die Verabschiedung eines mythischen Raums der Heldensage mit der anonymen Erzählstimme des Epos. Es gibt keine Instanz, die wie im höfischen Roman die gegenläufigen Tendenzen perspektiviert. Widersprüchliches oder mindestens Heterogenes wird einfach nebeneinander gestellt oder übereinander kopiert; Selbstermächtigung und Erwählung durch Gott fallen zusammen; unvereinbare Raum- und Zeitkonzepte werden miteinander kombiniert; die Anderwelt ist zugleich jenseitig und benachbart. Auch in der Greifenepisode erscheint der Mythos immer schon als bewältigter.

So verstehe ich 914,3f.: wie sie von gotes hulden die von Hegelingen/von ir grôzen schulden und von ir missetät mähten bringen-, das bezieht sich m. E. nicht auf eine .Schuld' der Hegelinge allgemein (etwa durch Raub der Pilgerschiffe), sondern auf den gefurchteten plötzlichen Tod ohne Sterbesakramente (anders FRITZ PETER KNAPP: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273. Graz 1994 [Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfangen bis zur Gegenwart. Hrsg. von HERBERT ZEMAN, Bd. 1 ], S. 320).

SUSANNE KÖBELE

(Universität Erlangen)

Mythos und Metapher Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds Tristan „Gibt es auf der Erde etwas, das heilig ist? - oder das es nicht ist?" (Borges) „Es ist ein Maß von Unernst am Mythos, von Leichtfertigkeit." (Blumenberg)

Der Mythos-Begriff ist einschüchternd vieldeutig. Eine Gesamtgeschichte des Mythos gibt es so wenig wie eine allgemein verbindliche Definition dessen, was unter Mythos zu verstehen sei. 1 „Im Niemandsland der Zuständigkeiten" 2 sei sein Ort - eine unübersichtliche Situation, die mich bei meiner Beschäftigung mit dem 'Mythos im Mittelalter' beinah resignieren hat lassen. Über einen Umweg bin ich bei dem Thema aber doch unerwartet wieder angekommen. Der Umweg, den ich eingeschlagen habe, ist die Frage nach dem Stellenwert des Religiösen in Gottfrieds Tristan, und so bitte ich um etwas Geduld, mich auf meinem Umweg über Gottfrieds virtuose Kunst der Anspielung zu begleiten, mit der Aussicht, auf diese Weise auch dem Mythos wiederzubegegnen.

Vgl. MANFRED FUHRMANN: Vorbemerkung des Herausgebers. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von M F., München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 9; auch CHRISTOPH JAMME: „Gott an hat ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1999, S. 21 ff. Dass ausgerechnet ein auf definitorische Prägnanz angelegter Lexikonartikel unter der Überschrift „Statt einer Definition" ausweicht in die komplizierte Unterscheidung nicht weniger als sieben verschiedener MythosBegriffe, ist kein Zufall; so ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN in ihrem komplexen und zugleich übersichtlichen Artikel 'Mythos'. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 4 (1998), S. 178-200, hier S. 178. HANS BLUMENBERG: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel (Anm. 1), S. 11-66, hier S. 12.

220

Susanne Köbele

Anspielungen spielen ,auf etwas an. Sie haben eine Richtung, ein Ziel; allerdings kein klar umrissenes. Anspielungen fuhren außerdem ihren ,Spiel'Charakter schon im Namen. Sie sind, wie eine Definition es ausdrückt, „undurchsichtig" auf den „gemeinten Ernstsinn"3, nur: mit wieviel Ernst im Spiel? Zwei Hauptschwierigkeiten im Umgang mit Anspielungen haben wir damit benannt, die Unsicherheit ihrer Richtung und die Unsicherheit ihrer Verbindlichkeit. Ein Meister der Anspielung ist Gottfried von Straßburg. Sein Tristan ist mit einem ganzen Netz von Anspielungen überzogen. Die von Anfang an verklausulierte Kommunikation zwischen Tristan und Isold steigert sich im Handlungsverlauf zu einer Art Geheimcode, einem Code, fiir den Gottfried sogar einen Begriff erfindet: clebewort.4 clebewort der Minne sind es, mit denen die Liebenden an Markes Hof die Lücke zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung unmerklich machen, Wahrheit und Lüge so dicht 'verleimend', dass das, was auf der einen Seite als reine Transparenz entstehen könnte (vrilieh und offenbeere, V. 12989, reine unde guot, V. 13009), auf der anderen Seite als höchst durchsichtiges, fadenscheiniges Täuschungsmanöver ankommen muss (V. 12996ff). „Gerade die in sich selbst durchsichtige Sprache vermag zweideutig zu werden".5 Eine Anspielungsrede, die Gesagtes und Gemeintes taktisch auseinandertreten lässt, indem sie alles verschweigt, wird im selben Atemzug zum alten Traum einer Liebessprache, die 'alles' sagt: ir beider sin, ir beider muot / daz was allez ein und ein. [...] an in was niht gescheiden; / da waren beide an beiden (V. 1301 Off). Allusionen - ohnehin konstitutiv Unbestimmtheitsstellen in Texten - werden doppelt unbestimmt, wenn sie sich auf verschiedenen Erzählebenen ansiedeln und vervielfältigen. Weil Gottfried seine anspielungsreich sprechenden Figuren seinerseits anspielungsreich kommentiert, ist die Tristanforschung so auffallig kontrovers, nämlich in allen zentralen Fragen der Deutung uneins.6

3

PETER HUGHES, Art. 'Anspielung'. In: H W R 1 (1992), Sp. 652-655, hier Sp. 652, mit Bezug auf LAUSBERG.

4

Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Dublin, Zürich 1930, 1 5 1978, V. 12993. Zur Oszillation zwischen gedecktem und verdecktem Wahrheitsgehalt der Rede HANS JÜRGEN SCHEUER: Die Signifikanz des Rituals. Zwei 7ra/«M-Studien. In: PBB 121 (1999), S. 406-439. Zum Wahrheitsdiskurs außerdem KLAUS GRUBMÜLLER: ir unwarheit warbaeren. Über den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gotfrids Tristan. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Fs. KARLSTACKMANN, Göttingen 1987, S. 149163; RÜDIGER SCHNELL: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds Tristan und Isold als erkenntniskritischer Roman. Tübingen 1992 (Hermaea NF 67).

5

WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einfuhrung, Darmstadt 1985 (Germanistische Einfuhrungen), S. 217.

6

Vgl. CHRISTOPH HUBER: Gottfried von Straßburg, Tristan. Berlin 2 0 0 0 (Klassiker-Lektüren 3), S. U . Prominentester Fall ist Isolds Eid in der Gottesurteil-Episode, jene Anspielungsrede,

Mythos und Metapher

221

Für Anspielungen wie für Ironie ist jede Explikation tödlich. Anspielungen sind hochempfindliche Gebilde. Aus „Schmetterlingsstaub" bestehen sie, wie man gesagt hat, mit einer Metapher, die ins Zentrum trifft. Schmetterlinge flattern schneller hin und her, als man ihnen mit den Augen folgen kann. Fasst man sie, ist in der Tat die Gefahr groß, dass „die verdolmetschende Hand den ganzen Schmetterlingsstaub bunter Anspielungen abgreifen und abpflücken würde".7 Ein besonders empfindlicher Sonderfall im Tristan sind die religiösen Allusionen. Auf sie will ich mich im folgenden konzentrieren, auf die oben angedeutete Frage nach ihrer Richtung und ihrem Gewicht. Es mag überraschen, dass ich ausgerechnet dieses Thema erneut aufgreife. Alle Textbelege sind hundertfach hin- und hergewendet, alle Positionen durchgespielt worden, das Thema wirkt erledigt. Bestenfalls scheint es noch möglich, in Nuancen w e i t e r z u k o m m e n . V o r k u r z e m hat BURGHART WACHINGER in d i e s e m Sinn

Bilanz gezogen. Anhand der wichtigsten Kernstellen hat er die Argumentationsspielräume noch einmal sorgfaltig abgetastet.8 Sein Fazit: Die geistlichen Allusionen im Tristan habe man bei weitem überschätzt. Geistliche Allusionen, geistliche Denkformen im 'Tristan' - es wäre töricht zu leugnen, daß es sie gibt. Aber gegenüber der verbreiteten Tendenz, fast überall geistliche Hintergründe und Konnotationen zu wittern, scheint mir ein gutes Maß nüchterner Skepsis angebracht. Wo geistliche Parallelen überzeugend nachgewiesen sind, steigern sie die weltlichen Diskurse über Liebe und Dichtung, über psychologische, ethische und ästhetische Fragen, aber sie bleiben in sie eingebunden, suchen weder den ernsthaften Anschluß an geistliche Diskurse noch den Konflikt mit ihnen. 9

WACHINGER warnt vor einer Überbewertung der geistlichen Allusionen im Tristan, und er hat mit dieser Auffassung eine Reihe anderer Arbeiten zur Seite, die, aus ganz verschiedenen Richtungen argumentierend, sich darin treffen, dass sie den Stellenwert des Religiösen sehr tief ansetzen.10 Für die meisten von ihnen fällt das Religiöse im Tristan unter das Stichwort „klerikale Didaxe".11 Andere haben den Aspekt des Religiösen von vornherein zurückgestellt, mißtrauisch gegen teleologisierende (moralisierende, mystifizierende,

7

8

' 10

"

die Christus wintschaffen erscheinen lässt und zugleich so erzählt ist, dass nicht nur Christus, sondern die Bedeutung der Episode als ganzer „nach dem Wind hängt" (V. 15735f ). Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung. Hrsg. von NORBERT MILLER, München, Zürich 1987, Vorrede zur dritten Auflage, S . I I . BURGHART WACHINGER: Geistliche Motive und geistliche Denkformen in Gottfrieds Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5.-8.April 2000. Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/VLCTOR MILLET, Tübingen 2002, S. 243-255. Ebd., S. 254. EVA WLLLMS: Der lebenden brät. Zu Gottfrieds von Straßburg Tristan 238 (240). In: ZfdA 123 (1994),S. 19-44; HENRIKE LAHNEMANN: Tristan und der Sündenfall. Ein Theologumenon auf höfischen Abwegen. In: HUBER/MLLLET (Anm. 8), S. 221-242. Ich nenne stellvertretend VOLKER MERTENS: Bildersaal - Minnegrotte - Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im Tristanroman. In: PBB 117 (1995), S. 40-64.

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Susanne Köbele

romantisierende) Tristan-Deutungen, mit dem nachvollziehbaren Argument, das Religiöse bringe ein unangemessenes tragisches Vibrato in die Debatte. Allzu rasch führe es auf eine „Direttissima" von Gottfried zu Richard Wagners spätromantischer Liebesmetaphysik.12 Der Vorzug dieser skeptischen Haltung liegt auf der Hand: wohltuend sachliche Argumente in einer überhitzt geführten Debatte. Aber fallen die geistlichen Allusionen im Tristan wirklich so wenig ins Gewicht? Nun sind, genau zeitgleich, eine Reihe von Tristan-Beiträgen erschienen, die im genauen Gegenteil zur oben angedeuteten Tendenz seine gezielte Retheologisierung betreiben, überwiegend mit Augustinus als Gewährsmann. So wird in einem Fall Gottfrieds auffallige Neubildung erbeminne als modifiziertes „Strukturmodell der augustinischen Erbsündelehre" interpretiert („inhaltlich" schließe es an Augustinus an, aber nur „äußerlich", nicht der Wertung nach).13 In einem anderen Fall dient das augustinische civitas dez-Konzept als Erklärungsmodell für „Gottfrieds Erzählprogramm",14 um nur diese beiden zu nennen. Retheologisierung auf der einen Seite, Neutralisierung des Religiösen auf der anderen Seite. Beides hat mich alarmiert, war mir Anlass, das alte Thema doch noch einmal aufzurollen. Kein „ernsthafter", ein nur „äußerlicher" Anschluss an geistliche Modelle? Oder im Gegenteil, deren glatte Zielerfüllung? Meine These: Der Gottfriedsche Tristan ist mit dem religiösen Diskurs unauflöslich verwoben. Genau diese Unauflöslichkeit des Geistlichen und Weltlichen macht seinen Konflikt spezifisch, ohne dass dadurch der Roman 'religiös' würde (oder unsere Interpretation notwendig erbaulich), wie ja auch Tristan und Isold nicht einfach Minne-Heilige werden oder Minne-Märtyrer;15 der Tristan ist keine Legende. Natürlich ist er ein Liebesroman. Natürlich gibt es hier, mit einem Zitat von K U R T R U H , „nichts außerhalb der Minne, was seinen Grund in sich selbst hätte".16 Ich drehe das Argument nur um. Es liegt an eben diesem Mittelpunktthema Minne, dass Geistliches und Weltliches im Tristan bis zur UnUnterscheidbarkeit nebeneinanderstehen, so ununterscheid-

RAINER WARNING: Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im Tristan. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von GERHART NEUMANN/R.W., Freiburg 2 0 0 3 , S . 1 7 5 - 2 1 2 ; JAN-DIRK MÜLLER: G o t t f r i e d v o n S t r a ß b u r g . Tristan.

Transgression

und

Ö k o n o m i e . Ebd., S. 2 1 3 - 2 4 2 . 13

RALF-HENNING STEINMETZ: Tristans erbeminne. Versuch über vier Hapax legomena bei Gottfried von Straßburg. In: ZfdA 129 (2000), S. 388-408.

14

HARALD HAFERLAND: Gottfrieds Erzählprogramm. In: PBB 122 (2000), S. 230-258. Die ältere Forschung hat das Problem überwiegend als Gottfrieds .religiöses Weltbild' diskutiert, als orthodoxe oder heterodoxe Autor-Einstellung. So noch HANS BAYER: Gottfried von Straßburg und der .Archipoeta'. Die literarischen Masken eines Ehr- und Namenlosen. Hildesheim, Zürich 1996 (Spolia Berolinensia 8); eine Sackgasse.

15

16

KURT RUH: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: Reinhart Fuchs, Lanzelei, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 231.

Mythos und Metapher

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bar, dass der Versuch, diese Ungeschiedenheit textanalytisch zu erfassen, ohne eine dritte Kategorie nicht auskommt. Es ist - man ahnt es gleich - die des 'Mythischen'. Minne-Heil und religiöses Heil: Wie weit und wohin reichen die von der Forschung immer wieder beschworenen „geistlichen Analogien" in diesem Text? Sind es überhaupt .Analogien'? Ich demonstriere die Problematik zunächst im Blick auf den Prolog, genauer: die vielbeachtete Brot-Metapher am Ende des Prologs (I). In einem zweiten Punkt geht es um jene bereits angesprochenen, textübergreifend wiederkehrenden erèe-Komposita, die uns zu zentralen Stationen der Tratan-Handlung führen werden, zur Trankszene, zur Grottenszene und zur Entdeckungsszene (II).17 Im dritten Abschnitt lenke ich den Blick auf Texte, die zum Tristan in überraschend großer Entfernung scheinen, mir aber geholfen haben, für eine Einschätzung von Gottfrieds irritierender Kunst der Anspielung aus strengen Alternativen ('weltlich oder geistlich', 'emsthaft oder spielerisch', 'mythisch oder allegorisch') herauszufinden. Dieser Punkt mündet in Überlegungen zur Ironie des Mythischen (III). Abschließend versuche ich, die in den drei aufeinander aufbauenden Teilen gewonnenen Ergebnisse zusammenzudenken. Erst zum Schluss kann sich zeigen, ob das Experiment gelungen ist, auf dem Umweg über die Kunst der Anspielung das strittige Verhältnis von Mythos, Metapher und Allegorie in Gottfrieds Tristan etwas genauer zu fassen.

I. Steine statt Brot? Metaphorische Evidenz im Prolog Am Schluss seines Prologs, der den Leser - uns - für die Geschichte von Tristan und Isold gewinnen und disponieren will, greift Gottfried zu einer ausgefallenen Metapher. Er sagt von seinen beiden Protagonisten: Ir leben, ir tot sint unser brot. Ich zitiere die berühmten Verse im Zusammenhang: Ir leben, ir tot sint unser brot. sus lebet ir leben, sus lebet ir tot. sus lebent si noch und sint doch tot und ist ir tot der lebenden brot. (V. 237-240) Worauf zielt die klangsuggestive, paradox umgesetzte Wiederholung der Kernbegriffe leben, tot, brot? Es gibt im wesentlichen drei Positionen der Forschung 18 zu dieser Frage. 1

"

Alle drei Episoden tragen entscheidend Gottfrieds Umerzahlung der biblischen Sündenfallgeschichte. A L B R E C H T S C H Ö N E : ZU

Gottfrieds

Tnstan-?m\og.

In: DVjs 29 (1955), S . 4 4 7 - 4 7 4 ; wieder in:

Gottfried von Straßburg. Hrsg. von ALOIS WOLF, Darmstadt 1973 (WdF 320), S. 147-181; DIETMAR PESCHEL: Prolog-Programm und Fragment-Schluß in Gotfrids Tristanroman. Erlangen 1976 (Erlanger Studien 9); HAUG (Anm. 5), S. 191 ff. (.Ethik und Ästhetik in Gottfrieds

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Susanne Köbele

Erstens, angezielt sei das Sakrament der Eucharistie. Die Heilsqualität der Geschichte also sei .analog' der Erlösung der Gläubigen durch den Nachvollzug von Christi Leben und Tod in der Messe. Zweitens, schon weniger spektakulär, angezielt sei ,nur' Joh 6, 22-59, wo Christus sich als 'Brot des Lebens' bezeichnet; eine Bibelstelle, die freilich ihrerseits schon auf die Eucharistie durchlässig gedacht wurde. Drittens, angezielt seien weder die Eucharistie noch das biblische 'Brot des Lebens', sondern die längst etablierte Vorstellung der .geistlichen/geistigen Speise'. Brot als „Metapher für geistige Nahrung" entspreche „einem verbreiteten Sprachgebrauch."19 der lebenden brot - drei Positionen, drei verschiedene Explikationen des implikativen Ausdrucks. Halten wir das fest: Die Vergleichs- und Verweisungskonstellation bleibt unthematisch. .Analogien' zur Heilswirkung des Eucharistiesakraments, .Analogien' zur geistlichen Lectio ziehen diese Verse jedenfalls nicht. Interpretieren wir damit also nur unsere eigene Assoziation? Schauen wir noch einmal genauer hin. Wie breit ist das Spektrum des Mitgemeinten und Nichtgesagten? Dazu brauchen wir den Kontext der Stelle. Der Kontext ist seinerseits eine Anspielung, genauer: eine intertextuelle Anspielung. Mit den zitierten Versen schließt Gottfried bekanntlich eine Passage ab, die einen Gedanken aus dem Iwein-Prolog aufgreift, wo vom Fortleben des König Artus im Erzählen die Rede ist. Gottfried überbietet diesen Gedanken: Noch heute sei es für uns und alle edelen herzen süß und beseligend, von Tristans und Isolds Liebe zu hören. Auch wenn sie schon lange tot seien: ir tot muoz iemer mere / uns lebenden leben und niuwe wesen (V. 228f.). Dort, wo man von ihrer Liebe erzähle, da sei aller edelen herzen brot. Dieser Vers leitet dann jene Doppelstrophe ein, deren zweiten Teil ich bereits zitiert habe: Deist aller edelen herzen brot. / hie mite so lebet ir beider tot. / wir lesen ir leben, wir lesen ir tot / und ist uns daz süeze alse brot (V. 233ff.). Was hier gesagt ist, steht in einem offenen Anspielungshorizont, in dem mehr mitgesetzt ist, als expliziert wird. Doppelt vorsichtig hat sich, im Bewusstsein dieser Schwierigkeit, WALTER HAUG geäußert: „Die Metapher vom Tod als Brot des Lebens scheint an die Eucharistie anzuklingen, aber wohl von Straßburg Literaturtheorie'); WLLLMS (Anm. 9); CHRISTOPHER YOUNG: Literaturtheorie bei Gottfried von Straßburg: Fiktion, Religion, Rhetorik. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 195-210; BEATE KELLNER: Autorität und Gedächtnis. Strategien der Legitimierung volkssprachlichen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg Tristan. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Bd. 2. Hrsg. von JORGEN FOHRMANN/INGRID KASTEN/EVA NEULAND, Bielefeld 1999, S. 484-508. Außerdem zusammenfassend HUBER (Anm. 6), S. 37-46, und WACHINGER (Anm. 8), S. 246f. WlLLMS (Anm. 10), hier S. 44. Dazu kritisch HUBER (Anm. 6), S. 46. Zur Metapher .Lektüre als Speise' vgl. HANS-JÖRG SPITZ: Die Metaphorik des geistlichen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bildauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München 1972 (MMS 12).

Mythos und Metapher

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eher indirekt über jenes Wort im Johannesevangelium (Io 6,35-51), wo Christus als Brot des Lebens bezeichnet wird."20 So zurückhaltend HAUG auf der einen Seite die religiöse .Verbindlichkeit' beurteilt, so zugespitzt ist auf der anderen Seite seine These im Blick auf die ,Richtung' dieser Anspielung. Gottfrieds Brot-Metapher - wie weit auch immer sie gehen möge - , ziele einen „autonomen" Anspruch der Dichtung an, „die Möglichkeit einer genuinen Sinnerfahrung im Medium der literarischen Fiktion"21. Genuin literarisch? Gottfrieds Brotmetapher sehe ich als Teil eines (geistlich inspirierten, aber singulär gesteigerten) identifikatorischen Rezeptionsmodells, das mir weder .autonom' im Sinn von .genuin literarisch', noch tatsächlich ,analog' zu geistlichen Modellen scheint, sondern auf eine noch genauer zu beschreibende Weise den Kontrast 'geistlich/weltlich', 'autonom/funktional' übergreifend. Welche Beobachtungen fuhren mich zu dieser Einschätzung? Der Prolog lässt ein Kommunikationsmodell erkennen, das Sprecher, Hörer und Gegenstand so eng wie möglich zusammenschließt. Gottfried kündigt an, erzählt werde ein senemœre von edelen senedœren (das ist der Gegenstand) für edele senedœre (das sind die Adressaten) von einem Erzähler, der sich seinerseits als Liebender und Liebeserfahrener aus dem Kreis der edelen senedœre vorstellt: ich weiz ez warez alse den tot und erkennez bi der selben not: der edele senedœre der minnet senediu masre. (V. 119-122) Rezeptionshaltung, Produktionshaltung und Gegenstand ist drei Mal minne, sene-minne. So eng ist das Modell geklammert, dass es die Erzählperspektiven ('ich, sie, wir') ständig ineinanderschieben kann: 'Ich weiß auch um ihre Liebe', insistiert der Erzähler, 'und die ist unser Brot'. Unter der paradoxen Bedingung, dass die Zielvorgabe immer schon erfüllt ist (nur die Liebenden verstehen die Liebesgeschichte), fällt die didaktische Sprechweise, die hermeneutische Einstellung, gewissermaßen aus. Brot sei die Geschichte (mit den Implikationen: nährend, lebensnotwendig), eben nicht Vorbild, nicht bilde für etwas, nicht Abbild oder lere von etwas. Gleich zu Beginn also stellt der Erzähler klar, dass er einem exemplarischen Erzählen mit allen Mitteln gegensteuern wird. Sein Argument: Was man .haben' will (minne, Wahrheit), muss man .sein'. Von solchen zirkulären Verstehensbedingungen her rührt die auffällige Häufung tautologischer, metaphorischer, paradoxer Aussagen im Prolog, rührt die Dynamik kreisender Argumente jenseits didaktischer Stufung und Funkti-

20

21

WALTER HAUG: Der Tristanroman im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Freiburg Schweiz 2000 (WOLFGANG STAMMLER Gastprofessur für Germanische Philologie. Vorträge 10), hier S. 35. HAUG (Anm. 5), hier S. 211.

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Susanne Köbele

on: Das Brot der Tristan-Geschichte nähre sene, stille sie auf dieselbe Weise; ihr Leben verlebendige uns Lebende, edele minne edelt edelen muot, senemcere für senedcere. Dahinter scheint ein Modell durch, das bereits die ältere Tristanforschung in die Nähe der mystischen Theologie gerückt hat, insbesondere in die Nähe der mystischen Hohelied-Exegese.22 Sie kennt das gleiche Mißtrauen gegenüber sprachlicher Konstruktion von Ähnlichkeit, argumentiert genauso zirkulär: Nur die Liebenden haben Zugang zum Lied der Liebe, wer die Wahrheit verstehen will, muss in der Wahrheit sein, die Tiefe ruft die Tiefe (abyssus abyssum invocai, Ps 41 [42],8). Das sind die dort wiederkehrenden Argumente, genau dieses riskante, auf Vollzug angelegte hermeneutische Modell scheint von Gottfried angespielt und auf die Geschichte von Tristan und Isold übertragen. Dabei evoziert die Brot-Metapher als Eucharistieanspielung, die sie auch ist, das alte Repräsentationsparadox - das Zusammenfallen von Repräsentation (hoc significai) und fehlender Repräsentation (hoc est) -, zugleich die Einsicht, dass es das Reich der 'reinen' Bedeutung, wie das Paradies, nur als verlorenes gibt. In diesem Sinn meint dann auch der erste Vers im oben angeführten Zitat (V. 119): ich weiz ez warez alse den tot nicht einfach bloß: „ich weiß es todsicher", sondern: der Wahrheit sind wir so nah wie dem Tod. Das wird erzählt. Noch einmal der Prolog: „Ihr Leben und Tod sind unser Brot". Es gibt im weiteren Romanverlauf drei metaphorische Parallelfälle zu dieser Prologformulierung. Sie verteilen sich wie folgt auf zentrale Stellen des Textes: (1) Der erste Beleg stammt aus der Minnetrankszene. Brangäne warnt Tristan und Isold, der Trank sei ihrer beider Tod: 'owi! ' sprach si 'daz selbe glas / und der tranc, der dar inne was, / der ist iuwer beider tot. ' (V. 12487ff.) (2) Der zweite Beleg gehört in die Minnegrotten-Szene. Der Erzähler kommentiert, Tristan und Isold aßen nur ihre sehnsüchtige Liebe: der wuocher, den daz ouge bar, / daz was ir zweier lipnar; / sin azen niht dar inne / wan muot und minne. (V. 16817ff.)

So schon JULIUS SCHWIETERING: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Bernhardische Mystik (1943). In: DERS.: Philologische Schriften. Hrsg. von FRIEDRICH OHLY/MAX WEHRLI, München 1969, S. 339-361, hier S. 343f. Vgl. auch ECKART CONRAD LUTZ: lesen - unmüezec wesen. Überlegungen zu lese- und erkenntnistheoretischen Implikationen von Gottfrieds Schreiben. In: HUBER/MLLLET (Anm. 8), S. 295-313, hier S. 298, Anm. 15, mit Bezug auf die //oAe/ierf-Predigten von Bernhard von Clairvaux: „Nur seinem erlesenen Kreis bietet er das Hohelied [...] als Brot (panis) dar, das - es auslegend - gebrochen werden muß: proferatur, si placet, etfrangatur (I,i,l). Und: Dieses Lied ist allein der Erfahrung (experientia) zugänglich. [...]". Freilich, vom Brotbrechen/Auslegen ist bei Gottfried gerade nicht die Rede.

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227

(3) Dritter Beleg, die Entdeckungsszene im Baumgarten. Mit der Frucht dieses Baumes esse er - Tristan - den Tod: nu tet er rehte als Adam tete: / daz obez, daz ime sin Eve bot, / daz namer und az mit ir den tot. (V. 18162ff.) Wir hören die gleichen, uns bereits aus dem Prolog bekannten Schlüsselwörter. Sie erzeugen Problemkreise, Problemketten, die die Zuständigkeit der Begriffe, Metaphern und Argumente unmerklich wechseln lassen. Gottfrieds Tristan stärkt im Prolog, aber auch sonst, die Simultangestalt des Textes gegenüber seiner Verlaufsgestalt, stärkt das „Erzählen im Paradigma".23 Mit der auffälligen Paradigmatisierung hängt die spezifische Lyrikaffinität des Tristan zusammen, seine Tendenz der „Verklanglichung des Sinns", ein eigenes Thema.24 Das Minne-Essen in der Grotte (V. 16817ff.) ist jedenfalls so wenig strikt ein ,Speise-Wunder', wie das Brot im Prolog eine ungebrochene .Eucharistie· Analogie' ist oder Tristans erbeminne eine .Erbsünde-Analogie'. Vom ,Speise-Wunder' sprechen nur die Tristanforscher. Gottfried ist viel verschwiegener. „Wovon sie lebten, Tristan und Isold, in der Grotte? Das fragen nur Pedanten", sagt er, „die, die es ganz genau wissen wollen", und dann folgt das Zitat 2: „Sie aßen muot und minne", was wiederum mehr heißt als bloß: „Sie verzehrten sich nacheinander".25 In diesem Fall ist die unterlaufene Zweischichtigkeit von Bild- und Auslegungsebene ausdrücklich mitreflektiert, die Grenze zwischen übertragenem und wörtlichem Sprechen (translate und proprie) gezogen und zugleich überschritten. Mit den Aussageebenen verschwimmen die Zeitebenen: Der Trank ist der Tod, wird es sein (18162ff.), wie ja auch schon im Prolog Tod und Leben, Anfang und Anfangslosigkeit zusammenfallen und auch in der Grotte Zeit diskontinuierlich wird.26 Ich wollte darauf hinaus:

RAINER WARNING, mit Blick auf die Episodizität des Tristan (Anm. 12). KARL BERTAU: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200. München 1983, S. 128ff.; ULRICH WYSS: Tristan und die .Nachtigallen'. In: HUBER/MILLET (Anm. 8), S. 327-338. Das ist Gottfrieds Variante von Wolframs spielerisch beeideter Wahrheit des .Speisewunders' im Parzival; dazu Warning in diesem Band. Sie funktionieren auf je eigene Weise und beide wieder anders als das .Ernährungswunder' in Hartmanns Gregorius, wo der Erzähler sich zwar mit vergleichbarer sublimer Ironie an sein Publikum wendet („Ihr glaubt mir wohl nicht...", V. 3114ff. Hrsg. von Hermann Paul, 13., neu bearbeitete Auflage besorgt von BURGHART WACHINGER, Tübingen 1984 [ATB 2]), dem Ganzen aber eine ausdrückliche religiöse Wendung gibt (wunder, V. 3134ff.). Indem Gottfried eine mythische Struktur geltend macht, zu der er gleichzeitig in Distanz tritt: Zeit wird unermeßlich, indem der Erzähler den denkmöglich weitesten Bogen spannt von einer mythischen Urzeit (Riesenzeit), die zugleich eine paradiesisch-zeitlose christliche Zeit ist und über die Zeit der 7raess komít til konvnga er Jser hefir bezt ¡sott. G(estr) s(varar). mest gledi [Dotti mer med S(igvrdi) konvngí ok Gívkvngvm. En Jaeir b(rçdr) Lodbrokar s(ynir) voro menn sialfradaztir at lífa sem menn villdv. En med Eiriki konvngi at VppsQlvm var sçla mest. En Haralldr konvngr harfagri var vandaztr at hattvm ok hird sidvm allra konvnga. Ek var ok med HlQdvi keisara a Saxlandí ok \>ar var ek primsigndr })viat ek matta eigi fiar vera ella. Jjviat f>ar var kristni vel halldin ok \>a.T Jjotti mer at QUV bezt. [Weiter fragte der König Gestr: ,Bei welchem der Könige, zu denen du gekommen bist, hat es dir am besten gefallen?' Gestr antwortet: ,Am meisten Freude hatte ich mit Sigurör und den Gjukungen. Aber die Lodbroksöhne waren sehr freizügig: Bei ihnen konnten die Männer leben, wie sie wollten. Und bei König Eirikr von Uppsala war das größte Glück. König Haraldr hárfagri nahm es von allen Königen am genauesten mit den höfischen Sitten. Ich war auch bei Kaiser Ludwig in Saxland, und dort wurde ich primgesegnet, denn sonst hätte ich dort nicht bleiben dürfen, weil dort das Christentum sehr geachtet wurde. Und dort gefiel es mir in jeder Hinsicht am besten.'] Nach Art eines Epilogs scheint diese Reihe Gests Erzählungen zunächst abzuschließen. Der pättr wechselt (wie schon vorher) zur Rahmenhandlung, und es heißt, dass Gestr danach zunächst alle Fragen des Königs beantwortet habe: konvngr frettir nv margs. G(estr) s(egir) pat allt greiniliga „Der König fragt nun vieles. Gestr erzählt das alles genau". Erst jetzt - vm sidir „zuletzt" - holt er den Rückblick auf den Nornenfluch an seiner Wiege nach: nv ma ek s(egia) ydr hvi ek em Noma G(estr) kalladr „Nun kann ich Euch erzählen, warum ich Nornagestr genannt werde". 22 Dann schließt er auch König Oláfr an die Königsreihe an (Kap. 10): Konvngr m(çllti). hvi fortv nv hingat til var. G(estr) s(varar). Jjessv sveif mer j hvg. çtlada ek mik nockvt avdnv bragd af ydr hliota mvndv jsviat J)er ervt miog lofadir af godvm monnvm ok vitrvm konvngr s(agdi). Villtv nv taka her skirn. G(estr) s(varar). fiat vil ek nv gera eptir ydro radi. [Der König sagte: .Warum bist du nun hierher zu uns gekommen?' Gestr antwortet: ,Das kam mir in den Sinn. Ich meinte mir von Euch einen Augenblick des Glücks erwarten zu dürfen, da ihr sehr von guten und weisen Männem gerühmt werdet.' Der König sagte: .Willst du nun hier die Taufe empfangen?' Gestr antwortet: ,Das will ich nun tun nach eurem Rat.'] Damit sind die Stationen auf dem Lebensweg Gests beisammen: V o n Sigurör fáfnisbani fuhrt er ihn über die Lodbrokssöhne, den Schwedenkönig Eirikr, den norwegischen Reichseiniger Haraldr hárfagri und Ludwig den Frommen zu Oláfr Tryggvason. Dabei wird Gestr vom Heiden zum Christen, indem er zunächst bei Ludwig die prima signatio (primsigning) empfangt und sich dann

22

A l l e Zitate Kap. 9.

Gests Erzählungen

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bei Ólafr - am Ende seines Lebens - taufen lässt. 23 Zwischen Ludwig und Óláfr, also zwischen prima signatio und Taufe, steht nun an auffalliger Stelle der Rückblick auf den Fluch der Nome. Dieser wird so mit der Taufe in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht, den das Symbol der Kerze noch verdichtet. Ein weiterer Effekt ergibt sich in narrativer Hinsicht. Indem nämlich die heidnische Vorausdeutung retrospektiv erzählt wird, kann sie sich strukturell nicht auswirken; ihre proleptische Qualität beeinflusst die Erzählstruktur nicht. Dies ist einer anderen Prolepse vorbehalten, die an der chronologisch .richtigen' Stelle steht und strukturelle Funktion übernimmt: Die Vorhersage des Königs im ersten Teil der Rahmenhandlung (Kap. 1), dass Gestr nicht lange ungetauft bei ihm bleiben werde, und deren Erfüllung durch die Taufe im abschließenden Abschnitt der Rahmenhandlung (Kap. 10) halten diese über die Binnenerzählung hinweg so zusammen, dass die Erzählung im Ganzen sich auf die Taufe Gests als ihr eigentliches Ziel zubewegt. Die Erklärung für dieses Arrangement liegt auf der Hand: Der ordo des Nornagests páttr ist von einem festen Standpunkt in der christlichen Gegenwart aus organisiert. Dies impliziert eine hierarchische Struktur, in der die Darstellung der heidnischen Zeit auf die untergeordneten Erzählebenen .ausgelagert' werden kann, so dass sie von der Schilderung der christlichen Gegenwart strukturell stets in doppelter Weise abhängig ist: indem sie als Rückwende aufgefasst und als Figurenrede ausgegeben wird. An der Textoberfläche wird die strukturelle Unterscheidung der beiden Zeitebenen als Erzählung in der Erzählung realisiert und als Auftritt eines Erzählers am Königshof inszeniert. Nicht nur ist die Figur Gests mit allen Attributen des .professionellen' Erzählers versehen - er spielt Harfe und hat ein Repertoire von Geschichten und Liedern, aus dem er zur Abendunterhaltung vorträgt - , 2 4 auch die Binnenerzählung selbst ist so angelegt, dass sie den Vorgang des Erzählens transparent macht: Ihr zweiteiliger Bau entspricht Gests Auftritt an einem Abend (Kap. 3-7) und dem folgenden Morgen (Kap. 810). Während der Erzähler den ersten dieser beiden Abschnitte in einem Zug ungestört vorträgt, wird er im zweiten immer wieder von Fragen der Zuhörer

Zur prima signatio vgl. EINAR MOLLAND: Primsigning. In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder 13 (1968), S. 439-444. Vgl. Kap. 1 : konungr sp(vrdi) G(est). ertv nockvl iprotta madr. hann qvaz leika horpv edr s(egia) sogv s va at gaman fotti at. („Der König fragte Gestr: .Besitzt du irgendwelche Fähigkeiten?' Er antwortete, er könne Harfe spielen und unterhaltsam erzählen".) Dass er auch Lieder vorzutragen versteht, beweist er durch die Wiedergabe von Reginsmal und Helreid Brynhildar; zudem heißt es: ok sid vm kvelldit tekr G(estr) hçrpu sina ok slçr vel ok lengi sva at Qllvm pickir vnad a at heyra ok slçr po Gvnnars slagí bezt. ok at lyktvm slçr hann Gvdrvnar brogd in fornv. pav hQfdv menn eigifyri heyrt („Und spät am Abend nimmt Gestr seine Harfe und spielt gut und lange, so daß es allen ein Vergnügen ist zuzuhören. Doch den Gunnarsslag spielt er am besten. Und zum Schluß spielt er die Guörunarbregö en forna. Diese hatten die Männer noch nicht gehört", Kap. 2).

310

Julia Z e m a c k

- des Königs und seiner hird - unterbrochen, die sich durchaus nicht einig sind, was eigentlich erzählenswert sei: pa s(ggdv) hird menn konvngs. gaman er fretta ok segdv en fleíra. konvngr mfçllti). eigi er navdsyn at s(egia) fleira fra slikvm hlvtvm „Da sagten die Gefolgsleute des Königs: ,Das ist unterhaltsam. Erzähle mehr davon.' Der König sprach: ,Es ist nicht notwendig, mehr von solchen Dingen zu erzählen'" (Kap. 8). Ebenso sorgfältig ausgemalt wie die Erzählsituation und die Figur des Nornagestr als Erzähler ist die Wette über die Qualität des Goldes als Erzählanlass (Kap. 2). Auffällig ist zudem die Frequenz narratologischer Termini, die immer dann ansteigt, wenn Gestr anfängt zu reden. So heißt es schon vor Beginn der Binnenerzählung (Kap. 2-3): konvngr s(agdi) Jja. Nv vil ek G(estr) at (sv segir hvadan JJV fekt gvll Jjat er {DV ferr med. G(estr) s(varar). travdr em ek f>ess (jviat |jat mvn flestvm {sickía otrvligt er ek segi {Dar til JJO skalltu nv segia s(egir) konvngr ok mvn Jjat vel fallit med T>vi at JDV hezt mer S Q g v fn'nni. G(estr) s(varar). ef ek segi ydr hversv farit er vm gvllit \)a get ek ¡Dess at J)er vilit her med heyra adra S Q g v . vera ma }>at s(egir) konvngr. [...] Jja mvn ek segia fra Jjvi er ek for svdr j Frakland. [Da sagte der König: ,Nun will ich, Gestr, daß du erzählst, woher du das Gold bekommen hast, das du bei dir trägst.' Gestr antwortet: ,Ungern tue ich das, denn es wird den meisten unglaubwürdig vorkommen, was ich erzähle.' .Dennoch sollst du jetzt erzählen', sagt der König, ,und das ist auch in Ordnung, da du mir deine Erzählung versprochen hast.' Gestr antwortet: ,Wenn ich euch erzähle, was es mit dem Gold auf sich hat, dann vermute ich, daß ihr weitere Geschichten hören wollt.' ,Das mag sein', sagt der König. [...] ,Dann werde ich davon erzählen, wie ich südwärts nach Frakkland zog.'] Nachdem Gestr die Herkunft des Goldes erklärt hat, lenkt der páttr mit einem ähnlichen Dialog zur Rahmenhandlung zurück, bevor Gestr erneut zu erzählen beginnt (Kap. 7-8): Olafr konvngr m(çllti). Gaman mikit (jickir mer at SQgvm ¡jínvm. lofvdu nv allir frasagnir hans ok frçkleik. villdi konvngr at hann s(egdi) miklo fleira vm at bvrdi ferda sinna. sagdi G(estr) {>eim marga gamansamlíga hlvti [...] konvngr [...] verdr t>v at s(egia) S Q g v adra sva at ver verdim sannfrodarí vm slika at bvrdi. G(estr) s(varar) {Da. vita Jjottvmz ek ]Dat fyrir at ¡Der mvndvt heyra vilía adra s(Qgv) mina ef ek segda vm gvllít hversv farít veri, konvngr m(çllti). segia skalltv vist. [...] J)at er nv en at segfa. s(egir) G(estr)... [König Olaf sagte: ,Deine Geschichten scheinen mir sehr unterhaltsam zu sein.' Nun lobten alle seine Berichte und Taten. Der König wollte, daß er noch viel mehr von den Ereignissen auf seinen Fahrten erzählte. Gestr erzählte ihnen viele unterhaltsame Dinge. [...] Der König sprach: ,[...] Erzähle noch andere Geschichten, so daß wir mehr über diese Ereignisse erfahren.' Gestr antwortet da: ,Das wußte ich vorher, daß ihr weitere Geschichten würdet hören wollen, wenn ich erzählte, was es mit dem Gold auf sich hat.' Der König sagte: ,Gewiß sollst du erzählen.' [...] ,Nun ist davon zu erzählen', sagt Gestr...]

Gests Erzählungen

311

Auch im Laufe seiner Erzählung weist Gestr eigens darauf hin, dass er erzählt («ν er at segía fra fivi , jetzt ist davon zu erzählen", Kap. 5), und noch der allerletzte Satz des fiättr resümiert genau dies: fiotti konvngi ok mark at sogvm hans. ok fiotti sannaz vm lifdaga hans sva sem hann sagdi „Dem König erschienen seine Erzählungen bedeutungsvoll, und er hielt es fur wahr, was jener über seine Lebenszeit erzählt hatte". In die gleiche Richtung deuten die Kapitelüberschriften. Ganz besonders gilt dies für die Fassung der Flateyjarbök, in der die Überschriften etwa lauten: Frasogn Gestz, Saga Gestz, Gestr sagdi fra Starkadi, Gestr sagdi fra Sigurdi, Gestr sagdi fra Brynhilldi ok gygi „Gests Erzählungen", „Gests Geschichte", „Gestr erzählte von Starkaör", „Gestr erzählte von Sigurör", „Gestr erzählte von Brynhildr und der Riesin". 25 So wird - nicht zuletzt durch Gests wiederholten Hinweis, dass eine Erzählung weitere nach sich ziehe - eine Tendenz erkennbar, dem Erzählten (der Handlung) das Erzählen selbst (die Narration) als Thema an die Seite zu stellen. Es ist festzuhalten, dass durch die Schichtung der Erzählebenen Vergangenheit und Gegenwart, heidnische und christliche Zeit strukturell gewissenhaft auseinander gehalten werden, bis Gests Lebensrückblick die Gegenwart erreicht und er Christ wird. Jedoch weist die Erzählung auch Elemente auf, die sich diesem Arrangement nicht fugen, weil die Grenze zwischen heidnischer Vergangenheit und christlicher Gegenwart für sie irrelevant ist. Zu ihnen gehören die Gegenstände, die Gestr zur Beglaubigung seines Berichts aus der Vergangenheit gewissermaßen mitgebracht hat - die Sattelspange, das Pferdehaar, Starkaös Backenzahn und die Kerze. Vor allem aber ist es die Figur des uralten Erzählers, die den Abstand zwischen den Zeiten überbrückt und so die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geradezu verkörpert. Es lohnt sich daher, die spezifischen Merkmale, mit denen der Erzähler Nomagestr als Figur ausgestattet ist, noch genauer in Augenschein zu nehmen.

V. Der Unbekannte, der an den Königshof kommt, nennt sich Gestr, und der Text macht daraus ein Wortspiel, indem er gestr abwechselnd als Eigennamen und als Appelativum „der Gast", „der Fremde" verwendet. Im Nominativ Plural gestir - ist das Wort in Norwegen außerdem auch eine Bezeichnung für einen Teil der königlichen Gefolgschaft gewesen,26 und es heißt ausdrücklich, dass der „gekommene gestr" {en komní G(estr)) seinen Platz auf der Bank der gestir habe. 27 Wenn der König seinen Gast mit den Worten begrüßt: Gestr muntu her 25

Flateyjarbók (Anm. 11), Bd. 1, S. 349, 351, 353, 354.

26

V g l . CIPOLLA ( A n m . 13), S. 5 0 f f .

27

Vgl. v.a. die Häufung dieser Anspielungen in einer Passage in Kap. 2: a gesta beck.Jyrir Gest en okvnna...a beckinn gestanna...G(esti) envm komna... ord gestanna ..en komní

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uera huersu sem pu hœitir „Ein Gast wirst du hier sein, so wie du heißt", so dürften alle diese Bedeutungen mitschwingen. Gestr jedenfalls fühlt sich dadurch veranlasst, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass er seinen Namen genannt habe, und zwar wahrheitsgemäß: satt segi ek til nafnns mins2i Das Wortspiel deutet an, dass die Identität des Besuchers prekär und sein Name womöglich ein Deckname ist. Als solcher aber ist Gestr einer der zahllosen Namen des heidnischen Gottes Oöinn,29 der ihn trägt, wenn er, der Wanderer und Gestaltenwechsler, unerkannt die Menschen aufsucht. So ist es vor dem Hintergrund der oben referierten Gestr-Episoden unverkennbar, dass Nornagestr Züge Oöins aufweist.30 Er wird also - zumindest indirekt - als mythologische Figur ausgegeben. Vermutlich stammt jedoch das Vorbild, nach dem die Gestalt des dreihundertjährigen Helden gemodelt ist, nicht aus der norrönen Mythologie. Schon 1 9 2 5 hat Friedrich PANZER darauf aufmerksam gemacht, dass im 13. Jahrhundert in den Chroniken des Kontinents eine Nachricht kursiert, nach der ein Waffenträger Karls des Großen, der bis in das zwölfte oder dreizehnte Jahrhundert hinein gelebt habe, öffentlich in Erscheinung getreten und kurz darauf gestorben sei. Zuvor habe er, so heißt es etwa für 1231 von einem Hoftag Friedrichs II. in Ravenna, von seinen Erlebnissen mit den berühmten Sagenhelden um Karl den Großen erzählt und die Wahrheit des Erzählten durch Beweisstücke von ungeheurer Größe erhärten können.31 Im Norden findet sich die Nachricht in den isländischen Annalen wieder, die das Auftreten und den Tod des Mannes auf das Jahr 1259 datieren, so z.B. die Annalen der Flateyjarbök vom Ende des 14. Jahrhunderts: Sua segir herra Folki erchidiakn at V p p s o l u m er sidan var t>ar erchibyskup Sturlu t>ordarsyni at Predikarar hefdi sagt h o n u m sua at a [jessu ari sa J)eir i Bryggiu i Flandr |)ann m a n n er k o m i n n var langt vtan or londum ok sagdi sua at hann hafdi jjionat Karlamagnusi konungi f o r d u m daga ok sagdi (Da dottur sina eiga stadinn i Bryggio er hann for af Franz. hann visadi [jar til fiar i m y r u n u m ok fanz ¡3at ok [sat kuat herra Folki ser hellz sagt at hann hefdi andaz litlu sidar i Kolni. 3 2

G(estr)...G(estr)

en okvnni...a

beckinn

gestir...en

komní G(estr)

(Norna-Gestspattr

[ A n m . 13],

S. 18). 28

D i e s e s Wortspiel nur in einer Redaktion; vgl. Norna-Gestspáttr

29

V g l . FALK ( A n m . 12), S. 13.

30

V g l . LEE M . HOLLANDER: N o t e s on the Nornagests

páttr.

( A n m . 13), S. 15, Apparat.

In: S c a n d i n a v i a n Studies 3 ( 1 9 1 6 ) ,

S. 1 0 5 - 1 1 1 ; s. auch HARRIS/HILL ( A n m . 11), S. 111. 31

FRIEDRICH PANZER: Zur Erzählung von Nornagest. In: V o m Werden des deutschen Geistes. Festgabe GUSTAV EHRISMANN. Hrsg. von PAUL MERKER/WOLFGANG STAMMLER, Berlin, L e i p z i g 1 9 2 5 , S. 2 7 - 3 4 , das Beispiel S. 31. Weitere B e i s p i e l e bei GASTON PARIS: L é g e n d e s du m o y e n age. Paris 1 9 0 3 , S. 187ff., der die Anekdoten in den Kontext der L e g e n d e v o m e w i g e n Juden stellt.

32

Flateyjarbôk regit,

( A n m . 11), Bd. 3, S. 5 3 3 . Derselbe Bericht auch in den Redaktionen der

der Skälholt-Annalen,

der Lögmanns-Annalen

und (für 1 2 5 8 ) der Oddaveria-Annalen\

Annales s.

313

Gests Erzählungen

[So sagt HerT Erzdiakon Fólki in Uppsala, der später dort Erzbischof war, d e m Sturla i>oröarson, W a n d e φ r e d i g e r hätten ihm berichtet, daß sie in diesem Jahr in Brügge in Flandern einen Mann gesehen hätten, der aus fernen Ländern gekommen sei und berichtet habe, daß er in alter Zeit Karl dem Großen gedient habe. Auch habe er gesagt, daß seine Tochter in Brügge wohnte, als er Frankreich verließ. Er gab dort einen Hinweis auf Geld in den Mooren, und das wurde gefunden. Und Herr Fólki sagte, ihm sei vor allem berichtet worden, daß jener w e n i g später in Köln gestorben sei.]

Die CWi/averi'a-Annalen fugen hinzu: sa hefur hlotid 400 ara ad wera „diesem war bestimmt, vierhundert Jahre alt zu sein."33 Diese bisher offenbar übersehenen Belege sichern die Verbreitung der Nachricht bis nach Island und stärken dadurch Panzers Auffassung, dass der Nornagests pättr auf diese Wanderanekdote zurückgehen könnte, die er dann „mit dem Meleagermotiv und einem dem Norden geläufigen Erzählungstyp vom Erscheinen Oöins bei nordischen Königen als Gestr" verbunden hätte.34 Mindestens einen weiteren Reflex der Anekdote überliefert die norröne Geschichtsschreibung im Tóka pàttr Tökasonar, auf dessen Ähnlichkeit mit dem Nornagests pàttr schon oft hingewiesen wurde.35 Allerdings ist zu bedenken, dass der weit gereiste Greis auch in germanischer Tradition gut belegt (und womöglich bereits in der Vorstellung vom Wanderer Oöinn alias Gestr wirksam) ist. Ein frühes Beispiel ist der altenglische Widsith,36 Die historiographischen Möglichkeiten, die das Motiv des langlebigen Helden bietet, macht sich jedoch erst im 14. Jahrhundert der Verfasser des Nornagests pàttr zunutze. So wie er das Motiv narrativ entfaltet, funktionalisiert er es im Hinblick auf seine Darstellung der Geschichte: Es dient ihm dazu, die vorchristliche Heldenzeit an die christliche Geschichte anzubinden. Dazu rückt er seinen Text ganz in den Kontext der heimischen mythischheroischen Tradition, setzt an die Stelle Karls des Großen „den vorzüglichsten aller Heerkönige [...] in heidnischer Zeit", Sigurör fáfnisbani, 37 und macht den langlebigen Helden als Gestr zu einer Odinsfigur. Denn vor allem in der eddiIslandske Annaler indtil 1578. Hrsg. von GUSTAV STORM. Christiania 1888, Nachdruck Oslo 1977, S. 134, 1 9 2 , 2 5 7 und 482. 33 34

35

Islandske Annaler (wie Anm. 32), S. 482. PANZER (Anm. 31), S. 33. PANZERS Vermutung, dass die Wanderanekdote über Vinzenz von Beauvais in den Norden vermittelt worden sein könnte (29), ist freilich entgegenzuhalten, dass die entsprechende Notiz im Speculum historíale gerade den Hinweis auf die Beweisstücke vermissen lässt: Eodem anno [1139] Ioannes de temporibus moritur, qui annis 34/. vixerat à tempore Caroli magnis cuius armiger fuerat. Buch 27, Kap. 16 im sog. Douai-Druck, Nachdruck Graz 1965. Z . B . W I L K E N ( A n m . 1 3 ) , C ; PANZER ( A n m . 3 1 ) , S. 3 3 - 3 4 ; HARRJS/HILL ( A n m .

11), S.

111;

WORTH ( A n m . 14), S. 53, A n m . 31. 36

37

Vgl. MARGARET SCHLAUCH: Widsith, Vithförull, and Some Other Analogues. In: PMLA 46 (1931), S. 969-987. var monnvm pat eigi o kvnnigt at S(igvrdr) heßr verit gofgaztr allra herkonvnga ok bezt at ser i heídnvm sid. Norna-Gests ¡)áttr (Anm. 13), Kap. 3.

314

Julia Zemack

sehen Wissensdichtung tritt der Wanderer Oöinn auch als Erzähler auf, der - inkognito - sein umfangreiches Wissen preisgibt und gewissermaßen im Erzählen seine eigentliche Identität gewinnt. Alle diese Lieder - Vajprüdnismäl, Grímnismál usw. - sind mehr oder minder offensichtlich als Rahmenerzählungen konzipiert. Das gilt auch fur Snorris Mythenreferat in der Gylfaginning, wo die mythologische Belehrung bekanntlich einer Art Göttertrias in den Mund gelegt wird, deren .Oberhaupt' den Odins-Namen Hárr trägt. Im Nornagests pättr ermöglicht es also die Odins-Camouflage des langlebigen Helden, den Text auch über seine Struktur an die mythologische Überlieferung anzulehnen. Alle Motive, die der pdttr von dort übernimmt - die Nornen hätte man hier noch hinzuzuzählen38 - lagern sich an die Figur des Gestr an. Er ist eine Odinsfigur, ohne dass diese indes im Sinne der Dämonenlehre als Teufelstrug demaskiert würde. Gestr wird vielmehr der religiöse Status des „verborgenen Heiden" (reyndar heidinn) zugeschrieben. Auch diesen erkennt der Bekehrer natürlich intuitiv: In der Nacht nach Gests Ankunft, als Olaf noch nicht mehr als den Namen des Besuchers weiß, sieht er in einer Art Wachtraum, wie ein Elf trotz verschlossener Türen in das Haus gelangt, in dem der König und seine Gefolgsleute schlafen. Auf seinem Weg von Bett zu Bett bleibt der Elf mit einer seltsamen Bemerkung bei einem der Schläfer stehen. Er sagt nämlich: jvrdu sterkligr lass er herfyrir tomv hvsi „Ein ungeheuer starkes Schloss ist hier vor einem leeren Haus", und verschwindet auf demselben Weg, den er gekommen ist. Anderntags stellt der König fest, dass die Worte des Elfen seinem neuen Gast galten, und er erkundigt sich nach dessen Identität. Dies fördert zunächst weitere Odin-Allusionen zutage.39 Doch dann stellt sich heraus, dass Gestr bereits die Primtaufe empfangen hat, fiir den König Anlass zu der schon zitierten Prophezeiung, dass Gestr sich nur kurze Zeit ungetauft bei ihm aufhalten werde. Ein Erzählerkommentar erklärt Óláfs Vision: Der Elf habe mit der Bemerkung von dem Schloss darauf angespielt, dass Gestr sich am Abend wie die anderen Männer der Gefolgschaft bekreuzigt habe, obwohl er im Verborgenen Heide sei. JOSEPH H A R R I S und T H O M A S D. HILL haben gezeigt, dass der Verfasser des Nornagests páttr auch dieses Charakteristikum seiner Hauptfigur aus kontinentaler Überlieferung entlehnt hat.40 Es geht auf eine der Wundererzählungen in den Dialogen Gregors des Großen zurück, von der eine norröne Fassung überliefert ist. Hier wehrt sich ein Jude gegen eine Schar von Dämonen mit dem Kreuzzeichen, woraufhin ihn der Anführer der Dämonen als leeres, verschlossenes Gefäß (vai vacuum et signatum bei Gregor, cer es par tomi oc Iqst in der

38 39 40

Vgl. BREDNICH (Anm. 16). Vgl. HOLLANDER (Anm. 30). HARRIS/HILL ( A n m 11).

Gests Erzählungen

315

altnordischen Übersetzung 41 ) bezeichnet. Damit aber weist die Vision des Königs ebenso auf das Ziel der Erzählung, Gests Taufe, voraus wie seine Vorhersage, dass Gestr nicht lange ungetauft bleiben werde. Sie thematisiert nämlich die im Mittelalter ganz geläufige Ansicht, dass der Mensch ein Gefäß oder Haus der Geister sei, das vor der Taufe geleert werden müsse, damit der Geist Christi einziehen kann. 42 In diesem Sinne befindet sich Gestr im Zustand des Katechumenen: Sein „inneres Haus" ist durch die prima signatio bereits frei von Dämonen, und da diese jederzeit wieder eindringen könnten, wie es schon bei Matthäus (12, 43-45) beschrieben wird, verschließt er es, indem er sich bekreuzigt. Der Bekehrer freilich erfasst diese Situation ebenso schnell, wie er sonst die List des Teufels durchschaut, und der intermediäre Zustand Gests, der im Heidentum nicht mehr und im Christentum noch nicht zu Hause ist, wird denn alsbald durch die Taufe beendet. Dass Gests langes Leben erst von diesem Ende her seine Bedeutung erhält, signalisiert wie der ordo artificialis des Textes auch das Symbol der Kerze. In ihm wird die Umdeutung des Nornenfluchs sinnfällig: Der Fluch ist zur Bedingung dafür geworden, dass Gestr durch die Taufe der Gnade Gottes teilhaftig werden kann. Auch wenn hier also wie in jeder Bekehrungsgeschichte teleologisch erzählt wird, gilt doch die besondere Aufmerksamkeit jenem Zwischenzustand, in dem Gestr sich vor der Taufe befindet. In diesem Zustand hat er anders als die Christen Zugang zu den Ereignissen der Heidenzeit, und das erlaubt es ihm, als Augenzeuge von ihnen zu berichten.

VI. Nun weichen Gests Erzählungen von dem Muster der eddischen Wissensdichtung thematisch insofern ab, als sie - im Stil der sogenannten Vorzeitsagas (Fornaldarsögur) - von Ereignissen der Heldensage berichten. Dagegen ist es in den Eddaliedern meist mythologisches Wissen, das Ööinn preisgibt. Davon ist der Stoff der Heldensage durch seinen Bezug auf historische Ereignisse zunächst grundsätzlich unterschieden. Freilich begegnet er gerade in der altnordischen Rezeption in mythisierter Form. 43 Diese charakteristische Verbindung von Heldensage und Mythos im skandinavischen Mittelalter reflektiert als bekanntestes Beispiel die Überlieferungsgemeinschaft von Götterliedern und Heldenliedern im Codex Regius der Lieder-Edda. Hier wird die Zusam41

Heilagra manna sögur. Fortadlmger o g Legender o m Helliger Maend o g Kvinder. Hfter g a m i e haandskrifter u d g i v n e af C.R. UNGER. Bd. I, Christiania 1877, S. 2 2 3 .

42

V g l . ANGENENDT ( A n m . 7), S. 4 6 8 .

43

V g l . KLAUS VON SEE: Germanische Heldensage. S t o f f e - Probleme - M e t h o d e n

Frankfurt

1 9 7 1 , S. 3 5 , der vermutet „daß wir es hier [...] m ö g l i c h e r w e i s e mit einer T e n d e n z zur nachträglichen Mythisierung der alten S a g e n s t o f f e zu tun haben."

316

Julia Zernack

mengehörigkeit der beiden Textgruppen durch die Wiederholung des Halbverses àr var aida „vor Urzeiten war es" zu ihrem Beginn noch unterstrichen.44 Damit sind beide - Götterlieder und Heldenlieder - als Vorzeitüberlieferung ausgewiesen. Und auch sonst erscheinen Mythos und Heldensage im Norden in eins gesetzt „als national-heidnische Vorzeitkunde."45 Schon um 1200 lässt sich dies bei dem dänischen Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus beobachten, und je jünger die Texte sind, um so mehr neigen sie offenbar dazu, die Sagenstoffe mythologisch anzureichern. Dies gilt auch fur die Binnenerzählung des Nornagests frättr: Sie kompiliert eine recht eigenwillige Auswahl von Heldensagenfragmenten, größtenteils aus dem Kontext der Völsungensage. Doch werden viele markante Züge des Stoffes gar nicht oder nur so kurz erwähnt, dass PAUL HERRMANN eine förmliche Desideratenliste aufstellen konnte; ihm fehlen die Vorgeschichte des Hortes, der Drachenkampf und die Tötung Regins, die Erweckung der Walküre, die Erwerbung Brynhilds durch Sigurd in Gunnars Gestalt, der Streit der Königinnen, das Gespräch an Brynhilds Bett, überhaupt die Ereignisse und Reden vor Sigurds Ermordung. 4 6

An der Textoberfläche liegt die einfache Erklärung für diese Lücken darin und das hat auch HERRMANN natürlich gesehen - , dass das überkommene Material konsequent an die Erzählsituation des Augenzeugen angepasst ist: Gestr erzählt von Ereignissen, die er miterlebt hat, und trägt nur hier und da etwas nach, was er vom Hörensagen weiß. Dadurch geraten die Proportionen seiner Erzählung ungleichmäßig, weniges wird verhältnismäßig ausführlich dargestellt, anderes als bekannt vorausgesetzt. Ein weiteres Kriterium für die Auswahl des Stoffes ist HERRMANN aber entgangen: der Bezug der Binnenerzählung auf die Rahmenerzählung. So stehen alle Figuren, die Gestr auftreten lässt, wie er selbst in irgendeiner Verbindung zu Oöinn, der götterentstammte Völsungenspross Sigurör ebenso wie der Odinsheld Starkaör und die Walküre Brynhildr. Auch den Gott Oöinn selbst lässt Gestr in die Geschehnisse eingreifen. Vor allem aber replizieren eben jene ausführlich erzählten Ereignisse Strukturmomente des Erzählrahmens: die Erzählsituation selbst sowie die eigentümliche Biografie des Nornagestr. Am deutlichsten wird dieser doppelte Bezug - auf Oöinn und die Erzählsituation der Rahmenhandlung - durch eine Episode hergestellt, die unverkennbar Gests Besuch bei König Olaf wiederholt: Auf der Schiffsreise zum Kampf gegen die Söhne Hundings sehen Sigurör und seine Leute während 44

45 46

Das Zitat Völuspä 31 und Helgakviâa Hundingsbana I 11 ; vgl. Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Hrsg. von GUSTAV NECKEL/HANS KUHN. 5. verbesserte Aufl., Bd. I: Text, Heidelberg 1983, S. 1, 130. VON SEE (Anm. 43), S . 54. HERRMANN ( A n m . 1 3 ) , S. 3 0 .

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eines Unwetters auf einem Felsvorsprung einen Mann stehen. Er bittet um Aufnahme und nennt sich - unter anderem - Hnikarr. Sie nehmen ihn an Bord, das Unwetter legt sich, und zwischen Hnikarr und Sigurör entwickelt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf der Fremde Sigurör mit gnomischen Versen in der Kriegskunst unterweist. Anschließend geht die Mannschaft an Land und besiegt, v.a. durch einen heroischen Zweikampf Sigurds gegen Lyngvi, die Hundingssöhne. Bis zu diesem Punkt folgt der Bericht mit geringen Abweichungen so wörtlich der Lieder-Edda, dass selbst Hnikars Erzählung im Ganzen aus einem Zitat der Reginsmál-Strophen 20-25 besteht. 47 Dann allerdings fugt Gestr etwas hinzu, das die Lieder-Edda nicht erwähnt: Der Fremde sei in der Nacht nach dem Kampf spurlos verschwunden und die Leute hätten ihn fur Oöinn gehalten: ok pa er lyzir vm morgininn var Hnikar horfìnn ok sazi eigi sidan. hyggia menn at par hafì Odínn verít (Kap. 5). Anders als Gestr in der Rahmenhandlung wird der Hnikarr der Binnenerzählung ausdrücklich mit Oöinn identifiziert, der Sigurör zum Sieg verholfen hat. Auch die zweite Erzählung innerhalb der Binnenerzählung besteht aus einem Heldenlied, Helreid Brynhildar (Brynhilds Heifahrt, Kap. 8). Dieses Zitat verdoppelt Gests Erzählung insofern, als das Lied einen Lebensrückblick enthält, der mit denselben Worten einsetzt wie die Erzählungen Gests: Ek muti segja „Ich werde erzählen". Auch von daher ist die Aufnahme gerade dieses Liedes in den Text keineswegs so unverständlich, wie man gemeint hat.48 Denn indem es ein zentrales Strukturmoment des páttr - das der metadiegetischen Analepse - wiederholt, lenkt es den Blick auf die semantische Funktion des formalen Arrangements. Überdies bestätigt das Lied - wie schon vorher die Reginsmál - die von Gestr behauptete Exzeptionalität Sigurös. 49 In Gests Erzählung kommt der Brynhild-Episode der Status eines Nachtrags zu seinen Erinnerungen an Sigurör zu. Von Brynhildr erzählt Gestr erst einen Tag später, etwas widerstrebend und nur auf ausdrücklichen Wunsch der Königsmänner, und während diese anschließend begeistert eine Fortsetzung verlangen, lehnt der König das ungeduldig ab: Es sei nicht notwendig, noch mehr von solchen Dingen zu erzählen; lieber wolle er von Gests Aufenthalt bei den Söhnen des Ragnarr loöbrok hören. Was Gestr dann von diesen mitzuteilen weiß, ist - anders als der Rückblick der Selbstmörderin Brynhildr - geeignet, die Überlegenheit des Christentums unter Beweis zu stellen. Es handelt sich dabei um eine merkwürdige und keineswegs zentrale Begebenheit aus der

4

Zu d e n A b w e i c h u n g e n v o m Text des C o d e x R e g i u s vgl. BERGUR T>ORGEIRSSON: Frân k a m p lust tili ö d m j u k h e t . R e g i n s m á l s a n p a s s n i n g tili N o m a g e s t s |játtrs s a m m e n h a n g . In: S a g a s a n d the N o r w e g i a n E x p e r i e n c e . Preprints d e r 10. Internationalen S a g a - K o n f e r e n z in T r o n d h e i m 3.9. A u g u s t 1997, S. 7 5 - 8 4 .

4>

EUGEN MOGK: G e s c h i c h t e der n o r w e g i s c h - i s l ä n d i s c h e n Literatur. 2. A u f l . S t r a s s b u r g 1904 ( G r u n d r i s s der g e r m a n i s c h e n Philologie), S. 641.

49

Norna-Gests páur (Anm. 13), Kap. 3 (s.o. Anm. 37), 4 und 8 (Str. 2 und 24).

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Ragnors saga lodbrókar. Man könnte sie ohne weiteres abermals als Auftritt Oöins interpretieren,50 würde man nicht durch König Óláfr eines Besseren belehrt: Als die Ragnarssöhne auf einem Kriegszug südlich der Alpen beschließen, Rom anzugreifen, begegnet ihnen ein seltsamer Fremder - in einer der beiden Redaktionen nennt er sich Sones51 - , und als der ihnen an zwei Paaren durchgelaufener Eisenschuhe demonstriert, wie weit der Weg nach Rom ist, verzichten sie auf den Angriff und kehren um. Der König kommentiert (Kap. 8): avdsynt var })at at heilagir menn j Roma villdv eigi yfir gang Jjeirra [)angat ok mvn sa andi sendr hafa verit af gvdligvm mçtti er sva skiptiz fieirra fyrir çtlvn at géra ecki illvirki j hinvm helgazta stad. [Es war offensichtlich, daß die heiligen Männer in R o m ihren Zug dorthin nicht wollten, und dieser Geist wird von göttlicher Macht gesandt worden sein, der ihren Entschluß so veränderte, daß sie keine Übeltaten in dieser heiligsten Stadt begingen.]

Schließlich wird in der Erzählung Gests auch seine eigene Lebensgeschichte kontrastierend wiederholt: Außergewöhnlich alt ist nämlich auch Starkaör Stórverksson, jener riesenhafte Krieger, der unerwartet in Gests Schilderung des Sachsenkriegs auftaucht (Kap. 6). Diese Figur, die man als „die sagenreichste und persönlichste Gestalt der dänischen Heldenwelt" beschrieben hat, stammt eigentlich aus einem anderen Kontext,52 und mit ihrer Einfügung in den Völsungenstoff greift der Verfasser bzw. Kompilator des Nornagests pàttr ungewohnt stark in sein Material ein. Indessen gibt es - wenngleich nur vereinzelt - Anzeichen dafür, dass man im Spätmittelalter auch sonst Sigurör und Starkaör einander gegenüberzustellen pflegte, nicht nur weil die Lautgestalt ihrer Namen das nahegelegt haben mag,53 sondern wohl auch weil man sie als gleichsam paradigmatische Vertreter der Heldenzeit empfand, deren einer in umso besserem Licht erschien, je übler der Ruf des anderen war. Bezeugt wird dies v.a. durch den Porsteins pättr skelks. Diese kurze humoristische Schilderung einer Jenseitsvision steht allerdings zumindest überlieferungsgeschichtlich und vielleicht auch textgeneso

Vgl. KLAUS VON SEE: Europa und der Norden im Mittelalter. Heidelberg 1999, S. 407. Die Episode in der Ragnors saga Kap 14 ( Völsunga saga ok Ragnors saga lodbrókar. Hrsg. von MAGNUS OLSEN, Kopenhagen 1906-08 [Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur

51

Zu einer möglichen Identität dieses Mannes HOLLANDER (Anm. 30), S. 110-111. Ausfuhrlich rekonstruiert bei AXEL OLRIK: Danmarks Heltedigtning II: Starkad den gamie og den yngre Skjoldungrakke. Kopenhagen 1910. Das Zitat aus: ANDREAS HEUSLER: Starkaör. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Hrsg. von JOHANNES HOOPS. Bd. 4, 1918, S. 276. Eine Parallele bietet der Tóka pâttr Tókasonar, der Hrólfr kraki und Hálfr als paradigmatische Vorzeithelden einander gegenüberstellt.

3 6 ] , S. 1 5 2 - 5 3 ) . 52

53

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tisch (s.u.) in Zusammenhang mit dem Nornagests pättr. In ihr berichtet ein Dämon - einst ein Gefolgsmann des berühmten Köngs Haraldr hilditönn - aus der Hölle, dass niemand die Qualen dort geduldiger ertrage als Sigurör fáfnisbani, während Starkaör so entsetzlich schreie, dass es den Teufeln allergrößte Pein bereite.54 Ein weiteres Zeugnis findet sich in den isländischen LögmannsAnnalen, nach denen um die Wende zum 15. Jahrhundert die typischen Hinterlassenschaften der beiden Helden an demselben Ort aufgefunden worden sein sollen; als Zeuge wird der Bischof von Skálholt Vilkin Henriksson (f 1405) genannt. Aufschlussreich ist der handschriftliche Befund: Er lässt vermuten, dass es die Erwähnung von Sigurôs gewaltigem Schwertgriff war - allein die Parierstange soll zehn Fuß lang gewesen sein - , die den Schreiber provozierte, unterhalb des Textes zusätzlich einen Hinweis auf Starkaös Zahn anzubringen, dessen Krone in Länge und Breite so groß wie eine Hand gewesen sei.55 Im übrigen verdient es hervorgehoben zu werden, dass die Relikte der Helden hier in einem Atemzug mit Marien-, Christus- und Johannesreliquien genannt sind! Im Porsteins pättr ist es der Überlieferungszusammenhang, in dem Annalen-Eintrag die Vorstellung von den überdimensionalen Relikten, die - obgleich .Starkaös Zahn' allein schon früher belegt ist56 - auf den Nornagests pättr zurückweist. Beide Zeugnisse legen daher den Gedanken nahe, dass die Zusammenstellung von Sigurör und Starkaör ihren Ausgangspunkt im Nornagests pättr haben könnte. Dann aber stellt sich umso nachdrücklicher die Frage, welche Absicht dessen Verfasser mit diesem Eingriff in sein Material verbunden haben könnte. Er aktualisiert damit einseitig einen Zug der Starkaör-Sagen, die in ihrer Vielfalt hier nicht rekonstruiert zu werden brauchen:57 Im Nornagests pättr ist

í4 55

Flateyjarbók (Anm. 11), Bd. 1,416. Vgl. OLRIK (Anm. 52), 216-219. Islandske Annaler (Anm. 32), S. 288: sa hann [Vilkin Henriksson] hiallted af sverdi Sigurdar Fofnes bana ok mœlitist honnum pa .x. fota langt enn kloten med kopar tok einnar spannar aptur af\ Hinzufügung von derselben Hand unterhalb des Textes: Par var oc taunn ersogd var ur Starkadi gamia, var hvn pverar handar a leingd oc breidd. fyrir vtan pat er j holldinv hafdi stadit.

56

Die erste Ewähnung von Starkaös Zahn Mitte des 13. Jahrhunderts in den Annales Ryenses, den Annalen des dänischen Klosters Ryd in Schleswig: Huius dens per Henricum Aïmœlthorp militem de Dacia in Teutoniam est portatus pro miraculo habens 6 pollices in magnitudine. Annales Danici medii asvi. Editionem nouam curauit ELLEN JORGENSEN. Kopenhagen 1920, S. 66. Weitere Parallelen aus der skandinavischen Überlieferung nennt CIPOLLA (Anm. 13), S. 67. Von einem Backenzahn als Relikt eines Riesen weiß schon Augustinus (De civitate dei. Buch 15, Kap. 9).

57

Dazu aber OLRIK (Anm. 52), HEUSLER (Anm. 52), und EDGAR C. POLOMÊ: Starkaö: Óñinnor t>órr-hero. In: Helden und Heldensage. Festschrift für OTTO GSCHWANTLER. Hrsg. von HERMANN REICHERT/GÜNTER ZIMMERMANN, Wien 1990 (Philologica Germanica 11), S. 267-285.

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Starkaör als hässlicher Goliath portraitiert,58 der, obgleich von gewaltiger physischer Überlegenheit, bereits die Flucht antritt, als er nur den Beinamen Sigurds hört. Das ist eine Anspielung auf den Mythos von Starkaör, der im ganzen nicht wiedergegeben wird. Vielmehr steht die Figur hier gleichsam als Abbreviatur ihres mythologischen Kontextes. Dieser ist in anderen Zeugnissen, bei Saxo (Bücher 6 und 8) und in der Gautreks saga, bewahrt.59 Nach der Gautreks saga hatte Starkaör, ein Zögling Oöins, sich einst die Feindschaft í>órs zugezogen. In der Folge waren die beiden Götter in einen Streit über Starkaös Schicksal geraten, und dabei hatte Oöinn jedem von sieben Flüchen í>órs eine positive Voraussage entgegengesetzt. So kommt es z.B., dass Starkaör drei Menschenalter lang lebt, jedoch in jedem Menschenalter ein Verbrechen begehen muss. Und während Oöinn ihm für jeden Kampf den Sieg verspricht, sorgt Pórr dafür, dass er stets eine grauenhafte Verwundung davonträgt.60 Genau darauf spielt der Nornagests páttr an: Sigurös Ruhm als Drachentöter lässt selbst den sieggewohnten Odinshelden Starkaör kampflos fliehen; eine schreckliche Wunde muss er allerdings trotzdem hinnehmen, da Sigurör dem Fliehenden unnötigerweise und ganz unheldenhaft die Zähne ausschlägt (Kap. 6): Starkadr m(çllti). hverr er Jjessi madr er mik lytir sva mÍQg j ordvm. S(igvrdr) s(agdi) nafn sitt. Starkadr m(çllti). ertv kalldr F(afnis) bani. sva er s(egir) S(igvrdr). Starkadr vili })a vndan leita. en S(igvrdr) snyr eptir ok fçrir a lopt sverdii Gram ok lamdí hann med hÍQlltvnvm tanna iaxlgardínn sva at or hrvtv íj íaxla.

[Starkaör sagte: ,Wer ist dieser Mann, der mich so sehr mit Worten schmäht?' Sigurór nannte seinen Namen. Starkaör sagte: .Wirst du der Drachentöter genannt?' ,So ist es', sagt Sigurör. Da will Starkaör entkommen, aber Sigurör setzt ihm nach und schwingt das Schwert Gramr in die Luft und schlug ihm mit der Parierstange gegen den Kiefer, so daß zwei Backenzähne herausbrachen.]

Damit erfüllt sich einer der Flüche, die auf dem langen Leben Starkaös liegen. Das lässt an den Zwist der Nomen an der Wiege Gests denken und an dessen hohes Alter als Auswirkung des Nornenfluchs. So ist Starkaör - der Inbegriff des üblen Heidenkriegers - gerade als eine ungleichartige Parallele zu Gestr konzipiert. Dies macht ein weiterer Fluch evident: Denn Starkaör hat

59 60

JAMES MILROY: Starkaör: An Essay in Interpretation. In: Saga-Book of the Viking Society 19 (1974-77), S. 118-138, hier S. 136. Zu den Quellen ausführlich OLRIK (Anm. 52). Gautreks saga Kap. 7. (Die Gautrekssaga in zwei Fassungen. Hrsg. von WILHELM RANISCH, Berlin 1900 [Palaestra XI]). Gegenüber Starkaör nennt sich Oöinn in der Gautreks saga übrigens Hrósshársgrani; dieser Odins-Name scheint im Nornagests pättr seinen Niederschlag gefunden zu haben in einem von den Gegenständen, mit denen Gestr seine Erzählungen beglaubigt: dem sieben Ellen langen Schweifhaar von Sigurös Pferd Grani (Kap. 7).

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zwar die Gabe, so schnell dichten wie sprechen zu können, ist aber verdammt, alles Gedichtete sofort wieder zu vergessen. 61 Um so plastischer tritt die Fähigkeit Gests hervor, sein dreihundertjähriges Leben aus dem Gedächtnis an zwei Tagen erzählend zu vergegenwärtigen. Was die Beispiele zeigen sollen: Die Auswahl des Stoffes fur die Binnenerzählung ist bestimmt von dem Bestreben, kontrastierende Parallelen zur Rahmenhandlung zu finden. Jedes der Heldensagenfragmente der Binnenerzählung reflektiert einen anderen Aspekt des Rahmens, wiederholt ihn als Ereignis der heidnischen Zeit. Durch das mythologische Motiv der Odinsfiguren werden Erzählrahmen und Binnenerzählung, christliche und heidnische Welt aufeinander bezogen und in ein quasi spiegelbildliches Verhältnis gesetzt. Darin gehört der Gestaltenwechsler Oöinn keineswegs einer längst überwundenen Vorzeit an. Allerdings ist die Möglichkeit seiner Vergegenwärtigung an eine besondere Situation gebunden: an das Erzählen. Gestr identifiziert sich im Erzählen, und er identifiziert sich dabei eben auch als Oöinn - das macht ja die Hnikarr-Parallele überdeutlich - , freilich als Oöinn unter den Bedingungen der christlichen Geschichte. Mit der Konstruktion der Rahmenerzählung vollzieht der Nornagests pättr also eine doppelte Bewegung: Einerseits wird der Bericht von der heidnischen Zeit erst dadurch überhaupt möglich, dass er formal - als eigene Erzählung - aus dem Verlauf der christlichen Geschichte herausgenommen ist. Andererseits wird auf diese Weise ein Vergleich von heidnischer und christlicher Welt denkbar. Den Spielraum dafür eröffnet die Erzählerfiktion, die Fiktion vom verborgenen Heiden Gestr. Denn die narrative Abgrenzung der heidnischen Vorzeit wird darin zur Bedingung fur eine Rezeption vorchristlicher Mythen, die den Bezug auf die christliche Welt nicht mehr scheuen muss. Diese Konzeption ist es, durch die der Nornagests pättr in einen so deutlichen Gegensatz zu jenen eingangs beschriebenen Episoden gerät, die das Nachleben der Heidengötter als Teufelsspuk inszenieren. Erklärungsbedürftig ist dies vor allem deshalb, weil beide Varianten der Mythenrezeption innerhalb desselben Textes tradiert sind, nämlich in der großen Saga von Oláfr Tryggvason.

VII. Die Olàfs saga Tryggvasonar en mesta ist eine historiographische summa. Als solche versammelt sie ältere Texte - mehr oder weniger alles, was an Material über den König zugänglich war - und arrangiert diese in spezifischer Weise neu. Ihre Struktur wird bestimmt durch eine große Zahl von Interpolationen, die den Haupttext - die Biographie Óláfr Tryggvasons nach dem Vorbild Snor-

Gautreks saga (Anm. 60), Kap. 7.

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ris - unterbrechen. Auch dabei handelt es sich zum größten Teil um ältere Texte; manche Einfügungen stammen aber von den Kompilatoren selbst. Diese waren sich der Besonderheit ihrer Arbeitstechnik wohl bewusst. Das belegt eine Anzahl poetologischer Kommentare. Häufig zitiert wird wegen ihrer Einprägsamkeit die folgende Fluss-Metapher: V J50 at margar rasöur ok fra sagnir se skrifadar ifiessu mali.*¡Dasr er eigi Jîickia miòk til heyra sògu Olafs konungs TryGva s(onar) ]sa fiarf Jjat eigi at vndraz. [Dviat sva sem rennandi vòtn fliota af ymissvm vpp sprettum. ok koma oll i einn staö niör. til fieirar sòmu likingar hafa gessar fra sagnir af ymisligv vpp hafi eitt endimark at ryöia til beira at buröa sem Olafr konungr verör viö staddr e(ör) menn hans. sva sem enn man synaz φ ν ί er eptir feR.62 [Obwohl nun in diesem Text viele Reden und Erzählungen geschrieben stehen, die nicht sehr zu der Saga von Olaf Tryggvason zu gehören scheinen, so braucht das nicht zu verwundern. Denn ebenso wie fließende Wasser verschiedenen Quellen entspringen und alle an der gleichen Stelle zusammenkommen, so haben diese Erzählungen von verschiedenem Ursprung ein Ziel: den Weg zu den Ereignissen zu bahnen, bei denen Olaf Tryggvason oder seine Männer anwesend sind, so wie es sich noch zeigen wird in dem, was folgt.]

Zu den „Erzählungen von verschiedenem Ursprung" gehören die pœttir, darunter jene kurzen Erzählungen, die wie der Nornagests pàttr durch ihre erzählerische Geschlossenheit den Eindruck erwecken, als seien sie ursprünglich als selbständige Texte entstanden. Als pœttir werden in der Olàfs saga Tryggvasonar en mesta aber auch Abschnitte umfangreicherer Sagas bezeichnet, die in die Olafsbiographie inseriert sind, und schließlich gibt es umgekehrt auch Einfügungen, die nicht als pœttir bezeichnet werden. Die Olàfs saga Tryggvasonar verdeutlicht ihre Struktur also nicht mit einer konsistenten narratologischen Terminologie;63 ebenso wenig lässt sich an dem Begriff pàttr ablesen, ob der Text, den er bezeichnet, selbständig entstanden ist oder als Bestandteil der ihn bewahrenden Saga. Diese Frage ist auch für den Nornagests pàttr nicht eindeutig zu beantworten. Was hingegen leicht zu sehen ist, ist das Netz von Textbezügen, das ihn mit anderen Bestandteilen der großen Saga verbindet. Daher lässt sich an diesem Beispiel gut beobachten, wie das Bedeutungspotential eines solchen pàttr sich nicht zuletzt aus seiner Position als ,Text im Kontext' speist. 62 63

Kap. 177 (Óláfs saga Tryggvasonar en mesta [Anm. 5], Bd. 2, S. 31 ). Dies möchte WORTH (Anm. 14) für die Fassung der Flateyjarbök wahrscheinlich machen. Zwar hat die eigentümliche Struktur der Olàfs saga Tryggvasonar en mesta in jüngerer Zeit hin und wieder Aufmerksamkeit auf sich gezogen; befriedigend beschrieben oder gar erklärt ist sie aber bis heute nicht. Vgl. CLOVER (Anm. 19); JORG GLAUSER: Vom Autor zum Kompilator. Snorri Sturlusons Heimskringla und die nachklassischen Sagas von Olav Tryggvason. In: Snorri Sturluson. Beiträge zu Werk und Rezeption. Hrsg. von HANS Fix. Berlin u.a., 1998 (Reallexikon der germanischen Altertumskunde: Ergänzungsbände 18), S. 34-43.

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So zeigt schon ein Blick auf die unmittelbare textliche Umgebung des Nornagests pättr in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, dass die narrative Geschlossenheit des Textes hier gezielt aufgebrochen worden ist: In allen Fällen nämlich ist der Nornagests pättr als Bestandteil eines Textpaares überliefert; ihm folgt der (deutlich kürzere) Helga páttr Pórissonar, und dessen Beginn ist in das erste (!) Kapitel des Nornagests pättr eingeflochten. Wir erfahren von zwei Besuchern am Königshof, die - ebenso wie die beiden Trinkhörner, die sie als Geschenke bei sich haben - den Odinsnamen Grimr (der Maskierte) tragen [...]. sva s(egia) menn at Jaessi Gestr kçmi til ok s(agt) at {seir menn kçmi til konvngs Glasis VQllvm. Jseir fçrdv konvngi horn ok Grima. Jjeir hofdv ok fleírí eyrendí til

Olafs konvngs a ííj ari Rikis hans. A t>vi ari er er Grimar n(efhdvz) ok sendir af Gvdmvndi af íj er Gvdmundr gaf konvngí. Jjav kollvdv f>eir Olafs konvngs sem sidan mvn sagt verda.

[Die Leute sagen, daß dieser Gestr zu Olaf im dritten Jahr von dessen Herrschaft gekommen sei. Es heißt auch, daß in diesem Jahr Männer zum König gekommen seien, die [beide] Grimr hießen und von Guömundr von Glxsisvellir geschickt waren. Sie brachten zwei Horner mit, die Guömundr dem König schenkte. Die nannten sie auch [beide] Grimr. Sie hatten noch weitere Nachrichten für den König, wie später erzählt werden wird.]

Auch auf der Ebene der Kompilation bewahrheitet sich mithin Gests Bemerkung, dass einer Erzählung weitere zu folgen pflegen! Nun sind aber die so verknüpften pcettir nicht direkt in die Olafsbiographie eingefugt. Ihr unmittelbarer Kontext besteht vielmehr aus weiteren inserierten Textstücken; in der Flateyjarbók sind es beispielsweise Passagen aus der Hallfreôar saga vandrœôaskàlds und der Fœreyinga saga sowie andere pœttir: [...]

Óláfs saga Tryggvasonar

(Kap. 267-271)

Hallfreöar saga (III)

(272-274)

Ögmundar fráttr dytts

(275-278)

Kjartans Jjáttr Óláfssonar (III)

(279)

Hallfreöar saga (IV)

(280-281 )

Nornagests J)áttr

(282-292)

Helga Jiáttr I>órissonar

(293)

Kristni j)áttr (III)

(294-295)

Fasreyinga saga (II)

(296-300)

Óláfs saga Tryggvasonar [...]

(301-306)

324

Julia Zernack

Über die eingefügten Texte hinweg ist der in Niöaros spielende Nornagests pàttr chronologisch mit der Olafs saga verbunden, und zwar mit jenen Kapiteln, in denen der König in den Tröndelag kommt (268), um dort zu missionieren (268/69), bzw. die Region wieder verlässt (301). Konzeptionell scheint der pàttr dagegen mit einer Anzahl weiter entfernt stehender Texte verknüpft zu sein. Auch diese reflektieren das Verhältnis der christlichen Geschichte zur heidnischen Vorzeit, und sie sind wie der Nornagests pàttr ausschließlich in der Redaktion D der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta überliefert. Die Redaktion D stellt gegenüber der „originalen Version" A eine Überarbeitung dar64 und ist ihrerseits in zwei Fassungen bewahrt. Die ursprünglichere von beiden (D1) überliefert die Handschrift AM 62, fol., eine noch weiter modifizierte die Flateyjarbók (D2), deren Text indes nicht unmittelbar auf D1 zurückgeht.65 Die Ólàfs saga Tryggvasonar en mesta liegt also - vereinfacht ausgedrückt - in den drei Bearbeitungsstufen A, D1 und D 2 vor. Der Nornagests pàttr ist in der zweiten dieser Etappen (D1) in die Kompilation aufgenommen worden. Die Anregung dürfte jene Geschichte vom Besuch Oöins alias Gestr bei König Olaf auf Ögvaldsnes gegeben haben, welche die Redaktion A (Kap. 198) aus ihren Vorlagen übernommen hatte: den Sagas über Óláfr Tryggvason von Oddr Snorrason (Kap. 43/33) und Snorri Sturluson (Kap. 64). Oddr und Snorri interpretieren Oöins Auftritt vor dem König jedoch verschieden. Oddr deutet den Vorfall dämonologisch, als Teufelsspuk (konungr mœlti: Pat hygg ec at sia diofull havi vertí meó asionu Oöins „Der König sagte: Es scheint mir, dass dies der Teufel gewesen sei in der Gestalt Oöins"), Snorri euhemeristisch (Ρά segir konungr [...] par myndi verit hafa Oöinn, sä er heidnir menn hgfôu lengi à truat „Das sagt der König: Dort wird Oöinn gewesen sein, an den die Heiden lange geglaubt haben"). Der Kompilator der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta A erblickt darin jedoch offenbar keinen Gegensatz, denn er kombiniert die beiden Erklärungsmuster: hefir winr allz mann kyns fiandin sialfr brugpit aa sik aa seanu hins o dygga Oöins. pess er heiönir menn hafa langan tima truat aa ok ser fyrir gud haft „der Feind des ganzen Menschengeschlechts, der Teufel selbst, hat das Aussehen des treulosen Oöinn angenommen, an den die Heiden lange geglaubt und den sie als Gott verehrt haben". Im übrigen zeigt die Figurenrede des unheimlichen Besuchers schon in A - aber nicht bei Oddr und Snorri - die Neigung, sich als retrospektive Erzählung in der Erzählung (Genettes metadiegetische Analepse) zu verselbständigen. Es ist also durchaus denkbar, dass der Bearbeiter von D1 mit dem Nornagests pàttr diese Anregungen aus A konkretisiert hat. Damit aber erweiterte er Dazu ausführlich ÓLAFUR HALLDÓRSSON in der Einleitung seiner Ausgabe der Ólàfs saga Tryggvasonar en mesta (Anm. 5), Bd. 3, S. XVII-CCL, das Zitat S. CCX. Diese Modifikationen untersucht FINNUR JÓNSSON: Flateyjarbók. In: Annaler for Nordisk Oldkyndighed og Historie, ser. 3. 17 (1927), S. 139-190.

Gests Erzählungen

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die historiographische Konzeption der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, indem er der Olafsvita einen Text hinzufügte, der - ohne den ordo naturalis der Lebensbeschreibung zu stören - die Zeit vor Olafs Geburt (und der davor erwähnten Ereignisse) behandelt. Das kam der Tendenz der großen Sagas zur Summenbildung entgegen, weil es zeigte, wie Material über die fornöld in die Darstellung der christlichen Gegenwart einbezogen werden konnte. Genau diese Möglichkeit hat dann der Bearbeiter der Óláfs saga Tryggvasonar in der Flateyjarbók (D2), der (ausnahmsweise namentlich bekannte) Kompilator Jon í>órdarson,66 ergriffen. Er ergänzte zwei weitere pœttir mit Vorzeit-Stoff, die beide auf charakteristische Weise den Bezug zum Nornagests pättr suchen: den Sörla pättr (Kap. 228-236) und den schon genannten Porsteins pättr skelks (Kap. 3 3 3).67 In Verbindung zum Nornagests pättr geraten die beiden Erzählungen durch bestimmte auffällige Motive: Im Sörla pättr ist es der nicht endende Hjaôningavig „Hjadningenkampf, der die Zeiten bis zur Herrschaft Óláfr Tryggvasons überbrückt wie im Nornagests pättr die Figur des alten Erzählers: Högni und Heöinn ist es von Oöinn auferlegt, solange gegeneinander zu kämpfen, bis ein Christ und Gefolgsmann Óláfs dem Kampf - nach 143 Jahren - ein Ende macht. Diese Adaptation eines älteren Motivs - vom Hjadningavig wissen auch Snorri und Saxo - dürfte ihren Ausgangspunkt in der Rezeption des Nornagests pättr haben. Denn die Verbindung mit Óláfr Tryggvason ist Zutat des Sörla pättr. Im Porsteins pättr ist es die schon erörterte Zusammenstellung der Vorzeithelden Sigurör und Starkaör, die den Text nachgerade wie ein Echo des Nornagests pättr wirken lässt. Tatsächlich könnte er als eine Art Epilog zum Nornagests pättr verfasst worden sein,68 denn er trägt ja nach, wie es den großen Helden in der Gegenwart - zu Lebzeiten Óláfr Tryggvasons - ergeht, nachdem der Nornagests pättr sie als Protagonisten einer vergangenen Welt - vor der Geburt des Königs - hatte auftreten lassen. Man könnte in diesem Zusammenhang auch noch den Tóka pättr nennen; ihn fügte Jon f>0röarson in die Oläfs saga helga ein, die in der Flateyjarbók unmit66

Zur Entstehungsgeschichte der Flateyjarbók vgl. ÓLAFUR HALLDÓRSSON: Á afrrœli Flateyjarbókar. In: Tímarit Háskóla Islands 2. 1 (1987), S. 55-62, wieder in: Grettisfaersla: Safn ritgeröa eftir ÓLAF HALLDÓRSSON. Hrsg. von SlGURGEIRR STEINGRÍMSSON u.a., Reykjavik 1990 (Rit 38), S. 196-214, und DERS.: Af uppruna Flateyjarbókar. In: NY saga 1 (1987), S. 8486, wieder in: Grettisfaersla: Safn ritgeröa eftir ÓLAF HALLDÓRSSON. Hrsg. von SlGURGEIRR STEINGRÍMSSON u.a., Reykjavik 1990 (Rit 38), S. 427-431.

67

Aufschlussreich ist die Plazierung der beiden Erzählungen: Der Sörla páttr steht mit einigem Abstand vor dem Nornagests páttr und schließt unmittelbar an jenes Kapitel 227 an, in dem Óláfr seine Bekehrungsabsicht öffentlich verkündet. Gleich darauf beschreibt der Sörla páttr die Schrecken, die das Heidentum den Menschen auferlegt. Dazu ELIZABETH ASHMAN ROWE: Sörla pättr. The Literary Adaptation of Myth and Legend. In: Saga-Book of the Viking Society 26 (2002), S. 63. Der t>orsteins páttr skelks folgt weit hinter dem Nornagests páttr. Analogien zwischen Sörla páttr und Nornagests páttr beobachtet auch JOSEPH HARRIS: Folktale and thattr. The case of RQgnvald and Raud. In: Folklore forum 13 (1980), S. 164.

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Dann aber unter Rückgriff auf weitere Vorbilder: vgl. OLRIK (Anm. 52), S. 217-219.

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telbar auf die Ólafs saga Tryggvasonar folgt und mit dieser (sowie weiterem Material) zu einem Großtext kompiliert ist. Der Tóka páttr wiederholt den Nornagests páttr, indem er abermals einen uralten, primgetauften Erzähler als Augenzeugen von der Heldenzeit berichten lässt, bevor er getauft wird und stirbt.

vni. Es ist offensichtlich, dass sich die jüngste der drei Bearbeitungsstufen der Ólàfs saga Tryggvasonar en mesta am stärksten für die heidnische Vorzeit interessiert und infolgedessen mehr mythologische Motive enthält als die anderen Versionen. Diese Tendenz ist zum einen wohl aus der spezifisch dynastischen Konzeption der Flateyjarbók zu erklären, die danach strebt, das norwegische Königshaus genealogisch in der Weltgeschichte und in der einheimischen Geschichte zu verankern.69 Dafür greift sie weit in vorchristliche Zeit zurück, und dies nötigt den Kompilator der beiden Olafssagas - unmittelbar vor Beginn der Ólàfs saga Tryggvasonar - das Verhältnis von heidnischen und christlichen Helden zu reflektieren.70 Zu diesem Zweck führt er als paradigmatische Figur eine christliche Version des weitgereisten Mannes ein,71 und mit diesem Eirekr viöförli vergleicht er die heidnischen Helden. Sie erwarte am Ende ihres irdischen Lebens für ihre Heldentaten zwar „großer Ruhm" (frcegd mykla) von den Menschen, für ihre Ungläubigkeit aber Bestrafung. Dagegen gebühre denjenigen, die auf Gott vertraut und für den christlichen Glauben gestritten hätten, „größeres Lob" (meira lof) und darüber hinaus das, „was das größte ist" (at mesi er): pat er at skilia eilijft riki med allzualldanda gude vtan enda „daß sie die ewige Herrschaft teilen mit dem allmächtigen Gott ohne Ende". Rhetorisch bringt der Kompilator hier die christlichen Helden zu denjenigen der Heidenzeit in ein Verhältnis sowohl des Gegensatzes als auch der Steigerung. Denn die antithetische Konstruktion seiner Äußerung (puiat po at heidnir menn...er pat mikill munr...en hinir sem gude hafa vnnat „denn obwohl die Heiden...ist das ein großer Unterschied...aber jene, die Gott geliebt haben") nimmt er mit der Gradation des Adjektivs mikill sogleich wieder zurück. In diesem Sinne handelt der Sörla páttr vom Fluch des Heidentums, der Nornagests páttr aber vom Ruhm der Vorzeithelden und der Porsteins páttr von ihrer Bestrafung, während die Olafssagas die Bekehrer preisen und die Kompilation

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Dazu s. JULIA ZERNACK: Hyndluliod, Flateyjarbók und die Vorgeschichte der Kalmarer Union. In: skandinavistik 29,2 (1999), S. 89-114. Flateyjarbók (Anm. 11 ), Bd. 1, S. 35-36. Und zwar durch die Aufnahme der Eireks saga vidförla in die Kompilation, s. Flat-eyjarbók (Anm. 11), Bd. 1,S. 29-35.

Gests Erzählungen

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der Flateyjarbók im ganzen das mit dem Tod Óláfs IV. Hákonarson (13701387) soeben ausgestorbene norwegische Königshaus. Zum anderen scheint aber das zunehmende Interesse an mythologischen Motiven der Entwicklung der Olàfs saga Tryggvasonar inhärent zu sein. Als summa tendiert sie von vornherein zur amplification2 und dazu dürfte der Nornagests páttr insofern beigetragen haben, als mit seiner Erzähltechnik Vorzeitstoffe an jeder Stelle - und nicht bloß genealogisch etwa am Anfang in das Gerüst der Königsbiographie integriert werden konnten. Auf diese Weise ließ sich die nordische Geschichte als ganze von der Bekehrervita her hagiographisch - deuten und zugleich auf die Figur des Missionars hin perspektivieren. Oláfr Tryggvason wird dabei offenbar auch als ein zweiter Sigurör imaginiert, der die üble Seite des Heidentums - die Starkaös, Regins, Fáfnirs und Lyngvis - immer schon besiegt hat. Die Vermutung, dass die Königsreihe des Nornagests pättr, die mit Sigurör beginnt, über den Begründer des norwegischen Herrscherhauses und Reichseiniger Haraldr hárfagri verläuft und mit Oláfr Tryggvason endet, so zu deuten sein könnte, ergibt sich aus der Lektüre des Eingangskapitels der Olafs saga Tryggvasonar en mesta. Dieses lässt nämlich in einer kurzen - und scheinbar unvollständigen - Genealogie Haraldr hárfagri mütterlicherseits von Sigurör abstammen. Unvollständig wirkt die Genealogie deshalb, weil zwar sowohl die väterliche als auch die mütterliche Abstammungslinie Haralds aufgenommen, jedoch nur wenige (nämlich drei bzw. sechs) Generationen zurückverfolgt wird. Deshalb kommt auffálligerweise gerade nicht zur Sprache, was die Geschichtsschreiber bis dato mit Haralds Abkunft verbunden hatten: die Abstammung des norwegischen Königshauses von den schwedischen Ynglingen-Königen über Haralds Vorfahren väterlicherseits. Genausowenig wird freilich die Herkunft der Dynastie aus dem Völsungengeschlecht erwähnt, welche die Ragnors saga lodbrókar mit Hinweis auf die mütterliche Abstammung Haralds propagiert hatte.73 Überhaupt scheint

Die ampliflcationes von D gegenüber A sind aufgeführt bei Ó L A F U R H A L L D O R S S O N , Óláfs saga Tryggvasonar en mesta (Anm. 5), Bd. 3, S. CCCXII-CCCXVI. Ihnen steht eine Anzahl von Kürzungen gegenüber, dazu ebd. S. CCCXVI-CCCXVIII. Weitere ampliflcationes enthält D 2 (Flateyjarbók) gegenüber D1; vgl. ebd. S. CCCXVIII-CCCXXIII, und F L N N U R J Ó N S S O N (Anm. 65). - Mit aller Vorsicht versucht Ó L Á F U R H A L L D Ó R S S O N in den Überarbeitungen der Redaktion D eine Tendenz zu erkennen: Die Fassung könnte vom Kompilator des A-Textes selbst hergestellt worden sein, und zwar - da die Kürzungen oft nicht norwegische und die Erweiterungen norwegische Gegenstände beträfen - für den Export nach Norwegen. Denkbar sei aber auch, dass D auf Initiative eines aus Norwegen stammenden isländischen Bischofs entstand, z.B. Ormr Ásláksson, der von 1343-1356 Bischof von Hólar war (S. CCCX, Anm. 348, und S. CCCXV-CCCXVI). Ragnors saga Kap. 18 (Völsunga saga ok Ragnors saga lodbrókar [Anm. 50], S. 169); vgl. KLAUS VON SEE: Die kulturideologische Stellung der Völsunga saga ok Ragnors saga. In: DERS.: Europa und der Norden im Mittelalter [1994], Heidelberg 1999, S. 397-412.

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es an dieser Stelle weniger auf den Ursprung der Königsdynastie anzukommen als auf die Abstammung Haralds von Sigurör. Weiter reicht denn die genealogische Rekonstruktion auch nicht zurück: Der Begründer des Königsgeschlechts stammt hier nicht mit den Ynglingen oder den Völsungen von heidnischen Göttern, von Freyr oder Oöinn ab, sondern von jenem Vorzeithelden, den der Nornagests pättr viele Kapitel später - und noch stärker als schon vor ihm der Sammler der Eddalieder - idealisiert als die einmalige Verkörperung des Guten im Heidentum.74 Der Hagiograph vermeidet es also sorgfältig, den Bekehrerkönig in eine direkte Linie mit dem Heidentum zu stellen. Er umgeht die Legenden vom göttlichen Ursprung der mittelalterlichen Könige und greift statt dessen auf die emblematische Heldenfigur Sigurös zurück, deren Verbindung zu Oöinn er im Eingangskapitel noch verschweigt. Auf Sigurör wird Oláfr Tryggvason zudem nie unmittelbar bezogen: In der Genealogie ist er mit ihm nur über das Zwischenglied des Reichseinigers verbunden, im Nornagests pattr erlebt er Sigurör als Protagonisten einer Erzählung. Erst dabei wird nun Sigurös Abstammung aus dem Völsungengeschlecht ausdrücklich erwähnt, und erst hier kommt auch Oöinn ins Spiel, der Sigurör im Kampf gegen die Söhne Hundings beisteht. So gelingt es dem Hagiographen, in der Diskontinuität des Glaubenswechsels Momente kultureller Kontinuität festzuhalten: indem er vorchristliche Mythen als Erzählstoff in die Bekehrervita aufnimmt.

IX. Unzweifelhaft ist ein distanzierendes Moment im ordo narrationis die Voraussetzung dafür, dass der Nornagests páttr im Kontext einer Bekehrungsgeschichte mythisch-heroische Themen zu aktualisieren vermag: Der Rückgriff auf den vorchristlichen Stoff wird als Erzählung regelrecht zur Schau gestellt und als Fiktion entblößt. Auf die authentische Wiedergabe überkommener Mythen zielt das so wenig wie auf die Rückgewinnung ihres ursprünglichen Sinnes: Der Verfasser, offensichtlich ein gelehrter Mann, rekurriert auf die norröne Überlieferung ebenso wie auf .Fremdes', und er zögert nicht, auch Lesefnichte aus der kontinentalen Literatur, selbst solche hagiographischer Provenienz, einheimischen Konventionen anzuverwandeln und einer neuen mythologischen Erzählung einzuverleiben. Deren Kohärenz verbürgt indes nicht der Mythos, sondern - im Wechselspiel mit dem Überlieferungskontext die literarische Gestalt.

Zur Überarbeitung der eddischen Sigurd-Figur im Nornagestspáttr

vgl. BERGUR T>ORGEIRS-

SON (Anm. 47), S. 80; zur Stilisierung Sigurös in der Lieder-£rfrfa s. WOLF (Anm. 4), S. 37ff.

MATÍAS MARTÍNEZ (Universität Wuppertal)

Episches Schreiben als inspiriertes Sprechen Zu einem Typus mythischer Rede am Beispiel von John Miltons Paradise Lost Beginnen wir mit einer Anekdote, die vielleicht nicht der Würde meines Themas angemessen ist, aber doch mit einer gewissen sachlichen Berechtigung in die folgenden Überlegungen einleiten mag. Vor einigen Jahren berichtete der Spiegel von einem besonderen Fall von Autorschaft. 1988 erschien in dem Wiener Verlag Edition S. das Donnerstagebuch von Lotte Ingrisch. Frau Ingrisch ist auch mit zahlreichen anderen Werken an die interessierte Öffentlichkeit getreten, darunter dem Reiseführer ins Jenseits: Vom Sterben, von Tod und Wiedergeburt (1984); zuletzt publizierte sie Der Himmel ist lustig. Jenseitskunde oder Keine Angst vor dem Sterben (2003). Als Mitautor des Donnerstagebuchs firmierte der ehemalige Wiener Kultur-Stadtrat Jörg Mauthe. Das Buch besteht aus einem Briefwechsel zwischen Ingrisch und Mauthe, die sich über einige Monate des Jahres 1987 hinweg einmal in der Woche, eben donnerstags, schrieben. Bemerkenswerter als diese doppelte Autorschaft ist der Umstand, dass Mauthe bereits 1986, also ein Jahr vor der Niederschrift, verstorben war. Lotte Ingrisch erklärt in der Einleitung zum Buch, Mauth habe ihr seine Briefe aus dem Jenseits zukommen lassen. Wie war das möglich? Frau Ingrischs Antwort lautet: „Sehr einfach, als Inspiration".1 Sie habe festgehalten, was ihr der Koautor aus dem Jenseits einhauchte. Ingrisch hob ausdrücklich den unverzichtbaren Anteil Mauthes am Zustandekommen des Werkes hervor: „Seine Diktate sind von hohem, mein eigenes Wissen übersteigendem Niveau".2 Ein Fall von inspirierter Autorschaft also. Damit ist die Bedeutung des Donnerstagebuchs jedoch noch nicht ausgeschöpft. Der Sohn des verstorbenen Stadttrats und Jenseitsautors, Philipp Mauthe, zog eine verblüffende Konsequenz aus Ingrischs Erklärungen: Er klagte 1991 vor einem Wiener

LOTTE INGRISCH/JORG M A U T H E : D a s D o n n e r s t a g e b u c h . W i e n 1 9 8 8 , S . 1 6 .

Siehe ANON.: Das doppelte Lottchen. In: Der Spiegel 14 (1991), S. 231-234. Die Zitate stammen aus diesem Artikel. Obwohl der SpiegeZ-Artikel an einem 1. April erschien, gibt es das Donnerstagebuch wirklich.

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Bezirksgericht auf die ihm als Erbe zustehenden Honoraranteile. Das Gericht hatte somit die Frage zu klären: „Gibt es berechtigte Ansprüche auf ein Urheberrecht aus dem Jenseits?" Über den weiteren Verlauf des Verfahrens habe ich leider nichts in Erfahrung bringen können. Die Komik dieser kleinen Begebenheit entspringt dem Umstand, dass inspirierte Rede hier mit einem modernen Aspekt von Autorschaft konfrontiert wird, demzufolge der Autor als Urheber einen Rechtsanspruch auf sein Werk besitzt. Ihre Skurrilität zeigt an, wie fremd und unannehmbar inspirierte Autorschaft heute ist - zumindest in der Sphäre unserer .gepflegten Semantik' (LUHMANN). Das war nicht immer so. Die höchst wirkungsreichen antiken Modelle, die den Typus der inspirierten Rede geprägt haben, sind einerseits der poeta vates, andererseits die prophetischen Autoren der Bücher des Alten und des Neuen Testaments.3 Beide Modelle sind im Laufe der westlichen Literaturund Kulturgeschichte in vielfältiger Weise wirksam geworden - unter anderem im christlich-religiösen Epos, von den spätantiken Evangeliorum Libri des Iuvencus über Dantes mittelalterliche Commedia und Diego de Hojedas frühneuzeitliche Cristiada bis hin zu Klopstocks Messias. Der fur diese Gattung charakteristische inspirierte Redetypus lässt sich, so meine Grundthese, mit liturgischer Rede vergleichen. Die charakteristische Sprechhaltung des epischen Sängers steht in struktureller Analogie und in funktionaler Äquivalenz zu der liturgischen Kommunikation eines Priesters zu Gott einerseits und seiner Gemeinde andererseits. Religiöse Epen wie Paradise Lost gestalten, im Rahmen einer ,zerdehnten' Schriftkommunikation, eine Rede, die der mündlichen Predigt im Rahmen einer liturgischen Zeremonie analog ist, und zwar in zweifacher Hinsicht: Der epische Text dient einerseits als Partitur einer solchen liturgischen Kommunikation, die im Akt der Lektüre durch den realen Leser vollzogen werden soll. In seiner Binnenpragmatik liefert der epische Text aber auch die Darstellung einer liturgieähnlichen Praxis. Er modelliert textintern diejenige Rezeptionshaltung, die er textextern herstellen möchte. Der Autor stellt sich im Text selbst als Sprecher und seine Hörer als ideale Rezipienten seiner eigenen Rede dar. Der über den Text hinausgreifende, an den realen Leser gerichtete Geltungsanspruch des Werkes wird so durch die Selbstinszenierung des Autors vorgeprägt. Im folgenden geht es mir nicht um eine Untersuchung der inspirierten Redeform des christlich-religiösen Epos in besonderen historischen Kontexten, sondern um den Aufweis von allgemeinen strukturellen Gemeinsamkeiten der inspirierten Rede im religiösen Epos mit liturgischer Rede. Als Beispiel für diese Strukturbeschreibung dient mir John Miltons religiöses Epos Paradise Lost - ein Werk, in dem die beiden antiken Erscheinungsformen inspirierter 3

Siehe WERNER FRICK: Poeta vates. Versionen eines mythischen Modells in der Lyrik der Moderne. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von MATÍAS MARTÍNEZ, Paderborn u. a. 1996 (Explicatio 8), S. 125-162, hier S. 125-136.

Inspiriertes Sprechen

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Autorschaft, die des poeta vates ebenso wie die des biblischen Propheten, gleichermaßen aufgegriffen werden. (Dass die an Paradise Lost beschriebenen Merkmale für die Gattung des christlich-religiösen Epos insgesamt repräsentativ sind, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nur unterstellt, aber nicht ausgeführt werden.4) (1) Nur auf den ersten Blick scheint der christlich-religiöse Epiker von Vergangenem zu erzählen. Während der Erzähler im klassischen homerischen Epos von einem Geschehen berichtet, das durch „eine absolute Scheidelinie [...] von allen nachfolgenden Zeiten"5 getrennt ist, sucht der Bibelepiker das Heilsgeschehen intensiv zu vergegenwärtigen. Der Erzähler ist hier eher teilnehmender Beobachter als raunender Beschwörer des Imperfekts. Er tendiert eher zu einem simultanen als zu einem nachträglichen Erzählen. Der theologische Sinn dieser Erzählhaltung ergibt sich aus dem umfassenden Geltungsbereich der christlichen Heilsgeschichte, die vom Anfang der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag dauert und deswegen auch die Gegenwart des epischen Sprechers und seiner Leser umfasst. Auch wenn etwa die Handlung von Miltons Paradise Lost nur die alttestamentarische Geschichte der Schöpfung bis hin zum Sündenfall darstellt, so wird sie doch ausdrücklich im Rahmen einer eschatologischen Heilserwartung und mit ständigen Hinweisen auf den neugeschlossenen Bund des Neuen Testaments erzählt. Die eschatologische Perspektive rückt vor allem in den letzten beiden Büchern in den Vordergrund, wenn der Erzengel Michael Adam nach dem Sündenfall (der bereits in Buch 9 erfolgt, s. PL 9,780-833) in Form von Visionen (Buch 11) und Erzählungen (Buch 12) die Zukunft der Menschheit prophezeit: ,/ am sent / To show thee what shall come in future days / To thee and to thy offspring' (PL 11,356-8).6 Diese Vorausdeutungen umfassen sowohl Episoden des Alten wie des Neuen Testamentes und der nachfolgenden Geschichte bis hin zum Ende aller Tage: [...] so shall the world g o on, [...] till the day Appear o f respiration to the just, And vengeance to the wicked, at return O f him so lately promised to thy aid [...] thy saviour and thy Lord, [...] to dissolve 4

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Eine ausführlichere Darstellung gibt mein in Vorbereitung befindliches Buch: Autorität und Autorschaft im religiösen Epos: Dantes Commedia, Hojedas La Cristiada, Miltons Paradise Lost und Klopstocks Messias. MICHAIL BACHTIN: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: DERS.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von EDWARD KOWALSKI und MICHAEL WEGNER, Frankfurt a. M. 1989, S. 210-251, hier S. 223. Zitate aus Paradise Lost werden nachgewiesen mit der Sigle PL, Buch und Vers nach: John Milton: Paradise Lost. Hrsg. von ALAST AIR FOWLER, London 21998.

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Satan with his perverted world, then raise From the conflagrant mass, purged and refined, New heavens, new earth, ages of endless date Founded in righteousness and peace and love, To bring forth fruits, joy and eternal bliss. (PL 12, 537-551)

Das Merkmal der Gegenwärtigkeit gilt aber nicht nur für den .Gegenstand' (die materia), sondern auch für den .Zeitpunkt' des Erzählens.7 Obwohl der epische Text als Buch eine zerdehnte, schriftliche Kommunikation zwischen Autor und Leser aufspannt, verwendet er typische Elemente einer konzeptionellen Mündlichkeit (Invokationen, Apostrophen, Exklamationen, Gebete, präsentisches Erzählen). Er simuliert damit eine Situation, in der die Kommunikationspartner, als Sprecher und Hörer, kopräsent sind. Diese inszenierte Oralität lässt den Text zur Partitur einer rituellen Kommunikation werden, die der Leser zu realisieren hat. Eines der wichtigsten gattungsspezifischen Verfahren fur die Simulation von Mündlichkeit ist der Musenanruf. Die vier Invokationen in Paradise Lost konstituieren die Binnenpragmatik von Paradise Lost. Sie betten den Text in den Rahmen einer komplexen mündlichen Kommunikationssituation ein, in welcher der Erzähler als Sänger auftritt und zum Sprachrohr der angerufenen Muse wird. Die dichterische Rede erscheint als ein aktuell ablaufender Prozess, in dem der Zeitpunkt der Produktion und der Zeitpunkt der Rezeption durch die Kopräsenz von Sprecher und Hörer zusammenfallen. So heißt es etwa in der Invokation des siebten Buches: „Half yet remains unsung" (PL 7,21). Damit wird hier, in der Mitte des Buches, impliziert, dass nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion der dichterischen Rede von Paradise Lost erst zur Hälfte erfolgt ist. Die binnenpragmatische Kommunikation von Paradise Lost suggeriert, dass dem Sänger seine Rede erst im Moment des Singens von der Muse eingegeben wird. Entsprechend heißt es in der Invokation des neunten Buches, die Muse inspiriere den Dichter zu Versen, die ihm selbst unbekannt seien: ,my celestial patroness [...] inspires / Easy my unpremeditated verse' (PL 9,21-24). Auf diese Weise wird im Rahmen der zerdehnten Kommunikation eines Schrifttextes die Kopräsenz einer mündlichen Kommunikationssituation inszeniert, in der Inspiration, Singen und Hören gleichzeitig stattfinden. (2) Für das religiöse Epos ist eine besondere Art der Kommunikation charakteristisch. Der epische Sprecher erscheint hier, analog zu der Rolle des Priesters im Gottesdienst, in einer doppelten Rolle: einerseits als privilegierter Vermittler' der Kommunikation zwischen Publikum und Gott, andererseits als ,TeilDer .Zeitpunkt d e s Erzählens' b e z e i c h n e t das zeitliche Verhältnis d e s Erzählakts z u m erzählten G e s c h e h e n ( v o r w e g n e h m e n d , gleichzeitig oder nachträglich), vgl. MATÍAS MARTÍNEZ/ MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie. M ü n c h e n 5 2 0 0 3 , S. 6 9 - 7 5 .

Inspiriertes Sprechen

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nehmer' dieser Kommunikation auf Seiten des Publikums. Der Text gestaltet zugleich eine Kommunikation zwischen den Gläubigen und Gott und eine Kommunikation zwischen Autor und Leser. Analog fuhrt auch der Priester in der liturgischen Kommunikation eine doppelte Rolle aus: Einerseits spricht er als Stellvertreter Christi zur Gemeinde, andererseits als Stellvertreter der Gemeinde zu Gott. Wie wir bereits gesehen haben, inszeniert sich Paradise Lost in den Invokationen als inspirierte Rede. Als Milton sein Epos schrieb, waren die poetologische Relevanz und der religiöse Status der Musen durchaus umstritten. Wie schon im Laufe der Antike hatte der Musenanruf auch in der italienischen Renaissance seine sakrale Geltungskraft verloren und wurde als leere Verkleidung eines selbstständig imaginierenden Dichters kritisiert. Dabei ging es weniger um das Problem, das die heidnische, von Homer und Hesiod geprägte Herkunft dieses Topos fur eine christlich zu legitimierende Dichtung aufwarf, als vielmehr um die grundsätzliche Ablehnung einer Inspirationspoetik zugunsten einer Autonomiepoetik. So hatte beispielsweise Lodovico Castelvetro die Musen als Illusionen fur naive Gemüter oder auch als Anzeichen von anmaßender Arroganz abgelehnt. (Es gab in der Renaissance freilich auch Gegenstimmen. Torquato Tasso verteidigte den Musenanruf als notwendige Autorisierung dichterischer Rede: Der Anruf einer christianisierten Gottheit schütze den Dichter vor dem Vorwurf des Stolzes und der Hybris.) Für Milton jedenfalls sind Werke gültig, weil und insofern sie von Gott inspiriert sind. In De Doctrina Christiana konstatiert er: The writings of the prophets, the apostles and the evangelists, since they were divinely inspired, are called THE HOLY SCRIPTURE* Die Invokation der göttlichen Muse soll fur Milton die religiöse Verbindlichkeit seines Epos gewährleisten und die Gefahr leerer Einbildungen bannen. Doch die Trennlinie zwischen wahrer Vision und falschem Traum (imagination) ist fein, und Täuschungen sind möglich, zumal wenn Satan am Werke ist. So wird Eves Traum im vierten Buch von Paradise Lost vom Teufel inspiriert und in einer Weise beschrieben, die die Nähe von Satans Verführungskunst zur Dichtung deutlich werden lässt. Assaying by his devilish art to reach The organs o f her fancy, and with them forge Illusions as he list, phantasms and dreams, Or if, inspiring venom, he might taint The animal spirits that from pure blood arise Like gentle breaths from rivers pure, thence raise At least distempered, discontented thoughts, JOHN MILTON: De Doctrina Christiana. Übers, von JOHN CAREY. In: J.M.: Complete Prose Works. Hrsg. von DOUGLAS BUSH u.a. 8 Bde., New Haven 1953-82. Bd. 6, S. 574 (= Buch 1, Kap. 30).

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Vain hopes, vain aims, inordinate desires Blown up with high conceits ingendering pride. (PL 4,801-9)

Auch der Dichter von Paradise Lost begehrt von seiner himmlischen Muse, dass sein Gesang sich über den Bereich der Sterblichen und den Musenberg hinaus in den Himmel hebe (,My advent'rous song, / That with no middle flight intends to soar / Above the Aonian mount', PL 1,13-15), damit er von unsichtbaren Dingen erzählen kann: , that I may see and tell / Of things invisible to mortal sight ' (PL 3,54f.). Nicht durch die Vernunft {reason), wohl aber durch das niedere Vermögen der Einbildungskraft (fancy) kann das Böse Eingang in den Menschen finden. Das geschieht, wenn sich dieses Vermögen von der Aufgabe der genauen Repräsentation der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit löst und zur , mimic fancy' wird, die, etwa im Traum, wild work und ill matching words and deeds hervorbringt (PL 5,110-113). Derselben Gefahr, der Eve in ihrem Traum erliegt, ist der Dichter ausgesetzt, wenn sich seine fancy von der Darstellung wirklicher Dinge ab- und zu bloßen Phantasiegebilden hinwendet. Die von Milton mit Paradise Lost beanspruchte Geltung hängt gänzlich von dem Status des Werks als heiliger, göttlich inspirierter Text ab. Wäre Miltons Erzählung nicht inspiriert, käme ihr der Status eines satanischen Traumes zu und Milton wäre ein Scharlatan. In der Pragmalinguistik unterscheidet man, mit Bezug auf die Senderinstanz sprachlicher Äußerungen, die Funktionen addressor und speaker.9 Als speaker zählt derjenige, der fur den Gehalt der Äußerung verantwortlich zeichnet; der addressor ist derjenige, welcher die Äußerung verlautbart (z. B. ein Herold, der die Botschaft des Königs verkündet). Die beiden Funktionen können in einem Sprecher zusammenfallen, aber auch auf zwei verschiedene Träger verteilt sein. Im Sinne dieser Unterscheidung scheint es nahezuliegen, liturgische Kommunikation dergestalt zu rekonstruieren, dass der Priester als ,addressor' eine Rede rezitiert, deren eigentlicher ,speaker' Christus ist.10 Analog zu dieser liturgischen Unterscheidung erschiene der inspirierte Autor als Medium einer göttlichen Redequelle: Der epische Dichter wäre der addressor, seine göttliche Quelle der eigentliche speaker der epischen Rede. Dieser Unterschied lässt sich anhand von Miltons Verwendung des Wortes ,author' in Paradise Lost illustrieren. Satans Hybris besteht aus dem Irrglauben, sein eigener Autor zu sein. Satan: 'who saw / When this creation was? Rememberst thou / Thy making, while the maker gave thee being? / We know no time when we were not as now; / Know none before us, self-begot, selfraised / By our own quickening power [...] Our puissance is our own' (PL DELL HYMES: Foundations in Sociolinguistics. London 1 9 7 7 , S. 5 2 f f . 10

IWAR WERLEN: Ritual und Sprache. Z u m Verhältnis von Sprechen und Handeln in Ritualen. T ü b i n g e n 1 9 8 4 , S. 1 6 9 u. 128.

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5,856-861/864). Ein Symptom dieses frevelhaften Anspruchs auf autonome Autorschaft ist der irrige Glaube an die mögliche Diskontinuität der göttlichen Schöpfung, an eine creatio ex nihilo. In De Doctrina Christiana wendet sich Milton ausdrücklich gegen die Möglichkeit einer creatio ex nihilo. Er folgt hier Augustinus' Auffassung, der Wunsch, autonom zu existieren, sei die erste aller Sünden: „Was aber ist Hochmut anders als Streben nach falscher Hoheit? Denn das ist falsche Hoheit, vom Urgrund sich zu lösen, dem der Geist eingewurzelt sein soll, um gewissermaßen sein eigener Urgrund zu werden und zu sein. [...] nur die aus nichts erschaffene Natur konnte durch Verfehlung verdorben werden. Dass sie Natur ist, hat sie also daher, dass sie von Gott geschaffen ist, dass sie aber von dem, was sie ist, abfallt, daher, dass sie aus nichts geschaffen ist".11 Die Hybris einer creatio ex nihilo wird in Paradise Lost ausdrücklich auch auf die künstlerische Tätigkeit bezogen. Der Erzengel Michael verdammt gottvergessene Künstler: 'inventors rare, / Unmindful of their Maker, though his Spirit / Taught them, but they his gifts acknowledged none' (PL 11,610-2). Für Milton steht auch der literarische Autor in Gefahr, im verblendeten Glauben an die Autonomie seiner Imaginationskraft gottlose Werke zu schaffen. 12 Raphael warnt Adam: 'nor let thine own inventions hope / Things not reveal'd, which th 'invisible King, / Only Omniscient, hath supprest in Night, / To none communicable in Earth or Heaven ' (PL 7,121-4). Gerade das beansprucht aber der Sänger von Paradise Lost [to] 'see and tell / Of things invisible to mortal sight' (PL 3,54f.). Um sich gegen den Vorwurf der Häresie zu schützen, muss er seinen Text als inspirierten ausweisen und seine eigene Autorschaft abstreiten.13 Bloße Imagination ist in Paradise Lost des Teufels. His proud imaginations (PL 2,10) nennt der Erzähler abschätzig Satans Ideen. Nur das Faktum der Inspiration schützt Milton vor Häresie. Wären die Invokationen von Paradise Lost mit ihren Bitten um göttliche Inspiration nichts weiter als ein Topos oder Teile eines fiktionalen Diskurses, dann wäre Miltons Unternehmen gescheitert. Für seine Konzeption einer heiligen Poesie ist das religiöse Epos nur als inspirierter, nicht als imaginierter Text legitim. Allein die tatsächliche Inspiration unterscheidet Paradise Lost von einem häretischen Text. Paradise Lost ist entweder Gottes- oder Teufelswerk. Die Struktur der liturgischen ebenso wie der episch-religiösen Kommunikation ist allerdings etwas komplizierter, als ich sie bisher, mit Hilfe der Unterscheidung zwischen addressor und speaker, dargestellt habe. Den 11

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Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Übers, von Wilhelm Thimme, München 1977. Bd. 2, S. 183f. (= Buch 14, Kap. 13). Vgl. J O H N G U I L L O R Y : Poetic Authority. Spenser, Milton, and Literary History. New York 1983, S. 176. Vgl. J A N E T A D E L M A N : Creation and the Place of the Poet in Paradise Lost. In: The Author in his Work. Essays on a Problem in Criticism. Hrsg. von Louis L. M A R T Z / A U B R E Y W I L L I A M S , New Haven 1978, S. 51-69, hier S. 55; G U I L L O R Y (Anm. 12), S. 1-22.

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terscheidung zwischen addresser und speaker, dargestellt habe. Den Priester (und den epischen Sänger) lediglich als addresser einer Rede zu bestimmen, deren speaker eine göttliche Instanz ist - damit wäre die liturgische Funktion des Priesters (und analog diejenige des epischen Sprechers) nicht angemessen beschrieben. Der Priester ist nicht lediglich das Sprachrohr Christi, sondern verwandelt sich für die Dauer des liturgischen Geschehens in Christus. In Gestalt des „Priesters [steht] Christus selber am Altar", weil er der eigentliche Opferpriester ist, als dessen Stellvertreter der menschliche Priester agiert.14 Nur durch diese Verwandlung erhalten seine liturgischen Worte sakrale Kraft. Ein bloßer Rezitator wäre in der Messe etwa derjenige, der die Lesung (lectio) biblischer Texte vornimmt. Dafür ist in der Römischen Messe ein lector vorgesehen, der in der Regel nicht mit dem Priester (sacerdos) identisch ist. Dasselbe gilt, wie an Miltons Beispiel noch zu zeigen sein wird, für den epischen Sprecher. Der kommunikationsstrukturellen Analogie zwischen dem Priester in der Liturgie und dem Sprecher des religiösen Epos entspricht auf der Rezipientenseite eine Analogie zwischen der Aktivierung des Lesers und der aktiven Rolle der Gemeinde im Gottesdienst. In der Eucharistiefeier werden die Teilnehmer des Gottesdienstes zur Gemeinschaft der Gläubigen („unitas fidelium") zusammengeschlossen, wie Thomas von Aquin erklärt: „die Sache des Sakramentes [ist] die Einheit des mystischen Leibes, ohne die es kein Heil geben kann";15 „Die Eucharistie ist das Sakrament der kirchlichen Einheit, die danach betrachtet wird, dass die vielen ,eins in Christus' sind".16 Der theologische Sinn der Eucharistie schließt die Bindung an die Gemeinschaft der Gläubigen notwendig mit ein. Entsprechend ist auch die Rede des epischen Sängers nicht an ein anonymes Lesepublikum, sondern an das homogene Publikum einer gläubigen Gemeinde gerichtet: fit audience find, though few (PL 7,30). Die angemessene Rezeption des Epos setzt eine besondere Qualifikation voraus. In Eikonoklastes erklärt Milton: It is not hard for any man who hath a Bible in his hands to borrow good words and holy sayings in abundance, but to make them his own is a work of grace only from above}1 Diese Bemerkung gilt auch für das Projekt von Paradise Lost Um sich die materia des Sündenfalls individuell anzueignen (to make them his own), bedarf es der Hilfe Gottes. Denn die bloße Übernahme des biblischen Textes (good words and holy sayings) reicht 14 15

16

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JOSEF ANDREAS JUNGMANN: Missarum Sollemnia. 2 Bde. Wien 1948. Bd. 2, S. 253. Thomas von Aquin: S u m m a Theologica. Vollst., ungekürzte dt.-lat. Ausg. in 36 Bdn. Graz 1934ff. Bd. 30, S. 10 (lib. 3, quaest. 73, art. 3): [...] res sacramenti est unitas corpori mystici, sine qua non potest esse salus. Ebd., S. 297 (lib. 3, quaest. 82, art. 2, ad 3): [...] Eucharistia est sacramentum asticae, quae attenditur secundum hoc quod multi sunt, unum in Christo '. John Milton: Eikonoklastes. In: DERS.: (Anm. 8), Bd. 5, S. 264.

unitatis

ecclesi-

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nicht aus. Ein heiliger Text wird nach Milton erst dann als solcher rezipiert, wenn er zum Bestandteil einer liturgischen Kommunikation gemacht wird. Ohne diese pragmatische Bedeutungsdimension wäre die Heilige Schrift nur ein Text unter anderen. Auch Paradise Lost will auf diese Weise rezipiert werden. (3) Anders als in fiktionalen Texten ist im Epos die primäre Sprecherinstanz des Textes, der Erzähler, identisch mit dem realen Autor. Dieser Autorbezug wird im religösen Epos besonders betont, indem der Erzähler im Text seine Individualität akzentuiert - während im klassischen homerischen Epos der Erzähler anonym bleibt und einen eher kollektiven Charakter aufweist. So fügt Milton in den Text von Paradise Lost persönliche Eigenschaften ein. Besonders einen Aspekt seiner individuellen Existenz hat er offenbar als Zeichen seiner Auserwähltheit gedeutet - seine spätestens 1652, lange vor Beginn der Arbeit an Paradise Lost, eingetretene Blindheit. Sie war für seine zeitgenössische Reputation als prophetischer Autor nachweislich von großer Bedeutung. Milton erwähnt sie in Paradise Lost, um den sakralen Geltungsanspruch seines Epos zu beglaubigen. Schon in seiner politischen Streitschrift Defensio Secunda geht Milton ausführlich auf seine eigene Blindheit ein und macht sie zu einem zentralen Argument für seinen Autoritätsanspruch. 1660 erschien ein Milton feindliches Pamphlet mit dem Titel No Blinde Guides und dem Motto: If the Blinde lead the Blinde, Both shall fall into the Ditch.1* Solchen persönlichen Schmähungen entgegnete Milton, gerade wegen seiner Blindheit gelange er zu höherer Erkenntnis (intellectual vision): There is a certain road which leads through weakness, as the apostle teaches, to the greatest strength. May I be entirely helpless [...], provided that in m y shadows the light o f the divine countenance may shine forth all the more clearly. For then I shall be at once the weakest and the strongest, at the same time blind and most keen in vision. B y this infirmity may I be perfected, by this completed. S o in this darkness, may I be clothed in light. 1 9

Miltons Blindheit erschien ihm selbst als calling, als Zeichen göttlicher Berufung. Milton thematisiert seine Blindheit auch in Paradise Lost und verklammert auf diese Weise die Sprecherfigur des Epos mit dessen Autor: But cloud instead, and ever-during dark Surrounds m e [...]. So much the rather thou celestial light

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Abgedruckt in WILLIAM RILEY PARKER: Milton's Contemporary Reputation. New York 1971, S. 245-262. John Milton: A Second Defense. Übers, von HELEN NORTH. In: Ders. (Anm. 8), Bd. 4/1, S. 589f.

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Shine inward, and the mind through all her powers Irradiate, there plant eyes, all mist from thence Purge and disperse, that I may see and tell Of things invisible to mortal sight. (PL 3,45f./51-55)

Milton verstand seine Autorschaft als Auserwähltheit und seine Blindheit als ihr Zeichen. Die Partikularitäten seiner Person beglaubigten ihm selbst und anderen den moralischen und religiösen Geltungsanspruch seiner Werke. In der neueren Literaturwissenschaft unterscheidet man wie selbstverständlich zwischen faktualen und fiktionalen Texten.20 Auf der einen Seite stehen Geschichtsschreibung und Autobiographien, auf der anderen historische und Schelmenromane. Faktuale Texte sind Bestandteile einer realen Kommunikation: Ein realer Autor produziert einen Text, der (nicht nur, aber auch) aus Behauptungssätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und von ihm als authentische, wahrheitsheischende Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Bestandteile einer realen Kommunikation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind aber komplexer als faktuale. Sie gehören außer einer realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation an. Nur im Rahmen dieser zweiten Kommunikation entfalten die Sätze eines fiktionalen Textes behauptende Kraft. Wir machen den realen Autor eines fiktionalen Textes nicht für den Wahrheitsgehalt der in seinem Text aufgestellten Behauptungen verantwortlich, weil er diese Sätze zwar produziert, aber nicht behauptet - vielmehr ist es ein imaginärer Erzähler, der diese Sätze mit Wahrheitsanspruch vertritt. Die fiktionale Erzählung ist also sowohl Teil einer realen Kommunikation zwischen realem Autor und realem Leser als auch einer imaginären Kommunikation zwischen fitkivem Erzähler und imaginiertem Leser. Diese Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Texten wird üblicherweise als eine vollständige disjunktive Unterscheidung aufgefasst; Erzähltexte wären demgemäß entweder faktual oder fiktional. Die Vollständigkeit dieser Disjunktion ist aber im Hinblick auf das religiöse Epos fragwürdig. Der subjektive Sinn solcher Epen als Produkte inspirierter Rede lässt sich damit nicht angemessen erfassen. Milton setzt, wie wir gesehen haben, alles daran, damit Paradise Lost nicht als dichterische Fiktion, sondern als inspirierte Vision verstanden wird. In der ersten Invokation von Paradise Lost findet sich eine Stelle, die für die Kommunikationsstruktur des Textes bezeichnend ist. Der Sprecher bittet dort die Muse um Hilfe, damit er die Wahrheit der göttlichen Vorsehung behaupten könne: That [...] I may assert Eternal Providence

(PL l,24f.). Die Erzählerrede

von Paradise Lost wird somit als wahrheitsheischende Behauptung charakteri20

V g l . MARTÍNEZ/SCHEFFEL ( A n m . 7), S. 9 - 2 0 .

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siert. Es spricht alles dafür, diesen Sprechakt des Behauptens nicht nur dem (textinternen) Erzähler von Paradise Lost zuzuweisen, sondern diesen Erzähler auch mit dem Autor John Milton zu identifizieren. Muss man also Paradise Lost als einen faktualen Text verstehen? Ich meine, dass sich die Logik der inspirierten Rede in einer wichtigen Hinsicht von faktualer Rede unterscheidet. Faktuale Rede ist assertorische Rede: Sie besteht aus Sätzen, die wahr oder falsch sind. Assertorische Sätze können immer auch falsch sein. Die Rede des inspirierten epischen Sprechers ist aber notwendig wahr und besitzt damit eine mythische Qualität. Es gibt zwar auch in unserer nicht-mythischen Welt notwendig wahre Sätze, nämlich analytisch wahre Sätze, also Sätze, deren Wahrheit allein aus der Logik und den Regeln einer Sprache folgt (,Ein Schimmel ist ein weißes Pferd'). Aber die Wahrheit der inspirierten Rede geht über den tautologischen Bereich analytischer Wahrheiten weit hinaus. Der inspirierte Sprecher beansprucht für seine Aussagen eine Gültigkeit, deren unbezweifelbare Gewissheit durch den göttlichen Ursprung der Rede garantiert wird. In der entzauberten Welt der Moderne billigen wir eine solche Gewissheit nurmehr, im Rahmen der literarischen Fiktion, der Instanz eines allwissenden Erzählers zu. Der subjektive Sinn eines christlich-religiösen Epos wie Paradise Lost wird also nicht angemessen erfasst, wenn man es als einen faktualen Text versteht. Sein subjektiver Sinn gerät aber, wie gesagt, erst recht aus dem Blick, wenn man es als fiktional auffasst. Dies weitverbreitete Missverständnis religiöser Epen steht in einer langen Kette von Versuchen, inspirierte Texte in poetische umzudeuten. Das kann sich rächen. Bereits der Prophet Hesekiel musste sich dagegen wehren, dass seine Prophezeiungen vom Volk als bloße Dichtung oder als unverständliche Rätsel {parabolae) aufgefasst wurden: „Ach, Herr HErr, sie sagen von mir: Redet der nicht immer in Rätseln?" (Hes. 21:5). Der Herr aber tröstete Hesekiel damit, dass das Volk seine Missachtung der Mahnreden noch bitter bereuen werde. Er sagte zu seinem Propheten: Und du, Menschenkind, dein Volk redet über dich [...], und einer spricht zum andern: Kommt doch und laßt uns hören, was das für ein Wort ist, das vom HErrn ausgeht. Und sie werden zu dir kommen [...] und vor dir sitzen [...] und werden deine Worte hören, aber nicht danach tun, sondern ihr Mund ist voll von Liebesweisen, und danach tun sie, und hinter ihrem Gewinn läuft ihr Herz her. Und siehe, du bist für sie wie einer, der Liebeslieder singt, der eine schöne Stimme hat und gut spielen kann. Sie hören wohl deine Worte, aber sie tun nicht danach. Aber wenn es [i.e. das Prophezeite] eintrifft und fürwahr, es wird kommen! - so werden sie erfahren, daß ein Prophet unter ihnen gewesen ist. (Hes. 33:30-33).

ANDREAS LINDER (Universität Konstanz)

Register Das Register beschränkt sich auf signifikante Autoren und Werke der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur. Darüber hinaus sind die wichtigsten Mythostheoretiker getrennt erfasst. Mythostheoretiker JanAssmann 108,116-121,219 Roland Barthes 36f. Hans Blumenberg 5f., 13-15, 26, 27-29, 32, 38f., 40, 52, 59, 95, 96, 100, 114, 118f, 120, 136, 155, 158, 175,207-209, 229, 233, 243, 245, 298 Emst Cassirer 2-6, 13, 36-38, 59, 90f., 134f., 146, 157f., 200, 247, 254f., 258, 263, 265, 268, 273, 296 Mircea Eliade 101, 117f., 276, 294 René Girard 51,85,152 André Jolies 4-6,13,65,255, 257f., 269, 290 Claude Lévi-Strauss 26, 29, 137, 144, 192 Jurij M. Lotman 62, 258, 277 Clemens Lugowski 29, 32, 38, 157f., 162, 168, 173 Bronislaw Malinowski 185-187 Max Weber 86 Autoren und Werke Albrecht von Scharfenberg Jüngerer TitureI 132 Alsfelder Passionsspiel 77-80 Anegenge 76

Annolied 102-116,121-124, 127-129 Apokalypse Adams 41 Apokryphen 62-70 (siehe Nicodemus-Evangelium) 164 f. Apulejus Amor und Psyche 261 Asclepius 180, 182, 187, 193 Augustinus De Civitate Dei 187 Frau Ava Leben Jesu 74-76 Boethius De Consolatione Philosophiae 95 Carmina Burana 237f. Chanson du Chevalier au Cygne 131, 142, 143 Chrétien de Troyes Yvain 24,29,30 Cicero De natura deorum 179, 181, Clemens von Alexandrien Stremata 185 Couldrette Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan 84 Dream of the Rood 66-67, 69 Eckenlied 278-297 Edda Lieder-Edda 299f., 305, 315317 Prosa-Edda (Snorri Sturluson) 299

342 Enfances du Chevalier au Cygne 143 Enfances Godefroi 143 Flateyjarbôk (Sammelhandschrift) 303, 311313, 316f„ 323-327 FredegaT-Chronik 124-126 Frutolf von Michelsberg Weltchronik 126 Ulrich Fiietrer Buch der Abenteuer 132,141 Genesis 9-14,38,41,43,45-47 Gervasius von Tilbury Otia Imperialia 83, 248, 253, 259 Gesta Romanorum 68f. Gottfried von Straßburg Tristan 163f., 168f., 219-246 Gregor von Tours Historiarum Libri decern 125 Hartmann von Aue Iwein 259 Der arme Heinrich 19, 20-24, 26 Hermann von Carinthia De essentiis 193 Hermetica 180, 182, 185, 187, 189f., 193 Herzog Ernst 206 Honorius Augustodunensis Gemma animae 71-73 Innsbrucker Osterspiel 80f. Jacobus de Voragine Legenda aurea 50f., 81 f. Jean d'Arras La noble histoire de Lusignan / Le Roman de Melusine en prose 84 Johannesevangelium 178, 184, 225 Johannes de Alta Silva Dolopathos 143-154 Johannes Rothe Passion 52-55 Johann von Würzburg

Andreas Linder

Wilhelm von Österreich 158175 Judas-Viten 47-55 Kaiserchronik 123 Konrad Fleck Flore und Blanscheflur 164 Konrad von Würzburg Partonopier und Meliur 252, 257, 260 Schwanritter 132f., 135, 140 Kudrun 201-217, Lactanz Divinae institutiones 178-185 Liber XXIV philosophorum 189 Liber Historiae Francorum 124-126 Lohengrin 132f., 135 Lorengel 132, 141 Lutwin Eva und Adam (vgl. Vita Adae etEvae) 45-47 Marie de France Guigemar 256f. Lanval 256 Machiavelli II Principe 94 Marsilio Ficino 178f. Meister Eckhart 188f. John Milton De Doctrina Christiana 333, 335 Paradise Lost 330-339 Nibelungenlied 12, 201, 207, 209,211,216 Nicodemus-Evangelium 62-65, 70 Oddr Snorrason Oláfs ságá Tryggvasonar 301 Olafs ságá Tryggvasonar en mesta 301-303, 306, 301-329 Nornagests páttr 303-329 Oläfs ságá helga 301 Passion du Palatinus 73 f. Physiologus 171

343 Plinius: Naturalis historia 183 Pseudo-Apollonius von Tyana: Buch über das Geheimnis der Schöpfung 191 Reinfried von Braunschweig 164 Der Ritter von Staufenberg 249254, 258f., 266-268, 272 Rolandslied 11,29 Snorri Sturluson Prosa-£