Projektion – Reflexion – Ferne: Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter 9783110221466, 9783110221459

Spatial thinking plays an important role in medieval literature and culture. This is not only demonstrated by the large

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German Pages 484 [488] Year 2011

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Table of contents :
Einleitung
I. Räumlichkeit erdachter Welten
Fort mit dem Zaubergürtel! Entzauberte Räume im ›Wigalois‹ des Wirnt von Gravenberg
stainwant. König Otnits Tod und die heterotope Ordnung der Dinge
Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung
die werlt ist uf den herbest komen. Vom Natureingang zur Jahreszeiten-Allegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts
Lechts und rinks ... Kulturelle Semantik von Naturtatsachen im höfischen Roman
Fernliebe. Allgemeines und Besonderes zur Geschichte einer literarischen Konstanten
Amour de loin
II. Umgang mit wirklichen Räumen
Wo sind denn da Räume?
Erzählungen kartieren. Jerusalem in mittelalterlichen Kartenräumen
Die Reichsstadt als Raum der Literatur. Skizze einer Literaturgeschichte Nürnbergs im Mittelalter
Miteinander – nebeneinander – gegeneinander. Die vielen Facetten des Zusammenlebens im spanischen Mittelalter
Der »wahlfisch zu Zürche in Seland«. Albrecht Dürers Erzählung eines niederländischen Abenteuers
Die Provence und die Provenzalen im ›Parzival‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach
Binnenstrukturen heilsgeschichtlicher Projektion. Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte
III. In Räumen denken
Raumüberspannende Vernetzungen. Verwandtschaftssysteme in Rechtstexten und fiktionaler Literatur
Alexander unterwegs in Ebstorf und anderswo. Ein Versuch zu kognitiven Karten, ihrer epistemologischen Rekonstruktion und logischen Implementierung
Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador? Ein Versuch in wissenschaftlichem Wunschdenken
Die Himmelsstraße in Otfrids ›Evangelienbuch‹
Schichten des Bewußtseins im ›Otnit‹
Maß und Zahl der Meisterkunst. Über die Vorherrschaft der Form in der ›Cronica Vngarorum‹ Heinrichs von Mügeln
Die Meerfahrt des Hl. Cuthbert. Anmerkungen zum Transfer eines Bildmotivs
Namen- und Ortsregister
Sachregister
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Projektion – Reflexion – Ferne: Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter
 9783110221466, 9783110221459

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Projektion - Reflexion - Ferne

Projektion - Reflexion - Ferne Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter

Herausgegeben von

Sonja Glauch · Susanne Köbele Uta Störmer-Caysa

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022145-9 e-ISBN 978-3-11-022146-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Projektion, Reflexion, Ferne : räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter / edited by Sonja Glauch, Susanne Köbele, Uta Störmer-Caysa. p. cm. Contains nine papers from a colloquium held Mar. 26-27, 2009, at the Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg on the occasion of Hartmut Kugler’s 65th birthday and twelve other contributions. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022145-9 (alk. paper) 1. Literature, Medieval - History and criticism - Congresses. 2. Space perception in literature - Congresses. 3. Space perception - History To 1500 - Congresses. I. Kugler, Hartmut. II. Glauch, Sonja. III. Köbele, Susanne. IV. Störmer-Caysa, Uta. PN682.S73P76 2011 8091.02-dc23 2011029195

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. Räumlichkeit erdachter Welten Friedrich Michael Dimpel Fort mit dem Zaubergürtel ! Entzauberte Räume im ›Wigalois‹ des Wirnt von Gravenberg . . . .

13

Stephan Fuchs-Jolie stainwant. König Otnits Tod und die heterotope Ordnung der Dinge

. . . . .

39

Dorothea Klein Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Katharina Philipowski die werlt ist uf den herbest komen. Vom Natureingang zur Jahreszeiten-Allegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . .

85

Elisabeth Schmid Lechts und rinks ... Kulturelle Semantik von Naturtatsachen im höfischen Roman

. . .

121

Franz Josef Worstbrock Fernliebe. Allgemeines und Besonderes zur Geschichte einer literarischen Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

VI

Ulrich Wyss Amour de loin

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

II. Umgang mit wirklichen Räumen Karl Bertau Wo sind denn da Räume?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Ingrid Baumgärtner Erzählungen kartieren. Jerusalem in mittelalterlichen Kartenräumen

193

Horst Brunner Die Reichsstadt als Raum der Literatur. Skizze einer Literaturgeschichte Nürnbergs im Mittelalter

. . . .

225

Klaus Herbers Miteinander – nebeneinander – gegeneinander. Die vielen Facetten des Zusammenlebens im spanischen Mittelalter . . . . . . . . .

239

Dirk Niefanger Der »wahlfisch zu Zürche in Seland«. Albrecht Dürers Erzählung eines niederländischen Abenteuers . . . . . . . . . . . . . . . .

263

René Pérennec Die Provence und die Provenzalen im ›Parzival‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Antje Willing Binnenstrukturen heilsgeschichtlicher Projektion. Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte . . . . . . . . . .

297

III. In Räumen denken Claudia Brinker-von der Heyde Raumüberspannende Vernetzungen. Verwandtschaftssysteme in Rechtstexten und fiktionaler Literatur . . . . . . . . . . . . . .

321

VII

Inhalt

Günther Görz Alexander unterwegs in Ebstorf und anderswo. Ein Versuch zu kognitiven Karten, ihrer epistemologischen Rekonstruktion und logischen Implementierung . . . . . . . . .

347

Andreas Haug Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador? Ein Versuch in wissenschaftlichem Wunschdenken . . . . . . . .

369

Dieter Kartschoke Die Himmelsstraße in Otfrids ›Evangelienbuch‹

. . . . . . . . .

39 1

. . . . . . . . . . . . . . .

415

Karl Stackmann Maß und Zahl der Meisterkunst. Über die Vorherrschaft der Form in der ›Cronica Vngarorum‹ Heinrichs von Mügeln . . . . . . .

431

Heidrun Stein-Kecks Die Meerfahrt des Hl. Cuthbert. Anmerkungen zum Transfer eines Bildmotivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451

Namen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467 474

Dietmar Peschel Schichten des Bewußtseins im ›Otnit‹

Einleitung

Der vorliegende Sammelband geht zurück auf ein Festkolloquium an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, das aus Anlaß des 65. Geburtstages von Hartmut Kugler am 26. und 27. März 2009 in der Aula des Erlanger Schlosses stattfand unter dem Titel: ›Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter‹. Neben neun Vorträgen, die bei dieser Gelegenheit gehalten wurden, enthält der Band zwölf weitere Beiträge von Freunden, Schülern und Weggefährten Hartmut Kuglers, die sich ebenfalls dem Rahmenthema historischer Raumkonzeptionen zuwenden. Hartmut Kugler, der, wie Ulrich Wyss sagt, »Landkarten wie einen Roman« liest, 1 hat keinen spatial turn gebraucht, um räumlichen Bedingungen von Texten oder räumlichen Vorstellungen in Texten nachzugehen. Man darf vielmehr getrost behaupten, daß er die Hinwendung zur Reflexion des Räumlichen in der älteren Germanistik in bedeutendem Maße angestoßen und mitgetragen hat, und zwar nicht, indem er ein anderswo erprobtes methodisches Paradigma einfach nur übertrug, sondern indem er die leitenden Fragen allererst am Material abstrahierte: am Städtelob, 2 an der Ebstorfer Weltkarte, 3 an Nürnberger literarischen Ver1

Beitrag Wyss, in diesem Band, S. 161. Vgl. Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters, München 1986 (Münchener Texte und Untersuchungen 88); ders., Stadt und Land im humanistischen Denken, Weinheim 1983; ders., Nicht nach Jerusalem. Das Heilige Land als Leerstelle in der mittelhochdeutschen Epik der Kreuzfahrerzeit, in: Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter, hg. v. Dieter Bauer, Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, Frankfurt, New York 2001, S. 407–422; ders., Troianer allerorten. Die Stadt und ihre Ausstrahlung im kartografischen Weltbild des Mittelalters, in: Troia – Traum und Wirklichkeit. Begleitband zur Ausstellung Stuttgart 2001, S. 226–238. 3 Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, hg. von Hartmut Kugler unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing. 2 Bde., Berlin 2007. Zur Diskussion um Konstruktion und Funktion von Räumlichkeit in mittelalterlicher Kultur und Literatur vgl. Hartmut Kugler, Imago mundi. Kartographische Skizze und literarische Beschreibung, in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms und JanDirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele und Bruno Quast, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 77–93. Außerdem: Ein Weltbild vor Columbus: Die Ebstorfer Weltkarte. 2

2

Einleitung

hältnissen, 4 aber auch an mittelalterlichen Herkunftsgeschichten und Romanen, in denen räumliche Weltbilder stecken. 5 Der Obertitel des vorliegenden Bandes ›Projektion – Reflexion – Ferne‹ weist auf verschiedene Aspekte der Raumwahrnehmung und Raumkonstruktion. Daß dabei vor allem die interne Dynamik räumlicher Vorstellungen und Denkfiguren anvisiert ist, im Blick auf ein historisch spezifisches Profil, soll der Untertitel des Bandes zum Ausdruck bringen. Es geht dabei nicht nur um verschiedene Modi der Raumpräsentation, sondern immer auch um die Frage nach der Repräsentationskraft von Raumvorstellungen und deren historischer Signifikanz. 6 Symposion im Kloster Ebstorf 1988. Hg. von Hartmut Kugler, Weinheim 1988 (Acta humaniora 1991); ders., Weltbild, Kartenbild, geometrische Figur, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005), S. 440–452; ders., Himmelsrichtungen und Erdregionen auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Text–Bild–Karte. Kartographien der Vormoderne, hg. von Jürg Glauser und Christian Kiening, Freiburg 2007 (Litterae 105), S. 175–199. 4 Hartmut Kugler, Handwerk und Meistergesang. Ambrosius Metzgers Metamorphosen-Dichtung und die Nürnberger Singschule im frühen 17. Jahrhundert, Göttingen 1977 (Palaestra 265); ders., Meisterlieder zum Dreißigjährigen Krieg, in: Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hg. von Horst Brunner, Gerhard Hirschmann und Fritz Schnelbögl, Nürnberg 1976, S. 289–310. 5 Hartmut Kugler, Das Eigene aus der Fremde. Über Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern, in: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, hg. von Hartmut Kugler, Berlin, New York 1995, S. 175–193; ders., Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik. Jean Bodels ›drei Materien‹ und die ›Matière de la Germanie‹, in: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart, Weimar 2005 (Germanistische Symposien, Berichtsband 27), S. 244–263; ders., Der ›Alexanderroman‹ und die literarische Universalgeographie, in: Internationalität nationaler Literaturen, hg. von Udo Schöning, Göttingen 2000, S. 102–120; ders., Mittelalterliche Weltkarten und literarische Wissensvermittlung. Zur Erdbeschreibung Rudolfs von Ems, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. v. Horst Brunner und Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1993, S. 156–176; ders., Zur literarischen Geographie des fernen Ostens im ›Parzival‹ und ›Jüngeren Titurel‹, in: Ja muz ich sunder riuwe sin. Festschrift für Karl Stackmann zum 15. Februar 1990. Hg. von Wolfgang Dinkelacker, Ludger Grenzmann und Werner Höver, Göttingen 1990, S. 107–147. 6 Angesichts einer kaum noch überschaubaren Theorie- und Philosophiegeschichte zu Raum/Räumlichkeit verzichten wir an dieser Stelle auf allgemeine bibliographische Hinweise. Einen bündigen Überblick über die »plurale Dimensionierung des Räumlichen« quer durch die Epochen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte gibt der Artikel ›Raum‹ von Michaela Ott im Lexikon Ästhetische Grundbegriffe (Bd. 5, 2003, S. 113–149). Aus dezidiert mediävistischer Perspektive vgl. zuletzt: Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007, sowie Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse, Tübingen 2007, Kapitel 5: »Zwischenräume – Paradoxien höfischer Öffentlichkeit«, S. 272–316, und Kapitel 6: »›Außen‹ und ›Innen‹«, S. 317–361; in historisch orientierter, fächerübergrei-

Einleitung

3

So sollten unter der Voraussetzung, daß gerade der Akt ästhetischer (literarischer) Wahrnehmung an Raum-Zeit-Wahrnehmung spezifisch gebunden ist, für das Rahmenthema des Bandes Beiträge zur Literatur – zu den räumlichen Bedingungen von Literatur und räumlichen Vorstellungen in Literatur – einen Schwerpunkt bilden, ergänzt durch Beiträge aus anderen Disziplinen. In der Summe liegen nun Beiträge aus literaturwissenschaftlicher, historischer, musik- und kunstwissenschaftlicher sowie informationstechnologischer Perspektive vor, die sich auf das Zusammenspiel von wirklichen (realgeographischen, geopolitischen) und imaginären (symbolischen, topischen, literarischen, gedanklichen, diskursiven) Räumen vielseitig und ideenreich eingelassen haben. Unsere Zuordnung der Beiträge zu drei Rubriken ist der Versuch, das vielschichtige Ineinander imaginärer und wirklicher Räume zur Geltung zu bringen. Unter den Kapitelüberschriften ›Räumlichkeit erdachter Welten‹ (I), ›Umgang mit wirklichen Räumen‹ (II) und ›In Räumen Denken‹ (III) werden jeweils ganz verschiedene Zeichensysteme einbezogen. Sie betreffen Texte, Bilder oder Notationssysteme und vertreten in diesem Sinne die ganze Vielfalt möglicher Raumrepräsentationen (rhetorische, literarische, kartographische, ikonographische, kognitive oder formallogische Konstruktionen von Raum). Strikt kann und will die Differenz zwischen den drei Teilabschnitten nicht sein, sollen doch gerade die Deutungspotentiale konkurrierender, grenzüberschreitender Raum-Ordnungen auf verschiedenen Ebenen in den Blick kommen. Keineswegs nur im besonders evidenten Fall von ›Heterotopien‹, 7 sondern grundsätzlich für jede Form von Raumrepräsentation greifen reale und imaginäre (symbolische) Räume immer schon ineinander. Der Entwurfcharakter von Raum (›Projektion‹) findet zugleich im Raum statt und verdichtet sich im gedanklichen Prozeß (›Reflexion‹), wodurch die ›Nähe-Ferne‹-Relation perspektivisch jeweils so fender Perspektive zuletzt: Orte – Ordnungen – Oszillationen. Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen, hg. von Natalia Filatkina und Martin Przybilski, Wiesbaden 2011 (Trierer Studien zu den historischen Kulturwissenschaften 4); KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, hg. von Stephan Günzel und Lars Nowak. Wiesbaden 2011 (Trierer Studien zu den historischen Kulturwissenschaften 4). 7 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Frz. von Ulrich Köppen, Frankfurt 1974 (zuerst frz. ›Les mots et les choses‹, Paris 1966), hier insbes. S. 17–23; Michel Foucault, Von anderen Räumen, aus dem Frz. von Michael Bischoff (zuerst frz. ›Des espaces autres‹, Paris 1984), in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, S. 317–329. Zuletzt mit weitem literaturwissenschaftlichen Horizont aufgenommen von Rainer Warning, Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München 2009.

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Einleitung

weit verschoben werden kann, daß die auf den ersten Blick stabile Zweistelligkeit aller räumlichen Relationen – Innen und Außen, Tranzendenz und Immanenz, Natur und Kultur, Mikro-Makro-Kosmos – in flexible, instabile dreistellige Relationen transformiert wird, über Spiegelungseffekte, Grenzüberschreitungen, Diskontinuitätserfahrungen. (I) Der erste Abschnitt versammelt gattungsübergreifend Beiträge zur ›Räumlichkeit erdachter Welten‹. Diese Beiträge rekonstruieren die je verschiedene Semantik literarisch entworfener und rhetorisch transformierter Räume, sei es als Locus amoenus-Topos (Klein, Philipowski) oder literarische Konstante Fernliebe (Worstbrock, Wyss), sei es als kulturell kodierte Richtungssemantik (Schmid) oder als ›Heterotopie‹ im Sinne gestörter, inverser Raum-Repräsentation (Dimpel, Fuchs-Jolie). F r i e d r i c h M i c h a e l D i m p e l liest den ›Wigalois‹ vor dem Hintergrund der Gawan-Partien aus Wolframs ›Parzival‹, mit dem Hauptakzent auf der Gestaltung des literarischen Raums. Auch der ›Wigalois‹ lasse monoperspektivisches Erzählen hinter sich, doch während es bei Wolfram um gestörte Genealogien gehe, dominiere im ›Wigalois‹ (so Dimpel, mit Bezug auf Lotman) die Störung von Räumen. Für die den Erzählverlauf bestimmende Raum-»Entzauberung« im ›Wigalois‹ stehe der verschwundene Zaubergürtel. Optimistisches Programm des Romans sei die Überwindung des negativ besetzten Raums der Magie. – Auch S t e p h a n F u c h s - J o l i e geht es um anderweltliche (»mythische«) Räume, nicht im höfischen, sondern im heroischen Epos. Mit Bezug auf Foucault, der – im Rahmen seiner programmatischen Trias von Raum, Wissen und Macht – Störungen in der elementaren räumlichen Ordnung ›Heterotopien‹ genannt und den Begriff prominent gemacht hat, liest Fuchs-Jolie dem ›Otnit‹ eine grundsätzlich »heterotope Ordnung der Dinge« ab. Dabei ist ihm das »opake« Raumdetail stainwant zentrales Paradigma einer durchgängig paradoxen Raumgestaltung des Textes. Als Wegweiser und Kulisse zugleich sei stainwant Indiz für eine kategoriale Nicht-Ordnung im Handlungsraum der erzählten Geschichte: zeitloser, raumloser »Un-Ort«. – D o r o t h e a K l e i n demonstriert, auf welch literarisch produktive Weise die mittelalterlichen Autoren mit dem Topos des »Amoenen Orts« umgehen. An ausgewählten Beispielen führt sie vor, wie die mittelalterlichen Epiker und Lyriker je verschiedene Implikationen des Locus amoenus-Topos aufgreifen und »lustvoll variieren«. Gerade in seiner Inszenierung als Liebesort werde der Locus amoenus zu einem ambivalenten Erinnerungs- und Imaginationsraum, angesiedelt zwischen den Polen Realität und Fiktion (in Gottfrieds ›Tristan‹; bei Walther von der Vogelweide), zu einem uneindeutigen Zwi-

Einleitung

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schenraum zwischen Hof und Wildnis, zwischen Projektion und Reflexion, nicht zuletzt auch zwischen Wörtlichkeit und Signifikanz. – Auch K a t h a r i n a P h i l i p o w s k i wendet sich einem Naturraum-Topos zu, dem sogenannten ›Natureingang‹ in der mittelalterlichen Lyrik. Seine spätmittelalterlichen Ausprägungen versteht sie als Symptom einer medialen Veränderung dieser Textgattung. Ausgehend von einer zunehmenden Leserorientierung fragt sie, wie sich der mediale Wechsel der spätmittelalterlichen Lyrik auswirkt auf die Verwendung des Natur- bzw. Jahreszeiten-Eingangs. Die topos-spezifische Relation von Innenund Außenraum habe für die jeweilige Aufführungssituation der Texte Relevanz. Während im hohen Sang die jahreszeitliche Natur stets die Disposition des Ich spiegle (analog oder kontrastparallel), sei die spätere Tendenz zur entzeitlichenden Allegorisierung des Natureingangs bei Neidhart, Konrad von Würzburg oder Frauenlob Indiz einer verlorenen Situativität der Lieder. – E l i s a b e t h S c h m i d s vergleichende Analyse widmet sich der kulturellen Semantik von Räumen und Richtungsangaben im höfischen Roman. Die verwirrende Komplexität der Weg-Symbolik – insbesondere die Weg-Attribute »rechts, links« – zeigt sich im Vergleich der unterschiedlichen Erzählversionen Chrétiens und Hartmanns erst in ihrem ganzen Ausmaß. Die Antworten auf die Frage: ›Ist der Weg rechterhand der »rechte« Weg?‹ fallen in deutschen und französischen Artusromanen jeweils ganz verschieden aus. Ist der rechte Weg der moralisch rechte, heilsgeschichtlich rechte oder einfach nur richtungsmäßig zutreffende Weg? Statt Alternativen anzusetzen, bestimmt Schmid die Wegsemantik zwischen den Polen von Heil und Unheil, im Spannungsfeld verschiedener Axiologien. – Fernliebe als »literarische Konstante« ist das Thema des Beitrags von F r a n z J o s e f W o r s t b r o c k . Literarische Fernliebe komme im 12. Jahrhundert zu einer neuen, historisch wirkungsvollen Entfaltung, nicht, wie die ältere Forschung annahm, als genuiner Liebestypus höfischer Dichtung, sondern greifbar zunächst als schriftliterarisches Muster im Ambiente gelehrter lateinischer Epistolographie. Als »briefliterarische Fernliebe« wirke sie hinein in den Minnesang, insbesondere in einschlägige Strophen Meinlohs von Sevelingen. Im ›Nibelungenlied‹ bekomme sie besondere Kontur durch eine paradoxe Perpetuierung der »Fernliebe in der Nähe«, die Siegfrieds Ohnmacht indiziere und seinen Weg in den Untergang vorbereite. – Auch U l r i c h W y s s nimmt das Thema der Fernliebe auf. Er akzentuiert sie nicht historisch als rhetorische Figur, sondern systematisch als Modus paradoxer Raum-Zeit-Semantisierung. Mit ihrer spezifischen Verschränkung von Nähe und Ferne sei Fernliebe Indiz einer grundsätzlichen Minne-Paradoxie: räumliche Distanz bei maximaler emotionaler Nähe. Als Topik mit Tendenz zur »Neurotisierung« des erotischen Unglücks, ja, als »masochistische Phantasie« interpretiert Wyss die berühmte Fernliebe-programmatische Kanzone von

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Einleitung

Jaufre Rudel anhand der Leitfrage: Wie konstituiert das Lied den Raum, der diese auch zeitlich widersprüchliche trobadoreske »Liebe ins Ferne« (amor de loing) erzeugt? (II) Die Beiträge des zweiten Abschnitts behandeln den ›Umgang mit wirklichen Räumen‹. Im Zentrum steht einerseits die je verschiedene selbstwidersprüchliche Dynamik narrativer Verräumlichung in Text und Bild (Bertau, Baumgärtner, Pérennec), anderseits die literarische Produktivität der Reichsstadt Nürnberg im Sinne regionaler Literaturgeschichtsschreibung (Brunner), drittens die spannungsreiche Übertragung realgeographischer Grundlagen in heilsgeschichtliche (Willing) oder literarästhetische Kontexte (Niefanger), wobei Übertragungs- und Integrationsleistungen auch und gerade im Blick auf die heterogene Identität kultureller Kontakt- und Konflikträume aufschlußreich sind (Herbers), nicht nur, aber vor allem für die Relation von Zentrum und Peripherie, Inklusion und Exklusion. Das Thema des Beitrags von K a r l B e r t a u (›Wo sind denn da Räume?‹) ist Wolframs »Erzählmodell des erzählten, gelenkten Hörens«, das Erzählung und Imagination so eng verschränke, daß für Parzivals Minneritterfahrt Außen- und Innen-Räume, reale und erdichtete Räume unabsehbar (»verheißungsvoll«) auseinandertreten, mit allen Folgen mißverstehenden Verstehens für den Protagonisten, den Erzähler, »den Erzähler des erzählten Erzählenden« und: uns. Im epischen Prozeß, also im Vorgang des Erzählens des Reisewegs, entstehen, so Bertau, komplexe symbolische Räume (z. B. der rätselhafte Ort Rohas), weil die Erinnerung die erzählten und erlebten Räume beständig ineinanderspiegele. – I n g r i d B a u m g ä r t n e r untersucht den Status der heiligen Metropole Jerusalem in mittelalterlichen Kartenräumen. Als Angelpunkt der christlichen Raum- und ZeitWahrnehmung fungiere Jerusalem in der Kartographie nicht nur als integratives Orientierungszentrum (irdisches und himmlisches, reales und geistiges Zentrum), sondern baue, so Baumgärtner, zugleich vielschichtige »Erzählräume« auf, kulturelle »Erinnerungsräume«, auf der Basis symbolischer, gedanklicher und imaginativer Verknüpfungen. Die Jerusalem-Zentrierung mittelalterlicher Weltkarten sei aufgrund solcher raum-zeitlichen Spiegelungen und Projektionen als kartographischer »Erzählraum« lesbar. – H o r s t B r u n n e r skizziert die Reichsstadt Nürnberg als ›Raum der Literatur‹ im Sinne regionaler Literaturgeschichtsschreibung. Die einschlägige deutsche und lateinische Literatur vom 14.–16. Jahrhundert aus dem Nürnberger Raum sortiert Brunner nach Gruppen: geistliche und weltliche Prosa, Sachliteratur (v. a. Gebrauchstexte zur Legitimation der Nürnberger Patrizierfamilien), Dichtung, Humanismus. Darüber hinaus macht er zwei signifikante Lücken der Überlieferung aus. Fehlstellen sind zum einen das große

Einleitung

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geistliche Spiel, zum andern der Prosaroman. – K l a u s H e r b e r s rekonstruiert die spannungsvolle Symbiose, wie sie sich beim Zusammenleben der drei großen monotheistischen Religionen im mittelalterlichen Spanien ergibt. Das Spektrum zwischen offener Aggression, Anpassung und Kooperation ist breit. Herbers erläutert anhand von Fallbeispielen die Konstruktion der verschiedenen religiösen und (geo-)politischen Identitäten in diesem signifikanten kulturellen Kontakt- und Konfliktraum. Auf diese Weise wird die immense Integrationsanstrengung des mittelalterlichen Spanien sichtbar. – D i r k N i e f a n g e r analysiert die Raumwahrnehmung und Raumkonstruktion in Albrecht Dürers ›Reise in die Niederlande‹. Dürer bereist 1520/1521 von Antwerpen aus die Niederlande. Er führt akribisch ein Reisetagebuch, um diese Reise, die nicht zuletzt der Distribution der eigenen Kunstproduktion dient, in ihrem Verlauf zu dokumentieren. Zwischendurch lockt ihn die Nachricht von einem gestrandeten Wal, mit dem Effekt, daß die Reiseerzählung zur Geschichte eines Beinahe-Schiffbruchs wird, unterlegt mit der biblischen Jonas-Erzählung. Niefanger interpretiert die durchaus komplexe narrative Struktur dieses Textes, mit dem Hauptakzent auf Dürers Techniken der Allegorisierung und Ästhetisierung des erzählten ›Reiseraums‹. – R e n é P é r e n n e c stellt die Frage, wie der (realgeographische) Raum der Provence in der epischen Welt von Wolframs ›Willehalm‹ und in den Erzählerkommentaren des Wolframschen ›Parzival‹ geopolitisch und geopoetisch spezifisch wird. Im vergleichenden Blick auf Chrétien ergibt sich, daß Wolfram die schillernde Figur des Kyot (ein Provenzal) als Garanten und Vermittler nicht zuletzt deswegen erfindet, um dessen ›Provenzalentum‹ gestalterisch nutzen zu können: mit dem übergreifenden Ziel einer Imperialisierung und Re-Frankisierung des Handlungsraums, im Sinne eines »doppelten Kulturkontakts«. – A n t j e W i l l i n g erarbeitet anhand der Christus-Figur auf der Ebstorfer Weltkarte Binnenstrukturen »heilsgeschichtlicher Projektion«. Die Ebstorfer Christusfigur begleiten programmatische Legenden. Willings Ziel ist die biblisch-liturgische Kontextualisierung dieser Kartenlegenden, über die sich eine Reihe neuer Querbeziehungen im Kartenbild ergibt und insgesamt ein enger Zusammenhang von Heilsgeschichte und Schöpfungsgeschichte sichtbar wird. Der Raum der kartographisch entworfenen Welt zeigt sich gerade durch die Herausarbeitung der Text-Bild-Beziehungen als ausgerichtet nach dem Heilsplan Gottes, als binnendifferenzierte heilsgeschichtliche ›Projektion‹. (III) Die Beiträge des drittens Abschnitts gelten dem kulturhistorisch und literaturwissenschaftlich aufschlußreichen ›Denken in Räumen‹, das sich auch, aber nicht nur selbstreferenziell auf ›Denk-Räume‹ (Diskurse) bezieht: sei es in der Konzeption »kognitiver Karten« (Görz), in Zeit- und Erzählräume umspannenden

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Einleitung

»genealogischen Räumen« (Brinker-von der Heyde) oder literarischen Imaginationen von Jenseits-Räumen (Kartschoke), sei es in der (Re-)Konstruktion von Bewußtseins-Räumen (Peschel) oder in historischen Alteritätseffekten ästhetischer Raum-Zeit-Gestaltung auf der Basis von Transferprozessen (Stackmann, SteinKecks, Haug). C l a u d i a B r i n k e r - v o n d e r H e y d e analysiert den vielschichtigen Zusammenhang von Genealogie und Geographie. Ihr Thema sind raumüberspannende Verwandtschaftssysteme in Rechtstexten und Erzähltexten des Mittelalters. Unter der Voraussetzung, daß Genealogie sowohl zeitliche wie räumliche Relationen herstellt, rekonstruiert Brinker-von der Heyde die gezielte Überblendung der genealogischen und geographischen (kosmologischen, chronographischen) Räume in Wolframs ›Parzival‹ und demonstriert dabei, wie das Wechselspiel von verräumlichter Genealogie und genealogischem Raum gerade in diesem Text ein signifikantes »Weltgewebe« herstellt. – Der Beitrag von G ü n t h e r G ö r z bespricht das Problem formallogischer Repräsentation kognitiver Kategorien der Raumwahrnehmung. Geleitet von der Vorstellung sogenannter ›kognitiver Karten‹, unternimmt Görz den groß angelegten Versuch einer epistemologischen Rekonstruktion und der informationstechnologischen Modellierung und Implementierung mittelalterlicher Weltkarten. Dem Ziel ihrer digitalen Erschließung verpflichtet, diskutiert Görz Möglichkeiten der Erfassung diachroner Konzepte von Kartographie, die auch deren enzyklopädische, narrative und epistemische Dimensionen mithilfe strikt formalisierter Beschreibungslogiken abzubilden erlauben. – A n d r e a s H a u g macht sich auf die Suche nach der Melodie zu einem der bekanntesten und rätselhaftesten Lieder des ersten Trobador Wilhelm von Aquitanien: ›Farai un vers de dreyt nien‹. Ziel des Beitrags ist, den verlorenen »Resonanzraum der Stimme« zurückzugewinnen aus dem stummen »Exil der Schrift« (Zumthor). Dies gelingt Haug über die Rekonstruktion der Kontrafaktur eines lateinischen Liebesliedes eines Klerikers. Der Transfer der textlichen und melodischen Klangform des Trobador-Liedes verlaufe hier, so die überraschende Pointe des Beitrags, vom Romanischen zum Lateinischen, vom Hof ins Kloster, quer zur gewohnten Vorstellung eines Transfers vom Lateinisch-Klerikalen hin zum Romanisch-Höfischen. – D i e t e r K a r t s c h o k e interpretiert eine dogmatisch heikle, narratologisch schwierige Raum-Transgression: die Überschreitung der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Am Beispiel der berühmten Verkündigungsszene des ›Evangelienbuchs‹ führt der Beitrag vor, wie Otfrid das Risiko der poetischen Paraphrase des Offenbarungsworts bewältigt. Der biblisch nicht bezeugte descensus des die Sphären durchquerenden Engels (»Sonnenpfad, Sternenstraße, Wolkenweg«) wird von Otfrid als Weg zwischen Himmel und

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Erde literarisch imaginiert, teils parallel zur biblischen Vorstellung der ascensio Christi (deren Ikonographie auf antike Himmelsreisen zurückgeht), teils im Rückgriff auf apokryphes Material, auf den Kontext der Patristik und der lateinischen Bibelepik des 4. bis 6. Jahrhunderts. – D i e t m a r P e s c h e l zielt auf Räume des Bewußtseins. Sein Thema ist die fließende Grenze von bewußter und unbewußter Projektion. Das hermeneutische Dilemma der Differenzierung zwischen (psychologisch, poetologisch) sinnvollen und sinnlosen ›Fehlleistungen‹ demonstriert er an textkritisch problematischen Stellen aus dem Bereich der Heldenepik, genauer: anhand einer Stelle aus der Wolf Dietrich-Version D und ›Otnit‹-Varianten aus dem Ambraser Heldenbuch. Aus der Einsicht in die Verschränkung von sinnvoller Vortragsvariante und sinnloser ›Fehlleistung‹ der jeweiligen Autoren, Schreiber und – nicht zu vergessen – Philologen ergeben sich nach Peschel Konsequenzen für die künftige Editionspraxis der betroffenen Texte. – K a r l S t a c k m a n n s Beitrag fragt: Was wird aus Raumvorstellung und Raumdarstellung unter Bedingungen von »Formzwang«? Heinrichs von Mügeln ›Cronica Vngarorum‹, ein sprachartistisch wie zahlenkompositorisch forciertes Gattungsexperiment, versteht Stackmann als Prosimetrum eines Poeta doctus, der im Vergleich mit seiner früher entstandenen deutschen Ungarnchronik hier einen geradezu rigiden Formanspruch durchsetze, wodurch sich das erzählte Ungarnbild signifikant verändere, ja verunkläre. Mügelns »Meisterkunst« unter dem Primat der Form bewirke v. a. die Reduktion um Faktisches, mit dem Effekt einer irritierenden historischen Alterität von Raumverhältnissen (u. a. mißverstandene oder unverständliche Orts- und Flußnamen). – H e i d r u n S t e i n - K e c k s rekonstruiert den Transfer des Bildmotivs der Meerfahrt des Heiligen Cuthbert, die einfache Bildkonstellation Schiff-Meer-Ufer, als Symptom einer zunehmenden »Verräumlichung« der Malerei um 1300. Im Zentrum ihrer vergleichenden Überlegungen stehen – in Abgrenzung auch von moderner Raumprojektion – verschieden komplexe Modi der Visualisierung von irdischen, kosmischen und visionären Räumen. Diese Modi betreffen das Bildfeld-Rahmen-System, aber auch das mehrdeutige Verhältnis von Farbe, Fläche und Raum sowie Techniken einer auffälligen Raum-Geometrisierung und -Allegorisierung. Die vielfältigen theoretischen und methodischen Perspektiven, die sich – Hartmut Kugler zu Ehren – an das Rahmenthema des vorliegenden Bandes knüpfen, haben einen spannungsreichen, in sich differenzierten Sammelband entstehen lassen. Unser Dank gilt allen, die am Zustandekommen dieses Buches beteiligt waren, insbesondere den Beiträgern, die ein facettenreiches Bild von Raumvorstellungen und Raumdarstellungen im Mittelalter gezeichnet haben. Für Hilfen bei den Korrekturen und der Erstellung des Registers danken wir Coralie Rippl, Erlangen,

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und Michèle Fahl, Mainz. Außerdem gilt unser herzlicher Dank dem Verlag, namentlich Frau Zeller, für die Betreuung des Bandes und nicht zuletzt für die große Geduld mit seinen Herausgebern. Erlangen und Mainz, im Juni 2011 Sonja Glauch, Susanne Köbele und Uta Störmer-Caysa

I. Räumlichkeit erdachter Welten

Fort mit dem Zaubergürtel ! Entzauberte Räume im ›Wigalois‹ des Wirnt von Gravenberg von Friedrich Michael Dimpel, Erlangen

Auf dem Weg zum guten Regiment Hartmut Kugler hat in seinem Aufsatz »Iwein, das gute und das schlechte Regiment« Überlegungen von Thomas von Aquin aufgegriffen, die Herrscher und Land homolog zu Leib und Seele beschreiben: 1 So, wie eine gute Seele einen guten Leib regiere, lasse eine verdorbene Seele auch den Leib verderben. Ebenso spiegele sich das Handeln des Königs im ganzen Land, im Positiven wie im Negativen. »Wer ein gutes Regiment führt, dessen Herrschaft umfaßt zufriedene Menschen und blühende Landschaften.« (S. 93) Ein schlechter König bringe dagegen Unglück wie Seuchen, Mißernten und Bürgerkriege über das ganze Land (S. 92). Vor diesem Hintergrund biete sich die Brunnenaventiure im ›Iwein‹ geradezu als Exempel an: »Der Herr des Brunnenreiches muß verhindern, daß durch das Begießen des Brunnensteins ein Unwetter ausgelöst wird. Kann er das Unwetter nicht verhindern, so ist er als Herrscher nicht qualifiziert.« (S. 94) Was in der Folge dem Titelhelden geschehe, geschehe der ganzen Romanwelt – Iwein also als herre der aventiure (S. 94). Solange der Status von Iwein defizitär ist, kann etwa ein Unhold wie der Riese Harpin sein Unwesen treiben. Erst als alle »Verstörungen, Entzweiungen, Spaltungen, Doppelungen im Romanreich aufgehoben sind […], dürfen am Ende auch Iwein und Laudine zusammenstehen.« (S. 115) Im ›Wigalois‹ von Wirnt von Grafenberg steht ebenfalls ein gutes Regiment am Schluß: Her Gwîgâlois der künic hêr, des landes marke besatzt er und gebôt in allen bî der wide guot gerihte und stæten vride. (11238–41) 2 1 Hartmut Kugler, Iwein, das gute und das schlechte Regiment, in: Oxford German Studies 25 (1996), S. 89–118. 2 Ich zitiere: Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005 (de Gruyter Texte). Grundlegend zum ›Wiga-

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Schon vor dem Namur-Feldzug hat Wigalois seine Fürsten auf Karles reht (9554) verpflichtet; auch jenseits der eigenen Landesgrenzen setzt Wigalois Recht und Ordnung durch, indem er unverzüglich auf Liameres Hilferuf reagiert. Am Ende regieren Freude und Ordnung, die Wildnis wird fruchtbar: Sus kômen si ze Korntîn. der künic und diu künigîn besâzen dâ ir eigen lant, dâ man sît immer mêre vant vreude nâch des herzen gir. […] die burc nant man der vreuden zil. ein wîtiu stat dâ vor lac wüeste vil mangen tac; die besatzter unde bûwet si wol. (11605–17)

Geradezu programmatisch ist das Gedeihen des Landes mit dem König verknüpft: daz lant wart allez vreuden vol / von des heldes sælicheit. (11618f.) Fruchtbar wird die ›Iwein‹-Analyse von Hartmut Kugler vor allem deshalb, weil er die Überlegungen zum guten Regiment mit Bachtins Dialogizitätsbegriff koppelt. Der Leib-Seele-Ansatz sei auch in der poetologischen Konzeption spürbar, wenn in der Binnenerzählung von der Entführung Ginovers bei den Akteuren am Artushof ähnliche Defizite bestehen wie beim Titelhelden: »Iweins Aktionen im Vordergrund korrelieren mit der Entführungsgeschichte im Hintergrund. Solange Iwein im Vordergrund seine Rettungstaten noch nicht bewältigt hatte, blieb im Hintergrund die Königin verschwunden und der Artushof gelähmt. Nachdem die Kämpfe im Vordergrund glücklich bestanden sind, Harpin getötet und Lunete gerettet, ist hinten am Artushof die Königin unversehens wieder da.« 3

Da der Status des Helden an die Ereignisse im Hintergrund gekoppelt sei, könne der »Entwicklungsgang des Helden zum Negativen wie zum Positiven« vom Umfeld gleichsam mitvollzogen werden. 4 Eine Erzählkonzeption also, die ›dialogische‹ Elemente enthält, die Bachtin erst dem ›Parzival‹ zugestehen will – der ›Iwein‹ also als frühes polyphones Werk. Einer ›Wigalois‹-Analyse wird es schwerlich gelingen, in ähnlicher Weise Polyphonie zu entdecken. Selten verläßt der Erzählfokus den Titelhelden, etwa bei der Fischerepisode oder im Vorfeld des Namur-Feldzuges: Hier folgt der Erzählfokus

lois‹ ist Stephan Fuchs, Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik). 3 Kugler [Anm. 1], S. 114. 4 Ebd., S. 94.

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dem Bericht des Boten von Wigalois’ Hof nach Namur zu Lion. Der Rezipient erhält dort einen Einblick in das Innenleben von Lion, etwas später verdeutlicht Lion seinen Standpunkt dem Boten gegenüber in direkter Rede. Mit Vera und Ansgar Nünning, die Bachtins Konzept der Dialogizität unter dem Stichwort ›Multiperspektivität‹ weiterführen, könnte man immerhin davon sprechen, daß mehrere Perspektiventräger gegensätzliche Standpunkte vertreten. 5 Der Antagonist Lion vertritt naturgemäß eine andere Position als der Protagonist. Der Vorwurf, den Lion äußern darf, Wigalois wolle ihm nur sein Land wegnehmen (10172f.), ist kaum geeignet, dem Rezipienten nahezulegen, er solle Lions Position billigen. Lion hat sich zuvor im Selbstgespräch eingestanden, er sei treulos einem bœsen rât (10045) gefolgt; Liameres Mann habe er âne schulde (10042) getötet. 6 Lions Standpunkt wurde diskreditiert. Der Rezipient muß nicht lange rätseln, wie er Lions Aktion bewerten soll; mit Nünnings Begriffen liegt keine Ambiguität vor, die eine Synthetisierung der Perspektivenstruktur erschweren würde. 7 Man 5

Ansgar Nünning/Vera Nünning, »Multiperspektivität – Lego oder Playmobil, Malkasten oder Puzzle?« Grundlagen und Kategorien zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte. Teil 1, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 32 (1999), S. 367–388, hier S. 376. Zu Bachtin und zur monologischen bzw. dialogischen Multiperspektivität, zur geschlossenen bzw. offenen Perspektivenstruktur Ansgar Nünning/ Vera Nünning, »Multiperspektivität – Lego oder Playmobil, Malkasten oder Puzzle?« Grundlagen und Kategorien zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte. Teil 2, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 33 (2000), S. 59–84, hier S. 59–61. 6 In seinem Versuch, Wigalois in einem negativen Licht erscheinen zu lassen, greift Lion zu einer Tatsachenbehauptung, die, wie der Rezipient weiß, falsch ist: daz weiz ich wol und ist mir kunt / daz er [Wigalois] den helt [Roaz] mit zouber sluoc (10168f.). Mit einem geweihten brief am Schwert hat Wigalois lediglich den Teufel am Eingreifen gehindert, Zauberei war nicht im Spiel. Vgl. zur Stelle auch Cora Dietl, Wunder und ›zouber‹ als Merkmal der ›âventiure‹ in Wirnts ›Wigalois‹, in: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2003, S. 297–311, S. 289–302 sowie S. 310. 7 Anders Jutta Eming, Aktion und Reflexion. Zum Problem der Konfliktbewältigung im ›Wigalois‹ am Beispiel der Namurs-Episode, in: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, hg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten und Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 91– 101, hier S. 96: »Für einen Augenblick allerdings werden Gwigâlois’ Motive in Frage gestellt, und auch die Tatsache, daß eine Unrechtsfigur den Einwand äußert, nimmt ihm nichts von seiner Berechtigung. In Lions Sicht wird Gwigalois das Vergehen nicht einfach nur rächen, sondern als Vorwand für einen Beutezug großen Ausmaßes nutzen. Dadurch entsteht ein Mißverhältnis zwischen Schuld und Rache, zwischen der Ordnungsfunktion des Herrschers und einer skrupellosen Machtpolitik, auf das bisher, in der ständigen Betonung von Gwigâlois’ Vorbildlichkeit, zu wenig geachtet worden ist.« (S. 96) Die zuerst gegebenen Informationen zu Lion überwiegen jedoch deutlich (primacy-effect), zudem ist seine Figurenperspektive nicht nur wegen seines Normverstoßes, sondern auch in der Breite der Darstellung deutlich im Nachteil (›quantitative Privilegierung‹ nach Nünning).

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kann man also nicht von einer offenen, dialogischen Perspektivenstruktur sprechen, es bleibt vielmehr bei einem geschlossenen, monologischen Erzählen; schwarz und weiß sind klar verteilt. 8 Zumindest: Wenn monologisch erzählt wird, sollte man nicht allzu große Probleme haben zu beschreiben, wie die Perspektivenstruktur organisiert ist und worauf der Roman hinauswill. 9 Und offenbar steht am Ende ein vorbildlicher Herrscher, der alle Störungen im eigenen Reich beseitigt hat und dessen vorbildliches Regiment auch in angrenzenden Räumen keine Störungen duldet. Auf all das Wunderbare und Aventiurenhafte folgt nicht nur ein kurzer Abstecher in realistischere Sphären, offenbar will Wirnts Roman genau dorthin – ein Umstand, der nicht immer den Beifall der Forschung gefunden hat. 10 Gawein im Raum der Magie Steht das gute Regiment am Ende, so bleibt zu fragen, von welchem Punkt aus dieses Ende angesteuert wird – welche Problemlage steht also im Zentrum? Am Beginn steht die Herausforderung durch Joram. Während Artus sich auf der Jagd befindet, blamiert Joram einen Artusritter nach dem anderen. Dabei hilft ihm ein Zaubergürtel, der seinem Träger eine Vielzahl an positiven Qualitäten verleiht. Dem Gürtel alleine verdankt Joram – so räumt er später Gawein gegenüber ein (620–24) – seine Siegesserie. Auch wenn Jorams Herausforderung im Ergebnis den Artushof deklassiert, ist sein Auftreten alles andere als unhöfisch: Indem er Ginover bittet, sie möge ihm einen nicht benannten Wunsch gewähren, wird beim literarisch bewanderten Rezipienten die Geschichte vom Raub der Königin aufgerufen. Ginover lehnt es zwar ab, einen Blankoscheck auszustellen, doch Joram hatte nur die Bitte im Sinn, Ginover möge den Zaubergürtel als Geschenk annehmen. Diese Bitte entlarvt Joram kaum als Unhold. Dennoch muß Ginover nach Rücksprache mit Gawein, der wie im ›Iwein‹ einen folgenreichen Rat erteilt, das verführerische Geschenk ablehnen. Im Vordergrund scheint dabei zu stehen, 8 Ansätze zu einer offenen Perspektivenstruktur sind in der Nereja-Passage zu finden, sie werden jedoch mit der Ankunft an Laries Hof wieder aufgegeben. Diesen Aspekt diskutiere ich in Friedrich Michael Dimpel, Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters. Habilitationsschrift Erlangen 2009. 9 Vgl. Ingrid Hahn, Gott und Minne, Tod und triuwe: zur Konzeption des ›Wigalois‹ des Wirnt von Grafenberg, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Helmut Brall, Düsseldorf 1994, S. 37–60, S. 49. Hahn spricht von einer »Überzeichnung der Positionen«. 10 Vgl. Werner Schröder, Der synkretistische Roman Wirnts von Grafenberg. Unerledigte Fragen an den Wigalois, in: Euphorion 80 (1986), S. 235–277, Zitat S. 245.

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daß eine Königin zwar selbst auf Freigebigkeit festgelegt ist, die Annahme eines Geschenkes wäre aber, so Gawein, wider iuwer êre (372). Die spezifische Eigenart des Geschenks kommt mit Gaweins verallgemeinernder Fokussierung, Ginover dürfe deheiner slahte guot (378) annehmen, erst gar nicht in den Blick: Die übermenschlichen, übernatürlichen Fähigkeiten, die der Gürtel verleiht. Dennoch wird am Romanbeginn erzählt, wie zwei repräsentative Vertreter des Artushofes einen Gegenstand zurückweisen, der mit Zauberei verbunden ist – der Umgang mit Magie soll im weiteren noch thematisiert werden. Joram siegt über Gawein, Magie siegt hier also über vorbildliches Rittertum. Gawein muß sicherheit leisten und Joram in sein Reich begleiten. Fremde benötigen den Gürtel, um sicher die steinwende im wilden lant (607, 601) passieren zu können: Niemand kann ohne den Gürtel in das Land gelangen. Gawein verliebt sich in Jorams Reich in die schöne Florie, Joram erinnert an Gaweins Sicherheitsgelöbnis und befiehlt Gawein darauf, Florie zu heiraten: der wirt den herren Gâwein bat ze leisten sîne sicherheit; er sprach »herre ich bins bereit, wand ich alsô gesworen hân.« die maget hiez er ûf stân und sprach »sô nemt ze wîbe dise maget iuwerm lîbe ze triuwen und ze rehter ê.« (956–963)

Die Ehe wird damit immerhin als Konsequenz einer Tjost ausgewiesen, bei der der Sieger gemogelt hat. 11 Doch Gawein freilich glaubt, darin Enites Vater Koralus ähnlich, zunächst an einen Scherz und kann sein Glück kaum fassen. Die unsportliche Tjost kommt nicht mehr zur Sprache, vielmehr wird auf Gaweins Liebesglück fokussiert. Gawein darf heiraten; bald sieht er Vaterfreuden entgegen. Die Regieführung, die sich vorwiegend an dem orientiert, was Gawein erlebt, läßt Jorams Raum zunächst recht freundlich erscheinen. Wenn man mit Lotmans Raumkonzept aus Gaweins Perspektive den Artushof als vertrauten Innenraum beschreiben will, 12 und wenn Gawein mit Hilfe des 11 Nach Jutta Eming, Funktionswandel des Wunderbaren: Studien zum ›Bel Inconnu‹, zum ›Wigalois‹ und zum ›Wigoleis vom Rade‹, Trier 1999 (Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, romanistische Studien 19), S. 223, stellt Gaweins Schicksal eine Mahnung dar: »Eine Verführung durch das Wunderbare wie in der Feenliebe gilt als Gefahr«. Mir ist wichtig, daß Gawein weniger verführt als entführt wurde. 12 Lotman beschreibt die Raumstruktur in den Oppositionen ›geschlossen‹ – ›geöffnet‹ bzw. ›innen‹ – ›außen‹. Die Raumstruktur kann mit semantischen Merkmalen verknüpft werden, so kann etwa der Innenraum als heimatlich, warm und sicher dargestellt werden, der Außenraum kann feindselig, fremd oder kalt sein. Zwischen beiden Räumen

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Gürtels eine Grenzüberschreitung in einen Außenraum gelingt, so scheint der neue Raum zunächst vordergründig harmlos zu sein. Indem Gawein im Außenraum heiratet und eine Familie gründet, versucht er, sich den Außenraum als seinen neuen Innenraum verfügbar zu machen. Doch das Zauberreich leistet Widerstand, bis zum Romanende kommt es nicht dazu, daß das Zauberreich in etwas anderes transformiert wird, als es von Beginn an ist. Getrübt wird das Bild von Jorams Reich, als Gawein den Artushof besuchen will: Dort weiß man schließlich nicht, wie es ihm seit seiner Niederlage und Entführung ergangen ist. 13 Mit der Visite am Artushof erweist sich das Zauberreich als Scheinidylle: Gawein hat den Gürtel zurückgelassen (1194–98) und kann daher nicht zurückkehren. Für Gawein entwickelt sich Jorams Reich also in ein Land, in welches niemand wiederkehrt, auch wenn zunächst alles in Weichzeichner getaucht schien. Wenn das Land, in dem die Ehefrau lebt und in dem der eigene Sohn aufwächst, unauffindbar ist, so ist es als defizitär markiert. 14 Ein schlechtes Regiment? Zumindest kein vorbildliches. 15 besteht eine Grenze, nur dynamischen Figuren ist eine Grenzüberschreitung möglich, dagegen sind statische Figuren im Grunde nur eine Funktion dieses Raumes. Ein sujethaftes Ereignis tritt dann ein, wenn eine Figur über eine semantische Grenze versetzt wird. Bei einem konventionellen sujethaften Ereignis wird die semantische Struktur des Raums nicht verändert, bei einem Metaereignis wird zugleich die Struktur der semantischen Räume transformiert (Jurij M. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes. Hg. von Rainer Georg Grübel. Übersetzt von R. Grübel, W. Kroll und H.-E. Seidel, Frankfurt am Main 1973 [Edition Suhrkamp 582], S. 344–358; Jurij M. Lotman, Die Entstehung des Sujets – typologisch gesehen, in: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst, hg. von Juri M. Lotmann, Stuttgart 1981, S. 175–204; ›Metaereignis‹ nach Titzmann in Anschluß an Lotman: Michael Titzmann, Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik, in: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3. Teilband, hg. von Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok, Berlin, New York 2003 [Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 13.3], S. 3028–3103, hier S. 3081). 13 Eine andere Motivation für Gaweins Aufbruch unterstellen etwa Neil Thomas, Wirnts von Gravenberg ›Wigalois‹ und die Auseinandersetzung mit der ›Parzival‹-Problematik, in: ABäG 60 (2005), S. 129–160, hier S. 150, oder Eming [Anm. 11], S. 152: Ritterliche Betätigung habe Gawein im Feenreich gefehlt, das Leben bei Florie genüge Gawein nicht mehr. Doch von einer Sehnsucht nach âventiure steht nichts im Text. Vom Feenreich heißt es: rîterschefte was dâ vil (1029). Gawein vermißt die Tafelrunde und die mässenîe (1058). Am Hof angekommen will er nicht turnieren als ê (1168). 14 Auch für Eming [Anm. 11], S. 162, ist das Feenreich eine »problematische und defizitäre Welt«. In Wigalois’ Aufbruch sieht Eming eine Absage an die Mutterwelt, er »möchte sich Lebensform, und gesellschaftlichen Status, Normen und Werthaltungen seines Vaters aneignen.« 15 Jorams Reich kann mit Hartmut Kugler auch als ›Raumzelle‹ beschrieben werden. Raumzellen sind demnach »weitgehend für sich bestehende und stark abgegrenzte Einheiten. Die darin stattfindenden Handlungen richten sich beharrlich auf den Erhalt

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Wirnt geht es offenbar nicht darum, Gawein die Verantwortung für die Trennung von Vater und Sohn anzulasten und ihn negativ zu charakterisieren: 16 Gawein wurde mit Zauberkraft besiegt und sodann entführt. Zwar hätte Gawein den Gürtel mit zur Exkursion an den Artushof nehmen können, doch daß er ihn zurückgelassen hat, wird damit begründet, daß er seine Frau mit jâmer sach (1198) – ein ehrenhaftes Motiv. Es wird Gawein nicht ausdrücklich mitgeteilt, daß man nur mit dem Gürtel ins Land gelangen kann: Bei der Einreise verweist Joram zuerst auf die steilen Berge, dann überreicht er den Gürtel, er begründet damit aber im weiteren nur noch, warum er Gawein besiegen habe können (605–627). Gawein wurde am Artushof als Musterritter vorgestellt, dessen Rat die Königin bei Problemfällen sucht; ein Unübertrefflichkeitstopos bestätigt Gaweins Vorbildlichkeit: wan bezzer rîter dern wart nie. (577) Eine Information, die Gawein in einem schlechten Licht erscheinen lassen könnte, kommt erst mit der Tugendsteinprobe ins Spiel. Allerdings scheinen weder der Erzähler noch die übrigen Artusritter ein Problem mit Gaweins Fehltritt zu haben; alle übrigen Ritter außer Artus haben offenbar noch mehr auf dem Kerbholz (1495–1517). Zudem bleibt bei der Tugendsteinprobe – an dieser Stelle möglicherweise signifikant – gerade der Vorwurf an Gawein aus, daß er seine schwangere Frau alleine zurückgelassen habe. Anders als hier vorgeschlagen zeichnen Sabine und Ulrich Seelbach ein durchgehend positives Bild von Jorams Reich. Alleine das Hortus-conclususMotiv qualifiziere Jorams Reich als »Schwundstufe eines Feenreiches«. 17 Ansonsten erscheine das Reich weder als defizitär noch als dämonisiert. Die Unzugänglichkeit bleibt aber doch ein evidentes Problem, auch wenn sie nachträglich

ihrer Regelkreise und ihrer inneren Balance und fordern von den Handlungsträgern ungeteilte Präsenz. In diese auf sich konzentrierten Raumzellen mit ihren auf sich beharrenden Ansprüchen dringt nun der Aventiure-Ritter ein. Er muß, will er nicht in einer der Zellen seßhaft werden, die verschiedenen Handlungs- und Raumeinheiten aufschließen und durch seinen Aventiure-Weg untereinander verbinden.« (Hartmut Kugler, Über Handlungsspielräume im Artusroman und im Maere, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters, Düsseldorf 1994 [Studia humaniora 25], S. 251–267, Zitat S. 254) Gawein gelingt es weder, in Jorams Reich seßhaft zu werden, noch kann er das Reich etwa in eine Verbindung mit der Artuswelt bringen. 16 So Carola Gottzmann, Wirnts von Grafenberg ›Wigalois‹. Zur Klassifikation sogenannter nachklassischer Artusdichtung, in: ABäG 14 (1979), S. 87–136, hier S. 94. Gottzmann sieht ein Vergehen Gaweins gegen die Minnegemeinschaft. 17 Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach [Nachwort, Anm. 2], S. 266; von einem Feenreich, das »gleichsam auf einer Schwundstufe angesiedelt« sei, hat bereits Eming [Anm. 11], S. 154, gesprochen.

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rationalisiert wird: 18 Die Berge sind zu hoch (1204f.), zudem wird die Rückkehroption an den Zaubergürtel gekoppelt. Nach Sabine und Ulrich Seelbach spricht für die positive Darstellung von Jorams Reich auch die »vorzügliche Erziehung«, die Wigalois dort erhalte, ein »zweiter Bildungsweg« in der Artuswelt werde so überflüssig. Allerdings bleibt zumindest eine Schwundstufe einer Gurnemanz-Figur erkennbar: Gâwein underwant sich sâ / des knaben mit sîner lêre; / des gewan er vrum und êre. (1601–03) 19 Zudem leistet Wigalois Dienst am Artushof, er ist an den Unternehmungen des Hofs beteiligt und nimmt an Turnieren teil (1607–21), erst danach kommt es am Artushof zur Schwertleite (1628). Anders formuliert: Wigalois hat zuhause acht Jahre lang eine Grundausbildung als Ritter erhalten, doch in acht Jahren konnte er es nicht erreichen, zum Ritter geschlagen zu werden – heutzutage könnte ein solcher Studiengang kaum auf eine Akkreditierung hoffen. Sabine und Ulrich Seelbach verweisen zudem auf das intakte Sozialwesen und die Orientierung an höfischen Normen in Jorams Reich (ebd.). In der Perspektive einer linearen Erstlektüre ist das Reich in der Tat zunächst wohlwollend beschrieben. Doch ex post, nach Gaweins Scheitern und beim Nicht-Erkennen von Vater und Sohn, erweist sich das Reich als defizitär: Die sozialen Bindungen sind hier ebenso gestört wie in anderen Feenmärchen. 20 18

Sybille Wüstemann bezeichnet den Gürtel das »einzig Wunderbare« in Jorams Reich. »In dem Land selber regiert ohnedies in jeder Hinsicht höfische Normalität.« Etwas später spricht Wüstemann dann doch von einer »feenhaften Mutter- und arthurischen Vaterwelt« (Sybille Wüstemann, Der Ritter mit dem Rad. Die stæte des Wigalois zwischen Literatur und Zeitgeschichte, Trier 2006 [Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, romanistische Studien 36], Zitate S. 36 und S. 39). Gegen Wüstemann sei auf die Wunderlampe in Flories Brosche verwiesen (vgl. dazu unten, S. 28). Jorams Reich – ein wilde lant (601) – wird, bevor nach dreizehn Tagen die Burg erreicht wird, als menschenleere Blütenpracht beschrieben; dem Erzähler zufolge würde jemand, der ein solches Land sehe, meinen, er träume (636–41). Nach Eming [Anm. 11], S. 151, weckt die Blütenpracht »Vorstellungen vom Paradies«. 19 Claudia Brinker-von der Heyde spricht von einem »letzten ›Schliff‹ am Artushof« (C. B., Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen, Bonn 1996 [Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 123]), S. 244). Etwa stark spitzt Eming [Anm. 11], S. 161, zu: Wigalois müsse am Artushof »noch einmal beim Punkt Null anfangen.« 20 Vgl. Volker Mertens, Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, hg. von Johannes Janota et al., Tübingen 1992, S. 201–231. Nach Mertens ist in Mahrtenehenerzählungen die Anderwelt durch »fehlende soziale Strukturen, durch magische Fülle, aber auch durch Heils-Defizienz gekennzeichnet« (ebd., S. 202). Daß Gawein nicht wiederkommen kann, könnte in Schwundstufe noch den Überrest eines Tabus repräsentieren; man denke an den ›Bel Inconnu‹, in dem sich Guinglain nach seinem Entschluß, die Fee zu verlassen, statt in der Kemenate unter freiem Himmel wiedergefunden hat. Ob Elemente des Feenreiches aus dem ›Bel Inconnu‹ hier in die Vorgeschichte geraten sind,

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Zunächst entwirft Wirnt einen Raum der Magie, der auf discours-Ebene positiv bewertet wird. Elemente der histoire-Ebene – beginnend mit der Absenz des Vaters, Gürtelverlust, Mutation der magischen Elemente zur dunklen Seite der Macht – legen im weiteren eine Sicht auf Jorams Reich nahe, die es nicht nur als problemfreie Zone erscheinen läßt. Es besteht also eine Spannung zwischen der erzählerischen Vermittlung und der erzählten Handlung. Auch wenn damit noch nicht in Bachtins Sinne von Polyphonie die Rede sein soll, so liegt doch kein monoperspektivisches Erzählen vor. Kein Programm? Als sich Wigalois zwanzig Jahre später anschickt, seine Heimat, seinen Innenraum zu verlassen, kann er zwar auf eine vorbildliche Jugendvita zurückblicken, doch eine entscheidende Störung ist zu verzeichnen: Der Raum der Magie wird durch die Absenz des Vaters dominiert. Aus der Störung der Familienbindung durch Magie resultiert, daß sich Vater und Sohn am Artushof nicht erkennen können. 21 Im Nicht-Erkennen hat die Wigalois-Forschung einen Kompositionsfehler gesehen: Werner Schröder versteht den Gürtel als »Erkennungszeichen«. Daß aber der Sohn, der ausgezogen ist, um den Vater zu suchen, am Ziel »alles vergessen muß«, fügt sich bei Schröder in eine Gesamtschau ein, die im ›Wigalois‹ ein »unbefriedigendes Stückwerk« sieht. 22 Neben der Verklammerung von Vorge-

mag an anderer Stelle diskutiert werden; immerhin ist dort Guinglain ebenfalls der Sohn von Gauvain und einer Fee. Wichtig bleibt, daß Gawein nicht freiwillig in Jorams Reich kommt: Eventuell wird hier ein Endogamie-Problem mit den Mitteln der Magie gelöst. Zur exogamen Partnerwahl im Feenmärchen und im ›Lanzelet‹ vgl. Elisabeth Schmid, Mutterrecht und Vaterliebe. Spekulationen über Eltern und Kinder im ›Lanzelet‹ des Ulrich von Zatzikhoven, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 220 (1992), S. 241–254; René Pérennec, Artusroman und Familie: ›Daz welsche buoch von Lanzelete‹, in: Acta Germanica 11 (1979), S. 1–51, v. a. S. 41–46. Während im ›Lanzelet‹ die Väter von Lanzelets Partnerinnen den Preis für die exogame Partnerwahl bezahlen, bezahlt im ›Wigalois‹ Gawein mit der Trennung von Frau und Kind. 21 Die Einordnung der Elterngeschichte von Klaus Grubmüller greift etwas zu kurz. Nach Grubmüller erfüllt die »Elternvorgeschichte keine andere Funktion als die Wolframs: sie legt den Grund für die Unbezwingbarkeit der aus Anlage und Abstammung begründeten Bestimmung« (Klaus Grubmüller, Artusroman und Heilsbringerethos. Zum ›Wigalois‹ des Wirnt von Gravenberg, in: PBB 107 [1985], S. 218–239, hier S. 224). 22 Schröder [Anm. 10], S. 272f.; vgl. auch S. 262: »Der Gürtel wird ihm nach dem Drachenkampf von einer diebischen Fischersfrau gestohlen und verschwindet als blindes Motiv.« In Zaubergürtel, jenseitiger Geburt, Ohnmacht und Vatersuche sieht auch Fuchs [Anm. 2], S. 213, blinde Motive.

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schichte und Haupthandlung 23 wurde häufig der Namur-Feldzug als unorganisch aufgesetzt moniert. 24 Viele Forschungsbeiträge messen den ›Wigalois‹ an den Artusromanen von Chrétien, Hartmann und Wolfram – ein Gedanke, der durchaus naheliegt. Der Roman ist im arthurischen Figureninventar verankert, viele Motive sind übernommen, Wirnt bezieht sich auf Hartmann (6309) und Wolfram (6343). Der Vergleich mit Chrétiens Artusromanen konnte jedoch nur ex negativo als Schlüssel zum ›Wigalois‹ dienen. Man findet so nur, was dort fehlt; mit Walter Haug ein Held, der »eine persönliche, innere Krise« bewältigen muß, sowie eine doppelte »Grenzthematik«: Die »ritterliche Tat, d. h. die Frage nach der Möglichkeit der Bewältigung der Welt durch die Tat«, sowie die »Liebe, d. h. die Erfahrung des Du im Beschenktwerden an der Grenze dessen, was durch die Tat machbar ist«. 25 Bei einem idealen Helden wird der Artushof als Orientierungszentrum entbehrlich, statt Sinnsuche konstatiert man Oberflächlichkeit und Fehlerlosigkeit. Ein Programm läßt sich aus einer solchen Negativliste kaum ableiten, 26 allenfalls kann man die Zunahme der phantastischen Elemente erklären: »Wenn alles Positive sich im Helden konzentriert, tritt die Welt zwangsläufig unter einen negativen Aspekt. Der makellose Held evoziert als kontrastive Folie eine an sich böse, ja dämonische Wirklichkeit.« 27 23 Noch Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach [Nachwort, Anm. 2], S. 266, notieren bei sonst tendenziell positiver Wertung: »Zu Inkonsequenzen kommt es ebenfalls bei der Verschränkung von Vorgeschichte und Haupthandlung über das Motiv der Vatersuche. Wohl in der Absicht, des Helden tugendadelige Legitimation zusätzlich durch ein entsprechendes väterliches Erbe zu stützen, werden beide literarischen Erfahrungstypen bemüht, der genealogische […] und der Aufsteigertypus […]. Beide Typen müssen anschlußlogisch notgedrungen kollidieren.« 24 Die Kritik der Wigalois-Forschung am Namur-Feldzug referiert Eming [Anm. 7], S. 91–94. Allerdings bleibt auch nach Eming die »Singularität« der Namur-Episode (S. 100) im »ohnehin nicht stringent erzählten Werk« (S. 91) bestehen. »Mit der Form ihrer Konfliktbewältigung steht sie jedoch im Zusammenhang mit einer kohärenten Struktur im gesamten Roman, der gemäß Gwigalois Aktion an die Stelle von Reflexion setzt.« (S. 101) 25 Walter Haug, Das Fantastische in der späteren deutschen Artusliteratur, in: Spätmittelalterliche Artusliteratur, hg. von Karl Heinz Göller, Paderborn 1984 (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 3), S. 133–149, hier S. 139. 26 Ähnlich Volker Mertens, Iwein und Gwigalois – der Weg zur Landesherrschaft, in: GRM 62, N.F. 31 (1981), S. 14–31, hier S. 21: Im Vergleich mit dem ›Iwein‹ sei es »müßig, nach der möglicherweise sozialen oder politischen Motivation der Abenteuer zu fragen«. 27 Haug [Anm. 25], S. 143. An der Umdeutung der Motiv- und Strukturzitate nimmt auch Stephan Fuchs Anstoß. So laufe etwa in der Nereja-Episode die Überdetermination ins Leere: »Sie erscheint wie ein Zitat einer sinnerfüllten Symbolstruktur, die nur noch rein äußerlich präsent ist, aber nicht mehr ausgefüllt wird.« (Fuchs [Anm. 2], S. 136) Das Zitieren von Motiven, Konstellationen und Handlungsmustern werde belie-

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Wenn man ein Programm gesehen hat, dann ein recht einfaches, das »eine Deutungsleistung kaum mehr verlangte«: Nach Ingrid Hahn geht es Wirnt darum, »seinem Publikum zu demonstrieren, wie Frommsein, Minne und Ehre im Bild des betenden Ritters zusammengehen«. 28 Bei aller positiven Wertung – Wirnt signalisiere die Kenntnis der Prätexte, ignoriere aber ihre »ästhetisch-innovatorischen Vorgaben zugleich souverän« – beschreibt auch Hans-Jochen Schiewer Wirnts Position als eine Negation von Hartmannschen und Wolframschen Konzeptionen: Ein Konflikt zwischen Ehre und Minne bleibe aus, das Heldenbild sei »ebenso linear wie die Struktur seiner Geschichte«. Dignität gewinne der Roman »über den autoritativen Anspruch des Diskurses im ethisch-moralischen Sinne«. 29 Klaus Grubmüller hat dafür plädiert, den ›Wigalois‹ nicht an Chrétiens Modell zu messen, Wigalois müsse seine Qualitäten bekanntlich nur noch demonstrieren. 30 Grubmüller parallelisiert dennoch die Wege von Parzival und Wigalois. So plaziere Wirnt die Cundrie-Verweise samt Wolfram-Nennung gerade in der Ruelszene. Hier gerate Wigalois in Todesangst und Todesgefahr, er müsse – ebenso wie Parzival in der Begegnung mit Cundrie – erfahren, daß »es Bereiche gibt, wo Rittertum versagt«. 31 Und in denen sich zwîvel einstelle: »Das Scheitern der Maßstäbe arturischer Ritterlichkeit, für die gerade Gawein steht, müssen Wigalois und Parzival beide programmatisch erfahren.« 32 big, »da diese keinen Sinn mehr konstituieren« (S. 158). Daraus resultiere eine hybride Heldenkonzeption, die etwa »Züge des aktiv kämpfenden Artusritters in einer märchenhaften Welt« mit denen eines passiven, leidenden Legendenhelden auf disparate Weise verschmelze (S. 163). 28 Hahn [Anm. 9], S. 50. Eigene Akzente setze Wirnt am ehesten bei der Verlustklage der Frau; selbst Japhite und Ruel klagen um ihren Mann: »Die Einheit von Mann und Frau in der Liebe wird so zu einem äußersten Wert, der gegen die Kontingenz menschlicher Existenz steht, ihr Unzerstörbares anzeigt.« (S. 51–54, Zitat S. 54) 29 Hans-Jochen Schiewer, Innovation und Konventionalisierung. Wirnts ›Wigalois‹ und der Umgang mit Autor und Werk, in: Literatur und Wandmalerei. Bd. 2: Konventionalität und Konversation, hg. von Eckart Conrad Lutz, Tübingen 2005, S. 65– 83, Zitate S. 71 und S. 72: Vereinfachung, Negation und Reduktion gegenüber Chrétien rangieren hier also als Programm. An Schiewers Überlegungen, der einen »Rückgriff auf einfache und eindeutige Formen des Erzählens und der Sinnstiftung« sieht (S. 75), schließen Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach [Nachwort, Anm. 2], S. 280, an: »Der Mensch wird durch seine Verankerung in einem archaisch-christlichen Kosmos quasi in einen Zustand ›vorchrétienscher‹ Sicherheit zurückgeführt.« Wirnt favorisiere ein unmodernes und traditionelles Herrschaftsmodell, das sich noch an älteren personalen Strukturmustern orientiert wie etwa bei den Stauferkönigen (S. 283). 30 Grubmüller [Anm. 21], S. 225. 31 Ebd., S. 230f. 32 Ebd., S. 233. Zum Verhältnis von ›Parzival‹ und ›Wigalois‹ vgl. auch Neil Thomas [Anm. 13].

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Gawan als Schlüssel zu Gawein? An die ›Parzival‹-Parallele will ich anknüpfen, auch wenn mir weniger ein Vergleich mit Parzival als die Gawanpartien als Ausgangspunkt wichtig sind. Dort geht es darum, wie der beständige Ritterkampf zu Tod und Agonie führt: Wenn Freunde und Brüder gegeneinander kämpfen oder wenn Gramoflanz Gawans Schwester liebt und doch glaubt, Gawan töten zu müssen. Überwunden wird diese Problemlage durch die Schaffung eines umfassenden Verwandtschaftssystems, so daß sinnlose Kämpfe überflüssig werden. 33 Gawans erste Großtat ist die Erlösung der verzauberten Burg Schastel marveile. Clinschors Zauber hat hier jede Bindung zwischen den Geschlechtern verhindert, zudem waren Gawans Mutter, Großmutter und Schwestern dort gefangen. Gawans Bindung zu seiner Familie war also durch einen Zauberer gestört, der damit kompensiert, daß er einst nach einem Ehebruch kastriert wurde; darunter muß nun ein ganzes Land leiden. 34 Diskutiert werden also zwei Themen: Ein Problem, das der Ritterwelt inhärent ist – der ständige Kampf und seine Folgen, also ein systeminterner Widerspruch –, sowie eine externe Störung: Die Bedrohung von Verwandtschaftsbeziehungen und Räumen durch magische Kräfte. Die zweite Problemlage, so meine These, ist zentral für den ›Wigalois‹: Joram siegt über den arthurischen Vorzeigeritter nur mit Hilfe des Zaubergürtels, Gawein kann nicht ohne Zauberkraft zu Frau und Sohn zurückfinden, der Titelheld wächst ohne Vater auf und kann ihn später am Artushof nicht erkennen. Wenn Vater und Sohn einander nicht erkennen, wird damit die Störung der Familienbindung auf drastische Weise vor Augen geführt; das Fehlen des Vaters in der ansonsten vorbildlichen Jugendvita von Wigalois wiederum resultiert aus Jorams Einsatz des Zaubergürtels. 35 Wigalois wird in Korntin gegen die Kräfte der Magie kämpfen, der Zaubergürtel, ein Relikt aus dem Raum der Magie, wird program33

Vgl. Elisabeth Schmid, Familiengeschichte und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in der französischen und deutschen Gralsromanen des 12. und 13. Jahrhunderts, Tübingen 1986 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 211), S. 194– 204. 34 Vgl. Friedrich Michael Dimpel, Dilemmata: Die Orgeluse-Gawan-Handlung im ›Parzival‹, in: ZfdPh 120 (2001), S. 39–59, hier S. 40–45. 35 Abgesehen von dem Umstand, daß Nereja sich eventuell eher mit Gaweins Sohn begnügt hätte als mit einem Ritter, der ihr gänzlich unbekannt ist, wird das Nicht-Erkennen im weiteren Verlauf nicht handlungsbestimmend. Daher halte ich die anaphorische Dimension des Nicht-Erkennens für wichtiger als die kataphorische: Die Vater-SohnBindung wird als defizitär markiert. Vers 1305, in dem Wigalois äußert, sein Vater heiße Gawein, bleibt dennoch irritierend. Immerhin wird der Aspekt, daß das Nicht-Erkennen nur schwer zu glauben ist, an die Figurenebene delegiert: sô dir got, ist ez wâr? (4805; Wigalois in Anschluß an die Aufklärung durch Lar)

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matisch zurückgelassen. Gegner mit magischen Kräften werden besiegt, die Magie wird aus der Romanwelt getilgt. 36 Wie für Gawan im ›Parzival‹ ist die handlungsauslösende Mangelsituation 37 in der Romanwelt des ›Wigalois‹ weit vor dem Eingreifen des Titelhelden entstanden: Den Bericht über Gawans weibliche Verwandtschaft, die in Schastel marveile gefangen ist, überbringt Cundrie, als sie Parzival verflucht hat; 38 die Ereignisse in Korntin und in Jorams Reich liegen vor Wigalois’ Aufbruch. Ein Doppelweg wird nicht notwendig. Bei Gawans Ohnmacht nach den Kämpfen in Schastel marveile hat die Forschung, soweit ich sehe, nicht bemängelt, daß hier etwa eine innere Krise fehlen würde – anders nach Wigalois’ Ohnmacht nach dem Drachenkampf, die sicher auf Iweins Erwachen anspielt. 39 36 Die Beseitigung von Zauberei ist für Eming [Anm. 11], das zentrale Thema im ›Wigoleis vom Rade‹. Dort werde dem ›Wunderbaren‹ die manheit entgegengehalten (S. 250). Evident ist, daß Gabon – anders als Gawein bei Wirnt – die Verwendung des Zaubergürtels bei seiner Niederlage kritisiert. Eming sieht einen deutlichen Kontrast zwischen ›Wigalois‹ und dem ›Wigoleis vom Rade‹: Bei Wirnt sei das ›Wunderbare‹ nicht nur in der Feenwelt angesiedelt, Elemente des Wunderbaren reichten auch in die höfische Welt hinein. Zu einer »Ablösung magischer durch religiöse Unterstützung« komme es nicht (S. 276). Beim Verlust des Zaubergürtels gehe es nicht um einen Verzicht auf Magie (S. 195), der Gürtel werde »einfach ab einem bestimmten Punkt durch andere Wundermittel ersetzt« (S. 214). Im Bemühen, charakteristische Unterschiede zwischen den beiden Fassungen herauszuarbeiten, zeichnet Eming möglicherweise die Konturen etwas überdeutlich. Im ›Wigoleis vom Rade‹ sei der Roas-Kampf »zum Schlag gegen zauberey« umfunktioniert; doch auch bei Wirnt heißt es über den Teufelsbündler Roaz: vor im mit zouber ein wolken gie (7317). Auch wenn es im ›Wigoleis vom Rade‹ um manheit und die Beseitigung von Zauberei gehe, benötige der Held ein Wundermittel: Ein Hemd, das gegen Zauberei hilft (S. 258), gerade im Kampf gegen Zauberei sei ein zusätzlicher magischer Gegenstand nötig (S. 276). Die gleiche Funktion erfüllt allerdings schon bei Wirnt der Schutzbrief: vür älliu zouber was er guot (4429). Sicherlich ist in der Prosafassung die Absage an magische Kräfte noch klarer formuliert als bei Wirnt. An anderer Stelle wäre zu diskutieren, ob der Prosabearbeiter die Konzeption bei Wirnt, die m. E. auch bereits eine Absage an Magie enthält, möglicherweise interpretierend vereindeutigt hat. 37 Rainer Warning beschreibt das ›Begehren‹ des Subjekt-Aktanten im Artusroman als »Mangelsituation« (Rainer Warning, Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman, in: Identität, hg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979 [Poetik und Hermeneutik 8], S. 553–589, hier S. 559). 38 Pz. 318,12–24, die Namen Sangive, Arnive, Cundrie und Itonje ergänzt Clias in Pz. 334,11–22. Vgl. auch Dimpel [Anm. 34], S. 42f. 39 Vgl. etwa Volker Mertens, gewisse lere. Zum Verhältnis von Fiktion und Didaxe im späten deutschen Artusroman, in: Artusroman und Intertextualität, hg. von Friedrich Wolfzettel, Gießen 1990, S. 85–106, S. 87f., sowie Fuchs [Anm. 2], S. 150: Der Identitätsverlust »erscheint rein äußerlich, als Zitat«; vgl. auch S. 215. Zur Ohnmacht siehe auch Hartmut Bleumer, Das wilde wîp. Überlegungen zum Krisenmotiv im Artusroman und im ›Wolfdietrich‹ B, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mit-

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Schutzbrief und riemen versus gürtel und steine Solange Wigalois bei seinem Ritt mit Nereja nicht mit übernatürlichen Wesen kämpfen muß, sind die konventionellen Mittel und Tugenden eines Artusritters ausreichend, um diesen Weg zu absolvieren. Bereits in den Qualifikationsaventiuren zeigt sich ein Mangel an gutem Regiment: Riesen können dem Artushof eine Jungfrau entführen. Nicht Artus, sondern Wigalois verhindert die Vergewaltigung – anders als im ›Iwein‹ läuft jedoch kein Erzählstrang im Hintergrund ab, das »Fenster zum Hof« 40 öffnet sich nur kurz am Ende der Episode: Man freut sich dort über die Rückkehr der Jungfrau, damit wird das Fenster wieder geschlossen. Von Dialogizität, davon, daß ein defizitärer Status des Artushofes zum Signum für den Status würde, den Wigalois erreicht hat, kann man hier nicht sprechen; Wirnt ringt offenbar mit den Konsequenzen, die die Umgestaltung des ›Bel Inconnu‹-Stoffes mit sich gebracht hat. 41 Auch in der Elamie-Episode ist außer Wigalois niemand präsent, der Hoyer für den Raub des Schönheitspreises zur Ordnung rufen würde. Die Kämpfe mit dem Drachen Pfetan und mit Ruel zeigen Wigalois in einer Sphäre des Übergangs: In einem Raum, in dem sich Drachen und monströse Weiber tummeln, fehlt ein gutes Regiment, auch wenn hier noch positive Figuren wie der Graf Moral angesiedelt sind. 42 In Glois dagegen herrscht mit dem Teufelsbündler Roaz das Regiment des Bösen. Dort kann Wigalois nur Erfolg haben, wenn er dazu in der Lage ist, Gegner zu überwinden, die über magische Kräfte verfügen; eine Aufgabe, an der sein Vater gescheitert war. Vor hier aus erweist sich im Rückblick die Tugendsteinprobe als Raummodell en miniature: Wigalois konnte den Tugendstein erreichen, Gawein konnte ihm nur nahekommen. Gawein konnte Jorams Reich nicht zu seinem Innenraum transformieren und auch das verzauberte Korntin nicht erreichen – anders sein Sohn.

telalters. XVI. Anglo-deutsches Colloquium Exeter 1997, hg. von Alan Robertshaw und Gerhard Wolf, Tübingen 1999, S. 78–89, hier S. 84. 40 Hartmut Kugler, Fenster zum Hof. Zur Binnenerzählung von der Entführung der Königin in Hartmanns ›Iwein‹, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren Literatur 19), S. 115–124. 41 Diese Umstellungen diskutiere ich in Dimpel [Anm. 8]. 42 Ruel wird zwar ebenso wie der Drache, Marrien oder Roaz tievels trût genannt (6452), doch ist Ruel eher als Karikatur gezeichnet. Wirnt witzelt etwa, ein Beilager mit Ruel würde den Liebhaber altern lassen (6351f.), bei Marrien oder Roaz kommt eine ernstere Tonart zum Klingen.

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Vor all diesen Kämpfen wird Wigalois noch ausgestattet. Nach der Proppschen Märchenlogik erhält der Held nach einer Prüfung ein magisches Hilfsmittel. Im Roman bleibt es nicht bei der Einzahl: Neben den Zaubergürtel treten Brot, Brief, Blüte und Lanze; der Zaubergürtel wäre nach Propp nicht als magisches Hilfsmittel zu verstehen, da Wigalois ihn ohne vorausgehende Prüfung erhält, dagegen können die Kämpfe, die er an der Seite von Nereja bestreitet, durchaus als Prüfung im Sinne des Märchenschemas eingeordnet werden. 43 Wenn ein Motiv vervielfacht wird, wird es damit als bedeutsam markiert. Zunächst erhält Wigalois einen »Schutzbrief« 44 : der priester strihte im umb sîn swert / einen brief, der gap im vesten muot: / vür älliu zouber was er guot. (4427–29) Auffällig ist hier der religiöse Kontext, ausführlich wurden zuvor die Messe, die Segnung und die religiöse Autorität des Priesters zum Thema. Vierzig Verse später erhält Wigalois von Larie nicht etwa einen Ring, sondern ein Brot. Zuvor wurde noch von der Bitte von Laries Gefolge um Gottes Beistand für Wigalois berichtet; Abendmahlassoziationen verstärkt Wirnt, indem er Wigalois in der Vorzeile mit dem irdischen Leben abschließen läßt (des lîbes hêt er sich bewegen; 4466). Das Brot selbst verleiht muot und schützt vor Hunger (4470–78). 45 Lanze und Blüte erhält Wigalois von Laries Großvater Lar, der so gottgefällig gelebt hat, daß er Freigang vom Fegefeuer erhält und seine Sünden in nur zehn Jahren verbüßen darf (4819–21). Die Blüte hilft gegen bœsen smac (4745), ein süßer Geruch der Heiligkeit; die Lanze, die Lar von einem Engel gebracht wurde (4749), ist die einzige Offensivwaffe, mit der es möglich ist, den Drachen zu töten. 46 43 Vladimir Propp, Morphologie des Märchens [1928]. Hg. von Karl Eimermacher, München 1982, S. 43–52. Propp diskutiert auch den Fall, daß die Folge »Prüfung, Reaktion des Helden, Belohnung« vor der Schädigung, also am Beginn stehen kann: eine »Inversion« (S. 106). Die Prüfung wäre beim Zaubergürtel auch bei einer Inversion entfallen, damit sinken Kosten und Kostbarkeit des Zaubermittels. Vgl. zu dieser Funktionsfolge auch Algirdas Julien Greimas, Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von Jens Ihwe, Braunschweig [1966] 1971 (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie 4), S. 182f. 44 Zum brief vgl. Claudia Brinker, Hie ist diu aventiure geholt! Die Jenseitsreise im ›Wigalois‹ des Wirnt von Grafenberg; Kreuzzugspropaganda und unterhaltsame Glaubenslehre? in: Contemplata aliis tradere, hg. von Claudia Brinker, Bern u. a. 1995, S. 87–110, hier S. 101f. Die Übersetzung mit »Schutzbrief« folgt Brinker. 45 Nach Fuchs [Anm. 2], S. 144, ist das Brot aus den Händen Laries ein »eminent erotisches Symbol, Sinnbild der Minne, die ihm mehrmals Ansporn und Kraft geben wird.« Ähnlich Dietl [Anm. 6], S. 308. Das Brot konserviert gewissermaßen die topische Stärkung des Ritters durch den Anblick der Geliebten. 46 Eming [Anm. 11] sieht eine »prinzipielle Gleichrangigkeit von religiösen Wundern und magischen Dingen« (S. 213). Daß etwa der Schutzbrief, der den Teufel fern hält, letztlich nur aufgrund des göttlichen Beistands wirken kann, kommt hier etwas kurz. Auch bei Ruel lösen sich die Fesseln von Wigalois nicht etwa auf »auf wundersame Wei-

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Dagegen geht dem Zaubergürtel eine Situierung in einem christlichen Kontext ab; nicht einer Segnung, sondern der Kraft der Edelsteine verdankt er seine Wirkung. In Jorams Reich findet man weit weniger christliche Lebenspraxis als an Laries Hof. Vielmehr steht die Magie im Vordergrund: Florie besitzt einen zweiten Zaubergürtel. Die Kraft des Rubins bewirkt, daß seine Trägerin kein Leid empfinden kann: 47 ouch was ein edele rubîn durch sînen wünniclîchen schîn in den gürtel vor geleit; als si dehein swachez leit truobte in ir gemüete, sô benam des steines güete mit süezem schîne ir ungemach, sô si sîn varwe rehte ersach; an tugende was er niht swach. (792–800)

Der nächste Stein, der in Flories Descriptio genannt wird, verdankt seine Herkunft heidenischem liste (823). Auf einem weiteren Stein ist der heidnische Gott Amor mit Fackel abgebildet, dieser Stein fungiert als wundersame Taschenlampe (830–845). Zwar verdankt Florie ihre Schönheit gotes vlîze (888, 898); zwar gibt Joram der Ehe von Gawein und Florie mit Verweis auf die Fügung Gottes seinen Segen (1000–04). Doch von einer religiösen Unterweisung wird bei der Beschreibung von Wigalois’ Erziehung nichts erzählt. Erst als Wigalois Abschied nimmt, klagt Florie zu Gott (1334–44) und bittet um Segen für ihren Sohn (1397–04) – ihr Zaubergürtel bleibt also offenbar ohne Wirkung gegen ihren Verlustschmerz. 48 se« (S. 258), sondern noch während Wigalois im Gebet verharrt (6494–6507). Auch Dietl [Anm. 6], S. 304, verweist darauf, daß die magischen Hilfsmittel nicht mit »innerweltlichen Kategorien zu erklären« seien, sondern nur mit einem »Verweis auf eine außerweltliche Macht«. Das »Wunder« bestehe in der jeweils singulären »Wirkung göttlichen Handelns«. Dietl spricht nur dem Brief solche magischen Kräfte zu, die man als »wirklich wunderbar im Sinn von naturkundlich oder technisch unerklärlich oder außerweltlich« beschreiben könne. Das Brot wirke aufgrund der Gewürze, die Blüte durch den Duft, die Lanze durch die Qualität des Stahls (S. 307). 47 Über ähnliche Steine verfügt die wîsiu merminne im ›Lanzelet‹ (234–240). 48 Zur Descriptio von Florie siehe Brinker-von der Heyde [Anm. 19], S. 66–73 sowie S. 95–99. Flories Gürtel kann nach Brinker-von der Heyde auch als Symbol für Flories Jungfräulichkeit gedeutet werden (S. 96), Florie müsse die Gürtelschnalle nach der Eheschließung öffnen und den Gürtel ablegen; ähnlich Eming [Anm. 11], S. 150. Diesen Vorschlag kann man weiterdenken: Möglicherweise spielt der Gürtel auf ein mythisches Tabu an. Vielleicht verliert Flories Gürtel seine Kräfte nach dem Tabubruch – man denke an Brünhild oder an Meliur. Weniger überzeugend Wüstemann [Anm. 18], S. 33, die das Versagen von Flories »Glücksgürtel« als Folge des teleologisch orientierten

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In Kontrast zu diesen Zaubersteinen ist später bei dem Stein, den Wigalois nach dem Roaz-Kampf Larie sendet, nicht von Magie, nicht von der steine kraft (568) die Rede. Stattdessen wird zweimal betont, der stein solde ein zeichen sîn / sîner stæten minne (8703f.; 8753f.). Vor dem Namur-Feldzug wird ein wertvolles exotisches Kristallgefäß mit Balsam beschrieben, das an Laries Reiseelefanten hängt – eine Anspielung auf die Descriptio von Florie, die vielleicht noch einmal die überwundene Magie in Jorams Reich in Erinnerung rufen soll. Wie eine Schwundstufe von Magie mutet es an, wenn der Wohlgeruch des Balsams zwar für Fröhlichkeit sorgt, wenn der Balsam selbst zwar Krankheiten lindert, doch von Wunderheilungen ist nicht die Rede (10368–74). Wo Flories Amor-Fackel nachts als Scheinwerfer so hell strahlt, so daß es in Flories Nähe keine Dunkelheit geben kann (830–44), so funkelt nun der Rubin, der das Balsam-Gefäß bedeckt, nur wie eine Kerze (10378f.). Die Kräuter im Balsam sind äußerst wertvoll, sie riechen besser als alle anderen, sie sind aber doch mit Gold aufzuwiegen (10383–86). Die Dienste des Balsams werden Larie und Wigalois allerdings nicht mehr im Diesseits brauchen: Er wird Liamere ins Grab beigegeben. 49 Ein weiterer Gürtel wird bei der Beschreibung von Marrien erwähnt. Dort trennt der gürtel die obere, menschliche Körperhälfte von der unteren, einer Pferdegestalt (6937). Der Gürtel also als Grenze zwischen Mensch und Zauberwesen. Larie wird in 10527–10579 nochmals ausführlich beschrieben. Nachdem der Gürtel bei Marrien in einen Kontext von bösen Zauberkräften einsortiert wurde, vermeidet Wirnt bei Laries Descriptio nun das Wort gürtel. Ihr riemen enthält einen Rubin (10556–62), von besonderen Kräften ist jedoch nicht die Rede. 50 Florie hatte ihr Kleid mit der Brosche mit dem Amor-Leuchtstein zugeknöpft, auch in Laries Brosche sind drei Steine eingelassen: Ein Smaragd, ein Sequenzmodells deutet: »In dem Moment, da die Handlung das intendierte Ziel erreicht hat, verliert sie gewissermaßen an ihm das Interesse, wird sie […] von einer Art fließender Amnesie befallen.« 49 Daß es dieser Balsam ist, wird in 12228–32 nicht ausdrücklich erzählt, aber es liegt doch recht nahe. Es wäre naheliegend, den Balsam nach der Schlacht gegen Lion etwa bei der Versorgung der Verwundeten zu verwenden, die eigens beschrieben wird (11198– 11206). Doch hier muß die Schulmedizin genügen, magische Mittel werden nicht eingesetzt. 50 Jorams Zaubergürtel wird in 322 ebenfalls als riemen bezeichnet, doch zu diesem Zeitpunkt ist von den übernatürlichen Eigenschaften des Gürtels noch nichts bekannt. Bei einem recht umfassend angelegten Begriff des ›Wunderbaren‹ sieht Eming [Anm. 11], S. 210, kaum Unterschiede zwischen den Steinen von Florie und Larie: »sie alle verfügen in der einen oder anderen Form über Edelsteine […]«. Eming rechnet beispielsweise auch die Riesen im Qualifikationsritt oder den Papagei zum ›Wunderbaren‹ (S. 170–173) und auch die übrige exotische Pracht an Laries Elefanten (S. 219f.). Mir geht es weniger um ein so breit definiertes ›Wunderbares‹ als um magische Kräfte.

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Saphir und ein Rubin (10567–72). Dürfen wir erwarten, daß etwas Besonderes an diesen Steinen ist? Aber ja doch, ihre Form und ihre Herkunft: zwêne lewen und ein ar. / alsus hât gemeistert dar / nâch dem wunsche ditze werc / mit worten Wirnt von Grâvenberc (10573–76). 51 Zurück zu Wigalois’ Zaubergürtel. Florie hatte ihn Wigalois bei seinem Aufbruch zum Artushof mit den Worten mitgegeben: behaltez unz an dînen tôt, / und wis sicher vor aller nôt (1365f.). 52 Vor dem Drachenkampf nimmt Wigalois einen Bissen vom Brot und riecht an der Blüte (4991–95); das Brot verleiht ihm Stärke und Zuversicht (5001f.) – eine Funktion, die bei Joram, Ginover und Gawein der Gürtel erfüllt hat. 53 Der magische Gürtel ist damit substituiert: Er wird im Vorfeld und während des Drachenkampfs nicht erwähnt. Der Drache selbst wird mit der Engelslanze getötet. Die christlichen Attribute Blüte, Brot und Schutzbrief bleiben Wigalois erhalten. Die Lanze läßt Wigalois Graf Moral bergen und verwahren, die Offensivwaffe hat ihre Funktion erfüllt und kann erst einmal in die Ablage gegeben werden. Blüte, Brot und Schutzbrief dienen weiterhin als Defensivwaffen der Abwehr von schwarzem Zauber. Während Wigalois’ Ohnmacht nimmt die Fischerfrau den Gürtel, eine negativ gezeichnete Figur. 54 Der Erzähler klagt: owê, daz ez ie geschach / daz dehein wîp sô 51

Zum Wappenzeichen vgl. Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach [Nachwort, Anm. 2], S. 274. 52 Auch Joram hat bei der Übergabe an Gawein formuliert: behalt in unz an iuwern tôt (611). Vgl. hierzu auch Cora Dietl, Fiktive Artuswelt und Herrscherideal als Produkte von Struktur und Strukturbrechung im ›Wigalois‹ des Wirnt von Grafenberg, in: Text und Welt. Beiträge auf der 11. Internationalen Tagung Germanistische Forschungen zum Literarischen Text, hg. von Christoph Parry, Vaasa 2002 (Saxa Sonderband 8), S. 73–81, hier S. 77: Gaweins »nach arthurischen Maßstäben vorbildliche Mitleidstat, Florie den Gürtel zu geben, bricht das Tabu, den Gürtel nie abzulegen.« Wenn man Gaweins Mitleidstat als Tabubruch lesen will, so könnte man Gaweins Gürtelverzicht als Interpretament für den Gürtelverlust von Wigalois heranziehen: Wigalois hätte sich dann so nachhaltig aus der Feenwelt gelöst, daß er nicht einmal mehr die Gelegenheit erhält, das Tabu selbst zu brechen. Allerdings ist im Vergleich zu anderen Mahrtenehenerzählungen der Tabubruch von Gawein nur schwach markiert. 53 Bereits beim Drachenkampf steht die Hilfe Gottes im Zentrum, auf die Brot und Blüte im Grunde nur noch verweisen. Nach dem Griff zu Brot und Blüte heißt es: vür sich tet er den gotes segen (5019); unmittelbar vor dem Kampf wird Wigalois’ Gebet in direkter Rede wiedergegeben (5079–85), danach heißt es: der segen gap im vesten muot (5086). 54 Exemplarisch: nu sach daz herze übel wîp (5433). Die neue Besitzerin des Gürtels wird für ihren Raub auch noch von der Gräfin belohnt, vielleicht bringt der Gürtel bereits seiner neuen Trägerin Glück. Jedenfalls wird der Gürtel nun in einem negativ besetzten Kontext zurückgelassen. Weitere Signifikanz gewinnt der Verlust des Gürtels dadurch, daß Wigalois andere Teile seiner Ausrüstung zurückbekommt: Harnisch, Schwert, Helm und Schild. Der Harnisch ist allerdings nicht mehr brauchbar; am Schwert ist – wie

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swach / den gürtel in ir hant genam! (5356–58) Wigalois selbst beklagt den Verlust nicht minder: er gedâhte »nû sol ich zehant gegen der âventiure varn; wâ mit sol ich mich bewarn sît ich den gürtel hân verlorn den ich ze trôste hêt erkorn zallen mînen dingen ? (5995–6000)

Doch ohne zu zögern beantwortet er diese Frage selbst: noch muoz mir gelingen zer selben âventiure; sin ist nie sô ungehiure ichn welle dâ tôt geligen, od mit der gotes kraft gesigen. noch mac sîn alles werden rât. ich weiz wol, swer den gürtel hât, daz er mirs niht wieder gît; dâ von sol ich ze dirre zît niht vil dar nâch gevrâgen. den lîp wil ich dâ wâgen durch si, der mîn herze gert; und gît man mir mîn schœnez swert, ein ors und mîn îsengwant, sô wil ich rîten zehant zer âventiure, swâ diu ist.« (6001–16 )

Hier formuliert der Titelheld sein Programm: Mit Gottes Hilfe und mit mutiger Zuversicht kann jede Herausforderung, selbst eine ungehiure, bewältigt werden. Kein Raum für Magie In Glois trifft Wigalois auf das organisierte Böse. 55 Das einstige Land von König Lar ist nun ein Gewebe aus unheilvollen, teils monströsen Geschöpfen mit Wunderwaffen, einer gefahrbringenden Landschaft und technischen Installationen. Karrioz, ein Zwergenritter mit Mohammed-Schild und Löwenfell, flieht nach

im Roazkampf zu erfahren ist – noch der Schutzbrief. 55 Brinker [Anm. 44], S. 87–110, beschreibt die Korntin-Aventiure als Jenseitsreise. Auch wenn das Motivinventar auf andere Darstellungen von Jenseitsreisen anspielt, bleibt Wirnt damit jedoch auf der Ebene der Allusion stehen: Die Magie wird im Diesseits, nicht im Jenseits überwunden.

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Wigalois’ Sieg ins Nebelmoor, das selbst für den ortskundigen Karrioz zur Todesfalle wird. Als einziger Ausweg bleibt Wigalois eine Brücke, die mit einem Schwertrad bewehrt ist. Danach wartet Marrien, halb Pferd, halb Mensch, mit Hundskopf und Schuppenpanzerung, ein Monster, das mit einem Hochleistungsfeuer wirft. 56 Der Zugang zur Burg wird von zwei alten Rittern bewacht – diese Gegner sind beinahe schon überraschend humanoid. Daß einer der Ritter nach der Niederlage sein Leben behält, verleiht gerade als Ausnahme der policy von Wigalois Konturen: Alles, was magisch, phantastisch ist, wird abgeschlachtet. Der Höhepunkt ist der Kampf mit Roaz, auch der Teufel kann Roaz nicht beistehen: dô was gewarnet der junge man mit einem brieve, der im wart gestricket an sîner vart umb sîn swert mit gebet, und mit dem kriuze, daz er tet vür sich dô er zem tor în gie. dâ von getorste der tievel nie zuo im komen nâher baz. (7334–41)

Nach seinem Sieg über Roaz beginnt Wigalois unverzüglich mit den Aufräumungsarbeiten im Land. Er regelt die Vergabe von Lehen, er schickt nach Larie, er bestellt brieflich seinen Vater zum Wiedersehen an seinen Hof. Alle Störungen sind gelöst, mit einer Reihe an ordnungspolitischen Maßnahmen wird ein gutes Regiment etabliert. 57 Visualisiert wird die ordnungsstiftende Arbeit des Helden

56 Eming [Anm. 11], S. 205, verweist darauf, daß nur Wigalois’ Harnisch nicht vom Feuer zerstört wird; Wigalois greife daher nach wie vor zu magischen Hilfsmitteln. In dem Bericht über die Herkunft des Harnisches steht jedoch die handwerkliche Kunstfertigkeit des Zwergs, der 30 Jahre lang an dem Harnisch gearbeitet hat und dessen Material ein Geheimnis ist, im Zentrum. Die Besonderheit des Harnischs besteht darin, daß er mit keinem Material durchstochen werden kann, während der Schutzbrief explizit gegen Zauber hilft (6079–90). Doch das Feuer setzt auch das Schwert in Brand (7005), das vom Schutzbrief eigentlich vor Zaubermitteln geschützt ist. Entweder wäre das Feuer damit nur eine äußerst wirksame chemische Substanz, die ohne magische Kräfte wirkt, oder Wirnt hätte hier ähnlich sorglos gearbeitet wie etwa bei dem Umstand, daß Wigalois den Namen seines Vaters kennt. Dann wäre die Stelle jedoch auch für Emings These, Wigalois setze immer noch auf Magie, weniger belastbar. Nach Dietl [Anm. 6], S. 303, hilft der Brief nicht gegen gewöhnliche Magie, sondern nur gegen »schwarze Magie, die sich der Hilfe des Teufels bedient«. Allerdings schützt der Brief laut Vers 4429 vor älliu zouber, Marrien wird wie Roaz auch als vâlant und tievel bezeichnet (6976; 7001). 57 Auch Dietl [Anm. 6], S. 309f., fragt, wohin der Titelheld »von oben« gelenkt wird; sie schlägt die »Wiederherstellung der kosmischen Ordnung«, alternativ die »Einrichtung einer neuen menschlichen Ordnung« vor; es gehe jedoch nicht um »âventiure im Sinn von Zufallsfahrt und Bewährung«.

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beim Schwertrad, das bis zum Roazkampf jeden Publikumsverkehr verhindert hat: 58 dô volget im der grâve Adân zuo dem rade dâ ez gie. daz wazzer er dô ûf vie; zehant gestuont daz selbe rat. (8509–12)

Nachdem alle Gegner mit Zauberkräften erschlagen sind, wird auch der Raum so transformiert, daß er keine Gefahr mehr darstellt: Wigalois kann sein Reich befreien und zum Innenraum umgestalten. Doch vor allem wird der Zauber, der in Jorams Reich für die Trennung des Vaters von Frau und Sohn verantwortlich war, zurückgelassen. Mit dem Gürtel verschwindet nach dem Drachenkampf ein Symbol, das auf Jorams Reich verweist. Der Raum der Magie ist damit überwunden: Während seiner Ohnmacht wird Wigalois von diesem Relikt befreit und gleichsam gereinigt. Wigalois hat sich von übernatürlichen Phänomenen kaum beeindrucken lassen; das hat sich bereits bei seinem Versuch gezeigt, vor seinem Gespräch mit Lar mit den Rittern im Höllenfeuer zu kämpfen. Erst als er sich eine verbrannte Lanze geholt hat, läßt er vom Kampf ab. Bei Pfetan, Ruel, Karrioz oder Marrien steht Wigalois ungeheuren Wesen gegenüber. Er meistert die Situation mit Geradlinigkeit und Unerschrockenheit. Nach ersten Zweifeln beim Ruel-Kampf, dem ersten Kampf ohne Zaubergürtel, verpflichtet er sich selbst auf absolute Geradlinigkeit: In der folgenden Auseinandersetzung mit dunkler Magie dürfen ihm keine Skrupel im Weg sein. Eine Überwindung der Magie kann ohne Gottes Hilfe nicht gelingen, entsprechend paart sich Geradlinigkeit mit Gottvertrauen. Um eine tiefe Glaubenserfahrung scheint es jedoch nicht zu gehen – Grubmüller hat gegen Wehrlis Diktum von einer Taufe des Artusromans eingewandt, Elemente der Heiligkeit, wie sie etwa im ›Willehalm‹ »offen zu Tage liegen – bleiben äußer-

58 Zur Parallele von Schwertrad und dem Rad der Fortuna vgl. Eming [Anm. 11], S. 203. Im ›Wigoleis vom Rade‹ werde das Rad nicht nur angehalten, sondern zerstört; das Zerschlagen des Rades symbolisiere das Ende des Zaubers (S. 262). Mir ist wichtig, daß im ›Wigalois‹ das Schwertrad ebenso angehalten wird, wie das Rad der Fortuna in Jorams Reich zurückgelassen wird. Anders Christoph Cormeau, Fortuna und andere Mächte im Artusroman, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 23–33, hier S. 31: Das Motiv vom Glücksrad bleibe »blind und folgenlos, in seiner Geschichte ist die Vorsehung und seine Tüchtigkeit für den Erfolg verantwortlich.« Das Glücksrad diene allenfalls als versteckter zusätzlicher Kommentar, »Fortuna wäre hier aber von Providentia dominiert«. Gegen Cormeau siehe Eming [Anm. 11], S. 155.

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lich«. 59 Gott hilft, weil der Ritter nicht verzweifelt, sondern mitten auf der Brücke die Stirn hat, sich Gott anzuempfehlen und Schlaf zu suchen, Schwertrad hin, Nebelmoor her. Das Gottvertrauen mag so auch als Chiffre für eine innere Disposition gelesen werden: Als Chiffre für ein Sich-nicht-beeindrucken-Lassen von dunkler Magie – genausowenig hat Wigalois sich vom Verlust des Gürtels beeindrucken lassen. Korntin wird nach dem Sieg über Roaz für Wigalois in einen Innenraum transformiert. Vom neuen Zuhause aus wird noch einmal in einen Außenraum aufgebrochen, nach Namur. Dort gibt es zwar keinen Zauber, der bekämpft werden müßte, doch Thema des »Bestätigungsabenteuers« 60 ist, daß Störungen auch in anderen Räumen nicht geduldet werden, wenn Familienmitglieder davon betroffen sind. Ein weiterer Baustein der Aufräumarbeiten mag darin bestehen, daß Gawein, dessen Ehe auch von einer Störung betroffen war, nun den Störer bestrafen darf: Lion, der den Ehemann von Liamere erschlagen hat, stirbt von Gaweins Hand. 61 Gawein, der nicht dauerhaft Teil der Zauberwelt wurde, darf seinen Sohn wiedersehen. Das gilt nicht für Florie. Wigalois’ Mutter muß sterben: Eine Figur aus dem Zauberreich – selbst Trägerin eines Zaubergürtels – wird nicht in das neue Reich, das frei von Magie ist, integriert. Herrschaftssicherung und NamurFeldzug gelingen ohne Zauberkräfte. So lobend die Beschreibung der Mutter des Helden im Artusroman auch ausfallen muß, zur Frau des Helden muß doch eine Differenz bestehen. Die Differenz ist nicht unerheblich: Larie darf Wigalois begleiten, somit die Grenze nach Namur überschreiten, Florie bleibt als statische Figur auf den Raum der Magie beschränkt. 62 Doch will ich hier Lotman nicht überstrapazieren: Larie fährt nicht als Aktantin nach Namur, sondern als Attribut des Helden. Wichtig ist allerdings, daß eine räumliche Trennung des Paares vermieden wird, ein weiterer Reflex auf die Trennung der Eheleute Gawein und Florie. 59

Grubmüller [Anm. 21], S. 236. So bereits Joachim Heinzle, Über den Aufbau des ›Wigalois‹, in: Euphorion 67 (1973), S. 261–271, hier S. 263. 61 Nach Fuchs [Anm. 2], S. 200, wird mit dem beiläufigen Tod von Lion nicht etwa ein dramaturgischer Effekt verschenkt, Lions Schicksal erfülle sich vielmehr so beiläufig und unvermeidlich, daß es genüge, seinen Tod am Rande zu notieren. Daß Lion gerade von Gawein getötet wird, wird m. E. über das Motiv ›gestörte Ehe‹ in funktionale Verbindung gesetzt. 62 Vgl. oben, Anm. 12. Eming [Anm. 11], S. 221, weist darauf hin, daß Wigalois die Nachricht vom Tod seiner Mutter »merkwürdig empfindungslos« aufnehme. Eming sieht einen Konflikt auf gender-Ebene: Wigalois orientiere sich zur männlichen Welt, die mütterliche Welt werde mit der »Trennung von der Mutter zunächst ausgegrenzt und dann im Tod der Fee symbolisch vernichtet.« (S. 275) 60

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Der Besuch am Artushof steht am Ende – denkt man von Chrétiens Schema her, mag er als »bedeutungsloses Requisit« überflüssig sein. 63 Wigalois und Gawein vereinbaren regelmäßige Besuche, man unterhält geregelte außenpolitische Beziehungen, doch die Artuswelt bleibt – das illustriert der Besuch – auf Distanz, Gawein wird gerade nicht nach Korntin überführt. Dort ist mittlerweile ein gutes Regiment etabliert, das nicht einmal Störungen außerhalb der Landesgrenze ungestraft läßt. Dazu ist die Artuswelt nicht kompatibel, ihre Störbarkeit ist das Prinzip der Tafelrunde: 64 In Korntin würde der runde Tisch so schnell nicht gedeckt, denn von einer Aventiure wird dort nicht so bald etwas zu hören sein. 65 Erst bei der nächsten Generation, bei Wigalois’ Sohn Lifort Gawanides, wird es wieder interessant: vremdiu mære und vremde namen / hât diu âventiure (11656f.). Mit der Rückkehr an den Artushof wird am Romanende noch einmal der Raum berührt, der am Anfang stand. Der zweite Raum, der zu Beginn wichtig war, Jorams Reich, wird nicht mehr aufgesucht – der Artushofbesuch mag auch als strukturelle Markierung dafür dienen, damit ex negativo auffallen kann, daß Jorams Reich nicht mehr besucht wird. Der unzugängliche Raum der Magie versinkt im Nebel des Vergessens. Fazit Wirnt greift eine Problemlage auf, die möglicherweise von den Gawan-Partien des ›Parzival‹ inspiriert ist, und verleiht ihr eigene Akzente: Während es im ›Parzival‹ eher um Verwandtschaftsbeziehungen geht, scheinen bei Wirnt die Störungen in verschiedenartigen Räumen im Vordergrund zu stehen. Offensichtlich bedrohlich sind die Teilräume in Korntin, das Roaz besetzt hält, doch bereits die Besonderheiten in Jorams Raum der Magie sorgen dafür, daß Gawein und Wigalois einander lange fremd bleiben müssen, selbst als sie am Artushof gesellen sind (1675). Mit Geradlinigkeit, Furchtlosigkeit und Gottes Hilfe zerstört Wigalois all das, was

63 Heinzle [Anm. 60], S. 271. Vgl. auch Fuchs [Anm. 2], S. 186: »Hier findet keine Apotheose statt, hier wird ein Pflichtprogramm absolviert.« 64 Das Recht der Tafelrunde erwähnt Wirnt gleich eingangs in 247–251; eine Akzentsetzung, die über Wolfram (Pz. 309,3–11) hinausgeht, folgt: daz doch selten dâ geschach – / daz man niht âventiure sach / unze wol nâch mittem tage (253–55). 65 Dagegen sieht Mertens [Anm. 26], S. 22, eine reibungslose Integration der Artusritter in die neue Wigalois-Welt. Für den Kenner des Artusroman-Erzählschemas, so Dietl [Anm. 52], S. 76, kann bereits Jorams Gürtelangebot am Romanbeginn eine Provokation für die Artuswelt darstellen: »Er stempelt die Artuswelt zu einer nicht idealen Welt, die verbessert werden könne und die keine vollkommene Freude besitze.«

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magisch ist. 66 Der Zaubergürtel, ein Relikt aus dem magischen Reich seines Onkels, geht verloren, damit wird zugleich ein Zeichen für die Trennung von Vater und Sohn gelöscht. Mit ordnungspolitischen Maßnahmen etabliert der Held ein gutes Regiment, das quasi als Bollwerk gegen künftige Störungen dient. Der ›Wigalois‹ war nach Ausweis der Überlieferungslage offenbar recht erfolgreich; 67 die Forschung hat – anders als etwa beim ›Parzival‹ – die Frage aufgeworfen, warum das so ist. Klaus Grubmüller beschreibt Wigalois als »generellen Typus des christlichen Herrschers«, ein »Heilsbringer und Friedensfürst. Das ganze 13. Jahrhundert gibt in seinen Wirren und Gefährdungen Anlaß genug, ein solches Herrscherbild neu in Erinnerung zu rufen.« Grubmüller muß allerdings auch festhalten, daß es im ›Wigalois‹ nicht um eine spezifische Problemlage gehe: »Seine Allgemeinheit verbietet die Suche nach speziellen Applikationen.« 68 Elisabeth Lienert betont den Rekurs auf traditionelle Werte, Sinn werde als Didaxe an den idealen Helden delegiert, während die Erzählerkommentare nicht zur Sinndeutung beitragen würden. 69 Dagegen sieht Stephan Fuchs keine direkten Identifikationsangebote, »ein solch hybrider Text kann weniger denn je als didaktischer Fürstenspiegel ›ad usum Delphini‹ verstanden werden.« 70 Wenn man die Überwindung der magischen Elemente als Programm beschreiben darf, so vertritt der ›Wigalois‹ damit eine optimistische Botschaft: Bedrohliche Magie kann überwunden werden. Ein solches Konzept mag nicht nur in den politischen und sozialen Wirren der Zeit willkommen sein, es mag auch auf Ängste vor übernatürlichen Phänomenen reagieren: Furcht ist unnötig, Magie überwindbar. Damit ist keine anspruchsvolle philosophische oder theologische 66 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Hans-Jochen Schiewer, wenn auch ohne den Themenbereich der Magie einzubeziehen: »Nur ungebrochenes Gottvertrauen gepaart mit dem selbstverständlichen Festhalten an den höfischen Normen garantiert den Erfolg. Diese spannend verpackte adlige Lebenslehre traf den Nerv der feudalen Welt.« (Hans-Jochen Schiewer, Ein ris ich dar vmbe abe brach / Von sinem wunder bovme. Beobachtungen zur Überlieferung des nachklassischen Artusromans im 13. und 14. Jahrhundert, in: Deutsche Handschriften 1100–1400, hg. von Volker Honemann und N. F. Palmer, Tübingen 1988, S. 222–278, S. 236). 67 Vgl. hierzu etwa Schiewer [Anm. 66], S. 235f. 68 Grubmüller [Anm. 21], S. 238. 69 Elisabeth Lienert, Zur Pragmatik höfischen Erzählens: Erzähler und Erzählerkommentare in Wirnts von Grafenberg ›Wigalois‹, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 234 (1997), S. 263–275, insbes. S. 274. Die Bedeutung der Didaxe hat bereits Heinzle [Anm. 60], S. 271, unterstrichen. Mertens [Anm. 39], S. 87, betont die »platte Vorbildlichkeit der Hauptfigur«. Auch Hahn [Anm. 9], S. 38–40, sieht die Lehre im Mittelpunkt. Wigalois verfüge nicht nur über ein »Höchstmaß an persönlicher Frömmigkeit, er hat auch einen religiösen Auftrag, der direkt aus der Legende genommen ist« (S. 48, mit Verweis auf V. 3990–4003). 70 Fuchs [Anm. 2], S. 231.

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Botschaft formuliert, dafür eine eingängige. Wenn in einem Kloster über eine Prioritätenliste entschieden werden mußte, von welchen Büchern eine Abschrift herzustellen sei, so könnte die schlichte christliche Botschaft dem ›Wigalois‹ zu einem Vorteil verholfen haben.

stainwant König Otnits Tod und die heterotope Ordnung der Dinge von Stephan Fuchs-Jolie, Mainz

Otnit von Lamparten, Herrscher über ein riesiges Reich, König über mächtige Könige, zwölf Mannen stark und unbesiegt im Kampf, kommt zu Tode, indem er von kleinen Drachenkindern durch die Ringe seines unzerstörbaren Kettenhemdes hindurch ausgesaugt wird wie Milch aus dem Fläschchen oder der Mutterbrust. Dies ist der wohl unheroischste Tod, den ein Held der alten Dichtung sterben kann. Zum Lachen auch, sicher – aber wohl nicht einfach bloß lächerlich. Man kommt nicht umhin zu fragen, was mit diesem einzigartigen Phantasma bedeutet sein könnte. Fleisch und Blut des Helden, durch die gold-stählernen Ringe seiner Rüstung gezogen, passiert und püriert wie Suppe durch einen Durchschlag – eine solch provokante Destruktion leiblich-menschlicher Kontur, eine derart vollständige Auflösung und Transgression des Körpers sucht selbst in der an Zerstörung, Abspaltung und Zerstückelung durchaus nicht armen Heldendichtung ihresgleichen. Was von Otnit übrig bleibt, ist bloße Hülle, Kettenhemd mit Helm und Schwert. Auf dieses Tableau läuft seine Geschichte hinaus, ja um seinetwillen scheint sie überhaupt erzählt zu sein. Denn Otnits sagenhafte Rüstung wird neue Krieger formen, sie wird Panzer des Helden aller Helden, Dietrichs von Bern sein. So erzählen es andere Epen, die sich vom ›Otnit‹ her gesehen als dessen Nachgeschichte präsentieren, auch wenn die wahren Entstehungszusammenhänge dieses Textkomplexes für uns im Dunkeln liegen. 1 Schon die letzte Strophe des Epos verweist auf einen, der da kommen und der wiederum der Ahnherr des großen Dietrich von Bern sein wird. 2 Otnits Rüstung wird er an sich nehmen, seinen 1 Ich verweise nur auf die aktuellsten Darstellungen der langen Forschungsdebatte um die komplizierte Überlieferungs- und Fassungslage von Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004, und Lydia Miklautsch, Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen, Berlin, New York 2005 (Quellen und Forschungen 36). 2 Er muoss in sorgen wachsen von dem der wurm wirt erslagen. / ich wil euch sein geschlächte und seinen vater sagen: / secht, das was von Bern herren Dietrichs alter an. (597, 1–3: »Er muß erst in Sorgen heranwachsen, der, von dem der Drache erschlagen

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schmählichen Tod an der Drachenbrut rächen, seine Witwe heiraten. Wolf hêr Dietrich oder Wolf Dietrich ist sein Name. 3 Was aber weiterhin mit der Rüstung geschieht, das berichtet uns das ›Eckenlied‹: Wolf Dietrich hat, so erfahren wir hier, seinen Lebensabend als Mönch verbracht, so daß Otnits Rüstung in den Besitz eines burgundischen Klosters und von hier aus in den der Königin Seburg übergegangen ist. Diese nun stattet den titelgebenden Riesen Ecke mit dem sagenhaften Panzer aus, der ihn wiederum im Kampf an Dietrich verliert. 4 Im ›Buch von Bern‹ (›Dietrichs Flucht‹) hingegen spielt die Rüstung keine Rolle; die Verbindung des Otniterben und -rächers Wolf Dietrich mit dem Berner wird hier konventionell als Blutsverwandtschaft konstruiert und die im Otnit-Wolf Dietrich-Komplex nur angedeutete Genealogie katalogartig rekapituliert: Wolf Dietrich hat einen Sohn, der einen Sohn hat, der wiederum drei Söhne hat, von denen der jüngste zwei Söhne hat – und einer von denen ist eben der Bernere. 5 So wird von jedem Text stets neu und im intertextuellen Verbund auf je eigene Weise Heldenzeitalter konstruiert – alle diese Großväter und Väter und Neffen und Onkel braucht man für Vertreibung, Neid, Verwandtenmord und Rache. Allein: Immer steht Otnit, der Kinderlose, am Beginn der Ahnenreihe. Selbst Sproß einer gestörten Genealogie, ist er paradoxer Ursprung einer Heldendynastie, die sich außerhalb der Routine von Zeugung und Geburt verortet. Der Mythos spricht nicht von ihm und seinen Taten, sondern von einem Ding – der wundersam unzerstörten Rüstung, ins Heldenzeitalter tradierte Reliquie des ersten

wird. Ich will euch sein Geschlecht und seinen Vater sagen: Seht, das war der alte Ahn Herrn Dietrichs von Bern.«) Ich zitiere nach der neuen, eng an der Handschrift des Ambraser Heldenbuchs orientierten Ausgabe, die ich zur Zeit gemeinsam mit Dietmar Peschel, Erlangen, und Victor Millet, Santiago de Compostela, erarbeite und die samt Übersetzung, Kommentar, Nachwort und Materialien voraussichtlich 2011 bei Reclam in Stuttgart erscheinen wird, unter dem Titel ›Otnit und Wolf Dietrich A‹ (s. dazu auch Anm. 37). Zu den Namensformen ›Ortnit‹ und ›Otnid‹ s. unten Anm. 36. 3 Zu den Varianten im Umgang mit Otnit, seinem Schicksal und dem seiner Rüstung in den verschiedenen Fassungen des ›Wolf Dietrich‹ s. ausführlich Lydia Miklautsch, Montierte Texte [Anm. 1], S. 145–155. 4 Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen, hg. von Francis B. Brévart, 3 Bände, Tübingen 1999 (Altdeutsche Textbibliothek 111), hier Fassung E 2 Str. 21–24, Fassung E 7 Str. 17–20, Fassung e 1 Str. 16–17. 5 Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe hg. von Elisabeth Lienert und Gertrud Beck, Tübingen 2003. Der Bericht von Otnits Tod findet sich – in signifikant ähnlichen Formulierungen wie in ›Otnit‹ und ›Eckenlied‹ – V. 2238–2250. Die Wolf Dietrich-Dietrich-Genealogie schließt direkt an: V. 2251–2491. Zu den weiteren, spärlichen Erwähnungen Otnits in mittelalterlicher Dichtung Christian Schmid-Cadalbert, Der ›Ortnit‹ AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28), S. 101–104.

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Heroen, dessen Fleisch und Blut selbst Nahrung geworden ist. 6 Geschieht mit Hilfe des die Generationen überdauernden Panzers eine Art von heroischer Transsubstantiation, so dient Otnits aufgelöster Körper dem Heranwachsen und Fortleben der anderweltlichen Untiere – eine bizarre ›Blutlinie‹. Die goldene Kette der Helden ist in ihrem Anfang gestört, dafür ist der atomisierte Körper Otnits ein mehr als deutliches Zeichen. 7 Wie aber ist diese Konstruktion zu verstehen? Wenn man will, kann man die Geschichte von Otnit und seinem Rächer Wolf Dietrich, dem echten Dietrich-Ahn, als Doppelroman oder vielleicht gar als Texteinheit begreifen – so ist er auch überliefert, praktisch immer als Diptychon oder miteinander verwoben – und in dem legendarisch getönten, besonneneren, umgänglicheren Wolf Dietrich das modernere Gegenstück zu dem doch in vielem defizitären, oft hilflosen, im ganzen ziemlich pubertären Helden Otnit sehen. 8 Das ist sicher richtig – aber es erklärt nur das Gespann Otnit / Wolf Dietrich und nicht die Dietrich-Genealogie. Denn Dietrich ist nicht einfach ein anderer, erneuerter Wolf Dietrich, ebenso viele Züge teilt er mit dem Typus Otnit – und vor allem steckt er in dessen Rüstung, als Körper-Bluts-Ahnen-Substitut sozusagen. Letztlich bleiben alle typologischen und handlungslogischen Betrachtungen vor dem Rätsel von Otnits Tod stehen. Ich möchte deshalb einen anderen Weg einschlagen und mich auf das Paradoxe und Unscharfe einlassen, das ihm eignet und das in Form von analogen Strukturen den ganzen Text durchzieht, ja nicht einmal vor dessen Überlieferung haltmacht, wie im folgenden zu zeigen sein wird. 6 Uta Störmer-Caysa spricht in hinreichender Anschaulichkeit und Drastik davon, daß Otnit zum »Materiallager« werde (Ortnits Mutter, die Drachen und der Zwerg, in: ZfdA 128 [1999], S. 282–308, hier S. 282). Vielleicht mag der Vorschlag, dieses »Materiallager« als eine Art von para-religiöser Reliquienerzählung zu begreifen, auch Licht auf die unmittelbare Fortsetzung, auf den ja deutlich legendarisch geprägten ›Wolf Dietrich‹ werfen. Haferland liest den Transfer von Otnits Rüstung als Beispiel für die »Vernetzung der erzählten Welten«, wie sie unter den medialen Bedingungen dieser semi-oralen Dichtungsformen paradigmatisch sei: Haferland [Anm. 1], S. 374–380. 7 Vgl. Miklautsch, Montierte Texte [Anm. 1], S. 20: »Durch sein Scheitern und seinen Tod entsteht ein Bruch in der genealogischen Reihe der Vorfahren Dietrichs.« Anders Beate Kellner, die von einer »Auffrischung« des Blutes durch Wolf Dietrich spricht – freilich im Hinblick auf das ›Buch von Bern‹, in dem die Genealogie wohl auch noch andere Funktionen hat als im Otnit-Wolf Dietrich-Komplex (Beate Kellner, Kontinuität der Herrschaft. Zum mittelalterlichen Diskurs der Genealogie am Beispiel des ›Buches von Bern‹, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 43–62, hier S. 49). 8 Störmer-Caysa, Ortnits Mutter [Anm. 6], S. 283, Anm. 8. sowie Walter Kofler, Die Macht und ihr Preis. Überlegungen zu Ortnîts Scheitern, in: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung ausserhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche), hg. von Klaus Zatloukal, Wien 2003 (Philologica Germanica 25), S. 135–149.

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Diese Wucherungen kann man, wenn auch nicht nur, so doch in besonders eindringlicher Weise an der Gestaltung des literarischen Raumes beobachten: 9 Denn auch wenn uns das Epos vordergründig eine ziemlich übersichtliche, klar strukturierte und logisch kommensurable Topographie der Handlungsschauplätze und ihrer Anordnung in der epischen Welt präsentiert, so steht doch an den entscheidenden Stellen für ganz unterschiedliche Orte immer nur dasselbe opake, undurchdringlich-unscharfe und die Anschaulichkeit negierende Wort: stainwant. 10 Es ist, wie im folgenden zu zeigen sein wird, zugleich Gegenteil und Pendant des durchlässigen, formauflösenden Kettenhemdes. Michel Foucault hat – im Vorwort zur ›Ordnung der Dinge‹ und in seinem Vortrag ›Des espaces autres‹ – Störungen in der elementaren räumlich-taxonomischen Ordnung ›Heterotopien‹ genannt. 11 Heterotopien sind demnach sprachlich konstruierte Nicht-Orte, Gegen-Orte, die »in diesem abgegrenzten Raum, in dem sich die Dinge normalerweise aufteilen und bezeichnen, eine Multiplizität kleiner fragmentarischer Gebiete bilden, in denen namenlose Ähnlichkeiten die Dinge in 9

Die Gestaltung des literarischen Raumes im ›Otnit‹ hat erst in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Vereinzelte Hinweise gibt es bei Wolfgang Dinkelacker, Ortnit-Studien. Vergleichende Interpretationen der Fassungen, Berlin 1972 (Philologische Studien und Quellen 67), S. 271 bzw. 283–303. Darüber hinaus sei auf das äußerst ertragreiche Kapitel ›Das Motiv der Wildheit als motivische Klammer des Ortnit AW‹ aus Christian Schmid-Cadalberts Ortnit-Monographie [Anm. 5, S. 222–229] verwiesen, in dem vieles, was hier ausgeführt werden soll, bereits bemerkt ist. Ein Abschnitt zum Otnit jetzt bei Julia Zimmermann, Anderwelt – mythischer Raum – Heterotopie. Zum Raum des Zwerges in der mittelhochdeutschen Heldenepik. In: 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldenzeiten – Heldenräume. Wann und wo spielen Heldendichtung und Heldensage?, hg. von Florian Kragl und Johannes Keller, Wien 2007 (Philologica Germanica 28), S. 195–219, hier S. 205–210. 10 Auf die Bedeutung dieses Signifikanten für das Epos verweist in einer Randbemerkung bereits Heinz Rupp, Der ›Ortnit‹ – Heldendichtung oder?, in: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes, in Zusammenarbeit mit Karl H. Vigl hg. von Egon Kühebacher, Bozen 1979 (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstituts 7), S. 231–252, hier S. 236: »nebenbei: die Steinwand spielt im Ortnit überall eine nicht unwichtige Rolle«. Vgl. insbes. auch die ausführlichen und klugen Überlegungen bei Schmid-Cadalbert [Anm. 5], S. 226–28, denen ich entscheidende Anregungen verdanke. Auf die Lagebezeichnung stainwant macht auch Julia Zimmermann, Anderwelt [Anm. 9], S. 207 aufmerksam. 11 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Frz. von Ulrich Köppen, Frankfurt 1974 (zuerst frz. ›Les mots et les choses‹, Paris 1966), hier insbes. S. 17–23; Michel Foucault, Von anderen Räumen, aus dem Frz. von Michael Bischoff (zuerst frz. ›Des espaces autres‹, Paris 1984), in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, S. 317–329.

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diskontinuierlichen Inselchen zusammenballen.« 12 Heterotopien sind Verdrehungen der gewöhnlichen raumförmigen Klassifizierungen, Tableaus zusammengestellter Dinge ohne festen Raum und ohne kohärente Grammatik. In ihnen sind »die realen Dinge und Orte einer Kultur repräsentiert und gespiegelt, zugleich aber auch in Frage gestellt und verkehrt«. 13 Diese Foucaultsche Gedankenfigur hat sich als eminent fruchtbar, ja begründend für die Kulturwissenschaft erwiesen. Friedhöfe, Museen, Gefängnisse wären die Prototypen solcher Heterotope. Ich möchte im folgenden versuchen, diese Überlegungen philologisch fruchtbar zu machen, und damit der irritierenden Unordnung der Dinge, Orte, Zeichen und Todesarten in einem Text des 13. Jahrhunderts auf die Spur kommen. Um dies entfalten zu können, sei die Geschichte kurz skizziert. Schon zu Beginn der Erzählung steht uns Otnit als mächtiger Herrscher gegenüber: Selbst König von Lamparten, sind ihm zahlreiche andere Königreiche, Fürstentürmer und Grafschaften zinspflichtig – letztlich beherrscht und kontrolliert er die gesamte westliche Hemisphäre. Die Handlung setzt ein, als Otnit beschließt, sich eine Frau zu nehmen, denn natürlich findet sich in seinem Einflußbereich keine geeignete Kandidatin. So empfiehlt denn sein Mutterbruder und Ersatzvater, König Ylias von den Reußen, um die Tochter des mächtigen Heidenkönigs Nachorel zu freien – eine mehr als gefährliche Brautwerbung, hat doch der Heidenvater, der seine Tochter selbst zur Frau begehrt, bisher schon 72 Freier hinrichten lassen. Otnit ist sogleich Feuer und Flamme für das Unternehmen; die Warnungen seiner Getreuen schlägt er in den Wind. Die wunderschöne Braut muß erobert, der Heidenteufel besiegt werden. So wird denn nach langen und kontroversen Debatten beschlossen, mit einem Heer von 30.000 Mann sobald als möglich über Meer zu segeln. Nun aber nimmt die Erzählung zunächst eine ganz andere Wendung, denn während man auf günstige Winde wartet, vertreibt sich Otnit die Zeit mit Aventiure: Die Mutter, die aus ihrer Mißbilligung des Werbungsunternehmens kein Hehl macht, übergibt ihm einen Ring und weist ihm einen Ort im Gebirge, wo er durch die Kraft dieses Kleinods abenteur finden und ihm enormer Reichtum zufallen werde. Er solle den Ring nur offen tragen und ihn niemandem, wirklich niemandem geben. Otnit folgt den Weisungen seiner Mutter und findet im Schatten einer prächtigen Linde eine kleine, scheinbar schlafende Gestalt, die er zunächst für ein Kind hält und mit sich fortführen will. Doch entpuppt sich der holde Knabe schon bald als erstaunlich wehrhafter Zwerg, den Otnit nur mit größter Mühe überwinden kann und dem er sich schließlich das Leben zu neh12 13

Foucault, Ordnung der Dinge [Anm. 11], S. 20. Foucault, Von anderen Räumen [Anm. 11], S. 320.

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men gezwungen sieht. Um seinem drohenden Tod zu entgehen, nennt der Zwerg seinen Namen, Alberich, und verspricht Otnit als Entschädigung eine außerordentlich kostbare Rüstung. Dieser willigt in das Geschäft ein, allerdings nicht ohne sich zusätzlich noch Alberichs Hilfe bei der Erringung der Heidenprinzessin auszubitten. Aus der Gewalt seines Gegners entkommen, kann Alberich Otnit nun beschwätzen, ihm den Ring der Mutter zu geben; er, Alberich, wolle nur einen kurzen Blick darauf werfen. Doch sobald Otnit das Schmuckstück aus der Hand gibt, ist der wundersame Zwerg verschwunden, konnte er doch nur mit Hilfe des Ringes überhaupt gesehen und gefunden werden. Wütend will Otnit fortreiten – doch der Unsichtbare hält ihn mit ungeheuerlichen Enthüllungen zurück: Er selbst, Alberich, sei sein leiblicher Vater; seine Mutter habe mit ihrem Mann (der sonst im Text keine Erwähnung findet und offenbar schon länger tot ist) keine Kinder zeugen können. Und da habe er sich eines Tages der verzweifelten Königsleute erbarmt und mit der Bedauernswerten einen Erben gezeugt. Mit dieser neuen Erkenntnis, an deren Wahrheitsgehalt Otnit keine Sekunde zweifelt, dem Ring und dem unerhört wertvollen, unzerstörbaren Kettenpanzer samt Schwert und Helm reitet Otnit zurück nach Hause, wo er zunächst in diesem Aufzug von niemandem erkannt, dann aber mit Erleichterung empfangen wird. Bald sind nun auch die Witterungsverhältnisse günstiger, und der Brauteroberung im Heidenland steht nichts mehr im Wege. Von Messina aus macht Otnit sich mit einer wohlausgerüsteten Flotte und 30.000 Mann auf den Weg. Als sie jedoch die Hafenfestung Suders an der syrischen Küste liegen sehen, da packt Otnit die Verzweiflung: Der Wind treibt sie einfach immer näher an die waffenstarrende Hafenfestung heran, und angesichts dieser zur Schau gestellten Wehrhaftigkeit ist er völlig hilf- und ratlos. Da plötzlich steht Alberich neben ihm, und diese unerwartete Anwesenheit seines heimlich mitgereisten Vaters ist für den König ein Segen. Denn Alberich ist es, der im folgenden den Krieg und die Braut für seinen Sohn gewinnen wird, und zwar vor allem mit List. Die übermenschliche Stärke Otnits, seine Wunderwaffen, die berserkerhaften Blutbäder seines russischen Oheims Ylias wären völlig fruchtlos, wenn Alberich nicht im Hintergrund die Fäden ziehen würde. Es läuft auf folgendes hinaus: Alberich trägt im Schutze seiner Unsichtbarkeit dem Heidentyrannen Brautgesuch und Kriegserklärung vor, woraufhin die als Kaufleute getarnten Christen des Nachts an Land gehen und Suders im Handstreich erobern. Der Heidenkönig Nachorel selbst residiert in Muntabur, seiner großen Festung im Hinterland, doch ist es den Christen mit einem Wegkundigen wie Alberich ein Leichtes, ihn zu finden. Während vor den Festungsmauern eine erbitterte Schlacht tobt, bei der die Christen mehr und mehr die Oberhand gewinnen, beredet drinnen Alberich die schöne Prinzessin, sich Otnit zu übergeben, um das Blutbad unter ihren Leuten zu stoppen. Tatsäch-

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lich zieht sich Otnits Heer zurück, und Alberich gelingt es, die Prinzessin durch eine Farce, die er mit heidnischen Götterbildern aufführt, vor die Burg zu bringen. Hier packt er sie und bringt sie zu Otnit, der zwar in der Nähe gewartet hat, nun aber vor Erschöpfung eingeschlafen ist. Die beiden fliehen, und Nachorel setzt ihnen mit großem Troß nach. Im Moor kommt es zum entscheidenden Kampf, den Otnit erst in letzter Sekunde für sich gewinnen kann. Trotz hoher Verluste – 29.000 Mann haben im Morgenland ihr Leben gelassen – reist das Heer zufrieden zurück, hat man doch die Braut erobert, die noch auf dem Schiff getauft und erst dann zu Otnit ins Bett gelegt wird. Einziger Wermutstropfen bleibt, daß sich der Heidenschwiegervater vor Otnit zurück in seine Burg hat flüchten können. Und von hier aus nimmt die Geschichte auch ihr tragisches Ende: Einige Zeit später kommt ein Bote aus dem Heidenland nach Lamparten. Nachorel wolle sich mit Schwiegersohn und Tochter versöhnen, sagt er, und überreicht kostbare Geschenke: zwei wundersame Eier, aus denen ein Elefant und eine Kröte mit einem Wunderstein erwachsen würden. Er brauche lediglich eine geeignete Stelle im Gebirge, wo er sie ausbrüten könne. Otnit zeigt erstaunlicherweise keinerlei Argwohn, und schon bald schlüpfen aus den Eiern kleine Drachenkinder, die schnell heranwachsen und binnen kurzer Zeit das ganze Land verwüsten. Die Ritter, die gegen sie antreten, werden allesamt gefressen. Schließlich sieht sich Otnit selbst in der Pflicht, sein Land zu beschützen. Gegen den Willen seiner Frau macht er sich ein letztes Mal auf ins Gebirge, wo er zunächst auf Alberich trifft, der ihm von seinem Unternehmen abrät und ihn mahnt, wenigstens nicht einzuschlafen. Doch fruchten diese Warnungen wenig, und Alberich sieht sich schließlich, aus welchen Gründen auch immer, dazu gezwungen, seinen Ring zurückzufordern. Um sein kostbarstes Kleinod ärmer zieht Otnit weiter, kann den oder die Drachen jedoch nicht finden. Nach vielen Tagen schlafloser Suche kommt er schließlich auf eine rosenbedeckte Heide – und schlummert dort natürlich ein. Nun hat auch endlich der wurm seinen Auftritt, aber Otnit wird seinen letzten Kampf nicht miterleben. Nichts dringt durch seinen Panzer, nicht das Gebell seines Bracken, der ihn vor dem Drachen zu warnen sucht, nicht die Zähne des Untiers, das ihn schließlich in seine Höhle schleppt, wo er dem unbändigen Hunger seiner Kinder zum Opfer fällt. Der Hund kehrt alleine heim; man sucht Otnit, aber findet ihn nicht. Die Mutter stirbt aus Gram, und die Witwe wird, des Königsmordes verdächtig, von den Vasallen vertrieben. Nachfahren hat Otnit keine. So endet die Geschichte. Ich gehe medias in res, zu den Räumen und Orten. Wir haben, wie schon angedeutet, zunächst eine relativ klare topographische Ordnung, die zweierlei bietet:

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einerseits benannte, lokalisierbare Orte in Form einer Karte, einer map, andererseits durch Figurenbewegung aufgespannte Räume in Form einer tour, einer Wegstrecke. 14 Manches ist realgeographisch verortbar, auch wenn es die für die Heldenepik üblichen Verschiebungen und Verdichtungen durchlaufen hat. Der Ursprung des Stoffes mag, wie manche Parallelen in anderen Erzählungen nahelegen, nach Rußland verweisen: Den berühmten russischen Helden Ilja finden wir hier als Mutterbruder des Protagonisten, und die alte Namensform Holmgard für Nowgorod oder Gardaríki für Rußland mag in Otnits Garte nachhallen; 15 dennoch lokalisiert das Epos die Handlung eindeutig in Oberitalien. 16 Im Zentrum steht Otnits Garte im Lamparten- / Lombardenland, dem auch ein Gartense zugeordnet werden kann. In einem nahe gelegenen Gebirge befindet sich die Stadt Trient, und auch Brissen und Berne, Brixen (oder Brescia?) und Verona, liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Rom und Lateran sind Otnit untertan; seine Vasallen herrschen über Tuscan/Toskana und Bonavente/Benevent mit den Orten Nutschir / Lucera, Troyen / Troia im Benevent und mit dem Heuweberg, wohl ein deutscher Name für den Monte Gargano. 17 Treu ergeben ist ihm zudem auch der 14 Die Terminologie entnehme ich Michel de Certau, Praktiken im Raum, aus dem Frz. von Ronald Voullié (zuerst frz. ›Pratiques d’espace‹, Paris 1980), in: Raumtheorie [Anm. 11], S. 343–353, hier insbes. S. 347. – Für die breite Diskussion um Konstruktion und Funktion von Räumlichkeit in mittelalterlicher Kultur und Literatur verweise ich nur auf Hartmut Kugler, Imago mundi. Kartographische Skizze und literarische Beschreibung, in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 77–93, und Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007. 15 Zur ›russischen‹ These vgl. zuletzt Harald Haferland [Anm. 1], S. 230ff. sowie Claudia Bornholdt, Ortnit und Walther auf der Flucht: Großes Durcheinander oder ein ordentlicher Schritt gen Norden, in: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters, hg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger und Horst Wenzel in Verbindung mit Kathrin Stegbauer, Stuttgart 2003, S. 129–141, hier 138–141. 16 Otnit dienen ausdrücklich wälsche Lande. Vgl. 3, 2–3: dem was bei den zeiten dhain künig geleich / über alle lant ze Walhen. 17 Die Handschrift A, Hans Rieds Ambraser Heldenbuch (1504–1516), schreibt Heugeburges (40, 4), die einzige weitere Handschrift, die sich dieser Fassung des ›Otnit‹ zurechnen läßt, Handschrift W (Wien ÖNB Cod. 2779, 1. Hälfte 14. Jh.), schreibt her gebirges, was Arthur Amelung, der Herausgeber der bis heute maßgeblichen Ausgabe des ›Ortnit AW‹ (Ortnit und die Wolfdietriche. Nach Müllenhoffs Vorarbeiten hg. von Arthur Amelung und Oskar Jänicke, Bd. 1, Berlin 1871) als – sonst nicht belegtes – Kollektivum zu herberge verstanden hat, als welches es Eingang in die Wörterbücher gefunden hat. Die ›Kaiserchronik‹ bezeugt Houweberc (V. 17136) für den Monte Gargano, und auch der in den ›Annales Marbacensis‹ genannte, bis dahin unbewohnte Ort namens Hovberch, an dem Kaiser Friedrich II. in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts Sarazenen ansiedeln ließ (MGH Script. 7/9, S. 88, 24), scheint dies zu bezeichnen. Die Handschrif-

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Herrscher über Cecilie und Pülle, Sizilien und Apulien, markanterweise ein loyaler Heide, in dessen Hauptstadt Messin / Messina sich das Heer einschifft. In zwölf Tagen Fahrt erreicht man bei günstigen Winden über das Meer das Land des heidnischen Königs von Jerusalem: zuerst die große Hafenstadt Suders in Sürie, also Tyrus in Syrien, dann Montabure, Tabor auf dem Berg, unbestimmt, aber keinesfalls besonders weit im Landesinneren. 18 Soweit die Ordnung der Namen im Text. Das sind, bei allen üblichen Freiheiten heldenepischer Topographie, relativ klare und historisch-geographisch ziemlich richtige Angaben, besonders was die italienischen Verhältnisse angeht, aber auch im durch Kreuzfahrerwissen strukturierten Heidenland. Ob historisch oder nicht – es ist soweit eine klare Raumordnung, ein präziser und kohärenter Raum, f ü r die Handlung mit sagenhistorischem, aktuell-politischem und geographischem Wissen entworfen und d u r c h die Bewegungen der Handlungsträger relativ klar aufgespannt. Dies gilt im Großen und Ganzen auch für die szenische Raumgestaltung: Man mag hier an die Kämpfe vor Suders und Muntabur denken, bei denen das Geschehen zumeist recht anschaulich und klar verortet ist. Aber für ganz spezifische Orte gilt dies eben nicht, und zwar gerade für diejenigen, an denen sich die handlungsentscheidenden Szenen abspielen: Ich meine zum einen jene Stätte im Gebirge, an der Otnit seinen Zwergenvater Alberich trifft, dann den Sitz oder die Residenz des bösen Heidenkönigs und zuletzt den Ort, an dem die Drachen hausen, jenen Ort also, an dem Otnit stirbt. Zum Ersten: Als die Mutter Otnit den Ring gibt, der ihn zu der angekündigten besonderen Aventiure führen soll, da beschreibt sie ihm zugleich auch den Weg dorthin:

ten der anderen Fassungen bieten hier guoten vesten oder marken. 18 Die letztgenannten Namen und Verhältnisse weisen übrigens auf die Zeit des Staufers Friedrich II. (zuerst Karl Müllenhoff, Das Alter des Ortnit, in: ZfdA 13 [1867], S. 185–192), weshalb man allgemein geneigt ist, die Entstehung der vorliegenden Otnit-Fassung AW auf ›um 1230‹ zu datieren. Das freilich ist keineswegs sicher, ebenso wenig wie die genaue Kenntnis des ›Eckenlieds‹ vom spektakulären Saugen aus der Rüstung auf das frühe 13. Jahrhundert verweist, allein weil eine Strophe des äußerst divers überlieferten ›Eckenlieds‹ im Codex Buranus überliefert ist und dies einen terminus ante quem 1230 abgibt – aber nur für diese eine Strophe, nicht für den ›Otnit‹-Bezug (so auch Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, Zürich, München 1978, S. 391). Für den ›Otnit‹ bleibt als einziger plausibler terminus ante quem das Alter der ältesten Handschrift W, nämlich die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts.

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So du von Garte reitest, so keer es zu der lengken hant über rone und über gebirge neben der stainwant, und warte wo ein linde under dem gebirge stee und aus der stainwande ein küeler brunne gee. Wenn du aus Garte hinausreitest, laß es linkerhand gehen, über gestürzte Bäume und über Gebirge der Steinwand entlang, und achte, wo eine Linde unter dem Gebirge steht und aus der Steinwand ein kühler Quell hervortritt.

»Laß es linksherum gehen«, eben nicht den ›rechten‹ Weg nehmen – das ist das Vokabular des chevalier errant, des programmatisch ins Ungewisse reitenden Aventiure-Ritters. 19 Einen solch ritterlichen Auszug hatte Otnit direkt vorher angekündigt: ich wil aber irre varen (74, 4). Nun ist er aber gerade nicht errant, irre, sondern von der Mutter gewiesen – einerseits. Andererseits ist die Wegbeschreibung dennoch hinreichend unklar: Hinter Garte links herum durchs Dickicht ins Gebirge, immer an der stainwant entlang. »Nach dem Krieg um vier« heißt die berühmte Verabredung des braven Soldaten Schwejk. Aber darum geht es nicht, so funktionieren Wegbeschreibungen in der alten Epik. 20 Die Quelle, die gewaltige Linde – später kommen noch singende Vögel und Blumen hinzu –, all das ist topisch: locus amoenus, Wunder- und Sonderort in der Wildnis. Aufmerken läßt hingegen die Formulierung neben der stainwant, die später noch zweimal, bei Otnits Rückweg und seiner eigenen Schilderung der Ereignisse, wiederaufgenommen wird: 191, 1 Sein phat das rait er widere neben der stainwant. Er ritt seinen Pfad zurück, neben der Steinwand.

19 Vgl. hierzu auch Christian Schmid-Cadalbert [Anm. 5], S. 135–136, und allgemein Erich Auerbach, Der Auszug des höfischen Ritters, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 10. Aufl., Tübingen 2001, S. 120–138; Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970 (Medium Aevum 21), sowie den Beitrag von Elisabeth Schmid in diesem Band. Deutlich wechselt der Held hier mit Beginn der 2. Aventiure von der Rolle des Königs in seinem Kollektiv, die er in der ersten Aventiure paradigmatisch verkörpert, in die Rolle des vereinzelten Ritters. Wie schwierig diese beiden Rollen zu vereinen sind – eine Problemstellung, die derjenigen des arthurischen Romans aufs engste korrespondiert –, zeigt sich nicht nur bei der Rückkehr des aventiurenden Otnit an seinen Hof, an dem er Herrscher sein soll am Ende dieser Aventiure (Strophen 191–194), sondern ganz grundsätzlich auch an seinem Scheitern, wenn er zum zweiten Mal alleine ausziehen wird, an den gleichen unscharfen Ort, diesmal zugleich als Landesherr, der als erster Ritter die Drachen zu besiegen hat, die sein Volk bedrohen: Er wird genau in dieser Konstellation endgültig scheitern. 20 Dazu ausführlich Störmer-Caysa, Grundstrukturen [Anm. 14], S. 34–76.

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212, 2 ›ich rit als du mich hiessest, neben der stainwant.‹ »Ich ritt, wie du mich geheißen hast, neben der Steinwand.«

Das Geschehen spielt sich irgendwie vor oder neben der stainwant ab. Insofern ist stainwant weder ausgedehnter Ort noch Handlungsraum, sondern reine Begrenzung: An ihr ›entlang‹ geht es, ›vor‹ ihr trifft man das Unglaubliche, Unerwartete. Sie ist zugleich Wegweiser und Kulisse. Etwas deutlicher werden die Grundzüge dieser anderweltlichen Landschaft, wenn man genauer auf die Textsequenz blickt, in welcher der Erzähler recht lebendig den Weg des Aventiure suchenden Königs schildert: 87, 4 er rait die ungeverte ze tal die stainen want. Er ritt ohne Weg und Steg talabwärts die steinerne Wand.

Immer hinunter geht es. Der wilde locus amoenus, an dem Otnit seinen Vater finden wird, ist irgendwie unten. Seltsam ist dies, denn man sollte meinen, im Gebirge gehe es immer hinauf. Könnte man mit dieser topographischen Irritation die Vorstellung eines descensus, eines Abstiegs in eine jenseitige Sphäre, eine Unterwelt konnotieren? 21 Der, den er dort vor der stainwant und von der stainwant gewiesen trifft, stellt so ziemlich alle Ordnungen auf den Kopf: Ein Zwerg ist er, ein Unsichtbarer, dessen Macht sich durch einen mächtigen, aber unscheinbaren Ring – oder vielmehr: durch einen in dieses Schmuckstück gefaßten stain – binden läßt. Dieses Wunderwesen ist Otnits Vater, Otnit also kein Königssohn, oder vielleicht doch, wie Alberich es formuliert, der Sohn eines, der sogar zwei Könige auf einmal ist: Zwergenkönig und Bettgenosse einer Königin. nu minn mich also clainen für zwaier künige leib (173, 4), sagt er, »minn mich und liebe mich, so klein wie ich bin, für die Verkörperung zweier Könige!« Insofern ist Otnit ein Bastard, ein Kuckucksei, ein Usurpator. 22 Aber das weiß ja nur die Mutter. In der Erzählung des selbsternannten Vaters ist davon die Rede, daß die Mutter sich sere werete (173, 3), sich »mit Schmerzen wehrte«, als sie von einer unsichtbaren Macht im Bett niedergerungen wurde. Sagt Alberich dies nur, um die Königin zu schützen? Denn es bleibt zu fragen: Woher hat die Mutter den 21 Als Otnit aus der stainwant-Wildnis wieder zurück zu seiner Residenz Garte kommt, sagt der Burgwächter über den – in seiner neuen, gleißend strahlenden Rüstung nicht Erkennbaren – ›er ist leicht dem teufel entrunnen und aus der helle kumen‹ (199, 4). Ylias hält den unsichtbar redenden Alberich für teufel oder got (238, 1), der Heidenkönig Nachorel hält ihn für einen teufele (269, 4). In diesen Assoziationsraum ›Teufel/Hölle‹ gehören dann auch die Heiden, namentlich der Heidenkönig, und natürlich die Drachen – also alle Bewohner der stainwant. Dazu unten mehr. 22 Dies betont besonders Carola L. Gottzmann, Heldendichtung des 13. Jahrhunderts. Siegfried – Dietrich – Ortnit, Frankfurt 1987 (Information und Interpretation 4), S. 172–181.

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Ring, mit dem sie den Anderweltlichen zwingen kann? Woher weiß sie, wo der wahre Vater ihres Sohnes zu finden ist? Alberich sagt mehrfach zu Otnit: »Gib mir m e i n e n Ring!« Kann sie diesen Ring und dieses Wissen nicht nur von Alberich selbst haben? Und wieso hat dieser ihr beides zukommen lassen? Daß es eine weitergehende, wie auch immer geartete Beziehung zwischen der Mutter und Alberich gegeben hat, soll man wohl voraussetzen. 23 Und nun, da sich die Mutter damit konfrontiert sieht, daß der groß gewordene Sproß dieser Liaison selbst heiraten und Kinder zeugen will, hält sie den Zeitpunkt für gekommen, ihn zu seinem Vater zu weisen. Die gestörte Genealogie ist erblich – auch Otnit wird, wie sein zeugungsunfähiger Königsvater, keine Kinder haben; nur Rüstung und Witwe hat er zu vererben. Nun ist Otnits Verhältnis zu seiner Mutter, wie schon trefflich analysiert wurde, erstaunlich offen ödipal und inzestuös. 24 Hervorgehoben sei hier nur so viel: Das erste, was Otnit sieht, als er, an der stainwant entlangreitend, an der Quelle ankommt, ist eine kleine schlafende Gestalt. Er hält sie für ein Kind und ruft aus: 95, 4 ›das wolte got von himele, und werest du mein sun. [...] 96, 4 awe, wo ist dein muoter, vil liebes kindelein?‹ »Das wollte Gott vom Himmel, daß du mein Sohn wärest! [...] Oh weh, wo ist deine Mutter, du liebstes Kind?«

Das würde Otnit so passen: Gerade von der Mutter weg, zum ersten Mal eine zukünftige Braut im Sinn – und da findet sich ein Kind zur Adoption, das man nicht erst selbst mit einer anderen Frau zeugen muß! Die ödipale Lesart dieser Stelle bringt deutlich ans Licht, wen und was Otnit da bei der stainwant eigentlich findet: Eine Person, die alles auf den Kopf stellt, die Kind und Vater ist, Kobold und König, unbeherrschbar und doch dienstfertig. 25 Seine geistige Überlegenheit gegenüber dem Sohn steht dabei zu keiner Zeit in Frage: Der nominelle Held des Epos gibt hier, wie überhaupt an vielen Stellen der Erzählung, wahrlich 23 Vgl. zu diesen Fragen schon Joseph Seemüller, Die Zwergensage im Ortnit, in: ZfdA 26 (1882), S. 201–211. Seemüller sieht den Zauberring der Mutter als eine Art »Vermählungsring« (S. 206) und weist bereits auf die Krux hin, daß später Otnits Frau das Kleinod besitzt. Allerdings sucht er aus dem ›Drei-Ringe-Problem‹ einen sagengeschichtlichen Ausweg, anders als Uta Störmer-Caysa, Ortnits Mutter [Anm. 6], die die Liebespfänder im Text als gefährliche und zwielichtige Gaben lesbar macht. 24 Dies zeigen sehr anschaulich Uta Störmer-Caysa, Ortnits Mutter [Anm. 6], und Dietmar Peschel, Dreifacher Salto ödipale: König Ortnit und seine Väter, in: Das Abenteuer der Genealogie. Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter, Göttingen 2006 (Aventiuren 2), S. 191–215. 25 Daß Alberich in gewissem Sinne die wichtigste Figur des Textes ist, betonen Rupp [Anm. 10], S. 243–244, und auch Schmid-Cadalbert [Anm. 5], S. 221–216.

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eine schlechte Figur ab. Er läßt sich mehrfach übertölpeln, weiß oft keinen Rat; und auch, wenn er den Eindruck hat, selbst einen Entschluß gefaßt zu haben, so hat ihn doch stets Alberich manipuliert. Alberich ist und bleibt der wunderbare und zugleich schreckliche Vater, aus dessen Zwergenschatten das Riesenkind Otnit nicht heraustreten wird, bis zum Ende. Dort wird er sich ein einziges Mal widersetzen, dem Vater den Ring endgültig zurückgeben und auf eigene Faust den Drachen suchen gehen. Das ist der Anfang vom Ende des nie erwachsen gewordenen Sohnes. 26 Alberich ist Herrscher und Bewohner der wilde, überall da, wo wilde ist, kennt er sich aus. 27 Dies entspricht ganz seinem albischen Charakter, doch läßt sich diese Affinität zum Ungezähmten, Naturhaften im ›Otnit‹ noch präziser fassen: Alberich ist, und das nicht nur als Vater, derjenige, der nicht integrierbar ist in Otnits Macht- und Herrschaftsstrategien, in Hof, Feudalsystem und Genealogie; er symbolisiert das schlechthin Inkommensurable – von hier aus läßt sich auch seine Unsichtbarkeit neu lesen. Der wundersame Zwergenvater ist an keinem und an allen Orten, ist plötzlich da im Bett von Otnits Mutter, auf Otnits Schiff vor Suders, auf den Burgzinnen neben dem Heidenkönig, in der Kemenate bei der Prinzessin, im Tempel der Heiden. Alberichs Gestalt hat in ihrer Ubiquität eigentümlich verschwommene Konturen – und darin ist ihr der zu Brei aufgelöste Körper seines Sohnes am Ende verblüffend ähnlich. Von Otnits Fleisch und Blut bleibt nur ein Abdruck, der wundersame Panzer, der ihn zum Mann hätte machen sollen, wie er denn später aus Männern Helden formen wird. Dieser jedoch ist eine Gabe seines Zwergenvaters und stammt letztlich nirgendwo anders her als aus der stainwant, dem einzigen Ort, der Alberich fest zugewiesen ist. Immer in der wilde an der stainwant entlang und hinunter kann man ihn treffen – und aus diesen Tiefen holt er offenbar auch die berühmte Rüstung hervor. Wiederum seltsam knapp und undeutlich heißt es im Text nur: 176

Als schier und im der claine entweich da in den berg, da truog er von der esse das wunnicliche werk, Ebenso schnell wie der Kleine von ihm dort in den Berg entwichen war, trug er von der Esse das lustbare Kunstwerk herbei:

26 Zur mißglückten Emanzipation Otnits von den übermächtigen Vaterfiguren vgl. ausführlich Peschel [Anm. 24] und Lydia Miklautsch, Väter und Söhne: ›Ortnit AW‹ und ›Wolfdietrich A‹. In: 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldendichtung in Österreich – Österreich in der Heldendichtung, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1997 (Philologia Germanica 20), S. 151–170. 27 Zum Problem der wilde vgl. die aufschlußreichen Bemerkungen bei SchmidCadalbert [Anm. 5], S. 222–229.

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Hat aber Alberich die Rüstung, die er aus der Schmiede im Inneren des Berges holt, selbst gefertigt? Er sagt hierzu: 113

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Zu dem halsberge gehöret ein baingewant. das ist nindert ringk. so scheinet in sondere mein handt. werdent dir die ringe, du solt in wesen holt. da ist nicht valsches inne, es sei alles lauter golt. Ich wän auch in der welte icht so guotes sei. ich nam es in einem lande, das haisset Arabi. das golt ist valsches ane und ist lauter sam ein glas. ich nam es an einem berge, der haisset Caucasas.

Das hieße übersetzt wohl etwa: 113

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»Zu der Halsberge gehört eine Beinrüstung. Die ist nirgendwo gering; so erscheint meine Hand, in jedem Detail. Werden diese Ringe dein, so bring ihnen deine Huld entgegen! Sie bergen keinerlei Falsch, es ist alles lauteres Gold. Ich glaube auch nicht, daß es auf dieser Welt etwas von dieser Qualität gibt. Ich nahm’s in einem Lande mit, das heißt Arabi. Das Gold ist ohne Verfälschung und ist lauter wie Glas. Ich nahm’s von einem Berg mit, der heißt Caucasas.«

Der zweite Vers ist schwierig. Nach der Version der hier zugrundeliegenden Leithandschrift A liegt die Leistung Alberichs wohl vor allem in der Beschaffung der Rüstung oder des Materials. Daß er auch selbst der Schmied war, wird nur in der einzigen anderen Handschrift dieser Fassung deutlich, in W: Da ist ninder rinch so chlainer In smit mein selbes hant. Daran ist kein noch so kleiner Ring, den ich nicht mit eigener Hand geschmiedet hätte.

Allemal kommt das kostbare Metall, aus dem der Panzer gefertigt ist, aus einem Berg im Heidenland. Was aber Alberich genau tut in seiner unterirdischen Zwergenschmiede, ist unscharf, auch in der Überlieferung. Jedenfalls besiegelt die Rüstung, die aus der stainwant kommt, Otnits Schicksal: Gerade die Undurchdringlichkeit des Panzers wird ihm dabei zum Verhängnis, da er ja im Drachenmaul weiterschlafen wird. Alles, was aus der stainwant kommt, ist fatal: Die Objekte, die aus ihr heraustreten, ebenso wie ihre Bewohner. Und Alberich ist nicht die einzige Vaterfigur, die der stainwant zugerechnet werden kann: 361

›Wilt du die burg schawen, so reite her, Otnit! ietzo wil ich dich weisen, wo Muntabur leit. nu gib hin dem Reussen den fanen an die hant. ir sehent nu wol die höhe und auch die stainwant.‹

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»Willst du die Stadt sehen, so reite her, Otnit! Jetzt will ich dir zeigen, wo Montabur liegt. Nun gib dem Reußen die Fahne in die Hand. Ihr seht jetzt gut die Höhe und auch die Steinwand.«

Mit diesen Worten weist Alberich Otnit den Weg zum Aufenthaltsort des geflohenen Heidenkönigs Nachorel. Irritierenderweise kommt hier einmal mehr das Signalwort stainwant ins Spiel, wieder in Verbindung mit einem Berg. Was ist hier gemeint? Die starke Festungsmauer? Aus mehreren Passagen der Entführungshandlung können wir eine Skizze der Stadt Montabur zeichnen. Sie besteht aus einer burcgmaure/ Burgmauer, darauf Zinnen, darin eine Pforte, davor ein Graben, davor wiederum die burgleite, ein zur Anlage gehöriger Abhang. Und doch heißt es an einigen signifikanten Stellen wieder nur: stainwant. Ein Beispiel: Alberich hatte die Heidenprinzessin samt Mutter in ihrem bethaus, ihrem Tempel oder Gebetsraum, aufgesucht und in einem kleinen Stärkewettstreit zwischen ›Heidengötzen‹ und Christengott die beiden paganen Idole in den Burggraben geschleudert. Mahmet und Apollo sind das, in schlechter mittelalterlicher Ignoranz-Tradition. Nun, da Otnit gerade mit der aus der Burg gelockten Prinzessin geflohen ist, will er die Heiden ablenken, indem er unsichtbar die Mahmet-Statue wieder in die Burg hinaufträgt und ihr dabei seine Stimme leiht: 442

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›Vallet alle nider und sprechet ewr gebet. danket der junkfrawen, hie kum ich Machmet. ir solt alle danken der jungen künigin, die hat mich des erflegt und den gesellen min, das wir herwider wellen in unser stainwant. secht zu, ich han mich selb gelainet an die want.‹ »Fallt alle nieder und sprecht euer Gebet! Danket der Jungfrau – hier komme ich, Mahmet! Ihr sollt alle der jungen Königin danken, die hat von mir und meinem Kameraden [= Apollo] erfleht, daß wir wieder zurück wollen in unsere Steinwand. Seht her, ich habe mich selber gegen die Wand gelehnt.«

Auch die heidnischen Götter gehören also – ganz im Einklang mit dem Kreuzfahrergeruch, den das Epos an so mancher Stelle verströmt – zu den stainwantBewohnern. Doch damit nicht genug, wie eine andere Szene zeigt, die sich gegen Ende der Schlacht um Montabur abspielt: Tausend Heiden, darunter auch Frauen und Kinder, haben sich in ein stainewant (326, 1) geflüchtet. Da sind Pforte und Riegel davor – ist jetzt ein Raum in der Burgmauer gemeint? Alberich spürt Versteck und Versteckte auf – stainwant ist ja seine ureigenste Domäne – und zeigt sie, in bester Absicht, Otnits Oheim Ylias von den Reußen. Der jedoch,

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verbittert darüber, daß sich ihm auf dem Schlachtfeld keinerlei Möglichkeit mehr zur Rache für seine gefallenen Gefolgsleute bietet, schlägt allen der Reihe nach die Köpfe ab. Als er sich gerade die Frauen vornehmen will, holt Alberich Otnit zu Hilfe. Dieser ist über solche Barbarei entsetzt und stellt seinen Onkel zur Rede, der daraufhin behauptet, hier auf seine Art zu taufen. Als Otnit ihn zwingt aufzuhören, stürmt er wütend hinaus auf das Schlachtfeld und späht in den Bergen geschundener Körper umher, ob sich noch hier und da Leben regt. Wer sich aber aufrichtete, so berichtet der Erzähler, und noch hätte überleben können, sei es Heide oder Christ, den trat er in den mundt (337, 3). Dieser heroische Furor, diese ausdrücklich als Anti-Taufe inszenierte Raserei – auch sie ist metonymisch mit dem Signifikanten stainwant verknüpft. Der Unglaube, die Barbarei, das wilde wohnen in der stainwant. Der eigentliche stainwant-Bewohner ist freilich der Oberheide Nachorel. Mehrfach finden wir ihn in einer Kammer verspart – und sehen ihn dann mit unbändigem Zorn aus ihr hervortreten. Noch zuletzt flüchtet er sich vor seinem Verfolger Otnit in dieses undeutliche, nur in seiner Abgeschlossenheit greifbare Innen. Dort sitzt er nun, er, den sein Gegenspieler Otnit zu töten versäumt hat, und brütet. Da kommt ein Jäger, ein wildenäre, und verschafft sich mühsam die Erlaubnis, vorsprechen zu dürfen. Er hat Erstaunliches zu berichten: 490, 3 ›ich het nach den hunden ze verre mich verrant, da kam ich unerweiset under ein stainwant.‹ »Ich hatte mich, den Hunden nach, allzu weit verlaufen, da kam ich unversehens unter eine Steinwand.«

Chevalier errant unter der stainwant auch er, wie Otnit, als er Alberich traf. Jetzt heißt es: 491

in A: Einen wurm ungefüegen in W:

sach ich d a r a u f gên. sach ich d a r z u gên.

Geht er nun a u f der stainwant oder z u der stainwant hin? Muß man bessern zu dar ûz gên, dort heraus gehen, wie bisher alle Herausgeber? Daß die Überlieferung hier gerade hinsichtlich der Raumpräpositionen unscharf ist, scheint mir signifikant zu sein. Welche Sorte Raum oder Ort stainwant meint, ist eben nicht klar. Jedenfalls berichtet Nachorels Gesprächspartner nun weiter, wie er sich ins nest des Drachen gewagt und zwei Dracheneier geraubt hat, und unterbreitet diesem dann den Plan, die Eier nach Lamparten zu bringen und dort in einer stainwant zu bruoten (vgl. 494–495). So geschieht es dann auch: Auf der anderen Seite des Meeres bittet der Weidmann Otnit um gebirge und ein hol, also eine Höhle, auf daß er hier die Geschenke seines versöhnungsbereiten Schwiegervaters

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ausbrüten könne (512). Der hocherfreute König läßt ihn daraufhin in ein stainwant bei der Stadt Trient weisen (513). Mit dessen Ende versiegen auch unsere Nachrichten von der stainwant. Das letzte Mal, daß wir von ihr hören, ist als der Drache mit dem schlafenden Otnit im Maul gen der stainwande (573, 1) eilt. Natürlich kann man sich all dies zurechtrationalisieren und etwa an eine Felswand im Gebirge denken, in die sich eine Höhle eingegraben hat. In dem berc, in dem hol heißt es oft genug, freilich. Auffällig sind so auch weniger die einzelnen Raumbeschreibungen als vielmehr die Tatsache, daß für so verschiedene Dinge und Orte derselbe Signifikant gebraucht wird, obwohl auf den ersten Blick auch topographisch präzisere und anschaulichere Vokabeln zur Verfügung stünden. Und die Dinge, die sich in oder bei der stainwant abspielen, und die Figuren, die in ihr oder bei ihr agieren, also metonymisch mit ihr verknüpft sind, sind auch untereinander verbunden, ja können ineinander überführt werden. Dazu noch zwei abschließende Beobachtungen: In der nahe Trient gelegenen stainwant werden z w e i Dracheneier ausgebrütet, geraubt aus demselben Nest in einer stainwant im Heidenland – was, nebenbei bemerkt, die aus ihnen geschlüpften Tiere zu Geschwistern macht. Dementsprechend ist auch, wenn die Drachenplage in Otnits Land beschrieben wird, immer von den würmen im Plural die Rede. Als sich die Handlung zuspitzt, heißt es dann aber auf einmal: 521,1 in A: Unz für die burg ze Garte in W: Unz für die burc ze Garte

das land er gar bezwang. der ein daz lant betwanc.

Aus zwei Untieren ist plötzlich eines geworden; die Lesart von W bietet hier wohl nur einen hilflosen Rationalisierungsversuch. Eine weitere Strophe lang wird noch von den Verwüstungen d e r Drachen berichtet, dann ist, im Gespräch Otnits mit seiner Frau, zeitweilig abwechselnd von einem und d e n würmen die Rede (und zwar zuweilen unterschiedlich in beiden Handschriften, die sonst in kaum mehr als inhaltlich irrelevanten Formen voneinander abweichen), bis sich zuletzt in bewährter Drachentöter-Rhetorik die Rede von dem einen Drachen durchsetzt. Und so trifft Otnit schließlich auch nur auf einen wurm – oder vielmehr trifft dieser auf Otnit und schleift ihn in sein bei der stainwant gelegenes Nest, wo auch schon die jungen, offensichtlich seine Kinder, hungrig auf den Leckerbissen warten. Wo ist der andere Drache hin? Und wo kommen die kleinen Drachen her? Zum Jungekriegen gehören zwei, bio-logisch. Wenn das stimmt, dann wäre diese neue Generation stainwant-Bewohner inzestuös gezeugt. 28 Die Konturen der die stainwant bevölkernden Ungeheuer sind porös, sie lösen sich auf, sie zerfallen und 28

So auch Peschel [Anm. 24], S. 213.

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zerschmelzen. Sie sind eins und zwei und viele – wie mit Borges’ blauen Tigern kann man mit ihnen nicht rechnen. 29 Gerade darin, und nicht nur durch ihre bösartige Gefräßigkeit, sind sie monströs. Dennoch: Diese Brut ist eminent fruchtbar, anders als die Regenten von Lamparten: Otnit, der verschwundene Ehemann seiner Mutter und seine Frau. Das Dunkle, Unscharfe aus der stainwant ist fruchtbar – der Zwergenkönig Alberich ist Otnits biologischer Vater, die Drachen erleben wir in drei Generationen. Und der Heidenkönig? Zwar kann Otnit verhindern, daß er, wie geplant, seine Tochter zur Frau nimmt, doch lassen sich die genealogisch unscharfen Drachenkinder als Frucht seiner verbotenen Liebe lesen, als Substitute seiner im Inzest mit dem eigenen Kind gezeugten Kinder. 30 Jedenfalls sagt Otnits Frau, die geraubte Heidenprinzessin, über ihren Vater: 534

›Ja hat er geschupfet die wurme auf meinen leib.‹ ›got muos uns über in richten‹ sprach daz vil schöne weib, ›daz also vil der cristen ist durch in erschlagen. daz er ie kam in Lamparten, das wil ich gote clagen.‹

Von wem aber ist hier eigentlich genau die Rede? »Ja, er [der Heide] hat mir die Drachen [hier Plural !] an den Hals geschleudert!« »Gott muß uns über ihn [wen ? ] richten«, sprach die wunderschöne Frau, »daß so viele Christen seinetwegen [ ? ] hingeschlachtet wurden! [ist wirklich eindeutig vom Heidenvater die Rede? Genau mit diesen Vokabeln wurde zuvor über die oder den landverwüstenden Drachen gesprochen !] Daß er [der Drache ? der Heide ? ] je nach Lamparten kam, das will ich Gott klagen.« 31

Vater und Ungeheuer schieben sich in der Syntax der Figurenrede ineinander – der Heide i s t in Lamparten, in der sprachlichen Gestalt der Drachen. Er ist in das Land der Tochter eingedrungen, in Form von zwei in einem bulge, einem Ledersäckchen (509, 1 und 510, 1), verschnürten Eiern – deutlicher kann man es kaum sagen. Der Heidenkönig sendet seine Riesen-Eier, 32 seine zerstörerische Mega-Potenz nach Lamparten, und wenn sie auf seine Tochter treffen, werden sie 29 Jorge Luis Borges, Blaue Tiger, in: ders., Blaue Tiger und andere Geschichten. Ausgewählt und hg. von Gisbert Haefs. Aus dem Spanischen von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer u. a., München 1988. 30 So auch Störmer-Caysa, Ortnits Mutter [Anm. 6], S. 306, und Peschel [Anm. 24], S. 211. 31 In W, der zweiten Handschrift, steht im letzten Vers daz ich ie kom nach Lamparten – aber das entschärft das Problem nur auf den ersten Blick: Die Tochter aus dem Heidenland wäre dann im Sinne unserer Interpretation nur noch deutlicher als Bestandteil dieser chaotisch-inzestuösen stainwant-Fruchtbarkeit funktionalisiert. 32 ungefüege gros und swer genuog sind die Eier (492, 3).

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fruchtbar, und Otnit taugt dann am Ende nur noch zur Nahrung dieses Gezüchts. Aus diesen Eiern schlüpfen Drachen, die wiederum mutmaßlich inzestuöse Kinder zeugen – und diese verflüssigen Otnits Körper, der keinerlei Nachkommen hat und gerne den ersten Knaben adoptieren würde, den er bei einer Quelle neben der stainwant findet. Otnit hat seinen ödipalen Dämon nicht besiegt, Inzest und Chaos sind in sein Land eingesickert, zersetzen erst dessen politische Stabilität und letztlich mit seinem eigenen Körper auch die dynastischen Hoffnungen der Könige von Lamparten. Otnits männlicher Körper, als solcher scharf begrenzt in der überharten Vater-Rüstung, wird, oder besser: bleibt in und wegen dieser Rüstung ein weicher, indifferenziert-formloser Kind-Mutter-Körper, wird zur Mutterbrust, zur nährenden Milch des fruchtbaren Chaos. Die stainwant-Bewohner haben gewonnen. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, inwiefern man stainwant als Heterotop, als ›Un-Ort‹ 33 lesen kann: Einerseits eine scheinbar solide Struktur, ist sie andererseits auch undeutlich und verschwommen, der übrigen Welt des Textes entzogen. Bedeutsam ist sie und doch peripher, lokalisiert jenseits der Schwelle von Kulturund Naturraum, beherrschtem Raum und Raum des Irre-Gehens, des Verrennens, im Gebirge oder das Gebirge selbst. Dreimal wird Otnit an die stainwant geführt, beim dritten Mal fällt er in den fatalen Schlaf. 34 Für ihn ist stainwant kein Ort aktiver Bewährung, sie ist nicht in einen Handlungsraum zu verwandeln, bleibt unberechen- und unbeherrschbar. Ebensowenig können ihre Bewohner beherrscht werden: der heidnische Schwiegervater nicht, den Otnit fatalerweise am Leben läßt; Alberich, sein leiblicher Vater, nicht, an dem er nicht erwachsen werden und den er nicht überwinden kann, trotz des Ringes; die Drachen, die Chaosbringer, Landzerstörer, Geschlechtsumwandler sowieso nicht. Im Un-Ort stainwant kulminiert jene Un-Ordnung, die den ganzen Text durchzieht, sein Ursprung ist und auch sein Ziel. Mehr noch: All dies betrifft nicht nur den Handlungsraum, son-

33 Ich verweise auf die von Annette Gerok-Reiter und Friedemann Kreuder organisierte Tagung ›Unorte‹, die im November 2008 an der Universität Mainz stattfand und bei der ich eine erste Fassung dieses Aufsatzes vortragen und diskutieren konnte. 34 Auffällig ist, daß der Text an jeder stainwant von eigenartigem Schlaf spricht: Zunächst ist es ein scheinbarer Schlaf des scheinbaren Kindes Alberich (100, 3); dann schläft Otnit, als ihm Alberich die aus der Burg gelockte Braut tatsächlich und buchstäblich übergibt (436, 1–2); dann verschläft er den entscheidenden Drachenkampf (567–572). Zum Schlafmotiv im ›Otnit‹ und anderswo vgl. Claude Lecouteux, König Ortnits Schlaf, in: Euphorion 73 (1979), S. 347–355; Heino Gehrts, Der Schlaf des Drachenkämpfers Ortnit, in: Euphorion 77 (1983), S. 342–344, und zuletzt Harald Haferland [Anm. 1], S. 228–236.

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dern auch die epischen Zeitverhältnisse. An der stainwant werden lineare Zeiten durcheinandergebracht, wird Heterochronie inszeniert, deutlich in der gestörten Generationenfolge: Otnits wahrer Vater Alberich als phantasiertes Kind – Montabur als Ort des geplanten Inzests – die Drachenhöhle mit ihren sich unklar reduplizierenden Eltern-Kinder-Beziehungen. Dieses opake Ding mit dem opaken Signifikanten stainwant ist in vieler Hinsicht zeit- und raumlos, ein Ort, der vor jeder Unterscheidung ist und sich jedem eindeutigen Sinn verweigert. In diesem Gegen-Chronotop werden die Identitäten ineinandergeblendet und verschwimmen, die Figuren und Körpergrenzen lösen sich auf. stainwant ist selbst der schreckliche, alleszermalmende Schlund des Drachen, dem nach und nach die mühsam dem Chaos abgetrotzte Ordnung anheimfällt. Und diesem stainwantGesetz unterliegt am Ende auch der Held. Vielleicht ist ja von Anfang an die Rüstung daran schuld: hart, opak wie eine stainwant; da kann nichts hinein; aber wenn etwas herauskommt, ist es Chaos, Auflösung, Verflüssigung, Tod. »Die Heterotopien trocknen das Sprechen aus«, sagt Foucault, »sie lassen die Wörter in sich selbst verharren, bestreiten jede Möglichkeit von Grammatik.« 35 stainwant fügt sich einer narrativen oder sprachlichen Grammatik ebensowenig wie einer räumlichen oder zeitlichen Logik. Es ist ein verharrender, opaker Signifikant mit vielfachen, inkohärenten und unordentlichen Referenzen, der am Ende vor allem die Unordnung selbst, die Nicht-Integration als solche bezeichnet. Und so ist Otnit schon rein grammatisch für seinen spektakulär un-heldischen Tod prädestiniert: Er heißt ja schon so. 36 ort kann man mit ›Spitze, Ende‹ übersetzen; nît, unser Wort ›Neid‹, meint im Mittelhochdeutschen allgemein ›Aggression, Haß‹. 37 Aber diese fortitudo-Berserker-Helden-Dimension seines Namens hatte er an seinen Oheim-Ersatzvater Ylias abgegeben. ort ist allgemein Ende, auch Körperende, Kopf. Kopf, sapientia hat er zu wenig, das hat er an seinen Zwergenvater 35

Foucault, Ordnung der Dinge [Anm. 11], S. 20. Einschränkend wird man sagen müssen, daß der Held nur in der Minderzahl der Handschriften aller Fassungen und Überlieferungen mit seinem Namen Ortnid/Ortneid/ Ortney heißt (so in W, y und K, dem ›Dresdner Heldenbuch‹), sondern zumeist Otnid / Otenid so in C, a, b, c, d, e, z, im ›Eckenlied‹, im ›Buch von Bern‹ und vor allem auch in A und also auch in unserer neuen Edition. Der Name stellt sich dann zu einer Vielzahl von Personen- und Ortsnamen mit dem Etymon Od- = ›Land, Grund‹. Daß aber dennoch solche etymologisierenden Spiele mit Namensbestandteilen, und zwar auch unter Mutation einzelner Silben, durchaus mittelalterlichem Denken und literarischen Verfahren entsprechen, zeigt auf beeindruckende Weise die Dissertation von Björn Reich, Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum ›Meleranz‹ des Pleier, ›Göttweiger Trojanerkrieg‹ und ›Wolfdietrich D‹. Heidelberg 2011 (Studien zur historischen Poetik 8). 37 So auch Peschel [Anm. 24], S. 194 Anm. 7. 36

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Alberich abgegeben. Auch das steht ja schon im Namen, denn den zweiten Bestandteil -nît kann man auch kurz lesen: nit, ›nicht‹. Ort-nit = ›nicht Kopf‹, ›ohne Kopf‹, oder dann gleich: ›Kopf weg‹. Mittelhochdeutsch ort kann natürlich auch genau das gleiche heißen wie neuhochdeutsch ›Ort‹: Ort-nit = ›Nicht-Ort‹. 38

38 Zahlreiche Ideen und Beobachtungen dieses Aufsatzes verdanken sich der gemeinsamen Arbeit am Text von Dietmar Peschel, Victor Millet und mir, und ich habe lediglich etwas davon hier aufgeschrieben und geordnet – ihnen Dank zu sagen, wäre viel zu wenig. Herzlicher Dank an Kerstin Rüther, Mainz, für die zahlreichen Anregungen und die Mitarbeit bei der Ausarbeitung des Manuskripts.

Amoene Orte Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung von Dorothea Klein, Würzburg

Seit den programmatischen Essays eines Paul Zumthor und Hans Robert Jauß 1 gehört die Vorstellung des Alteritären zu den prominenten Denk- und Argumentationsfiguren der mediävistischen Literaturwissenschaft. Daß Literatur und Kultur des Mittelalters sich kategorial von denen der Moderne unterscheiden, daß sie Differenz- und Fremdheitserfahrungen auslösen, die es wahrzunehmen und hermeneutisch fruchtbar zu machen gilt: solche Einsichten gehören heute zum Rüstzeug eines jeden Mediävisten. Die vielberufene Andersheit mittelalterlicher Dichtung glaubt man auch und vor allem im Bereich der Poetik mit Händen greifen zu können. Denn anders als die Literatur der Moderne gilt mittelalterliche Dichtung als Resultat einer technischen Fertigkeit, die man lehren und lernen konnte: als eine ars, die erlernbaren Regeln der Rhetorik und Poetik folgt, die aus einem festen Repertoire von Bild- und Beschreibungsmustern, Wort- und Sinnfiguren schöpft und präzise beschreibbare Handlungsschemata anwendet. Die mittel- und neulateinischen Poetiken, in Fortführung antiker lateinischer Dichtungslehre, scheinen diese Auffassung nur zu bestätigen. Sie legen die Dichter verbindlich auf Regeln fest, und das heißt auch: auf die Tradition. Verbindlichkeit hatte die Tradition aber auch mit Blick auf die Erzählstoffe. Namentlich die Autoren der höfischen Zeit scheinen sich dem Erfindungsverbot gefügt zu haben: Kaum einer hat seinen Stoff erdacht und sich damit dem Generalverdacht der Lüge ausgesetzt, in den bereits Platon die Dichtkunst gebracht hatte; in der Regel bearbeitete man Stoffe aus dem Traditionsbestand. Daß die mittelalterliche Literaturproduktion anderen Bedingungen als die moderne unterliegt, wird darum kaum jemand bestreiten wollen.

1 Paul Zumthor, Essai de poétique médiévale, Paris 1972; Hans Robert Jauß, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956– 1976, München 1977, bes. S. 9–48.

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Problematisch wird dies erst da, wo mit der Orientierung an einer Regelpoetik oder der Adaptation vorgegebener Stoffe Konventionalität, Stereotypie und fehlende Originalität assoziiert werden. Am augenfälligsten wurde dies zuletzt in der Debatte um die Bearbeitung lateinischer und altfranzösischer Epen durch deutsche Autoren. Die moderne Literaturwissenschaft nennt dieses Bearbeiten bekanntlich ›adaptation courtoise‹, neuerdings auch ›Wiedererzählen‹ oder ›Retextualisierung‹. 2 Namentlich die beiden letzten Begriffe unterstellen, daß die Dichter jede originäre Erfindung vermeiden wollten, selbst dort, wo sie ihr eigenes Tun als erniuwen bezeichnet und damit den Anspruch auf Neues und Neuartiges angemeldet haben. 3 Daß Originalität sich nicht nur auf die materia, den Erzählstoff, bezieht, sondern sich auch an der Form oder an der konzeptionellen Neuformung eines Sujets bemessen kann, ist ein Gedanke, an den wir uns erst allmählich zu gewöhnen scheinen. 4 2 Angestoßen wurde die Debatte zuerst durch Michel Hubys Monographie: L’adaptation des romans courtois en Allemagne au XII e et XIIIe siècle, Paris 1968. Neu in Gang gebracht wurde sie durch die Beiträge Franz Josef Worstbrocks: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ›Erec‹ Hartmanns von Aue, in: FMST 19 (1985), S. 1–30, und Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142. Einen Überblick über die verschiedenen Formen und Aspekte literarischer Traditionalität und ihre literaturtheoretische Reflexion bietet der Sammelband: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur (Sonderheft zur Zeitschrift für deutsche Philologie 124), hg. von Joachim Bumke und Ursula Peters, Berlin 2005. 3 In diesem Sinn verwendet den Begriff z. B. der Stricker im Prolog zum ›Karl‹: Diz ist ein altez mære. / nu hât ez der Strickære / erniuwet durch der werden gunst, / die noch minnent hovelîche kunst; vgl. Karl der Große von dem Stricker, hg. von Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), V. 115–118. Ähnlich programmatisch setzt Konrad von Würzburg den Begriff im Prolog zum ›Engelhard‹ ein: mit herzen und mit munde / wil ich von hôhen triuwen / ein wârez mære erniuwen; zit. nach: Konrad von Würzburg, Engelhard, hg. von Paul Gereke, 3., neubearb. Aufl. von Ingo Reiffenstein, Tübingen 1982 (ATB 17), V. 152–154. Von der Erneuerung des alten buoches von Troye – gemeint ist der ›Roman de Troie‹ Benoîts de Sainte-Maure – spricht Konrad auch im Prolog seines ›Trojanerkriegs‹ (hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 [StLV 44], Nachdruck Amsterdam 1965, hier V. 266–279). Vgl. dazu jetzt Beate Kellner, daz alte buoch von Troye [...] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ›wiederholen‹ und ›erneuern‹ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. von Gert Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink, Berlin/New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 231–262. 4 Vgl. etwa Ludger Lieb, Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des ›Wiedererzählens‹, in: Retextualisierung [Anm. 2], S. 356–379 und Elisabeth Schmid, Erfinden und Wiedererzählen, in: Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft, hg. von Renate Schlesier und Beatrice Trinca, Hildesheim 2008

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Vergleichbares gilt für die rhetorischen Figuren, von denen die mittelalterlichen Autoren reichlich Gebrauch gemacht haben. Meist begnügen wir uns mit dem Nachweis, aus dem dann Rückschlüsse auf die gelehrte Bildung unserer Dichter gezogen werden. Unter Konventionalitätsverdacht stehen insbesondere die Topoi, jenes Stückgut aus dem Vorratsmagazin der Poesie, das in der Literatur von der Antike bis ins 17. Jahrhundert immer wieder nachweisbar ist. Sie gelten als standardisierte Argumentations- oder Darstellungsformeln, auf welche die Autoren bei Bedarf, zur Darstellung bestimmter Sachverhalte, zurückgegriffen haben, und Standardisierungen sind sie ja auch in einer gewissen Hinsicht. Daß solche »sprachlich-poetische(n) Klischee(s)« 5 aber, eben weil sie Klischees sind, keiner großen hermeneutischen Anstrengung mehr bedürften, ist vielleicht ein Mißverständnis, dem vor allem Ernst Robert Curtius Vorschub geleistet hat. Ihm war es zuvörderst darum gegangen, die Existenz einer historischen Topik zu belegen. Indem er sich mit dem bloßen Aufweis von Topoi begnügte, auf die Interpretation im einzelnen also verzichtete, hat er möglicherweise unsere Vorstellungen von der Stereotypie mittelalterlicher Texte nur befestigt. Die Fixierung auf das Andere, auf das Standardisierte und Normierte, in der mittelalterlichen Literatur läßt nicht nur leicht übersehen, daß auch der Literatur der Moderne durchaus Regelhaftes eignet. Man übersieht dabei auch leicht, daß mittelalterliche Autoren sich keineswegs in rein konventionalisiertem Sprechen übten. Ganz im Gegenteil: Sie gingen phantasievoll und kreativ mit ihrem vorgegebenen Material um. Daß literarische Traditionalität und Kreativität, Rhetorik und Ästhetik sich nicht ausschließen müssen, möchte ich an einem Beispiel zeigen, das wie kaum ein zweites Topos, also ein literarischer Gemeinplatz geworden ist: am Beispiel des locus amoenus. Der Begriff ›Topos‹ soll dabei eine Bildformel, das literarische Darstellungsmuster bezeichnen. Ich verwende den Begriff also im Sinne von Ernst Robert Curtius: 6 nicht als systematische Kategorie, nach der man Argumente finden kann, sondern als Bezeichnung für die Sache selbst. Meine (Spolia Berolinensia 29), S. 41–55. Vgl. im selben Band auch die Aufsätze von Walter Haug, Die theologische Leugnung der menschlichen Kreativität und die Gegenzüge der mittelalterlichen Dichter, S. 73–87, Dorothea Klein, Zwischen Abhängigkeit und Autonomie: Inszenierungen inspirierter Autorschaft in der Literatur der Vormoderne, S. 15–39 und Jessica Quinlan, »dise nôt nam an sich / von Zatzichoven Uolrich, / daz er tihten begunde« (V. 9343–45): Darstellungen dichterischen Selbstbewußtseins bei Ulrich von Zatzikhoven, S. 57–72. 5 Peter Hess, ›Topos‹, in: 3 RL 3 (2003), S. 649–652, hier S. 651. 6 Zum literarisierten Topos-Begriff vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 9. Aufl. Bern/München 1978, S. 92–115. Curtius legt hier den Grund für ein Toposkonzept, das mit dem der antiken und mittelalterlichen Rhetorik nicht mehr viel zu tun hat.

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Beispiele sind aus dem höfischen Roman und aus der Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts genommen. 1. Der Topos locus amoenus gehört zum kollektiven gelehrten Wissen der Vormoderne. Herausgebildet hat er sich, das wissen wir seit den Untersuchungen von Curtius, 7 aus der bukolischen Dichtung. Eine Schlüsselposition in der Entwicklung des Topos hatte der lateinische Theokrit, der Eklogendichter Vergil, der die Welt der Hirten – zumindest in seinen späten Eklogen – auf die Peloponnes, in das von hohen Bergen eingeschlossene Arkadien, verlegte: in ein idyllisches Milieu, Wunschort des ewigen Frühlings. Aus den Szenerien der ›Eklogen‹ hat man in der Spätantike zwei Typen der idealen Landschaft gewonnen: den Hain oder Mischwald und den lieblichen Ort in freier Natur, »mit Blumenwiese ad libitum« 8 . Sie waren die Muster, nach denen spätantike und mittelalterliche Dichter eine schöne Natur im Medium der Poesie entworfen haben. Bedeutsam wurde vor allem der locus amoenus, der »fester Bestand einer langen Traditionskette wurde«. 9 Zu seiner Grundausstattung gehören eine Wiese, ein schattenspendender Baum und eine sprudelnde Quelle; Variable sind Vogelgesang, Blumen und Früchte, Sonnenlicht und sanfter Wind. Matthäus von Vendôme hat das Beschreibungsmuster zur handlichen Formel verdichtet: Flos sapit, herba viret, parit arbor, fructus abundat, / Garrit avis, rivus murmurat, aura tepet. »Die Blume duftet, das Gras grünt, es trägt Früchte der Baum, Frucht in großer Fülle, / Es zwitschert der Vogel, der Bach murmelt, die Luft ist lau« (›Ars versificatoria‹ I, 111,49f.). 10 Häufig war mit diesem idealen Ort die Vorstellung von ewiger Jugend, Fülle, Fruchtbarkeit und Wohlergehen verbunden. Für die Verbreitung des Musters sorgte der Schulunterricht. In der lateinischen Literatur ist der locus amoenus darum seit dem 11. Jahrhundert beinahe allgegenwärtig. 11 Das Muster – samt den damit verbundenen 7

Curtius, Europäische Literatur [Anm. 6], S. 192–200, und Ernst Robert Curtius, Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter, in: Romanische Forschungen 56 (1942), S. 219–256. 8 Curtius, Europäische Literatur [Anm. 6], S. 199. 9 Ebd., S. 194. 10 Vgl. Les arts poétiques du XII e et du XIII e siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge par Edmond Faral, Paris 1962, das Zitat S. 149. 11 Einen informativen Überblick über den Topos in der mittellateinischen, altfranzösischen und mittelhochdeutschen Dichtung geben: Hennig Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle a.d.S. 1928, 2. unveränd. Aufl. Tübingen 1979, S. 82f., 104–108, 125–139, und Leonid Arbusow, Colores rhetorici. Eine Auswahl rhetorischer Figuren und Gemeinplätze als Hilfsmittel für akademische Übungen an mittelalterlichen Texten, 2., durchges. und verm. Aufl. hg. von Helmut Peter, Göttingen 1963, S. 72–74, 111–116; vgl. ferner Curtius, Naturschilderung [Anm. 7].

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Konnotationen – war so geläufig, daß oft schon wenige Stichwörter genügen konnten, um es präsent zu halten. Allerdings ist schwer vorstellbar, daß man einen Lustort nach einer abstrakten Anleitung, gewissermaßen mit der Poetik in der Hand, beschrieben hat; üblicherweise dürften die Dichter am literarischen Beispiel gelernt haben. Mein erstes Textbeispiel stammt aus dem ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Wie kaum ein anderer deutscher Dichter der höfischen Zeit kannte Gottfried die lateinischen Schulautoren, und wie kaum ein zweiter hat er sein rhetorisches Handwerkszeug gelernt. Die Entwürfe von Natur und Landschaft in seinem ›Tristan‹ stehen darum ganz »im Einklang mit den Vorschriften der mittelalterlichen Poetiken«. 12 Daß gleichwohl ganz Eigenes entsteht, läßt sich an der Beschreibung des Maifestes studieren, das König Marke an amoenem Ort ausrichtet. Es ist jenes Fest, auf dem der junge Fürst von Parmenien, Riwalîn, und Markes schöne Schwester Blanscheflûr einander kennen- und liebenlernen. Für die Inszenierung des Festes hat Gottfried den Topos locus amoenus benutzt; er gibt zugleich den Rahmen für die Liebesgeschichte:

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Nu was diu hôhgezît geleit, benennet unde besprochen die blüenden vier wochen, sô der vil süeze meie în gât unz an daz, dâ er ende hât, bî Tintajêl sô nâhen, daz sî sich undersâhen, in die schoenesten ouwe, die keines ougen schouwe ie überlûhte ê oder sît. diu senfte süeze sumerzît diu haete ir süeze unmüezekeit mit süezem vlîze an sî geleit. diu cleinen waltvogelîn, diu des ôren vröude sulen sîn, bluomen, gras, loup unde bluot und swaz dem ougen sanfte tuot und edeliu herze ervröuwen sol, des was diu sumerouwe vol: man vant dâ, swaz man wolte, daz der meie bringen solte: den schate bî der sunnen, die linden bî dem brunnen, die senften, linden winde,

12 Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein hg. von Peter Ganz, 2 Bde., Wiesbaden 1978 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), das Zitat Bd. 1, S. XXXI.

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die Markes ingesinde sîn wesen engegene macheten. die liehten bluomen lacheten ûz dem betouwetem grase. des meien vriunt, der grüene wase der haete ûz bluomen ane geleit sô wunneclîchiu sumercleit, daz sî den lieben gesten in ir ougen widerglesten. diu süeze boumbluot sach den man sô rehte suoze lachende an, daz sich daz herze und al der muot wider an die lachende bluot mit spilnden ougen machete und ir allez widerlachete. daz senfte vogelgedoene, daz süeze, daz schoene, daz ôren unde muote vil dicke kumet ze guote, daz vulte dâ berge unde tal. diu saelege nahtegal, daz liebe süeze vogelîn, daz iemer süeze müeze sîn, daz kallete ûz der blüete mit solher übermüete, daz dâ manc edele herze van vröude unde hôhen muot gewan. Dâ haete diu geselleschaft vrô unde sêre vröudehaft gehütet ûf daz grüene gras, alse iegelîches wille was. dâ nâch alse iegelîches ger ze vröuden stuont, dâ nâch lag er: die rîchen lâgen rîche, die höfschen hovelîche; dise lâgen under sîden dâ, jene under bluomen anderswâ; diu linde was genuoger dach; genuoge man gehütet sach mit loupgrüenen esten. von gesinde noch von gesten wart geherberget nie sô wunneclîchen alse hie. (›Tristan‹, V. 536–602) 13

13 Text nach: Gottfried von Straßburg, Tristan. Mhd./Nhd. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Nhd. übers., mit Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde., 3., durchges. Aufl. Stuttgart 1984 (RUB 4471–4473).

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Gottfried bietet hier die hochgradig rhetorisierte Beschreibung einer maienseligen Natur und einer ebenso maienseligen Gesellschaft. Er tut dies in drei Anläufen. Zunächst macht er mit der Örtlichkeit des Festes vertraut: Es ist die »schönste Wiesenlandschaft«, die je ein Auge erblickte (V. 543–545). Sie ist freilich nicht als Setzung des Dichters entstanden; ihr Schöpfer ist vielmehr die senfte süeze sumerzît (V. 546), die sie emsig und sorgfältig hergerichtet hat (V. 547–549). Mit den cleinen waltvogelîn (V. 549), mit bluomen, gras, loup unde bluot (V. 551) in Fülle ist das Beschreibungsschema des amoenen Orts anzitiert. Gottfried zählt auf, ruft das Schema ab, tut dies aber nur, um sogleich auf die Wirkung zu sprechen zu kommen, welche die Sommerwiese hervorruft: Sie ist Wohltat und Freude für Herz und Sinne, für den Ohrensinn ist es der Gesang der Vögel (V. 549f.), für den Augensinn die blühende Natur (V. 551f.). In einem zweiten Cursus (V. 555–586) wiederholt und ergänzt der Erzähler seine erste Beschreibung. Der ideale Ort wird nun auch mit der obligatorischen Linde – in der ersten Beschreibung metonymisch vertreten durch das Laub – und der ebenso obligatorischen Quelle (V. 558), mit Sonne und Schatten und mit lauem Wind (V. 557–559) ausgestattet, und das Gras ist nun zusätzlich noch mit Tau benetzt (V. 563). Das ist Zeichen der Frische, doch mag auch eine übertragene Bedeutung – in der geistlichen und weltlichen Literatur wird der Tau öfters als Sexualmetapher verwendet 14 – mitzudenken sein. Zum senfte(n) vogelgedoene (V. 575), dem »zarten Gesang der Vögel«, gesellt sich jetzt auch die saelige nahtegal, die mit ihrem Gesang Berg und Tal füllt (V. 580f.). Weder das Beschreibungsmuster als solches ist neu noch sind es die einzelnen Bestandteile des Beschreibungsinventars. Neu ist jedoch, wenn ich recht sehe, die Anthropomorphisierung der Natur. Der Natur werden menschliche Züge eingeschrieben: Die Blumen lachen aus dem betauten Gras (V. 562), es lachen die blühenden Bäume (V. 569f.), sie lachen ihr Gegenüber an, und die Wiese hat Sommerkleider angelegt (V. 565f.). Umgekehrt sieht man so manchen herrlichen Blumenkranz in der Schar der Ritter (V. 678f.), Blanscheflûr gar ist allen eine ougen w e i d e (V. 641). Das aber heißt: So wie die Natur metaphorisch als menschliche Gesellschaft gekennzeichnet wird, so wird die Gesellschaft als Natur semantisiert. Noch etwas anderes kommt hinzu, was ich als den anthropologischen Effekt der Rhetorik bezeichnen möchte. Das Strahlen der Natur läßt auch die Menschen strahlen, die sich in diesem Idyll aufhalten: Das leuchtende geblümte Sommerkleid, das des Maien Freund, der grüne Rasen, sich angezogen hat, macht auch den Gästen leuch14 Zur geistlichen Tradition der Taumetapher vgl. Friedrich Ohly, Metaphern für die Inspiration, in: Euphorion 87 (1993), S. 119–171; zum Tau als Sexualmetapher vgl. Bruno Fritsch, Die erotischen Motive in den Liedern Neidharts, Göppingen 1976 (GAG 189), S. 43–48.

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tende Augen (V. 564–568), und die Blüten der Bäume lächeln ihnen so freundlich zu, daß die Menschen mit spiegelnden Augen ihr Lachen erwidern müssen (V. 569–574). Die glückselige Natur ist bedingender Grund für die Glückseligkeit der Menschen, und gleichzeitig ist sie ihr Spiegel: In der strahlenden Natur betrachtet der Mensch sich gleichsam selber. 15 Der amoene Ort wird so zum Raum für den narzißtischen Selbstgenuß einer höfisch-kultivierten Gesellschaft. In einem dritten Cursus wird die blühende Wiesenlandschaft mit Menschen bevölkert, genauer: richtet das Augenmerk des Erzählers sich nun ganz auf die Teilnehmer der höfischen Festgesellschaft, die jetzt ihren Platz in der festlichen Natur zugewiesen bekommen: Die einen lagern unter seidenen Tüchern, die anderen ziehen die blühenden Bäume vor, die dritten schließlich die grünbelaubten Äste der Linde (V. 595–599). Dabei werden noch einmal einzelne Motive aus dem traditionellen Inventar anzitiert. Indem König Marke und seine Gäste aber sich niederlassen und Quartier nehmen, wird der amoene Ort nun ganz zum Raum der höfischen Festfreude. Für die vornehme Gesellschaft wird er zum irdischen Paradies, zu einer temporären Insel der Seligen, die Jugend und Fülle, Wohlbehagen und Lust erleben. Damit ist Gottfrieds Beitrag zur Kunst der descriptio aber nur zur Hälfte beschrieben. Denn die Rhetorik seiner Beschreibung erschöpft sich nicht in der Ausführung und zweimaligen Wiederholung eines Bildmusters, das er mit anthropomorphen Zügen ausstattet. Rhetorisch sind auch die zahlreichen Wortfiguren, die in die Beschreibung eingewebt sind: die Alliterationen in den Versen 537f.: benennet, besprochen, blüenden und in V. 546: diu senfte süeze sumerzît, in V. 589: gehütet ûf daz grüene gras; das Polyptoton süeze – süeze – süezem in V. 545–547, genuoge – genuoger in V. 597f.; die figurae etymologicae vröude – ervröuwen V. 550/ 553 bzw. vröude – vrô – vröudehaft V. 586, 588 und 592, süeze – suoze V. 569f., rîchen – rîche sowie höfschen – hovelîche V. 593f.; schließlich das Spiel mit der Homonymie von linde Subst. und linde Adj. in V. 558f. Es sind dies allesamt Figuren, die mit dem Prinzip der Wiederholung operieren: Wiederholung eines Anlauts, eines Wortstammes oder eines Wortes in verschiedenen Flexionsformen. Der Effekt dieser Rekurrenzen aber ist die Erzeugung von Klang und Klangclustern. Beinahe noch mehr leisten dies die sprachmusikalischen Mittel, die Gottfried hier wie auch sonst in seinem Roman verwendet. Erzeugt wird eine Überfülle an Klang, die weit über den Zusammenklang der Reimwörter hinausgeht. An mehre15 Das narzißtische Moment stellt vor allem das rekurrente wider – als Adverb V. 572, als Präfix in den Verbformen widerglesten (V. 568) und widerlachete (V. 574) – heraus.

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ren Stellen häufen sich einzelne Vokale: Die Verse 569–574 werden vom Vokal /a/ dominiert: sach – man – lachende – al – an – lachende – machete – allez – widerlachete, in den Versen 581–585 bestimmen die Diphthonge und Vokale auf der hohen Stufe den Ton: liebe – süeze – vogelîn – süeze – müeze – sîn – blüete – übermüete. Neben solchen Vokalnestern ziehen sich bestimmte Wörter mit ihren grammatischen Varianten durch den ganzen Text: Allein achtmal begegnet das Epitheton süeze (V. 539, 546–548, 569f., 576, 581f.), sechsmal vröude und stammverwandte Wörter (V. 550, 553, 586, 588, 592), bluomen und bluot achtmal (V. 551, 562, 565, 569, 572, 583, 596), das grüene gras viermal (V. 551, 563f., 589) und viermal auch lachen (V. 562, 570, 572, 574). Es sind die Kernbegriffe des Abschnitts, die sein Thema, die maienselige Natur als Ort der Freude, festlegen, »thematische Klangwörter«, wie Karl Bertau einmal sagte. 16 Daß die Maienblüte und das sich freuende Herz zusammengehören, macht der Reim bluot : muot (V. 571f.) hörbar, der in verschiedenen Varianten wiederkehrt (V. 551f., 577f., 583f.). Und beinahe noch wichtiger sind jene Reimwörter, die ins Versinnere wandern und von da wieder zurück in den Reim: lachen (V. 562, 570, 572, 574) oder muot (V. 571, 577, 586). Die komplexe Rhetorisierung des Bildmusters erzeugt einen Klangrausch von nahezu hypnotischer Wirkung. Gottfried hat den locus amoenus so beinahe durchgängig in Musik aufgelöst, was auch heißt: Er hat die süeze dieses Orts unmittelbar sinnlich, nämlich akustisch erfahrbar gemacht. 2. Das zweite Beispiel entnehme ich dem Iweinroman Hartmanns von Aue. Es ist eine kleine Szene, in die der Ritter Iwein auf seinem Weg zum Artushof auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer gerät:

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diu selbe stiege wîst in in einen boumgarten hin: der was sô breit und sô wît daz er vordes noch sît deheinen schoenern nie gesach. dar in hete sich durch gemach ein altherre geleit: dem was ein bette gereit, des waere gewesen vrô diu gotinne Jûnô, do si in ir besten werde was. diu schoene bluot, daz reine gras,

16 Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972, hier Bd. 2, S. 931.

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die bâren im vil süezen smac. der herre hêrlîchen lac. er hete ein schoenen alten lîp: und waene wol, sî was sîn wîp, ein vrouwe diu dâ vor im saz. sine mohten beidiu niht baz nâch sô alten jâren getân sîn noch gebâren. und vor in beiden saz ein maget, diu vil wol, ist mir gesaget, wälhisch lesen kunde: diu kurzte in die stunde. ouch mohte sî ein lachen vil lîhte an in gemachen: ez dûhte sî guot swaz sî laz, wand sî ir beider tohter was. ez ist reht daz man sî krœne, diu zuht unde schœne, hôhe geburt unde jugent, rîcheit unde kiusche tugent, güete und wîse rede hât. diz was an ir, und gar der rât des der wunsch an wîbe gert. ir lesen was eht dâ vil wert. (›Iwein‹, V. 6435–6470) 17

In Szene gesetzt wird ein Familienidyll an amoenem Ort. Es ist der Baumgarten bzw. der hortus conclusus: ein kleines Paradies in den Mauern der Burg, mit Bäumen, einem makellosen Rasen und schönen Blumen, die einen intensiven Duft verströmen (V. 6446f.). Es darf als Variante des locus amoenus gelten. 18 Hartmann hat auf die Beschreibung dieses Lustorts indes auffallend wenig Verse verwendet. Er begnügt sich mit zwei Stichwörtern – diu schoene bluot, daz reine gras – und mit einer Angabe zu den Raummaßen (V. 6437). Es ist dies das rhetorische Minimum, um die Vorstellung eines amoenen Orts aufzurufen, gewissermaßen die Kurzform, auf die Handbücher der Rhetorik und Poetik den Topos gebracht haben. Die Formel, die Matthäus von Vendôme in seiner ›Ars versificatoria‹ dafür gefunden hat (s.o.), nimmt sich im Vergleich dazu schon beinahe wortreich aus.

17 Ich zitiere nach der Ausgabe: Hartmann von Aue, Iwein. Text der 7. Ausg. von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, 3. Aufl. Berlin/New York 1981. 18 Als »stilgeschichtliche Abbreviatur« eines locus amoenus bzw. als »kaum mehr kenntliches Trümmerstück bukolischer Landschaftsschilderung« deutet Arbusow [Anm. 11], S. 116 den Baumgarten bzw. das viridarium. Das literarische Urbild des hortus conclusus ist freilich das Paradies (Gn 2,8) oder der Garten des Hohenlieds (Ct 4,12–16).

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Hartmann hat die Reduktion des Lustorts auf ein Formelzitat mit einem Überbietungstopos verknüpft: Der Baumgarten »war so lang und so breit, daß er [Iwein] weder jemals zuvor und auch nachher nicht einen schöneren gesehen hatte« (V. 6437–6439). Rhetorischen Mustern folgt auch die Beschreibung der Kleinfamilie. Der Burgherr wird als Prototyp eines Grandseigneurs beschrieben, der seinen schoenen alten lîp (V. 6449) auf ein prunkvolles Lager gebettet hat; es hätte auch, wie der Erzähler im hyperbolischen Vergleich festhält, der hoch angesehenen Göttin Juno genügt. Mit den Attributen alt, schoen und hêrlich ist das Lobschema des würdigen, vornehmen Alten aufgerufen. Der Bezug auf Juno, Schwester und Gemahlin Juppiters und Schutzgöttin der Ehe, spielt hingegen wohl ironisch auf die erotische Aktivität des alten Herrn an. 19 Der Tochter bescheinigt der Erzähler wiederum beinahe alle idealtypischen Merkmale, die der traditionelle Frauenpreis bereithält: vornehme Abkunft und Wohlstand, Jugend und Schönheit, Bildung und gutes Benehmen und kiusche tugent »Dezenz und Zurückhaltung« oder auch »Unschuld«, Vollkommenheit und nicht zuletzt kluge Rede, also die sich im Wort zeigende Weisheit und Intelligenz (V. 6464–6467). Zudem wird sie bei einer typischen Beschäftigung adeliger Mädchen bzw. adeliger Frauen gezeigt, beim Lesen in der Obhut der Eltern und für die Eltern. Etwas speziell ist freilich der Gegenstand der Lektüre: Nicht der Psalter ist es, sondern ein französischer Roman, der Zeit und Melancholie vertreibt (V. 6457–6460). Als Resümee hält der Erzähler denn auch fest, daß das Mädchen dem Wunschbild einer jungen Frau entspreche (V. 6469). Allein auf die erotische Attraktivität hat er verzichtet. Die Dame des Hauses schließlich ist in Aussehen, Haltung und Verhalten das Ebenbild ihres Mannes (V. 6452–6454), also der Idealtypus einer ehrwürdigen Greisin. Viel Aufhebens macht der Erzähler nicht um sie; sie ist Statistin, allenfalls noch gut für einen Witz, wenn der Erzähler sie mit den Worten einführt: ... ich wæne wol, sî was sîn wîp (V. 6450), »ich nehme schon an, sie war seine Frau«. Alles in allem wird ein Versatzstück nach dem anderen lieblos – und zwar absichtlich lieblos – heruntergereimt. Nur gelegentlich mag man der Lakonik auch ironische oder komische Valeurs abgewinnen, etwa der Kombination die [Blumen und Gras] bâren im vil süezen smac. / der herre hêrlîchen lac (V. 6447f.) oder wenn dem hymnischen Abschluß der laudativen Rede – das Mädchen hatte alles, des der wunsch an wîbe gert – der Vers: ir lesen was eht dâ vil wert nachklappert (V. 6469f.). 19 Für Juno scheint Hartmann eine gewisse Vorliebe gehegt zu haben: Im ›Erec‹ vergleicht er die Satteldecke Enites mit dem lachen, das Juno und Jupiter auf dem Brautthron als Decke hatten (V. 7658–7666). Zu Juno und ihren möglichen Deutungen vgl. das Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer, Berlin/New York 2003, S. 329–334.

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Nach dem kleinen Genrebild setzt wieder die Handlung ein: Iwein wird durch die vornehme Gesellschaft ein freundlicher Empfang zuteil. Hausherr und Gemahlin ehren ihn, indem sie ihm schon von weitem entgegengehen, das Mädchen hilft ihm aus seiner Rüstung und kleidet ihn frisch ein. Danach führt es ihn zum schönsten Rasen im Baumgarten. Dort lassen sie sich nieder, plaudern vom Sommer und von der Zukunft, heimlich aber denken sie, wie der Erzähler verrät, an Minne. Die spezifische Konstellation – der amoene Ort, das Gespräch unter vier Augen mit einem Mädchen, dessen verführerische Anmut und Liebreiz nicht größer sein könnten – verheißt ein Techtelmechtel, zu dem es dann freilich nicht kommt: 20 Iwein bleibt standhaft, weil er bereits eine Frau, Laudine eben, in sînem herzen truoc (V. 6506), und schließlich unterbricht ein Bote, der zum Essen ruft, das traute Beisammensein (V. 6471–6544). Die Nacht schließlich vergeht in guter Ruh. Die Machart der gesamten Szene tritt noch deutlicher zutage, wenn man die entsprechende Szene im ›Yvain‹ Chrétiens de Troyes 21 dagegenhält. Auch Chrétien arrangiert ein Familienidyll (V. 5360–5396): Ein Edelmann, un prodome (V. 5363), ist auf einem Seidentuch gelagert; das Töchterlein liest aus einem Roman vor, dessen Autor der Erzähler vorgibt nicht zu kennen; une dame (V. 5369), die Mutter des Mädchens, hat sich dazugesellt. Man befindet sich in einem Garten. Doch nicht er hat die Aufmerksamkeit des Erzählers, auch nicht das Elternpaar. Im Zentrum der Beschreibung steht vielmehr der unübertroffene Liebreiz des Mädchens. Über dessen Wirkmacht sagt der Erzähler in einer hyperbolischen Wendung: Der Liebesgott würde seine Gottheit abtun, nur um ihm zu dienen, und auf sich selbst den Pfeil schießen, der jene Wunde schlägt, von welcher der wahrhaft Liebende nicht geheilt werden könne. Die Vorstellung von der Entstehung der Liebe durch den Liebespfeil Amors ist den Dichtern seit der Antike ganz geläufig; unkonventionell ist freilich die Vorstellung, daß selbst der Liebesgott dem Liebreiz des Mädchens nicht widerstehen könne und darum bereit sei, 20 Ganz vergleichbar hat Hartmann Kalogrenants Begegnung mit dem Edelfräulein – auf seinem Weg ins Abenteuer – gestaltet (V. 312–352): Auch dieses Mädchen, mit ähnlichen Vorzügen ausgestattet wie die Tochter des Herrn auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer, führt den Gast zu einem locus amoenus, und auch hier signalisiert die topische Örtlichkeit ein Liebesabenteuer, das dann nicht stattfindet. Die Parallele geht bis in wörtliche Entsprechungen: an ein daz schœneste gras, / daz diu werlt ie gewan, / dâ vuorte sî mich an, erzählt Kalogrenant (V. 334–336), von Iwein sagt der Erzähler: an ein daz schœneste gras, / daz sî in dem boumgarte vant, / dar vuorte sî in bî der hant (V. 6490–6492). Beidemal wird das Tête-à-tête durch einen Boten gestört, der zum Essen ruft. 21 Verwendete Textausgabe: Chrestien de Troyes, Yvain, übers. und eingel. von Ilse Nolting-Hauff, München 1983 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2).

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Mensch zu werden und Leid auf sich zu nehmen. In diese Vorstellung ist in beinahe blasphemischer Weise eine Gedankenfigur eingekreuzt, die zum Grundbestand des christlichen Glaubens gehört: Der Liebesgott ist ein anderer Christus. So wie dieser Mensch geworden ist, um die Sünde der Welt auf sich zu nehmen, so würde der Liebesgott seine Gottheit aufgeben um der Liebe zu einem schönen Menschenkind willen. Der Erzähler ergeht sich danach in Zeitkritik: Heutzutage wolle niemand mehr etwas von der Liebe wissen; sie leitet zum nächsten Handlungsabschnitt über. Erzählt wird in rascher Folge von Empfang und Einkleidung Iweins, von opulenter Bewirtung und geruhsamer Nacht bis zum Morgen. Hartmann gestaltet die gesamte Szene signifikant anders. Er hat nicht nur umgestellt und amplifiziert: indem er seinen Erzähler Figurenbewußtsein mitteilen (V. 6504–6516) 22 und über den Inhalt des Gesprächs zwischen Iwein und dem Mädchen bzw. über das Gesprächsthema der Eltern (V. 6517–6541) berichten läßt. Er hat auch die Familienszene zu Beginn umgestaltet. Getilgt ist das zentrale Thema Chrétiens in dieser Passage, die erotische Faszination, die von dem Mädchen ausgeht, und getilgt ist die gotteslästerliche Bemerkung, die ihm, Hartmann, vielleicht nicht ganz geheuer war. Damit bereinigt er das Genrebild von allem Anstößigen und Unkonventionellen – wenn auch nur, um das Material wenige Verse danach mit anderen Akzenten zu verwenden. 23 Chrétiens Szene mit breitem Erzählerkommentar ist gegen eine Szene ausgetauscht, die aus lauter literarischen Versatzstücken montiert ist. Die Beschreibung stellt damit ihre eigene topische Verfaßtheit aus. 24 Das vorbildliche Familienidyll, das solchermaßen 22 Zum fokalisierten und nichtfokalisierten Erzählen in dieser Szene vgl. Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹, Tübingen/Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 154–156. 23 Hartmann hat den ›heidnischen‹ Liebesgott durch eine Figur aus der christlichen Mythologie, nämlich einen Engel, ersetzt, der indes nicht weniger verführbar ist. Von jenem Mädchen heißt es nämlich wenig später: sî mohte nâch betwingen mite / eines engels gedanc, / daz er vil lîhte einen wanc / durch sî von himele tæte (V. 6500–6503, »Sie hätte damit [mit süßer Rede und vorzüglichem Benehmen] beinah eines Engels Gedanken so bezwingen können, daß er vielleicht um ihretwillen dem Himmel abtrünnig gewesen wäre«). Zu Hartmanns Bearbeitung seiner Vorlage vgl. Elisabeth Schmid, Chrétiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹, in: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Bd. V: Höfischer Roman in Vers und Prosa, hg. von René Pérennec und E. S., Berlin/New York 2010, S. 135–167. 24 Ein ähnliches Beispiel gibt die Beschreibung der Gewitterquelle zu Anfang des Romans (V. 565–692; vgl. auch Chrétien, ›Yvain‹, V. 370–477): Der Ritter, der nicht den rechten Weg einschlägt, sondern den linken, den Weg, der geradewegs ins Abenteuer führt (vgl. dazu den Beitrag von Elisabeth Schmid in diesem Band), trifft mitten im wilden Wald auf ein verborgenes Idyll. Kalogrenant, auf der Suche nach âventiure, findet mitten im Wald von Breziljân eine Quelle, kalt und klar, geschützt von einer Linde, so »breit, hoch und so dicht, daß Regen noch Sonnenstrahlen jemals hindurchkommen« (V.

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kreiert wurde, trügt freilich, der amoene Ort ist ein falsches Paradies. Die vornehme Gesellschaft legt ihren Gast herein, wie sich am nächsten Morgen erweisen wird. Da macht der Burgherr Iwein mit der costume des Orts bekannt, derzufolge jeder männliche Gast mit zwei Riesen zu kämpfen hat, ehe es ihm gestattet ist, die Burg zu verlassen. Nichts ist so, wie es scheint: Die ganze Topik, die idealtypische Menschen an einen idealtypischen Ort setzt, ist nur dazu da, um herkömmliche Erwartungen zu durchkreuzen. Der amoene Ort erweist sich als ein Ort der Täuschung und des Betrugs: Getäuscht werden die Rezipienten, die sich ein amouröses Abenteuer erwartet haben, betrogen wird aber auch der Protagonist, der auf das Gastrecht vertraut hat. 3. Ganz andere Möglichkeiten eröffnen sich durch die Verbindung des locus amoenus mit der Minnethematik. Das älteste Beispiel in der deutschen Lyrik ist der Wechsel Dietmars von Eist MF 34,3ff.: ›Ûf der linden obene‹. In der Fassung *BC lautet er: 25 1

»Ûf der linden obene dâ sanc ein kleinez vogellîn. vor dem walde wart ez lût. dô huop sich aber daz herze mîn an eine stat, dâ ez ê dâ was. ich sach dâ rôsebluomen stân, die manent mich der gedanke vil, die ich hin zeiner frouwen hân.«

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»Ez dunket mich wol tûsent jâr, daz ich an liebes arme lag. sunder âne mîne schulde vrömdet er mich manigen tag.

575–577: breit hôch und alsô dic / daz regen noch der sunnen blic / niemer dar durch enkumt). In der Krone der Linde aber sitzen Vögel, so viele, daß Blattwerk und Zweige ganz und gar bedeckt sind. Sie geben ein vielstimmiges Konzert, das im ganzen Wald widerhallt. Rhetorisch ist bereits das Muster, der pathetische Kontrast zwischen Wildnis und amoenem Ort. Urbild dieses Kontrasts ist das antike Tempetal; vgl. Curtius, Europäische Literatur [Anm. 6], S. 209. Rhetorisch ist aber auch die Hyperbolik der Beschreibung. Die descriptio des Orts, auf den Kalogrenant trifft, ist damit potenzierte Rhetorik – und stellt damit ganz offenkundig ihre Artifizialität aus: Die Rhetorik betreibt ihre eigene Selbstentblößung. Nur in einem Punkt scheint der Erzähler vom poetischen Muster abzuweichen: Die Quelle ist gefaßt. Doch gibt das Menschenwerk in der freien Natur gleich neuen Anlaß für eine descriptio, welche die Kostbarkeit und Pracht des Brunnen herausstellt. Das ganze rhetorische Feuerwerk wird indes entzündet, um Hörer und Leser in die Irre zu führen. Es ist eben kein harmloser Lustort, an dem es sich wohlsein läßt, sondern ein Ort, an dem der Mensch den Naturgewalten – und der Gewalt des Menschen – ausgesetzt ist, sobald der Mechanismus des Brunnens in Gang gesetzt ist. 25 Ich zitiere nach der Ausgabe: Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. und komm. von Dorothea Klein, Stuttgart 2010 (RUB 18781), Nr. 29.

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sît ich bluomen niht ensach noch hôrte kleiner vogel sanc, sît was al mîn fröide kurz und ouch der jâmer alze lanc.«

Nur wenige Stichwörter genügen, um in diesem Lied das Bildmuster aufzurufen: die Linde, der Gesang eines kleinen Vogels in ihrer Krone, blühende Rosen. Die Bildbestandteile vermitteln indes nur punktuelle Raumeindrücke; sie sind gänzlich dissoziiert. Einzeln steht die Linde mit dem Vöglein; die Rosen sind an einem anderen Ort zu denken; der räumliche Bezug zwischen Linde und Wald muß offen bleiben: Bezieht man das Pronomen ez (1,2) auf das Vöglein der ersten Verszeile, sieht man in ihm also den Urheber des lauten Gesangs vor dem walde (1,2), 26 dann muß die Linde am Waldrand stehen. Der Gesang kann aber auch von einer unbestimmten Menge von Vögeln herrühren; ez wäre in diesem Fall nahezu inhaltsleeres Subjekt. Der Platz der Linde in diesem zwischen dem Standort des Ichs und dem Waldrand entstandenen Raum bliebe dann vage. Linde und Rosen, Vogelgesang und Saum des Waldes sind Versatzstücke des Bildbeschreibungsmusters ›Lustort‹, ohne diesen wirklich zu konstituieren. Koordiniert werden sie durch das Subjekt des Textes bzw. durch dessen sinnliches und geistiges Vermögen: durch Wahrnehmung über den Hörsinn, Vorstellungskraft und Erinnerung. Daß kein Ort im herkömmlichen Sinn zu imaginieren ist, macht auch die Zeitstruktur deutlich: Linde, Vogel und Wald werden einer Vergangenheit zugeordnet, die sich abgrenzt von dem Zeitpunkt, an dem die Rosenstätte wiederholt (in Gedanken?) aufgesucht wurde (1,2f.: dô huop sich aber ..., dâ ez ê dâ was). Die Versatzstücke erweisen sich so als Platzhalter zweier unterschiedlicher amoener Erinnerungsräume. Linde und Vogelgesang wie auch die Rosen sind allerdings nicht nur Metonyme. Sie sind auch Metaphern für das Liebesglück an solchen Lustorten, die Rose mag überdies metaphorisch für die schöne Geliebte stehen. 27 Mit der Erinnerung an den Vogelgesang und die Rosen wird das vergangene Glück in die Gegenwart geholt: Die Erinnerung an die beiden Lustorte löst intensives Denken an die Geliebte aus. 26 So Manfred Günter Scholz in seinem Beitrag: Das frühe Minnelied. Dietmar von Eist: ›Hei, nû kumet uns diu zît‹, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, hg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 60–92. Scholz übersetzt den Beginn der Strophe: »Auf der Linde oben, da sang ein kleines Vögelchen, / vor dem Wald erhob es seine Stimme ...« (S. 57). 27 Vgl. dazu auch Elisabeth Schmid, Die Inszenierung der weiblichen Stimme im deutschen Minnesang, in: Frauenlieder – Cantigas de amigo. Internationale Kolloquien des Centro de Estudos Humanísticos (Universidade do Minho), der Faculdade de Letras (Universidade do Porto) und des Fachbereichs Germanistik (Freie Universität Berlin), Berlin 6.11.1998, Apúlia 28.–30.3.1999, hg. von Thomas Cramer u. a. Stuttgart 2000, S. 49–58, bes. S. 54f.

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Zur Sprache kommt also eine komplizierte gedankliche Bewegung, die vom äußeren, dem Hörsinn, über den inneren Sinn, die Vision der Rosen, zur geistigen Vorstellung, zum Denken an die Frau, gelangt. 28 Diese Bewegung über verschiedene Grade der Apperzeption wird verschiedenen Zeiten und verschiedenen Räumen zugeordnet: Sie führt von der Vergangenheit über die Vorvergangenheit und von einem Erinnerungsraum über den anderen in die Gegenwart. Die sinnlichen Eindrücke, welche die Requisiten der amoenen Gedenkstätten vermitteln, sind gewissermaßen Brücke und notwendige Voraussetzung für die Gedanken an die Frau. Auf einen amoenen Ort bezieht sich auch die zugehörige Frauenstrophe. Sie eröffnet freilich eine ganz andere Perspektive. Auch die Frau erinnert sich an Vogelgesang und Blumen, die sie mit Liebesglück und Freude assoziiert (vgl. das korrelierende sît 2,3f.). Die Erinnerung steht jedoch ganz im Zeichen des Verlusts und der Trauer: Der Gesang der Vögel ist schon lange verschwunden, ebenso die Blumen. Der Raum der Liebe ist damit verloren, wie auch der Geliebte nur noch als Abwesender zur Sprache kommt. Zweimal wird in diesem Wechsel eine Szenerie aus dem Formelgut der Tradition anzitiert. Die traditionellen Bildelemente werden freilich benutzt, um unterschiedliche Positionen in Männer- und Frauenrede abzustecken und damit auch das Verhältnis der Geschlechter in spezifischer Weise zu modellieren. Der Mann vergegenwärtigt sich in einer komplexen Gedankenbewegung das vergangene Liebesglück und die schöne Geliebte. Die Frauenrede thematisiert hingegen den Verlust des Liebesglücks. Der Illusion der Männerstrophe steht so die radikale Desillusion der Frauenstrophe gegenüber. Der Topos wird zweimal zitiert, um eben diese Verschiebung, die Nichtübereinstimmung von Mann und Frau, zu markieren. 4. In vielleicht noch komplexere Zusammenhänge ist der Topos des amoenen Orts im sog. Lindenlied L 39,11 Walthers von der Vogelweide 29 eingebunden. Das Topische wird hier durch die Erzählung ganz in den Hintergrund getrieben. 28 Die Männerstrophe dürfte die drei Schritte reflektieren, die mittelalterlicher Theorie zufolge zur Erkenntnis führen: von der sinnlichen Wahrnehmung, dem sensus, über imaginatio und memoria zur vernunftmäßigen Erkenntnis, der ratio. Darauf hat bereits Arthur Groos verwiesen: Modern Stereotyping and Medieval Topoi: The Lover’s Exchange in Dietmar von Eist’s ›Uf der linden obene‹, in: Journal of English and Germanic Philology 88 (1989), S. 157–167. 29 Zitiert nach: Minnesang [Anm. 25], Nr. 59.

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Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was, dâ mugent ir vinden schône beide gebrochen bluomen unde gras. Vor dem walde in einem tal, tandaradei, schône sanc diu nahtegal.

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Ich kam gegangen zuo der owe, dô was mîn friedel komen ê. dâ wart ich enpfangen, hêre frowe!, daz ich bin sælig iemer mê. Er kuste mich wol tûsent stunt, tandaradei, seht, wie rôt mir ist der munt!

5

Dô hât er gemachet alsô rîche von bluomen eine bettestat. des wirt noch gelachet inneclîche, kumt iemen an daz selbe pfat. Bî den rôsen er wol mac, tandaradei, merken, wâ mirz houbet lac.

5

Daz er bî mir læge, wessez iemen, – nûn welle got! –, sô schamt ich mich. wes er mit mir pflæge, niemer niemen bevinde daz wan er und ich und ein kleinez vogellîn, tandaradei, daz mac wol getriuwe sîn.

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Entworfen wird ein klassischer locus amoenus. Wie bei Dietmar ist das Beschreibungsmuster mit der Linde bereits in der ersten Zeile aufgerufen – die Linde ist in der deutschen Dichtung bekanntlich der Baum des Lustorts schlechthin. Topisch ist auch der Ort, an dem die Linde steht, die Heide (1,2), jenes – im Gegensatz zum Ackerland – nicht oder noch nicht kultivierte, mit Gras, Buschwerk und Blumen bewachsene Land. In der gleichen Bedeutung ist die owe (2,2) verwendet.

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Zum traditionellen topischen Inventar gehören ferner die Blumen und das Gras (1,6, 3,3), besonders die Rosen (3,7), und schließlich die Nachtigall, die – gewiß auch aus Reimgründen – am Wald in einem Tal schlägt (3,7–9); sie dürfte auch mit dem kleinen Vogel gemeint sein, von dem in Strophe 4 die Rede ist. Vom Gesang der Nachtigall wird freilich nicht nur im distanzierenden Präteritum erzählt; im Refrain tandaradei wird er auch unmittelbar präsent, nämlich hörbar gemacht. 30 Eine solche Imitation eines Naturlauts ist, wenn ich nichts übersehen habe, in der deutschen Dichtung der Zeit ganz ungewöhnlich. Mit dieser klanglichen Suggestion geht Walther jedenfalls weit über die konventionelle Inszenierung eines amoenen Orts hinaus. Er ergänzt die imaginäre, die innere Einbildungskraft ansprechende Beschreibung um den direkten Sinnenreiz. Imaginiert ist ein Ort für die Liebenden. Diese hatten ihr Lager an einem Lustort aufgeschlagen, unter dem schützenden Dach einer Linde, auf einem Polster von Blumen und Gras. Das ist konventionell. Unkonventionell sind aber zunächst einmal die Hinweise auf die schonend geknickten Blumen und Gräser (1,5f.) und auf die Rosen, die der Geliebten als Kopfkissen dienten (3,7–9). Der amoene Ort ist damit nicht nur der ›reale‹ Raum für die Liebe, der Raum, der die Liebe ermöglicht, sondern er wird selbst zum Zeichen. Die topischen Versatzstücke Blumen und Gras sind mit erotischem Nebensinn aufgeladen; sie sind Metonym für das Liebeslager, aber auch Metaphern für Erotik und Sexualität. In der deutschen Lyrik wird das Motiv der ›gebrochenen Blumen‹ erst im 13. Jahrhundert so ziemlich allgemein. 31 Unkonventionell ist auch der Hinweis, daß die Spuren des Liebeslagers noch »immer noch, noch jetzt« (3,4) sichtbar sind. Das ist Wahrheitsbeteuerung und Rekonkretisierung des literarischen Topos in einem: Dem amoenen Ort werden überprüfbare ›realitäts‹haltige Züge zugeschrieben. Freilich ist auch der locus amoenus des Lindenlieds ein erinnerter Ort. Das macht der Wechsel zwischen den präteritalen und Präsensformen im Monolog der Ich-Sprecherin evident. Die Begegnung mit dem friedel (2,3) in der freien Natur, an lieblichem Ort, ist durch das Präteritum der erinnernden Rede als ein Ereignis der Vergangenheit markiert, als ein Ereignis freilich, das für die Gegenwart und darüber hinaus Bedeutung hat. Was als Glück der Vergangenheit erinnert wird, ist 30 Zum Refrain, seinen verschiedenen Typen und Funktionen vgl. die Studie von Renate Hausner, Spiel mit dem Identischen. Studien zum Refrain deutschsprachiger lyrischer Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Sprache – Text – Geschichte, hg. von Peter K. Stein, Göppingen 1980 (GAG 304), S. 281–384. 31 Vgl. aber Reinmar MF 196,22: sô mac ich sprechen ›gên wir brechen bluomen ûf der heide‹. Zur Metaphorik des Blumenbrechens vgl. die Nachweise bei Fritsch [Anm. 14] und Stefan Zeyen, ... daz tet der liebe dorn. Erotische Metaphorik in der deutschsprachigen Lyrik des 12.–14. Jahrhunderts, Essen 1996 (Item Mediävistische Studien 5).

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gegenwärtiges Glück zugleich. Sinnfälliger Beweis ist der rote Mund, rot geworden durch die zahllosen Küsse und immer noch rot, während die Sprecherin sich erinnert (2,7–9). Sinnfälliger Beweis sind aber auch die immer noch erkennbaren Spuren in der Natur, die schône ... / gebrochen bluomen unde gras (1,5f.) und die rôsen. Indem die Sprecherin auf beides hinweist, vergewissert sie sich selbst ihres Glücks: Der Liebesort wird zu einem emotional vergegenwärtigten Erinnerungsraum. Walther hat das konventionelle Beschreibungsmuster benutzt, um eine im Rahmen des hohen Minnesangs gänzlich unkonventionelle Liebe zu inszenieren: eine gegenseitige Liebe, die Zärtlichkeit, Intimität und Erotik mit einschließt. Im Kontext des hochminnesängerischen Minnekonzepts hat der amoene Ort indes noch eine besondere Funktion: Der Lustort in der Heide, außerhalb menschlicher Zivilisation, auch außer Reichweite gesellschaftlicher Kontrolle, wird zum Ort der heimlichen Liebe: Er ist Schutzraum derer, die mit ihrer Liebe gesellschaftliche Normen verletzen. Intimität und Geborgenheit vermitteln nicht nur die Linde mit ihrer breiten Krone (1,1–3) und das ›Bett‹ aus Blumen (3,3), sondern auch das getriuwe Vöglein. Indem das Lied bzw. die Ich-Sprecherin des Lieds aber einem imaginären Publikum Einblick in diesen Raum gewährt, gibt sie preis, was die Qualität dieses Raums ausmachte: Intimität und Geborgenheit. Die Verschwiegenheit des Liebesorts und der öffentliche Vortrag, der diese Verschwiegenheit thematisiert, schließen sich aus. Auf diesen Widerspruch nimmt der Schluß des Lieds ironisch Bezug: Nur die beiden Liebenden wissen von ihrem Glück und der kleine Vogel – das bezieht sich wohl auf die Nachtigall aus der ersten Strophe –, der aber nichts verraten wird. Ironisch ist das wegen des Doppelsinns, welcher der Nachtigall eingeschrieben ist. Metonymisch steht sie für den locus amoenus und die dort gepflegte Liebe, metaphorisch steht sie bekanntlich in der Lyrik, aber nicht nur hier, für den Minnesänger. 32 Dieser ist nun gerade nicht zum Schweigen, sondern zum öffentlichen Gesang verpflichtet. Es ist gerade die Nachtigall, der topische Liebesvogel, der von den Liebenden an amoenem Ort künden wird.

32 Als nahtegalen apostrophiert Gottfried von Straßburg die Minnesänger im Literaturexkurs seines ›Tristan‹ (V. 4751 u. ö.). Zur Nachtigallenmetapher und zum ›Lindenlied‹ überhaupt vgl. insbesondere Ingrid Bennewitz, vrouwe/maget. Überlegungen zur Interpretation der sogenannten Mädchenlieder im Kontext von Walthers Minnesang-Konzeption, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von Hans-Dieter Mück, Stuttgart 1989, S. 237–252, und Heike Sievert, Das ›Mädchenlied‹. Walther von der Vogelweide: ›Under der linden‹, in: Gedichte und Interpretationen [Anm. 26], S. 129–143.

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5. Bestandteil einer komplexen Minneverhandlung ist der Topos des Lustorts auch in meinem letzten Beispiel. Johannes Hadloubs Lied SM 30,35: ›Wol der süezen wandelunge!‹ ist auch deshalb interessant, weil es unmittelbar auf Walthers ›Lindenlied‹ Bezug nimmt. Das macht weniger das zentrale Thema, die Liebesbegegnung an einem amoenen Ort, wahrscheinlich denn andere Motive: das Bett aus duftenden Blumen, der Geliebte als Bereiter des Liebeslagers, das Motiv des Lachens, das Hadlaub freilich auf die Blumen übertragen hat, und das Attribut hêre für die vrowe. 33 1

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5 33

Wol der süezen wandelunge! swaz winter truobte, daz tuot sumer clâr. daz fröit alte, daz fröit junge, wan sumer uobte doch ie wunnen schar. Wol im, swer sich nû fröiwen sol! dem ist sô wunnenklîchen wol. swaz aber ich von wunnen schowe – doch wil mîn frowe, daz ich kumber dol. Owê, solt ich und mîn frowe unsich vereinen und uns danne ergên in ein schoenen, wilden owe, daz ich die reinen sæhe in bluomen stên! Dâ sungen uns diu vogellîn – wâ mechte mir danne baz gesîn? sô vunde ich dâ schœn geræte von sumerwæte zeinem bette fîn. Daz wolde ich von bluomen machen, von vîol wunder und von camandrê, daz ez von wunnen möhte lachen. dâ müesten under münzen unde klê, Die wanger müesten sîn von bluot, daz culter von bendichten guot, diu lînlachen clâr von rôsen: ez wære ir lôsen lîbe niht vorbehuot. Wær si niht sô lobelîche, si wær ze danke an daz bette mir. si ist sô rein, sô wunnenrîche, dâ von nit kranke wunne hôrte zir. Sô spræche ich: »lieb, nû sich, wie vil

Text nach: Minnesang [Anm. 25], Nr. 61.

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daz bette hât der wunnenspil: dar ûf gê mit [ ] mir, vil hêre!«, ich vürhte sêre, daz si spræche: »in wil!« 5

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Wan daz mir ir zorn wê tæte, ich wurde âne lougen dâ gewaltig ir. swes ich si lieblîch erbæte, daz bræchte tougen hôhe fröide mir. Ê daz aber ich si wolte lân, ich wolde si doch umbevân und si dan anz bette swingen. owê, daz ringen mag mir wol vergân!

Anzitiert wird der klassische Lustort, der klassische Liebesort der Pastourellendichtung: eine ouwe mit Blumen und Vogelgesang (2,3–5). Es irritiert freilich die Verbindung der Attribute schoene und wilde (2,3); sie ist, darauf hat bereits Wolfgang Adam verwiesen, »ungewöhnlich in der mittelhochdeutschen Schauplatzschilderung«. 34 Mit dem Attribut wilde ist herkömmlicherweise die Vorstellung des Unvertrauten und Fremden, auch des Wunderbaren oder gar Unheimlichen verbunden. 35 Die Kombination von schoene und wilde kann man darum als Ambiguitätsmarker verstehen oder auch als Vorverweis auf die Ambiguität des Geschehens, das in den folgenden Strophen thematisch wird. Man wird aber auch nicht ausschließen können, daß Hadloub mit dieser Attribuierung an die konventionelle Vorstellung des Lustorts in der Wildnis anknüpft, wie sie Hartmann etwa mit der Verortung der Gewitterquelle mitten in der Wildnis oder Gottfried mit der topographischen Fixierung der Minnegrotte (vgl. ›Tristan‹ V. 16683–16776) literarisch umgesetzt hat. An diesem schönen, fernen, unbekannten Ort soll ein farbenprächtiges Liebeslager errichtet werden. Die Materialien dafür liefert die Natur selbst: viôl »Veilchen« und camandrê – eine im Schweizer Minnesang nur bei Hadlaub belegte »blaue Blume«, etwa Vergißmeinnicht oder Ehrenpreis 36 –, Minze und Klee, bendichte »Benediktenkraut« und Rosen (Str. 3), Blumen von verschiedenen Farben und Düften. Eine solche ›realitätshaltige‹ Ausdifferenzierung des konventionellen Requisits bluomen begegnet im Minnesang selten, noch seltener die genauen An34 Wolfgang Adam, Die »wandelunge«. Studien zum Jahreszeitentopos in der mittelhochdeutschen Literatur, Heidelberg 1979 (Beihefte zum Euphorion 15), S. 58. 35 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke – Müller – Zarncke, 3 Bde., Leipzig 1872–1878, Nachdr. Stuttgart 1992, hier Bd. 3, Sp. 884f. 36 Vgl. Johannes Hadlaub, Lieder und Leichs, hg. und komm. von Rena Leppin, Stuttgart 1995, S. 239.

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gaben zum Verwendungszweck: Minze und Klee geben die Unterlage des Bettzeugs, die Rosen die Leintücher, das Benediktenkraut die Bettdecke. Unbestimmt bleibt allein die Verwendung der blauen Blümchen, falls nicht die bluot für die Kopfkissen (3,5) damit gemeint ist. Hadlaubs Verliebtheit ins botanische Detail kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Blumenbett an amoenem Ort, anders als bei Walther, eine geträumte Wirklichkeit ist, kein Erinnerungsort. Der ganze locus amoenus mitsamt dem prächtigen, erotisches Glück verheißenden Blütenbett ist ein Produkt der Phantasie. Das zeigt nicht nur der Modalsatz solte ich und mîn frowe / unsich vereinen, »dürften ich und meine Dame uns zusammenfinden« (2,1) an, sondern auch alle anderen Verbformen ab Strophe 2: Sie stehen, von zwei Ausnahmen abgesehen, durchweg im Irrealis. Vielleicht meint das Adjektiv wilde, mit dem der Lustort belegt ist, darum einfach nur »unbekannt« – das Sprecher-Ich kennt nicht den Ort, der erotisches Minneglück möglich macht, er kann ihn nur in Gedanken aufsuchen. Denn seine Situation ist die der ›hohen Minne‹: Die umworbene frowe, als reine (2,4; 4,3) und als lobelîche (4,1) gepriesen, verhält sich reserviert; sie will, daz ich kumber dol (1,8). Der amoene Ort dieses Lieds ist ein imaginärer Raum. Anders als in Walthers Frauenlied ist deshalb auch die freiwillige Hingabe der Frau nur ein Produkt der Phantasie, ebenso die aus der Pastourelle bekannte gewaltsame Variante erotischer Liebe, auf welche die fünfte Strophe anspielt. Die Imagination der Erotik und Sexualität ist indes, anders als bei Reinmar (vgl. z. B. MF 166,16), nur scheinbar ein Ausweg aus der als leidvoll erfahrenen Minnesituation. Denn die reservierte bzw. abwehrende Haltung der frowe auf der liedinternen Handlungsebene setzt sich in der imaginären Welt des Ichs fort. Das aber heißt: Nicht einmal in Gedanken ist die Frau verfügbar. Der Mann scheitert schon in seiner Vorstellung an ihrem entschiedenen Nein – ich vürhte sêre, daz si spræche: »in wil!«, »ich fürchte sehr, daß sie sagte: ›Ich will nicht!‹« (4,8) – bzw., da er die Grenzen der Schicklichkeit verletzt (4,5–7), an ihrem Zorn (5,1). Er scheitert aber auch an seiner ambivalenten Bewertung der erotischen Liebe, die ihm nicht nur hôhe fröide »hohes Glück« (5,4), sondern auch kranke wunne »minderwertige Wonne« (4,4) ist. Dieses Urteil hält ihn selbst in der Phantasiewelt zunächst zurück, seine erotischen Wünsche zu äußern. Inszeniert wird so ein Scheitern des erotischen Begehrens in potenzierter Form: auf der liedinternen Handlungsebene wie in der imaginären Welt des IchSprechers. Kritik an dem im Lindenlied Walthers realisierten Liebeskonzept muß man darin nicht sehen. 37 Hadlaubs Lied stellt vielmehr, am Ende der produktiven 37 Vgl. Sabine Brinkmann, Die deutschsprachige Pastourelle. 13. bis 16. Jahrhundert, Göppingen 1985 (GAG 307), S. 217.

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Phase des Minnesangs, noch einmal eine raffinierte Spielart eines Lieds der ›hohen Minne‹ dar: Das Lied bekräftigt nicht nur jenes Minnekonzept, das dem Mann Zurückhaltung und Selbstdisziplin abverlangt, sondern liefert auch einen Gattungskommentar. Denn indem es das Geschehen des Lindenlieds und den Ort dieses Geschehens in die imaginäre Welt eines Liebenden verbannt, entlarvt es die Erotik der Pastourelle und pastourellenartiger Lieder als Phantasie der Dichtersänger. Daß die historische Topik Muster zur Verfügung stellt, welche »von der Notwendigkeit der permanenten Erfindung entlasten«, 38 ist nur auf den ersten Blick richtig, dann nämlich, wenn man sein Augenmerk auf das abstrakte Schema lenkt. Bei einem solchen Blick geht die diskursive Oberfläche des Textes freilich verloren und damit das, was seine inhaltliche und ästhetische Substanz ausmacht: die konkrete Ausgestaltung des Musters, seine Versprachlichung, seine Einbindung in einen funktionalen Zusammenhang. Der Gebrauch von Topoi, die Orientierung an poetischen Vorgaben, muß keineswegs die Lizenz bedeutet haben, alle schöpferischen Impulse zu unterdrücken oder gar abzutöten. Und schon gar nicht sind Topoi »totes« Material. 39 Im Gegenteil: Die mittelalterlichen Dichter haben ein lustvolles Spiel mit den Möglichkeiten der Rhetorik getrieben, in dem sie immer wieder neue Akzente gesetzt haben – Akzente, welche die Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit der Autoren offenlegen. Topoi sind geradezu eine Spielwiese für Kreativität. Mit dem bloßen Aufweis eines Topos ist es deshalb nicht getan. Man muß ihn auch interpretieren. Erst dann lassen sich kreatives Vermögen und Originalität der mittelalterlichen Autoren erkennen. Denn es können paradoxerweise gerade die Topoi jenes »Klischee« widerlegen, »das für das Mittelalter alles Individuelle durch das Kollektive determiniert sieht«. 40 Das Kollektive besteht in der Verfügbarkeit der Sprachbilder; das Individuelle erweist sich im produktiven Umgang mit ihnen.

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Udo Friedrich u. a., Orientierungskurs Germanistik, Stuttgart 2008, S. 129. Wie verbreitet diese Vorstellung ist, belegen gerade aktuelle Forschungsbeiträge; vom »tote[n] topische[n] Bestand« spricht z. B. – en passant – Markus Stock, in den muot gebildet. Das innere Bild als poetologische Metapher bei Burkhart von Hohenfels, in: Im Wortfeld des Textes [Anm. 3], S. 211–230, das Zitat S. 226. 40 Manfred Kern, Auctor in persona. Poetische Bemächtigung, Topik und die Spur des Ich bei Walther von der Vogelweide, in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer, hg. von Helmut Birkhan unter Mitwirkung von Ann Cotten, Wien 2005 (WSB 721), S. 193–217, das Zitat S. 216. 39

die werlt ist uf den herbest komen Vom Natureingang zur Jahreszeiten-Allegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts von Katharina Philipowski, Paderborn

»Die Naturschilderungen des Mittelalters wollen nicht die Wirklichkeit wiedergeben.« 1

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Aufmerksamkeit der mediävistischen Lyrikforschung zunehmend auf die bislang eher vernachlässigte Zeitspanne zwischen der zweiten Hälfte des 13. und dem 15. Jahrhundert verlagert. 2 Karnein 1 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Tübingen und Basel 11 1993, S. 191. 2 Gert Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008; Jürgen Kühnel, Zum deutschen Minnesang des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung, hg. von Wolfgang Spiewok, Greifswald 1986 (Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald. Deutsche Literatur des Mittelalters 3), S. 86–104; Franz Viktor Spechtler, Lyrik des ausgehenden 14. und 15. Jahrhunderts, in: Lyrik des ausgehenden 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von dems., Amsterdam 1984 (Chloe I), S. 1–28; Dieter Seitz, Einführung in die deutsche Literatur des 12.–16. Jahrhunderts, Opladen 1982 (S. 9–40 zum Minnesang im späten 13. Jahrhundert); Alfred Karnein, Die deutsche Lyrik, in: Europäisches Spätmittelalter, hg. von Willi Erzgräber, Wiesbaden 1978 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 8), S. 303–329; Rena Leppin, Studien zur Lyrik des 13. Jahrhunderts. Tanhuser, Friedrich von Leiningen, Göppingen 1980; Horst Brunner, Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400, in: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg, hg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten, Berlin 1983, S. 392–413; Gisela Kornrumpf, Deutsche Lieddichtung im 14. Jahrhundert. Ein Aspekt der Überlieferung, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von Walter Haug, Timothy R. Jackson und Johannes Janota, Heidelberg 1983, S. 292–304. Kornrumpf verfolgt hier anhand der Überlieferung der sogenannten ›Hausgeschirr-Strophe‹ die grundsätzliche methodische Frage danach, auf welches Textcorpus sich ein Literarhistoriker stützen könne und dürfe, »der den Versuch unternimmt, die Geschichte der deutschsprachigen Lieddichtung zwischen Frauenlob (gest. 1318) und Oswald von Wolkenstein zu rekonstruieren, Traditionen und Neuansätze in dieser Übergangszeit herauszuarbeiten.« Ebd., S. 298. Denn »[v]ermutlich sind im 14.

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bezeichnet sie in seiner Darstellung dieser Periode treffend als ›den ungeliebten Zeitraum‹ 3 und kommentiert diesen stichwortartig folgendermaßen: Da ist der einprägsame Begriff ›Minnesangs Wende‹ (Hugo Kuhn) für die Zeit der unmittelbaren Walther-Nachfolge, der den Umschlag in die perfekte Artistik der Jahre 1220 bis 1250 meint, – da sind vielleicht die Jahre um 1300 mit den Schweizer Lyrikern (Hadlaub, Steinmar) und dem Spruchdichter Frauenlob als Ansätze einer ›neuen‹ Inhaltlichkeit zu fassen, – da sind möglicherweise die Jahre um 1400 mit Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein als Zeitpunkte einer im übrigen folgenlos bleibenden literarischen Egozentrik adliger Autoren, dann das spätere 15. Jahrhundert mit der Lyrik des städtischen Bürgertums, die in den Liederbüchern und im Meistersang greifbar wird. Noch füllt keine Literargeschichte die Zwischenräume auf, die genannten Zeitpunkte sind unverbundene und selten betretene Inseln. 4

Jahrhundert nicht weniger Lieder gedichtet worden als zuvor oder als später. Dieses Jahrhundert ist sogar besonders reich an Liederhandschriften [...]. Aber der Anteil der zeitgenössischen Dichtung am Gesamtcorpus der im 14. Jahrhundert – in Sammlungen, Fragmenten und verstreut – bezeugten Texte ist relativ gering.« Ebd. – Die Lyrik-Überlieferung des 14. Jahrhunderts behandelt auch Helmut Tervooren, Die späte Überlieferung als Editionsproblem. Bemerkungen zu Lyrikhandschriften des späten 14. und 15. Jahrhunderts, in: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition, hg. von Thomas Bein, Berlin, New York 1999, S. 176–194. Zur Geschichte des späten Minnesangs vgl. auch: Hugo Kuhn, Minnesangs Wende, 2. Aufl. Tübingen 1967; ders., Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur, in: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, hg. von dems., Tübingen 1980, S. 1–18; Helmut Tervooren, Einleitung. Gattungen und Gattungsentwicklung in mittelhochdeutscher Lyrik, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, hg. von dems., Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 11–39, darin auch: Hans-Joachim Behr, Das späte Minnelied. Heinrich von Breslau: Ich klage dir, meie, S. 71–86; dieser Text stellt allerdings vor allem eine Paraphrase und rechtshistorische Einordnung des Liedes Heinrichs dar, keine Verortung des Textes innerhalb der Minnesangtradition. Die Studie von Doris Sittig, Vyl wonders machet minne. Das deutsche Liebeslied in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie, Göppingen 1987, beschränkt sich auf Paraphrasen in der Absicht, »eine möglichst genaue typologische Übersicht über das deutsche Liederbuchlied aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu liefern.« Ebd., S. 2. Die Unterteilung des Untersuchungscorpus in Werbungslieder, Hoffnungslieder, Liebesklagen, Liebesversicherungen, Sehnsuchtslieder etc. ist vortheoretisch und dient nicht dazu, die Merkmale der jeweiligen Lieder auf die des Minnesangs zu beziehen. Probleme grundsätzlicherer Natur diskutiert Herfried Vögel am Beispiel der Lieder Hugos von Montfort: H. V., Die Pragmatik des Buches. Beobachtungen und Überlegungen zur Liebeslyrik Hugos von Montfort, in: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider, Heidelberg 1996, S. 245–273. 3 Karnein [Anm. 2], Zwischenüberschrift auf S. 303. 4 Ebd.

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Leider besitzt Karneins Bemerkung über das Desiderat einer Geschichte der deutschen Lied-Literatur nach 1250 nach wie vor Aktualität. 5 Dass die Forschung sich so schwer mit einer solchen noch zu schreibenden Geschichte der Spätzeit des Minnesangs tut, dürfte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass das Minnelied seine Gestalt im Laufe des 14. Jahrhunderts so stark verändert, dass sich bislang kein Konsens in der Frage abzeichnet, ob seine Tradition hier vollständig zum Erliegen kommt oder aber nur eine neue Formensprache ausbildet; 6 ist also das Liebeslied des 14. Jahrhunderts ein neuer Typus oder eine Fortsetzung des Minnesangs unter anderen Voraussetzungen? Wachinger äußert sich widersprüchlich zu dieser Frage. Er sieht einerseits trotz aller Differenzen eine konzeptionelle Kontinuität zwischen Minnesang und dem Liebeslied des 14. Jahrhunderts, die darauf zurückzuführen sei, dass dieses nicht eine andere Art von Beziehung, sondern nur eine andere Phase jener Liebesbeziehung thematisiere, die auch Gegenstand des hohen Minnesangs sei: als Kern der Wende [ist] nicht die Ablösung eines Liebeskonzepts durch ein anderes anzusehen, etwa der hohen Minne als unerfüllter Dienst- oder wân-Liebe durch das Konzept einer erfüllten gegenseitigen Liebe. [...] Was sich verschiebt, ist viel eher die 5 Die neue Darstellung von Hübner [Anm. 2] zum ›späteren Minnesang‹ (S. 7) »endet in der Zeit um 1300, weil man das 14. Jahrhundert [...] als eine eigene Epoche der Liebeslyrik behandeln sollte. Zwar gab es noch bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus geradezu dezidiert traditionellen Minnesang. Daneben traten nun aber unterschiedliche neue Versuche, aus dem alten Motivrepertoire heraus Liedtexte zu konstruieren, die auf eine unproblematischere Art eine unproblematischere Liebe thematisieren. Das 14. Jahrhundert wäre deshalb als Zeit mehr oder weniger experimenteller Auseinandersetzungen mit der zunächst weiter fortbestehenden Minnesangtradition zu beschreiben, die schließlich beim Mönch von Salzburg in ein neues, seinerseits traditionsstiftendes liebeslyrisches Modell mündeten.« Ebd., S. 14. 6 Das wiederum dürfte damit zusammenhängen, dass bereits das Liebeslied des 14. und 15. Jahrhunderts so schwer zu definieren ist: »Die Texte erweisen sich [...] nicht mehr als stringente Manifestationen eines klar zu umreißenden lyrischen Gattungskanons, sondern als offene Texttypen, die diverse und mithin divergente lyrische, narrative und metaphorische Muster in sich aufzunehmen verstehen.« Manfred Kern, ›Lyrische Verwilderung‹. Texttypen und Ästhetik in der Liebeslyrik des 15. Jahrhunderts, in: Texttyp und Textproduktion in der Literatur des deutschen Mittelalters, hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon, Berlin, New York 2005, S. 370–393, hier S. 385f. Vgl. auch Burghart Wachinger, Hohe Minne um 1300. Zu den Liedern Frauenlobs und König Wenzels von Böhmen, in: Cambridger ›Frauenlob‹-Kolloquium 1986, Berlin 1988 (Wolfram-Studien X), S. 135–150, und Manfred Kern, Hybride Texte – wilde Theorie ? Perspektiven und Grenzen einer Texttheorie zur spätmittelalterlichen Liebeslyrik, in: Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert. 18. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 28. und 29. November 2003, hg. von Gert Hübner, Amsterdam, New York 2005 (Chloe, Beihefte zu Daphnis 37), S. 11–45.

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Sprechsituation des Liebesmonologs, der Zeitpunkt innerhalb einer vorstellbaren Liebes-›Geschichte‹. 7

Andererseits betont er aber auch die grundlegenden Unterschiede, die diese Verschiebung der Sprechsituation für die traditionellen Formen des Minnesangs bedeutet und spricht von einem ›neuen Typus‹ bzw. davon, dass das Modell der hohen Minne aufgegeben werde: Trotz aller Ausfransungen, Ausstrahlungen und Gegenpositionen behauptete das IchLied der hohen Minne seine zentrale Stellung im lyrischen Gattungssystem bis weit ins 14. Jahrhundert. [...] Aber in dem seit Ende des 14. Jahrhunderts dominierenden neuen Typus des Liebeslieds wurden diese alten Elemente von einer anderen Situation her organisiert. An die Stelle des unerfüllten, meist antwortlosen Werbens trat die Situation einer gegenseitigen Liebe, die von außen durch böswillige klaffer oder durch eine Trennung auf längere Zeit, von innen durch Treulosigkeit gefährdet ist. 8

Und: Der neue Typus des Liebeslieds in Ich-Form [...] schöpft aus einem Fundus von Motiven, Schemata und Sprachformeln, in den manches aus dem Minnesangfundus übernommen wurde [...], der als ganzer aber doch neu wirkt und den alten Elementen einen neuen Stellenwert gibt. Der entscheidende Unterschied ist eine andere Darstellung der Liebe. Das im späten 12. Jahrhundert aus der Romania übernommene Modell der hohen Minne ist aufgegeben. 9

7 Burghart Wachinger, Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Fortuna vitrea 16 (1999), S. 1–29, hier S. 20. 8 Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22), S. 611–627 (Einleitung), hier S. 623f. Im Grundsatz zustimmend Gert Hübner, Die Rhetorik der Minneklage im 15. Jahrhundert. Überlegungen zu Liebeskonzeption und poetischer Technik im ›mittleren System‹, in: ders., Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert [Anm. 6], S. 83–117, hier S. 84: »Das neue System wird greifbar mit dem Liebesliedcorpus, das unter dem Namen des Mönchs von Salzburg überliefert ist, und hat Bestand bis weit ins 16. Jahrhundert, in seinen Kernaspekten bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts. Weil es seine Wirkung in der Zeit zwischen Minnesang und barocker Liebeslyrik entfaltet, nenne ich es provisorisch und der Einfachheit halber das ›mittlere System‹.« Dagegen Kühnel [Anm. 2], S. 86: »Charakterisiert ist diese Epoche [›nachklassischer Minnesang‹] äußerlich zunächst durch den im Vergleich zum 12. und 13. Jh. geringen Stellenwert des Minnesangs innerhalb des Literatursystems; denn die Minnethematik wird bereits im 14. Jh. bevorzugt in den ›nicht-lyrischen‹ Gattungen der Minnerede und der Minnedidaxe abgehandelt, und der Minnesang verliert gegenüber den anderen ›lyrischen‹ Gattungen wie der Lied-Publizistik und der geistlichen Lieddichtung deutlich an Interesse.« 9 Wachinger [Anm. 7], S. 16.

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Janota hat in seiner Literaturgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit diesem entscheidenden Unterschied in der Darstellung dadurch Rechnung getragen, dass er konsequent zwischen ›Minnelied‹ und ›Liebeslied‹ differenziert: »bei genauerem Zusehen zeigt sich der Wechsel vom Minnelied zum Liebeslied, das zunächst weiterhin höfisch gebunden ist, das sich aber mit seiner inhaltlichen Schematisierung im 15. Jahrhundert auch stadtbürgerlichen Kreisen öffnen wird«. 10 Dieser Wechsel vom Minnelied zum Liebeslied, vom »gesellschaftlich-öffentlichen Minnesang weg zum privat-gemüthaften Liebesgedicht« 11 ist nicht nur inhaltlich an den Liedtexten festzumachen, sondern zeichnet sich auch im Überlieferungsträger ab: Gegenüber den Liederhandschriften des Minnesangs wird das Liebeslied in sogenannten ›Liederbüchern‹ überliefert, 12 die, schmucklos und gebrauchsnah, die Liedtypen tradieren, in denen die – aus terminologischer Verlegenheit ist man versucht zu sagen – anthropologischen Konstanten jeder Lyrik: Liebe und Leid, Abschied und Sehnsucht, Freude und Schmerz angesprochen werden und die inhaltlich nicht mehr unter den feudalen Begriff Minnesang zu subsumieren sind. 13

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Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Bd. III/1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit, Tübingen 2004, S. 145. 11 Karnein [Anm. 2], S. 320. 12 Demgegenüber unterscheidet Kühnel zwischen vier Typen von Überlieferungsträgern von Lyrik im 14./15. Jahrhundert: Die gattungsbezogene Liederhandschrift, deren letzter Vertreter die Kolmarer Liederhandschrift aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts ist, die Sammlung der Werke eines Autors wie der Wiener Codex der Werke Eberhards von Cersne (Cod. Vindob. 3013) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der Typus der Mischhandschrift wie die Würzburger Handschrift, das Hausbuch des Michael de Leone oder die Mondsee-Wiener Handschrift (Cod. Vindob. 2856). Neu ist dagegen der Typus des Liederbuchs, das »als gattungsbezogener Typus der älteren Liederhandschrift zunächst vergleichbar, sich von dieser doch deutlich abhebt, da es weniger unter historischen oder normativen Gesichtspunkten zusammengestellt ist, sondern [...] in erster Linie gesellschaftliches ›Brauchtum‹ spiegelt. Dieser neue überlieferungsgeschichtliche Typus deutet sich bereits im späten 14. Jh. mit der Limburger Chronik an; ein erstes bedeutenderes Beispiel ist die ›Sterzinger Miszellaneen-Handschrift des frühen 15. Jh.; seit der Mitte des 15. Jh. dominiert dieser Überlieferungstypus.« Kühnel [Anm. 2], S. 88. Auf S. 89 ergänzt Kühnel noch um einen weiteren Typus, nämlich den der nicht nur autorbezogenen, sondern autornahen Überlieferung, für den er auf die 1414/15 entstandene Heidelberger Prunkhandschrift Hugos von Montfort (Cpg 329) verweist. Vgl. auch Franz-Josef Holznagel, Typen der Verschriftlichung mittelhochdeutscher Lyrik vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, in: Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften, hg. von Anton Schwob und András Vizkelety, Bern u. a. 2001, S. 107–130. 13 Karnein [Anm. 2], S. 306.

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Hervorstechendes Merkmal des Liebesliedes ist jedoch, dass es nicht mehr ein Vortragspublikum anspricht, sondern einen Leser. Dieser Prozess von der Vortragsliteratur, die auf eine Kommunikation unter Anwesenden zielt, hin zur Entstehung von Lesetexten beginnt sich jedoch bereits lange vor dem 14. Jahrhundert abzuzeichnen und manifestiert sich an zahlreichen Merkmalen der Texte selbst. 14 Ich möchte mich im Folgenden auf eines davon konzentrieren und der Frage nachgehen, wie dieser mediale Wechsel sich auf die Verwendung des Jahreszeiteneingangs 15 auswirkt; er scheint mir ein regelrechter Seismograph dafür zu sein, wie das Lied sich auf den außerliterarischen Kontext seiner Rezeption bezieht. Denn die höfische Literatur thematisiert den Jahreszeitenrythmus, der die Abfolge ihrer Feste und leeren Zeiten bestimmt, doch nie nur als bloßen Anlaß. Im hohen Minnesang werden die beiden Jahreszeiten Frühling (Sommer) und Winter zu Metaphern für Hoffnung und Versagen; s i e r e p r ä s e n t i e r e n d i e ä u ß e r e W e l t , die das ›Innen‹ des werbenden Ichs bestätigt oder kontras t i e r t . 16 14 U. a. auch in der unterschiedlichen Bezeichnung der zugrundeliegenden Affekte bzw. Emotionen. So lässt sich der Nachweis führen, dass der Begriff ›minne‹ immer stärker zugunsten des Begriffes ›liebe‹ zurücktritt: »What does emerge, however, is that in the love lyric the word liebe is in the ascendant. Hugo von Montfort and the monk of Salzburg use liebe (in the sense of ›love‹) more than three times as often as minne, and the ratio is only slightly narrower in the case of Oswald. Only Eberhard von Cersne, generally the most conservative of the four poets, has liebe less frequently, but overall they favour liebe in a ratio of approximately 2.3 to 1.« Alan Robertshaw, Minne and Liebe: The Fortunes of Love in Late Medieval German, in: PBB 121 (1999), S. 1–22, hier S. 9. 15 »Der Jahreszeitentopos läßt sich wie folgt beschreiben: Er steuert die Bezugnahme auf die kollektive Zeitordnung der Jahreszeiten, also auf eine physisch begründete und kulturell überformte, d. h. gewöhnlich mindestens in Frühling/Sommer und Winter differenzierte zyklische Zeit. Diese Bezugnahme ist durch ein relativ fest umrissenes Inventar von sprachlichen Formeln generalisiert, die sich teilweise mit den Formeln des locus amoenus, eines Raum-Topos, überschneiden.« Ludger Lieb, Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 183–206, hier S. 185f. 16 Jan-Dirk Müller, Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip, in: Rhythmus und Saisonalität, hg. von Peter Dilg, Gundolf Keil und Dietz-Rüdiger Moser, Sigmaringen 1995 (Veröffentlichungen des Mediävistenverbandes, Bd. 4, Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993), S. 29–47, hier S. 46, Hervorhebungen von mir. Köbele weist auf die Reflektiertheit in der Verwendung des Natureingangs hin: »Die Beispiele sind ein prägnanter Beleg dafür, daß der sogenannte ›Natureingang‹ keineswegs als bloßes literaturwissenschaftliches Phantom sein Dasein fristet, vielmehr innerhalb der spätmittelalterlichen Literatur eine gewußte und zentrale Kategorie ist, daß er – längst – in den Horizont der Wahrnehmung getreten ist.« Susanne Köbele,

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Gegenstand des Jahreszeiteneingangs ist also die Relation von Innen, der eigenen Empfindung oder Wahrnehmung, und Außen, dem Zustand der (textinternen) Welt außerhalb des (textinternen) Ich. Doch diese Relation beschränkt sich nicht auf die Textebene, sondern erlangt, insofern diese Reflexion des Ich über seine Beziehung zur räumlichen Umwelt gesanglich vorgetragen wird, auch Relevanz für die Pragmatik der Aufführungssituation des Minneliedes. Bein hat versucht, aus einem Corpus von 500 Minneliedern aus der Zeit von etwa 1170 /80 bis ins letzte Drittel des 13. Jahrhunderts eine Art ›Standardmodell‹ des Jahreszeitenliedes im hohen Minnesang herauszuarbeiten und ist zu dem Schluss gekommen, dass die »Nennung der Jahreszeit [...] als (rhetorische) Möglichkeit der Kontaktaufnahme von Sänger und Publikum [dient] und [...] gleichzeitig Signal für außerliterarische Gegebenheiten [ist], an denen Sänger und Publikum hic et nunc partizipieren.« 17 Das heißt, dass der Jahreszeiteneingang den Zustand des Text-Ich, also die Liedaussage (Hoffnung, Freude, Resignation, Verzweiflung) nicht nur textintern in einem vom Text-Ich aus gesehen veräußerlichten Kontext – der ›textinternen‹ Jahreszeit, in der das Ich spricht – situiert, sondern sie darüber hinaus auch pragmatisch als einen deiktischen Hinweis auf die außertextuelle Situation des Vortrages nutzt. Wenn der Jahreszeiteneingang im Lied mit der Jahreszeit des Vortrages korreliert – und im Folgenden werde ich für den Minnesang bis etwa nach Walther von der Vogelweide von dieser Voraussetzung ausgehen 18 – kontextualisiert er die poetische Aussage nicht nur durch die textinterne Naturbeschreibung, sondern verschränkt sie gleichermaßen mit der konkreten Vortragssituation. Diese ›doppelte Kontextualisierung‹ prädestiniert den Jahreszeiteneingang dazu, mediale Veränderungen zu registrieren, denn als Strategie der Kontextualisierung und Analogisierung von innertextuellen und außertextuellen GegebenFrauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 43), S. 49. 17 Thomas Bein, Jahreszeiten – Beobachtungen zur Pragmatik, kommunikativen Funktion und strukturellen Typologie eines Topos, in: Rhythmus und Saisonalität [Anm. 16], S. 215–237, hier S. 222f. »Es scheint mir kaum zweifelhaft, daß so strukturierte Lieder bzw. Lieder mit einem so strukturierten Eingang ihr innerliterarisches Thema (Minne) an außerliterarische Gegebenheiten (Jahreszeit) anbinden, die Jahreszeit also ein ›Wirklichkeitsmerkmal‹ (Adam) ist, daß hier – wie Händl sehr vorsichtig ausführt – ›ein nicht fingiertes hic et nunc durch[scheint]‹.« Ebd., S. 223, Hervorhebungen im Original. Bein verweist auf: Claudia Händl, Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide, Göppingen 1987 (GAG 467), S. 9. 18 Ich schließe mich hier Bein (ebd., S. 223) an: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein solches ›Sommerlied‹ im Herbst oder Winter zum gesellschaftlichen Vortrag kommen konnte, wobei ich davon ausgehe [...], daß bis zum Ende des 13. Jahrhunderts der gemeinschaftlich rezipierte mündliche Vortrag noch das Übliche ist.«

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heiten wäre die Pointe des Jahreszeiteneingangs an den mündlichen Vortrag des Liedes gebunden. Von dem Zeitpunkt an, zu dem das Lied beginnt, einen Leser anzusprechen und nicht mehr einen Hörer, dessen Wahrnehmung der Jahreszeit mit der des textinternen Ich übereinstimmen kann, werden – so lässt sich vermuten – auch dem Jahreszeitentopos neue Funktionen zufallen. Denn er ist von diesem Zeitpunkt an von der Funktion entlastet, die Wahrnehmung des Hörers aufzugreifen und zu spiegeln, er kann (und muss vielleicht) von diesem Zeitpunkt an neue Funktionen übernehmen; so tritt er sukzessive aus der Verknüpfung mit der minne-Thematik heraus und öffnet sich neuen inhaltlichen Besetzungen wie der mit dem Motiv der Vergänglichkeit. Der Jahreszeitentopos als Raumtopos: Kontextualisierung als Strategie der Konkretisierung Dass, wie Bein im obigen Zitat anmerkt, die Nennung der Jahreszeit ein Signal für außerliterarische Gegebenheiten ist, an denen Sänger und Publikum hic et nunc partizipieren, könnte eine Erklärung für ein Phänomen sein, das die Forschung zum Jahreszeitentopos im Minnesang schon lange beschäftigt, nämlich, dass »die Blütezeit des hohen Minnesangs [...] ganz bewußt fast ganz auf Natureingänge verzichtet,« 19 dass also der Jahreszeiteneingang im frühen Minnesang dominiert, dann im hohen Minnesang abnimmt, um im späten wieder größere Verbreitung zu erlangen: Gegenüber der Häufigkeit im frühen Minnesang und vor allem im nachklassischen Minnesang, wo bei einzelnen Dichtern (Neidhart, Gottfried von Neifen) der Jahreszeitentopos geradezu zum Konstitutivum von Liedtypen wird, darf man hier [im Bezug auf den hohen Minnesang] rein statistisch von einem weitgehenden Fehlen des Topos sprechen. 20 19

Barbara von Wulffen, Der Natureingang in Minnesang und frühem Volkslied, München 1963, S. 15, Hervorhebung im Original. Von Wulffen bildet drei Gruppen von Verwendungsweisen des Natureingangs, nämlich ›Einleitungstopik im engeren Sinn‹, ›Szenischer Natureingang‹ und ›minnesängerisch bewegender Natureingang‹. Sowohl diese Klassifikation als auch die Zuordnung einzelner Lieder zu den drei Klassen sind subjektiv und vortheoretisch, ansonsten verfährt die Autorin rein deskriptiv, so dass das Bändchen trotz einzelner richtiger Beobachtungen als wenig hilfreich und veraltet bezeichnet werden muss. 20 Lieb [Anm. 15], S. 192. Ähnlich Köbele [Anm. 16], S. 49f.: »Während der Natureingang bei Autoren wie Reinmar oder Heinrich von Morungen fast ganz zurückgetreten war [...], ist der Umgang mit dem Natureingang bei den Liederdichtern des 13. Jahrhunderts das große Symptom. Obwohl sie ihn regelrecht in Serie produzieren, gehen sie durchaus poetisch produktiv mit ihm um, so daß sich ein weites Spektrum öffnet, ein Experimentierfeld für eine Vielfalt von Bezeichnungsbedürfnissen, das schon bei Neifen und

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Auch Wachinger spricht vom »in klassischer Zeit seltene[n] Natur- oder Jahreszeiteneingang«. 21 Lieb sieht die Erklärung dieses Befundes in dem, was er die ›Eigenzeit der minne‹ nennt: Der Tatsache, dass das Konzept der hohen minne eine Form von Absolutheit und Autonomie beansprucht, die sich schlecht mit der Verwendung des Jahreszeitentopos, der die Emotion an eine besondere Jahreszeit knüpft, vertrage: Die Minne, so machen uns die Minnesänger glauben, ist [...] unabhängig von diesen Zeitordnungen da. Und deshalb paßt zu diesem Konzept auch der Jahreszeitentopos nicht, denn der behauptet ja, daß es für die Liebe einen spezifischen Zeitpunkt gibt, den Frühling bzw. Sommer, eine determinierte Zeit der Geselligkeit, in der die Liebe gelebt und in der von ihr gesprochen werden kann, eine Zeit, die als eine ›natürliche‹ Ursache der Liebe, eine causa amoris wirkt. 22

Lieb geht davon aus, dass der Jahreszeitentopos im hohen Minnesang regelrecht ausgeblendet 23 werde; tatsächlich findet er sich bei den klassischen Autoren selten. Doch gerade die Ausnahmen von dieser Regel, von denen Lieb vier exemplarisch darstellt (nämlich Lieder, die den Jahreszeitentopos zur Kontrastierung, Überbietung, Verkehrung und Substitution nutzen), zeigen, dass das Modell einer minne, die ihre eigene, autonome Zeit beansprucht, diesen Anspruch gerade unter Bezugnahme auf den Jahreszeitentopos ganz besonders prägnant artikulieren kann. Anders gesagt: Die Verwendung des Jahreszeitentopos knüpft die Emotion gerade nicht an eine Jahreszeit, weil der Topos selbst die Art seiner Verwendung ja durchaus nicht festlegt, sondern zur Analogisierung (so wie sich alle über den Sommer freuen, freut das Lied-Ich sich über den Gruß seiner Herrin) ebenso einlädt wie zur Steigerung (alle beklagen den Einbruch des Winters, doch viel schlimmer als dieser ist die Ablehnung durch die Herrin) oder eben zu jenen Verwendungsweisen, die Lieb vorstellt, also etwa der Kontrastierung (alle werden durch die Ankunft des Sommers erfreut, nur das Lied-Ich, das unter der Ablehnung seiner Herrin leidet, nicht).

Neidhart in voller Breite ausgeschritten ist.« 21 Wachinger [Anm. 8], Einleitung S. 611–627, hier S. 623. 22 Lieb [Anm. 15], S. 192 mit Hinweis auf Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 318–321. 23 »Unter verschiedenen Möglichkeiten von Strukturierungen, Konzeptionen des Wissens, der Kommunikation usw. werden einzelne ausgewählt, ihre Geltung behauptet und durchgesetzt. Diese faktisch vorhandene Selektivität wird aber nicht angezeigt oder reflektiert, sondern ausgeblendet, vor allem mittels der Hervorhebung von ›Leitideen‹, deren Unhinterfragbarkeit mögliche Konflikte zwischen Alternativen verdrängt.« Lieb [Anm. 15], S. 190.

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Wenn die Autoren von Liedern der hohen minne dennoch auffällig selten auf den Jahreszeitentopos zurückgreifen, obwohl er sich zur Artikulation der ›Jahreszeitlichkeit der minne‹ ebenso eignet wie zur Behauptung ihrer ›Eigenzeit‹, muss dieser Sachverhalt andere Gründe haben. Ursächlich ist meiner Meinung nach, dass der Jahreszeitentopos immer auch Naturtopos und mithin R a u m topos ist: Diese Bezugnahme [auf die kollektive Zeitordnung der Jahreszeiten, also auf eine physisch begründete und kulturell überformte zyklische Zeit] ist durch ein relativ fest umrissenes Inventar von sprachlichen Formeln generalisiert, die sich teilweise mit den Formeln des locus amoenus, eines Raum-Topos, überschneiden. 24

Denn die Jahreszeiten werden konkret und anschaulich allein durch ihre Zeichen im Raum, durch verschneite Wälder, blumenübersäte Wiesen oder sich entlaubende Bäume. ›Jahreszeit‹ ist von Saisonalität gezeichneter Raum: Wald, Heide, Feld, Garten. Die Zurückhaltung der Autoren von Liedern der hohen minne richtet sich gegen diesen räumlichen Aspekt, den der Jahreszeitentopos notwendig mit transportieren muss. Was aber könnten Gründe dafür sein, ihn zu meiden? Die literarische Stilisierung der hohen minne im Minnesang ist in der Gestaltung der Autoren der sogenannten ›Hochphase‹ durch das Fehlen jener Merkmale charakterisiert, die Glier unter dem Begriff der ›Konkretisierung‹ 25 subsumiert hat, um mit ihm Merkmale des späten Minnesangs zu adressieren und eine Alternative zum unpräzisen und irreführenden Begriff ›Realismus‹ zu schaffen. 26 Mit dem Begriff ›Konkretisierung‹ deutet Glier darauf hin, dass »die Minnesänger des 13. Jahrhunderts immer wieder vom abstrakten Ich-Monolog des Sängers wegund zu grösserer Konkretheit hinstreben.« 27 Der klassische Minnesang ist demgegenüber von Formen der ›Ent-Konkretisierung‹, ›Abstraktheit‹ und Gedanklichkeit geprägt. Konkrete Bezüge, Vereindeutigungen und Vergegenständlichung werden vermieden, Sinn und Bedeutung bewusst offen, vage und in der Andeutung belassen. 24

Lieb [Anm. 15], S. 186. Ingeborg Glier, Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts, in: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide, hg. von Franz H. Bäuml, Göppingen 1984 (GAG 368), S. 150–168. Vgl. auch: Jutta Goheen, Mittelalterliche Liebeslyrik von Neidhart von Reuental bis Oswald von Wolkenstein. Eine Stilkritik, Berlin 1984 (Philologische Studien und Quellen 110). 26 Ernst Bremer hat den – in meinen Augen noch problematischeren Begriff des ›Außenrealismus‹ ins Spiel gebracht. Ernst Bremer, Ästhetische Konvention und Geschichtserfahrung. Zur historischen Semantik im Minnesang Ulrichs von Winterstetten, in: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch: Chiemsee-Colloquium 1991, hg. von Cyril Edwards, Ernst Hellgardt und Norbert H. Ott, Tübingen 1996, S. 129–145, z. B. S. 131. 27 Glier [Anm. 25], S. 164. 25

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In diesem Zusammenhang sind auch Verwendung und Vermeidung des Jahreszeitentopos zu verstehen: Wenn der Jahreszeitentopos stets auch Raumtopos ist, so wird – sollte Adams These vom ›Wirklichkeitsmerkmal Jahreszeit‹ zutreffen – nicht nur die Liedaussage durch ihn in einem gegenständlichen Ort (dem verschneiten Wald oder der Blumenwiese) situiert, sondern dieser mit dem Ort und der Zeit des Vortrages identifiziert. Mit dieser Identifikation würde die ›Situationsspaltung‹, 28 also die spürbare Überlagerung von textinterner und textexterner Sprechsituation, wenn nicht aufgehoben, so doch deutlich überspielt, indem textinterne und textexterne Sprechsituation zu einer verschmelzen. Denn wo der Vortragende das Singen von Schnee mit dem Hinweis auf Schnee verknüpfen kann, wird das Publikum dazu eingeladen, die Grenze zwischen Text und Kontext als aufgehoben wahrzunehmen. Insofern dürften die deiktischen Hinweise, die das Jahreszeitenlied charakterisieren, durchaus als Strategien von Konkretisierung aufzufassen sein. Konkretisierung findet auf verschiedenen Ebenen statt. Ich möchte mich hier auf einzelne Stichpunkte beschränken: Besonders auffällig ist die Konkretisierung der Personen durch Eigennamen, 29 die etwa in der hohen Minnekanzone vergeblich gesucht werden: »Ein grösserer Kontrast zur bisher im Minnesang meist obwaltenden Namenlosigkeit und Abstraktheit der Rollen ist kaum denkbar.« 30

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Rainer Warning, Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion, in: Funktionen des Fiktiven, hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser, München 1983 (Poetik und Hermeneutik X), S. 183–206, hier S. 193: »Was hier vorliegt, ist vielmehr eine Situationsspaltung dergestalt, daß eine interne Sprechsituation in Opposition tritt zu einer externen Rezeptionssituation.« Zur aktuellen Diskussion des Konzeptes vgl. u. a. Albrecht Hausmann, Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang, in: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder, hg. von Margreth Egidi, Volker Mertens und Nine Miedema, Frankfurt a. M. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5), S. 25–43; Jan-Dirk Müller, Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang, in: Wechselspiele [Anm. 2], S. 43–76; Peter Strohschneider, Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung, in: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Bd. 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, hg. von Johannes Janota, Tübingen 1993, S. 56–71. 29 Jan-Christian Schwarze, derst alsô getoufet daz in niemen nennen sol. Studien zu Vorkommen und Verwendung der Personennamen in den Neidhart-Liedern, Hildesheim u. a. 2005. Vgl. bedingt auch Wolfgang G. Müller: Namen als intertextuelle Elemente, in: Poetica 23 (1991), S. 139–165, der seine Aussagen jedoch nur auf Beispiele der Erzählliteratur stützt. 30 Glier [Anm. 25], S. 154.

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Das vage ›sie‹, das den Bezug zur namenlosen Dame herstellt oder auf die anderen hindeutet, wird hier vereindeutigt. 31 Eine solche Vereindeutigung ist auch Ziel der Rollenhaftigkeit 32 vieler Lieder: Das Lied-Ich ist hier nicht mehr nur Werbender und Sänger, sondern wird in der Rolle, in der und aus der heraus es den anderen gegenübertritt, fassbar und so plastisch, dass es die Grenzen des Liedes überschreiten und sich zur literarischen Figur verselbständigen kann: Diese von den spezifischen Bedingungen (Anlaß, Ort, Zeit etc.) des Auftritts mehr oder weniger reglementierte Verschränkung unterschiedlicher kommunikativer Modalitäten konstituiert die Figur des Sängers, die – dies setzt der Begriff ›Figur‹ voraus – nicht mit der Identität des Singenden zusammenfallen kann. Die Sängerfigur produziert sich vielmehr in ›Rollen‹, über die der Sänger verfügt. 33

Im Tanzlied 34 ist dieses Ich Tanzmeister, es ordnet den Reihen, ruft zu ihm auf, verteilt die Aufgaben bei der Vorbereitung zum Tanz etc. Oder es ist – wie im Herbstlied 35 – Zecher und bestellt für sich und seine Genossen Unmengen von

31 Titzmann spricht von einer ›Verdinglichung‹: »Angaben zum Alter von Figuren, etwa durch Typisierung wie Alte, Mutter, Tochter, Mädchen, Angaben zum Ort (z. B. Heide, Feld, Stube), zur Tages- oder Jahreszeit, wozu ja auch die regelmäßigen Natureingänge gehören, ersetzen häufig die diesbezüglichen Unbestimmtheiten des MS. Die Tendenz zur Verdinglichung der Welt spiegeln auch die im MS so seltenen Natureingänge.« Michael Titzmann, Die Umstrukturierung des Minnesang-Sprachsystems zum ›offenen‹ System bei Neidhart, in: DVjS 45 (1971), S. 481–514, hier S. 488. 32 Händl [Anm. 17]. Vgl. hierzu Kühnel [Anm. 2], S. 92f. (Kapitel ›Typisierung‹). 33 Vögel [Anm. 2], S. 246. 34 Peter Strohschneider, Tanzen und Singen. Leichs von Ulrich von Winterstetten, Heinrich von Sax sowie dem Tannhäuser und die Frage nach dem rituellen Status des Minnesangs, in: Mittelalterliche Lyrik: Probleme der Poetik, hg. von Thomas Cramer und Ingrid Kasten, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), S. 197–231; Hedda Ragotzky, Minnethematik, Herrscherlob und höfischer Maitanz: zum 1. Leich des Tannhäusers, in: Ergebnisse der 21. Jahrestagung des Arbeitskreises ›Deutsche Literatur des Mittelalters 4‹, Greifswald 1989, S. 101–125; Helmut Tervooren, Zu Tannhäusers II. Leich, in: ZfdPh 97 (1978), S. 24–42; Jan-Dirk Müller, Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik, in: IASL 19,1 (1994), S. 1–21, hier S. 18–20. 35 Vgl. Eckehard Simon, Literary Affinities of Steinmar’s Herbstlied and the Songs of Colin Muset, in: MLN 84 (1969), S. 375–386; Norbert Haas, Trinklieder des deutschen Spätmittelalters. Philologische Studien an Hand ausgewählter Beispiele, Göppingen 1991 (GAG 533); Eckhard Grunewald, Die Zecher- und Schlemmerliteratur des Spätmittelalters, Köln 1976; Vgl. auch Müller [Anm. 16], S. 35–39 zu Steinmars Herbstlied und Wolfgang Adam, Die »wandelunge«. Studien zum Jahreszeitentopos in der mittelhochdeutschen Literatur, Heidelberg 1979 (Beihefte zum Euphorion 15), S. 88–136; Eckhard Grunewald, Das Schlemmlied. Steinmar: Sît si mir niht lônen wil, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter [Anm. 2], S. 353–367.

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Speisen und Wein, preist die Gaben des Herbstes und empfiehlt sich ihm als Vasall. Im ›Haussorge-Lied‹ ist es ratlos-überforderter, Mitleid heischender Hungerleider. 36 Diese Rollen aber verlangen nach Geschichten, die sie einerseits voraussetzen und ihrerseits produzieren: Der verzagte Riuwentaler, der an den laufenden Kosten seiner Haushaltung verzweifelt, lädt in der Ausschnitthaftigkeit, in der er in Neidharts 37 Liedern in Erscheinung tritt, dazu ein, ›seine‹ Geschichte, also die Ursache seiner Armut und ihre Auswirkungen auf die Werbung um die Dorfschönen, zu ergänzen. Diese Ergänzung wird durch vereinzelte Hinweise in anderen Liedern nicht vorgenommen, sondern allein angeregt. So erlangt das Ich nicht nur eine Rolle, aus der heraus es die Liedaussage vorträgt, die jetzt im Rahmen (und damit im Deutungshorizont) des Haussorge-, des Herbst- und des Tanzliedes getroffen wird, sondern auch, etwa bei Neidhart, 38 Hadlaub, Hugo von Montfort und vor allem Oswald von Wolkenstein, aber auch schon in Ulrichs von Liechtenstein ›Frauendienst‹ 39 , eine eigene Geschichte. Diese deutliche Tendenz zur Biographisierung 40 ist in der Forschung auch als Reaktion auf den Medien-

36 Vgl. Anton Schwob, Hûssorge tuot sô wê. Beobachtungen zu einer Variante der Armutsklage in der mhd. Lyrik, in: JOWG 1 (1980/81), S. 77–97; Kornrumpf [Anm. 2]; Max Schiendorfer, Das hûssorge-Lied. Johannes Hadlaub: Er muoz sîn ein wol berâten êlich man, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter [Anm. 2], S. 268–283. 37 Den von Wulffen treffend als ›Minnedramatiker‹ bezeichnet, von Wulffen [Anm. 19], S. 21. 38 Vgl. Titzmann [Anm. 31], S. 492f. 39 »Der revolutionäre Akt, der Ulrich [von Liechtenstein] aus allen Minnesängern heraushebt, liegt nun darin, dass er im ›Frauendienst‹ seine Lieder in einen Erzählzusammenhang einbringt. Dabei wird das meist abstrakte Sänger-Ich des Liedes zum epischen Ich konkretisiert, und nicht genug damit, es heisst obendrein Ulrich von Liechtenstein.« Glier [Anm. 25], S. 156. Diese Form der Biographisierung verführt selbst Literaturwissenschaftler dazu, Autor und Erzähler zu identifizieren: »Die oben beobachtete Unschärfe zwischen Ulrich und dem erzählenden Ich könnte als Modell für eine Identifizierung des Erzählers mit dem Autor gemeint sein, die ja auch durch die Namensgleichheit aller drei Instanzen nahegelegt wird. Dann würden die auf der Erzählebene ermittelten literarischen Funktionen auch für den Autor und sein Werk gelten.« Michael Schilling, Minnesang als Gesellschaftskunst und Privatvergnügen. Gebrauchsformen und Funktionen der Lieder im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, in: Wechselspiele [Anm. 2], S. 103–121, hier S. 118. Vgl. auch Anthonius H. Touber, Ulrichs von Liechtenstein ›Frauendienst‹ und die Vidas und Razos der Troubadours, in: ZfdPh 107 (1988), S. 431–444. 40 »Die literarische Inszenierung der Sängerrolle mit vorgeblich biographischen Zügen, die Episierung des Werbungsrituals, die gleichsam geschichtliche Verortung des im Lied vorgestellten Geschehens – teilweise mit historischen Realitätspartikeln angereichert – hatte Neidhart mit durchschlagendem Erfolg im Minnesang etabliert.« Janota [Anm. 10], S. 153. Kühnel spricht anstatt von Biographisierung von ›historischer Personalisierung‹, vgl. Kühnel [Anm. 2], S. 96.

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wechsel, also die Entwicklung des Minnesangs von der Vortrags- zur Leseliteratur, gedeutet worden: 41 Diese ›Biographisierung‹ scheint mir die Reaktion auf einen Schwund der Faszination und Authentizität zu sein, die in der Aufführung vor der höfischen Gesellschaft durch die sinnliche Realpräsenz des Sängers, seine Stimmen, seine Gestik, seine Aktionen gegeben war. Die Liebeslyrik hatte ihre Authentizität in der Performanz, der Sänger, der von Liebe sang, liebte im Augenblick seines Vortrags und faszinierte, überzeugte damit. Einer biographischen Kontinuität bedarf es erst dann, wenn kein Sänger-Ich, kein Körper, keine Stimme, die Liebe mehr beglaubigt. 42 41 Etwas anders gewichtet Kühnel [Anm. 2], S. 96: »Erst mit seiner funktionalen Umwandlung zu einem literarischen Gesellschaftsspiel und der Aufgabe des hohen Anspruchs kommt es, neben seiner Formalisierung und Typisierung, auch zu einer Öffnung für epische Konkretisierungen. Oder anders formuliert: wo der Minnesang im 13. Jh. des ›Diskussionsstoffes‹ entbehrt, bedarf er des neuen Reizes der Auffüllung seiner mehr oder weniger stereotypen Formen mit Elementen (fiktiver) sozialer ›Realität‹.« 42 Volker Mertens, Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter, Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon und Peter Strohschneider, Tübingen 1998, S. 200–210, hier S. 202. Vgl. auch: Dagmar Hirschberg und Hedda Ragotzky, Zum Verhältnis von Minnethematik und biographischer Realität bei Oswald von Wolkenstein: »Ain anefangk« (Kl. 1) und »Es fügt sich« (Kl. 18), in: JOWG 3 (1984/1985), S. 79–114; Dagmar Hirschberg, Zur Funktion der biographischen Konkretisierung in Oswalds Tagelied-Experiment ›Ain tunckle farb von occident‹ Kl. 33, in: PBB 107 (1985), S. 376–388; Albrecht Classen, Die autobiographische Lyrik des europäischen Spätmittelalters. Studien zu Hugo von Montfort, Oswald von Wolkenstein, Antonio Pucci, Charles d’Orléans, Thomas Hoccleve, Michel Beheim, Hans Rosenplüt und Alfonso Alvarez de Villasandino, Amsterdam 1991; Volker Mertens, Biographisierung in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter/Transferts culturels et histoire littéraire au moyen âge, hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 331–344, sowie Edith Wenzel, ›Autobiographische‹ Lyrik. Süßkind von Trimberg: Wâhebûf und Nichtenvint, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter [Anm. 2], S. 284–298. Auch Stolz geht davon aus, dass – etwa an der Manesseschen Liederhandschrift – zu beobachten sei, »wie die für die Einrichtung des Codex Manesse verantwortlichen Personen auf ihre Weise versucht haben, den Abstand zwischen den aufgezeichneten Texten und den Dichtern auszugleichen. Die Autorenporträits geben ein sprechendes Zeugnis für dieses Bestreben ab.« Michael Stolz, Die Aura der Autorschaft. Dichterprofile in der Manessischen Liederhandschrift, in: Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation, hg. von dems. und Adrian Mettauer, Berlin, New York 2005, S. 67–99, hier S. 80; Wolfgang Haubrichs, Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in mittelhochdeutscher Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter [Anm. 42], S. 129–147. Haubrichs geht allerdings davon aus, dass das biographische Ich im 13. Jahrhundert zunehmend ausgeblendet wird: »Der Sänger des früheren Minnesangs bis hin zu Neidhart trat seinen Partnern nicht nur gegenüber, er war auch Teilhaber der Gesellschaft, in der er wirkte. So war es ihm möglich, die grundsätzliche

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Und: Meine These ist, daß ›Biographisierung‹ in der Liebeslyrik mit dem Spannungsfeld von mündlicher und schriftlicher Existenz der Lieder zu tun hat, daß der Verlust an sinnlicher Präsenz und körperlicher Beglaubigung durch den Sänger, den die schriftliche Tradierung bedeutet, durch ›Biographisierung‹ kompensiert werden soll. 43

In einzelnen Fällen wird die Biographisierung des textinternen Ich, beziehungsweise des Erzählers, so weit getrieben, wird die Figur so anschaulich und plastisch, dass sie entweder in die Gattung des weltlichen Spiels übergehen kann wie die Neidhartspiele, die »demonstrieren, wie die neue Ausrichtung des ursprünglichen Liedmodells einen Wechsel in einen anderen Gattungsbereich ermöglichte«, 44 oder eine Dichterlegende begründet wie im Falle des Moringers, Tannhäusers oder des Brennenbergers. 45 Biographisierung bedeutet Narrativierung, denn die Biographie lässt sich nicht anders denn als Erzählung 46 mitteilen. Das Ich lässt das Publikum nicht mehr nur an seinen Reflexionen über minne teilhaben, sondern beginnt, von seiner Werbung oder von Begegnungen mit der Umworbenen zu erzählen. Aussage und Geschehen (Werbung, Klage, Aufforderung etc.) überlagern sich im Vortrag nicht mehr, die Äußerungen verlieren ihre Performativität und werden zum Bericht Rollenhaftigkeit, die ihm Metier und Zelebration auferlegten, mit subjektiven, auf sich selbst als Person bezogenen Aussagen zu transzendieren, um Authentizität zu evozieren. Die in diesem Tun verborgen liegenden Möglichkeiten zur totalen Inszenierung der Kommunikationssituation hat Neidhart ergriffen. Wenn diese Möglichkeit der SängerAutor-Publikum-Interaktion im 13. Jahrhundert verfällt, dann könnte solcher Verfall darauf verweisen, daß die literarische Kommunikation uneigentlich geworden ist, und der Sänger – aus welchen Gründen auch immer – als ein Sprecher verstanden werden will, der nicht teilhat, sondern der Gesellschaft in quasi-objektivem Gestus gegenübertritt.« Ebd., S. 147. 43 Mertens [Anm. 42], S. 332. 44 Janota [Anm. 10], S. 153. 45 Vgl. die jeweiligen Artikel in der zweiten Auflage des Verfasserlexikons von Paul Sappler, ›Bremberg‹, in 2VL 1 (1978), Sp. 1014–1016, Frieder Schanze, ›Moringer‹, in: 2 VL 6 (1987), Sp. 688–692 und Burghart Wachinger, ›Tannhäuser-Ballade‹, in: 2VL 9 (1995), Sp. 611–616; Hanno Rüther, Der Mythos von den Minnesängern. Die Entstehung der Moringer-, Tannhäuser- und Bremberger-Ballade, Köln u. a. 2007; Burghart Wachinger, Vom Tannhäuser zur Tannhäuser-Ballade, in: ZfdA 125 (1996), S. 125–141; Arthur Kopp, Bremberger-Gedichte. Ein Beitrag zur Brembergersage, Wien 1908 (Quellen und Forschungen zur deutschen Volkskunde 2). 46 Manfred Eikelmann, wie sprach si dô? war umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone, in: Wechselspiele [Anm. 2], S. 19–42; Peter Kern, Episierung lyrischer Konzepte, in: Estudios filológicos alemanes 7 (2005), S. 327–342 (dieser Aufsatz beschränkt sich jedoch vor allem auf eine Paraphrase einzelner Passagen von Ulrichs ›Frauendienst‹).

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über Handlungen, die in der Vergangenheit liegen, von der Vortragssituation also personell, zeitlich und räumlich dissoziiert sind. Die ereignishafte Gleichzeitigkeit von Sprechen und Geschehen ist damit aufgehoben, die Dramatik der Überlagerung von Werbung und Vortrag wird in unterhaltsame Erzählung aufgelöst, die für das Publikum keine textinterne Rolle mehr vorsieht, es also auch nicht mehr dazu einlädt, sich unmittelbar angesprochen zu fühlen. Weinrich unterstreicht die Unterschiede zwischen diesen beiden Sprechhaltungen ›Besprechen‹ im Präsens und ›Erzählen‹ im Präteritum, indem er auf die unterschiedlichen Haltungen hinweist, die sie beim Rezipienten hervorriefen. Das Tempus gibt dem Sprecher die Möglichkeit, den Hörer in der Rezeption eines Textes in bestimmter Weise zu beeinflussen und zu steuern. Der Sprecher gibt nämlich durch die Verwendung besprechender Tempora [wie das Präsens] zu erkennen, daß er beim Hörer für den laufenden Text eine Rezeption in der Haltung der Gespanntheit für angebracht hält. Durch erzählende Tempora gibt er in Opposition dazu zu verstehen, daß der in Frage stehende Text im Modus der Entspanntheit aufgenommen werden kann. 47

Die Erzählung gesteht dem Rezipienten die Haltung der Entspanntheit zu, weil sie die Bedeutung der Mitteilung im narrativen Syntagma bereits vorstrukturiert. Sie verleiht dem Geschehen Richtung, Ordnung und Kausalität. Da es bereits vergangen ist, können sich Sprecher und Hörer darauf beziehen, es wird zum Erzähl-Gegenstand, damit aus der Gegenwart des Vortrages in die Vergangenheit ausgelagert, veräußerlicht und vergegenständlicht. Die Auseinandersetzung mit dem Thema des Liedes, die das Lied-Ich der Werbekanzone, das dem Publikum allein seinen Zustand und seine teils widersprüchlichen, teils nur angedeuteten Gedanken mitteilt, ganz dem Publikum überlässt, wird hier vom Erzähler vorund vorweggenommen. Denn die Erzählung setzt, anders als jede andere Mitteilung, die Strukturierung des zu Erzählenden immer schon voraus. Es ist die Erzählung selbst, die die Aussage konkretisiert. 48

47 Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 2. Aufl. Stuttgart 1971, S. 33. 48 »Hadloubs ›Romanzen‹ transportieren nun ihre fiktive ›Stunde der wahren Empfindung‹ in den lyrischen Text und lösen sich damit potentiell von der Aufführung. Gerade in der sängerischen Performanz aber würde der Fiktionscharakter der Begebenheiten offenkundig, weil sie in der differenten realen Vortragssituation gespiegelt sind – ›Theater auf dem Theater‹ weist der aktuellen Performanz den Charakter einer ›zweiten Realität‹ zu. Da die im Text inszenierten Situationen zwar mit literarischen Motiven arbeiten, aber nicht aus dem Traditionsfundus der lyrischen Typen des genre objectif schöpfen, wird eine gegenüber Tagelied und Pastourelle stärkere Subjektivität fingiert.« Mertens [Anm. 42], S. 340.

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Konkretisierung heißt aber neben Biographisierung und Narrativierung auch, dass bislang subtil gestaltete Widersprüche und Konflikte im späten Minnesang nicht mehr in der Reflexion des Text-Ich entwickelt, sondern vereindeutigt und zu Gegensätzen vergegenständlicht werden, indem sie auf verschiedene Figuren ausgelagert werden wie die zänkische Mutter, die dreisten dörper oder das sehnsüchtige, liebeshungrige Mädchen. Aus widerstreitenden Wünschen und Ängsten wird Dissens zwischen einzelnen Akteuren: 49 Fast wichtiger noch erscheinen mir die stark antagonistischen Züge, die seine [Neidharts] Bauernwelt auf mehreren Ebenen prägen [...]. Dieser Antagonismus aber erscheint im Werk Neidharts selbst auch zur erzählerischen Chiffre verdichtet, nämlich in dem immer wiederkehrenden und bis heute rätselhaften Motiv von Frideruns Spiegel, den ihr der Bauernbursche Engelmar geraubt und/oder zerbrochen hat. 50

Es dürfte aus dieser knappen Skizze bereits deutlich geworden sein, dass der Jahreszeiteneingang sich in den Zusammenhang des Liedes der hohen minne, dessen Text-Ich unter Ausklammerung seiner eigenen Person, also seines Namens und seiner Lebensumstände allein den eigenen Empfindungen nachspürt, wenig fügt, weil er eine starke Tendenz zur Konkretisierung aufweist: Es ist nur folgerichtig, wenn die strengsten Vertreter des hohen Minnesangs die Naturmotive aus ihren Liedern ausschlossen, obwohl das Natur-Liebeslied damals schon längst höfische Spielformen hervorgetrieben hatte. Auch darin schirmten sie ihre Kunst der personalen und zugleich gesellschaftlichen Innerlichkeit vor einem Draußen ab, das nicht zugehörte. 51

Wenn der Jahreszeiteneingang als Mittel der Konkretisierung, also der Situierung der Liedaussage in Raum (Natur) und Zeit (Jahreszeit) dient, dann ist er mit dem Begriff › N a t u r eingang‹ allerdings deutlich prägnanter bezeichnet als mit dem des › J a h r e s z e i t e n eingangs‹. Der Natureingang stellt sich als Raumtopos neben den Tanzboden, auf dem der Tanz vorbereitet wird, die Linde, um die herum der Tanz sich einfindet, oder die Stube, in der die junge Mutter gelangweilt 49 Vgl. Victor Millet, Der Mutter-Tochter-Dialog und der Erzähler in Neidharts Sommerliedern, in: Frauenlieder. Cantigas de amigo, hg. von Thomas Cramer u. a., Stuttgart 2000, S. 123–132, und Erwin Koller, Mutter-Tochter-Dialoge in cantigas de amigo und bei Neidhart, in: Frauenlieder [Anm. 49], S. 103–122; Ingrid Bennewitz, ›Wie ihre Mütter‹? Zur männlichen Inszenierung des weiblichen Streitgesprächs in Neidharts Sommerliedern, in: Sprachspiel und Lachkultur. FS Rolf Bräuer, hg. von Angela Bader u. a., Stuttgart 1994, S. 178–193. 50 Glier [Anm. 25], S. 154. 51 Wolfgang Mohr, Die Natur im mittelalterlichen Liede, in: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts, hg. von Maria Bindschedler und Paul Zinsli, Bern 1969, S. 45–63, hier S. 53.

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den Stubenwagen hin- und herschiebt, während die anderen Mädchen sich vergnügen. 52 Wenn der Natureingang des späten Minnesangs als ein Mittel der Konkretisierung betrachtet wird, erschließt sich auch, dass er das Lied nicht (mehr) an die Gegebenheiten der Vortragssituation an-, sondern es (ähnlich der Rollenhaftigkeit, der Narrativierung und der Biographisierung) aus ihr ausschließt. Die Verwendung des Natureingangs ist im Minnesang der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts deshalb in der Regel Teil eines ganzen Ensembles verschiedener Konkretisierungs-Strategien wie Rollenhaftigkeit, Biographisierung, Narrativierung, Parodie oder Antagonistik. So wird beispielsweise ein Dialoglied zwischen Tochter und Mutter von Gedrut/Geltar mit einem Natureingang eingeleitet, der das Ende des Winters durch den Sommer thematisiert: Der walt und diu heide breit diu stênt lobelîch gekleit, elliu herze erstœret sint: des fröint sich megde und stolziu kint. ende hât der kalde wint. ›Ich wil mîn trûren varen lân‹, sprach ein magt, ›dur einen man der mir kom in mînen sin. nu wizze er deich im wæge bin: ich wil mit im vil tougen hin.‹ Diu muoter vor zorne sprach [...]. (V. 1–11) 53

Der Antagonismus zwischen der sich erneuernden Heide und den kalten Winterwinden fungiert als Einleitung in die Thematik des Liedes, nämlich den Konflikt zwischen liebeshungriger Tochter und keifender Mutter. Dabei wird eine klare Analogisierung jedoch vermieden. Vom sechsten Vers an hat das Lied die Form eines Dialogliedes, jenes Liedtyps also, der die Rollenhaftigkeit von Figuren zu einer Prägnanz weiter führt, die nur noch von den dramatischen Formen des Spiels übertroffen wird. Die szenische Dramatik des Dialogliedes wird jedoch mit der inquit-Formel (›sprach ein magt‹) als in der Vergangenheit liegend gekennzeichnet und durch die Erzählerrede überlagert: Nicht die Figuren selbst sprechen, vielmehr wird ihre Rede vom Erzähler nur wiedergegeben. Die Plastizität und Rollenhaftigkeit der Figuren ›Tochter‹ und ›Mutter‹ sowie die Veräußerlichung 52

Ursula Schulze, stube und strâze. Geschehensräume in Neidharts Liedern, in: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter, hg. von Ricarda Bauschke, Frankfurt a. M. 2006 (Kultur – Wissenschaft – Literatur 10), S. 75–91. 53 Minnesang des 13. Jahrhunderts. Aus Carl von Kraus’ ›Deutschen Liederdichtern‹ ausgewählt von Hugo Kuhn. Mit Übertragung der Melodien von Georg Reichert, 2. Aufl. Tübingen 1962, Corpus Gedrut/Geltar, Lied IV.

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des Geschehens aus dem Hier und Jetzt in einen unbestimmten Raum der Vergangenheit machen den Abstand deutlich, den dieses Lied gegenüber der Situativität und Ereignishaftigkeit des Reflexionsliedes im Präsens hat. 54 Merkmale der Konkretisierung weist auch der Natureingang in Gotfrits von Neifen ›Rîfe und anehanc‹ auf; das Lied ist zwar weder Dialog noch Erzählung, dennoch wird der Abstand zum Minnesang um 1200 auch hier deutlich. Denn was dem Ich noch größeren Schmerz bereitet als der Winter ist nicht eine hohe Dame, sondern eine Magd, die am Brunnen Wasser holt. Das Verhältnis, das zwischen beiden besteht, ist nicht durch erfolglose Werbung und Abweisung begründet, sondern dadurch, dass er ihr einen Krug zerbrochen hat: Rîfe und anehanc die heide hât betwungen, daz ir liehter schîn nâch jâmer ist gestalt, und der vogel sanc, die wol mit fröiden sungen, die sint nû geswîn. dar zuo klag ich den walt: der ist unbekleit. dannoch kan si füegen mir herter herzeleit diu daz wazzer in krüegen von dem brunnen treit: nâch der stêt mîn gedanc. Ich brach ir den kruoc [...]. (V. 1–15) 55

Natureingang und Diesseits bei Neidhart Bereits bei Neidhart fungiert der Natureingang jedoch nicht mehr überall als Raumtopos und folglich nicht mehr als Strategie der Kontextualisierung. In einer kleinen, eng umgrenzten Liedgruppe etabliert sich eine überaus reflektierte Verwendung des Natureingangs, deren Komplexität daraus resultiert, dass die Kategorien ›ich‹, ›wir‹, ›die anderen‹ und die ›Jahreszeit‹ noch um die Kategorie

54 Jutta Goheen schreibt, allerdings nicht über dieses Dialoglied: »Nicht nur der Stil der Äußerungen, die anschauliche Direktheit und zuweilen deutliche Grobheit, sondern auch das Motiv der Auseinandersetzung zwischen Jung und Alt und der Unterhaltung der Freundinnen ist dem Minnesang der höfischen Zeit völlig fremd.« Jutta Goheen, Natur- und Menschenbild in der Lyrik Neidhart, in: PBB 94 (1972), S. 348–378, hier S. 359. 55 Minnesang des 13. Jahrhunderts [Anm. 53], Corpus Götfrid von Nifen, Lied XXX.

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des ›Irdischen‹ ergänzt werden; es geht um die sogenannten ›werltsüeze-Lieder‹. 56 Sie verschieben den Akzent in der Verwendung des Natureingangs von der Konkretisierung auf die Allegorisierung, indem sie mit der werltsüeze die allegorisierte Verführung durch die weltliche Verlockung thematisieren. 57 Auf diese Gruppe von Liedern trifft das Merkmal gerade nicht zu, das März der Verwendung des Jahreszeitentopos bei Neidhart zuweist, nämlich das der Unmittelbarkeit: Es handelt sich bei diesem poetischen Verfahren [dem Natureingang] nicht darum, erst die Natur vorzustellen und dann, in einem zweiten Schritt, die Gefühle zu benennen, die aus der saisonalen Gegebenheit entspringen [...]; vielmehr ist es die

56 Vgl. Ingrid Bennewitz und Ulrich Müller, Grundsätzliches zur Überlieferung, Interpretation und Edition von Neidhart-Liedern. Beobachtungen, Überlegungen und Fragen, exemplifiziert an Neidharts Lied von der ›Werltsüeze‹ (Hpt. 82,3 = WL 28), in: ZfdPh 104 (1985), Sonderheft: Überlieferungs-, Editions- und Interpretationsfragen zur mittelhochdeutschen Lyrik, S. 51–79. Dieser Aufsatz behandelt allein text- bzw. überlieferungskritische Fragestellungen, keine inhaltlichen oder gattungstypologischen. Horst Brunner behandelt die Gruppe der werltsüeze-Lieder in seiner Studie: Minnesangs Ende. Die Absage an die Geliebte im Minnesang, in: Durch aubenteuer muess man wagen vil. FS Anton Schwob zum 60. Geburtstag, hg. von Wernfried Hofmeister und Bernd Steinbauer, Innsbruck 1997, S. 47–59, neu abgedruckt in: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2008; Ingrid Bennewitz-Behr, »Fro welt ir sint gar hüpsch und schön.« Die ›Frau Welt‹-Lieder der Handschriften mgf 779 und cpg 329, in: JOWG 4 (1986/1987), S. 117–138 fokussiert, ähnlich wie Bennewitz/Müller [Anm. 56], primär textkritische Probleme bzw. Probleme der Echtheit. Heinz-Dieter Kivernagel, Die Werltsüeze-Lieder Neidharts, Diss. Köln 1970 plädiert, u. a. aufgrund von Ungereimtheiten und Widersprüchen innerhalb der Lieder, dafür, die werltsüeze-Lieder als Parodien aufzufassen: »Derjenige, der als das lyrische Ich dieser Lieder auftrat, mußte in seiner die eigentlichen Beweggründe [für die conversio] verdeckenden affektierten Gespreiztheit, in seiner die eigenen Worte relativierenden Widersprüchlichkeit lächerlich wirken. [...] Ist es nicht eher so, daß er [der Vortragende] sich als der vortragende Sänger von dem lyrischen Ich der Lieder dissoziierte, ironisch distanzierte, um dessen Unzulänglichkeit in der Form der Ethopoiie bloßzustellen?« Ebd., S. 148f. Kivernagel zufolge ist die Parodie von Neidharts werltsüeze-Liedern »gegen den gerichtet, der Weltabsagelieder in den konventionellen Formen und Floskeln dichtet, ohne daß sie echter Empfindung entstammen, der das traditionelle Schema lediglich als formale Einkleidung benutzt, ohne daß der es begründende Inhalt erfüllt ist.« Ebd., S. 200f. 57 Weshalb sie auch als eine »kleine Gruppe von Sommer- und Winterliedern, die ein moralisches Defizit der zeitgenössischen Gesellschaft geißeln«, wie Jutta Goheen in Neidhart: Sumers und des winders beider vîentschaft, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter [Anm. 2], S. 193–215, hier S. 200, definiert, nur unzureichend beschrieben sind. Gegeißelt wird die Lasterhaftigkeit der irdischen Welt als solcher, nicht eine spezifische Defizienz. Vgl. auch Wolfgang Stammler, Frau Welt. Eine mittelalterliche Allegorie, Freiburg 1959; Gisela Thiel, Das Frau-Welt Motiv in der Literatur des Mittelalters, Saarbrücken 1959.

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Natur selbst, die als Affektträgerin auftritt: Die ›Natur‹ freut sich, und als Naturgeschöpfe freuen sich mit ihr die Menschen. 58

Und: »Der Natureingang bei Neidhart beruht auf elaborierter und fein kalkulierter Variationstechnik. Er leitet nicht Darstellung einer Stimmung, einer jahreszeitbedingten seelischen Konstitution ein, er steht für sie ein.« 59 In den ›werltsüeze-Liedern‹ geht die Funktion des Natureingangs gerade nicht darin auf, Darstellung einer Stimmung z u s e i n . Neidhart verwendet den Jahreszeiteneingang hier weniger, um eine ›jahreszeitbedingte seelische Konstitution‹ zu repräsentieren, sondern um für seine Absage an das personifizierte Irdische anzuknüpfen an das V e r h ä l t n i s , in dem die von ihm betroffenen Menschen der Jahreszeit gegenüberstehen. Die werltsüeze-Lieder sind allesamt Winterlieder, doch die Merkmale des Winters treten hier zugunsten der vîentschaft nicht nur zwischen ihm und dem Sommer, sondern auch zwischen ihm und allen, die der Jahreszeit unterworfen sind, in den Hintergrund. Es geht nicht um Kälte, Schnee und entlaubte Bäume an sich, sondern um den Winter in seiner Rolle als unüberwindlicher Feind und Zerstörer aller Freude: Sumers und des winders beider vîentschaft kan ze disen zîten niemen understân. winder der ist aber hiwer mit sînen vriunden komen: er ist hie mit einer ungevüegen kraft; erne hât dem walde loubes niht verlân und der heide ir bluomen unde ir liehten schîn benomen. sîn unsenftikeit ist ze schaden uns bereit. sît in iuwer huote! er hât uns allen widerseit. Alsô hân ich mîner vrouwen widersagt (WL 34, Str. I,1–9, II,1) 60

Die kalte, feindliche Jahreszeit ist hier nicht, zumindest nicht nur, Spiegel des eigenen Erlebens, aber auch nicht Kontrastfolie, auf deren Hintergrund die ›Eigenzeit der minne‹ deutlich wird, sondern sie repräsentiert das Bedrohliche, Feindselige schlechthin. Bezug wird nicht mehr auf die Jahreszeit selbst genommen, sondern auf das Verhältnis, das sich zwischen ihr und den ihr Unterworfenen einstellt, also Feindschaft, Krieg, Kampf und Verteidigung. So wie zwischen Som58

Christoph März, Die Jahreszeiten der Sentimente. Zum ›Natureingang‹ in den Liedern Neidharts, in: Deutsche Literatur und Sprache im Donauraum, hg. von Christine Pfau und Kristyna Slámová, Olomouc 2006, S. 221–236, hier S. 228. 59 Ebd., S. 231. 60 Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgef. von Hanns Fischer. Vierte Auflage, rev. von Paul Sappler, Tübingen 1984.

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mer und Winter erbitterte Feindschaft besteht und so wie unversöhnlicher Krieg zwischen diesem und ›uns allen‹ herrscht, so verhält es sich auch zwischen dem Lied-Ich und seiner Herrin, von der wir später erfahren, dass es sich bei ihr um die werltsüeze handelt. Kontextualisiert wird die Liedaussage also über den Natureingang nur noch bedingt, er leitet eher Exempel von widersagen ein – und widersagen ist das Thema der werltsüeze-Lieder. Die Jahreszeit selbst und die Spuren, die sie in der Natur zeichnet, können hier gar nicht mehr den eigentlichen Bezugspunkt für das klagende und anklagende Ich abgeben, denn die Aussagen, die es trifft, sind ja die der Welt-Abkehr. 61 Deshalb ist die Natur nur noch erster Ausgangspunkt, der im Laufe der Entwicklung der Liedaussage sukzessive überstiegen wird, denn letztlich gehören Winter wie Sommer, Schnee wie Laub, Schlittenfahrten wie Vogelsang gleichermaßen zu dem, dem der Sänger widersagt, nämlich dem Diesseits. Deshalb ist auch der Vergleich zwischen der Fehde zwischen dem Winter und uns allen sowie dem Sänger und der werltsüeze ein zutiefst hintersinniger. Denn bezeichnenderweise setzt dieser Vergleich den Sänger in die Position des menschenfeindlichen Winters: So wie dieser uns allen widerseit hât, so hat es der Sänger mit seiner Herrin getan. Mit seinem ›alsô‹ (er hât uns allen widerseit. / Alsô hân ich mîner vrouwen widersagt) ordnet er sich selbst in seinem Bezug auf die Dame jene Attribute zu, die der Winter als Feind und Gegner des Menschen besitzt: Er ist hie mit einer ungevüegen kraft, er ist unbesiegbar und er hat vriunde, die ihn bei seinem Kampf gegen den Sommer unterstützen, deshalb ist seine unsenftikeit [...] ze schaden uns bereit. Das aber muss, wenn der Sänger die Position des Winters besetzt und die befehdete Dame denjenigen, denen Fehde angesagt wird, also ›uns allen‹, entspricht, über den Sänger selbst gesagt sein. Der Sänger bekämpfte sich, wo er sich mit dem Winter identifiziert, der ja ›uns allen‹, also auch dem Sänger, Schaden zufügt, gleichsam selbst. Lässt sich darin aber irgendein Sinn erkennen? Diese Überlegung verliert einiges von ihrer Abwegigkeit, wenn ein weiteres werltsüeze-Lied zum Vergleich herangezogen wird, nämlich WL 30, in dem das 61 Die Kontroverse, die in der Forschung bezüglich der Frage geführt wird, wie ›ernsthaft‹ oder ›parodistisch‹ diese Weltabsage ist, kann ich hier nicht in meine Argumentation einbeziehen. Ich möchte es bei dem Hinweis belassen, dass die Alternativen (Ernsthaftigkeit vs. Parodie) zu Simplifizierungen zwingen, die den Liedern Neidharts kaum gerecht werden dürften. Vielmehr wäre zu überlegen, ob es Formen von Parodie gibt, die dem, was sie parodieren, seine Ernsthaftigkeit nicht absprechen und umgekehrt ernsthafte Aussagen, die den Spielraum für Selbstparodierung als zusätzliche Möglichkeit offen halten. Für meine Argumentation glaube ich mich zwischen diesen Optionen nicht festlegen zu müssen. Wenn ich mich auf einzelne Aussagen innerhalb der werltsüeze-Lieder beziehe, ist die Frage, ob sie einen Hintersinn besitzen, dadurch nicht beantwortet und dazu auch keine Stellung genommen.

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Ich darüber klagt, dass bî der werlde niemen lebet sünden vrî. (WL 30, Str. II, 4) Deshalb wiederholt das Ich seine Klage, diech durch bezzerunge mînen lieben vriunden hân geseit. (WL 30, Str. II, 2) Seine Klage ist also zumindest auch Anklage, die sich an die vriunde, also wieder ›uns alle‹, mithin also auch an das Ich selbst richtet, das seiner Verfehlungen wegen in riuwen baden (WL 30, Str. III, 1) sollte. Genau das meinen die werltsüeze-Lieder, wenn sie das widersagen thematisieren: Dass sich selbst bekämpfen muss, wer sich von den diesseitigen Verlockungen freimachen will. Die starren Dichotomien von Herr und Diener, alt und jung, klug und töricht, von innen und außen, von Natur und Mensch beginnen sich dort zu verwischen, wo sich der Mensch als Teil einer Natur erlebt, die ihrerseits Teil jenes Diesseits ist, das es zu fliehen gilt, weil der Werlde holden alle tôren sint (WL 30, VI, 4), oder wenn er gar erkennt, dass er einen Teil seiner selbst bekämpfen muss, weil er als sündig erkannt worden ist. 62 Die Jahreszeit ist trügerisch in ihrer Schönheit und ihrem Wandel; Natur kann über diese Eigenschaft der Unbeständigkeit und der Verursachung von Leid personalisiert und zum Ziel von Schuldzuweisung werden: bluomen schîn und vogele singen ist nu gar zergân: sî sint beidiu missevar. seht an ir getreide! daz ist allez von dem leiden rîfen kalt. manic herze muoz von sînen schulden vreude lân. (WL 12, I, 4–8)

bluomen unde loup / was des rîfen êrster roup (WL 25, II, 7f.), Rôsen ist diu heide blôz / von des rîfen twange. (WL 19, II, 1f.) Auch hier geht es nicht mehr allein um eine Darstellung der Merkmale der winterlichen Natur, auch nicht um deren Entsprechung in der Gemütslage der Menschen. Es geht um Verantwortung und Schuld für Zerstörung und Unglück. An diese gemeiniu klage über den Winter schließt sich im WL 30 nun das Ich mit seiner Klage über die Sündhaftigkeit der Welt an:

62 So gesehen ist die Analogisierung zwischen Sänger und Winter weniger abwegig als Kivernagel meint, der u. a. auf die vermeintliche Unsinnigkeit seine These von der Parodie gründet, die in den weltsüeze-Liedern angelegt sei: »Diese sprachliche Gleichsetzung verkehrt aber den eigentlichen Inhalt des Vergleichs. Dieser meint nämlich nicht, daß der Ritter seiner ›vrouwe‹ [...] wie der Winter dem Menschen entgegengetreten sei, sondern: Wie der Winter durch die Verletzung der leuchtenden Pracht der sommerlichen Natur die seelische Stimmung der Gesellschaft bedrückt habe, habe die Dame den um sie werbenden Ritter verletzt, indem sie seinen Dienst nicht gerecht belohnte. [...] Die Gestaltung der Verse drückt den beabsichtigten Sinn nicht aus, die logische Richtigkeit scheint um des sprachlichen Spiels willen aufgegeben zu sein.« Kivernagel [Anm. 56], S. 128. Vgl. zu diesem Lied auch Goheen [Anm. 54], S. 375f.

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Sô nimt lîhte iuch wunder, waz diu klage sî, diech durch bezzerunge mînen lieben vriunden hân geseit. ich wils iuch bescheiden, daz ir sprechet: ›ez ist wâr!‹ bî der werlde niemen lebet sünden vrî. (WL 30, II, 1–4)

So wie allez, daz den sumer her mit vreuden was, nun Klage über den Winter führt, so klagt der Sänger über die Sünder. Und so wie alle dem Winter die Schuld dafür zuweisen, dass diu heide val ist, so gibt er ihnen die Schuld daran, dass es ie lenger sô ie boeser in der kristenheit wird. Doch um einen bloßen Vergleich zwischen dem zerstörerischen Winter und der Lasterhaftigkeit der Welt geht es nicht, vielmehr wird deutlich, dass die, welche den sumer her mit vreuden waren und nun Klage gegen den Winter führen, eben jene sind, deren Sündhaftigkeit der Sänger meint, wenn er feststellt, dass bî der werlde niemen lebet sünden vrî: Nicht der Winter also wird beklagt, sondern die Sünde, deren sich jeder, auch der Sänger selbst, schuldig macht. Der Winter herrscht gleichsam ›in‹ denen, die hier genannt werden, nicht in der Natur, die sie umgibt. In Neidharts werltsüeze-Liedern wird also erstmals eine dynamische Verknüpfung vorgenommen zwischen Jahreszeit, Natur, Diesseits und Ich, wobei das textinterne Ich hier bereits in sich differenziert ist. Es bildet nicht nur ein Innen, das entweder mit der jahreszeitlich gezeichneten Natur übereinstimmen oder konfligieren kann, sondern besteht selbst aus konfligierenden Teilen, die ihrerseits vom Wechsel der Jahreszeit gespiegelt werden. Diese Spiegelung bleibt nun aber textintern. Das, was die werltsüeze-Lieder thematisieren, der Wechsel, kann – anders als die Zeichen einer Jahreszeit wie fallendes Herbstlaub oder Schnee – nicht mit außertextuellen Faktoren in Übereinstimmung gebracht, nicht durch sie kontextualisiert werden. Das liegt nicht nur daran, dass sich der Wandel anders als der Zustand nicht visualisieren lässt, sondern auch daran, dass der Gegenstand des Liedes nun ein allegorischer ist: Der Wind ist nicht bitter wie die Tränen, die das Ich einer hartherzigen Dame wegen vergießt, sondern er ist Gefolgsmann einer personifizierten Natur, die zutiefst zwiespältig ist. Auch hier schließt der allegorische Natureingang das Lied nicht an die Gegebenheiten der Vortragssituation an, sondern von ihr ab. Der gesangliche Vortrag eines solchen Liedes vor Publikum kann deshalb keine zusätzliche Bedeutung mehr gegenüber der Lektüre produzieren. Kontextualisierung findet nicht mehr statt, denn was beschrieben wird, lässt sich an der Natur nicht mehr veranschaulichen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass der Natureingang in den werltsüeze-Liedern bereits nicht mehr genutzt wird als »(rhetorische) Möglichkeit der Kontaktaufnahme von Sänger und Publikum und [...] gleichzeitig [als] Signal für außerliterarische Gegebenheiten, an denen Sänger und Publikum hic et nunc partizi-

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pieren.« 63 Das Gegenteil ist der Fall: Der Natureingang verschränkt Liedaussage und Vortragssituation nicht, sondern dient einer Allegorisierung, die die Aufmerksamkeit von der textexternen Jahreszeit und der Natur ablenkt: Der Rezipient der weltsüeze-Lieder soll seinen Blick nicht über schneebedeckte Zweige und Eiszapfen an den Dächern gleiten lassen, die die Thematik des Liedes konkretisieren und veranschaulichen, sondern die Aufmerksamkeit von der unbeständigen und launischen Natur auf das ewig Unbewegte richten. 64 Wenn der Liedeingang ein Jetzt (nu) benennt, das als Sommer oder Winter konkretisiert wird und auf die der Jahreszeit zugeordneten Requisiten und Erfahrungstypen weist, dann wird der Zeigegestus auf eine Welt, die den Hörern wie dem Vortragenden gleichermaßen präsent ist, als ein rein fiktiver vorgeführt. Er appelliert nicht an die allen präsente alltagsweltliche Erfahrung, sondern an die Imagination. Dem Jahreszeitentopos geht, indem er Basis typenmäßiger Differenzierung des Liedcorpus wird, der alltagsweltliche Referenzbezug verloren. Indem Neidhart sein Oeuvre dem jahreszeitlichen Rhythmus zu unterwerfen scheint, pointiert er dessen Kunstcharakter. 65

Die Möglichkeit, die Darstellung der Jahreszeit zu allegorisieren, wird in der weiteren literarhistorischen Entwicklung des Natureingangs von nun an stets mitschwingen. Damit ist nicht nur seine inhaltliche Neuausrichtung verbunden, sondern möglicherweise auch ein Hinweis auf mediale Verschiebungen gegeben. Denn ein allegorischer Jahreszeitenwechsel, ein ›innerer Winter‹, der einen ›inneren Sommer‹ verdrängt, kann sich nicht mehr über einen deiktischen Hinweis auf die Vortragssituation beziehen, weil es hier nicht mehr um Gegenständliches, sondern um die Dynamik des widersagens, des Aufbegehrens gegen die falschen Verlockungen der Welt geht. Deshalb ist für diese Lieder der Begriff des Natureingangs streng genommen nun falsch gewählt, denn nicht Natur bildet ihren Gegenstand, sondern der (allegorische) Wechsel der Jahreszeiten.

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Bein [Anm. 17], S. 222f. So auch Goheen: »Wenn diese Lieder [die werltsüeze-Lieder] zunächst die charakteristische Klage über die Veränderungen, die der Winter bewirkt, anstimmen, die dann aber von der Klage über bedauerliche Veränderungen im menschlichen Bereich übertönt wird, so entwertet dies wohl nicht die Winterklage, sondern stuft die Wirkung natürlicher Veränderungen gegenüber den ›unnatürlichen‹ ab. Der stärkere elegische Ton ist von der ausdrücklich didaktischen Absicht des Sängers bestimmt. Der Sänger will Besserung erreichen, d. h. die Aufmerksamkeit auf das, was Bestand hat, das Ewige, lenken.« Goheen [Anm. 54], S. 371. 65 Müller [Anm. 16], S. 35. 64

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Konrad von Würzburg, ›Jarlanc scheiden wil diu linde‹: Die Wechselhaftigkeit der Natur Ob die Verwendung des Jahreszeiteneingangs als Einleitung einer Klage über die Vergänglichkeit bei Konrad von Würzburg von Neidhart angeregt ist, ist unklar. Unbestreitbar aber ist, dass Konrad von Würzburg einen entscheidenden Schritt über Neidhart hinaus geht, indem er die Dame nicht mit dem Diesseits, sondern mit der Natur und ihrer Wechselhaftigkeit in Verbindung bringt. Die Jahres z e i t wird hier dem Jahreszeiten w e c h s e l gegenüber noch stärker marginalisiert als es bei Neidhart der Fall gewesen war. Ich zitiere die zweite und die dritte Strophe von Konrads ›Jârlanc scheiden wil diu linde‹: Ich gelîche mîne frouwen sicherlîche rôsen in den ouwen, die der liehte meie lât Wünneclîche dâ betouwen und in rîche varwe gît durch schouwen, diu doch schiere ein ende hât. Reht als der bluomen schîn Vor dem walde wirt gevelwet, alsô balde trüebet unde selwet sich diu liebe frouwe mîn. Ir vil süeze werde minne leiden müeze mir noch ûze und inne, sô daz si ze keiner stunt Trûren büeze mînem sinne! wand ir grüeze tuont mit ungewinne mich an wernder fröude wunt. Ir lôn ist jâmers vol Und ir ende trûric sêre. missewende bieten kan ir lêre. wê daz ich ir dienen sol! 66

Die entscheidende Differenz zum konventionellen Frauenpreis, der die Dame mit dem Frühling und seiner Pracht vergleicht, besteht darin, dass die schöne Jahreszeit hier bereits nicht mehr statisch, sondern bereits zyklisch und saisonal gedacht wird. Thematisiert wird nicht der Frühling, sondern die Wechselhaftigkeit der Natur an sich. Damit aber ist die gesamte Semantik des Vergleichs gegenüber der Darstellung einer Jahreszeit, so wie sie im hohen Minnesang verwendet wird, verschoben. Denn die Dame ist nicht allein schön wie der Mai, sondern auch so vergänglich wie die flüchtige Episode des Frühlings. Natur bedeutet hier nicht Vitalität und Jugend, sondern Hinfälligkeit, Vergänglichkeit und Unbeständigkeit. 66

Aus: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters [Anm. 8], S. 268–270.

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Während in der zweiten Strophe die konventionelle Analogie zwischen dem Glück spendenden Frühling und der Dame hergestellt wird, nimmt die dritte Strophe die Anspielungen auf die Vergänglichkeit der Blumenpracht und die Vergänglichkeit der Dame auf und entwickelt sie weiter. Weil ihr lôn nur Schmerz und Leid zur Folge hat, sehnt das Lied-Ich die eigene Gleichgültigkeit gegenüber den Reizen der Dame herbei. Noch deutlicher werden die letzten vier Verse. Beklagt werden nicht die Grausamkeit der minne-Herrin, ihre Ablehnung und Unerbittlichkeit, sondern das Wesen ihres Lohnes und ihre lêre. Beides führt nicht durch das Leid zu hôhem muot, sondern zu missewende. Von dieser Aussage her wird die anfängliche Analogisierung der Dame mit den rôsen in den ouwen, deren rîche varwe jedoch schiere ein ende hât, zu einem deutlichen Hinweis, dass die Dame auch hier als Allegorie, jedoch weniger des Irdischen als vielmehr der Natur selbst, zu verstehen ist. Anders als bei Neidhart ist sie hier nämlich nicht primär über ihre Lasterhaftigkeit, sondern über ihre Unbeständigkeit bestimmt. Der dienst, den das Ich ihr leistet, ist kein minne-Dienst, auch wird der lôn ihm nicht vorenthalten, sondern gewährt. Doch der elegische Grundton der Resignation liegt auch hier vor, denn der lôn ist jâmers vol. Der dienst, den das Ich im letzten Vers verwünscht, ist sein Unvermögen, sich von ihr frei zu machen: »erst die dritte Strophe macht endgültig klar, daß die frouwe niemand anderes sein kann als Frau Welt: Ir lôn ist jâmers vol – so wörtlich auch in Konrads Erzählung ›Der Welt Lohn‹.« 67 Frauenlob, ›Daz leben ist ûf der neige‹: Die Gebrechlichkeit der Welt Etwas anders akzentuiert Frauenlob in einer Spruchstrophe, die die Vergänglichkeit der Welt aus deren eigener Perspektive heraus entwickelt: Daz leben ist uf der neige, die werlt ist uf den herbest komen. die glanzen blumen bleichen, ir schöne, ir smac ist in benomen, der boume loub daz riset nider, die winde [...] wen, varen mit gewalt. Die sunne ist uf der seige. ›wol an, die sniter müzen abe.‹ ›waz lones welt ir in reichen?‹ ›darnach der man verdienet habe. 67 Burghart Wachinger, Die Welt, die Minne und das Ich. Drei spätmittelalterliche Lieder, in: Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200–1500, hg. von James F. Poag und Thomas C. Fox, Tübingen 1989, S. 107–118, hier S. 110.

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swaz von mir quam, nim ich wider. sin lon, sin recht, sin art ist wolgestalt: Sin lip, sîn guot mir blibet; mit we man zu mir wirt geborn, mit we man von mir tribet [...]. 68

Zwei Stimmen sprechen hier; wie sich die Verse auf sie verteilen, ist schwer zu bestimmen, die Anführungszeichen der Herausgeber sind Interpretationen. Unzweideutig ist die Stimme der Frau Welt von Vers 10 an. Sie fordert, wenn der Mensch die Welt verlässt, alles, was er von ihr erlangt hat, zurück: Abstammung, Ruhm, den Leib. Nur das, was der Mensch sich (bei Gott) selbst und unabhängig von ihr erworben hat, bleibt ihm als Verdienst auch über den Tod hinaus. Gesprächspartner der Welt ist derjenige, der sie mit der Frage anspricht, waz lônes welt ir in reichen? Dass auch die kosmologische Vision der sich dem Winter, dem Ende zuneigenden Welt von diesem Fragenden gesprochen wird, ist wahrscheinlich, mag aber dahin gestellt bleiben. Hier scheint jede Unterscheidung in Jahreszeit, Natur und Welt aufgehoben: 69 Die Jahreszeit ist die Natur, die Natur ist die Welt in ihrer Gesamtheit, und in ihrer Gesamtheit ist diu werlt ûf daz herbest komen. Die Jahreszeit ist hier nicht länger flüchtige Phase, Episode, die über die Welt hinzieht, ohne sie zu ergreifen, sondern Ausdruck ihrer innersten Verfassung. Rhythmus und Saisonalität scheinen außer Kraft gesetzt. Dass auf diesen apokalyptischen Welt-Herbst ein neuer Frühling folgen könnte, ist schwer vorstellbar. Dieser Herbst ist nicht ›Jahreszeit‹ wie im Winterlied des hohen Minnesangs, er ist vielmehr Ausdruck der Gebrechlichkeit einer Welt, die dem Untergang geweiht ist; selbst diu sunne ist ûf der seige. 68 Frauenlob (Heinrich von Meißen), Leichs, Sangsprüche, Lieder. 1. Teil: Einleitung, Texte. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau, Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 119), VII (Grüner Ton), 30. Susanne Köbele [Anm. 16] hat sich in ihrer Monographie zu Frauenlob ausführlich mit der ›Transformation des Natureingangs‹ beschäftigt (S. 47–116) und dabei die Beziehungen zu Neifen, Mügeln und Konrad von Würzburg unterstrichen. Eine angemessene Auseinandersetzung mit ihren Ergebnissen kann hier nicht unternommen werden und darf – wie ich meine – ausbleiben, weil Köbele den Natureingang in Frauenlobs Minneliedern untersucht. Zur Verwendung der Todesmotivik in einem dem Minnesang Frauenlobs zugerechneten Lied (Lied 4) vgl. Manfred Eikelmann, Ahi, wie blüt der anger miner ougen. Todesmotivik und Sprachgestalt in Frauenlobs Lied 4, in: Cambridger ›Frauenlob‹-Kolloquium 1986 [Anm. 6], S. 169–178. 69 Hier gilt, was Köbele über den Natureingang in Frauenlobs Minneliedern schreibt: »Bei Frauenlob ergibt sich ein Standpunkt jenseits von Analogisierung (Innen-Außen), jenseits von zeitlicher Abfolge (Winter-Sommer, Freude-Leid) und eindeutiger Ebenenhierarchisierung (›wie‹-›so‹, geistlich-weltlich), mit dem Effekt raumzeitlicher Diskontinuitäten. Frauenlob hebt [...] die Aufmerksamkeit von einer Vordergrundhandlung weg in ein inneres Geschehen.« Köbele [Anm. 16], S. 113, Hervorhebungen im Original.

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Bemerkenswert ist allerdings, dass der Welt hier zweierlei Rollen zukommen: Sie kommentiert die Vergänglichkeit des Menschen und ist ihr selbst unterworfen. Es ist also von zweierlei Sterben die Rede: Nicht nur der Mensch stirbt, auch die Welt selbst ist in Agonie begriffen. 70 Doch während seinem Sterben das Ziel der Erlösung und Gnade gesetzt ist, eines, dem sich ein neues, ewiges Leben anschließen kann, sofern er sich um himmlischen Lohn bemüht hat, ist ihres ein unwiderruflich irdisches und unerlöstes. Die Farblosigkeit der Blumen, die Duft und Schönheit verloren haben, das Laub, das von gewaltig brausenden Winden aus den kahlen Bäumen geschüttelt wird, die sich neigende Sonne, all diese Bilder beschwören eine Apokalypse, aus der die Welt im Gegensatz zum Menschen nicht als verklärte hervorgehen kann. Im Gegensatz zu ihm ist sie ganz und gar sterblich. In vielen contemptus-mundi-Jahreszeitenliedern wird der Welt nun nicht das Merkmal der Wechselhaftigkeit zugewiesen, sondern das der Gebrechlichkeit; wie der Mensch wird sie alt, ohne sich je wieder verjüngen zu können. In einem Spruch Muskatbluts heißt es im Anschluss an eine konventionelle Frühlingsbeschreibung mit Spaziergangsmotiv, das mit Vogelgesang die erste Strophe abschließt, völlig unvermittelt: Ich hielt also. da wart vnfro daz myn gemuote, des meyes guote bracht mich zuo grossem leide. Da ich bedacht, wie dag vnd nacht nympt abe vnd zuo; ich han keyn ruo vnd weis nit wan ich scheide. Schauwe wie der baum so lustich stat bis er syne zit folbringet; schau wie es im dar nach ergat so in der winter twinget. sin laub wirt fal vnd riset zuo dal, es nyget sich gen dem sterben. 70 Die Suggestion eines zweifachen Sterbens, des Menschen wie der Welt, findet sich auch in folgender Liedstrophe aus dem um 1300 entstandenen Cpg 350: »So we dir werlt daz ich / dir niht entrinnen mac. so / wandelbere als ich dich vinde / ich solte dir wol urlop geben. / waz hilfet mich daz ich din / ie so schone pflac. ich wart / durch wirde din ingesinde. / nu swachest v n s e r b e i d e r l e b e n . / Du eres den der dich vnert. / vnd vbersihst an eren den der / dich wol eren kan. wer hat / dich disen ualsch gelert. der / tviuel der dir eren niht engan. / des wirt sin lop an dir gemêrt. / wan dv im eres sinen man.« Mittelhochdeutsche Spruchdichtung, früher Meistersang. Der Codex Palatinus Germanicus 350 der Universitätsbibliothek Heidelberg, hg. von Walter Blank, 2 Bde., Wiesbaden 1974, Bd. 2 ›Beschreibung der Handschrift und Transkription‹ von Günther und Gisela Kochendörfer, Lied 229, Abkürzungen aufgelöst. Zum Vergleich der Lesarten in A und C vgl. KLD 62 ›Walther von Mezze‹, VI, 4.

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so ist dir mentsche ouch wile; du hast der dugend ast so bistu fro; dir geschit also, der dot wirt vmb dich werben! (Muskatblut 82, II) 71

Das ist eine bemerkenswerte Umcodierung der Natur, die hier ihrer Zyklizität und damit ihrer Regenerationsfähigkeit vollständig beraubt wird und dem menschlichen Schicksal des Todes entgegensieht. Auch sie hat – wie der Mensch – ›ihre‹ Zeit, die abläuft. Das ewige Wechselspiel von Entstehen und Vergehen wird nicht mehr der Natur zugebilligt, sondern nur noch der Zeit, die hier aber gerade nicht als Teil der belebten Natur verstanden wird, sondern gleichsam über die sterbende Natur hinwegzieht. Diese nimmt die Gestalt des Baumes an, dessen Blätter im Herbst abfallen und vergehen. Die Natur hört hier auf, Natur zu sein, sie wird zum Mitgeschöpf, das das Schicksal des gebrechlichen Menschen spiegelt und teilt. Doch dieses Schicksal ist nicht mehr das eines textinternen Ich, sondern eines, das die gesamte Menschheit teilt, das ›den Menschen an sich‹ betrifft. Michel Behaim, ›Meinz hercz wart mir erfraut‹: Naturschönheit als Täuschung Vollender einer solchen Anthropomorphisierung der Natur, die dem Menschen in ihrer Todgeweihtheit angeglichen wird, ist Muskatbluts später Zeitgenosse Michel Beheim. Er knüpft an dem Aspekt einer todgeweihten und unerlösten Natur, wie sie bereits Konrad von Würzburg und Muskatblut entworfen hatten, mit einigen Naturliedern 72 im Hofton an, beispielsweise mit ›Mein hercz wart mir erfraut‹. Die Thematik dieses Liedes wird in der Heidelberger Handschrift explizit gemacht. Die Überschrift im Heidelberger cpg 334 (Wien 1457–58), Seite 351 ra–b lautet: Dis sagt von des maien zird und perurt der welt zergenklichkait.

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Mein hercz wart mir erfraut durch des maien pegrune und durch des sumers wunne. in der lieplichen zeit Da stund der anger weit gar reilichen geziret, spehlichen durch musiret. gar lustiglichen was Das kraut und grune gras durch dises maien krafft

Lieder Muskatblut’s, hg. von E. Groote, Köln 1852 (Reprint München 1990), S. 213. Die Bezeichnung ›Lied‹ orientiert sich an der Begriffsverwendung Ulrich Müllers im 2VL 1 (1978), Sp. 672–680. Gille und Spriewald [Anm. 73] schreiben von ›Gedichten‹. 72

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mit weher maisterschafft auff durch die haid getrungen. die plumen worn entsprungen, veiol und rasen, cle 15

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Und ander plumen me. die pam stunden in plüten mit lustiglichen fluten, dar zu so stund der walt In zirhait manigvalt. man sach daz lavb auss tringen und hart die vagel singen, ir frouden reicher schal Hal uber perg und tal. dy zeit waz lustigleich und aller fröden reich mit senffteglichem winde, mit süsser sunnen linde in grosser wunn und fröd. Der arge winter schnöd hat uns daz als zerstöret, mit seiner kelt erfröret mit reiffen, eis und schne. Das grun gras und den cle all plumen, veiel, rosen, paid lilgen und zeitlosen hat er gemachet val. Cal so sten uber al die pom klain und ach grass, der walt stet labes lass. die zarten nachtegallen die hart man nümen schallen, sie lept in laid und traur. Die wind sein worden saur. die zeit ist arg und piter vor kelt und ungewiter. dez winters gross unwird Hat uns des maien zird, sein wunnigliches glencze und alles sein gepflencze genczlich gefuret hin. In dem prüf ich den sin, das mich die frode mein und ach des maien schein genczlichen hat petrogen,

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verfuret und gezogen hin in die irrung wust. Des kurczen maien lust, die dunken mich geleiche dem irrdenischen reiche, daz ist zergenglich ding. Auff diser erden ring ist kain weslich pestane. wann es muss als zergane, des jungsten tages dart Vart wurt es als zerstart. du irdenischer mensch, pedenk daz oberlensch, wann hie ist kain genesen! sich an daz ewig wesen das ummer ewig ist! 73

Genau bis zur Mitte des Liedes bezieht sich die Aussage auf die Vergangenheit, der Text beginnt als Erzählung und behält das Präteritum bis zum Vers 36 bei. Von nun an wird die Aussage in die Gegenwart verlegt. Während in der zweiten Strophe die pam stunden in plüten mit lustiglichen fluten, dar zu so stund der walt Jn zirhait manigvalt (V. 16–19)

so heißt es nun Cal so sten uber al die pom klain und ach grass, der walt stet labes lass. (V. 37–39)

Aus dieser Gegenwart der Beobachtung heraus werden die Jahreszeitenmerkmale immer abstrakter. Beginnt die Darstellung im Präsens noch mit Hinweisen auf das, was gesehen werden kann wie das Wachstum der Natur, gehört wie der Vogelgesang und empfunden wie die sanften Sommerwinde, so schließt sich daran die Klage über laid und traur der Nachtigall an, die man nicht mehr singen hört. Kann man diesen Hinweis auf das Fehlen des Vogelgesanges noch als deiktischen Hinweis auffassen, gilt das für die folgenden Verse nicht mehr. Denn nun ist von 73 Die Gedichte des Michel Behaim. Nach der Heidelberger Hs. Cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. Cpg 312 und der Münchener Hs. Cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften, hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald, Bd. 2 (Gedichte 148–357), Berlin 1970 (DTM 64), Hofweise Nr. 353.

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den Winden die Rede und von der Zeit ganz allgemein, die der Kälte wegen arg und piter ist. Die Jahreszeitenbeschreibung endet mit der Erinnerung an das Abwesende, an des maien zird, die vom Winter zerstört worden ist. Nichts von dem, was hier gesagt wird, ist anschaulich oder konkret, der Übergang von der Anschaulichkeit, etwa der blühenden Bäume in die Ungegenständlichkeit der großen unwird (V. 46) ist merklich vorbereitet und wird dazu genutzt, die Analogisierung zwischen Frühlingswonne und dem irdischen Leben einzuleiten, die schließlich explizit gemacht wird mit den Worten: Des kurczen maien lust, die dunken mich geleiche dem irrdenischen reiche, daz ist zergenglich ding. (V. 57–60)

Der Winter ist hier keine Jahreszeit mehr, keine Episode oder Phase, die durch den Sieg des Frühlings beendet wird, sondern das eigentliche, tiefere Wesen einer vergänglichen Welt. Angesichts des Ewigen Lebens rückt die Idee einer einerseits unschuldigen und andererseits den Jahreszeiten unterworfenen Natur zusehends in weite Ferne. Die Räume, von denen in Beheims Lied die Rede ist, haben denn auch mit Natur oder Jahreszeit kaum noch etwas zu tun, denn das Grundprinzip der Jahreszeit, nämlich der Wandel, ist hier nicht mehr Naturgesetz, sondern Indikator von Hinfälligkeit und Vergänglichkeit. Nicht der Mensch ist der Jahreszeit unterworfen, vielmehr wird des kurczen maien lust (V. 57) selbst als zergenglich ding (V. 60) denunziert. Zwar kann sich die Natur, von der das Lied seinen Ausgang nimmt, nach dem Winter wieder neu beleben, doch auch diese Regeneration ist von der Erwartung des jungsten tages (V. 64) überschattet. Angesicht seiner Unausweichlichkeit des Todes kann es keine wirkliche Regeneration geben, jeder Frühling kann nur wiederholte Täuschung sein oder Ablenkung von der Vorbereitung auf das Ewige Leben. Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt vom Jahreszeitentopos im hohen Minnesang über die Allegorisierung des Diesseits in den Winterliedern Neidharts und Konrads Fokussierung der Unbeständigkeit der Natur zu Frauenlobs Vision einer todgeweihten irdischen Welt, die den Hintergrund abgibt, vor dem die Erlösungsfähigkeit des Menschen sich plastisch abhebt. Mir ging es bei diesem Stationenweg der Jahreszeiten- und Natureingänge vor allem darum, auf die Veränderungen in der Inszenierung von ›Natur‹ hinzuweisen: Im hohen Minnesang kann der Jahrezeiteneingang zur Kontrastierung, Überbietung, Verkehrung oder Substitution herangezogen werden, dazu also, das eigene durch minne verursachte Leid des textinternen Ich im Verhältnis zur jahreszeitenbedingten Klage oder

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Freude der ›anderen‹ zu artikulieren. Gerade dadurch aber ist der Bezug zwischen Jahreszeit und minne – wenn auch über die Vermittlung durch das Verhältnis, in dem die ›anderen‹ zur Jahreszeit stehen – gewährleistet. Der Hinweis auf Sommer oder Winter ist hier also stets auf das textinterne Ich bezogen, weswegen dieser Bezug durch die Analogie zwischen der textinternen und der textexternen Jahreszeit als Strategie der Konkretisierung der Liedaussage verstanden werden kann. Im Minnesang des zweiten Viertels des 13. Jahrhunderts löst sich der Jahreszeiteneingang von seinem engen Bezug auf die minne-Thematik und erweitert seine Funktion, den Zustand des textinternen Ich zu kontrastieren, zu überbieten, zu verkehren oder zu substituieren: Der Wechsel von Winter zu Sommer kann nun etwa dazu herangezogen werden, das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter zu veranschaulichen und zu konkretisieren. In dem Maße, in dem der Jahreszeiteneingang jedoch aufhört, »die äußere Welt, die das ›Innen‹ des werbenden Ichs bestätigt oder kontrastiert« 74 , zu thematisieren, wird auch die ›äußere Welt‹, in der das Lied zum Vortrag kommt, gleichgültig. Mehr noch: Ob das Lied überhaupt zum Vortrag kommt oder nicht, ändert an seiner Aussage nichts. Besonders deutlich wird das an den allegorischen werltsüeze-Liedern Neidharts. Da es ihnen gar nicht mehr um die Jahreszeit selbst geht, sondern eher um die Kriegsmetaphorik, die sie aus dem Verhältnis ›aller‹ zum Winter gewinnen, der mit seinem Gefolge Blumen und Vogelgesang befehdet, ist der Bezug auf die Jahreszeit der Vortragssituation hinfällig, denn die Jahreszeit der werltsüeze-Lieder ist eine allegorische. Diese Tendenz des Natureingangs zur Abstrahierung von der konkreten Jahres z e i t l i c h k e i t zu einzelnen ihrer Aspekte – zumeist der Unbeständigkeit oder Vergänglichkeit – dominiert die nächsten Jahrzehnte. Frauenlob etwa löst sich »vom Jahreszeitenbild als ›Stimmungsträger‹«. 75 Streng genommen haben viele Lieder nun gar nicht mehr Winter oder Sommer zum eigentlichen Gegenstand, sondern nur noch den Wechsel, der die gesamte Natur dominiert, oder deren Kreatürlichkeit. Bei Behaim schließlich ist die Jahreszeit nicht mehr umgebender ›Raum‹, nicht mehr anschauliche und von allen geteilte Um-Welt, die in einem spezifischen Verhältnis zur Befindlichkeit des textinternen Ich steht, indem es diese spiegelt oder kontrastiert. Ganz im Gegenteil wird sie als trügerisch und bedrohlich erlebt; es gilt folglich, sich von ihr frei zu machen, sie zu überwinden. Der Jahreszeiteneingang verliert seine Jahreszeitlichkeit, der Natureingang meint nur noch eine allegorische Natur – und entsprechend streifen diese Texte auch ihre Situativität ab. Der Raum, in dem sie ihre Bedeutung entfalten, ist kein 74 75

Müller [Anm. 16], S. 46. Köbele [Anm. 16]. Köbele zitiert Mohr [Anm. 51], S. 207.

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von einem Publikum geteilter mehr, sondern einer, der ihnen inhärent und deshalb jedem Leser allerorts verfügbar ist. Ihre Verwendung des Jahreszeiteneingangs ist eine entzeitlichte und mithin eine, die bereits eine »zerdehnte Kommunikation« 76 vollzieht.

76 Konrad Ehlich, Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung, in: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, hg. von Aleida Assmann, Jan Assmann und Christof Hardmeier, München 1983, S. 24–43, hier S. 32.

Lechts und rinks … Kulturelle Semantik von Naturtatsachen im höfischen Roman von Elisabeth Schmid, Würzburg

Daß die mittelalterlichen Weltkarten geostet sind, ist nur ein Detail aus der Fülle der Erkenntnisse, die ich aus Hartmut Kuglers zahlreichen Publikationen gewonnen habe. Wichtiger wohl als alles andere war, daß sich mir durch seine Darstellungen die in diesen verräumlichten Enzyklopädien waltenden Systematiken erschlossen haben. Und doch, die Ostung – Osten oben, Westen unten, Süden rechts und Norden links – ist für mich immer noch das Schwierigste, denn ich habe, wie man sagt, so gar keinen Orientierungssinn. Daß der Ausdruck ›sich orientieren‹ (sich zurechtfinden) eben aus dieser alten Sitte, die Weltkarte nach Osten auszurichten, einen neuen Sinn empfängt, ist mir allerdings erst kürzlich und durch einen Zufall aufgegangen. Dennoch finde ich Hibernia oder Albania superior oder die Amazonen auf der Londoner Psalterkarte nur, wenn ich die Abbildung so drehe, daß der Norden nach oben zu liegen kommt, wie es sich gehört. Also Norden oben, Süden unten, Osten rechts und Westen links. Das hieß, vom Garten meiner Kindheit aus gesehen, im Süden der Rigi, im Westen hinter dem Buchenwald eine Spitze des Pilatus, im Osten der Zugerberg, hinter dem hoffentlich auch heute noch die Sonne aufgeht, im Norden aber, auf der andern Straßenseite, nur das Haus des Lehrers Bitterli, das man vornehm den Bungalow nannte. Also Norden oben, Osten rechts, Süden unten, Westen links. Das hinderte nicht, daß man aus der Sicht meines im Alpenvorland, am südlichen Ende des Kantons Aargau an der Reuß gelegenen Dorfes nach Bern (westlich) ›hinauf‹ fuhr (ufe), nach Genf (südwestlich) aber ›hinab‹ (abe). Doch ›hinab‹ ging es eben auch nach dem nördlich gelegenen Basel, nach Zürich mußte man ›hinüber‹ (übere), nach Zug fuhr man äne, eine Variante von hinüber, die am ehesten mit ›jenseits‹ (vermutlich jenseits der Reuß) zu übersetzen ist. Daß man nach Zürich ›hinüber‹ muß, und wer nach dem allernächst gelegenen Städtchen Zug will, äne, somit sich gar ins Jenseits begeben muß, mag an der Reuß liegen, die zu diesem Zwecke zu überqueren ist und die in beiden Fällen die Kantonsgrenze bildet. Lauter Richtungsangaben, die mit den durch die genordete Landkarte vorge-

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gebenen Koordinaten so wenig wie möglich zu tun haben, wohl aber teilweise mit einer symbolischen Ordnung, derzufolge vielleicht das im Westen gelegene Bern als Hauptstadt oben zu liegen hat, so daß man hinauffahren muß. Auch wenn man nach Luzern will, muß man die Reuß überqueren, nach Luzern jedoch fuhr man weder äne noch übere sondern hinein (ine). Hier scheint ein stärkerer Faktor zu wirken, nämlich die historische Symbolik, derzufolge Luzern als einer der fünf alten Orte (zusammen mit Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug) – und wohl als ihr bedeutendster – zur sogenannten Innerschweiz gezählt wird. Die Bezeichnung Innerschweiz ihrerseits ist ein junger Begriff, der die Existenz der ganzen Schweiz voraussetzt. Erst in der Zeit der Aufklärung, als man bekanntlich für die Alpen schwärmte, begegnen die Bezeichnungen ›innere Cantons‹ (1766, Johann Konrad Füssli), ›La Suisse intérieure‹ oder gar ›das Innere der Schweiz‹ (1790/96, JeanLouis-Philippe Bridel). Seit dem 19. Jahrhundert hat sich für die fünf alten Orte, an deren erster Stelle traditionell der Kanton Uri genannt wird, überdies die Bezeichnung Urschweiz etabliert. 1 Aus alledem ist ersichtlich, daß die genannten Richtungsadverbien kaum der praktischen Orientierung dienen, sondern unterschiedliche, zum Teil hochgradig ideologisch besetzte Ordnungsvorstellungen transportieren, so daß die Redensart, derzufolge man nach Luzern ›hinein‹ fährt, diesen Ort auf der mentalen Landkarte meiner Kindheit dort einzeichnet, wo auf den mittelalterlichen Weltkarten Jerusalem liegt: im Zentrum. Damit wäre ich bei meinem Thema angekommen. Die meisten Beispiele und die damit verbundenen Probleme werden den Fachgenossen unter Ihnen bekannt sein, und da die meisten von uns schon ziemlich alt sind, sogar altbekannt. Hoffentlich vielleicht doch nicht ganz so vertraut wie das in den Volksmund übergegangene Zitat aus dem Gedicht ›lichtung‹ von Ernst Jandl, das für die nachfolgenden Gedanken richtungsweisend war: lichtung manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum. 2

1 Vgl. Fritz Glauser, Innerschweiz, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.01.2008. (URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16625.php) 2 lichtung, in: Laut und Luise. verstreute gedichte 2, hg. von Klaus Siblewski, München 1997 (poetische werke 2), S. 171.

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I Bekanntlich also erzählt in dem vielleicht um 1180 entstanden Yvainroman des Chrétien de Troyes der Ritter Calogrenant am Artushof seine Reise ins Abenteuer, und zwar aus der Ich-Perspektive. Dabei fand er, so die Erzählung, einen Weg zur Rechten, der sich als reichlich dornig erweisen sollte. Et trouvai un chemin a destre Par mi une forest espesse. Mout y ot voie felenesse, De ronses et d’espines plaine. 3 »Und ich fand einen Weg rechterhand, durch einen dichten Wald, eine sehr tückische Straße war das, voll von Gestrüpp und Dornen.«

Oft zitiert ist Erich Auerbachs Stellungnahme zu diesen Versen: Hier stutzen wir. Zur Rechten? Das ist eine seltsame Ortsbezeichnung, wenn sie, wie es hier der Fall ist, absolut verwendet wird. Sie kann, in einer irdischen Topographie, nur bei relativer Verwendung einen Sinn haben. Folglich hat sie hier einen moralischen Sinn, offenbar handelt es sich um den »rechten Weg«, den Calogrenant fand. 4

Ausgehend von Auerbachs berühmtem Befund den Weg zur Rechten betreffend sind in den letzten Jahrzehnten viele kluge Überlegungen angestellt worden. Einig ist man sich weitgehend darüber, daß die Rede vom dornigen Weg zur Rechten offenkundig auf die Stelle Mt 7,13 anspielt, der zufolge der enge, schmale Weg der rechte ist und zum ewigen Leben führt, die breit ausgebaute Straße aber ins Verderben, und daß Chrétiens Formulierung darauf abzielt, die traditionelle moralische Richtungssymbolik 5 zu aktivieren. Aber heißt das auch, daß diese Anspielung als Deutungshinweis zu verstehen ist, die uns den Sinn von Calogrenants Abenteuer erschließen soll? Es ist nicht zu vergessen, daß das im Eingangsteil des Yvainromans geschilderte Abenteuer zu bestehen dem Haupthelden vorbehalten ist, denn Calogrenant, der Ich-Erzähler und Nebenheld erklärt sich am Ende seiner Erzählung als gescheitert. Würden wir (wie noch in den siebziger Jahren des

3 Chrétien de Troyes, Le Chevalier au Lion ou le Roman d’Yvain. Édition critique d’après le manuscrit B.N. fr. 1433, traduction, présentation et notes de David Hult, Paris 1994 (Lettres gothiques), V. 180–183. 4 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 5. Aufl., Bern 1971, S. 125. 5 Vgl. Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979, S. 218.

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vorigen Jahrhunderts geschehen 6 ) Calogrenants Abenteuer unter Auerbachs Vorgabe nach dessen Ende beurteilen, würde daraus folgen, daß in Calogrenants Fall der im heilgeschichtlichen Sinn rechte Weg ins Unheil führte. Auerbach freilich legt auf das Scheitern des Nebenhelden so wenig Wert wie möglich. Bereits das Suchen und Finden des rechten Wegs zeichnet Calogrenant in seiner Auslegung als Auserwählten aus (vgl. S. 131). Das Nichtbestehen des Abenteuers erscheint auf diese Weise als minderer Grad der Bewährung, gemäß der Idee eines graduell gestuften Erwähltseins, welche nach Auerbach die Welt der ritterlichen Bewährung des Artusromans ebenso kennzeichnet wie die Liebestheorie der victorinischen und zisterziensischen Mystik (vgl. S. 132). Ob ein solches gradualistisches Modell der Vervollkommnung die von Chrétien im ›Yvain‹ entfaltete Idee des Abenteuers trifft, ist allerdings die Frage. Macht es doch geradezu die Originalität des Eingangsteils aus, daß hier der Hauptaktion ein Erlebnisbericht vorausgestellt wird, die sich zudem als Mißerfolgsgeschichte darstellt. Wie gesagt: Calogrenant präsentiert uns, so erklärt der Er-Erzähler vorwegnehmend, nicht eine Erfolgsgeschichte, sondern die einer Niederlage ([…] .i. conte, / Non de s’onnor, mais de sa honte, 59f.), und wie der Ich-Erzähler selber ankündigt, will er keine Fabeln, keine Lügen darbieten (vgl. 171–173), sondern che que je vi (174, was ich gesehen habe). Damit beansprucht er nicht nur Glaubwürdigkeit für seine Geschichte, sondern legt Zeugnis dafür ab, daß, wenn man der Wahrheit die Ehre gibt, auch im Leben eines Artusritters bisweilen etwas schief gehen kann. 7 Äußerst vereinfacht, bildet die erste Station auf Calogrenants Reise ins Abenteuer der Aufenthalt bei einem gastfreundlichen Burgherrn, der ihn einlädt, auf dem Rückweg wieder bei ihm einzukehren. Und doch hatte dieser Wirt, wie sich am Ende herausstellt, genug über das von Calogrenant gesuchte Abenteuer gewußt, um annehmen zu müssen, daß sein Gast kaum Gelegenheit zur Rückkehr

6 Z. B. Joachim Schröder, Zur Darstellung und Funktion der Schauplätze in den Artusromanen Hartmanns von Aue, Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 61), S. 170. 7 Dieser der heroischen Hyperbolik entgegenwirkende Wille zur Selbstbescheidung wird sich als literarisch produktiv herausstellen. Zu verweisen ist dabei vor allem auf den ›Prosalancelot‹. Wohl vom ›Yvain‹ angeregt, verpflichtet dort der König Artus die von ihren Abenteuerfahrten zurückgekehrten Ritter – und namentlich Lancelot – darauf, die ganze Wahrheit zu erzählen, auch die Mißerfolge: Mais ainçois vos jurerez sor sainz que vos chose ne direz ou il n’ait verité et que por honte qui soit ne celeroiz aventure qui vos avenist. Vgl. Lancelot. Roman en prose du XIIIe siècle, hg. von Alexandre Micha, 9 Bde., Genève 1978–1983 (Textes littéraires françaises 247. 249. 262. 278. 283. 286. 287. 307), Bd. IV, LXXXIV, 68, S. 393.

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haben würde. Die zweite Station bildet die Begegnung mit einem wilden Mann, der angeblich nichts von aventure weiß, den Ritter auf der Suche aber geradewegs zum Ort des eigentlichen Abenteuers weist (Tout droit la droite voie va, 374). Calogrenant verliert den Kampf gegen den Herrn des Wunderbrunnens, wird seines Pferdes entledigt und muß beschämt (honteusement) den Rückweg zu Fuß antreten. Doch als er wieder bei seinem Gastgeber einkehrt, weist nichts darauf hin, so heißt es, daß der sich weniger über seinen Gast freut als das erste Mal, und man erweist ihm genau so viel Ehre wie zuvor. Am Ende seiner Erzählung bekennt Calogrenant rückblickend, auf dem Rückweg sei er sich wie ein Dummkopf vorgekommen (pour fol me ting, 576), verrückt sei er auch, meint er abschließend, daß er seinen Freunden erzählt habe, was er nie im Sinn gehabt habe mitzuteilen. Jedes Wiedererzählen hat seine Tendenz, und meine Wiedergabe läuft offensichtlich darauf hinaus, daß Calogrenant am Ende seines Abenteuers allen Grund hatte, nicht zu wissen, wo ihm der Kopf stand. Diskutiert wurde im Zusammenhang mit Auerbachs Deutung z. B., ob dieser am absolut gesetzten Ausdruck a destre zurecht Anstoß nahm. 8 Angesichts einer Ich-Erzählung, die so konsequent, wie das Chrétien praktiziert, die Figurenperspektive durchhält, darf man vielleicht annehmen, daß der Weg zur Rechten aus der beschränkten Perspektive des erlebenden Ichs gesehen rechterhand liegt. So argumentiert zum Beispiel Gert Hübner. Wenn wir die Erzählung des Calogrenant als erlebte Rede ernst nehmen, ging dieser, so Hübner, entsprechend der Erwartung des harmlosen Hörers oder Lesers davon aus, daß der Weg rechter Hand der rechte Weg sei und erkennt ihn, aus der zeitlichen Distanz, als den falschen. 9 Geht es jedoch in diesem Zusammenhang überhaupt um den rechten bzw. den falschen Weg? Wenn wir als zeitgenössisches Zeugnis die Reaktion Hartmanns von Aue auf Chrétiens Setzung befragen, tritt eine Komplikation hinzu. Während bei Chrétien der Waldmensch Calogrenant geradeaus auf den geradeaus führenden Weg (Tout droit la droite voie va, 374) schickt, läßt ihn Hartmanns Waldmensch der kritischen Iwein-Ausgabe und den meisten Handschriften zufolge einen Pfad zur Linken einschlagen: hin wîste mich der waltman / einen stîc zer winstern hant, 10 worauf er das gesuchte Abenteuer genau so prompt findet wie sein französischer Kollege, der den rechten bzw. geradeaus führenden Weg einschlägt.

8

Gert Hübner, Erzählformen im höfischen Roman, Tübingen, Basel 2003, S. 4. Ebd., S. 8. 10 Hartmann von Aue, Iwein, in: Hartmann von Aue, Gregorius, Der Arme Heinrich, Iwein, hg. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6), V. 599f. 9

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Ernst Trachsler hat in seiner 1979 erschienenen Monographie ›Der Weg im mittelhochdeutschen Roman‹ meines Wissens zuerst auf die Turbulenzen hingewiesen, die an dieser Stelle in der handschriftlichen Überlieferung auftreten. Neben der sanktionierten Lesart, wonach Iwein zuerst einen Pfad rechterhand findet, danach aber vom Waldmenschen linkerhand gewiesen wird, findet sich einmal die Option ›zuerst nach links, dann nach rechts‹ (Hs. J, erstes Viertel 14. Jh.), und in zwei Fällen die Setzung ›zuerst nach links, dann weiter nach links‹ (Hs. D und Hs. a), eine Entscheidung, welche die Verhältnisse im Sinn der konventionellen Richtungssymbolik bereinigt. Aus alldem dürfen wir mindestens folgern, daß Hartmann den verfänglichen Charakter von Chrétiens Setzung erkannte und daß anderseits der eine und der andere intelligente Schreiber durch Hartmanns Reflexion des Problems in Verwirrung gestürzt wurde. Die Gleichung von rechts und links mit richtig und falsch bzw. mit Heil und Unheil läßt sich hinsichtlich der von Hartmann vorgenommenen Richtungsoptionen mit triftigen Argumenten zurückweisen. 11 Zum einen ist ja Calogrenants Ritt auf dem Weg linkerhand nicht auf ein ödes Nichts hinausgelaufen, sondern ihm sind abenteuerliche Dinge genug begegnet, zum anderen folgt ja, wie die Erzählung resümierend betont, Iwein dem haargenau gleichen Itinerar. So wenig abweisbar ist, daß die Rede vom dornigen Weg zur Rechten von der traditionellen Wegsymbolik abhebt, so witzlos scheint es, Kalogrenants Wendung zur Linken heilsgeschichtlich zu deuten. Ebenso unzweifelhaft sticht nun aber das Wort winster um so rätselhafter ins Auge und um so mehr erheischt es unsere Aufmerksamkeit. Darauf wird zurückzukommen sein. II Ein mindestens ebenso intrikates (und oft besprochenes) Beispiel bietet Hartmanns ›Erec‹ in einer Peripetie, die bei Chrétien keine Entsprechung hat: Nachdem das ungesellige Leben der Ehegatten 12 geendet ist und alles auf einen nahen Abschluß der Handlung hindeutet, brechen Erec und Enite in Begleitung des Freundes Guivreiz auf. Ihre Absicht ist es, nach Britannien zum König Artus zu reiten. Allerdings wissen sie nicht genau, an welchem seiner Höfe der sich gerade aufhält, ob in Karidol oder etwa in Tintajol, und so reiten sie auf gut Glück (nâch wâne). 13 11

Vgl. Trachsler [Anm. 5], S. 219. Die Formulierung ist von Ernst Trachsler (vgl. Trachsler [Anm. 5], S. 194). 13 Hartmann von Aue, Erec, hg. von Manfred Günter Scholz, übers. von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5), V. 7809. 12

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»Nun führte sie die Hufspur auf einer schönen Heide an eine Weggabelung (wegescheide). Welcher Weg nach Britanje führte, wußten sie nicht«: die rehten strâze si vermiten: / die baz gebûwen si riten. (7811–7817)

An dieser Gabelung entscheiden sich die Übersetzer unterschiedlich. Entweder heißt es: »sie schlugen nicht den rechten Weg ein« bzw. »sie verfehlten den rechten Weg« (so Cramer 14 und Scholz 15 interpretierend), oder aber »sie nahmen nicht die Straße nach rechts« (so Mertens 16 , betont neutral), jedenfalls wählen sie die besser ausgebaute Straße. Unmittelbar darauf, als sie vor sich eine Burg erblicken, teilt uns der Erzähler die Bestürzung des Begleiters Guivreiz mit, enthält uns jedoch deren Grund vor, sondern schaltet statt dessen die Intervention eines aufmerksamen, nach Aufklärung verlangenden Zuhörers ein, um diesen abzuwimmeln und die Auskunft um beinahe 100 Verse hinauszuzögern – so lange wie die ordentliche Beschreibung einer Burg im Hartmannschen Stil eben dauert. Jetzt erst kommt Guivreiz wieder zu Wort, und zwar mit einer heftigen Reaktion: »Ich kenne sie (die Burg), wir sind weit von unserem Weg abgekommen. Bei Gott, verflucht! So viele Male wie ich diesen Weg nun schon reite, diesmal ist es mir schlimm ergangen (sô ist mir bœslich geschehen). Ich habe mich arg getäuscht (mich übele übersehen) und den Weg zur Linken (zuo der winstern hant) gewiesen.« (vgl. 7899–7906)

Bereits der Name Wegscheide weist darauf hin, daß die Handlung an einen kritischen Punkt gelangt ist. 17 Wiederum ist kaum daran zu zweifeln, daß Hartmann hier auf die genannte, in der antiken wie in der jüdisch-christlichen Tradition fest etablierte Wegmetapher (Mt. 7,13) anspielt. Wie wir aber wissen, versucht Freund Guivreiz vergeblich, Erec umzustimmen, und dieser wird unbeirrt seinen Weg auf der bequemen Straße linkerhand fortsetzen und am Ende auf Brandigan im Garten von Joie de la curt sein ultimatives Abenteuer bestehen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse von Ernst Trachslers lexikalischen Studien zu der Verwendung von rechts und links im mhd. arthurischen Versroman. Daraus geht hervor, daß im deutschen Artusroman einige Belege für die ›rechte Straße‹ zu finden sind, zu der es aber als symmetrische

14 Vgl. Hartmann von Aue, Erec. Mhd. Text und Übertragung von Thomas Cramer, 23. Aufl. Frankfurt a. M. 2000. 15 Vgl. Anm. 13. 16 Hartmann von Aue, Erec. Mhd./Nhd., hg., übers. und komm. von Volker Mertens, Stuttgart 2008 (RUB 18530). 17 Vgl. Trachsler [Anm. 5], S. 16 und S. 209. Zur Problematik generell vgl. Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970 (Medium Aevum Philologische Studien 21).

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Entgegensetzung eine ›falsche Straße‹ nicht gibt. 18 Das heißt natürlich auch, daß der Irrweg in dieser Ideologie nicht automatisch unter das Verdikt des Falschen fällt. Wem aus dem französischen Artusroman der Begriff des chevalier errant bekannt ist, der wird sich darüber nicht wundern. Trachsler zieht hierzu eine Stelle aus dem deutschen Prosa-Lancelot heran, welche den konventionellen Sinn des zwei Wege-Schemas beinahe explizit auszuhebeln scheint, ohne allerdings auf deren Kontext einzugehen: »Ein ängstlicher Knappe warnt einen gewissen Herzog von Clarence vor einem nach rechts führenden Weg und empfiehlt ihm den zur Linken, worauf der Herzog antwortet: man muß alle strassen ritten oder die abenture werdent nymer zu ende bracht.« 19 Das genannte Wegproblem situiert sich indessen in der Abenteuersequenz, in der Lancelot die von der Fee Morgane im ›Tal ohne Wiederkehr‹ eingesperrten (treulosen) Ritter befreien wird. Das eigentliche Ziel des Herzogs von Clarence ist das Abenteuer des jammervollen Turms, und dahin führen zwei Wege, der eine ist leicht, der andere beschwerlich: da hien ist beide, licht weg und múwlich. 20 Der Knappe rät zum Weg linkerhand (das wir dißen weg riten zur lincken hant), weil der andere über das gefährliche Tal führt, aus dem niemand wiederkehrt (der ander weg get zum freischlichen tale, dannen nyman wiedder kert (PL II 234,17f.). Zwar praktiziert der Herzog eine demokratische Wegpolitik (man darf keine Straße ausschließen), legt jedoch Wert darauf, daß er an der rechten Straße festzuhalten gedenkt. Folgendermaßen weist der heroische Herzog den Knappen zurecht: Du bist ein wunderlich man, das du wilt din gerecht straß laßen durch der lut klaffen; man muß alle straßen ritten, oder die abenture werdent nymer zu ende bracht. (ebd.) »Du bist ein sonderbarer Mensch, daß du die rechte Strasse aufgeben willst wegen dem Gerede der Leute. Man muß alle Strassen reiten, oder aber die Abenteuer werden nimmermehr zu Ende geführt.«

Ein Vergleich mit der französischen Vorlage zeigt jedoch, daß die Erzählung sich dort für die umgekehrte Wegsemantik entschieden hatte. Auch hier führt der be-

18 Vgl. Trachsler [Anm. 5], S. 68, und Neuhochdeutscher Index zum mittelhochdeutschen Wortschatz, hg. von Erwin Koller, Werner Wegstein, Norbert Erich und Richard Wolf, Stuttgart 1990, s. v. ›falsch‹. 19 Trachsler [Anm. 5], S. 209. 20 Prosalancelot (PL) II. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Hs. Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übers., komm. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters Bd. 15), S. 220, Z. 20f.

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schwerliche Weg zu einem Tal, aus dem niemand wiederkehrt – .I. val dont nus ne revient. 21 »Und wer will, geht durch dieses Tal, und wer will, der läßt es links liegen (il le laisse a senestre), und findet fortan kein Hindernis bis zum Jammervollen Turm« (ebd.).

So rät denn auch der Knappe hier zum leichten und sicheren Weg, der hier aber rechts abgeht: Sire, se vous m’en creés, nous en irons la voie a destre, puis que nus ne revient de cest val, dont seriés vous fous, se vous vous enbatés ens (Lancelot, versions courtes, Bd. III, XXI, 1–3). »Herr, wenn Ihr auf mich hört, nehmen wir den Weg nach rechts, denn niemand kehrt aus diesem Tal zurück, daher wärt ihr ein Narr, wenn Ihr euch da hineinstürzt.«

Darauf hin bekommt er eine etwas anders akzentuierte Abfuhr als in der deutschen Version: […] car cil n’est pas chevaliers, mes marcheans qui laisse les voies perilleuses por les seures, ne jamés ne seroient a chief menees les aventures, se chevalier che faisoient que tu me veus fere fere; et por che que cis vaus est perilleus, irai ge, que que m’en aviengne u del remanoir u del issir. (Bd. III, XXI, 1–3, S. 174) »Denn der ist kein Ritter, sondern ein Kaufmann, der die gefährlichen Wege zu Gunsten der sicheren Wege aufgibt, und niemals würden die Abenteuer zu Ende geführt werden, wenn die Ritter tun würden, was du von mir willst; und weil dieses Tal gefährlich ist, werde ich gehen, was immer mir geschehen mag, ob ich drinnen bleiben muß oder hinauskomme.«

In diesem Fall wird die Wegsemantik ausdrücklich benannt: linkerhand liegt die Gefahr, linkerhand liegt das Abenteuer, so daß hier die Aushebelung der konventionellen, negativ konnotierten Bedeutung der linken Seite beinahe programmatisch erscheint. Im Lichte dieser Stelle können wir in dem aventiure suchenden Ritter Kalogrenant einen echten Vorläufer des Herzogs von Clarence erkennen (der übrigens seinerseits scheitern wird) und dürfen Hartmanns Entscheidung, ihn auf den stîc zer winstern hant (599f.) zu schicken, als Emanzipation der Wegsymbolik von der figuralen Festlegung und als Stärkung des säkularen Abenteuerbegriffs würdigen. In diesem Zusammenhang erinnert die Ersetzung von links durch rechts im deutschen Prosa-Lancelot nun doch an die Verwerfungen, welche sich in der handschriftlichen Überlieferung des ›Iwein‹ angesichts von Hartmanns Innovation beobachten ließen, die in zwei Fällen zu der Entscheidung für eine konsistente 21

Vgl. Lancelot [Anm. 7], Versions courtes, Bd. III, XVI, 47bis, S. 159.

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Orientierung von Kalogrenants Reiseroute nach der linken Seite führten (vgl. oben S. 125f.). Die deutsche Version des Prosa-Lancelot redet zwar an besagter Stelle grundsätzlich einer Säkularisierung der Wegsymbolik das Wort, doch im individuellen Fall entscheidet sie sich doch für die Lösung, in der der mühsame Weg und die rechte Straße zusammenfallen. In Hartmanns ›Erec‹ wiederum führte der traditionell verkehrte Weg, die bequeme Straße linkerhand, zum Abenteuer par excellence, das schließlich die Karriere des Helden krönt. Das hat der Forschung weniger Probleme bereitet als der Weg zur Linken im Fall des Kalogrenant. Das Paradox bestehe eben darin, heißt es z. B., daß sich für Erec dieser Weg als der allein richtige herausstelle. 22 In einer solchen Lesart bleibt allerdings der eschatologische Sinn der Wegsemantik erhalten, beinahe im Sinne des portugiesischen Sprichworts ›Gott schreibt gerade auf krummen Zeilen‹. Und wenn man die religiöse Akzentuierung des Romanschlusses in Betracht zieht, entspricht diese Deutung dem Geist der Erzählung, der in Hartmanns Version waltet. Doch der Geist der Erzählung weht in Hartmanns Erecroman nicht nur von links nach rechts. Wie bereits seinerzeit Gert Kaiser gesehen hat, ist Erecs Motivation das Abenteuer zu bestehen »recht profan«. 23 Seinen Entschluss, sich allen Warnungen zum Trotz auf die tödliche Gefahr einzulassen, rechtfertigt der Held in einer längeren Rede, worin er die göttliche Fügung bemüht. Gott habe ihn an den Ort gewiesen, wo er ein Spiel nach seines Herzens Begehr, ein wunschspil (8530), finden werde. Die anschließende Spielmetapher kennzeichnet dieses Spiel allerdings als durchaus »gewinnbringendes Wagnis« (ebd.), als Glücksspiel, in dem mit dem Einsatz eines Pfennigs tausend Pfund zu gewinnen sind (8534f.). Und wenn Erec Gott für das Geschenk eines solchen Spiels dankt (sölich spil [A] oder sælic spil [K] V. 8538), dann eben, so Kaiser, »für die Gelegenheit, durch wagemutige Tat allseitiges Ansehen zu erringen« (ebd., S. 120). Nicht zu vergessen ist auch das Moment der Irrationalität, das unter Guivreiz’ Anleitung das Abdriften der Gefährten nach links kennzeichnet. Was immer ihn dazu bewogen haben mochte, möge Gott zum Teufel schicken (daz es got verwâze, 2901), so Guivreiz’ Verwünschung. Dennoch deutet er seinen Irrtum weder als göttliche Strafe noch als Verführung des Teufels, sondern, was ihm widerfahren ist, ist ihm schlicht unbegreiflich: so oft wie er den Weg schon reitet! Er, der doch wegkundige Führer, hat sich, wie er im Nachhinein befindet, auf ihm unerklärliche Weise getäuscht. In gewisser Weise ist der bestürzte Guivreiz an dieser Stelle 22

Vgl. Scholz [Anm. 13], Kommentar zu V. 7899–7906. Gert Kaiser, Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung. Die Artusromane Hartmanns von Aue. 2., neubearb. Aufl. Frankfurt 1978, S. 118, zitiert nach Scholz [Anm. 13], Kommentar zu V. 8527–8575. 23

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ein Verwandter von Chrétiens Calogrenant, der sich am Ende auch nicht erklären kann, wie ihm geschehen ist. Beiden Figuren läßt die Erzählung Undurchschaubares widerfahren, ohne die Mystifikation aufzuklären. Die Irreführung der Figur wird also von der Erzählung verrätselt. Ähnlich unähnlich ist vielleicht der Fall von Parzivals Eintritt in die Gralssphäre: er bekommt den Rat, sich nach rechts zu wenden: dort an des velses ende / dâ kêrt zer zeswen hende. 24 Das scheint eine topographisch brauchbare, einwandfreie Anweisung zu sein, und doch ist sie offenbar nicht eindeutig, denn der Held wird gewarnt: hüet iuch: dâ gênt unkunde wege. / ir muget an der lîten / wol misserîten. »Da sind unbekannte Wege. Wo es den Berg hinan geht, könnt Ihre Euch leicht verirren.« (226,6–9, Übers. Knecht)

Auch rechterhand gehen offenbar irreführende Abzweigungen ab. Der zielführende Weg zweigt hier zwar konventionell rechts ab, jedoch ist auch hier in die traditionelle Richtungssymbolik durch die Einführung einer Mehrzahl konkurrierender Wege ein Unsicherheitsfaktor eingebaut, der den Weg erst abenteuerlich macht. Das weder von Gott noch vom Teufel verhängte Abdriften der Gefährten von der rehten strâze im ›Erec‹, der Unsicherheitsfaktor im ›Parzival‹, der abenteuerliche Weg zur Linken, der in Kalogrenants Fall zwar nicht zum Ruhm führt, doch auch nicht ins Unglück: alle diese Eröffnungen, die auf ein Anderes jenseits der binären Opposition von Heil und Verderben verweisen, sind in meiner Lesart die genuinen Zeichen der dem Artusroman eigenen Arbeit am Mythos. III Außerhalb des Artusromans treten den mhd. Wörterbüchern zufolge rechts und links eher selten als Wegattribute auf. Allerdings sind die Belege z. B. aus dem Prosa-Lancelot noch nicht verzeichnet. Wolfgang Harms ist seinerzeit in seinen Studien zur Bildlichkeit des Wegs auch der Bedeutung der Wegangaben rechts und links im deutschen Prosa-Lancelot nachgegangen. Seinem Befund, demzufolge im Prosa-Lancelot die Richtungsattribute in der traditionellen Semantik nicht mehr generell verbindlich seien, sondern von Fall zu Fall zu interpretieren, 25 kann man nur zustimmen; nicht recht hat er aber im Licht neuerer Studien, wenn er dieses Phänomen der Entautomatisierung als Index eines fortgeschrittenen Entwicklungsstandes des Prosaromans gegenüber dem Versroman (namentlich dem 24 Wolfram von Eschenbach, Parzival, Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übers. von Peter Knecht, eingel. von Bernd Schirok, Berlin 1998, V. 225,26. 25 Vgl. Harms [Anm. 17], S. 262–268.

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›Parzival‹) in Anspruch nimmt. 26 Wenn man die von Harms behandelten Belege aus dem deutschen Prosa-Lancelot 27 für den rechten und den linken Weg auf die französische Vorlage zurückbezieht, ergibt sich der überraschende Befund, daß die deutsche Erzählung in allen drei angeführten Fällen die Richtungsangaben ins Gegenteil verkehrt. So entscheidet sich der Bohort der deutschen Version im Fall des Weges, an dessen Ende er zur Gralsburg gelangen wird, anders als sein französischer Kollege; er folgt nämlich Hilferufen, die von der l i n k e n S e i t e des Waldes her kommen, während Lancelot geradeaus ( r e h t d a r ) auf ein Feuer in der Ferne zuhält, das auf die Gegenwart von Menschen hindeutet: (PL IV, S. 302, 7–15). Sein französisches Vorbild Boorz war hingegen einer von der r e c h t e n S e i t e kommenden Stimme gefolgt ( s o r d e s t r e p a r t i e , Bd. V, XCVIII, 2). Wiederum wenden sich in der deutschen Version an einem Scheideweg die Lancelot nachreitenden Ritter Hector und Gawan n a c h l i n k s und gelangen so zum Artushof (PL IV 384, 15). Im französischen Text dagegen waren sie auf der Suche nach Lancelot, der seinerseits n a c h l i n k s abgebogen war, dem Weg r e c h t e r h a n d gefolgt, um den Artushof zu erreichen (Bd. VI, C, 4). Umgekehrt sind die Verhältnisse schließlich auch in folgendem Fall: In der deutschen Version wendet sich ein Ritter namens Saras nach l i n k s , um das sogenannte Abenteuer bei den zwei Lorbeerbäumen zu finden. Lancelot reitet zunächst in die andere Richtung, kehrt aber dann um, um nach Saras zu sehen und kann ihm so aus der Patsche helfen (PL IV, 166, 17–20). In der französischen Vorlage aber hatte Sarraz den Weg zu demselben Abenteuer a d e s t r e eingeschlagen, während Lancelot zunächst a s e n e s t r e geritten, dann umgekehrt war (Bd. V, XCIII, 36), so daß hier die Rettungsaktion am Ende des r e c h t e r h a n d eingeschlagenen Wegs stattfindet (vgl. Bd. V, XCIII, 36–41). Also: wo immer der ›Lancelot en prose‹ für den Weg rechterhand optiert, findet sich in der deutschen Version die Setzung linkerhand und umgekehrt. 28 Ein interessantes Phänomen, dem eingehend nachzugehen sich vermutlich lohnen würde.

26 Ebd., z. B. S. 246, S. 267 und S. 286f. Entsprechend argumentiert bereits Trachsler [Anm. 5], S. 222–223 . 27 Ebd., S. 264–268. 28 Der erste von Harms angeführte Fall (Bd. II, LXV,34–LXVII,16) fällt in die in der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147 (P) klaffende Lücke und findet in der Akademie-Ausgabe von Reinhold Kluge keine Entsprechung (zu den unterschiedlich weit reichenden Kompensationen der Lücke in der deutschen Überlieferung vgl. Steinhoff [Anm. 20], PL IV, S. 728.). Dementsprechend verweist Harms auf das Fehlen der entsprechenden Stelle in der deutschen Überlieferung. Der Kasus ist insofern spektakulär, als der Artusritter Hestor hier ein Abenteuer glücklich zu Ende bringt, indem er einem explizit vor Schande (honte) warnenden und schriftlich fixierten Verbot, den linken Weg

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IV Den mittelhochdeutschen Wörterbüchern zufolge wird indessen das Attribut links (linc, tenc, winster) im Gegensatz zu rechts (reht, gerehte, rehthalp, zese, zeswenhalp) in der überwältigenden Mehrzahl der Belege zur Verortung der Körperteile in der jeweiligen Körperhälfte verwendet, zu der sie gehören, z. B. Hand, Arm, Bein, Fuß, Brust, Rippe, Auge. Aber besonders was die rechte und die linke Hand betrifft, ist auch hier die neutrale Referenz immer schon durch Bibelworte und die christliche Auslegungstradition unterfüttert, so daß der geistliche Sinn unterschwellig stets vorhanden ist. Deu zeswe hant ist worden winster, 29 heißt es bei Thomasin von Zerklaere, was nur auf den ersten Blick an Ernst Jandl erinnert, denn die Verwechslung erscheint hier als Verkehrung ins Gegenteil und steht in einer Reihe mit Deu lember sind zewolven worden (V. 8435) als Beispiel für die Perversion der gottgewollten Weltordnung. Rätselhafter ist der Bibelvers: Wenn du aber Almosen gibst, / So las deine lincke hand nicht wissen / was die rechte thut / Auff das dein Almosen im Verborgenen sey (Mt 6,3), in Luthers Übersetzung. Chrétien de Troyes hat das Bibelwort im Prolog zum Percevalroman ausgedeutet: […] ne saiche la senestre / Lo bien quant le fera la destre. 30 La senestre selonc l’estoire Senefie la vaine gloire Qui vient par fause ypocresie.

einzuschlagen, zuwiderhandelt (vgl. Bd. II, LXV,34). Denn, so sagt er, keiner soll sich fürchten, bevor er nicht das Warum erkennt (nus ne doit avoir dotance devant qu’ il voie le porquoi, Bd. II, LXVII, 1). Auch hier scheint mir der Reflex auf die der Erzählung von Chrétiens Calogrenant vorgeschaltete Richtlinie evident zu sein (vgl. oben S. 124f.). – Erst Hans-Hugo Steinhoff [Anm. 20], hat die fehlenden Handlungsteile aus der einzig vollständigen Hs., dem Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris (a), ergänzt. Diese bairische Neubearbeitung (begonnen 1516, abgeschlossen 1539) ist jedoch bedeutend jünger. Sie geht zwar von einer P nahestehenden Fassung aus, arbeitet aber bald völlig unabhängig von ihr (vgl. Steinhoff [Anm. 20], II, S. 770). Hier findet sich entsprechend der französischen Überlieferung das Verbot des Wegs zur linncken hanndt (vgl. III, 152,6–17), und auch Hectors Verwerfung der Warnung: […] unnd sagt, es solltte sich nimmer keiner furchtenn, vonn was sach wegenn das were, es were dann sach das er die sache der forcht sehe. (III, 182,18–20). 29 Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast. Secondo il Cod. Pal. Germ. 389 Heidelberg con le integrazioni di Heinrich Rückert e le varianti del Membr. I 120, Gotha (mit deutscher Einleitung), hg. von Raffaele Disanto, Trieste 2001 (Quaderni di Hesperides Serie Testi Vol. 3), V. 8434. 30 Chrétien de Troyes, Le Conte du Graal. Édition du manuscrit 354 de Berne, traduction critique, présentation et notes de Charles Méla, Paris 1990 (Lettres gothiques), V. 31f.

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E la destre que senefie? Charité, qui de sa bœne œuvre Pas ne se vante ançois se cœvre Si qu’il ne la set se cil non Qui Dex et charitez a non. (37–44) »Die Linke bedeutet nach der heiligen Geschichte die eitle Ruhmsucht, die von der falschen Heuchelei herkommt. Und die Rechte, was bedeutet sie? Christliche Liebe, die sich ihrer guten Werke nicht rühmt, sondern sich vielmehr verbirgt, so daß es nur der weiß, der Gott und christliche Liebe heißt.«

Damit ist der moralische Sinn verständlich genug ausgesprochen. Dennoch bleibt die Logik der Metapher, auf der der moralische Sinn zu beruhen vorgibt, undurchsichtig. Das Evangelium bezieht zwar die beiden Hände, die beiden Instanzen des Subjekts, aufeinander, indem es von der einen Seite spricht, die von der anderen nichts wissen darf, jedoch ohne diese Dimension des Gedankens weiter zu verfolgen. In der Redensart von der Linken, die »nicht weiß, was die Rechte tut«, ist wohl die Erinnerung an den Bibelvers latent, jedoch beklagt in diesem Fall die Rede des gesunden Menschenverstands ja gerade das Fehlen einer koordinierten Motorik, welche eine rationale Kommunikation und effizientes Handeln ermöglichen würde. Wollten wir dem Bibelwort diesen Subtext unterlegen, hieße das subversiv gewendet, daß aufgrund der gekappten Kommunikation zwischen den beiden Seiten keine Rationalität die Gebefreude der Rechten daran hindern könnte, sich nach Herzenslust zu verschwenden. Ein letztes Wort zum Wegattribut als Richtungsangabe. Ein Beispiel außerhalb des Artusromans begegnet in einem Werk der geistlichen Literatur, in der ›Jüngeren Judith‹, als sich einmal das Heer des Holofernes auf seinen Raubzügen nach links wendet: dâ chêrten sî ze der winstern hant / ze Cilîcia in daz lant. 31 Auch wenn das Richtungsattribut hier vermutlich die Leute des Holofernes als Übeltäter charakterisieren soll, zeigt sich an dieser Stelle doch, worauf eigentlich bereits der Ausdruck ›rechter Hand‹ bzw. ›linker Hand‹ deutlich genug hinweist: daß auch die Richtungsangabe im Raum vom Leib aus, genauer: von der Blickrichtung der entsprechenden Person aus gedacht ist, somit in relativer Bedeutung verwendet wird. Das kann somit auch für diejenigen Fälle gelten, in denen nicht wie im Beispiel von Chrétiens Calogrenant die relative Bedeutung der scheinbar absoluten Verwendung (Et trouvai un chemin a destre) noch zusätzlich durch die Ich-Perspektive abgesichert ist.

31 Die jüngere Judith. Kritisch herausgegeben von Hiltgunt Monecke, Tübingen 1964 (ATB 61), V. 287f.

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In dieser Hinsicht ist ein Beispiel aus dem ›Jüngeren Titurel‹ einschlägig, das den Schlußpunkt bilden soll. Der JT legt in seiner Parzivalparaphrase zu Beginn des Werkes die rätselhaften Verse aus dem Parzival-Prolog aus, welche den Blick in den Spiegel und den Traum eines Blinden miteinander assoziieren und sie als Beispiel einer verschwommenen, verzerrten, flüchtigen Vision präsentieren: zin anderhalp ame glase gelîchent 32 und des blinden troum. die gebent antlützes roum, doch mac mit stæte niht gesîn dirre trüebe lîhte schîn: er machet kurze fröude alwâr. (1,20–2). »Zinn auf der Hinterseite des Glases und der Traum des Blinden sind gleich, die geben vom Angesicht einen Schimmer. Doch hat dieser trübe, schwache Schein keinen Bestand. Er macht ein kurzes Glück, das ist wohl wahr.«

Str. 51 bis 53 des JT umspielen diese Verse: Und ist der blind iht sehende in troumen, daz verswindet, swenn er erwachet, unspehende ist er, daz er sin niender teil enpfindet. so wirt sin vroude wan in leit verwandelt. 33 »Und mag es sein, daß der Blinde beim Träumen etwas sieht, das verschwindet, sobald er erwacht, nicht sehend ist er, denn nichts mehr davon nimmt er wahr. So verwandelt sich seine Freude in nichts als Leid.«

Die Ausdeutung der Parzivalverse läuft darauf hinaus, daß der Schein trügt. Doch die Auslegung im Einzelnen ist hochoriginell. Dem Blinden wird nicht abgesprochen, daß er im Traum etwas zu sehen vermag, aber eben nur im Traum. Eigene Wege geht auch die Ausdeutung dessen, was das Spiegelbild leistet: swer in den spiegel sehende

ist, dem wirt sin antlutz missehandelt. (52,4)

Wer immer in den Spiegel blickt, der findet sein Angesicht entstellt: Vil krump wirt im daz slechte, daz liecht etwenne vinster. sin ouge, daz gerechte, wirt im offenliche gar daz winster. noch true get der werlde sue ze michels mere, ir wunnebernde vroude git anders nicht wan sue ftebaere sere. (Str. 53)

gelichent hat die Hs. D. Ich verstehe die Stelle entsprechend BMZ (vgl. I, 974a, s. v. gelîche). 33 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, hg. von Werner Wolf, Bd. I, Berlin 1955 (Deutsche Texte des Mittelalters XLV), Str. 52,1–3. 32

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»Ganz gekrümmt kommt ihm das Gerade vor, bald das Helle finster. Sein Auge, das rechte, wird ihm ganz offensichtlich zum linken. Noch viel mehr täuscht die Süßigkeit der Welt. Deren herrliche Wonne bringt nichts als Seufzen und Schmerz.«

Was stellt sich hier der Dichter vor? Alles erscheint schließlich im Spiegel spiegelverkehrt, nur bei sich selbst sieht man aber offensichtlich, wenn man in den Spiegel blickt, die rechte und die linke Seite nicht vertauscht. Anders verhält es sich angesichts eines Gegenübers, das weiß jeder, der versucht, einem vis à vis durch das spontane Deuten auf die entsprechende Stelle im eigenen Gesicht zu zeigen, wo beim andern der Speiserest im Mundwinkel sitzt. Der Dichter hat also seine Idee des Spiegelbildes vom Anblick eines Gegenübers abgeleitet. Oder aber, was schwieriger zu denken ist, jedoch im Sinne meines Themas eine bessere Pointe ergibt: er identifiziert Ego mit dem Blick, der aus dem Spiegelbild heraus das Original als ein fremdes Ich anblickt. Vielleicht ist sein Einfall an dieser Stelle ja auch von der Betrachtung einer Darstellung des Jüngsten Gerichts inspiriert, wo die Verdammten wohl vom Weltenrichter aus gesehen zu dessen Linken sitzen, vom Betrachter aus gesehen sich aber rechts von ihm befinden. Jedenfalls ist dieses Beispiel ein sprechender Beleg dafür, daß in der mittelalterlichen Literatur rechts und links aus der Blickrichtung des in Frage stehenden Egos gedacht wird. Wenn der Dichter des JT im Spiegel das rechte und das linke Auge als vertauscht darstellt, teilt er mit, was er weiß, nicht was er sieht. Wenn wir aber im Spiegel unser rechtes Auge als rechtes wahrnehmen, dann offenbar, weil wir es wissen, weil wir sehen, was wir wissen. Eine Überlegung, die geeignet ist, Leute mit mangelhaftem Orientierungssinn in Verwirrung zu stürzen. lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum.

Fernliebe Allgemeines und Besonderes zur Geschichte einer literarischen Konstanten von Franz Josef Worstbrock, München

I Fernliebe, die statt von der Begegnung mit einer Person allein vom Hören, von Mitteilungen über sie, vom Ruhm ihrer anziehenden Eigenschaften ihren Anstoß erhält, bildet sich durch Imagination. Was mit dem Ohr vernommen wird, kann Gegenstand der Einbildungskraft werden, welche Bilder entwirft, die Erwartungen, Sehnsüchte, Illusionen erzeugen, Träume von Schönheit und Glück, die fesselnder und bedrängender sein können, als sie vom Anschauen und Erleben der Person selbst ausgehen. Unausweichlich, daß Fernliebe, für welche die menschliche Spezies so anfällig ist, auch literarisch wurde. Sie ist in der Tat ein wiederkehrendes Motiv zumindest der europäischen Literatur, bekannt aus Shakespeares ›The Taming of the Shrew‹, aus dem höfischen Roman und der Heldenepik, aus dem Minnesang, aus poetischer und anderer Epistolographie schon der Antike. Das vom Ruhm ihrer Schönheit evozierte Wunschbild der Helena, so Paris in der 16. ›Heroide‹ Ovids, hat ihn getrieben, die nie gesehene Schönste zu gewinnen, mag die Entführung auch den großen Krieg entfachen: Te prius optavi quam mihi nota fores. Ante tuos animo vidi quam lumine vultus: Prima fuit vultus nuntia fama tui. (36–38) 1 1 [Dich habe ich schon begehrt, bevor ich dich kennenlernte. Das Bild deiner Züge war, bevor ich sie mit dem Auge wahrnahm, schon in meiner Vorstellung: von deiner Schönheit brachte als erster mir Botschaft ihr Ruhm]. – In der mittelalterlichen Überlieferung von Her. 16 fehlen stets die Vv. 39–144, in denen Paris sein Leben vom prophetischen Traum seiner Mutter an über den Streit der drei Göttinnen, den er entschied, bis zu seiner Ankunft in Sparta bei Menelaos erzählt; sie wurden erstmals durch den Druck Parma 1477 (Hain 12140) bekannt. Den zitierten Vv. 36–38 folgen in der mittelalterlichen Überlieferung somit unmittelbar die Vv. 145f., die auch Paris’ Liebesbekenntnis bruchlos fortsetzen: Plus hic invenio, quam quod promiserat illa [sc. fama], / Et tua materia gloria victa suast. Zur Überlieferung von Her. 16 bis zum späten 15. Jh. vgl. Heinrich

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Boncompagno unterscheidet in seiner Lehre des Liebesbriefs, der ›Rota Veneris‹, nach dem Zeitpunkt und den Umständen des Liebesbeginns drei Typen von Liebhabern, nennt darunter auch jene, die Frauen zu lieben begehren, welche sie nie gesehen haben: quidam enim illas amare appetunt, quas nunquam viderunt. 2 Liebe, die sich vor allem Sehen am Gehörten entzündet, kennen Meinloh von Sevelingen (MF 11,1), Heinrich von Rugge (MF 110,34), Hiltbolt von Schwangau: Wie schœn unde guot si wære, des het ich sô vil vernomen, daz mir niemer mê diu mære kunden ûz dem herzen komen: sît hân ichz an ir gesehen [...]. 3

Fernliebe zu einer weitgepriesenen Schönen initiiert die Werbungsfahrten im Nibelungenlied, Siegfrieds zu Kriemhild, Gunthers zu Brünhild. Im ›Parzival‹ haben den Part der Fernliebe, aber gegenseitiger, Gramoflanz und Itonje; ihre Minne âne sehen (712,22) findet mit Ringgeschenk und Minnebrief immerhin Mittel der Kommunikation und entbehrt auch der Botin nicht. Das lop Jasons, das ihr in den Ohren klingt, treibt Medea in Konrads von Würzburg ›Trojanerkrieg‹ widerstandslos in Liebe zu dem Fremden (7629–41, 7657–77) – für Konrad kein Einzelfall, sondern eher typisch, wie er kommentiert (7642–7656). Ohne die Auserwählte je gesehen zu haben, plant noch Shakespeares Petrucchio seine Heirat. Die Tochter des Baptista ist freilich eine Berühmtheit ob ihres unzähmbaren zänkischen Wesens – was den werbenden Petrucchio nötigt, die Rolle des Fernliebenden ironisch-modellgerecht zu imitieren: I am a gentleman of Verona, sir, That hearing of her beauty and her wit, Her affability and bashful modesty, Her wondrous qualities and mild behaviour,

Dörrie, Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte von Ovids Epistulae Heroidum [Teil II], in: Nachrichten der Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-Hist. Kl., 1960, S. 360– 423, hier S. 365–379; Ralph J. Hexter, Ovid and Medieval Schooling. Studies in Medieval School Commentaries on Ovid’s Amatoria, Epistolae ex Ponto, and Epistolae Heroidum, München 1986 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 38), S. 137–143. 2 Magister Boncompagno, Rota Veneris. Ein Liebesbriefsteller des 13. Jahrhunderts, hg. von Friedrich Baethgen, Rom 1927 (Texte zur Kulturgeschichte des Mittelalters 2), S. 12. 3 Hiltbolt, Lied VII 1,1–5 (Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus, 2. Aufl. durchges. von Gisela Kornrumpf, Tübingen 1978, Bd. I, S. 165).

Fernliebe

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Am bold to show myself a forward guest Within your house, to make mine eye the witness Of that report which I so oft have heard [...]. 4

Einem belesenen Jünger des Humanismus wie dem Nürnberger Johann Pirckheimer war die literarische Fernliebe nicht unbekannt. Er zitiert sie eingangs seines Briefs vom 18. Februar 1464 aus Padua an einen namhaften gelehrten Dominikaner, zitiert das literarische Muster als Argumentum a simili in eigener Sache: Legimus nonnullos exarsisse in puellas, quas nunquam viderunt [...]. Simile nunc [...] mihi [...] usu venit, ut te amem, quem nunquam viderim. Inclita tua virtus et doctrina, que etsi mihi per famam aliquantisper nota sit, litteris tamen carissimi genitoris perspectissima, adeo te mihi iungit, ut nullum ferme quam te melius novisse videar [...]. 5

Bekundung der Fernliebe war als briefliches Exordium zu Johann Pirckheimers Zeit geläufige Geste. So griff sein älterer Zeitgenosse – in Padua auch sein Lehrer – Peter Luder zum Fernliebe-Exordium, als er sich 1457(?) komplimentierend an einen Grafen von Leiningen wandte, auf dessen baldige Bekanntschaft hoffend: Fama quidem illa nominis ac virtutum tuarum, ut quem oculis nunquam conspexerim, mente tamen et amore complexum tenerem, comes inclite, que non modo Germaniam, verum eciam omnes pene oras Ytalie pervolavit, me quoque transire non potuit [...]. 6

Ähnlich wählte der Straßburger Peter Schott die Äußerung der Fernliebe, als er am 18. Februar 1485 erste Verbindung mit Rudolf Agricola aufnahm:

4

William Shakespeare, ›The Taming of the Shrew‹ II 1, 47–53. [Manche haben sich, wie man liest, glühend in Mädchen verliebt, die sie nie gesehen haben. Ähnlich kann auch ich nun nicht anders als dich lieben, den ich noch nie gesehen habe. Die gepriesenen Vorzüge deiner Person und deine gelehrte Bildung, die, mir eine Weile schon vom Hörensagen bekannt, durch einen Brief meines geliebten Vaters erst vollkommen deutlich geworden sind, bringen dich mir so nahe, daß ich fast niemanden besser zu kennen glaube als dich]. Text bei Ludwig Bertalot, Humanistisches Studienheft eines Nürnberger Scholaren aus Pavia, in: ders., Studien zum italienischen und deutschen Humanismus, hg. von Paul Oskar Kristeller, Bd. 1, Rom 1975, S. 149. Über Johannes Pirckheimer zusammenfassend: 2VL 7 (1989), Sp. 703–708. 6 [Der Ruf deines Namens und deiner Fähigkeiten, ruhmreicher Graf, der nicht nur Deutschland, sondern auch nahezu alle Regionen Italiens durcheilt hat, konnte auch an mir nicht vorübergehen. So halte ich, den ich mit Augen niemals erblickt habe, doch im Geiste liebend umfangen]. Text bei Wilhelm Wattenbach, Peter Luder, der erste humanistische Lehrer in Heidelberg, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 22 (1869), S. 33–127, hier S. 111, Nr. XV. 5

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[...] Nam tametsi faciem tuam numquam viderim [...], tamen posteaquam honestissimarum arcium tuarum quamplures et eos gravissimos testes audivi, [...] continuo coepi et amare te quamvis ignotum [...]. 7

Bohuslaus von Hassenstein, Peter Schotts Jugendfreund, hat in seinen gesammelten Briefen das Exordium der vom Ruhm entzündeten Fernliebe gleich sechsmal zur Hand. 8 Man könnte Briefe aus der Korrespondenz Marsiglio Ficinos und Willibald Pirckheimers und anderer, ein Briefgedicht Georg Rudolf Weckherlins anreihen 9 und sähe: es handelt sich um ein Feld in reicher Blüte bis mindestens ins 17. Jahrhundert.

7 [Zwar habe ich dich niemals von Angesicht gesehen, aber seit ich nicht wenige Zeugen, und zwar sehr gewichtige, deiner rühmlichen Eigenschaften und Leistungen gehört habe, faßte ich, ohne dich selber schon zu kennen, freundschaftliche Zuneigung zu dir]. Text in: The Works of Peter Schott, hg. von Murray A. und Marian L. Cowie, Bd. 1: Introduction and Text, Chapel Hill 1963, S. 71, Nr. 65. 8 Bohuslai Hassensteinii a Lobkowicz epistulae, hg. von Jan Martínek und Dana Martínkova, Bd. 2: Epistulae ad familiares, Leipzig 1980, Nr. 51: [...] nondum noveram ipse hominem, plurimum tamen amabam, solet enim nescio quo modo accidere, ut, in quibus aliquam virtutis indolem esse audimus, eos etiam ignotos et diligamus et admiremur [...]. Ähnlich Nr. 83: […] amasti me, Conrade, antequam nosceres; Nr. 91: [...] quum utrumque prius coeperim diligere quam noscere; Nr. 98: [...] amicum tuum, quem prius amasti, quam nosceres; Nr. 127: [...] quem prius amare coepi quam nosse; Nr. 133: Amasti me, Ioannes, antequam nosceres. Die genannten Briefe fallen in die Jahre 1496 bis 1507. 9 Marsiglio Ficino an Giovanni Altoviti: […] Tu modo auribus animum nostrum comprehendisti. Tot enim ac tanta de elegantia constantiaque tua Ioannis Caualcantis nostri uerbis iam auribus meis insonuerunt, ut neque potuerim me neque uoluerim continere, quia te ualde diligerem & am¢or²em (Marsilius Ficinus, Opera omnia, Basel 1576, ND Torino 1959, Bd. I, 2, S. 650). Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, München 1989, Nr. 385, an Heinrich von Schleinitz, 1516: Verissimum illud Ciceronis esse quisnam dubitet, ob virtutem et probitatem etiam eos, quos numquam vidimus, diligamus […] (das Cicero-Wort, das Pirckheimer zitiert: Laelius de amicitia 6,28); ebd., Nr. 433, an Oecolampadius, 1517: Quamvis te nunquam viderim, [...] ob virtutes tamen et eruditionem iam pridem cognovi ac amavi. Der dänische Mediziner Johannes Franciscus aus Ripen († 1584) widmet Melanchthon ein Gedicht und trägt ihm aus der Ferne seine Freundschaft an (Wolfgang Harms, Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, Bd. 1, Tübingen 1985, S. 46f.). Der epistolographischen Tradition schließt sich noch Georg Rudolf Weckherlins Briefgedicht an seinen Freund Franz Veyraz an (Georg Rudolf Weckherlins Gedichte, hg. von Hermann Fischer, Bd. 1, Tübingen 1894 [StLV 199], S. 243, Nr. 88): Dein lob so ich zu aller stund Von aller lobwürdigen mund, Veyras, begihriglich vernommen, Vermehrte die begird in mir, Die ich lang zuvor hat, mit dir In bessere kundschaft zukommen [...].

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Fernliebe, so zeigt sich, ist nicht auf Dichtung und nicht auf die Begründung einer Liebesbeziehung zu einer Frau beschränkt. Ihr literarischer Spielraum greift weiter, bezieht gleichermaßen Freundschaft ein wie in der lateinischen Überlieferung schon bei Hieronymus in seinem Brief ›De ortu amicitiae‹ an den Mönch Florentinus: In welchem Maße deiner Heiligkeit Ruhm in aller Munde ist, kannst du daran ermessen, daß ich dich, bevor ich dich kennengelernt habe, schon zu lieben beginne. 10 Vor allem besteht kein Anlaß, Fernliebe als eine spezifische Erscheinung der »höfischen« Literatur des Hochmittelalters zu betrachten, wie Horst Wenzels riskanter Aufsatz ›Fernliebe und Hohe Minne‹ nahelegt. 11 Es ist im Gegenteil zweifelhaft, ob Fernliebe als ein signifikanter Liebestypus höfischer Epik – vornehmlich sie meint Wenzel – überhaupt gelten kann. Wenzel möchte dem Typus der Fernliebe eine zentrale ideologische Position der hochmittelalterlichen Feudalgesellschaft ablesen: Indem die »feudale Literatur« die Ehe als eine von Fernliebe ausgehende Verbindung und somit als Liebesehe darstelle, reagiere sie auf »Legitimationszwänge«, denen sich der hochmittelalterliche Adel im Zuge sich wandelnder Bedingungen und Formen des Zusammenlebens an den großen Höfen mehr und mehr ausgesetzt gesehen habe. Wenzels funktionsgeschichtliche Hypothese kann auf sich beruhen bleiben, da bereits ihr beanspruchtes literarisches Objekt, die höfische Epik selber, sich ihr durchaus versagt, denn das seit dem ›Erec‹ und schon dem ›Eneasroman‹ in der Tat manifeste Interesse, Ehe als Liebesehe zu qualifizieren, macht die Fernliebe mitnichten gleichzeitig zum typischen Thema. Die Protagonisten der höfischen Romane haben mit Fernliebe nichts zu schaffen. 12 Itonje und Gramoflanz, Meliur in Konrads ›Partonopier‹, Malefer in Ulrichs ›Rennewart‹ leisten da keinen Ersatz. Wenzel läßt für die höfische Epik, die ihm zureichende Befunde verweigert, denn auch ohne weiteres die Heldenepik und die sog. Spielmannsepik mitsprechen, reiht so die Liebe Gramoflanz’ und Itonjes, Meliurs zu Partonopier, Malefers zur fernen Penthesilea der Fernliebe Siegfrieds und Gunthers im Nibelungenlied, Hetels und Hartmuts in der ›Kudrun‹, aber auch der Tochter Konstantins im ›Rother‹ ungehindert an, verbindet mit allen diesen schließlich die amor de lonh Jaufre Rudels und die Fernliebe in Meinlohs Strophe MF 11,1. Um diese Synthesis des Heterogenen auch zuinnerst begreiflich zu machen, erklärt Wenzel den »Spannungsbogen zwischen 10 Hieronymus, Epist. 4,1: Quantus beatitudinis tuae rumor diversa populorum ora conpleverit, hinc poteris aestimare, quod ego te ante incipio amare quam nosse. 11 Horst Wenzel, Fernliebe und Hohe Minne. Zur räumlichen und sozialen Distanz in der Minnethematik, in: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, hg. von Rüdiger Krohn, München 1983, S. 187–208. 12 Auch in Gottfrieds ›Tristan‹, etwa bei Marke, kann, anders als Rüdiger Schnell (Causa amoris, Bern 1986, S. 334–336) meint, von Fernliebe schwerlich die Rede sein. Zu Marke vgl. die unmißverständlichen Vv. 8517–8522 (Ranke).

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Werbungsabsicht und Durchsetzung dieses Ziels« (S. 194) in den Brautwerbungsgeschichten als »klar vor Augen« liegende »Parallele zur Konzeption der Hohen Minne« (S. 194). Für diese Klarheit war man in der Tat stets blind. II Ohne Zweifel kommt die literarische Fernliebe im 12. Jahrhundert zu einer neuen, zu ihrer historisch wirkungsvollsten Entfaltung, erscheint jedoch in Ausprägungen, die auf den gleichen Nenner bringen zu wollen die Toleranz der Texte arg überfordern hieße. Führend nach Zahl und Verbreitung der Beispiele ist die Äußerung der Fernliebe nicht etwa in einer der Gattungen der volkssprachlichen »höfischen Literatur«, sondern, schon seit dem frühen 12. Jahrhundert, in der lateinischen Briefliteratur, sei es in echten Briefen, sei es in fiktiven Mustern oder auch in neurezipierter antiker Briefliteratur. 13 Ihr häufiges briefliches Auftreten verdankt sie der neuen Rangstellung der Briefgattung selber. Ihr fiel im Zuge der seit dem späten 11. Jahrhundert epochal ansteigenden Ausbreitung schriftlichen Handelns als dem primären Genus aller Schriftkommunikation eine die europäische Schriftkultur fortan tragende Rolle zu. Nicht von ungefähr wurde der Brief Gegenstand einer eigenen Lehre, der Ars dictandi, der ersten nachantiken rhetorischen Disziplin. Fernliebe erscheint vorwiegend in Briefen, welche, wie der Brief Hugos von Honau, des gelehrten Pfalzdiakons Friedrich Barbarossas, an Hugo Etherianus in Konstantinopel, um wohlwollende Aufnahme bei einem von Person noch Unbekannten werben: Gloriosa nominis tui fame suavissimis odoribus non tam Illyricum quam Italiae Germaniaeque fines replens prolixi et periculosi itineris mei in Constantinopolim labores in tantum alleviavit, ut desiderio videndi et alloquendi tuam prudentiam nulla umquam vel maris vel terrae difficultas pervia mihi non fuisset [...]. 14 13 Dazu gehören, nicht allein im Blick auf die Fernliebe, vor allem Ovids ›Heroides‹. Während aus der Zeit bis zum 12. Jahrhundert nur zwei Handschriften der ›Heroides‹ bekannt sind, eine aus dem 9. und eine aus dem 11. Jahrhundert, steigt die Zahl für das 12. Jahrhundert um mindestens 18. Vgl. das Verzeichnis der Handschriften bei Heinrich Dörrie, Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte von Ovids Epistulae Heroidum [Teil I], in: Nachrichten der Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-Hist. Kl., 1960, S. 113– 230, hier S. 120–124; dazu das korrigierende Teilverzeichnis in: P. Ovidii Nasonis Epistulae Heroidum, hg. von Heinrich Dörrie (Texte und Kommentare 6), Berlin, New York 1971, S. 12–18. 14 [Der große Ruhm deines Namens, der mit süßem Duft nicht weniger Italien und Deutschland als Illyrien erfüllt, hat mir die Mühen meiner langwierigen und gefahrvollen Reise nach Konstantinopel so sehr erleichtert, daß im Verlangen, dich zu sehen und mit dir zu sprechen, kein Hindernis zu Wasser und zu Lande mir den Weg hätte sperren

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Der anziehende Fernruhm des Königs, beteuert der ehemalige staufische Notar Petrus von Prezze, habe ihn gedrängt, die Nähe des Königs – Anstellung am Hofe (Ottokars von Böhmen?) – zu suchen: In omnem terram exivit sonus, qui de vobis laudes innumeras et immense probitatis insignia preconatur, ex quibus precipue, iuro per Deum vobis, cor meum incaluit, ut ad regis maiestatis presenciam vestrumque conspectum non differrem ulterius me conferre [...]. 15

Mit dem Argument der Fernliebe leitet auch der Scolaris, der Zugang zu einem berühmten Magister und Aufnahme in dessen Unterricht erstrebt, seine Bitte ein: Uestre prudentie et probitatis atque nobilitatis fama, reuerentissime magister et domine, longe lateque diffusa a non nullis ueridicis mihi relata de longinqua regione ad uestre doctrine studium uenire uehementer persuasit [...]. 16

Mit biblischen Worten formuliert Fernliebe der Mönch Engelhard von Langheim in einem Brief an Abt Erbo von Prüfening: [...] Dilexi uos etiam priusquam uiderem, uidi et dilexi amplius dixique cum regina saba: uerus est sermo quem audiui, uicisti famam uirtutibus tuis. Hec michi causa amandi [...]. 17

Boncompagno bietet in der ›Rhetorica antiqua‹ Briefmuster mit dem Argument der Fernliebe ebenso für Freundschafts- wie für Liebesverhältnisse:

können]. Text bei Nikolaus M. Haring, The »Liber de Differentia naturae et personae« by Hugh Etherian and the letters adressed to and by Peter of Vienna and Hugh of Honau, in: Mediaeval Studies 24 (1962), S. 1–34, hier S. 16. 15 [In das ganze Land ist der Ruhm gedrungen, der Eure zahllosen Verdienste und die glänzenden Beweise Eurer großen Tüchtigkeit verbreitet, und wegen dieser, ich schwöre es, drängt es mich, nicht länger auf die königliche Audienz und die Begegnung mit Euch zu warten]. Text bei Eugen Müller, Peter von Prezza, ein Publizist der Zeit des Interregnums, Heidelberg 1913, S. 140, Nr. 19. 16 [Der Ruhm Eurer Klugheit, Rechtschaffenheit und Eures Adels, verehrter Lehrer, der weit verbreitet ist und von verläßlichen Leuten mir bestätigt wurde, hat mich dringlich veranlaßt, von fern her zum Studium Eurer Wissenschaft zu kommen. Was mir zu Gehör gekommen war, habe ich durch eigene Erfahrung als zutreffend vorgefunden, daß Ihr nämlich ein Mann von Adel seid, ausgezeichnet durch Geist und Charakter]. Hugo von Bologna, ›Rationes dictandi prosaice‹, in: Briefsteller und formelbücher des 11. bis 14. jahrhunderts, hg. von Ludwig Rockinger, München 1863–64, S. 53–88, hier S. 82 (Ad magistrum). 17 [Geliebt habe ich Euch, bevor ich Euch sah; gesehen habe ich nun und noch mehr geliebt und gesprochen mit der Königin von Saba: Wahr ist die Rede, die ich gehört habe, übertroffen hast du deinen Ruhm durch deine Tugenden. Das ist für mich der Grund, dich zu lieben]. Text bei Bruno Griesser, Engelhard von Langheim und Abt Erbo von Prüfening, in: Zisterzienser-Chronik 71 (1964), S. 22–37, hier S. 25.

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Nobis est plurimorum insinuatione relatum et fama publica protestari videtur, quod domina M. filia ducis Bertuldi forma sit et sapiencia redimita. vnde cor nostrum ardet in amore ipsius et illam pre cunctis in uxorem habere optamus [...]. 18

Die Äußerung der Fernliebe fungiert im Brief regelmäßig als Eingangsteil (Exordium). In dieser Rolle kennt sie, sporadisch, schon der spätantike Brief, 19 und an ihn knüpft die frühe Ars dictandi unmittelbar an. Das älteste greifbare Beispiel des 12. Jahrhunderts und zugleich das verbreitetste, das des Adalbertus Samaritanus in den ›Praecepta dictaminum‹ (um 1115) 20 , übernimmt das Fernliebe-Exordium eines Briefs des Symmachus (vor 390) 21 in nahezu vollständigem Wortlaut. Für das briefliche Fernliebe-Exordium lassen sich allein aus der Zeit von etwa 1115 bis 1215 mindestens 24 Beispiele beibringen. 22 Die Zahl spricht für eine schulmäßige Verfügbarkeit dieser Art des Exordium und könnte veranlassen, von ›topischem‹ Gebrauch zu sprechen. Ein Fall von rhetorischer »Exordialtopik«? Begriff und Sache verdienen ein Wort. III Was Ernst Robert Curtius den Geisteswissenschaften mit seinem Entwurf einer »historischen Topik« vermacht hat, war von vornherein mit einem – in seiner Wirkung grandiosen – Mißverständnis verbunden. 23 Die Kritik hat es früh schon beim Namen genannt, 24 hat aber nie ganz durchdringen können. 25 Sie 18 [Viele haben es mir berichtet, und ihr Ruf in der Öffentlichkeit dürfte es bezeugen, daß die Dame M, die Tochter Herzog Bertholds, sich durch Schönheit und Geist auszeichnet. Daher brennt mein Herz in Liebe zu ihr, und ich wünsche sie zur Frau zu haben vor allen anderen]. Boncompagno, ›Bonconpagnus‹ (›Rhetorica antiqua‹) VI, 1. Ich zitiere nach der Hs. Berlin, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, Ms. lat. fol. 509, Bl. 157 r. 19 Nicht berücksichtigt bei Klaus Thraede, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, München 1970 (Zetemata 47 /48). 20 Adalbertus Samaritanus, Praecepta dictaminum, hg. von Franz-Josef Schmale, Weimar 1961 (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 3), S. 43. 21 Epist. V, 4. Q. Aurelii Symmachi quae supersunt, hg. von Otto Seeck, Berlin 1883 (MGH Auctores antiquissimi 6,1), S. 125. 22 Sieh das Verzeichnis im Anhang, S. 157ff. 23 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 2 1954 u. ö., S. 89, 95–99. 24 Den problematischen Kern von Curtius’ Toposbegriff erfaßte nicht schon, wie man bisweilen meinte, Helmut Beumann (Topos und Gedankengefüge bei Einhard, in: Archiv für Kulturgeschichte 33 [1951], S. 337–350), sondern erst Edgar Mertner (Topos und Commonplace, in: Strena Anglica. FS O. Ritter, Halle 1956, S. 178–224, indem er Curtius an seinen vermeintlichen Quellen, antiken Rhetoriken, überprüfte und der Sach- und Begriffsgeschichte von Locus communis (Commonplace) nachging. Weitere und weiterführende Kritik bei Ludwig Fischer, Curtius, die Topik und der Argumenter,

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hatte nicht nur die Autorität eines Grandseigneur seines Faches und Rang und Resonanz eines ungewöhnlichen Werkes gegen sich, sondern auch das Geschenk einer wunderbaren Einfachheit, die es fortan jedermann erlaubte, an Curtius’ Hand, ohne eigene Kenntnis der Sache, von Topik zu sprechen. Curtius hat das spröde undankbare Kapitel der antiken rhetorischen Topik – etwa nach Aristoteles’ ›Rhetorik‹ (II, 23), Ciceros ›De inventione‹ (Buch II passim), ›De oratore‹ (II, 39,162–41,176), ›Topica‹ oder Quintilian (inst. V, 10, 20– 125) – nie auch nur ansatzweise dargestellt; es hätte ihn nur gestört. Beginnend mit dem arg fehlleitenden Satz: »Im antiken Lehrgebäude der Rhetorik ist die Topik das Vorratsmagazin« (S. 89), inszenierte er eine m a t e r i a l e Topik, eine Topik der literarischen Requisiten, der wiederkehrenden Schemata, der geprägten Formeln jeder Art. Mit solcher »Topik« hatte die Topik der rhetorischen Inventio indes primär nicht zu schaffen; sie bot Methoden zur Entwicklung von Argumenten, doch keine Fundgrube schon formulierter Argumente. Es muß Curtius gleichgültig gewesen sein, daß er die Begriffe Topos und Argument beliebig austauschte, den Begriff des Locus communis demolierte, gleichgültig, daß er den Begriff »rhetorische Topik«, indem er ihn alsbald mit dem einer »poetischen Topik« variierte, kategorial aufhob, gleichgültig, daß er auf antike Schriften mit dem Titel ›Topik‹ verwies (S. 79), in denen sich von dem, was er als Topik suggerierte, doch gar nichts findet. Um des leitenden Ziels willen, die Kontinuität der europäischen Literatur als Kontinuität ihrer literarischen Konstanten zu demonstrieren, hätte Curtius des Versuchs, sich der Topik der antiken Rhetorik zu versichern, nicht bedurft. Sie ist der Boden seiner »historischen Topik« nicht. Für den Terminus »Exordialtopik«, den Curtius bildete, konnte er sich auf Lehrschriften Ciceros stützen, 26 allerdings nur auf diese; alle anderen Verfasser in: Sprache im technischen Zeitalter 41 (1972), S. 114–143. Die Aufsätze von Beumann und Mertner sind wiederabgedruckt in: Toposforschung. Eine Dokumentation, hg. von Peter Jehn, Frankfurt 1972 (Respublica literaria 10), S. 191–208 und 20–68. 25 Sprechendes Beispiel dafür sind die Bemerkungen zur Toposforschung bei Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985 und 21992, S. 11f. Haug verharrte, offenbar in Unkenntnis der fundamentalen Kritiken Mertners, Fischers u. a. und ebenfalls ohne Vergewisserung an den von Curtius berufenen Quellen der antiken Rhetorik, bei Beumanns Einwendungen gegen »Curtius’ extrem konventionalistischer Auffassung topischer Traditionen«. 26 ›De inventione‹ I, 16,22: Im Exordium benevolentia quattuor ex l o c i s comparatur: ab nostra, ab adversariorum, ab iudicum persona, a causa. ›Topica‹ 26,97: Non solum perpetuae actiones, sed etiam partes orationis iisdem l o c i s adiuvantur […], ut in principiis, quibus ut benivoli, ut dociles, ut attenti sint qui audiant, efficiendum est propriis l o c i s . Die ›Rhetorica ad Herennium‹ verwendet dagegen den Terminus modus statt locus: I, 4,8: Benivolos auditores facere quattuor m o d i s possumus: ab nostra, ab adversariorum

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rhetorischer Lehre halten, wenn sie von der Rhetorik des Exordium handeln, den Terminus Topos/Locus aus guten Gründen fern. Aber auch in Ciceros ›De inventione‹ kommen Topoi, Loci, nur für ein Teilkapitel der Exordienlehre – gewiß ein wichtiges –, nur für das benevolum facere, in Betracht. Die Loci sind hier die geläufigen vier Blickrichtungen, die ein Redner beim Versuch, für seine Sache zu werben, einnehmen kann: Er kann im Exordium versuchen, ein günstiges Licht auf seine eigene Person zu werfen (a persona nostra) oder ein ungünstiges auf die Gegenseite (ab adversariorum persona), kann versuchen, den Richtern zu schmeicheln (ab iudicum persona) oder die Akzeptanz der Sache selbst herauszustellen (a causa). Wiederum zeigt sich: Die Topoi, Loci, bilden ein methodisches Ensemble von Fragerichtungen, mittels deren der Redner nach Momenten der Sympathiegewinnung suchen kann; 27 sie sind jedoch nicht, was er nach der vorgezeichneten Methode inhaltlich findet. Die Loci geben generierende Fragebereiche an, ermöglichen geeignete, je nach dem Fall verschiedene Antworten, sind aber nicht diese selbst. Curtius hingegen meinte, man finde im »antiken Lehrgebäude der Rhetorik [...] Gedanken allgemeinster Art: solche, die bei allen Reden und Schriften überhaupt verwendet werden konnten. [...] Bescheidenheitsformeln, Einleitungsund Schlußformeln [...]« (S. 89), und so auch Exordialtopoi. Doch nichts davon findet man in den antiken Rhetoriken, und es überrascht nicht, daß Curtius sich für jene »Gedanken allgemeinster Art« und jene allerlei »Formeln« einschließlich jener Fälle von literarischer Exordialtopik, die er ausführlicher präsentierte, jeden Beleg aus den Rhetorikbüchern selber sparte. Was ist nun die exordiale Fernliebe? In Curtius’ Sinne sicherlich ein mustergültiges Beispiel von Exordialtopik, denn es handelt sich um einen wieder und wieder, oft formelhaft begegnenden Typus des Briefeingangs: Liebes- oder Freundschaftsbekundung an eine noch unbekannte Person aufgrund ihres beeindruckenden Ruhms. So deutlich die exordiale briefliche Fernliebe rhetorisch gedacht ist – sie läßt sich fassen als Captatio benevolentiae a persona recipientis –, antiken Lehrschriften der Rhetorik entstammt sie natürlich nicht, schon deshalb nicht, weil Fragen brieflicher Kommunikation dort kein Gegenstand waren. Vermittelt wurde das Fernliebe-Exordium im 12. Jahrhundert – nach sieben Jahrhunderten Pause – durch neurezipierte antike Briefbeispiele (Ovid, Hieronymus, Symmachus), zeigt sich nun aber sogleich rhetorischer Lehre einbezogen, in dem schon erwähnten Briefmuster des Adalbertus Samaritanus, vor allem in der Exordiensammlung der nostrorum, ab auditorum persoa et ab rebus ipsis. Alle übrigen: officium, virtus, modus. 27 Treffend bezeichnet Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 274, die Loci des benevolum parare als »Suchformeln«.

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›Summa dictaminum‹ des Magister Bernardus 28 , später in der ›Rota Veneris‹ und der ›Rhetorica antiqua‹ des Boncompagno, und entsprechend kann es dem Andreas Capellanus als eine formula gelten: Wenn ein Nobilior mit einer Nobilis ins Gespräch zu kommen wünsche, sagt er, könne dieser mit folgender Formel beginnen, sub hac formula poterit exordiri […]. 29 Während die antike Rhetorik Exordiensammlungen und Empfehlungen von formulae nicht kannte, ist dies in der Ars dictandi des 12. Jahrhunderts nun entschieden der Fall. Und damit bietet die Ars dictandi für das Exordium des Briefs auch erstmals das, was Curtius sich als Exordialtopik vorstellen mochte. Die Exordiensammlungen – wie auch die für die Ars dictandi unentbehrlichen Proverbiensammlungen – signalisieren einen neuen rhetorikgeschichtlichen Zeitpunkt, den Zeitpunkt einer Rhetorik der Schriftlichkeit. Exordiensammlungen gehören nicht zur forensischen Rede, sie dienen vielmehr, angelegt für eine Vielzahl von Korrespondenzfällen, schriftlicher Textbildung und Textausarbeitung und setzen deren Ansprüche voraus. Dabei ist es von wesentlichem Belang, daß der mittelalterliche Brief typische Rollen der Partner entwirft, feste Rollenverhältnisse formuliert. Die Fernliebe ist eine solche feste Rollenkonstellation. IV Die exordiale Fernliebe tritt in den Briefbeispielen des 12. Jahrhunderts in zwei Versionen auf. In der einen begründet sie die briefliche Gesprächsaufnahme mit einer gerühmten fernen Person, ungeachtet, ob diese auch weiterhin von Angesicht unbekannt bleiben oder Nähe möglich werden wird; die räumliche Ferne dauert an. In der anderen Version liegt die Fernliebe zum Zeitpunkt der brieflichen Gesprächsaufnahme bereits zurück, ist die ehemals ferne Person durch Reise oder gelungene Suche gefunden, der Schritt vom Hören zum Sehen getan, die vernommene Rühmung durch Augenschein bestätigt oder gar übertroffen. 30 28 Zu der historisch bedeutenden ›Summa dictaminis‹ des Magister Bernardus sieh Franz Josef Worstbrock/Monika Klaes/Jutta Lütten, Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters, Teil 1, München 1992, S. 28–35. 29 Andrea Capellano, Trattato d’amore – Andreae Capellani regii Francorum, De amore libri tres, hg. von Salvatore Battaglia, Roma 1947, S. 146: Quum nobilior nobilem feminam sui alloquatur affatu […], sub hac f o r m u l a poterit exordiri: Maiores mihi restant Deo gratiae referendae quam cuiquam in orbe viventi […] Nec est mirum, si vos videndi tam magno agebar affectu et tam grandi voluntate angebar, quia vestri decoris ac sapientiae laudes mundus universus attollit, et per infinitas mundi partes curiae probitatis vestrae relatione quasi cibo quodam corporali pascuntur. Et ego nunc aperta veritate cognosco […]. 30 Hugo von Bologna [Anm. 16], S. 68f., 82f.; Ovid, Her. 16 (s. o. S. 137); Engelhard von Langheim (s. o. S. 143); Andreas Capellanus [Anm. 29] u. a.

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Diese zweite Version mit ihrem doppelt motivierten Verlangen nach Freundschaft oder Liebe, das vordem die bewundernde Rede anderer entzündete und jetzt das eigene Anschauen, nahm Meinloh von Sevelingen in seiner Strophe MF 11,1 auf: 31 Dô ich dich loben hôrte, dô het ich dich gerne erkant. durch dîne tugende manige vuor ich ie welende, unz ich dich vant. daz ich dich nû gesehen hân, daz enwirret dir niht. er ist vil wol getiuret, den dû wilt, vrowe, haben liep. Du bist der besten eine, des muoz man dir von schulden jehen. sô wol den dînen ougen! diu kunnen, swen si wellen, an vil güetelîchen sehen.

Helmut de Boor meinte, einem älteren Hinweis Friedrich Vogts 32 folgend, Meinlohs Strophe durch eine bestimmte Quelle erklären zu können, nämlich als »Umsetzung eines Gesprächsabschnitts aus des Andreas Capellanus Minnelehre« 33 , eines einleitenden Abschnitts mit dem Fernliebe-Motiv. Dem wird man aus chronologischen Gründen 34 und überdies nach Alfred Karneins Untersuchungen der Wirkungsgeschichte des Andreas 35 heute nicht mehr folgen wollen. Angesichts der breiten Geläufigkeit des Fernliebe-Exordium in der Briefliteratur des 12. Jahrhunderts kann man dem Versuch, Meinlohs Eingangsverse für sich auf 31 Ich folge der Überlieferung von B, ohne in Vers 2 die Möglichkeit der Lesart wallende (C) statt welende (B) zu bestreiten. Allerdings hat man bei C bzw. der Vorlage ihres Schreibers mit einer überarbeitenden Hand zu rechnen, wie die in V. 3f. für C typische Beseitigung der Assonanz niht : liep (B) durch reinen Reim niht : pfliht (harmonisierend niet : liep auch Lachmann/Kraus) und die prosaische Aufhebung der syntaktischen Sperrungen in Vers 4 und 7 zeigen. Auch haftet der Lesung tougenliche (C) in Vers 7 gegen güetelichen (B) der Anschein einer Veränderung gemäß der Distanzhaltung der frouwe im Hohen Minnesang an. Weitere Gründe für die Lesart welende (B) in Vers 2 führt KarlHeinz Schirmer (Die höfische Minnetheorie und Meinloh von Sevelingen, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. FS Fritz Tschirch, Köln, Wien 1972, S. 52–73, hier S. 54) an. 32 Des Minnesangs Frühling, neu bearb. von Friedrich Vogt, Leipzig 41923, S. 278. 33 Helmut de Boor, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170– 1250 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2), München 21955, S. 248, 111991, S. 234. 34 Alfred Karnein, De amore in volkssprachlicher Literatur. Untersuchungen zur Andreas-Capellanus-Rezeption in Mittelalter und Renaissance, Heidelberg 1985 (GRMBeiheft 4). Nach Karneins umsichtiger Diskussion der für die Datierung von Andreas’ ›De amore‹ relevanten Indizien ist der Traktat im »ungefähren Zeitraum« um 1186 entstanden (S. 38), zu spät für die Hypothese einer Rezeption bei Meinloh. 35 Einer der wichtigsten Erträge von Karneins Arbeit [Anm. 34] ist der Nachweis, daß Andreas’ ›De amore‹ »zu seiner Zeit nicht auf den poetischen Diskurs« in den volkssprachlichen Literaturen gewirkt, spät erst die Grenzen »der gelehrt-lateinischen Welt« überschritten hat (S. 265).

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eine bestimmte Quelle festzulegen, wohl überhaupt wenig Aussicht auf Erfolg machen. Unstrittig wird sein, daß Meinlohs Strophe ganz Anrede ist – eher eine Seltenheit im Minnesang. 36 Als Text geschlossener Anrede entspricht die Strophe dem brieflichen Redeakt, ohne sich jedoch ausdrücklich als Brieflied zu präsentieren. Man wird fragen, ob sich in Meinlohs Strophe die Vorgabe der Briefkunst allein auf das Fernliebe-Exordium beschränkt, und dann bald beobachten, daß die Strophe insgesamt eine Art der Diskursivität aufweist, die ihr Modell in einer der typischen Formen des Briefs hat, die im 12. Jahrhundert schulmäßig geübt wurden und als Muster umliefen. Meinloh beginnt mit dem exordialen Bericht vom Hören, Suchen, Finden (V. 1–2). Aus dem glücklichen Erfolg der Suche geht als zweiter Schritt der Lobpreis der gefundenen Schönen (V. 3–5) hervor, aus dem Lobpreis als dritter Schritt das verhüllte Werben um ein Zeichen der Zuneigung, einen liebevollen Blick (V. 6–7). Jeder der drei Schritte hat eine seiner Art nach eigene Zeitstufe: im Präteritum steht das berichtende Fernliebe-Exordium, im Präsens das Personenlob, im Modus des möglichen, eventuellen Künftigen das verhüllte Beschwören des güetelîchen ane sehen. Die drei Schritte sind indes nicht hart gegeneinander abgesetzt, vielmehr nimmt die Partie des Personenlobs eingangs den Schluß des Exordium auf: daz ich dich nu gesehen hân […], und der Ausruf so wol dir dînen ougen!, mit dem die verhüllte Äußerung des Begehrens einsetzt, ist zugleich noch Preis der ersehnten Geliebten. Den dreigliedrigen Strukturtyp, der Meinlohs Strophe der Liebeswerbung zugrundeliegt, trifft man zuerst in Briefmustern von Lehrern der Ars dictandi im frühen 12. Jahrhundert an, Briefmustern, die um Freundschaft oder um Aufnahme in das Studium bei einem berühmten Magisters werben. Das älteste Beispiel ist der erste Brief aus der Sammlung des Adalbertus Samaritanus 37 ; seine fünf erhaltenen Handschriften fallen teils ins mittlere, teils ins ausgehende 12. Jahrhundert, und vier von ihnen stammen aus Deutschland. 38 Es ist ein Brief der Werbung um Freundschaft wie Meinlohs Strophe eine Liebeswerbung. Das lateinische Muster ist anders als Meinlohs Strophe mit üppigem Wortaufwand formuliert, aber die Makrostruktur des Textes – allein auf sie kommt es hier an – ist der skizzierten dreigliedrigen Anlage von Meinlohs Strophe analog. Sie erschließt sich schon bei der ersten Lektüre des lateinischen Briefes deutlich: 36

Sieht man von den Botenliedern ab, begegnen Lieder, die ganz als direkte Anrede gesprochen sind, erst wieder mit Walthers sog. Mädchenliedern (L. 49,25; 50,19; auch 62,6 und 70,1). 37 S. o., Anm. 20. 38 Sieh das Verzeichnis der Handschriften von Adalberts ›Praecepta‹ im ›Repertorium‹ [Anm. 28], S. 4–6. Der fragliche Brief ist überliefert in Nr. 1.1, 1.2, 1.3, 1.7, 1.10.

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Adalbertus Samaritanus, Epist. 1 Exordium

Personenlob

Bitte

Bonorum frequens astipulatio de tuis sanctis moribus in hoc me desiderium provocavit, ut amicitias tuas ardenter exoptem. […] Preconia etenim, que de te a pluribus efferuntur, veraci, ut expertus sum, ore promuntur. Es quippe natura preclarus, sollerti pectore gnarus, factis conspicuus, moribus egregius, largitate perfusus in amicorum dapsilis usus.

Idcirco, amabilissime domne, tuam, ut dixi, amicitiam incomparabiliter expetens, has tibi litteras scripsi, orans et summa prece deposcens, ut, quid tibi super his placeat, quam cito rescribas.

Guter Leute häufiges Urteil über dein makelloses Wesen haben in mir den heißen Wunsch nach deiner Freundschaft geweckt. […] Die Lobsprüche, die über dich von vielen getan werden, sind, wie ich selber erfahren habe, wahr gesprochen. Denn du hast von Natur aus alle Vorzüge, bist bekannt für deinen geschickten Verstand, prominent durch deine Taten, ausgezeichnet durch deinen Charakter, durchdrungen von Freigebigkeit zu reichem Nutzen deiner Freunde. Daher, liebenswerter Herr, habe ich, in unvergleichlicher Weise nach deiner Freundschaft verlangend, diesen Brief geschrieben und bitte inständig um rasche Antwort, wie du über meinen Wunsch befindest.

Mit der Übernahme des lateinischen brieflichen Strukturmodells, das den gedanklichen Entwurf der Liedstrophe maßgeblich dirigiert, griff Meinloh in den Liebesdiskurs der frühen deutschen Lyrik ein. Das in der Strophe geltende Rollenverhältnis ist schon mit dem Fernliebe-Exordium gegeben. Die Frau, ausgezeichnet durch tugende manige und daher durch das loben anderer, ist Ziel beständiger Suche gewesen, und endlich gefunden, wird sie als die gesuchte Vollkommene erkannt. Identifiziert sie sich durch ihre Werthaftigkeit, so der Mann durch die Fähigkeit der Werterkenntnis. Mit dem Rollenverhältnis, das sich hier zeigt, setzt sich die Strophe von der älteren, der frühesten überlieferten deutschen Liebesdichtung klar ab. Dort trafen Schmerz, Entbehrung, Verlust vorwiegend die Frau; sie konnte, verlassen, ihre Souveränität einbüßen. 39 Ob Meinlohs Strophe mit ihrer neuen Rollenverteilung bereits vom Minnesang romanischer Provenienz berührt ist, scheint fraglich. 40 Verharren in gemessener Distanz ist dem Mann hier nicht 39 Dies trifft im Unterschied zu den Ritterstrophen auf alle Frauenstrophen des Kürenbergers und das Falkenlied sowie auf die anonyme Frauenstrophe MF 37,4 zu. 40 Ingrid Kasten, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert, Heidelberg 1986, S. 222, stellt zu Recht fest, daß die Fernliebe bei Meinloh mit dem »Konzept der amor de lonh […] nichts gemein« hat, möchte jedoch einen »fortgeschrit-

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auferlegt, im Gegenteil: das Gefunden- und Erblickthaben suggerieren Nähe der Begegnung. swaere und leit der Minne, klage und trûren kommen nicht einmal als drohende Möglichkeit in Betracht. Den Schimmer eines spezifisch minnesängerischen Konzepts trägt immerhin die Wirkung der Erhöhung, die der Mann durch die Zuneigung der Frau erführe: er ist vil wol getiuret den du wilt, vrouwe, haben liep. Der historisch-typologische Ort von Meinlohs Strophe liegt diesseits der ältesten Schicht der deutschen lyrischen Liebesdichtung, zeigt am Rande wohl eine erste Spur des neuen romanischen Paradigmas, ist in der Hauptsache aber im Ambiente gelehrter lateinischer Epistolographie der Zeit zu suchen. Meinlohs Strophe gehört nicht erst dadurch dem Aufbruch laikaler Schriftkultur im 12. Jahrhundert an, daß sie aufgezeichnet wurde, sondern bereits und primär dadurch, daß ihrer Textbildung schriftliterarische Muster zugrundeliegen, ein Briefmodell der Ars dictandi und die briefliterarische Fernliebe. Nicht zufällig stößt man auf die Briefschriftlichkeit. Soweit es im 12. Jahrhundert an laikalen Adelshöfen wachsenden Schriftgebrauch und damit einen Bedarf an Schriftkompetenz gab, betraf er allererst Verwaltung, Rechtsgeschäfte, Diplomatie, 41 Bereiche also der Schriftlichkeit, deren Mitte das Briefwesen war, in das einzuüben der Ars dictandi oblag. V In der Geschichte der literarischen Fernliebe beansprucht einen prominenten Platz das Nibelungenlied. 42 Fernliebe ist hier mit der Brautwerbung verknüpft und ihr bestimmender Antrieb. Diese Verknüpfung eignet der literarischen Brautwerbung sonst nicht. Die Brautwerbungsepik des 12. Jahrhunderts, soweit wir sie noch kennen, hat jedenfalls mit Fernliebe nicht zu schaffen. Zwar ist die Braut, um die im ›König Rother‹ oder im ›Oswald‹ – wenn dieser denn dem 12. Jahrhundert angehört – geworben wird, stets eine Königstochter in einem fernen Land, das man nur übers Meer erreicht, doch geht die Werbung um sie nicht von Fernliebe aus, ihr Motiv ist vielmehr Heirat mit einer Ebenbürtigen um der Sicherung der Erbfolge willen. 43 In keinem Falle ist weitverbreiteter Ruhm der erwünschten Braut im Spiele. Im Gegenteil, man weiß von ihr nichts oder nichts tenen Einfluß der neuen Ideen« darin erkennen, daß »der Sänger die Frau allein wegen ihres gesellschaftlichen Rufes« (S. 221) liebt – was indes gar nicht der Fall ist. 41 Vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Bd. 2, München 1986, S. 617–637. 42 Zitiert wird nach der auf die Hs. B gegründeten Ausgabe von Karl Bartsch/ Helmut de Boor, 21. Aufl., Wiesbaden 1979. 43 Vgl. ›Münchener Oswald‹, V. 45–50; ›König Rother‹,V. 19–43.

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Näheres; nur ein besonders weltkundiger Ratgeber kennt sie und kann sie als die geeignete nennen. 44 So verhält es sich noch in Thomas’ und Gotfrids ›Tristan‹. Die drei Brautwerbungen bilden im Nibelungenlied die drei Initiativen, von denen alle Handlung ausgeht. Keiner der Werbenden, Sivrit, Gunther, Etzel, hat die Frau, um die er wirbt, je zuvor gesehen. Sie lebt, Königstochter oder selber Herrscherin oder schöne Witwe, in einem fernen Land. Anders aber als sonst in der Brautwerbung ist die ferne Braut weithin bekannt, bekannt stets durch den Ruhm ihrer Schönheit. Der Fernruhm einzigartiger Schönheit stimuliert typisch alle Werbungen; ein anderes Motiv bringt der Erzähler nicht. Ez was ein küniginne gesezzen über sê, ir gelîche enheine man wesse ninder mê. diu was unmâzen scœne [...]. daz gehôrte bî dem Rîne ein riter wol getân, der wande sîne sinne an daz scœne wîp. (326,1–3; 328,2–3)

So beginnt die Geschichte von Brünhilt und Gunther. Der Fernruhm einzigartiger Schönheit ist auch Sivrits Motiv der Werbung um Kriemhilt: dô sprach der küene Sîvrit: ›sô will ich Kriemhilden nemen, Die scœnen juncfrouwen von Burgonden lant dur ir unmâzen scœne‹. (48,4–49,2) 45

Der Fernruhm der schönen Frau löst, bei Sivrit wie bei Gunther, Liebesbegehren aus. Das alte Werbungsmotiv, die Erbfolge auf angemessene Weise zu sichern, tritt zurück, auch wenn es implizit in Geltung bleibt; es kommt nicht mehr zur Sprache. Gänzlich verschieden ist indes von Fall zu Fall die Tragweite der Fernliebe. Bei Gunther bleibt sie begrenztes Motiv. Er hat keine Liebesgeschichte. Anders Sivrit. Der Aufbau der Sivrit-Figur bestünde ohne ihre Verwicklung in die Fernliebe nicht. Auch der Fernliebe Sivrits eignet zunächst keine größere Reichweite als die des Motivs zur Werbungsfahrt, und sie wäre nach deren Dauer bemessen. So wie Sivrit seine Werbung ansetzt, kommt sie indes nicht zum Erfolg. War er nach Worms allein um Kriemhilts willen aufgebrochen, gibt er dort über sein Anliegen, auch auf Gunthers Frage danach (106,1–3), keine Auskunft, bringt nicht seine Werbung um die Königstochter vor, sondern fordert Gunther zum Kampf um die

44 Lupolt im ›Rother‹, V. 45–83. Im ›Orendel‹, V. 207–231, ist es der alte König, im ›Oswald‹, V. 60–70, ein Engel. 45 Vgl. auch 44,2f.; 45,1. – Auch für Etzel ist Kriemhilts Schönheit ausschlaggebend: 1149,3; 1150,1–4.

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Herrschaft zen Burgonden heraus. 46 Versteht er die Machtfrage als Mittel der Brautwerbung? Er koppelt jedenfalls – unausgesprochen – diese mit jener, handelt damit gemäß seinem vor der Ausfahrt gefaßten Entschluß, Kriemhilt notfalls mit eigener Hand zu erstreiten: swaz ich friwentlîche niht ab in erbit, daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant. (55,2f.)

Die Werbung hat sich für ihn offenbar wie im Brautwerbungsschema als Kampf zugleich um Herrschaft und Frau zu vollziehen. Er setzt darauf, den Anspruch, daß dem Stärksten die Herrschaft gebührt, im Zweikampf mit König Gunther zu beweisen. Doch es mißlingt ihm, die Wormser Herren in dieses Verfahren zu zwingen. Sie können gegen die Herausforderung des an Kampfkraft übermächtigen fremden Recken den Verzicht auf eine Entscheidung durch die Waffen durchsetzen und gütliches Einvernehmen herstellen. Sivrit wird willkommen geheißen, kann als hochgeehrter Gast in Worms bleiben und fügt sich selber in die herrschaftliche und soziale Formation des Hofes willig ein. Mit der Rücknahme der Aggression gegen Gunther ist freilich zugleich Sivrits Werbung vorerst gescheitert. Sie bricht ab, noch ehe sie vorgetragen wird, und wird nicht zum Thema. Sivrits Beziehung zu Kriemhilt bleibt trotz Aufenthalts am gleichen Orte, trotz der nun räumlichen Nähe Fernliebe, unverändert Minne âne sehen. Während sie ihn, vom Fenster aus, auf dem Hofgelände immer wieder beobachten kann (133,1–134,1), ist ihm ihr Anblick versagt, und so geht es fort: Sus wont’ er bî den herren, daz ist alswâr, in Guntheres lande volleclîch ein jâr, daz er die minneclîchen die zîte niene gesach. (138,1–3)

Sivrits Fernliebe perpetuiert sich, wird ein Zustand auf unabsehbare Dauer. Damit erhält sie eine andere Bedeutung. Zuvor mit Bereitschaft zu Gewalt verknüpft, ist sie nun forderungslos, ohne Aufbegehren, ausharrend in unsicherer Hoffnung. Interpreten des Nibelungenlieds haben verschiedentlich, zunehmend in jüngerer Zeit, geltend zu machen versucht, der Verfasser habe die Liebesbeziehung Sivrits zu Kriemhilt nach minnesängerischem Modell als Minnedienst dargestellt. 47 46 Zum ersten Auftreten Sivrits in Worms, das die Leser immer wieder irritiert hat, Ursula Schulze, Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997, S. 178–183; Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 170f. 47 Ursula Schulze, Nibelungenlied [Anm. 46], S. 181; dies., Das ›Nibelungenlied‹ und Walther von der Vogelweide, in: Vom Mittelalter zur Neuzeit. FS Horst Brunner, hg. von Dorothea Klein u. a., Wiesbaden 2000, S. 161–180, hier S. 172–175; dies., Siegfried – ein Heldenleben?, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. von Matthias

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Überzeugende Aufweise hat diese Lesart m. E. nicht gefunden und wird sie schwerlich finden, man wollte denn Hohe Minne auf das Merkmal schweigenden Ausharrens im Sehnsuchtsschmerz reduzieren. Die dem hohen Minnedienst zugrundeliegende Konfiguration fällt von vornherein aus: Willkür der frouwe und bedingungslose Unterwerfung des Mannes unter sie kommen für die Liebesgeschichte Sivrits nie in Betracht. Kaum zu betonen, daß nicht eine Minneherrin Kriemhilt es ist, die Sivrits endloses Warten auf eine Begegnung, auf nur einen Blick veranlaßt. Sivrit erfährt minne auch nicht als lustvolles Leid und erträgt die Entbehrung nicht zu beständiger Selbsterziehung, zur Steigerung seiner werdekeit. Welchem Zwecke der vermeintliche hohe Minnedienst 48 hätte genügen sollen, ist nicht ersichtlich, und der Rekurs auf ihn scheint eher geeignet, den Blick auf die Situation, in die sich Sivrit mit der Aufnahme in den Wormser Hof begeben hat, zu verstellen. In dem Machtkampf, den Sivrit mit seinem Auftreten gegen die Wormser Herren provoziert hatte, unterlag er, als er es aufgab, die Konfrontation zu seinen Bedingungen durchzustehen. So viel man ihm nun auch an êre erweist (129,1f.), 49 er ist in seine Schranken gewiesen, ist dem Ziel, um dessentwillen er ausgefahren war, keinen Schritt näher gekommen, zeigt sich auch nicht in der Lage, von sich aus einen weiteren Schritt zu tun. Mit seinem Anliegen der Werbung ist er in die Abhängigkeit von den Königsbrüdern geraten; ihr Meyer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 669–690, hier S. 683–685. Zuvor z. B. Gernot Müller, Zur sinnbildlichen Repräsentation der Siegfriedgestalt im Nibelungenlied, in: Studia Neophilologica 47 (1975), S. 88–119, hier S. 102, und Hans Fromm, Das Nibelungenlied und seine literarische Umwelt, in: Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1990, S. 3–19, hier S. 12: Der Dichter des Nibelungenlieds »übersetzt das Ritual des Minnesangs ins Epische«. Schulze unterstellt jener hôhen minne, auf die sich Sivrit als Ziel seiner Ausfahrt gen Worms richtet (47,1: Do gedâht ûf hôhe minne das Siglinde kint), die »heute in der Literaturwissenschaft« etablierte Bedeutung, »nämlich die ethische und emotionale Steigerung der Persönlichkeit. Sie setzt Bewährung im Dienen voraus« (Das ›Nibelungenlied‹ und Walther von der Vogelweide, [Anm. 47], S. 172). Demnach müßte Sivrit mit dem bewußten Vorsatz nach Worms aufgebrochen sein, dort Minnedienst zu leisten, Minnedienst gar als Selbstbewährung. Schulze blendet dabei Sivrits Bereitschaft zum Kampf um Kriemhilt (55,2f.; 59,1) aus. Gänzlich anders, hôhe minne (47,1) nicht als ›Hohe Minne‹, vielmehr im Blick auf die Schwierigkeit der Brautwerbung verstehend, Müller [Anm. 46], S. 400. 48 Von vrouwen dienest, den vrouwen dienen ist im Nibelungenlied häufig genug die Rede, nie aber von einem dienest Sivrits für Kriemhilt. 49 Folgt man Jan-Dirk Müllers Erläuterungen zu spezifischen Bedeutungen von êre im Nibelungenlied [Anm. 46, S. 360f.], wäre die unsagbar michel êre, die man Sivrit nun erweist, Zeichen seiner Einbeziehung in die burgundische Ordnung, von der ihn zuvor Gernot, indem er ihm êre als Ziel seines möglichen Kampfes nicht zubilligte (124,3), ausgeschlossen hatte.

Fernliebe

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Ermessen entscheidet, ob er Kriemhilt sehen kann oder nicht. Der jeder Situation gewachsen zu sein glaubte und aufgrund seiner Kraft und jener Attribute und Fähigkeiten, von denen Hagen zu berichten wußte, tatsächlich allen überlegene Handlungsmächtigste ist entzaubert. Er verweilt in Worms, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, Kriemhilt zu Gesicht bekommen, verharrt ein Jahr und mehr, bis zum großen Fest nach dem Sachsenkrieg, in seiner vom bloßen Hörensagen entzündeten Imagination der schönen Geliebten. Die widerspruchsvolle Perpetuierung der Fernliebe in der Nähe indiziert seine Ohnmacht. Die Lösung des von Sivrit provozierten Konflikts, seinen Verzicht auf den Entscheid mit den Waffen schreibt Jan-Dirk Müller sehr entschieden allein dem höflich gewandeten Friedensangebot König Gunthers zu, dessen Art es freilich ist, mehr zu sagen, als es tatsächlich verspricht. 50 Doch sind am Vorgang der Pazifizierung wesentliche weitere Faktoren beteiligt als einzig die Rede Gunthers (127,1–3). Zunächst ist der maßgeblich vermittelnde Akteur Gernot, nicht Gunther. Er setzt dem bedrohlich hitzigen Wortwechsel Ortwins und Hagens mit Sivrit (116–122) ein Ende, indem er den Seinen Schweigen gebietet (123,1–3); Sivrits Reizrede (125) findet keine Resonanz mehr, seine Aufforderung zum Kampf bleibt ohne Antwort. Gernot ist es, nicht Gunther, der Sivrit nun willkommen heißt und zuerst seine Aufforderung zum Kampf mit ergebener Dienstbekundung (126) auffängt; 51 Gunther, hier schon der schwache König, folgt ihm nur nach. Zum andern: Mitten in die Schilderung von Gernots Bemühen, den Weg zu einer friedlichen Konfliktlösung zu ebnen, flicht der Erzähler, kontextuell scheinbar unvermittelt, doch an eben dem Punkte, an dem sich die Wende anbahnt, die Bemerkung ein: dô gedâhte ouch Sîvrit an die hêrlichen meit (123,4). Der Vers ›antwortet‹ direkt auf Gernots erste Maßnahme gegen den drohenden Ausbruch der Gewalt: allen sînen degenen reden er verbôt / iht mit übermüete (123,2f.). Sivrits Gedanke an Kriemhilt läßt sich nicht als an dieser Stelle belanglos beiseiteschieben, der Erzähler ruft mit ihm vielmehr den für Sivrit kardinalen Bezugspunkt aller seiner Handlungen auf. Was der in die Streitsituation eindringende Gedanke an Kriemhilt in Sivrit konkret bewegt, gibt der Erzähler freilich mit keinem Worte preis. Gernots versöhnlich einlenkendes Verhalten hält Sivrit jedoch vor Augen, daß eine Entscheidung für oder gegen den Weg der Gewalt nun bevorsteht. Beginnt Sivrit, eingedenk der Warnung seines Vaters, 52 am Erfolg des Wegs 50

Zur Währung der Worte im Sprechakt der Höflichkeit s. Müller [Anm. 46], S.

410f. 51 Müller, ebd., S. 411, faßt die Str. 126 gegen den Consensus omnium, unbekannt mit welchen Gründen, als Rede Gunthers, nicht Gernots auf. 52 57,1: »Mit gewalte niemen erwerben mac diu meit«, | sô sprach der künec Sigmunt, »daz ist mir wol geseit […]«.

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der Gewalt zu zweifeln? Er könnte sich, das besagt sein Gedanke an Kriemhild zumindest, auf ein Arrangement mit den Wormsern einlassen, wenn er damit die Chancen seiner Werbung nicht zu verspielen glaubt. So spielt er also mit, und damit tritt seine Fernliebe in die Phase ihrer unabsehbaren Prolongierung. Mit dem Übergang der Fernliebe des jedem Gegner überlegenen Werbers in die ausharrende Fernliebe des gescheiterten Werbers trennt sich Sivrit von seiner Identität des einzigartigen ›heroischen‹ Recken, als der er bei seiner Ankunft in Worms aufgetreten war, des Recken, der darauf pocht, seine Ansprüche mit eigener Hand durchzusetzen, und ein Übereinkommen mit dem Gegner nicht kennt. Gewiß bleibt er im vollen Besitze seiner unbesieglichen Stärke, zeigt sie in den Kampfspielen bei Hofe, setzt sie ein im Dänen- und Sachsenkrieg, in den Wettkämpfen mit Brünhild, aber setzt sie ein nicht für den eigenen Anspruch, sondern tritt sie als vriunt des Hofes ab zu Diensten der Wormser Herrschaft und König Gunthers. Mit der Transformation der Fernliebe in ihre perpetuierte Form entsteht die zwieschlächtige Figur des Helden, der um Kriemhilds willen alles tut, was er sonst nicht getan hätte, und im Dienst für Gunther die Konstellationen des für ihn tödlichen Konflikts schafft. Mit jener Transformation seiner Fernliebe hat man die erste Phase seines Wegs in den Untergang.

Fernliebe

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ANHANG Verzeichnis von Fernliebe-Exordien in lateinischen Briefen von Adalbertus Samaritanus bis Boncompagno Zu den Texten von Nr. 1–6.3 und ihren Handschriften s. Franz Josef Worstbrock / Monika Klaes / Jutta Lütten, Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters, Teil 1, München 1992. 1.

Adalbertus Samaritanus, ›Praecepta dictaminum‹, um 1115.

1.1.

München, Clm 22267, Bl. 83 v: Bonorum frequens astipulatio [...] (s. o. S. 144 mit Anm. 20). Der Text ist in weiteren Redaktionen der ›Praecepta‹, in einer Hs. der ›Oberital. Aurea Gemma‹ und in einer Briefsammlung erhalten:

1.2.

Pommersfelden, Gräfl. Schönborn’sche Bibl., Cod. 31, Bl. 53 r–v.

1.3.

Wolfenbüttel, HAB, Cod. 56.20 Aug. 8°, Bl. 77 v.

1.4.

Prag, Státni Knihovna, Cod. XXIII E 29, Bl. 91 r.

1.5.

Savignano di Romagna, Biblioteca dell’ Accademia dei Filopatridi, Cod. 45, Bl. 132 r–v.

2.1.

Hugo von Bologna, ›Rationes dictandi prosaice‹, um 1119 /1124 (zitiert nach Rockinger [Anm. 16], S. 68): Uestre profunditatis scienciam et melliflue doctrine eloquentiam fama diuulgante cognoscimus [...].

2.2.

Ebd., S. 82: Uestre prudentie et probitatis [...] (s. o. S. 143).

2.3.

Ebd., S. 83: Cum gratia dei [...] in liberalibus artibus fecit uos incomparabiliter eruditum, tum in arte dictaminis fecit uehementer preditum. sic enim frequens fama refert, et magnam partem orbis replet [...].

3.1.

Henricus Francigena, ›Aurea gemma‹, um 1119 /1124: Florentem vestre profunditatis scientiam et melliflue doctrine facundiam vel eloquentiam, preceptorum disertissime, fama divulgante rumorem non modicum, cognovimus [...] (bei Rockinger [Anm. 16], S. 68).

3.2.

Ders.: Wolfenbüttel, HAB, Cod. 56.20 Aug. 8°, Bl. 68 r: Quoniam vestre mansuetudinis florens fama, dulcissime, dilate discurrens aures nostras uehementer concussit, modis omnibus ad uos uenire confidenter festinauimus [...].

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Franz Josef Worstbrock

4.1.

Magister Bernardus, ›Rationes dictandi‹, um 1138 /1143, Exordiensammlung. Clm 14784, Bl. 31 r–v: Postquam, uenerande pater et domine, uestre largitatis et prudentie fama meis auribus patenter insonuit, confestim tanta fidelitatis deuocione [me uobis] astrinxit, quanta si uester essem famulus nunquam astringerer.

4.2.

Ebd., Bl. 32 v: Quamuis, magister egregie, non adhuc facie, non corporali presencia, non mutuis colloquiis nobis cognitus habearis, tue tamen prudentie et probitatis fama nobis uehementer allexit, ut et facie et corporali presentia et mutuis colloquiis et obsequiis inuicem perfruamur.

5.1.

Magister Bernardus, ›Summa dictaminum‹, um 1144 /1145, Exordiensammlung. Zitierte Hs.: Poitiers, Bibl. publ., Ms. 213, Bl. 26 r: Postquam uenerande pater [...].

5.2.

Ebd., Bl. 26 r: Postquam, domine uel magister egregie, ad uos ex mei cordis proposito desideranter perueni, multo magis quam fama percepissem probitatis et prudentie in uobis diuina fauente gratia recognoui.

5.3.

Ebd., Bl. 27 r: Quamuis pater egregie non adhuc [...].

6.1.

Die Reinhardsbrunner Briefsammlung [um 1160], hg. von F. Peeck (MGH Epistolae selectae 5), Weimar 1952, S. 11, Nr. 11: Unguentum effusum nomen vestrum, prerogativa scilicet vestre sanctitatis, filias Syon Deo auspice per Germanie partes [...] me [...] iam pridem post vos dilectionis affectu traxit [...].

6.2.

Ebd., S. 13, Nr. 13: Fama bonitatis ac religionis vestre apud nos vulgata [...] vehementer in amorem vestrum animum nostrum accendit [...].

6.3.

Ebd., S. 85, Nr. 102: Suavis et lenis sibilus odorifere fame vestre ad nos iam dudum veniens et hortulum nostrum perflans suaviter nos dulcurando illexit ad perlustrandum sancta curiositate fructiferum illum totius amenitatis hortum [...].

7.

Hugo von Honau an Hugo Etherianus, um 1173 /1176: Gloriosa nominis tui fama [...] (s. o. S. 142 mit Anm. 14).

8.

Andreas Capellanus, ›De amore‹ [um 1181 /1186], hg. von S. Battaglia, Rom 1947, S. 146 (I, 6, G: Loquitur nobilior nobili): Maiores mihi restant Deo gratiae referendae quam cuiquam in orbe viventi, quia hoc, quod meus animus videre super omnia cupiebat, nunc corporali mihi visu est concessum aspicere [...] Nec est mirum, si vos videndi tam magno agebar affectu et tam grandi voluntate angebar, quia vestri decoris ac sapientiae laudes mundus universus attollit, et per infinitas mundi partes curiae probitatis vestrae relatione quasi cibo quodam corporali pascuntur [...].

Fernliebe

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9.

Engelhard von Langheim an Erbo von Prüfening, um 1188: Dilexi uos etiam priusquam uiderem [...] (s. o. S. 143 mit Anm. 17).

10.1.

Boncompagno, ›Boncompagnus‹ (›Rhetorica antiqua‹) [Anm. 18], 1215, Bl. 156 r: De illo qui uult acquirere amiciciam illius quem numquam uidit. Fama celebris, que de uestre Nobilitatis altitudine de gentibus in gentes et de regnis ad populos conuolauit, nos inducit plurimum et hortatur, ut uestram amiciciam acquirere debeamus et ipsam gratis ac mutuis obsequijs conseruare [...].

10.2. Ebd.: De illo qui litteris visitat consanguineum suum quem numquam uidit. Quamquam uos corporeis adhuc oculis non viderimus, non minus tamen altitudinis uestre fama nobis et uniuersis est nota. unde uos assidue cordis oculis intuemur et diligimus duplici racione [...] 10.3. Ebd.: De illo qui rogat aliquem ut celeriter faciat quod talem possit habere dominam in uxorem. Nobis est plurimorum insinuatione relatum [...] (s. o. S. 144).

Amour de loin von Ulrich Wyss, Frankfurt a. M.

Hartmut Kugler liest Landkarten wie unsereins einen Roman. So verwandelt sich die Ebstorfer Weltkarte durch seinen Kommentar in ein Epos oder eine Sammlung von Legenden. Vor Jahren einmal hat er mir erklärt, warum der thüringische Ort Orlamünde auf dieser die ganze Welt abbildenden Karte eingetragen wurde; das war mir aufgefallen, weil ich den schönen Frauennamen Orlemonde aus der Oper ›Ariane et Barbe-bleue‹ von Paul Dukas, nach einem Text von Maurice Maeterlinck, kannte. Zur räumlichen Dimension von Welt in der Literatur bin ich von jeher über des alten Gurnemanz Rätselwort aus dem ersten ›Parsifal‹Aufzug gekommen. »Ich schreite kaum, – / doch wähn’ ich mich schon weit. / Du sieh’st, mein Sohn, / zum Raum ward hier die Zeit«. Nach Claude Lévi-Strauss ist dieses Raumwerden der Zeit die intellektuelle Leistung des Mythos. Daß etwas in der Zeit sich Erstreckendes in etwas Räumliches übersetzt werden kann, Zeit sich verräumlicht: es ist die Faszination jeder Landkarte, in der sich nicht nur die Naturgeschichte plötzlich als Tableau anschauen läßt. So liest Hartmut Kugler die Weltkarte aus dem XIII. Jahrhundert als eine mirakulös kristallisierte Reise- und Abenteuererzählung. Und umgekehrt ist die Versuchung groß, den epischen Fluß eines Erzähltextes in Strukturschemata stillzustellen. Damit läßt sich eine vielleicht unübersichtliche Folge von Geschehnissen plötzlich auf einen Blick erfassen, etwa im fatalen Schema vom »doppelten Cursus« des arthurischen Romans: was eben ein Lauf und Verlauf, etwas sich Ereignendes war, erscheint stillgestellt in einer Formel, die unberatene Leser gerne für das poetische Gebilde selber nehmen. Dabei ist die Verräumlichung in diesem Fall das Resultat einer Abstraktion, die den im Erzählen artikulierten Sinn längst zur Strecke gebracht hat. Das gilt vielleicht weniger von den inzwischen verschollenen Versuchen des Germanisten Bodo Mergell (1912–1954), die Struktur der Tristanromane als KathedralenGrundrisse zur Erscheinung zu bringen: da lag der Abstraktion das Bedürfnis zugrunde, im profanen Text einen heiligen Hintersinn mitzulesen. Oder denken wir an die Schemata, etwa die »borromäischen Knoten«, die Jacques Lacan in seinen späten Jahren zur Verdeutlichung seiner schwierig formulierten Gedanken einsetzte: sie wurden von Vorlesung zu Vorlesung komplizierter, unanschaulicher,

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mutierten zu Rätselfiguren einer neuen Art, die statt Evidenz und Prägnanz Undeutlichkeit und Konfusion stifteten. Das Verräumlichen zeigt sich da als eine ganz und gar widersprüchliche Operation. Das gilt erst recht für jenes erotische Konzept, das in der Literaturgeschichte als »Fernliebe« geführt wird. Es inszeniert von vornherein eine Paradoxie. Besteht die passionierte Liebe nicht, wie uns Niklas Luhmann 1 gelehrt hat, in der »Codierung von Intimität«, indem sie, als ein »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«, ein »System zwischenmenschlicher Interpenetration« in Betrieb nimmt – das Gegenteil von allem, was Ferne und Abstand bedeutet? Liebe stiftet demnach eine Kommunikation, in der es Ferne, Distanz im Raum also, gerade nicht geben kann, sondern ein Maximum an Nähe erzielt werden muß, eben die wechselseitige Durchdringung zweier Subjekte, die utopische Überbietung jeder Art von Solidarität. Daß da ein ganzer Abgrund von Problemen sich auftut, ist nicht zu vermeiden, eben um des phantasmatischen Charakters der absoluten Nähe willen. Derlei halten Menschen in der Regel nicht lange aus. So ist denn auch das Motiv der Fernliebe, wie es Franz Josef Worstbrock in diesem Band exponiert hat, zunächst vor allem eine rhetorische Figur: was muß das für eine Liebe sein, die einen Menschen betrifft, den ich nie gesehen habe! Ein Topos der Überbietung, bei Ovid und in der Tradition des gelehrten Briefes. Im Minnesang allerdings scheint diese Topik sich mit neuen seelischen Energien aufzuladen, sie changiert ins Neurotische. So bei Meinloh von Sevelingen (MF 11,1), der einerseits erklärt, er sei durch alle Lande gereist, um die Dame zu sehen, was dieser jedoch keinen Schaden bereite (daz ich dich nu gesehen hân, daz enwirret dir niht); anderseits preist er die Augen der Geliebten, die ihn heimlich anschauen können (so wol den dînen ougen! / diu kunnen, swen si wellen, vil tougenlîche an sehen). Das Sehen, das die Ferne aufheben soll, wird ambivalent konstruiert, es stellt die Beziehung her und berührt sie zugleich gar nicht. So wird die Fernliebe durch das Sehen mit den Augen des Leibes gerade nicht affiziert. Ist sie der privilegierte Modus des »paradoxe amoureux« der Troubadourlyrik: eine Nähe, die ihr Gegenteil meint, nicht weniger als eine Ferne, die als Bedingung der Möglichkeit von Nähe gilt? Die räumliche Vorstellung jedenfalls wird in diesem Motiv so intensiv semantisiert wie nirgendwo sonst. Deshalb möchte ich noch einmal einen Blick auf die Kanzone werfen, der das Thema seinen Namen verdankt. In dem Lied Lanquan li jorn sont lonc en mai von Jaufre Rudel, gedichtet und komponiert um 1150, ist loing in allen sieben Strophen das zweimal, im zweiten und im vierten Vers, erklingende Reimwort, in der Regel jeweils in Zeile 2 als Teil der Wendung amor 1

Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt 1982.

Amour de loin

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de loing. Daß die altokzitanische Dichtung so etwas wie die erste volkssprachliche Originalpoesie des Abendlandes gewesen sei, haben nicht nur moderne Enthusiasten wie der gelehrte und genial entflammte Dichter Rudolf Borchardt (1877–1945) immer wieder behauptet. Es steht schon bei Dante, der die »vulgaris eloquentia«, also den vornehmen, hohen Ausdruck in der Volkssprache, von der Sprache des oc herleitete und den Troubadour Arnaut Daniel als miglior fabbro del parlar materno feierte (Purg. XXVI, 117). Durch F. J. M. Raynouard (1761– 1831), A. W. Schlegel (1767–1845) und Friedrich Diez (1794–1876) wurde die provenzalische Dichtung des Mittelalters zum Ausgangspunkt der romanischen Philologie, weil sie das älteste erreichbare Corpus von Texten in einem romanischen Literaturdialekt bot, ähnlich wie das Gotische für die Germanistik einen ältesten germanischen Sprachstand bezeugt. Und wie das Gotische ist das Provenzalische aus den Curricula der Neuphilologien inzwischen weitgehend verschwunden. Eine versunkene Welt war es schon lange vorher. Bereits zu Dantes Lebzeiten gab es eine okzitanische Literatur nicht mehr. Doch die Dichter der Provence hatten den Völkern des Hochmittelalters die Zunge gelöst, könnte man sagen, denn sie erfanden den hohen Stil in der Vulgärsprache neu, und zwar gerade in der erotischen Lyrik. So hat das nicht nur Erich Auerbach gesehen. Ich möchte mich an August Wilhelm Schlegel halten, der 1818 geschrieben hatte: »Pour jouir de ces chants, il faut écouter les troubadours eux-mêmes, et s’efforcer de comprendre leur langage.« 2 Deshalb lesen wir jetzt den Text, im provenzalischen Wortlaut nach der Ausgabe von Rita Lejeune 3 . Es handelt sich um 7 siebenzeilige Strophen mit immer gleichen Reimklängen, also coblas unissonans; dazu kommt die dreizeilige tornada. Die Zeilen sind immer gleich lang, nämlich Achtsilbler mit männlichem Reim nach dem Schema ab ab ccd. Ich gebe dem Text meine Übersetzung bei. I

Lanquan li jorn sont lonc en mai, M’es belz douz chans d’auzels de loing, E quand me sui partiz de lai, Remembra.m d’un amor de loing. Vauc, de talan embroncs e clis Si que chans ni flors d’albespis No.m platz plus que l’inverns gelatz.

2 August Wilhelm Schlegel, Observations sur la langue et la littérature provençales, Paris 1816, S. 155. 3 Rita Lejeune, La chanson de l’›amour de loin‹ de Jaufré Rudel, in: Studi in onore di Angelo Monteverdi, Mantova 1959, S. 403–442.

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Wenn im Mai die Tage lang sind, ist mir lieb der süße Gesang der Vögel von fern, und wenn ich mich von dort losgemacht habe, erinnert es mich an eine Liebe ins Ferne. Ich gehe, vom Verlangen niedergedrückt und gekrümmt, so daß der Gesang noch die Weißdornblüte mir nicht besser gefällt als der eisige Winter. II

Ja mais d’amor no.m gauzirai Si no.m gau d’est amor de loing, Que gensor ni meillor non sai Vas nuilla part, ni pres ni loing. Tant es sos pretz verais e fis Que lai el renc dels Sarrazis Fors eu, per lieis, chaitius clamatz!

Nie mehr werde ich mich der Liebe freuen, wenn ich mich nicht freue an der Liebe ins Ferne. Denn eine edlere und bessere weiß ich nicht, nach keiner Seite hin, weder nah noch fern. So echt und edel ist ihr Wert, daß ich dort, im Reich der Sarazenen, um ihretwillen ein Gefangener genannt werden möchte! III

Iratz e gauzens m’en partrai, Quan veirai cest amor de loing, Mas non sai coras la m.veirai Car trop son nostras terras loing. Assatz i a portz e camis! E, per aisso, non sui devis … Mas tot sia cum a Dieu platz!

Traurig und fröhlich werde ich mich aufmachen, wenn ich die Liebe ins Ferne sehen kann, aber ich weiß nicht zu welcher Stunde ich sie sehen werde, denn unsere Länder sind einander zu fern. So viele Häfen und Straßen gibt es da! Und deshalb bin ich kein Wahrsager. Aber alles sei, wie es Gott gefällt. IV

Be.m parra jois quan li querrai Per amor Dieu, l’amor de loing; E, s’a lieis plai, albergarai Pres de lieis – si be.m sui de loing! Adoncs, parra.l parlamens fis Qand, drutz loindas, er tant vezis C’ab bels [digz] jauzirai solatz.

Wohl wird mir Freude erscheinen, wenn ich von ihr, um der Liebe Gottes willen, die Liebe ins Ferne fordere; und gefalle ich ihr, werde ich bei ihr Herberge nehmen – auch wenn ich aus der Ferne bin. Dann wird das edle Parlieren anheben, wenn ich, der ferne Geliebte, ihr so nah bin, daß ich das Vergnügen an schönen Worten genieße.

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V

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Ben tenc lo Seignor per verai Per qu’ieu veirai l’amor de loing; Mas, per un ben que m’en eschai, N’ai dos mals, car tant m’es de loing … Ai! Car me fos lai peleris Si que mos fustz e mos tapis Fos pelz sieus bels huoills remiratz!

Wohl halte ich den Herrn für wahrhaftig, durch welchen ich die Liebe ins Ferne sehen werde. Aber durch ein Gutes, das mir daraus erwächst, habe ich zwei Übel davon, denn so sehr ist sie mir von fern. Ach, wäre ich dort als Pilger, so daß mein Stab und meine Kutte von ihren schönen Augen angeschaut würden! VI

Dieus, que fetz tot qant ve ni vai E fermet cest amor de loing, Me don poder – que.l cor eu n’ai – Qu’en breu veia l’amor de loing, Vereiamen, en locs aizis, Si que la cambra e.l jaerdis Mi resemble totz temps palatz!

Gott, der alles erschuf was kommt und geht und auch diese Liebe ins Ferne festmachte, gebe mir die Macht – das Verlangen danach habe ich schon lange – sie bald zu sehen, die Liebe ins Ferne, an passenden Orten, so daß Kammer und Garten mir allezeit erscheinen wie ein Palast. VII

Ver ditz qui m’apella lechai Ni desiran d’amor de loing, Car nuills autre jois tant no.m plai Cum jauzimens d’amor de loing. Mas so q’ieu vuoill m’es tant ahis Q’enaissi.m fadet mos pairis Q’ieu ames e non fos amatz!

Das Wahre spricht, wer mich gierig nennt und begehrlich nach der Liebe ins Ferne, denn keine andere Freude gefällt mir so wie die Lust an der Liebe ins Ferne. Aber was ich will, ist mir so sehr verwehrt, denn mein Pate hat mich so verwünscht, daß ich liebe und nicht geliebt werde. VIII

Mas so q’ieu vuoill m’es tant ahis! Totz sia mauditz lo pairis Qu.m fadet q’ieu non fos amatz!

Aber was ich will, ist mir so sehr verwehrt! Er sei verflucht, der Pate, der mich so verwünscht hat, daß ich nicht geliebt werde!

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Dieses Lied ist in 15 Handschriften erhalten, zumeist allerdings nicht mit allen sieben Strophen. Immer beginnt das Lied mit unserer 1. Strophe, die das markante Incipit bringt. Daß alle sieben Strophen zum originalen Bestand zählen, möchte man aus der auffälligen Analogie der sieben Verszeilen und der sieben Liedstrophen folgern. So haben wir eine Komposition vor uns, die nach sehr strikten Prinzipien geregelt ist – gar nicht unähnlich der Sestine, die erst in der nächsten Troubadourgeneration, wohl von Dantes Meister Arnaut Daniel, erfunden werden sollte. Deren ästhetische Logik beruht darauf, daß die sechs sechszeiligen Strophen durch die Anordnung der Wörter am Versende in eine genau festgelegte Reihenfolge gezwungen werden; eine Freiheit der Strophenfolge gibt es sowenig wie irgendeine variance im Strophenbestand. Doch wenn die Siebenzahl der Strophen festliegt – ihre Folge ist nicht vorweg determiniert. Die Tornada, welche den Schluß der letzten Strophe aufgreift und variiert und damit Strophe 7 als die letzte ausweist, findet sich denn auch nur in zwei (eng verwandten) Handschriften. So gewinnen wir den Eindruck, daß das Lied, nachdem es einmal eingesetzt hat, auf der Stelle tritt. Einen gedanklichen Vorgang sehen wir nicht. Ist auch das ein Effekt der Verräumlichung? Der Diskurs ist Struktur geworden und in dieser sozusagen reinen Strukturalität ganz und gar unprozeßhaft. Im Rahmen, der durch Anfang und Ende gegeben ist, können die strophischen Bausteine frei kombiniert werden. Wie nun konstituiert dieses Lied den Raum, der die »Liebe ins Ferne« erzeugt? Das ist zunächst die Frage nach der Übersetzung der adverbialen Wendung de loing. Ich habe sie, im Anschluß an Rudolf Borchardts Vorschlag, immer mit »Liebe ins Ferne« widergegeben. Und schied ich dân, und gieng vorbei, / gedenkt mir einer Minn-ins-fern – so übersetzte der Dichter die Verse 3 und 4 der ersten Strophe 4 ; das ist so wörtlich wie möglich die Wendung aus dem Originaltext. Doch was genau heißt de loing in Jaufres Text? Das bequeme deutsche Compositum Fernliebe läßt auch mehrere Deutungen zu. Ist es die »ferne Liebe«? Die »Liebe eines Fernen«? Oder doch die »Liebe zu einem (zu einer) Fernen«? Meint der Ausdruck amor, metonymisch, das ferne Objekt des Verlangens selber? Die ferne Dame – nach der ›Vida‹ dieses Troubadours eine Vizegräfin von Tripolis – wird in III, 2 angesprochen: Qan veirai cest amor de loing, ebenso in V, 2 Per q’ieu veirai cest amor de loing und in VI, 4 Q’en breu veia l’amor de loing. Liebe als Abstractum dagegen liegt vor in I, 4 Remembra.m d’un amor de loing, II, 2 Si no.m gau d’est amor de loing und VI, 2 E fermet cest amor de loing, und VII, 2 und 4 Ni

4

Rudolf Borchardt, Übertragungen, Stuttgart 1958, S. 222ff. (zuerst 1924).

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desiran d’amor de loing bzw. Cum jauzimens d’amor de loing. In diesem letzten Fall wäre allerdings auch die Lesart »die Lust an der Liebe« = »die Lust an der Geliebten« denkbar. Eindeutig dagegen IV, 1f.: qan li querai / Per amor Dieu, l’amor de loing. Hier findet sich mehrfach die Variante l’alberc de loing, also »Herberge für den fremden Gast«, die Rita Lejeune mit Recht verworfen hat, denn es würde dann in dieser Strophe das ostinato des Leitbegriffs fehlen. Es sind verschiedene Modalitäten des erotischen Affekts gemeint: die Erinnerung an die Liebe (I), die Freude an ihr (II) und das Verlangen nach ihr (VII), aber auch die Liebe als eine von Gott eingesetzte Instanz (VI) und die Liebe als ein Recht, das, um der Liebe Gottes willen, eingefordert werden darf (IV). In drei Fällen ist amor eine Metonymie, in vier Fällen dagegen das Abstractum, das in verschiedenartige psychologische und juristisch-theologische Kontexte montiert wird. Analog das Spiel mit dem Wort loing in jenen Zeilen, in denen es ohne das Substantiv auftritt: meistens als Adverb, in Wendungen wie auzels de loing (I, 2), was als Variante des amor de loing in der ersten Strophe vorweggenommen wird, oder an den beiden Stellen, an denen das Adverb die Entfernung des singenden Ichs von dem Objekt seines Sehnens markiert: si be.m sui de loing (IV, 4) und car tant m’es de loing (V, 4): einmal ist die Entfernung vom Sänger, einmal von der Dame aus gedacht. Einfach eine Distanz im Raum dagegen bezeichnet das Wort in II, 4 und III, 4: »weder nah noch fern« gibt es eine bessere Liebe, bzw. »wie weit von einander entfernt sind unsere Länder«. Aus wenigen Tönen entsteht hier eine leise, aber raffinierte Wortmusik. Raum stellt sich aber auch durch Lokaladverbien her. De lai, »von dort« bin ich geschieden (I, 3), »dort« im Reich des Sarazenen möchte ich gefangener Sklave sein (II, 6f.), ach wäre ich »dort« als Pilger (V, 5). Einmal ist das »Dort« des Troubadours die Heimat, das Land der süß singenden Maienvögel; in den beiden anderen Malen das andere Land, das der Heiden und der heiligen Stätten, in dem die Dame wohnt. Dies jedenfalls dann, wenn wir der ›Vida‹ glauben. Aber auch, wenn wir darauf verzichten, diese Anspielungen biographisch zu entziffern, ist ihr Vorstellungsinhalt deutlich. Das andere Land, in das mich die Liebe zieht, ist gefährlich und beschwerlich, ich kann in ihm nicht als Prinz von Blaya agieren, sondern nur in den niederen Rollen des Sklaven oder des Pilgers. Das ist eine masochistische Phantasie. Um der Liebe willen muß der adlige Sänger die denkbar größte Selbsterniedrigung in Betracht ziehen. Die Raumkonstruktion des Liedes setzt die Wünsche frei: dreimal den, die abwesende, durch diese Abwesenheit definierte Geliebte zu sehen (III, V, VI); den, im Heidenland ein Gefangener genannt zu werden (II); den Wunsch aber auch, von der Geliebten als Pilger gesehen zu werden. Die Reziprozität des Blicks finden wir auch im Lied des Meinloh von Sevelingen, das Worstbrock ins Spiel gebracht hat. Doch

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auch dort ist das Sehen und Gesehenwerden nicht der Beginn einer gelingenden Kommunikation. Deshalb werden die Hindernisse so bedeutsam, die den Effekt der puren Ferne verdoppeln. In der Strophe I ist es eine depressive Disposition des Sängers. Er hat sich »abgeschieden« vom Gesang der Vögel (E qand me sui partitz de lai), der Natureingang rückt in die Ferne. Strophe II imaginiert die Gefangenschaft in der Gewalt der Ungläubigen. In Strophe III wird beklagt, daß die Ferne zu groß sei (trop son nostras terras loing), daß zu weite Wege, zu Land wie zu Wasser, zurückzulegen sind. Dem ganzen desperaten Dispositiv liegt jedoch eine fundamentale Ambivalenz des Gefühls zugrunde. Die Strophe beginnt mit dem Wortpaar Iratz e gauzens, also »traurig und fröhlich« sei der Sänger. Die Reise, zu der dieser aufbrechen will, führt wohl nicht zum ersehnten Ziel. Es ist dies ein endogen gedachtes Impedimentum, noch vor allen Schrecknissen einer langen Reise. Strophe IV formuliert, daß sich ein Verhältnis der Nachbarschaft für den fernen Geliebten wohl nie wird herstellen lassen (drutz loindas – tant vezis). Die Nähe, das »feine Parlamentieren«, ist nur im Irrealis vorzustellen. Die nächste Strophe konzipiert ein neues Hindernis. Zwar will der Sänger auf seinen Herrn vertrauen, der ihn die »Liebe ins Ferne« anschauen lassen wird – doch um welchen Preis? »Für ein Gutes werde ich zwei Übel haben, denn so sehr ist sie, die Geliebte, mir nur von fern.« Das Sehen kann die Entfernung nicht zum Verschwinden bringen. Und umgekehrt würde die Dame in ihm nicht das verlangende Ich, sondern nur die Erkennungsmarken Stab und Kutte sehen, die ihn unkenntlich machen. Daß die Präsenz der Geliebten ganz irreal gedacht werden muß, zeigt Strophe VI: sie bittet Gott um das Vermögen, die »Liebe ins Ferne« anzuschauen, wodurch Kammer und Garten allezeit wie ein Palast erscheinen würden. Die Strophe VII bringt dann das bedrückende Fazit: was der Sänger einzig will und wünscht, ist ihm verwehrt, weil sein Pate ihn verwünscht hat. Der Fluch ist das Lieben ohne geliebt zu sein (Q’ieu ames e non fos amatz). Was immer mit dem ominösen pairis, dem »Paten«, gemeint sein mag – Wilhelm IX. von Aquitanien, der dem Fürsten von Blaya seine Burg weggenommen haben soll? –, der Minnediskurs ist gegen alle biographischen Kontexte hermetisch abgedichtet. Deshalb ist von dem Paten, der eine irgendwie kulturelle Beziehung, das Verstricktsein in die Kultur, bezeichnet, die Rede. Es geht hier gerade nicht um konkrete Lebensumstände, um Sippenloyalitäten und politische Macht. Der Zauberbann, der den Sänger ins erotische Unglück stürzt, zwingt zur Abstraktion von allem historisch Konkreten. Und: zum Raum wird die Zeit auch in diesem Lied. Eine temporale Kategorie ist schon das remembrar in I, 4. Es gibt in diesem Lied sehr wenig Präsens und Präsenz. In den Strophen II bis V häufen sich die Verben im Futurum: gauzirai,

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partrai, veirai, qerrai, albergarai, jauzirai. In VI folgt auf das konstatierende zweifache Präteritum fet und fermet (»Gott hat es so gemacht«) der doppelte Optativ veia und resembles. Daß mit dem Verlust an Präsenz jedoch keine Zukunftsgewißheit einhergeht, zeigt der Vers III, 5: E, per aisso, non sui devis, »eben deshalb bin ich kein Wahrsager«. Da stellt das Lied eine Beziehung von Raum und Zeit her: weil mich die unüberbrückbare Ferne quält, kann ich nichts über die Zukunft sagen. Der gähnende, unauslotbare Abgrund, welcher der Raum ist, affiziert das Empfinden für die Zeit. Ist das Verhältnis zum Raum gestört, vergiftet das unser Zeitverständnis. (Die heute wieder geführten Diskussionen über die Erneuerung der im zweiten Weltkrieg zerstörten deutschen Städte illustrieren das auf beklemmende Weise. Soll der sogenannte Krönungsweg vom Römer zum Frankfurter Dom maßstab- und detailtreu hergestellt werden, wie er vor 1944 aussah? Oder vor 1870, vor 1790 ? Oder soll der vormoderne Stadtraum mit modernen Stilmitteln neu »interpretiert« werden?) Es gibt eine Pathologie des Raumes, die in Wahrheit eine Unfähigkeit darstellt, sich zur Zeit ins Verhältnis zu setzen. Jaufres Lied symbolisiert dieses Problem in einer phonetischen Minimalopposition: schon in der ersten Zeile begegnet das Adjektiv lonc, doch dann überwiegt das loing. Lang werden die Tage im Mai, und das induziert die Empfindlichkeit für die Ferne ... Ich möchte das Beobachtete zusammenfassen. Jaufre Rudel inszeniert das trobadoreske paradoxe amoureux 5 als Raum-Thema. Der Raum blockiert die Kommunikation, verhindert die Codierung von Intimität, zerstört jede Zeiterfahrung. Die substantialistischen Deutungen dieses Liedes, die es in großer Zahl gibt, machen es sich leicht, wenn sie entweder die Ferne als »soziale Distanz« deuten oder aber sie als geistliche Metapher lesen: Jaufre meine, wenn er vom »Herrn« spricht (V, 1), natürlich den Christengott, und das Sehnen des Liebenden ziele auf die Glückseligkeit, in die einzugehen jeder Christenmensch die Chance hat. Machen wir eine Gegenprobe: Walthers von der Vogelweide ›Palästinalied‹ (L. 14,38), das in der Handschrift Z, einem Fragment aus dem XIV. Jahrhundert mit einer Melodie überliefert ist, die sehr große Ähnlichkeit mit derjenigen von Jaufres Lied hat; es handelt sich vielleicht um eine Kontrafaktur, und zwar um eine nun wirklich explizit geistliche. 6

5 Die Formel stammt von Leo Spitzer, L’amour lointain de Jaufré Rudel et le sens de la poésie des Troubadours, in: Studies in the Romance Languages and Literatures 5 (1944), S. 1ff., wiederabgedr. in: Leo Spitzer, Études de style, Paris 1970, S. 81–133. 6 Ich zitiere den Text nach: Walther von der Vogelweide, Werke, Band 2, Liedlyrik, hg. von Günther Schweikle, Stuttgart 1998.

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Alrêrst lebe ich mir werde, sît mîn sündic ouge siht daz reine lant und ouch die erde, der man sô vil êren giht. Ez ist geschehen, des ich ie bat: ich bin komen an die stat, dâ got menschlîchen trat.

So die erste Strophe des oft überlieferten Textes. Er bietet in einer Hinsicht das genaue Gegenteil von Jaufres Lied: einen Exzeß an Präsenz. Erst jetzt lebe ich richtig, singt dieser Ritter, weil mein sündiges Auge das Land sieht, in dem Gott einst als Mensch auf dem Erdboden gewandelt ist. Eine Ferne wird hier nur ex negativo imaginiert, als überwundene, und alle Zukunft ist, wie die späteren Strophen dann zeigen, die der Heilsgewißheit. Das profane Thema der Geschlechterliebe muß hier auch nicht allegorisiert werden, weil es gar nicht erst zur Sprache kommt. Übereinstimmung mit Jaufre sehe ich am ehesten im Tristanroman des Thomas von Bretagne. Tristan: das war die epische Obsession schon der Liederdichter aus Okzitanien gewesen. An dem traurig passionierten Opfer eines zauberischen Tranks – Magie wie die Verwünschung von Jaufres pairis! – messen sie immer wieder die Entwürfe ihres Erotismus. Thomas nun macht den puren Raum an einer Stelle zum Thema (Fragment Douce 1541ff.). 7 Der auf den Tod kranke Tristan erwartet die Ankunft Isoldes, die allein ihn zu heilen vermöchte. Doch ein Seesturm verzögert ihre Ankunft. Und dann, als der Sturm sich gelegt hat, tritt eine Windstille ein. Öd und leer erstreckt sich das unbewegte Meer zwischen den Liebenden. Mult suef e pleine est la mer. Ne ça ne la lur nef ne vait Fors itant cum l’unde la treit, Ne lur batel n’unt il mie: Or i est grant l’anguserie. (1716ff.) Das Meer ist ganz ruhig und glatt. Ihr Schiff kann sich nicht hierhin und nicht dorthin bewegen, sondern nur soweit wie die Welle es trägt. Und ihr Beiboot haben sie nicht mehr. Deshalb erhebt sich dort große Angst.

Die Qual der Fernliebe wird hier mit allem erzählerischen Ernst entfaltet. Am Ende packt sie auch den Leser dieses wunderbaren Romans, den unsere Erlanger Freundin Gesa Bonath (1935–1992) seinerzeit ediert, übersetzt und kommentiert hat. 7 Ich zitiere nach: Tristan et Iseut, Les poèmes français. La saga norroise, hg. von Daniel Lacroix und Philippe Walter, Paris 1989 (Lettres Gothiques).

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Epilog. Eine moderne Entsprechung zur Fernliebe der Minnesänger habe ich lange gesucht. Vielleicht finde ich sie in einem großen Poem Peter Rühmkorfs: ›Mit den Jahren … Selbst III / 88‹. 8 Mit den Jahren auch nicht mehr ganz in dem Zustand, daß man sich seine Liebhaberinnen noch persönlich aussuchen kann – Wahrlich, so ist es, Freunde, keine widerspricht.

So hebt dieser Minnesänger des ausgehenden XX. Jahrhunderts an. Mit dem Intercity rast er durch Deutschland, von Hamburg-Altona südwärts, nicht zuletzt nach Marbach am Neckar ins Deutsche Literaturarchiv. Die erloschnen Lupinen am Hang, dann Goldrute, verrostet – sie spiegeln die Weißdornblüte des Natureingangs zurück. Schließlich erfährt der Poet den Raum, den der Zug durchquert, als eine vollkommen neue Republik, nämlich die einer bis dato unerhörten toponomastischen Erotik. Wiepenkathen – Rockshausen – Frauwüllesheim – Strümpfelbrunn – Reinigen – Leibi Hinterzarten – Fleischwangen – Büchsenschinken – Gesäß Oberbusenbach – Tüttendorf – Tettenborn – Mammendorf – Titisee Zizishausen – Tittmoning – Titting – Tittling – Titz …

Undsoweiter. Man muß es laut lesen und dann auch den Übergang von den erotisch andeutungsreichen in die um ihres Lauteffekts willen beschworenen Ortsnamen erfahren, lauter Einsilblern, die allerdings nach dem Alphabet angeführt werden, von Au – Aach – Asch – Ayl bis Zorn – Zell / Zons – Zeil. Das ist eine orgiastische, orgasmische Steigerung ins pure Rauschen, die Selbstüberschreitung der Dichtersprache in ein Lallen, das nicht mehr in Wörtern reden will. Hier wird nicht zum Raum die Zeit, sondern der Raum zur Musik. Und dann gibt es auch noch eine Art Tornada, aber in Prosa, die unter anderem den Damen Reverenz erweist: Ich sage Bye-bye für heute. Ich grüße ganz besonders noch einmal unsere treuen Hörerinnen Gina, Tina, Stina und Angelina, zur Zeit in Taormina. Ist es ein Zufall, daß der Reim diesen allerspätesten unter den Troubadours an eine der Quellen der europäischen Liebesdichtung zurückkickt, nach Sizilien?

8

Zitiert nach: Peter Rühmkorf, Gedichte, Werke 1, Reinbek 2000, S. 449–455.

II. Umgang mit wirklichen Räumen

Wo sind denn da Räume? von Karl Bertau, Erlangen

»Aufmachen!« – »Wem? Wer sind Sie?« – »Ich will in die Kammer Deiner Herzgedanken!« – »Da wollen Sie in einen engen Raum?«: Tuot ûf ! Wem? Wer sît ir? Ich wil ins herze dîn ze dir ! Sô gert ir zengem rûme ! – So beginnt Wolfram sein IX. Parzival-Buch. 1 Da ist das herze das Wo der Räume. Wir möchten eher von Vorstellungsvermögen sprechen. Es arbeitet teils kommandierbar, teils unwillkürlich. Auf die semantische Konstruktion der Diagnose des Arztes antwortet der Körper in seinen Symptomen – unabsichtlich; den geglückten Witz quittiert das plötzliche Lachen – unbewußt. Wolfram zielt auf das Unbewußte seiner Hörer, wie er im IX. Buch den erzählenden Eremiten auf das Unbewußte seines zuhörenden Parzival zielen läßt, indem er bestimmte Erinnerungen provoziert. Sein erdichtetes Gegenüber von Erzähler und Zuhörer bildet die Wirklichkeit seines eigenen poetischen Verfahrens ab. Er kann sein Erlebtes Erzähltes sein lassen, aber auch sein Erzähltes Erlebtes – wie sich auch hier wieder zeigen könnte. 1. Da schildert der Klausner Trevrizent eine Reise mit Erinnerungsanstößen an Dinge, die im V. Buch erzählt wurden. Unwissentlich war Parzival zur Gralsburg Munsalvæsche gekommen. Gleich beim Einreiten in den Burghof hatte er eine Atmosphäre von Herzenstrauer bemerkt – wie in Abenberg, der Nachbarburg seines Dichters, deren Herren tot waren. Trauer herrschte beim Gral wegen des Gralkönigs Anfortas, der an seiner Sündenwunde an den Hoden fürchterliche Schmerzen litt. Durch seine Frage nach dem Leiden hätte Parzival den König magisch erlösen können. Er hatte nicht gefragt, war praktisch davongejagt wor1

Wolfram von Eschenbach, 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Berlin, Leipzig 1926. Darin gibt es wenigstens Lesarten, die mit denen der Ausgabe von Hartl verglichen wurden. Zitiert werden die Stellen nach Buch, Abschnitt, Vers. Außerdem benutzt: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert u. kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn. 2 Bde., Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek Deutscher Klassiker 130).

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den, hatte seine Cousine Sigune mit der Mumie ihres im Kampf erschlagenen Liebsten Schianatulander auf einem Baum getroffen, war von ihr verflucht worden und in der Hoffnung, den Gral und seine Frau Condwiramurs – die Lenkerin der Liebe – wiederzufinden, von der er ausgeritten war, ohne die Zügel seines Pferdes zu führen, ins Weglose. Das Wiederfinden von Gral und Frau bleibt seit dem V. Buch das Ziel seines Irrereitens. Man verliert ihn aus dem Auge, bis er im IX. Buch zuerst an eine Klause über einer Quelle kommt, in der Sigune mit der Mumie ihres Liebsten lebt. Im Gespräch mit ihr, die ihn wiedererkennt, nennt Sigune den Mörder ihres Geliebten: Orilus. Parzival hört dessen Namen als den des Mörders nicht zum ersten Mal, aber er scheint ihn zu überhören. Doch der Name läßt in ihm eine Erinnerung aufsteigen, die ihm jetzt wichtiger ist als der Mörder Orilus. Nachdem Parzival beim Gral versagt hatte, war er auf diesen Orilus getroffen, hatte ihn im Zweikampf besiegt und die Ehre seiner Gattin wiederhergestellt, durch einen Eid und ein eigenes Schuldbekenntnis. Denn als törichter Knabe hatte Parzival jener im offenen Zelt alleine schlafenden Gattin einen Kuß geraubt und einen Ring – und war dann munter weitergetrabt auf seinem Weg zur Ritterehre bei König Artus. Als Entehrte hatte die Dame seither ihrem Gatten Orilus folgen müssen. Das war im V. Buch an jenem Ort geschehen, an den Parzival jetzt, im IX. Buch, gleich gelangen wird. Damals hatte Parzival durch den Sieg Ritterehre gewonnen. Gott solle sie ihm nehmen, wenn er falsch schwöre. Mit dieser Formel hatte Parzival – übermütig Gott herausfordernd – seinen Eid bekräftigt. Parzival hatte nicht falsch geschworen und dennoch hatte ihm kurz darauf die Gralsbotin wegen seines Versagens beim Gral die Ritterehre abgesprochen: vor allen Artusrittern. Jetzt, im IX. Buch, kommt Parzival als gottferner Entehrter zuerst zu Sigune. Auch Sigune hatte Parzival nach seinem Versagen beim Gral verflucht. Ihren Fluch aber hebt sie jetzt mitleidvoll wieder auf. Parzival kommt nach dieser Hoffnung weckenden Sigunen-Klause an eine zweite Klause mit Quelle. Sie heißt Heilsbrunnen, Fontaine de Salut, natürlich auf Altfranzösisch. Eine Verheißung? Parzival erkennt den Ort wieder an dem Reliquienkästchen, das beim Altar dieser zweiten Klause glänzt. Auf diese Reliquie hatte Parzival ja die Unschuld der Mördergattin beschworen, nach seinem Rittersieg. »Damals hatte ich noch Ehre«. Dannoch het ich êre, wird Parzival zu sich selber sagen. Das ist die wichtige Erinnerung, die der überhörte Name des Mörders in ihm auslöste. Gott hatte ihm diese Ehre damals noch nicht genommen. 2 Jenen 2 Sigune hatte Parzival schon III, 141, 9, nicht erst IX, 439, 30 Orilus als den Namen des Schianatulandermörders genannt (Friedrich Michael Dimpel und Stephan Fuchs-Jolie haben meiner Erinnerung freundlich aufgeholfen). Der Dichter läßt seinen Helden strikt in seinen bei Gurnemanz erlernten Moralvorstellungen des Ritterlichen denken. Da ist Tötung im Kampf kein Mord, und so geht Parzival auf die Ermordung Schianatulanders

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Ort erkennt er in seiner jetzigen Gottferne wieder. Jetzt lag Schnee. Als er damals nach seinem Reinigungseid weiterritt, fiel unzeitig Schnee auf seinen Weg, – der Saturnschnee der Anfortaswunde (IX, 489) – und darauf waren drei Blutstropfen gefallen. Der Anblick hatte ihn gebannt, und er hatte sich an sîn selbes wîp, an Condwiramurs verdâht, »so daß meinem Körper das Bewußtsein entglitt und ich dennoch in zwei gewaltigen Tjosten siegte«. So beschreibt Parzival seine unbewußte Erinnerung jetzt? Nein: Parzival erinnert sich an das, was ihm der beste Artusritter, Gâwân, von seinem unbewußten Verhalten damals erzählt hatte. Gâwân hatte im wirren Reden des entrückten Parzival liebeerfüllte Worte (VI, 303, 3) erspürt. Und dann hatte Gâwân mit dem Seidentuch seiner Einfühlung die drei Blutstropfen im Schnee überdeckt und Parzival das Bewußtsein wiederkehren lassen. Ja, Parzival erinnert sich in der von ihm geschilderten Erinnerung anscheinend sogar an das, was der Dichter als Beschreibung seiner unbewußten Vorgänge gereimt hatte. Wie für jeden ist auch für Parzival sein Unbewußtes nicht bewußtseinsfähig. Es ist eben das, was man wirklich nicht wissen kann, ist kein Unter-Bewußtsein, zu dem das Ich einen Zugang hätte. Der im Schnee erinnerte Ort hatte Plimizœl geheißen. Der Eremit an der Klause des Heilsbrunnens ist zugleich eine Art Priester, der eine Art Beichte hören und eine Art Absolution erteilen kann, aber selber keinen Beichtvater braucht, der ihm Buße auferlegt und ihn absolviert. Bei Crestiens gar nicht ein. Da ist der Kampf mit Orilus (V, 266, 7ff.) ein Kampf zwischen namenlosen Rittern, der Schonung des Besiegten verlangt. Obgleich der Besiegte ihm sagt, daß sein Bruder die beiden Länder gestohlen hatte, die Parzivals Erbe waren, trifft das auf taube Ohren. Da ist Parzivals Kämpfen für die gedemütigten Damen Jeschûte (V, 269) und Cunnewâre gefordertes Eintreten für die Schwachen – sofern sie von Stand sind. Ihr Name interessiert ihn nicht. Daß die eine Dame die Schwester des Mörders Orilus ist, bleibt ausgeblendet, so daß er den Besiegten als Geisel zu seiner Schwester schickt, so daß er den Besiegten mit seiner Gattin nur nebenbei auch versöhnt. In Parzivals Erinnerung aufsteigen ließ der Dichter zwar das Reliquiar, auf das er die Unschuld der mißhandelten Gattin beschworen hatte, nicht aber auch die Klausel, mit der Parzival damals seinen Reinigungseid eingeleitet hatte: Gott möge seine Ritterehre vernichten und möge ihm keine Seligkeit gönnen, wenn er fälschlich die Unschuld der Mißhandelten beeide. Das war übermütige Herausforderung Gottes, den er wie einen ritterlichen Lehnherrn behandelte und dem er in dieser Logik auch die Schuld für den dann erfahrenen Ehrverlust gab. Der Dichter ließ ihm das Erinnerungsvermögen schrumpfen auf die Klage des Gottfernen: »Damals hatte ich noch Ritterehre«, die superbia als eigene Schuld ließ er ihn verdrängen. – Im Kontrast dazu steht, daß der Dichter dem namenlosen, stumpfsinnigen Hofnarren Crestiens am Artushof einen Namen gab, Antanor (III, 152, 33), und ihm ein prophetisches Verhalten beimaß, wie der Orilus-Schwester, wofür beide vom Hofmeister Keie geschlagen wurden. Obgleich Antanor keine Person von Stand war, verhielt sich der Dichter zu ihm anders als sein Held Parzival. Doch die beiden geschehene Mißhandlung ließ er nur für die Dame, nicht für Antanor gesühnt werden – oder war der Text VI, 295, 29f. einmal anders gedacht ?

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hatte ein echter Priester, der Messe lesen und das Brot des Heils spenden konnte, nebst Ministrant zum Altar dieser Klause gehört. Der Eremit hier braucht das alles nicht. Er ist der Bruder des Gralskönigs, dessen Wunde aufgebrochen war, nachdem Parzival nicht gefragt hatte. Gralsleute sind über alle andern hinaus Berufene. Sie sind tugendhaft. Sie scheinen die Liebe von Männern zu Frauen für gefährlich zu halten. Asexualität beim Gral geht so weit, daß die Ahnherren der Gralssippe keine Frauen, aber Söhne und Töchter haben. Durch Speise vom Gral, die wie eine Hostie als Realpräsenz des Erlösers wirkt, werden sie immer wieder kurzfristig entsühnt. Der König wie dessen jüngerer Bruder, das ist der Eremit hier, wie auch die Templeisenritter am Gral werden immer wieder sündig. Eine solche Sünde war auch die dann erzählte Minnereise des Eremiten, incognito. Liebessünde scheint Männersünde. Gewaltträchtiger Liebesdrang und Mord erscheint als Erblast aller männlichen Nachkommenschaft, seit der Adamssohn Kain die Mutter seines Vaters, die Erde, aus der Adam gemacht war, mit Blutsamen befleckte, indem er seinen Bruder Abel erschlug umbe krankez guot, um erbärmlichen Besitzes willen, weil der hatte, was er nicht hatte. Seither waren alle Männer Bruder-, ja blutinzestuöse Muttermörder. Väterverwandtschaft ist Kainserbe. Nur als Getaufte können sie erlöst werden. So hatte der Dichter seinem Publikum und danach durch seinen Eremiten dem ihm zuhörenden Parzival ›Geheimes‹ vom Gral erzählt – oder hätte auch Parzival schon vorher zugehört? Kopfschüttelnd? Das Gedanken-Motiv von der sippe als der sünden wagen, hat auch dem Dichter keine Ruhe gelassen. In seiner Willehalm-Dichtung begrübelt Wolfram, daß auch Heiden und Juden von Gottes Hand sind und wie die ungetauften Kinder sollten erlöst werden können. Was der Eremit hier sagte, das hatte den Hörenden Parzival zu Buße und Abkehr von seinem Vorsatz bewegen sollen, den Gral u n d seine Frau wiederzufinden. Haben diese Geheimnisse bloß als beeindruckend krauses Zeug gewirkt? Denn: Parzival bleibt bei seiner Absicht. Demütiges Aufgeben dieser Absicht als Buße scheint die Erzählung von der sündigen Minneritterfahrt des selbsternannten Büßereremiten bewirken zu wollen. Seinen erzählten Reiseweg stellt man gewöhnlich als eine Abfolge von realen Orten dar, ergänzt zum Zurechtfinden auch nichterwähnte reale Orte, und läßt sehr ferne und erdichtete Orte weg, etwa so: F  A  [L]  R  C  H  [P]  G  D  S Friaul  Aquileia  [Ljubljana / Laibach]  Rohas / Rohitscher Berg  Celje / Cilli  Hajdina / Haidin  [Ptuj / Pettau]  Grajenabach  Drava / Drau  Steiermark

Aber das ist ein moderner Reiseraum: Norden und Osten heißen im MA etwas anderes. Nicht nach Norden, sondern nach Osten sind mittelalterliche Erddar-

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Abb. 1: (1) Weltkarte im TO-Schema aus einem Leipziger Kodex, 11. Jh., (2) Richard de Haldingham, Weltkarte von Hereford, um 1280, (3) Ebstorfer Weltkarte.

stellungen ›orientiert‹, zum Orient hin (Abb. 1). Denn dort ist Ostern, das Licht der Auferstehung und Erlösungshoffnung. Auf Hartmut Kuglers Ebstorfkarte 3 wurde am Rand der oblatenförmigen Erdscheibe oben, im Osten das Haupt des Gekreuzigten gemalt, an den äußersten Westrand aber die nageldurchbohrten Füße des Getöteten. Nahe dem Haupt im Osten, östlicher als Jerusalem, aber gleich hinter Indien liegt das irdische Paradies. In diesem Orient wird einmal der 3 Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, hg. von Hartmut Kugler unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing, digitale Bearbeitung: Thomas Zapf. Bd. I: Atlas, Bd. II: Untersuchungen und Kommentar, Berlin 2007.

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Sohn des als Heide geborenen Halbbruders von Parzival als Priester Johann von Indien Christenherrscher und Gralskönig sein – in einer Weiterdichtung von Wolframs ›Parzival‹. Schlummert am Schluß von Wolframs Dichtung schon dieser Gedanke? Beim paradiesfernsten Ort, ganz unten, im Westen, läge nach den Erdkarten die Gralsburg Munsalvæsche, schon für Wolfram? Auf der Ebstorfkarte ist dort auch Hyspalim, zwischen den Füßen des Gekreuzigten, das man dem spanischen Sevilla gleichsetzt. Daneben, beim linken Fuß, sind die herkulischen Säulen und ein besonderer Berg, unweit davon der Garten der Hesperiden, dessen Äpfel der Drache bewacht – im Antiparadiesgarten? Was heißen diese Orte bei Wolfram? Wäre da auch schon Paradiesesferne angedacht? Es handelt sich um einen symbolischen Raum. Auf den Karten ist das Topographisches Ornament, mit dem großen, T-förmigen Wasser des Tau- oder Antonius-Kreuzes, das die drei Kontinente Europa-Asia-Afrika trennt: Geometrisch-abstrakt schon die Leipziger Karte, kurz vor 1100, ornamental-phantasierend die aus Hereford um 1280. Für Wolfram gefundene Namenvorbilder mag man eher als Anregungen für den Dichter verstehen 4 und fragen, was dieser aus dem von anderswoher Gekommenen für semantische Strukturen gebildet hat. Denn die modern kartierte Ortsfolge ist gar nicht der vom Einsiedler erzählte narrative Reiseraum: der ist ein ständiges Hin und Her (Abb. 2), immer wieder von unten nach oben, von WO verlaufend. Am Ende des Weges stehen als Ziel Anklagen. Sie variieren die männlich ererbte Kainssünde, auch des Mutterinzests: »Zwei große Sünden trägst du: Du hast deinen Gesippen Ither ermordet. Betrauern mußt du auch deine Mutter!«. Im Hin und Her der Wegerzählung werden immer wieder die Orte Munsalvæsche, Sibilje, Zilje, Rohas und die Personen Gahmuret und Ither genannt, der Vater und das Mordopfer Parzivals aus eigener Sippe. 1. Weg (vgl. Abb. 2): Die Turnierberge Gauriuon und Agremontin sind mir nicht – oder nur auf zu ertüftelte Weise – durchsichtig. Der Berg Famorgan ist die mütterliche Adamserde der Mazadan-Sippe, aus der Artus wie die Vorväter Parzivals entsprossen. Der 1. Weg führt gleich zum rätselhaften Rohas. Dem entspricht auf dem 6. Weg am Ende das Land Gandîne, das nach Parzivals väterlichem Großvater Gandin heißt. Auch dorthin führt dann der Weg über Rohas. Der 2. Weg geht auf dem Zauberschiff des Reims flugs ins hafenlose Zilje, vom Sibilje aus. Auch heute noch meinen Orte oft Menschen. Wer sagt: »Ich fahre nach Erlangen«, fährt zu einem Menschen, heute »zu Kugler«. Wer sagt: »Ich kam aus 4 So Martin (Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. und erklärt von Ernst Martin. II.: Kommentar, Halle a. d. S. 1903) zu Parzival 772, 19f. Landundrehte, Redundzehte < Loudun b. Poitiers, < Radones-Reimser ?

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Berlin, München, Göttingen«, kam von einem Menschen. So heißt denn in der Erzählung des Eremiten »Ich kam aus Sibilje« für den Hörenden wohl: »Ich kam von Deinem Vater her, den Du nie gekannt hast«. Auf dem 3. Erzählweg evoziert der Gedanke an Parzivals Vater dessen Reise weit nach Osten und reimt das Ziel jenseits des großen Wassers, das die Erdteile trennt, Baldac (496, 29) auf tôt làc. Der 4. Weg von der Gralsburg zum Plimizœl war für den erzählenden Trevrizent nur ein Abstecher, der den Minneritter zum Gral zurückführte. Für Parzival war das nach seinem Versagen dort der Ort, zu dem es kein Zurück gab. Für ihn war

Osten Baldac  

Rohas    Agremontin   Famorgan        Gauriuon

1. IX, 496, 1

  Zilje   Friul    Aglei        Sibilje

                    Sibilje

2. 19

3. 28

Stîre Greian, Trâ [Ptuj/Pettau]

Rohas  Zilje B     < Ither >    Plimizœl      Karchobra       Sibilje Munsalvæsche

4. 497, 6 Abb. 2

5. 21

< Ither >, < Lammire > Gandîne  Rohas

6. 498, 20

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Plimizœl der Ort des Blutstropfenschnees und der Verfluchung durch die Gralsbotin, die ihm die Ehre nach dem Sieg über Orilus und dem Reinigungseid auf die Reliquie wieder nahm. Das Erinnerungsecho im Hörenden hatte der Dichter beim Wiedererkennen der Klause am Heilsbronn durch Parzival evoziert. Das Motiv der Reliquienkapsel trägt er beim 5. Weg in den Reisebericht des Eremiten hinein. Der erzählt nun, daß er in Sibilje dem Vater Parzivals mit einem verharmlosend (ungestabet) benannten Lügen-Eid geschworen, daß sein damals noch bartloses Gesicht gar nicht dem Gesicht der Herzeloyde ähnele, seiner älteren Schwester, die Gahmuret gerade erobert hatte. Als er dann seine Notlüge zugab, schenkte ihm Parzivals Vater den Edelstein, aus dem er dann jenes Reliquiar arbeiten ließ, an dem Parzival die Eremitenklause wiedererkannte. 5 Wenn der Eremit seinen Hörer an dieses Wiedererkennen erinnert, läßt der Dichter den Erzählenden die moralische Differenz von eigenem Lügeneid und Parzivals echtem Sühneeid übergehen. Er hämmert vielmehr den Namen des Ither dem Hörenden ins Gewissen. Parzivals Vater zog in den Tod im Orient, jenseits des großen Wassers. Seinen fürstlichen Knappen Ither ließ er dem Erzählenden. Die Eilkaravelle Zilje transportierte den Minneritter und seinen Knappen Ither mit der roten Rüstung auf dem 5. Weg vom Vater-Sibilje zum Rohas und auf dem 6. Weg nochmals über Zilje zum Rohas und dann in die Gandîne, ins Ahnenland, über das Parzivals Vaterschwester Lammire herrschte. Sie hatte ihre Liebe dort dem fürstlichen Knappen Ither geschenkt, den Parzival dann im Westen, um Ritter zu werden, wegen seiner blutstrahlenden Rüstung unritterlich mit der Saulanze ermordete. So wurde die Mordanklage Ziel des erzählten Weges ins Ahnenland. Zur Gandîne gehörte der Gold führende Grajena-Bach (Greian). Doch er mündet bereits jenseits in die Drau (Trâ, Drava), die sich auf den Erdkarten in jenes große Wasser ergießt, welches die Erdteile trennt. Am Jenseitsufer der Goldbachmündung beginnt schon Asia bis hin zum irdischen Paradies und India. Gold ist in den Gahmuret-Büchern (I und II) das Stichwort für das Mohrenland Arabie. An der Goldbachmündung lag aber die unerwähnte, alte Römerstadt Pettavia/Ptuj/Pettau. Kam es darauf nicht an? War der Goldbach wichtiger? Das Immer-wieder-neu-Ansetzen des narrativen Ritterwegs mag ein Immer-wieder-neu-in-Richtung-Erlösung-Streben meinen, verbunden mit der ererbten Blutinzestsünde.

5 Gesa Bonath (27. 4. 1935–25. 6. 1992) wog D mîn kefse gegen G eine kefse, neigte zu D, aber hielt *G für »die beste ausdenkbare La.« (G. B., Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach, Lübeck, Hamburg 1970, 1971 [Germanische Studien 238, 239], Bd. II, S. 202). Daß mit dem unbestimmten Artikel die frühere Stelle mit der richtigen Kasusendung zitiert wurde, mag sie bedacht haben.

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2. Aber was meint Rohas, Rohas, Rohas auf der Seite der symbolischen Ahnenorte Parzivals? Wolfram konnte diesen Namen nur in der Form ohne /h/ als Roas kennen. Den Beweis dafür möchte ich Ihnen erst einmal schuldig bleiben. Er liegt auf einer anderen ›Ebene‹. Für die Semantik des erzählten Weges ist aber schon dieses Roas genug. Der Name Roas trägt für den Dichter einen ganzen Komplex persönlich erlebter Orte und ihrer Menschen. Er kann für die Grafen von Abenberg auf der einzigen Ritterburg nebenan stehen, deren traurigen Zustand Wolfram beim ersten Einreiten Parzivals auf Munsalvæsche mit der Herzenstrauer beim Gral verglichen hatte. Mit Roas verknüpft sich auch der Ort des nahen Zisterzienserklosters Heilsbronn, das mit Abenberg ebenso verbunden ist wie Würzburg, wo der Name Roas zuerst schriftlich wurde durch einen Grafen von Abenberg, der zugleich Erzbischof von Salzburg war und über den Ort Roas in der Südsteiermark verfügte, an dem der Klausner Trevrizent als Minneritter mit der Lanze turniert haben wollte. Hinter dem Namen steht eine Geschichte. Denn das zeichnet diesen Dichter aus, daß er sein Erzähltes Erlebtes und sein Erlebtes Erzähltes sein lassen kann, ohne dabei eine Grenze zu überspringen. Er brauchte überhaupt nicht irgendwo gewesen zu sein, um überall gewesen zu sein. Er konnte jeden frommen Ort mit Quelle, jeden Burgberg und jeden Menschen in jeden andern übersetzen, konnte jede erlebte Wirklichkeit zum Modell nehmen, ob nun Abenberg oder Heilsbronn oder sich selbst in jeder Rolle. Ein Graf Wolfram von Abenberg also war der Vater jenes Mannes und ein Wolfram von Abenberg war der Bruder jenes Mannes, der als mächtiger Reichsfürst den Namen Roas auf der Synode in Würzburg, die wie der Zisterzienserheilige Bernhard von Clairvaux den Papst Innozenz II. unterstütze, 1130 in eine Urkunde des Königs gebracht hatte. Doch die Abenberger mit dem Sippen-Leitnamen Wolfram waren ausgestorben. Heilsbronn war Hauskloster und Grablege ihres Geschlechts. Das muß den Dichter beeindruckt haben. Hat schon jemand dem bezaubernd aufgeweckten Buben, der neben der nahen Ritterburg ›Wolfram‹ getauft worden war, etwa ein eifersüchtiger Eschenbacher Altersgenosse, Ähnliches angedeutet, wie das, was sich bei Goethe als Knabenphantasie festsetzen konnte? Der berichtete: Nach einem Frankfurter Gerücht habe die Frau seines Gastwirtgroßvaters sich einem hochadeligen Gast gegenüber nicht unwillig gezeigt, und so sei denn Goethes Vater ein illegitimer Adelssproß. Der Knabe Goethe will den hänselnden Buben keß geantwortet haben, das Leben sei eine so wunderschöne Angelegenheit, daß es völlig egal sei, wem man es zu verdanken habe. Immerhin habe er, schreibt der alte Goethe, auf Adelsbildern Ähnlichkeiten gesucht und gefunden – aber zu viele. Von seiner Ahnenphantasie blieben dennoch zarte Spuren. Ich denke: Wolfram gehört

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zu jenen Künstlern, die als junge wie reife wie ältere Menschen charakteristisch fruchtbar sein können, und deren Bild nicht als selbstidentisches Denkmal erstarren muß. Er setzte in seiner Eremiten-Erzählung gleich zu Anfang des erdichteten Weges bei der feenhaften Ahnenerde und dann nahe der Gandîne, Parzivals Ahnenland, den Namen Roas in die Ahnenposition und nannte den Namen gleich oft wie das Sibilje des Parzival-Vaters. Die Zisterze Heilsbronn hieß wie die Quelle von Wolframs Einsiedler-Klause Fontaine la Salvatsche natürlich lat. fons salutis. Eschenbach, Abenberg und Heilsbronn liegen zueinander an den Spitzen eines Dreiecks von 14 km Seitenlänge: Abenberg östlich und Heilsbronn nordöstlich von Eschenbach. Neben der Burg Abenberg soll im 12. Jahrhundert die Heilige Stilla von Abenberg gelebt haben, wie neben der Gralsburg Sigune, als Inkluse, und im Kloster an der Heils-Quelle war etwas mehr als die kleine Handbibliothek des Eremiten Trevrizent. Doch die Verehrung der Heiligen Stilla von Abenberg im Volk ist erst seit 1480 von lokalen Prälaten bezeugt worden. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte man gegen das Umsichgreifen des reformatorischen Ungeists auch eine Legende dazu in Umlauf gebracht. Erst 1897, als der »Kulturkampf« (LThK 6 [1934] 294f.) des evangelischen Hohenzollern-Kaisertums von 1871 abebbte, hatte ein Bischof von Eichstätt Stilla wenigstens als Selige verehrt wissen wollen. Auf Anfrage beim Heiligen Stuhl war zu erfahren gewesen, daß dort keine Kanonisationsakten vorlagen. Erst 1927 wurde die Beatification päpstlich bestätigt. Stillas Bildnisgrabstein als Gründerin des 1675 niedergebrannten Peterskirchleins neben Abenberg, wo seit 1483 das Augustinerinnenkloster Marienberg 6 vom 1469 gegründeten Marienstein bei Eichstätt her entstand, soll erhalten sein. Woher die Lokalforschung die Daten der Seligen kennt, weiß ich nicht. War Parzivals Sigune der Anstoß für die Verehrung? Auch bei Heilsbronn darf man sich fragen, ob nicht Wolframs Fontane la Salvatsche der älteste Beleg dafür ist, daß aus dem Abenberger Grundstück Hahaldesbronn Halsbronn, fons salutis und Heilsbronn wurde, sicher bezeugt wohl erst gegen 1400. Erdichtetes und Erlebtes brechen einander in Zerr-Spiegelungen: bei der Kainstat an Ither und in der provozierten Erinnerung der Eremitenerzählung am Roas wird sein Herrschaftsland (III, 145, 29: IX, 498, 16) aus Cumberland (Martin [Anm. 3]) zum Witznamen Chunchumberland (frz. concombre < cocombre, cogombro < lat. cucumis), Concombre-Land, Gurkenland im Eigenbistum Gurk, wird die Hungersnot mit dem Grafen von Wertheim und mit den krachenden Krapfen von Trühendingen (IV, 184, 4; IV, 184, 24), wird beim Auftritt des leidenden Anfortas und dem Speisungswunder des Grals (V, 238, 12) mit der Be6 Es bestand 1491–1816 und war dann seit 1920 Kloster der Schwestern von der Schmerzhaften Mutter (LThK 9 [1937], 831; 6 [1934], 934; 943).

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heizung zu Wildenberg V, 230, 13, dann der Bürgeraufstand zu Schanfanzun mit dem Fastnachtzanken der Marktweiber zu Tolenstein VIII, 409, 6, verzerrspiegelt, vieles davon in schalen Späßen gegen heilig-sündig-ernsten Anlaß, bei dem der Dichter auch seinen eigenen Ernst belacht, bei Abenberg und Heilsbronn? Heilsbronns Mutterkloster Ebrach war eine filia von Morimond, wo Otto von Freising, der zuerst über den Priester Johann von Indien berichtete, Abt gewesen war und nominell lebenslang blieb. Alljährlich sollte aus den Tochterklöstern eine Delegation zum Generalkonvent des Ordens im Primar-Kloster bzw. in Cîteaux erscheinen, so daß in Ebrach und Heilsbronn einige Mönche ein bißchen Altfranzösisch gekonnt haben dürften. Gegen 1165 wurde ein lateinischer Brief des Presbyters Johannes aus dem Würzburger Raum heraus verbreitet, wird gesagt. In diesem Raum waren Söhne und Töchter der Abenberger auch Bischöfe und Äbtissinnen, in Würzburg und Kitzingen. Sollte über sie einiges bis an die Ohren unseres Dichters gedrungen sein? Wie andere Adelige werden auch die von Abenberg ihre Archivalien an ihre Hausklöster zur Aufbewahrung gegeben haben (LdM 1, 908f.), in die Zisterze Heilsbronn, 1132 auf einem Grundstück der Abenberger gegründet. Die Mönche, die es auf Anordnung des Bischofs von Bamberg besetzten, waren aus der Zisterze Ebrach im Steigerwald gekommen, einem der bedeutendsten Klöster des Zisterzienserordens, mit den Königen verbunden wie mit jenem zisterziensernahen Papst, zu dessen Unterstützung 1130 die Synode in Würzburg getagt hatte, auf der die Roas-Urkunde von einen Erzbischof aus Abenberg ins Werk gesetzt wurde. Jener Papst Innozenz II. besuchte danach auch Ebrach und Heilsbronn. Im Archiv beider Klöster dürfte die Urkunde von 1130 registriert worden sein. Burg Abenberg aber verfiel – bis sie die Nürnberger Hohenzollern nach Wolframs Zeit wieder aufbauten, von denen einer eine Abenbergerin geheiratet hatte. Auch im Hauskloster und der Grablege Heilsbronn traten die Hohenzollern das Erbe der Abenberger an. Heilsbronn hatte eine große Bibliothek mit Skriptorium. So gelangte ein frühes ›Parzival‹-Fragment mit dem übrigen erhaltenen Hohenzollernbestand, nach dem Evangelischwerden der Mönche, in die Universitätsbibliothek Erlangen. Es ist aber ohne die Roas-Stellen und wohl von woandersher zugewandert – aus Ebrach, dem Mutterkloster von Heilsbronn? Aus Ebrach kamen auch, sogar früher als nach Heilsbronn, die Mönche für die Gründung der Zisterze Rein bei Graz in der Steiermark. Auch von dort kommt ein frühes ›Parzival‹-Fragment 7 , auch ohne Roas-Stellen. 7 Nr. 5 bei Gesa Bonath und Helmut Lomnitzer, Verzeichnis der Fragment-Überlieferung von Wolframs ›Parzival‹, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag, hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle, Tübingen 1989, S. 87–149.

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Für Heilsbronn wie für andere Klöster wird man sich, wenn man einmal Verwandte im Kloster besucht hat, vorab sagen müssen: Es gab damals unvorstellbar wenig Menschen in unsern Landen, und die Wenigen kannten sich, wie einst auf dem Dorf, als Personen. Die Menschen aus der Gegend besuchten in Heilsbronn vor allem Verwandte, sagt die Klostergeschichte. Unter ihnen war bald nach Wolfram gewiß auch der Dichter Tannhäuser aus Thannhausen bei Gunzenhausen, nebenan. Die Heilsbronner müssen den mhd. Tanzleich des Cousins Tannhäuser – unter dessen Mitwirkung? – ins Geistliche umtextiert und die Musik notiert haben. Sie hatten berühmte Sänger, die das Kloster Dießen sich hatte kommen lassen, um das Gesangswesen dort zu erneuern. Von dort stammt die Handschrift clm 5539, die das erzählt und die mit Syon egredere nunc de cubilibus textierte Melodie des 4. Tannhäuserleichs überliefert. 8 3. Jetzt wäre der Moment für die aufgeschobene Beweis-Argumentation auf einer ganz anderen ›Ebene‹. Von den beiden handschriftlichen Überlieferungsgruppen des ›Parzival‹ schreibt erst die von der Sankt Galler Handschrift angeführte Gruppe Rohas mit /h/ zwischen den Vokalen. Die Leithandschrift dieser Gruppe (Sankt Gallen 857) ist in den 1260er Jahren, meint man, geschrieben und war ursprünglich an einem unbekannten Ort. Die Gruppe wird als *D bezeichnet. Die Gruppe der Handschriften, deren älteste Zeugen »um 1225« (K. Schneider), oder »1228–36« (Bonath [Anm. 5], II, S. 92) aufs Pergament fanden, wird mit dem Buchstaben G bezeichnet, nach der Leithandschrift (cgm 19) in der Münchener Staatsbibliothek. Beide sogenannten ›Leithandschriften‹ sind nicht die ältesten Exemplare ihrer Gruppe. Es gab Vorformen, die verloren sind. In *G heißt der Ort nicht Rohas, sondern ohne /h/ Roas. Diese Namensdifferenz hat eine Vorgeschichte auf einer wiederum etwas anderen ›Ebene‹. 1. Als Streubesitz des Klosterbistums Gurk, das in Kärnten liegt, bezeugt eine nur als Abschrift im Urkundenbuch dieses Bistums Gurk erhaltene Königsurkunde von 1130 den Ort in der Südsteiermark namens Roas. Dieser Ort 8 Karl Heinrich Bertau, Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs, Göttingen 1964 (Palaestra 240), S. 163f. – Kontrafazierten jüngere Sänger dort auch den Andachtsleich des wohl aus Prag gekommenen Reinmar von Zweter mit dem Text O amor Dei Deitas ? Da klingen Texte und Melodien der von Italien her bis nach Polen und Böhmen ziehenden Geißlerscharen an. Der unruhige Reinmar kam noch ins Umland von Würzburg, wo jetzt auch Kurt Ruh begraben liegt. Unweit des Mains fand er angeblich sein Grab in Eßfeld bei Ochsenfurt (cf. H. Brunner 2VL 7, 1200), nicht in Estenfeld, wie ich gesagt hatte.

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trug einmal, noch ohne Namen, 30 königliche Wirtschaftshöfe oder Ackerstücke. Dieser Ort war angeblich einer frommen und besitzreichen Dame (Hemma von Gurk) von einem früheren König als Eigentum geschenkt worden. Diese Dame hatte ihren Besitz an Gurk vererbt. Der Ort trug auch einen spitzen, hornförmigen Berg. Die Südsteiermark gehört heute zu Slovenien und der Berg heißt heute Rogaška gora, »hornförmiger Berg«. 2. Als die Südsteiermark als Teil des Herzogtums Steiermark 1261–76 an den König von Böhmen und Mähren gefallen war, hieß dieser Ort in Abschriften des ›Landbuchs‹ von Österreich und Steiermark Rohats oder Rohatz. Diese Abschriften wurden zwischen 1265 und 1267, also in jener Zeit, als auch in der Sankt Galler D-Handschrift Rohas geschrieben wurde, in der Kanzlei des Bischofs von Mähren angefertigt. Die Namensformen Rohats und Rohacz zeigen altböhmische Schreibweise und Lautform. 9 Im Westslavischen, wozu mährisch und böhmisch gehören, wurde ein ur- oder gemeinslav. /g/ zu einem laryngalen, weichen /h/ palatalisiert. So wurde auch Praga zu Praha. In einigen Positionen wurde ein weiches /g/ auch zu /zˇ/. Weiches /h/, weiches /g/ und /zˇ/ als verwandte Laute spricht ein Fremder vielleicht am leichtesten, wenn er die Zunge gegen den oberen Gaumen drückt. Es sind Laute, die ein Deutscher schwer sprechen und schreiben kann. Wurden sie deswegen in Roas überhaupt nicht geschrieben? Im Süd- und Ostslavischen blieb im Prinzip /g/ 10 erhalten. 3. Ehe die Steiermark böhmisch wurde, war sie babenbergisch-österreichisch gewesen. Das von den Babenbergern über ihren Besitz angelegte ›Landbuch‹ existierte nur in jenen böhmisch-mährischen Abschriften. 11 Vor den Babenbergern waren Steyrer Herzöge der Steiermark gewesen. Ihnen war von Gurk der Ort Roas als Lehen übertragen worden. Der umfaßte aber inzwischen 3000 Ackerstücke, und 9

Es gab auch am Eingang des Marchfeldes eine Burg, die so hieß, heute Rohac an der March, neben der alten großmährischen Burgstelle, die dann unter den prˇemyslidischen Böhmenkönigen Burg und Schloß Hodonin trug. 10 Eine Pragerin heißt Prazˇanká. Bog »Gott« wurde Bu˚h, aber »O Gott !« lautet cˇechisch und mährisch Bozˇe !. Das erst spät verschriftlichte Slovenisch zeigt noch heute regionale Unterschiede und schwankt in manchen Fällen zwischen gemeinslavisch-südslavischen und westslavisch-böhmisch-mährischen Lautformen. So heißt »Gott« Bóg, »Um Gottes willen !« za bôzˇjo vóljo, »Gott sei Dank !« hwála Bogú ! 11 Auch am Ende des 13. Jhs. konnte sich der Wiener Jans Enikel für sein ›Fürstenbuch‹ auf keinen älteren Text stützen (so Lampel in Strauchs MGH-Ausgabe): Jansen Enikels Weltchronik, Hannover 1900 (MGH SS, Dt. Chron. 3,2). Jansen Enikels Werke, hg. v. Philipp Strauch.: Einleitung I - C; Jansen Enikels Weltchronik. Jansen Enikels Fürstenbuch [p. 599–679] Anhang I. Babenbergische Genealogie. [p. 680–819] – Anhang II. Das Landbuch von Österreich und Steier. Einleitung zu Jansen Enikels Fürstenbuch, hg. von Joseph Lampel [1895] – Vorbericht. [p. 687–705], I. bis IV.: Hie An Ist Geschriben v. dem Lande Ze Steyr. II. bis IV. etc. [p. 711–819] – Darin p. 708 (mit Zeilenzählung der Seiten) unser Abschnitt.

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der Berg trug eine Burg. Als die Babenberger sie beerben sollten, wies der erbende Herzog dieses Lehen zurück. Der Klosterbischof von Gurk war kein Reichsfürst und konnte daher keinen Reichfürsten, wie es der Herzog war, zum Lehnsmann haben. Diese Zurückweisung gab es nur in der Abschrift der böhmisch-mährischen Kanzlei. Welche Form der Name darin hatte, ob ohne Konsonanten zwischen den Vokalen a und o, oder mit böhmischen /h/ oder mit südslavischem /g/, wissen wir nicht. 4. Dadurch daß jener Erzbischof von Salzburg, der sich für den Text der Königsurkunde aus Würzburg von 1130 (MGH DD 8, Nr. 29) zusammen mit seinem Bischof von Gurk verbürgt, ein gebürtiger Graf von Abenberg war – das ist jene Nachbarburg Abenberg, von der Wolfram sprach – gelangt die Argumentation wieder auf eine andere ›Ebene‹. Gurk war nämlich ein ›Eigenbistum‹ von Salzburg. Es hing von dem jeweiligen Erzbischof ab, und nur er ernannte Gurker Bischöfe. Auch das war eine Verfügung jener Dame Hemma von Gurk gewesen. Einer der bald zu Herzögen aufgestiegenen Markgrafen des Hauses Steyer, Markgraf Otakar II. (1082–1122) hatte den Salzburger Erzbischof beschützt, als dieser 1111 auf seiner Flucht aus Italien in Lebensgefahr war, als sein Kaiser Heinrich V. ihm nachstellen ließ. Wohl auf Anregung seines Erzbischofs mag ein Gurker Bischof das Roas aus der Urkunde von 1130 als Lehen an einen aus dem Hause Steyer vergabt haben. Man kann sich Gedanken darüber machen, wer da Lehnsmann von Gurk wurde. 12 Als der letzte dieser nunmehr zu Herzögen aufgestiegenen Steyrer, der kranke Knabe Otakar IV. (1165–1192), starb, erbte der Babenberger-Herzog Leopold II. (V.) Steiermark. Das problematische Roas gehörte für ihn, wie gesagt, nicht dazu. Die Gurker waren berüchtigte Urkundenverfälscher, die ihren Besitz auf diese Weise ständig vermehrten. War der Ort gar schon 1130 in die echte Königsurkunde hineingeschummelt worden ? 13 Wenn in den *D-Handschriften die Schreibung Rohas auftritt, sicher erst nach ›um 1260‹, kann man sich fragen: hatte man den Hiatus im alten Namen Roas durch ein dt. /h/ sprechbar gemacht? 14 So mag der Redaktor von D und ihm folgend Lachmann 12 Der Sohn des Schützers, Markgraf Leopold I. (1122–1129). Er war der Gründer der Zisterze Rein bei Graz, die, wie kurze Zeit später Heilsbronn, von Ebracher Mönchen besiedelt wurde. Aus beiden Klöstern sind frühe ›Parzival‹-Handschriften als Fragmente erhalten. War eher dessen Sohn Otakar III. (1129–1164) belehnt worden ? 13 Das Material dazu ist ausführlich zusammengestellt in: K. B., Wolfram in Rogaška, in: Sprache und Literatur durch das Prisma der Interkulturalität und Diachronizität. Festschrift für Anton Janko zum 70. Geburtstag, hg. von Marija Javor Briški, Mira Miladinoviƒ Zalaznik und Stojan Bra…i…, Ljubljana 2009, S. 146–168. 14 Das /h/ konnte entweder den heute ungeschriebenen Knacklaut meinen, mit dem im Deutschen jeder anlautende Vokal einsetzt (’iß ’auch ’ein ’Ei). Im Mittelalter schrieb man ihn gelegentlich als /h/. Oder hatte man /h/ als Hauchlaut (wie in ›hoch‹) verstanden oder als ach-Laut wie im Namen Ga/h/muret ?

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überlegt haben. Seither steht er in allen späteren ›Parzival‹-Editionen. Jenes /h/ hat wenig Chancen, das des Dichters gewesen zu sein. Wahrscheinlicher ist, daß Wolfram nur das Abenberger Roas gekannt hat, das dann in der *G-Überlieferung erhalten blieb. Soviel zum Argument, das auf einer anderen ›Ebene‹ liegt. 4. Was ist mit den ›Räumen‹ in der Münchener Handschriftenklasse *G? Zu ihr gehören die meisten ›Parzival‹-Handschriften und -Fragmente bis hin zum Straßburger Johann Mentelin-Druck vor 1500. Aber die *G-Lesarten bieten eher einen brodelnden, uneinheitlichen Text. Bei einem ihrer Schreiber sprach Gesa Bonath von einer »Unzuverlässigkeit, die an Genialität grenzt und die sich wohl daraus erklärt, daß« der Schreiber »den Text sehr genau kannte und sich entsprechend in der Vorlage nur oberflächlich informierte […] Er dürfte auch den Willehalm gut gekannt haben«. 15 Entschuldigung: So etwa stelle ich mir auch den Dichter vor. Die jüngere, Sankt Galler Überlieferungstradition zeigt die entschlossene Hand eines Redaktors. Er weicht z. B. französischen Wendungen aus und ersetzt sie durch lateinische oder er verdeutscht. Hingegen scheinen die frühesten Schreiber von *G das Ostfranzösisch des Dichters, das er nach seiner Äußerung im ›Willehalm‹ in der Champagne erlernte, korrekt geschrieben zu haben 16 , wie man es dort, d. h. auch: in der Gegend um das Zisterzienserkloster Morimond, sprach. Morimond war ja Mutterkloster für Ebrach und Heilsbronn. Haben da Zisterzienser die Schreiber beraten, gar selber für den Dichter geschrieben? Zu Anfang des 13. Jahrhunderts wäre das auch nach Karin Schneider noch nicht völlig unmöglich. Warum sollte nicht Wolfram, wie der Dichter Tannhäuser, die an vulgärsprachlicher Literatur interessierten Heilsbronner Zisterzienser besucht und befragt, gar dies und das dort am Wortlaut erwogen haben? Bei unserm ›Parzival‹-Stück denke ich da an jene Stelle, wo Wolfram seinen Eremiten sich mit seinen Rittertaten in allen drei Erdteilen brüsten läßt, gleich zu Beginn der Reiseerzählung. Da wird in einigen Handschriften der *G-Überlieferung Europa schon 1225 (cgm 19) und vor 1300 (cgm 61) aropie genannt. Dem würde für Asia ein Arabie entsprechen. Das wird auch überliefert, freilich erst in späteren Handschriften, deren Texte über viele Zwischenstadien zustandekamen, so: in der Hamburger Papierhandschrift des immerhin elsässischen Schreibers Jor15

Bonath [Anm. 5], II, S. 200. Auch Fehler, wie das unfranz. /æ/ in Mvnsalvæsche statt munsalvasche kamen aus D in Lachmanns Text. *G überliefert richtig, auch fontane la salvasche. Vgl. die subtilen Beobachtungen von Bonath [Anm. 5], I, S. 35–39, 71f., II, S. 30f., 43, 70f., 75, 78f., 147 und das Register. 16

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dan von 1451 (arabie), etwa gleichzeitig in der Donaueschinger Papierhandschrift (arabi Bonath [Anm. 5] II, S. 249). Die kritisch bessernde Heidelberger Handschrift hat aber schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts lat. evropia hergestellt. Ihr Redaktor hatte schon verschiedene ältere Vorlagen verglichen, um die ›beste‹ Lesart zu finden. Gesa Bonath sah in ihm ein Beispiel für mittelalterliche »Wolfram-Philologie«. Jene aber, die da einmal mit Arabie/Aropie experimentierten, hatten die Fabel weiter bedacht. Denn für Parzivals Vater war ja der große Ostkontinent, der beim Goldbach begann: Arabie, äußerstes, tödliches Ritterziel. Dort hatte er seine Mohrenkönigin Belacâne gewonnen. Als Verlassene hatte sie seinen Sohn Feirefiz geboren. Aus der Ehe zwischen dem schwarz-weiß gefleckten Feirefiz und der Gralsträgerin Repanse de Schoye 17 , zwischen Arabie und Aropie, ließ Wolfram den Priester Johann und dessen Geschlecht hervorgehen und ließ den schwarz-weißen Feirefiz den Gralserben Lohengrin nach Indien mitnehmen wollen. Das hatte Wolfram, wie den Priester Johann, blindes Motiv bleiben lassen. Nicht auf ein genealogisches Brabant-Epos um den Schwanenritter Lohengrin, den mythischen Ahnen des Kreuzzugshelden Gottfried von Bouillon mochte er hindenken, sondern auf seinen ›Willehalm‹ mit Gedanken über kreuzzugsritterliches Heidenschlachten wie Vieh und über eine Erlösung der dogmatisch Unerlösbaren. Von seinem Sinnen über das Kainserbe her, die Ruine Abenberg vor Augen, bedachte er da das Aussterben hoher Sippen: Von Spreu, die der Wind verweht, hatte er nach Ps. 1,4 da im ›Willehalm‹ (IX, 443, 6f.) gesprochen, als die Familie des Rennewart zerstob. Und in seinen eigenwilligen Titurel-Fragmenten in epischen Strophen nach einem Rezitationsmodell, das die Melodieverse bis zum Zerreißen dehnen konnte und das mit Selbstzweifeln schloß, hatte er gleich zu Anfang von Thronverzicht und Sippenverfall des Gralskönigtums gedichtet. Klassizistisch regularisiert hatte das wolframsche Strophenmodell dann der Dichter der noch vor 1300 entstandenen ›Parzival‹-Fortsetzung, die man den ›Jüngeren Titurel‹ genannt hat. Da war dann der Gral aus dem äußersten Westen in den äußersten Osten zum Priester Johann nach Indien gelangt, weil sich die westliche Menschheit rings um den europäischen Aufenthaltsort des Grals zusehends in Sünden verstrickte. 18 Dieser Dichter hat übrigens (nach Röll bei Bonath) eine *G-Handschrift des ›Parzival‹ zur Grundlage genommen. 19 Ein Lohengrin-Epos 17 Ihr Name »Verbreiterin der Freude« spielt mit dem Namen der Urmutter Erde des Mazadan-Artus-Gahmuret-Geschlechts, der Fee Terre de la Schoie »Freudenland« ! 18 Vgl. Huschenbett, Art. »Albrecht, Dichter des ›Jüngeren Titurel‹«, in: 2 VL 1, Sp. 158–173, hier Sp. 166; ähnlich Knefelkamp, Art. »Johannes Presbyter«, in: Lexikon des Mittelalters 5, Sp. 530–532. 19 Walter Röll, Studien zu Text und Überlieferung des sogenannten Jüngeren Titurel, Heidelberg 1964 (Germanische Bibliothek 3 / 9).

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als ›Parzival‹-Fortsetzung war nicht Sache unseres Dichters. Gleich zwei ›Lohengrine‹ waren bald bei jüngeren Dichterkollegen in Arbeit. In der erwähnten Heidelberger Handschrift (Cpg 364), vom Anfang des 14. Jahrhunderts, mit ostfränk.-bairischer Schreibsprache ist ein ›Lohengrin‹ schon als Wolfram-Fortsetzung mitüberliefert. Bei dem, was Sie gehört haben, ging es nicht um Sehen von Räumen, sondern um Wolframs Erzählmodell des erzählten gelenkten Hörens. Da hatte sich der erzählende Dichter einen E r z ä h l e r und dazu einen Z u h ö r e r erfunden. Die Semantik des Hörens hat die Eigenart, daß der Hörende den Sinn gibt: verstehend-mißverstehend. Verschriftlichtes bietet dem Lesenden keine festere Erkenntnismöglichkeit: der Sinn bleibt einer Lebenssituation des Verstehens verhaftet. Vom Kontext her konnte man meinen, der erfundene Erzähler habe seine Absicht nicht ganz erreichen können. Aber wir wissen so wenig wie der Erzähler des erzählten Erzählenden, was an Mißverstandenem sein erzählter Hörer sollte bilden können. Intentionen kann ein Mensch einem andern nur unterstellen, obgleich er ihn an seinem Verhalten so sicher erkennen möchte wie ein Tier das andere. Der erzählende Dichter ließ seinen erzählten Erzähler meinen, sein Zuhörer habe beim Gral nochmals fragen können, weil sein Wille Gott die Hand gezwungen habe, und ließ ihn bekennen: »Ich hatte dich damals belogen, um dich von deiner Absicht abzubringen« (XVI, 798, 6). Dem Belehrten war aber das Wiederfinden von Gral u n d Frau Ziel gewesen. Der einst Belogene weiß bereits, daß er seine Frau auch wiederfinden wird: auf dem Plimizœl des Blutstropfenschnees. Das sagt er dem Eremiten als Antwort auf das Lügenbekenntnis, als ob jener den Doppelwunsch nie gehört hätte. Dabei können wir zweifeln, ob jene Lüge dem Lügner als Ausrede gegönnt wurde oder ob der Lügen-Eremit als geistlich beschränkt etwas Unverstehbares – die Wege der Gnade – für verstehbar gehalten haben sollte. Auch der erzählende Dichter zielte auf ein gelenktes Hören seiner Hörer. Das unterstellen wir wieder vom Kontext her. Auch erzähltes Hören läßt sich ohne unterstellte Intentionen nicht bewerkstelligen. So habe ich Ihnen mein erzähltes Hören zu Ohren gebracht, mit meinem Mißverstehen und für Ihr Mißverstehen, weil Menschen ihre eigenen Intentionen nur scheinbar kennen und sich und andern nur unterstellen können. Aber: homo videt ea quae parent / Dominus autem intuitur cor, »Ein Mensch sieht in die Augen, ER aber sieht in das Herz« (1. Sam 16, 7) sagt der hebräische Text bei Buber / Rosenzweig. Ich denke, Wolframs Genialität besteht in seiner Fähigkeit, äußere und innere Wirklichkeit ständig ineinander zu spiegeln. Das ist erinnernde Welterfahrung. Die Abenberger Namensform Roas mag dem Dichter jemand vermittelt haben, der sie aus der Urkunde des Erzbischofs aus Abenberg kannte, aus der sie dann in die *G-Handschriften wanderte. Der konnte dem Dichter auch die Geschichte von der Flucht jenes Aben-

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bergers vorm Kaiser 1111, auf dem Trevrizentweg durch die Südsteiermark erzählt haben. Wolfram mußte überhaupt nicht irgendwo gewesen sein, um überall gewesen zu sein. Er konnte jeden Ort, jeden Menschen in jedem andern gespiegelt finden, konnte jede erlebte Wirklichkeit zum Modell nehmen, auch Abenberg und Heilsbronn. Dreidimensionalität ist nichts »in der Natur Vorfindliches […], weder ein logisches Gesetz noch ein Naturgesetz […]: sie ist ein Nebenprodukt menschlicher […] Praxis«, mit anderen Worten: des Gebrauchs von Werkzeugen für begrenzte Zwecke. So Peter Janich in seinem Buch Euklids Erbe. Ist der Raum dreidimensional ? (München 1989). Für Wolfram ist ein für uns dreidimensionaler Raum um Eschenbach herum zunächst von praktischem, dann von spiegelhaftem Belang. Sein enger Tuot-ûf-Raum des Herzens scheint von Räumen geistlich-moralischer Natur durchwanderbar, mit ernstem Spott auch als dogmatisch zweifelhafte Belehrung erlebbar, so daß man fragen möchte: Wo sind denn da Räume?

Erzählungen kartieren Jerusalem in mittelalterlichen Kartenräumen von Ingrid Baumgärtner, Kassel

Die um 1300 entstandene Ebstorfer Weltkarte, deren Original bei einem Bombenangriff 1943 in Hannover verbrannte, gilt wegen ihrer Größe von 3,58 × 3,56 Metern mit etwa 2.345 Bild- und Texteinträgen als Inbegriff einer mittelalterlichen mappa mundi. 1 Wie einige andere nach der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Ökumenekarten ist sie bekanntlich auf Jerusalem zentriert. 2 Die Stadt bildet den Mittelpunkt des von einer Christusfigur umspannten Erdkreises, wobei in der Forschung diskutiert wurde, ob die alles Irdische veranschaulichende Erde als Körper Christi fungiert oder der Christuskopf in abgehobener Distanz, nicht 1 Vgl. Kerstin Hengevoss-Dürkop, Jerusalem – Das Zentrum der Ebstorf-Karte, in: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, hg. von Hartmut Kugler in Zusammenarbeit mit Eckhard Michael, Weinheim 1991, S. 205–222; Hartmut Kugler, Hochmittelalterliche Weltkarten als Geschichtsbilder, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. von Hans-Werner Goetz, Berlin 1998, S. 179–198, bes. 187–194; Jürgen Wilke, Die Ebstorfer Weltkarte, Text- und Tafelband, Bielefeld 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 39); Armin Wolf, Albert oder Gervasius? Spät oder früh? Kritische Bemerkungen zu dem Buch von Jürgen Wilke über die Ebstorfer Weltkarte, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 76 (2004), S. 285–318; Kloster und Bildung im Mittelalter, hg. von Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 218; Studien zur Germania Sacra 28) mit verschiedenen Beiträgen zur Datierung und Deutung; Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, hg. von Hartmut Kugler unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing. Digitale Bildbearbeitung Thomas Zapf, Bd. 1: Atlas, Bd. 2: Untersuchungen und Kommentar, Berlin 2007. 2 Ingrid Baumgärtner, Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter. Konflikte und Konfliktbewältigung – Vorstellungen und Vergegenwärtigungen, hg. von Dieter Bauer, Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, Frankfurt am Main 2001 (Campus Historische Studien 29), S. 271–334; Anna-Dorothee von den Brincken, Jerusalem on Medieval Mappaemundi. A Site Both Historical and Eschatological, in: The Hereford World Map. Medieval World Maps and Their Context, hg. von Paul D. A. Harvey, London 2006, S. 355–379.

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als Teil der Welt, den Betrachter zur Kontemplation und zum Memorieren anregen soll. Folgt man der zweiten, von Hartmut Kugler inzwischen weiter gefestigten Interpretation, werden das als vera icon gestaltete Haupt und die Glieder Christi gleichsam zu fragmentierten Körperzeichen, die am Außenrand des Kartenkreises einen Makrokosmos aufbauen, in den das mikrokosmische Kartenzentrum mit dem Auferstehenden eingeschrieben ist. 3 Dort präsentieren und umgrenzen die quadratischen Stadtmauern, nach innen gerichteten Zinnen, vier Türme und zwölf Tore ein Jerusalem der Apokalypse und zugleich den größten Stadtraum der gesamten Karte (Abb. 1).

Abb. 1: Ebstorfer Weltkarte, Ausschnitt mit Jerusalem (Kugler [Anm. 1], Nr. 32).

3 Vgl. Hartmut Kugler, Die Seele im Konzept von Mikrokosmos und Makrokosmos. Zum Christuskopf auf der Ebstorfer Weltkarte, in: ›anima‹ und ›sêle‹. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. von Katharina Philipowski und Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 59–79; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. Kugler [Anm. 1], Bd. 2, S. 19–21.

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Die Bildsignatur übernimmt die in der Offenbarung des Johannes vorgegebenen Beschreibungen des neuen Jerusalems als einer mächtigen, von hohen Mauern umgebenen Stadt mit einem quadratischen Grundriss. 4 Der hervorstechende goldene Farbton der Befestigung korrespondiert, zumindest in den vier Rekonstruktionen Rudolf Wieneckes, mit der optischen Veranschaulichung der Auferstehung Christi aus dem Sarg innerhalb der Stadt. Die individuelle Jerusalemkonzeption, die den Nabel-Mythos mit dem Heiligen Grab verbindet, entfaltet gewissermaßen eine Sogwirkung, die durch die irritierende Norddrehung der Szene noch verstärkt wird. Die Bildlegende links neben der Stadtmauer spricht von der Sehnsucht des ganzen Erdkreises nach der heiligsten Metropole Judäas und nach dem auferstehenden Christus, der mit Gloriole und einem vom Kreuz gekrönten Banner als Sieger über den Tod hervorgeht. 5 Die über sich selbst hinausweisende Darstellung fungiert in der Ökumenekarte als ein wichtiges Element der Integration, worauf bereits Jörg-Geerd Arentzen hingewiesen hat, als er sie mit anderen bildlichen, nichtkartographischen Memorierschemata verglich, um ein immanentes Ordnungssystem herauszuarbeiten. 6 Sie verbindet reales und geistiges, irdisches und himmlisches Jerusalem, Heilsgeschichte und Kreuzzugsideologie, letztlich sogar die Stadt mit der gesamten Schöpfung, so dass der Nabel das kartographische Gefüge beherrscht. Denn der Betrachter kann innerhalb der Karte symbolische und gedankliche Verknüpfungen erkennen, die einen auf das Zentrum bezogenen Erzählraum aufbauen, in dem das über Bild- und Textelemente vielfach bekräftigte weltweite Verlangen nach dem heiligen Ort die gesamte Kartographie bestimmt. So entschlüsselte die Forschung bis heute verschiedene, auf die Weltmitte bezogene Signaturenkomplexe mit oft weit reichenden Konnotationen: Eine der Kartengeometrie entsprechende diagonale Verwandtschaft akzentuiert etwa das Thema der Grabverehrung; das einzigartige Auferstehungsbild im zentralen Jerusalemquadrat liegt mitten auf einer imaginären Verbindungslinie zwischen der im Südosten thematisierten Heilig-Grab-Wallfahrt der Nubier und den drei möglicherweise später eingezeichneten viereckigen Märtyrergräbern beim Benediktine4 Offenbarung des Johannes 21,12 und 21,16. Zur baulichen Umsetzung solcher Idealstadtvorstellung vgl. Martina Stercken, Gebaute Ordnung. Stadtvorstellungen und Planung im Mittelalter, in: Städteplanung – Planungsstädte, hg. von Bruno Fritsche, Hans-Jörg Gilomen und Martina Stercken, Zürich 2006, S. 15–37, hier S. 20. 5 Vgl. Hengevoss-Dürkop [Anm. 1], S. 205–218; Christine Ungruh, Paradies und vera icon. Kriterien für die Bildkomposition der Ebstorfer Weltkarte, in: Kloster und Bildung im Mittelalter [Anm. 1], S. 301–329, hier S. 301f.; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Bd. 2, S. 41 zu den Farben und Nr. 32/2. 6 Vgl. Jörg-Geerd Arentzen, Imago mundi cartographica, München 1984, S. 222 mit Abb. 99.

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rinnenkloster Ebstorf. 7 Gedeutet wurde dies als ein Hinweis darauf, dass verschiedene Mitglieder des Konvents (wie Propst Albert, die Priorin und die Schulschwester der um 1307 belegten Klosterschule) in Zusammenarbeit mit adeligen Auftraggebern und den Nachbarklöstern des Lüneburger Raumes die Ökumenekarte um 1300, genauer zwischen 1288 und 1314, also in der Regierungszeit Herzog Ottos des Strengen (1287–1330), gefertigt haben könnten. 8 Erinnert sei aber außerdem an zahlreiche weitere Symbole, die Jerusalem vielschichtig mit der Welt verbinden. Dazu gehören die kleinen Kreuze in Theben, Jerusalem, Konstantinopel, Köln, Aachen und Lüneburg (alle mit mindestens einem Kreuz), die als Herrschaftszeichen interpretiert wurden und eine Entsprechung bei Alpha und Omega im roten Quadrat um das Christushaupt finden; 9 alle dürften sie auf Herrschaftssitze und Residenzen verweisen, sei es für das alten Oberägypten, die Christenheit, das oströmische Reich, das deutsche Königtum oder das Herzogtum Lüneburg. Zu denken ist zudem an die Abbildungen der prunkvollen Gräber des Partherkönigs Darius und des Indienapostels Thomas, die auf halbem Weg zwischen Jerusalem und dem Christuskopf das kartenbeherrschende Motiv der Grabverehrung erneut aufgreifen und inszenieren. 10 Und goldene Fahnen setzen den Herrschaftsraum Christi mit der Herzogsstadt Lüneburg in Beziehung, in der mit Herzog Otto dem Strengen von Braunschweig-Lüneburg ein mutmaßlicher Auftraggeber der Karte regierte. 11 Zahlreiche weitere Assoziationen und Gedankenketten wären hier anzuführen. Aber erinnert sei vorerst nur noch an das Wechselspiel zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen auferstehendem und weltumspannendem Christus, zwischen goldglänzendem Triumphator und erhabenem Andachtsbild, dessen Strahlkraft die bekannte wie unbekannte Welt im göttlichen Heilsplan verankert. Diesem heilsgeschichtlichen, auf die vera icon ausgerichteten Konzept musste sogar die in Weltkarten meist den Osten dominierende Paradiesdarstellung weichen. 12 Zur Umsetzung dieses mehrstufigen Entwurfs wurde die Auferstehungsszene ebenso in 7 Vgl. Hartmut Kugler, Die Gräber der Ebstorfer Weltkarte, in: ›In Treue und Hingabe‹ 800 Jahre Kloster Ebstorf, Ebstorf 1997, S. 53–65; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Bd. 2, S. 64f., Nr. 13/2 und Nr. 50/14. 8 Vgl. Wilke [wie Anm. 1], passim; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. Kugler [Anm. 1], Bd. 2, S. 67f. 9 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 27/6, Nr. 33/3, Nr. 38/27, Nr. 51/13, Nr. 51/16 und Nr. 50/7. 10 Vgl. Kugler, Gräber [Anm. 7], S. 58–61; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 18/2 und 11/16. 11 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 50/7. 12 Vgl. Ungruh [Anm. 5], S. 301–329, hier S. 327; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 3/4 und Nr. 4.

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ein (wenngleich an den Ecken leicht abgeschrägtes) Mauerquadrat eingesetzt wie das von einem kreisförmigen blauem Nimbus umgebene Christushaupt in ein durch einen Gebirgszug abgegrenztes rotes Viereck und der gesamte Orbis in eine fast quadratische Pergamentfläche. 13 Im Erkennen solcher Bezüge kann der Betrachter eigene Interpretationsansätze aus unterschiedlichen thematischen, zeitlichen und räumlichen Verstehensebenen aktivieren und in einer visuellen Exegese einzelne Elemente der kartographischen Strukturbildung nachvollziehen. Schrift- und Bildzeichen fungieren dabei als Gedächtnisstützen, 14 um kulturelle Erzähl- und Erinnerungsräume zu erschaffen und zu formen. Sie bilden die Basis eines komplexen Geflechts von Ähnlichkeiten, das hilft, räumliches und zeitliches Nebeneinander zu ordnen, die einzelnen Teile miteinander in Beziehung zu setzen sowie die Text- und Bildsignaturen unterschiedlicher Zeitebenen zu verknüpfen. 15 Solche Ähnlichkeiten entsprechen den von Michel Foucault für die Moderne eingeführten Figuren von Nachbarschaft, 16 erstens einer äußeren räumlichen, möglicherweise auch verborgenen Verwandtschaft der Dinge (convenientia), zweitens dem Distanzen überwindenden Reflex, der die Signaturen aufeinander antworten lässt (aemulatio), drittens der mehrwertigen Analogie, einer subtilen Affinität des nicht an der Oberfläche Sichtbaren (analogia), und viertens der Sympathie, einer bis zur vollkommenen Assimilation gehenden, Raum und Zeit überschreitenden Figur, die der Gegengestalt der Antipathie bedarf, um die für eine kommunikative Relation zwischen den Zeichen erforderlichen Grenzen wieder zu etablieren. Über das Prinzip der Ähnlichkeit, also nicht durch die einzelnen Signaturen, werden in den mittelalterlichen Weltkarten Erzählräume geschaffen, deren Konstitution, Relevanz und Transformation im Folgenden zu umreißen ist. Es ist danach zu fragen, wie Text- und Bildsignaturen überhaupt eine räumliche Erzählung oder einen narrativen Raum begründen, mit welchen Mitteln ein kartogra13

Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Bd. 2, S. 23f. Zu Schrift und Bild als Gedächtnismedium sowie zur Konkurrenz zwischen beiden vgl. u. a. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, bes. S. 181–240. Zum kartographischen Erzählraum vgl. Ingrid Baumgärtner, Die Welt als Erzählraum im späten Mittelalter, in: Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, hg. von I. B., Paul-Gerhard Klumbies und Franziska Sick, Göttingen 2009, S. 145–177. 15 Marina Münkler, Monstra und mappae mundi: die monströsen Völker des Erdrands auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne, hg. von Jürg Glauser und Christian Kiening, Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2007 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 105), S. 149–173, hier S. 160ff. 16 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971, S. 46–56; franz. Original: Les mots et les choses, Paris 1966; rezipiert von Münkler [Anm. 15], S. 160f. 14

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phischer Erzähl- und Erinnerungsraum Jerusalem aufgebaut wurde und welche Kulturtechniken die vom Betrachter wahrgenommene Konsistenz des Erzählraumes erzeugen. Es ist zu eruieren, welche Wort- und Bildschöpfungen, welche Wissensbestände die Diskurse speisten. Zur Annäherung an diese Fragen seien im Folgenden drei Komplexe kurz umrissen: Zu erinnern ist erstens an einige Grundprinzipien mittelalterlicher Weltkarten, um das Konzept der kartographischen Zentralität und seiner Wirkung zu veranschaulichen. Zweitens ist die Relevanz geometrischer Zeichen (etwa Kreis, Quadrat) für eine narrative Verräumlichung zu untersuchen. Und drittens ist zu ermitteln, wie die Kartographen einen umfassenden Erzählraum Jerusalem aufbauten und über verschiedene Paradigmen der Perzeption und Präsentation in kartographisch-geographische Traditionen und Bezugsysteme einordneten. I. Jerusalems Zentralität Mittelalterliche Weltkarten berücksichtigen im Gegensatz zu aktuellen Karten unterschiedliche Zeitebenen, um sie in das räumliche Gesamtbild eines abstrahierenden TO-Rasters zu integrieren. Dabei konnten Erzählung und Erinnerung in Raum und Zeit verankert, mit graphischen Zeichen individuell gewichtet und geographisch, theologisch, politisch und gesellschaftlich differenziert werden. Beim Betrachter erzeugen deshalb thematisches, historisches und geographisches Erkennen und Verweisen unterschiedliche Ebenen des Verstehens, ein komplexer Prozess, der eine gewisse Kohärenz des Zeichenensembles voraussetzt und von zivilisatorischem Vorwissen, gezielter Suche oder entdeckender Neugierde gelenkt wird. 17 Beeinflusst wird eine solche Lektüre von Überlieferungszusammenhängen, also etwa von den Texten, die einen kartographischen Entwurf im Codex umgeben. Eine eigenständigere Kraft entfalten die großformatigen Kartographien (wie die Wandkarten von Ebstorf und Hereford oder die venezianische Fra Mauro-Karte), die gleichsam selbst als Enzyklopädie fungieren, indem sie biblisches, ethnologisches, geographisches, historisches und naturkundliches Wissen aufbereiten. Vielschichtiger als kleine Weltdarstellungen können sie deshalb die zeitlichen Abläufe von Geschichte mit spatialen Strukturen verbinden. Die Verfasser mittelalterlicher Weltkarten konnten bekanntlich aus der typologisch-literarischen Lektüre der Bibel und den Vorgaben enzyklopädischer Werke neue visuelle und geographische Formen entwickeln. Nur so war die im 12. und 17 Vgl. Cornelia Herberichs, ... quasi sub unius pagine visione coadunavit. Zur Lesbarkeit der Ebstorfer Weltkarte, in: Text – Bild – Karte [Anm. 15], S. 201–217, hier S. 202–204.

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13. Jahrhundert aufkommende Vision der Welt im Sinne einer historischen Pilgerschaft der Menschheit zu interpretieren. Und selbst das Paradies wurde, obwohl Teil der Heilsgeschichte, seit Augustinus innerhalb der Welt geographisch verortet und konnte als eine Art multifunktionaler Knotenpunkt für die Erfassung von Zeit und Raum in einer göttlich und weltlich bestimmten Ordnung verstanden werden. 18 Genauso wie Isidor von Sevilla und Beda den Garten Eden in einen realen, aber wegen des Sündenfalls unzugänglichen Platz im äußersten Asien verwandelten und über die vier Flüsse mit der Welt verbanden, so betonten beide Autoritäten auch einen über Sündenfall, Kreuzigungsopfer und Wiederauferstehung Christi veranschaulichten Zusammenhang zwischen realem Jerusalem und christlichem Erlösungsgedanken. In beiden Fällen wurde ein geographisch fassbarer Ort mit einer darüber hinausweisenden heilsgeschichtlichen Bedeutung versehen, so dass kartographische Konsequenzen zu erwarten waren. Die angebliche Zentralität Jerusalems basierte auf biblischen Texten (Ezechiel 5,5) und dem Kommentar des Kirchenvaters Hieronymus, der die Stadt als umbilicus terrae bezeichnete. 19 Isidor von Sevilla und andere verfestigten dieses Konzept im mittelalterlichen enzyklopädischen Wissen. 20 Aber erst die Kreuzzüge lieferten mit der Eroberung, aber vor allem mit dem Verlust Jerusalems den Stimulus, die Vorstellung auch kartographisch abzubilden. Erstmals beherrscht Hierusalem als Schriftzug den Querbalken des TO-Rasters in der um 1110 fertig gestellten sog. Oxford-Karte (Abb. 2), deren Mittelpunkt knapp neben dem oval umrandeten Kreuz, dem Zeichen für die Grabeskirche, und über dem Zionsberg zu suchen ist. Den Kartenraum füllen Motive aus dem Alten und Neuen Testament, darunter die Arche Noah, sieben der zwölf Stämme Israel, die Ciuitas refugii (nach Josua 20) und Jericho rechts außen im T-Balken, die terra Iuda und Palestina in Afrika sowie Wirkungsplätze aus dem Leben Christi und der Apostel. Dadurch wird die Welt zu einem biblischen Raum, man 18

Alessandro Scafi, Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth, London

2006. 19 S. Hieronymi presbyteri opera, pars I: Opera exegetica 4, Commentariorum in Hiezechielem libri XIV, hg. von Franciscus Glorie, Turnhout 1964 (CC SL 75), S. 55f.: Haec dicit Dominus Deus: Ista est Hierusalem, in medio gentium posui eam, et in circuitu eius terras; [...]. Hierusalem in medio mundi sitam, hic idem propheta testatur, umbilicum terrae eam esse demonstrans. Vgl. Iain Macleod Higgins, Defining the Earth’s Center in a Medieval ›Multi-Text‹: Jerusalem in The Book of John Mandeville, in: Text and Territory. Geographical Imagination in the European Middle Ages, hg. von Sylvia Tomasch und Sealy Gilles, Philadelphia 1998, S. 29–53, hier S. 34; zur Jerusalem-Zentrierung mittelalterlicher Weltkarten vgl. Baumgärtner [Anm. 2], S. 271–334. 20 Isidorus Hispalensis Episcopus, Etymologiarum sive Originum Libri XX, hg. von Wallace Martin Lindsay, 2 Bde., Oxford 1911, ND Oxford 1948, Bd. II, 14.3.21 zu Jerusalem als Nabel der ganzen Region: umbilicus regionis totius.

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Abb. 2: Oxford-Karte (um 1110); Oxford, St. John’s College, Ms. 17, f. 6 r. By permission of St. John’s College Library.

möchte fast behaupten: zu einem Erzählraum um die Grabeskirche, in der sich alle Geschichten widerspiegeln. Selbst die Ähnlichkeit der Schriftzüge von Europa (im kleinen Querbalken) und Jerusalem greift diese Bezüge auf, die ein Deutungsund Organisationsmodell veranschaulichen, in dem sich Europa und Heiliges Land, Kreuzzugsvorstellungen und Jerusalemkult, Heilsgeschichte und Geographie in ständiger Berufung auf den Nabel der Welt miteinander verbinden.

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Abb. 3: Londoner Psalterkarte (nach 1262). London, British Library, Additional Ms. 28681, f. 9 r. By permission of The British Library, London.

Noch nachdrücklicher erfolgte die kartographische Zentrierung erst nach dem endgültigen Verlust Jerusalems im Jahre 1244. Auf der kleinen Londoner Psalterkarte sowie den großen Wandkarten von Ebstorf und Hereford wird das Auge durch eine besondere graphische Repräsentation der Stadt als Mitte des Erdkreises magisch angezogen, während unzählige Text- und Bildbezüge ringsum dazu beitragen, narrative Beziehungen in Raum und Zeit aufzubauen. Die nach 1262 ent-

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standene Londoner Psalterkarte 21 (Abb. 3) stellt Jerusalem als einen dreifachen konzentrischen Kreis in den Mittelpunkt eines ebenfalls dreifachen Weltkreises von nicht einmal 9 cm Durchmesser. Die doppelten Außenkonturen der Heiligen Stadt, wo ein kleiner schwarzer Punkt inmitten einer roten Scheibe und einem Rad mit Namensinschrift ruht, wiederholen sich im Paradies, in den vier Hauptwinden, im Nimbus von Christus Pantokrator, dessen Ellbogen den Erdkreis durchbrechen, um mit der Linken eine rote Weltkugel emporzuheben, sowie im halbkreisförmigen Kaukasus, dessen fest verschlossene Pforten die Endzeitvölker Gog und Magog (Ezechiel 38–39) zurückhalten sollen. Dazwischen entfalten sich die Schauplätze der Welt- und Heilsgeschichte, deren Themen, Formen und Farben immer wieder Bezüge zum Zentrum erkennen zu lassen. Am leichtesten zu erkennen sind die Foucaultschen Figuren von convenientia und aemulatio: Der in Karten äußerst ungewöhnliche Puteus Josep, der Jakobsbrunnen bei Sichar, bei dem Jesus die Frau aus Samaria um Wasser bat und die Samariter zum Glauben führte (Johannes 5,5–42), ist im Sinne einer formalen Verwandtschaft als Kreis mit mittigem Punkt gekennzeichnet; Inhalt und Form des Brunnens verdeutlichen die lebensspendende Funktion des Glaubens und gemahnen an die christliche Pilgerschaft auf Erden. Die vierzehn grotesk verzerrten Misch- und Fabelwesen in der südlichen Monstergalerie bilden ganz offensichtlich einen abschreckenden Gegenpol zur idealen Form des Zentrums und antworten damit gleichsam zentrifugal auf die Sogwirkung des himmlischen Jerusalems. In ähnlicher Weise erhebt die in den 90er Jahren des 13. Jahrhunderts entstandene Ökumenekarte von Hereford die Heilige Stadt zum kreisförmigen Drehund Angelpunkt der räumlichen und zeitlichen Weltordnung (Abb. 4). 22 Aufgrund der dezenten Farbgebung sticht Jerusalem auf den ersten Blick weniger hervor als in den beiden anderen Weltentwürfen. Doch dieser erste Eindruck täuscht: Denn mit seinen gleichmäßig verteilten, nach innen gerichteten vier Toren und Türmen sowie den nach außen gewendeten sechzehn Zinnen wird Jerusalem zu 21 London, British Library, Additional Ms. 28681, fol. 9 r (Durchmesser 95 mm); Text in Mappaemundi: Die ältesten Weltkarten, hg. von Konrad Miller, Bd. III: Die kleineren Weltkarten, Stuttgart 1895, S. 37–43; Abb. u. a. bei Ute Schneider, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004, S. 29. Zur Einordnung vgl. Anna-Dorothee von den Brincken, ›Fines Terrae‹. Die Enden der Welt und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten, Hannover 1992, S. 85–89; Evelyn Edson, Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers viewed their World, London 1997, ND 1999, S. 137; zur Datierung vgl. Nigel Morgan, Early Gothic Manuscripts, Bd. II: 1250–1285, London 1988 (Survey of Manuscripts Illuminated in the British Isles 4,2), Nr. 114, S. 82–85. 22 Scott D. Westrem, The Hereford Map. A Transcription and Translation of the Legends with Commentary, Turnhout 2001 (Terrarum orbis 1), Nr. 389.

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einem Zahnrad, um dessen Getriebe sich das ganze Universum dreht. 23 Die Ikonographie ist ausgeklügelt: Über der Stadt erhebt sich auf dem Kalvarienberg der gekreuzigte Christus als irdisches Pendant zum Auferstandenen im Jüngsten Gericht des Kartenrahmens. Dort thront Christus als Weltenrichter über der Weltkugel mit einem im Osten gelegenen Paradies wie in einem Tympanon. Den

Abb. 4: Hereforder Weltkarte (nach 1290), Ausschnitt mit Jerusalem. By permission of The Dean and Chapter of Hereford and the Hereford Mappa Mundi Trust.

Todesbezug verstärken die Buchstaben MORS in den vier Ecken des Gesamtentwurfs. Die abgebildete Kreuzigung deutet schließlich nicht glorreich, sondern schmerzvoll auf den programmatisch verankerten Erlösungsgedanken. Die Weltdarstellung belehrt über die Vergänglichkeit des irdischen Seins, über die quälende Sehnsucht nach dem verlorenen Jerusalem als dem Brennpunkt der religiösen Welt. Es scheint offensichtlich, dass sich gleichsam die ganze Welt auf die Heilige Stadt bezieht, wodurch das Erdenrund, überdies in Wechselwirkung mit der Umrandungsfläche, zu einem Erzählraum Jerusalem umfunktioniert wird.

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Edson [Anm. 21], S. 140.

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Von den Ökumenekarten des 13. und 14. Jahrhunderts folgen zwar einige diesen berühmten Einzelstücken, aber freilich erreicht keine andere kartographische Jerusalemzentrierung die beschriebene Intensität und Vielschichtigkeit. Eine vergleichbare narrative Ordnung entwickelt am ehesten noch der doppelseitige, mit langen Legenden angefüllte Weltentwurf aus der Benediktinerabtei Ramsey (Abb. 5), 24 in dem sich das leicht nach Osten verschobene Jerusalem in einen ovalen, also nicht ganz idealtypischen Umriss einfügt. Unter den 21 Karten, die dem ›Polychronicon‹ des Ranulf Higden (gest. 1363) in der handschriftlichen Überlieferung des 14. und 15. Jahrhunderts vorangestellt sind und deren Außenkonturen Oval, Mandel oder Kreis formen, nimmt er wegen seiner Größe und seiner Nomenklatur eine singuläre Stellung ein. 25 Nicht zuletzt gehört er auch zu den ältesten der acht farbig angelegten Ovale, 26 deren Überlieferung nach 1342 mit der zweiten Werkredaktion des Autors einsetzt. Im großen Ramsey-Exemplar beherrscht Jerusalem als größtes, durch einen blutroten Kreis hervorgehobenes Stadtsymbol die Welt, deren Geschichte und 24 London, British Library, Royal MS 14. C. IX, f. 1v–2 r (465 × 342 mm; nach 1342). Zu den ›Polychronicon‹-Karten vgl. Ingrid Baumgärtner, Graphische Gestalt und Signifikanz. Europa in den Weltkarten des Beatus von Liébana und des Ranulf Higden, in: Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte, hg. von Ingrid Baumgärtner und Hartmut Kugler, Berlin 2008 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 10), S. 81–132, hier S. 107–109. 25 Vgl. Mappaemundi, hg. Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 94–109 und Heft II, Taf. 15; John Taylor, The ›Universal Chronicle‹ of Ranulf Higden, Oxford 1966, S. 64–67 mit einer Beschreibung; Paul D. A. Harvey, Medieval Maps, London 1991, S. 34, plate 26; Edson [Anm. 21], S. 128f.; Petra Ueberholz, ›Requiritur autem mapa duplex‹. Die Darstellung Afrikas in der angelsächsischen Geschichtsschreibung und Kartographie des Mittelalters, in: Aus Überrest und Tradition. Festschrift für Anna-Dorothee von den Brincken, hg. v. Peter Engel, Lauf an der Pegnitz 1999, S. 54–72 zum Verhältnis zwischen dem Text des ›Polychronicon‹ und den Einträgen in der großen Higden-Karte; Ulrich Fischer, Innenwelten – zur Konstruktion von Raum in ausgewählten mittelalterlichen Weltkarten, in: Innenwelten vom Mittelalter zur Moderne. Interiorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte, hg. v. Claudia Olk u. Anne-Julia Zwierlein, Trier 2002, S. 21–38, hier S. 33; Scafi [Anm. 18], S. 134–136, fig. 6.3a; Baumgärtner [Anm. 24], S. 101–129. 26 London, British Library, Royal MS 14. C. IX, f. 2 v (285 × 210 mm; nach 1342 Benediktinerabtei Ramsey); San Marino, Huntington Library, HM 132, f. 4 v (160 × 203 mm; nach 1342 Benediktinerabtei St. Werburgh, Chester); Oxford, Bodleian Library, Tanner 170 (S. C. 9996), f. 15 v (326 × 212 mm; nach 1347, Priorat der AugustinerChorherren, Gloucester); Paris, Bibliothèque Nationale, Lat. 4922, f. 2 r (277 × 200 mm; nach 1367, Kathedrale von Norwich); Edinburgh, National Library of Scotland, Advokats MS 33.4.12, f. 13 v (235 × 198 mm; 14. Jh.); Oxford, Corpus Christi College, MS 89, f. 13 v (203 × 293 mm; 14. Jh., Benediktinerabtei St. Peter, Gloucester); London, Lambeth Palace, MS 112, f. 2 v (273 × 193 mm; 14. Jh.).

Jerusalem in mittelalterlichen Kartenräumen

Abb. 5: Weltkarte im Polychronicon des Ranulf Higden. London, British Library, Royal MS 14. C. IX, f. 1 v–2 r (465 × 342 mm; nach 1342). By permission of The British Library, London.

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Bewohner in narrativen Sequenzen beschrieben werden. Überdimensioniert ist nicht nur der Stadtraum um die trutzige, mit Kleeblattfenstern ausgestattete Heiliggrabkirche, den Ölberg, Zionsberg und Kalvarienberg gleichsam nach Norden erweitern, sondern auch das Heilige Land. Dort finden wir – wie in den Weltkarten von Ebstorf und Hereford – zum einen Pilger- und Kreuzfahrerstädte wie Akkon, Tyrus, Jaffa und Askalon, 27 zum anderen Stätten des biblischen Heilsgeschehens, darunter die Arche Noah, den Jordan, das Tote Meer mit Sodom, den Turm von Babel und den Durchzug der Kinder Israels durch das Rote Meer. 28 Jerusalem dialogisiert dem Foucaultschen Reflex zufolge über die Kirchenvignetten mit den christlichen Pilgerzielen Rom und Santiago de Compostela, über die mittige Kartenposition mit den Säulen des Herkules und dem Paradies als Grenzen der bewohnbaren Welt, über die Medaillons mit den die Welt bewegenden Windbläsern im Außenozean und über Form und Farbe mit dem roten Halbrund der Anglia im Nordwesten. Selbst die Texte kreieren analoge Verknüpfungen. Von der Hafenstadt Brindisi in Apulien aus, so heißt es, beginne die Überfahrt ins Heilige Land. 29 In relativ großer Übereinstimmung mit den jerusalemzentrierten Weltkarten liefert die Ramsey-Karte also enzyklopädisch-geographische Informationen, die einen Bezug der Welt auf ihren imaginären Nabel biblisch, historisch und etymologisch erklären. Alle anderen Higden-Karten sind weit davon entfernt, einen solchen Erzählraum aufzubauen. Nachklänge spiegeln sich vielleicht noch in vier der neun mandelförmigen Zeichnungen 30 (Abb. 6), in denen der zentrale Stadtname auffällig umrandet ist, wenngleich der Karteninhalt ohne jeden Erzählansatz bleibt und radikal auf Toponyme reduziert ist. Und letzte Auswirkungen lassen sich in 27

Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 102; Westrem [Anm. 22], Nr. 360, 374, 377 und 396; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 32/17–19, 32/21, 32/2 und 33/26. 28 Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 102f.; Westrem [Anm. 22], Nr. 224, 246, 261, 262, 180, 278; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 24/1, 32/1, 33/12 und 34/4, 33/11 und 33/15, 18/22 und 27/16. 29 Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 100. 30 Oxford, Magdalen College, MS 190, f. 1 v (295 × 180 mm; nach 1376); London, British Library, Royal MS 14.C.XII, f. 9 v (355 × 210 mm; nach 1377, Hospital des Hl. Thomas von Akkon in Cheapside); Cambridge, Corpus Christi College, MS 21, f. 9 v (367 × 238 mm; 14. Jh., Hospital of St. John the Evangelist in Cambridge); Winchester, Wincester College, MS 15, f. 14 r (336 × 203 mm; 1400). Diese deutliche Markierung fehlt in den Karten der Codices in Warminster, Longleat House, Library of the Marquess of Bath, MS 50, f. 7 v (344 × 220 mm; nach 1360); London, British Library, Add. MS 10104, f. 8 v (363 × 227 mm; 14. Jh., nach 1377); Oxford, Bodleian Library, Digby 196 (S. C. 1797), f. 195 v (291 × 210 mm; Anfang 15. Jh.); Vatikanstadt, BAV Reg. lat. 731 (410 × 285 mm; 15. Jh.); Chester, Cathedral MS 2, f. 6 r (Mitte 15. Jh.).

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Abb. 6: Weltkarte im Polychronicon des Ranulf Higden. London, British Library, Royal MS 14.C.XII, f. 9 v (355 × 210 mm; nach 1377). By permission of The British Library, London.

der 55 × 99 cm großen Wandkarte aus der englischen Benediktinerabtei Evesham erkennen, 31 die zwischen 1390 und 1392 im Kontext einer ›Polychronicon‹-Fortsetzung entstand, als eine spätere Hand, vermutlich vor 1418, die Zinnen Jerusalems effektvoll verstärkte. 31

Peter Barber, Die Evesham-Weltkarte von 1392. Eine mittelalterliche Weltkarte im College of Arms in London. Von der Universalität zum Anglozentrismus, in: Cartographica Helvetica 9 (1994), S. 17–22, bes. S. 19–21; ders., The Evesham World Map, in: Imago Mundi 47 (1995) S. 13–33, hier S. 20 mit einer schematischen Darstellung. Vgl. Fischer [Anm. 25], S. 34f.; Scafi [Anm. 18], S. 136f. mit einer Umzeichnung in fig. 6.5a–b; Baumgärtner [Anm. 24], S. 116f. und S. 129.

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Ein kartographischer Erzählraum Jerusalem konstituierte sich also durch die Zentralität im Zusammenwirken mit geometrischen Formen, wirkungsvollen Farbgebungen und narrativen Strukturen. Dieses ideologisch ausgerichtete Programm konnte, wie die Weltkarten von Andreas Walsperger, Giovanni Leardo und Hanns Rüst bezeugen, 32 trotz neuer geographischer Herausforderungen bis ins 15. Jahrhundert fortgeführt werden, auch wenn sich die Wertigkeit des Konzepts und die Darstellungsstrategien veränderten. Entsprechende Überlegungen fasste etwa der Venezianer Fra Mauro in seiner um 1459 gefertigten Weltkarte bündig zusammen, wenn er die geographische Zentralität, die der tatsächlichen Erdausdehnung widerspräche, mit rationalen Argumenten hinterfragte, aber die mentale Ausrichtung des Weltbilds auf Jerusalem noch mit der Einwohnerdichte Europas und Asiens zu retten versuchte. 33 II. Geometrische Form und Heiliges Land Die Gestalt Jerusalems als Kreis der Vollkommenheit (ohne Anfang und Ende) oder als Kernquadrat der Johannes-Apokalypse spiegelte sich nicht nur in Weltkarten, sondern auch in einer regelrechten Sequenz idealtypischer Stadtpläne Jerusalems und regionaler Karten des Heiligen Landes. 34 Beide Grundformen, die älteren Traditionen folgten und schon frühmittelalterliche Grundrisse der Grabes-

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Vgl. u. a. Scafi [Anm. 18], S. 198–218 und S. 233–235 mit Umzeichnungen. Faksimile, Text und Erläuterungen bei Piero Falchetta, Fra Mauro’s World Map. With a commentary and translations of the inscriptions. Presentation by Marino Zorzi. CD-ROM Project: CIRCE, team headed by Caterina Balletti. Turnhout 2006 (Terrarum Orbis 5), Nr. 1011: HIERUSALEN è in mezo de la terra habitabile secondo la latitudine de la terra abitabile, benchè secondo la longetudine la sia più occidental, ma perchè la parte ch’è più occidental è più habitada per l'europa [...], non considerando el spatio de la terra ma la moltitudine di habitanti. Deutsche Übersetzung bei Ingrid Baumgärtner, Kartographie, Reisebericht und Humanismus. Die Erfahrung in der Weltkarte des venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro (gest. 1459), in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 3 (1998), Heft 2: Fernreisen im Mittelalter, hg. von Folker Reichert, Berlin 1998, S. 161–197, hier S. 179. 34 Vgl. Paul D. A. Harvey, Local and Regional Cartography in Medieval Europe, in: The History of Cartography, hg. von J. B. Harley und David Woodward, vol. I: Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean, Chicago, London 1987, S. 464–501, bes. S. 469–476 und 492; Patrick Gautier Dalché, Cartes de Terre Sainte, Cartes de Pélerins, in: Fra Roma e Gerusalemme nel Medioevo. Paesaggi umani ed ambientali del pellegrinaggio meridionale. Atti del Congresso Internazionale di Studi (26–29 ottobre 2000), hg. von Massimo Oldoni, Bd. 1, Salerno 2005, S. 573–612. 33

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kirche prägten, 35 beherrschen zusammen mit dem Kreuz die Jerusalempläne in den Handschriften des 12. bis 15. Jahrhunderts. Die meisten dieser als Situs Jerusalem bezeichneten Konstrukte, die gleichsam eine virtuelle Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten ermöglichen sollten, darunter schematische Radpläne, durch Straßenzüge individuell gegliederte Kreise und einige Vierecke, vermitteln auf den ersten Blick das Idealbild einer Stadt, deren überwiegend kreisförmige Mauern den realen Vorgaben widersprachen. 36 Die Art der Stilisierung hatte der Enzyklopädist Lambert von Saint-Omer möglicherweise nach Erzählungen von Kreuzzugsteilnehmern in seinem ›Liber floridus‹ aufgegriffen, um das mit starken Mauern befestigte und auf einem Felsen gelegene Jerusalem inmitten eines hügeligen Landstrichs abzubilden. 37 Diesem räumlich ausgerichteten Gedächtnismodell 35 Vgl. etwa Marlis Stähli, Grundriss der Grabeskirche in Jerusalem, in: SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, hg. von Christian Kiening und Martina Stercken, Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 4), S. 242f. Zur Architektur vgl. Robert G. Ousterhout, Flexible Geography and Transportable Topography, in: The Real and Ideal Jerusalem in Jewish, Christian and Islamic Art, Jerusalem 1998 = Jewish Art 23–24 (1997–98), S. 393–404. 36 Vgl. Rudolf Simek, Hierusalem civitas famosissima. Die erhaltenen Fassungen des hochmittelalterlichen Situs Jerusalem (mit Abbildungen zur gesamten handschriftlichen Überlieferung), in: Codices manuscripti 16 (1992), S. 121–153; Abb. 6 ist zu identifizieren mit dem Plan in Uppsala, Universitätsbibliothek, C. 691; zu ergänzen ist u. a. der zirkulare Plan in London, British Library, Additional Ms. 32343, f. 15 v. Vgl. Milka LevyRubin, The Crusader Maps of Jerusalem, in: Knights of the Holy Land. Ausstellungskatalog, Jerusalem 1999, S. 231–237; Rehav Rubin, Image and Reality. Jerusalem in Maps and Views, Jerusalem 1999 (Israel Studies in Historical Geography), bes. S. 25–33; Gautier Dalché [Anm. 34], S. 576–586. Zu den Jerusalemplänen von Montpellier (Rechteck) und Brüssel (Kreis) vgl. Ingrid Baumgärtner, Jerusalem, Nabel der Welt, in: Saladin und die Kreuzfahrer. Begleitband zur Sonderausstellung ›Saladin und die Kreuzfahrer‹, hg. von Alfried Wieczorek, Mamoun Fansa und Harald Meller, Mainz 2005 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen 17; Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch Oldenburg 37), S. 288–293. 37 In der Überlieferung des ›Liber floridus‹ finden sich verschiedene Abschriften: Brügge, Groote Seminarie, Ms. 127/5, f. 18 r; Leiden, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Voss. Lat. Fol. 31, f. 85 r; London, British Library, Cotton Fragments, f. 19 r; Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 8865, f. 133 r. Für den Hinweis auf die Handschriften bedanke ich mich bei Hanna Vorholt, The Warburg Institute in London. Vgl. Simek [Anm. 36], S. 122, 124–126 und 133, Abb. 3 (Leiden) und 8 (Paris); Guy Lobrichon, Die Eroberung Jerusalems im Jahre 1099, Sigmaringen 1998, S. 44f. mit der Abbildung des verlorenen Planes aus Gent, Universiteitsbibliotheek 1125 (92), f. 65 r. Eine andere Variante bilden die Abbildungen des himmlischen Jerusalems im ›Liber floridus‹; vgl. Simek [Anm. 36], Abb. 18–19 zu den Handschriften in Wolfenbüttel und Leiden. Zu den Handschriften und Abbildungen des ›Liber floridus‹ vgl. Hanna Vorholt, Produktion und Transformation des Wissens am Beispiel des ›Liber Floridus‹. Mit einem Katalog der Handschriften, Diss. masch. (Kunstgeschichte, Phil. Fak. III) Humboldt-Universität Berlin 2007.

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folgten zahlreiche weitere Planskizzen, zumeist integriert in Kreuzfahrerschriften, Enzyklopädien oder gar astronomisch-geographische Zusammenstellungen. Typische Beispiele sind die geosteten kreisförmigen Darstellungen des Situs Jerusalem in einer Brüsseler Sammelhandschrift der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Abb. 7) 38 sowie in einer Londoner Handschrift des 13. Jahrhunderts. 39 Charakteristisch ist der äußere Aufbau in konzentrischen Kreisen, formiert durch die von Zinnen bekrönte und durch fünf Stadttore unterbrochene Stadtmauer, deren Steinquader den imponierenden Eindruck von Wehrhaftigkeit und Geschlossenheit erwecken. Das so aufgebaute Diagramm erinnert an das fiktive Zahnrad, um das sich die Welt in der Karte von Hereford dreht. Unterschiede bestehen in der Ausgestaltung der Innenstadt mit häuserumsäumten Straßenzügen und heiligen Orten sowie in der Anzahl der Tore, da die Weltkarten im allgemeinen auf die ohnehin längst geschlossene porta aurea verzichten. Der Situs war ein mnemotechnisches Instrument, eine Gedächtnisstütze, um die Funktionen der Heiligen Stadt zu memorieren, die Heiligen Stätten im Geiste zu besuchen und assoziativ Erinnerungen hervorzurufen. Er war Zeichen von Schöpfung und Neuschöpfung, Sinnbild einer göttlichen Weltordnung und Abbild des Erlösungshandelns. Ein Betrachter konnte sich der religiösen Vertiefung hingeben, um die lokale Geographie theologisch zu deuten und die Stationen von Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung nachzuerleben. Im Brüsseler Rotaplan strukturieren Radialachsen die Ordnung der Monumente im Stadtgebiet zwischen den beiden kreisförmigen Gebäuden, dem Felsendom im Osten und der Grabeskirche im Westen. Außerhalb der Mauern folgen Pilger und Kreuzfahrer in sieben kleinen Gruppen den Spuren Christi. Berg- und Architekturabbreviaturen symbolisieren Stationen des Lebens- und Leidensweges, darunter (von links unten gegen den Uhrzeigersinn) der Berg der Freude, von dem aus die ersten Kreuzfahrer Jerusalem erblickten und in Jubel ausbrachen, Bethlehem, Rahels Grab, der Berg Zion mit dem Saal des letzten Abendmahles, der kreisförmig eingezeichnete neutestamentarische ›Blutacker‹ Hakeldamach (Matth. 27, 3) als Begräbnisstätte ausländischer Pilger, Bethanien, Jericho und Nazareth. Im nordöstlichen Palästina verbindet der im Libanon entspringende und in das Tote Meer mündende Jordan drei große Seen mit den biblischen Namen Galiläisches Meer, Tiberiassee und See Genezareth, über deren tatsächliche Identität sich der Kartenmacher vermutlich nicht bewusst war. Unterhalb der Quellen 38 Brüssel, Bibliothèque Royale de Belgique, Ms. 9823–24, f. 157 r; vgl. Simek [Anm. 36], Nr. 2; Baumgärtner [Anm. 36], S. 289 mit Abb. und S. 291f.; Gautier Dalché [Anm. 34], S. 582–584. 39 London, British Library, Additional Ms. 32343, f. 15 v; Harvey [Anm. 25], S. 90 mit Abb. 71; nicht erwähnt bei Simek [Anm. 36].

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Abb. 7: Kreisförmiger Plan von Jerusalem (zweite Hälfte 12. Jh.). Brüssel, Bibliothèque Royale de Belgique, Ms. 9823–24, f. 157 r. Abb. nach Baumgärtner 2005 (wie Anm. 36), S. 289.

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führt eine doppelte Linie zur Grabeskirche Mariens; sie kennzeichnet das Tal Josaphat, die Stätte des Jüngsten Gerichts. Oberhalb erheben sich der Ölberg, der Berg der Versuchung, der Berg Sinai sowie neben der Wüste der Berg der Seligpreisung und der Mons Tabor, der Berg der Verklärung Jesu und der Erscheinung des Auferstandenen. Der Situs wird damit fast unbemerkt zu einer Regionalkarte. 40 Nicht alle, aber doch die meisten dieser Stätten finden sich auch auf den zwei bekannten jerusalemzentrierten Großkarten des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts. Auf ihnen erlangte das Heilige Land eine überdimensionale Bedeutung, 41 obwohl sich Kreis und Quadrat in einen viel größeren enzyklopädisch-historiographischen Kontext einfügen mussten. Beide mappae mundi zeigen in Übereinstimmung mit dem Rotaplan einen großen Reichtum an alt- und neutestamentarischen Plätzen rund um Jerusalem, darunter den Jordan mit seiner doppelten Quelle, 42 den See Genezareth und das in das Alte Testament als Salzmeer eingegangene Tote Meer, 43 den Berg Tabor als Refugium der Israeliten, 44 das unter dem Meeresspiegel gelegene Jericho, 45 das als Geburtsort Christi berühmte Bethlehem, 46 den Ölberg aus der Leidensgeschichte Christi, 47 das Tal Josaphat, 48 den Berg Sinai, 49 das prächtige Gerara, die alte Königsstadt der Philister, 50 und das 40 Zu Regionalkarten des Heiligen Landes vgl. Paul D. A. Harvey, Der historische (biblische) Inhalt der Palästinakarten des Mittelalters, in: Geschichtsdeutung auf alten Karten. Archäologie und Geschichte, hg. von Dagmar Unverhau, Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Forschungen 101), S. 55–63; Paul D.A. Harvey, Europa und das Heilige Land, in: Europa im Weltbild [Anm. 24], S. 135–142. 41 Vgl. Paul D.A. Harvey, The Holy Land on Medieval World Maps, in: The Hereford World Map [Anm. 2], S. 243–251 zur Ausgestaltung des Heiligen Landes in einigen Weltkarten. 42 Westrem [Anm. 22], Nr. 244 und 246; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 32/1. 43 Westrem [Anm. 22], Nr. 247 und 261; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 33 (als Ausweitung des Jordans) sowie 33/12 und 34/4. 44 Westrem [Anm. 22], Nr. 366; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 33/5 und 33/10. 45 Westrem [Anm. 22], Nr. 381; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 33/20. 46 Westrem [Anm. 22], Nr. 392; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 33/23. 47 Westrem [Anm. 22], Nr. 385; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 33/4 und 33/6. 48 Westrem [Anm. 22], Nr. 390; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 32/13–14. 49 Westrem [Anm. 22], Nr. 267; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 27/14. 50 Westrem [Anm. 22], Nr. 407; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 34/6.

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Hochzeitshaus mit den sechs steinernen Krügen in Kanaan. 51 Auch Hafenstädte wie Gaza, Tyrus, Tripolis und Antiochia prägen beide Karten. 52 Selbst die kleine Psalterkarte gewährt dem Heiligen Land nicht wenige Signaturen. 53 Freilich erzählen die Textsignaturen auch Unterschiedliches, in der Ebstorfkarte etwa die Geschichten von der phönizischen Hauptstadt Tyrus und dem frischen Klima in der Kreuzfahrerstadt Antiochia, 54 in der Herefordkarte das Maß der Entfernung zwischen den Städten Dan und Beersheba. 55 Spannend werden diese individuellen Ausrichtungen aber dann, wenn sie im Sinne der Foucaultschen Nachbarschaft wichtige Erzählstränge der Jerusalemthematik im unmittelbaren Umfeld der Stadt fortsetzen: So vergaßen es die Ebstorfer Produzenten keineswegs, selbst in diesem Kartenabschnitt eine Serie bedeutsamer Gräber einzuarbeiten. Zu denken ist an den Berg Zion, auf dem David und Salomon begraben sein sollen, an das am Fuße des Ölbergs gelegene Bethanien mit dem Lazarus-Grab und an die Grabeskirche Marias im Tal Josaphat. 56 Anders wirkt sicherlich das Herefordbild, das etwa den Kalvarienberg mit der Kreuzigung als Kulmination der Passion Christi großflächig inszeniert und entsprechend der Bedeutungsgröße alle anderen Text- und Bildsignaturen dahinter zurücktreten lässt. 57 Die individuellen kartographischen Erzählstränge und deren geometrische Ausdrucksformen prägen also das Heilige Land in den Situs-Karten ebenso wie in den Weltkartographien.

51 Westrem [Anm. 22], Nr. 368; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 25/9, 32/5 und 34/18. 52 Westrem [Anm. 22], Nr. 406, 374, 358 u. 231; Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 34/16 (Gaza), 32/18 und 38/17 (Tyrus), 31/33 (Tripolis), 25/11 und 24/20 (Antiochia). Vgl. Harvey [Anm. 41], S. 249 zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in verschiedenen Weltkarten. 53 Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 40f. mit Antiochia, Jericho, Bethlehem, dem Berg der Versuchung, dem Berg Sion, dem Berg Tabor und dem Toten Meer. 54 Zu Antiochia vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 25/11 (Anthiochia civitas) und Nr. 24/20: Orientis fluvius iuxta muros Antyochie decurrit […], cuius fluentis frigidioribus et zeohiris assidue ibi spirantibus tota civitas momentis omnibus refrigeratur. (»Der Orontes fließt unmittelbar an den Mauern Antiochias vorüber; […] Wegen seines kalten Wassers und der dort immer wehenden Westwinde hat die ganze Stadt jederzeit ein frisches Klima.«). Zu Tyrus vgl. ebd. Nr. 38/17. 55 Westrem [Anm. 22], Nr. 361. 56 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 32/7 (Mons Syon), Nr. 32/16 und 34/9 (Bethania), Nr. 33/3 (Ecclesia Sancte Marie). 57 Westrem [Anm. 22], Nr. 388.

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III. Jerusalem im Weltenraum: Zentrum und Peripherie Ein umfassender Erzählraum Jerusalem wird aber erst dadurch konstituiert, dass Bezüge zu anderen Regionen der Welt, zur Peripherie und über den Erdrand hinaus über vielschichtige Erinnerungen und Abbildungsmuster hergestellt und dem Betrachter zugänglich gemacht werden. Denn ihr volles Potential entfalten die Kartenzeichen letztlich erst, wenn der Betrachter die kartographische Codierung ausdifferenziert. Dies bedeutet, nicht nur die Bildtexturen im Kontext der gesamten Karte und der handschriftlichen Überlieferung zu lesen, sondern vor allem die Einzelsignaturen zu Sinngruppen zusammenzufügen, Bezüge zwischen Inhalten herzustellen und dadurch neue Sinneinheiten zu (re)konstruieren. Dieses suchende Lesen wird in den schwer überschaubaren Großkarten zum Teil von den polyvalent eingesetzten Außenlegenden, zum Teil durch auffallende Binnentexturen gesteuert. 58 Selbst wenn sich diese Ergebnisse nur bedingt auf die buchformatigen Karten von deutlich geringerer visueller Dynamik übertragen lassen, scheint auch hier die suchende und ordnende Lektüre die Grundlage jeglichen Verstehens. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die inhaltlich oder praktisch begründeten Entscheidungen des damaligen Kartenzeichners auch den heutigen Leseprozess bestimmen. In allen diesen Kartographien gibt es eine Spannung zwischen dem Anspruch auf eine vollständige Erfassung der Welt in ihrer Gesamtheit und der ausgeführten Selektion im Detail, zwischen der enzyklopädischen Weitläufigkeit und der auf einen einzigen Punkt gerichteten Jerusalemsehnsucht. Themen- und Signaturengruppen zu erkennen, setzt Bekanntes voraus, das vom gebildeten Betrachter zu suchen oder gar zu ergänzen ist: etwa die biblisch begründete Noachidenstruktur, die erst eine Einordnung Jerusalems in der Mitte ermöglicht, oder die Gräberverehrung, die nicht zuletzt Bezüge zwischen dem Heiligen Ort der Sehnsucht und dem Entstehungsort der Karte aufbaut. Zu denken wäre ebenso an die vier Weltreiche der Danielvision (Daniel 2) bzw. der Weltgeschichte des Paulus Orosius, die den als translatio imperii verstandenen Lauf der Geschichte von Osten nach Westen, vom irdischen Paradies über Babylon und Jerusalem nach Rom nachzeichnen, oder an die Apostelmission, die einer Verteilung der Völker in der Diaspora nachspürt und die Frage nach der Zuordnung der Erdrandvölker auslöst. Erinnern wir uns nochmals an das Kreuz auf dem Kalvarienberg der Herefordkarte, das auch in der Ebstorf- und sogar in der Psalterkarte vielfach präsent ist: Als T im O ordnet es den geographischen Raum, um Asien, Europa und Afri-

58

Vgl. Herberichs [Anm. 17], S. 208f.

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ka voneinander abzutrennen, und zugleich symbolisiert das T in Form der crux comissa im Dialog mit dem Auferstehenden die Erlösung durch den Kreuzestod Christi. Mit dem T-Schema war die Aufteilung der Welt also nicht nur geographisch, sondern auch historisch, nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begründet. Erzählung und Raum verschmolzen zu einer Einheit. Oder denken wir an die Signaturen für das irdische Paradies, die sich jeweils vielschichtig an die formale Gestalt Jerusalems anlehnen: 59 auf der Ebstorfkarte innerhalb des Erdkreises als Rechteck, das auf einem Berg gelegen von einer Mauer mit seitlichem Turm umrandet und dem dominanten Christuskopf zur Seite gestellt wird, 60 auf der Psalterkarte als zwei konzentrische Kreise um die eingezwängten Köpfe von Adam und Eva oder der biblischen Propheten Henoch und Elias innerhalb des Erdenrunds 61 und auf der Herefordkarte in einer Einbuchtung der Ökumene als kreisförmige Insel im östlichen Weltenmeer, deren Ummauerung ganz offensichtlich die zahnradförmige Befestigung Jerusalems widerspiegelt. 62 Die Schöpfung des Paradieses, aus dessen Quelle in allen drei Karten die vier Paradiesflüsse Gyon, Nil, Euphrat und Tigris (in der Psalterkarte zudem der Ganges) entspringen, war das erste Ereignis der Weltgeschichte ganz im Osten. Im Dialog mit diesem Ursprung stand Jerusalem als kartographischer Dreh- und Angelpunkt der christlichen Raum- und Zeitwahrnehmung, als Zeichen für das Fortschreiten der Geschichte von Ost nach West, vom Ursprung der Schöpfung zum Ort der Kreuzigung und Wiederauferstehung. Auch wenn jerusalembezogene Bild- und Textsignaturen oft aus biblischchristlichen Zusammenhängen (wie dem Alten Testament, den Evangelien und der Apostelgeschichte) stammen, müssen sie jedoch nicht die Kompatibilität mit weiteren Quellen- und Signaturentypen verweigern. Denn das Prinzip der Ähnlichkeit vermag auch zoologische und ethnologische Themen, historiographische und legendarische Stoffe in den Erzählraum Jerusalem zu integrieren. Das Jerusalemer Kamel, 63 das in der Ebstorfkarte sein wertes Hinterteil despektierlich der Heiligen Stadt zuwendet, erinnert etwa nicht nur an die Kostbar-

59

Scafi [Anm. 18], S. 125–159. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 11/3–4. Vgl. die Abbildung in diesem Band, S. 304. 61 Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 38 meint, Adam und Eva im Paradies identifizieren zu können; ebenso Scafi [Anm. 18], S. 149. 62 Westrem [Anm. 22], Nr. 54–70; vgl. Scafi [Anm. 18], S. 146–148. 63 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Bd. 1, Nr. 31/19: Camelus; vgl. Isidorus Hispalensis, Etymologiae [Anm. 20], 12.1.35 mit einer Beschreibung von Kamel und Dromedar. 60

Abb. 8: Ebstorfer Weltkarte, Ausschnitt mit Kamel und Bonacus (Kugler [Anm. 1], Nr. 31–32).

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keiten und Sitten Arabiens, sondern auch an die Heiligen Drei Könige. 64 Ein solches Kamel hatte bereits Matthaeus Parisiensis, Benediktiner in der Abtei St. Albans im englischen Hertfordshire, gegen Mitte des 13. Jahrhunderts in dem legendenbeladenen Londoner Exemplar seiner Palästina-Karte 65 vor den Toren der Stadt Akkon platziert, um Reichtum und Exotik, aber auch die Brückenfunktion des Heiligen Landes im Austausch zwischen Orient und Okzident anzudeuten. Nicht weit vom Kamel der Ebstorfkarte entfernt ist der kleinasiatische Bonacus, 66 ein dem Rind ähnliches Tier (Abb. 8), das seine Verfolger dadurch abschüttelt, dass sein Kot bei Berührung wie Feuer brennt. Von hier lässt sich eine Linie bis zu Elch und Auerochs weiter im Norden ziehen, im kargen Land der starken Männer (Abb. 9). 67 Eine diagonale Verlängerung nach Südosten führt in die rechte obere Kartenecke zu der Beschreibung der Wildrinder Germaniens, aus deren langen Hörnern Trinkgefäße von ungeheurem Fassungsvermögen für die königliche Tafel gemacht werden können. 68 Die Verteilung dieser Tiere auf den kartographisch definierten Großraum berücksichtigt weltkundliche Ordnungszusammenhänge: Sie alle gehören beispiels64 Zur religiös aufgeladenen Tiersymbolik vgl. Sabine Obermaier, Der Heilige und sein Tier, das Tier und sein Heiliger – ein Problemaufriss, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 12 (2007), Heft 2: Tier und Religion, hg. von Thomas Honegger und W. Günther Rohr, S. 46–63, zum Kamel hier S. 60. 65 London, British Library, Royal MS. 14 C.VII, ff. 4 v–5; Harvey [Anm. 25], Abb. 73; Text in Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 90–94. Vgl. Daniel K. Connolly, Imagined Pilgrimage in the Itinerary Maps of Matthew Paris, in: The Art Bulletin 81,4 (December 1999), S. 598–622, bes. S. 604f. mit Abb. 66 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Bd. 1, Nr. 31/25 (Bonacus) und 31/1: Habet et camelionem vermem plurimum necivum. Habet etiam bonacum animal bovi simile: stercus suum veluti spiculum per spacium iugeris dirigit et quicquid tetigerit velud incendium urit et sic suos insequitores submovet. (»Es gibt dort das Chamäleon, ein todbringendes Gewürm, es gibt auch den Bonacus, ein dem Rind ähnliches Tier. Seinen Kot kann es wie ein Wurfgeschoß auf Ackerlänge wegschleudern; dieser brennt bei Berührung wie Feuer, und so hält das Tier seine Verfolger von sich fern.«) Vgl. Uwe Ruberg, Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik, in: Ein Weltbild vor Columbus [Anm. 1], S. 319–346, hier S. 330f. zu Bonacus und dem bereits viel interpretierten bewaffneten Kreuzritter daneben. 67 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 37/B1 und 37/26: Urus (»Auerochs«); vgl. Ruberg [Anm. 66], S. 321. Zur Verbindung mit Heiligen vgl. Obermaier [Anm. 64], S. 61f. 68 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 7/10 in der rechten oberen Ecke außerhalb des Erdkreises: De apris. Apri egrestes boves sunt in Germania, habentes cornua in tantum protensa ut regiis mensis insigni capacitate ex eis gerule fiant. (»Von den Auerochsen. Die Auerochsen sind Wildrinder in Germanien. Sie haben derart lange Hörner, dass man aus ihnen Trinkgefäße von ungeheurem Fassungsvermögen für die königliche Tafel macht.«)

Abb. 9: Ebstorfer Weltkarte, Ausschnitt mit Auerochs (Kugler [Anm. 1], Nr. 36–37).

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weise dem ersten Kapitel des zwölften, auf die Haustiere folgenden Buches der Isidorischen Etymologien an, das sich in der rechten oberen Außenkolumne der Ebstorfkarte widerspiegelt und dadurch einen diagonalen Fluchtpunkt bildet. 69 Sie kennzeichnen bestimmte Länder, wie etwa Elch und Auerochs das kalte Russland (Rucia regio) am Übergang zu dem aus der Karte herausgeschnittenen Skandinavien oder das Kamel das mit reichen Handelsgütern gesegnete Arabien. 70 Weitere Raubtiere entspringen der Herrschaftssymbolik. Der Löwe, König der Tiere und Verkörperung adliger Wertsysteme, steht als dunkle Bestie vor der kaspischen Pforte und beherrscht in Europa als goldenes Wappenzeichen welfischer Macht die Mauern Braunschweigs. 71 Angeblich wurde selbst Rom nach dem Umriss eines Löwen angelegt. 72 Verbindungsglied zur römischen Lupa dürften ganz offensichtlich die Welfen gewesen sein, denn ein Welf war ein junges Raubtier oder das Junge eines Wolfes. 73 Diese und andere Tiere lassen sich über die vier Elemente letztlich sogar den Himmelsrichtungen zuordnen, die Flugtiere überwiegend dem oberen östlichen Teil des Orbis, die erdverbundenen Kriechtiere eher dem unteren Westen. 74 Das majestätische Kamel, das unterhalb des langen Ebstorftextes zu Jerusalem seinen Platz behauptet, wird damit zu einer Art König der Vierbeiner nahe bei der verlorenen Stadt, dem Knotenpunkt religiöser und politischer Sehnsüchte. 75 Die Anordnung der Tiere ist also nicht willkürlich und setzt auch nicht nur, wie Uwe Ruberg es festgestellt hat, enzyklopädisches Buchwissen »in ein programmati-

69 Isidorus Hispalensis, Etymologiae [Anm. 20], 12.1–7 De animalibus, hier 12.1.1–60 De pecoribus et iumentis. Vgl. Ruberg [Anm. 66], S. 335–343. 70 Vgl. Ruberg [Anm. 66], S. 321. 71 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 17/6 (Leo nobilissimus) und Nr. 50/8; vgl. Nr. 14/8 mit der ausführlichen Beschreibung in der Außenlegende. Zur Symbolik vgl. Georg Scheibelreiter, Tiersymbolik und Wappen im Mittelalter: grundsätzliche Überlegungen, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 12 (2007), Heft 2: Tier und Religion, hg. von Thomas Honegger und W. Günther Rohr, S. 9–23, hier S. 9–15. 72 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 46/38. 73 Scheibelreiter [Anm. 71], S. 10. 74 Vgl. Ruberg [Anm. 66], S. 335 und S. 341–343. 75 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 14/3 in der Außenlegende: De Camelis. Cameli, cum onerantur, accubunt, et sunt curvo dorso. Hos licet alie regiones habeant, sed Arabia plurimos. Differunt autem sibi. Nam Arabici bina tubera in dorso habent, reliquarum regionum singula. (»Von den Kamelen. Die Kamele legen sich nieder, wenn sie beladen werden, und haben einen Buckel. Wenngleich es sie auch in anderen Regionen gibt, gibt es doch die meisten in Arabien. Sie unterscheiden sich allerdings: Die arabischen haben zwei Höcker auf dem Rücken, die anderen nur einen.«). Vgl. auch ebd., Nr. 14/4 zu den Dromedaren.

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sches Schaubild aus Bildern und Texten« 76 um, sondern die einzelnen Tiergestalten weisen als wichtiger Teil des Ordnungssystems vielschichtig auf das Zentrum zurück. Die Semantisierung der Himmelsrichtungen und der Winde gab weitere Deutungen vor. 77 Der heiße Süden beherbergte abartig geformte, monströse Menschenrassen und Schlangengetier. Der negativ besetzte Norden war der Ort des Teufels und der Hoffnungslosen; es war der Ort, von dem die apokalyptischen Völker Gog und Magog, die häufig mit den inclusi des Alexanderzugs identifiziert wurden, bei der Ankunft des Antichrist hervorbrechen würden, um die Erde zu verwüsten. 78 Auf der Ebstorfkarte hat Alexander die grausigen Völker, die der Antichrist eines Tages im Gefolge haben soll, eingeschlossen (Abb. 10). Bevor sie ihr Gebirgsgefängnis verlassen, essen sie noch Menschenfleisch und trinken Blut. 79 Die Szene ist anschaulich ins Bild gesetzt: Der blutende Körper des Opfers liegt ohne Extremitäten zwischen den beiden menschenfressenden Personifikationen des Bösen. Die Kaspischen Gebirgsketten, besser bekannt als Kaukasus und Taurus, und das dahinter liegende gleichnamige Meer weit im Nordosten können die asiatischen Schrecken gerade noch zurückhalten; die Kaspischen Pforten sind noch weitgehend geschlossen. 80 76

Vgl. Ruberg [Anm. 66], S. 346. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Bd. 2, S. 29f. mit einer schematischen Darstellung der Winde auf der Ebstorfkarte. Zur Semantisierung der Himmelsrichtungen vgl. Hartmut Kugler, Himmelsrichtungen und Erdregionen auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Text – Bild – Karte [Anm. 15], S. 175–199. 78 Zu Gog und Magog und den Inclusi hinter den Kaspischen Pforten vgl. Naomi Reed Kline, Maps of Medieval Thought, Woodbridge 2001, S. 184–187; Andrew C. Gow, The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyptic Age, 1200–1600, Leiden 1995; Andrew C. Gow, Kartenrand, Gesellschaftsrand, Geschichtsrand. Die legendären judei clausi / inclusi auf mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Weltkarten, in: Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, hg. von Helwig Schmidt-Glinzer, Wiesbaden 1996, S. 137–155. Zu den Beziehungen zwischen Alexanderroman und mittelalterlicher Universalkartographie vgl. Hartmut Kugler, Der Alexanderroman und die literarische Universalgeographie, in: Internationalität nationaler Literaturen. Beiträge zum ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereichs 529, hg. von Udo Schöning unter Mitwirkung von Beata Weinhagen und Frank Seemann, Göttingen 2000, S. 102–120, bes. S. 108ff. zu den über 40 Stationen aus dem Alexanderroman auf der Ebstorfer Weltkarte, unter denen u. a. auch Jerusalem und die unreinen Völker Gog und Magog zu verzeichnen sind. 79 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 8/7 und Nr. 15/A2: Hic inclusit Alexander duas gentes immundas Gog et Magog, quas comites habebit Antichrist. Hii humanis carnibus vescuntur et sanguinem bibunt. (»Hier hat Alexander die beiden grausigen Völker Gog und Magog eingeschlossen, die der Antichrist im Gefolge haben wird. Sie essen Menschenfleisch und trinken Blut.«) 80 Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 15/5, 15/8 und 16/12. 77

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Abb. 10: Ebstorfer Weltkarte, Ausschnitt mit Gog und Magog (Kugler [Anm. 1], Nr. 15–16).

Diese Denkfigur des Bedrohlichen im Nordosten verleiht jeder der hier behandelten Weltkarten eine gewisse Dramatik. 81 Auf der Herefordkarte sitzen die Nachfahren von Gog und Magog abgeschieden auf der Insel Terraconta im Weltenozean und verspeisen barbarisch das Fleisch junger Männer und fehlgeborener Föten. 82 Selbst auf der Londoner Psalterkarte ist der halbkreisförmige Kaukasus mit der noch geschlossenen Kaspischen Pforte trotz der ansonsten recht zurückhaltenden pictura klar zu erkennen. 83 Ihnen gegenübergestellt sind, wenn wir die beiden bärtigen Gesichter im Paradies nicht als Adam und Eva interpretieren wollen, Henoch und Elias, die verbliebenen Rechtgläubigen und Feinde des Antichristen. Die Substanz dieser vielschichtigen Wahrnehmung und Abgrenzung des Bösen, das gleichwohl essentiell zum Weltenraum gehört, dürfte im Gegensatz zwischen Christus und Antichrist, zwischen schützendem Weltenherrscher und den Heerscharen des Zerstörers zu fassen sein und damit erneut auf das Zentrum Jerusalem verweisen. Erhöht wurde die Bedeutung Jerusalems also durch imaginierte Gegenwelten, darunter übrigens auch die monströsen Völker am südlichen Erdrand. Die Londo81 Weitere Beispiele bei Hartmut Kugler, Europa pars quarta. Der Teil und das Ganze, in: Europa im Weltbild des Mittelalters [Anm. 24], S. 45–61, bes. S. 49–55. 82 Westrem [Anm. 22], Nr. 302: Terraconta insula, quam inhabitant Turchi de stirpe Gog et Magog: gens barbara et immunda, invenum carnes et abortiva manducantes. 83 Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 40. Vgl. auch Andrew Colin Gow, Das Gefolge des Antichristen: Zur Legende von den ›roten Juden‹, in: Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), hg. von Ulrich Knefelkamp und Frank Martin, Leipzig 2008, S. 102–112, hier S. 104.

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ner Psalterkarte entfaltet hier ihre ganze bildliche Ausdruckskraft, von Osten nach Westen sehen wir die Vieräugigen und Sechsfingrigen, die Röhrchenesser mit dem verwachsenen Mund und die auf die Gebärdensprache angewiesenen Zungenlosen, die Ohren- und die Nasenlosen, die Skiapoden und Großlippigen, die Blemyer und die Schulteräugigen, die Schlangen essenden Troglodyten und die vornübergeneigten Vierbeiner, die Menschenfresser und die Hundsköpfigen (cynocephali). 84 Konrad Miller hat bereits auf die Verwandtschaft mit der viel größeren Ebstorfkarte hingewiesen, die diese Deformierten noch ausführlicher in zwei Reihen zeigt. 85 Die Monstergalerie der Herefordkarte scheint hingegen eher bescheidener zu bleiben, bevor der Betrachter nach längerem Studium merkt, dass sich die Missgestalteten und Sittenlosen auf nahezu Dreiviertel des Erdenrands verteilen. 86 Das Vorkommen dieser Gestalten ist bisher entweder damit erklärt worden, dass die mittelalterliche Alterität sich mit einer Vorliebe für das Phantastische verbunden hätte, oder es wurde die anthropologische Konstante des Exotischen bis in die Unterhaltungsmedien unserer Zeit betont. Beide Erklärungsmodelle treffen aber nicht den Kern, denn trotz ihrer Repräsentation am Erdrand sind die monströsen Völker als wichtiger Bestandteil eines komplexen Erzähl- und Ordnungssystems zu verstehen. Die Grenzwesen an der Peripherie tragen, wie bereits Marina Münkler betont hat, auf den verschiedenen Sinn- und Bedeutungsebenen von Vielfalt und Transzendenz entscheidend zur Deutung des Zentrums bei. 87 Sie sind kein defizitärer Ausdruck grotesker Verzerrungen des Mittelalters, sondern Teil eines Gesamtprogramms, das im Falle der jerusalemzentrierten Weltkarten in jedem einzelnen Ausschnitt auf die Heilige Stadt bezogen ist. Ein komplexes System von Ähnlichkeit und Signatur stimulierte, so lässt sich zusammenfassend feststellen, die narrative Ordnung der großformatigen Weltkarten. Nachbarschaft, Reflexe und ungeschriebene Geschichten führten zu Annähe84 85

Mappaemundi, hg. von Miller, Bd. III [Anm. 21], S. 42. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Kugler [Anm. 1], Nr. 21, 27–28, 34–35, 42 und

49. 86

Westrem [Anm. 22], Nr. 961–973. Vgl. Naomi Reed Kline, The World of the Strange Races, in: Monsters, Marvels and Miracles. Imaginary Journeys and Landscapes in the Middle Ages, hg. von Leif Sødergaard und Rasmus Thorning Hansen, Odense 2005, S. 27–40. 87 Münkler [Anm. 15], S. 149–173. Vgl. auch Marina Münkler und Werner Röcke, Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik des Fremden im Mittelalter: Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrandes, in: Die Herausforderung durch das Fremde, hg. von Herfried Münkler, Berlin 1998 (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte 5), S. 701–766.

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rungen, die trotz der räumlichen Distanz zwischen den Signaturen die Grenzen von Zeit und Raum überschreiten konnten und immer wieder neue Erzählkombinationen schufen. 88 Vielleicht ist dieses System nirgendwo präsenter als in den mittelalterlichen Ökumenekarten, in denen die äußerst komplexen Zusammenhänge der gesamten Schöpfung kartographisch umgesetzt wurden, sei es in friedliche und gefahrenvolle Nähen auf Zeit, in ein Spiel der Reflexe zwischen entfernten Signaturen oder in mehrwertige, subtile Ähnlichkeiten, die sich erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen. Ergebnis waren jedenfalls Querverbindungen, Über- und Unterordnungen, die in geographisch und chronologisch abgesteckten Sinneinheiten multifunktional zu verwerten und im Foucaultschen Sinne der Nachbarschaft zu interpretieren sind. Erst im kreativen Erkennen und Verstehen, heute oft bezeichnet als creative recognition, schufen Leser wie Betrachter einen narrativen Raum, der in den großformatigen, jerusalemzentrierten Ökumenekarten, die sowohl Andachtsbild als auch repräsentatives Schaustück oder Anschauungsmaterial für den Unterricht sein konnten, eindeutig auf den Mittelpunkt bezogen war und ist. So wurde im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert Jerusalem zum Kern eines globalen Erzählraumes, vom Nabel der Welt zum einem die Welt umfassenden Sehnsuchts- und Erinnerungsraum, der von biblisch-christlichen Motiven ausgehend das gesamte enzyklopädische Wissen umfassen konnte. Dem Betrachter oblag die Aufgabe, die notwendige kartographische Reduktion auf wenige Schlagworte des Wissens über die Erzählungen rückgängig zu machen, Sinnzusammenhänge und Sinngruppen zu erkennen sowie deren Bedeutung für den Sammelpunkt Jerusalem in einer visuellen Exegese zu erschließen.

88

Münkler [Anm. 15], S. 161.

Die Reichsstadt als Raum der Literatur Skizze einer Literaturgeschichte Nürnbergs im Mittelalter von Horst Brunner, Würzburg

Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert war Nürnberg die wichtigste Literaturstadt Deutschlands. Gleichwohl ist, trotz einer nahezu unübersehbaren Zahl von Editionen und Detailstudien, die Literaturgeschichte der Reichsstadt zusammenhängend bis jetzt noch nicht geschrieben. Absicht meines Beitrags ist es, als ersten Schritt hierzu wenigstens für den mittelalterlichen Teilbereich der Literaturgeschichte, die Zeit vom 14. bis zum vorreformatorischen 16. Jahrhundert, alles das zusammenzustellen, was in einer literarhistorischen Darstellung berücksichtigt werden müßte. 1 Grundlage der kurzen Skizze ist das so gut wie vollständige Inventar der bis gegen 1520 abgefaßten deutschen und der in Deutschland entstandenen lateinischen Literatur (im weiten Sinn dieses Begriffs), das die nunmehr abgeschlossene 2. Auflage des Verfasserlexikons ›Die deutsche Literatur des Mittelalters‹ sowie das ergänzende Verfasserlexikon ›Deutscher Humanismus 1480– 1520‹, dessen erster Band (von zwei geplanten Bänden) ebenfalls vorliegt, bieten.2

1

Vgl. auch den früheren Versuch von Erich Strassner, Graphemsystem und Wortkonstituenz. Schreibsprachliche Entwicklungstendenzen vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen untersucht an Nürnberger Chroniktexten, Tübingen 1977 (Hermaea 39), hier S. 3–56 (›Zur deutschsprachigen Überlieferung in Nürnberg seit dem 13. Jahrhundert‹); Vorabdruck unter dem Titel: Die literarischen Voraussetzungen in Nürnberg für das Werk des Hans Sachs, in: Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1576, hg. v. Horst Brunner, Gerhard Hirschmann und Fritz Schnelbögl, Nürnberg 1976 (Nürnberger Forschungen 19), S. 55–75. – Zur Stadtgeschichte vgl. Emil Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1896 (Nachdruck Neustadt a. d. Aisch 1983); Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, hg. v. Gerhard Pfeiffer, München 1971; Stadtlexikon Nürnberg, hg. v. Michael Diefenbacher und Rudolf Endres, Nürnberg 1999. 2 Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage. 14 Bde., hg. v. Kurt Ruh und Burghart Wachinger u. a., Berlin/New York 1978–2008 (die Bde. 12 bis 14 sind Registerbände) (= VL); Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd. 1 (A–K), hg. v. Franz Josef Worstbrock, Berlin/New York 2008 (= VLDH).

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Horst Brunner

Da das VL leider kein Ortsregister enthält, war es nötig, die Bände im Detail durchzusehen. Im folgenden verzeichne ich das Material in sachlicher Gliederung. Verweise auf das VL stehen nur dort, wo der betreffende Artikel nicht ohne weiteres über Autorennamen bzw. – bei anonymen Texten – über Werktitel aufzufinden ist. Hinweise auf Sekundärliteratur über das hinaus, was sich im VL findet, gebe ich nur unsystematisch. Meine Skizze reiht sich ein in die in neuerer Zeit unternommenen Versuche, Literargeschichte aus der Sicht überschaubarer literarischer Räume, Regionen, Dynastien, Städten, geistlichen und weltlichen Kommunitäten, zu schreiben. ›Große‹ Texte, ›große‹ Autoren stellen im Ensemble der überlieferten Textmassen eher die Ausnahme dar. Will man literarisches Leben, die Bedeutung der Literatur für die Menschen in ihrer jeweiligen Zeit, einigermaßen sichtbar machen, müssen auch Texte und Autoren berücksichtigt werden, denen ›Ewigkeitswert‹ kaum zugebilligt werden kann. Im Gesamtzusammenhang ›deutsche Literaturgeschichte‹ verbietet sich ein derartiges Unterfangen schon angesichts des Materialumfangs. Möglich erscheint es aber im Zusammenhang regionaler Literaturforschung. Hingewiesen werden kann etwa auf die dreibändige Literaturgeschichte des Mittelalters in Österreich von Fritz Peter Knapp 3 oder auf die Darstellung der mittelalterlichen Literatur am Niederrhein durch Helmut Tervooren 4 . Die städtische ›Literaturszene‹ Augsburgs wurde durch Johannes Janota, Helmut Gier und Werner Williams-Krapp erschlossen, 5 die des mittelalterlichen Würzburg durch einen Ausstellungskatalog und einen Tagungsband. 6 Weitere Untersuchungen zur regionalen Literaturforschung finden sich in Tagungsbänden, Ausstellungskatalogen, stadtgeschichtlichen Darstellungen usw. 7

3

Fritz Peter Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich. 3 Bde., Graz 1994–

2004. 4 Helmut Tervooren, Van den Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas, Berlin 2006. 5 Vgl. Von der Augsburger Bibelhandschrift zu Bertolt Brecht. Ausstellungskatalog, hg. v. Johannes Janota und Helmut Gier, Weißenhorn 1991; Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hg. v. Johannes Janota und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1995 (Studia Augustana 7); Augsburger Buchdruck und Verlagswesen von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Johannes Janota und Helmut Gier,Wiesbaden 1997. 6 Vgl. Vom Großen Löwenhof zur Universität. Würzburg und die deutsche Literatur im Spätmittelalter, Ausstellungskatalog, hg. v. Horst Brunner und Hans-Günter Schmidt, Wiesbaden 2002; Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters, hg. v. Horst Brunner, Wiesbaden 2004 (Imagines medii aevi 17).

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Die Vielfalt der spätmittelalterlichen Literatur Nürnbergs läßt sich folgendermaßen aufgliedern: A. Geistliche Prosa B. Weltliche Prosa C. Sachliteratur D. Dichtung E. Humanismus A. Geistliche Prosa Entstehungsorte geistlicher Literatur waren fast ausschließlich die Klöster in oder in der Nähe der Stadt: das Dominikaner-(Prediger-)Kloster in der Burgstraße (im 19. Jahrhundert abgebrochen), die Dominikanerinnenklöster St. Katharina 8 und Engelthal, das Franziskaner-(Barfüßer-)Kloster in der Nähe der Kirche St. Lorenz (1671 abgebrannt), das Klarissenkloster (in der heutigen Königstraße), das Kartäuserkloster (heute Bestandteil des Germanischen Nationalmuseums), das Benediktiner-(Schotten-)Kloster St. Egidien und das Augustiner-Chorfrauen-Stift Pillenreuth. Mystik. Die Literaturgeschichte Nürnbergs beginnt mit der im Dominikanerinnenkloster Engelthal seit Beginn des 14. Jahrhunderts aufgezeichneten mystischen Literatur. 9 Als Autorinnen und Autoren bezeugt sind: Christine Ebner (1277–1356), Adelheid Langmann (1306–1375), Konrad Friedrich (um 1330), Heinrich von Engelthal (belegt 1290–1328), Friedrich Sunder (1254–1328). Frauenmystische Aufzeichnungen aus späterer Zeit stammen von Katharina Tu7 Vgl. auch Horst Brunner, Vorschlag eines Lexikons der regionalen Literaturgeschichte des deutschen Mittelalters, in: ZfdPh 122 (2003), Sonderheft, S. 308–312. Vgl. zum Thema ferner: Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, hg. v. Horst Brunner, Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 343). 8 Vgl. dazu Werner Williams-Krapp, Die Bedeutung der reformierten Klöster des Predigerordens für das literarische Leben in Nürnberg im 15. Jahrhundert, in: Die literarische und materielle Kultur der Frauenklöster im späten Mittelalter, hrsg. von Falk Eisermann, Eva Schlotheuber und Volker Honemann, Leiden, Boston 2004, S. 311–329; Antje Willing, Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster u. a. 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4). – Das Katharinenkloster gilt als eines der »wichtigsten Zentren« der Überlieferung der deutschen Texte Meister Eckharts, vgl. dazu zuletzt Dagmar Gottschall, Meister Eckhart-Rezeption in Nürnberg, in: ZfdA 138 (2009), S. 199-213. 9 Vgl. zuletzt Johannes Janota, Orientierung durch Schriftlichkeit. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 3, 1, Tübingen 2004, S. 106ff.

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Horst Brunner

cher (gestorben 1448), Laienschwester im Katharinenkloster. Als Übersetzerin und Abschreiberin mystischer und erbaulicher Texte betätigte sich im AugustinerChorfrauen-Stift Pillenreuth Anna Ebin (gestorben 1485). Gebetbücher. ›Gebet- und Andachtsbuch der Katharina Rutzin‹, um 1400, aus dem Katharinenkloster; ›Gebetbuch für Georg Schedel‹, geschrieben 1458–1462 von dem Dominikaner Johannes Schedel (später im Besitz Hartmann Schedels); ›Gebetbuch des Patriziers Niklas Muffel‹, 1462, »möglicherweise dominikanischer Herkunft« (VL 6, 717). Predigten. Als Verfasser deutscher Predigttexte begegnen fast ausschließlich Dominikaner: Aufkirchen, Lorenz (1487); Comitis, Gerhard (um 1430); Diemar, Johannes (belegt 1458– 1478); Goltschlacher, Rudolf (belegt 1437–1456); Hans der Bekehrer (um 1460; wahrscheinlich Dominikaner); Haß, Georg (belegt 1473–1484); Heinrich zu Nürnberg (um 1400; ob Dominikaner?); Hel, Erhard (belegt 1428–1440); Kirchschlag, Johannes (um 1450–1494); Kirchschlag, Peter (belegt 1457–1483; auch Autor lateinischer Werke); Lock, Johannes (belegt 1460–1494); Münnerstadt, Johannes (belegt 1425–1453; auch Verfasser eines lateinisch-deutschen Glossars); Prausser, Johannes (belegt 1473–1481; auch Autor eines in deutscher Übersetzung erhaltenen Traktats über Witwenschaft); Schober, Friedrich (belegt 1482–1495); Stromer, Friedrich (belegt 1458–1486); Weyg, Johannes (bezeugt 1478–1482). Kartäuser war Nikolaus von Nürnberg (II) (um 1450; Predigtautor, Übersetzer von Gebeten, Bußpsalmen und Predigten); Pfarrer von St. Sebald Fleischmann, Albrecht (belegt 1389–1444). Schließlich gehört in diese Rubrik die anonym überlieferte ›Nürnberger emblematische Schiffahrtspredigt‹ (vor 1429).

Legenden. Sebaldus-Legende (um 1385, weitere Fassungen lateinisch 1385 / 1425, deutsch 1451); ›Bamberger Legendar‹ (VL 11, 208; um 1400, wahrscheinlich aus dem Dominikanerkloster, Vorstufe zu ›Der Heiligen Leben‹); ›Der Heiligen Leben‹ (um 1400, Dominikanerkloster; größtes und erfolgreichstes deutsches Legendar des Spätmittelalters); ›Ein geistlicher Rosengarten‹ (VL 7, 984; um 1400, wahrscheinlich Dominikanerkloster; deutsche Bearbeitung der von Raimund von Capua verfassten ›Legenda maior‹ der Katharina von Siena 10 ); ›Achahildis von Wendelstein‹ (1448); ›Katharina von Alexandrien‹-Mirakelanhang (VL 4, 1071; um 1450 neu gestaltet). Übersetzungen, Traktate und ähnliches. Friedrich von Nürnberg (Benediktiner), Autor einer ›Ars praedicandi‹ (um 1450) und einer ›Rhetorica nova‹, die er auch ins Deutsche übersetzte; Fünfbrunner, Konrad (Franziskaner), gest. 1501, Trostbrief an eine Witwe (um 1450); Glasberger, Nikolaus (Franziskaner), gest. 1508, 10 Vgl. Thomas Brakmann, Die Verbreitung des ›Geistlichen Rosengarten‹ im Kontext religiöser Lektüre und dominikanischer Ordensreform, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg (= MVGN) 95 (2008), S. 1–33.

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Verfasser einer Chronik seines Ordens sowie anderer Schriften; Horant, Ulrich (als Custos am Heiliggeistspital bezeugt), belegt 1442–1461, Autor eines kurzen geistlichen Traktats; Konrad von Nürnberg, 15. Jh. (keine Daten bekannt), Übersetzer der alttestamentlichen Propheten in einer bebilderten Heidelberger Handschrift; Krauter, Heinrich (Dominikaner), gest. 1434, Autor dreier seelsorgerischer deutscher Traktate; Nikolaus von Nürnberg (I) (Prediger am Neuen Spital), belegt 1385–1417, Autor eines lateinischen Kommentars zur Benediktinerregel, deutsche Schriften über Katharina von Montau; Pirckheimer, Caritas (Klarisse), 1467–1532, beteiligt an einer Chronik des Klarissenklosters, Briefe, ›Denkwürdigkeiten‹; Sampach, Agnes (Klarisse), gest. 1433, Bericht über eine Kapelle in Altenberg bei Zirndorf; Schwertmann, Egidius (Dominikaner), gest. 1479, deutsche Übersetzung eines Traktats von Gerard Zerbolt van Zutphen, außerdem zwei lateinische Predigten; Vigilis, Heinrich (Franziskaner), in Nürnberg ca. 1487–1495, gest. 1499, zahlreiche Predigten und Traktate; Wagner, Konrad (Dominikaner), gest. 1461, Verfasser eines Erbauungstraktats; Schön, Friedrich (aus Nürnberg stammender Theologieprofessor in Erfurt, ab 1457 wieder in seiner Vaterstadt), 1395 /1400–1464, lateinische theologische Schriften. In diese Rubrik gehören auch zwei anonym überlieferte Erbauungstexte: der ›Nürnberger Garten‹, eine geistliche Gartenallegorie aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und der ›Nürnberger Fünf-Gärten-Text‹ aus der zweiten Jahrhunderthälfte. Aus dem Nürnberger Raum stammte auch die im 14. Jahrhundert entstandene (verlorene) Druckvorlage des ältesten deutschen Bibeldrucks, der Mentelin-Bibel (1466; vgl. VL 6, 1277). – Offen bleiben muß, ob das vierstrophige, auf einer lateinischen Vorlage beruhende geistliche Lied ›Du heiles hort‹ (VL 2, 237), überliefert in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts aus dem Katharinenkloster, in Nürnberg entstanden ist. Die bedeutendsten Autoren dieser Gruppe waren der Kartäuser Erhart Groß (um 1400–um 1450) und der Franziskaner Stephan Fridolin (um 1430–1498). Bekanntestes Werk von Groß ist die ›Grisardis‹, die Umarbeitung einer Novelle aus Boccaccios ›Decamerone‹ zu einem Traktat; daneben stehen weitere Traktate und Übersetzungen, außerdem lateinische Schriften. Fridolin verfaßte eine historische Arbeit, Predigten und mehrere Erbauungsschriften, darunter den 1491 bei Anton Koberger gedruckten, nicht zuletzt durch seine aus der Wolgemut-Pleydenwurff-Werkstatt stammenden Holzschnitte berühmten ›Schatzbehalter‹. 11 11 Zu Fridolins Beziehungen zum Humanismus vgl. Franz Machilek, Klosterhumanismus in Nürnberg um 1500, in: MVGN 64 (1977), S. 10–45, hier 27f. – Neuerdings wurde vermutet (von Hannes Kästner), Fridolin könne der Autor des 1509 anonym erschienenen Romans ›Fortunatus‹ sein (vgl. VL 11, 468).

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B. Weltliche Prosa Geschlechterbücher. Mitglieder des Patriziats betätigten sich literarisch in erster Linie als Verfasser von Geschlechterbüchern, Werken, in denen vor allem die Herkunft und Genealogie der Familien und Besitzrechte festgehalten wurden: »Nürnberg nimmt in der reichhaltigen Überlieferung seiner Geschlechterbücher eine einzigartige Stellung in Deutschland ein« (Helgard Ulmschneider in: VL 11, 583). Am Beginn steht hier Ulman Stromers (1329–1407) berühmtes ›Püchel von meim geslecht und von abentewr‹, entstanden ab 1360. Weitere patrizische Geschlechter-, Gedenk-, Haushalts- und Wirtschaftsbücher vergleichbarer Art stammen von Niklas Muffel (1410–1469, hingerichtet), Hans II. Haller (um 1443–1493), Lazarus Holzschuher d. Ä. (1472–1523), Konrad Paumgartner (um 1380–1464) Erasmus Schürstab d. J. (1426–1473), von Berthold (1386–1454) und Endres II. (1423–1507) Tucher, Anton II. Tucher (1458–1524) und Ulrich Starck (gest. 1478). Aus dem Kreis der sogenannten Ehrbarkeit stammte Bernhard Müller (1457–1504), Verfasser eines Gedenkbuches. Reise- und Pilgerberichte. Mitglieder der Oberschicht begegnen mehrfach auch als Autoren von Reise- und Pilgerberichten. Reisen nach Jerusalem, Santiago de Compostela und Rom beschrieben Hans Lochner (belegt seit 1423, gest. 1491): 1435, Jerusalem; Jörg Pfinzing (1. Hälfte 15. Jh.): 1436 /37, Jerusalem; Martin Ketzel: 1476, Jerusalem; Hans VI. Tucher (1428–1491): 1479 /80, Jerusalem; 12 Niklas Muffel: 1462, Rom; der Stadtarzt Hieronymus Münzer (1437–1508): 1494, lateinischer Bericht über eine peregrinatio nach Santiago; Berichte über Reisen nach allen drei Pilgerorten seit dem späten 14. Jahrhundert verfaßten mehrere Mitglieder der Patrizierfamilie Rieter, ein Nachkomme im 16. Jahrhundert stellte sie zu einem ›Reisebuch‹ zusammen. Einen Bericht über eine Reise zu westeuropäischen Fürstenhöfen 1465 /67 schrieb Gabriel Tetzel (gest. 1479). Chroniken und Chronikalisches. 13 Wichtige Grundlage der Stadtchronistik waren die in drei Fassungen erhaltene anonyme ›Chronik aus Kaiser Sigmunds 12 Vgl. Randall Herz, Die ›Reise ins Gelobte Land‹ Hans Tuchers des Älteren (1479–1480). Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen Reiseberichts, Wiesbaden 2002 (Wissensliteratur im Mittelalter 38); Randall Herz, Studien zur Drucküberlieferung der ›Reise ins gelobte Land‹ Hans Tuchers des Älteren, Nürnberg 2005 (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 34); Randall Herz, Briefe Hans Tuchers d. Ä. aus dem Heiligen Land und andere Aufzeichnungen, in: MVGN 84 (1997), S. 61–92. 13 Vgl. zur Nürnberger Chronistik Joachim Schneider, Heinrich Deichsler und die Nürnberger Chronistik des 15. Jahrhunderts, Wiesbaden 1991 (Wissensliteratur im Mittelalter 5); Joachim Schneider, Anfänge der Stadtgeschichte. Über Legenden in der mittelalterlichen Nürnberger Stadtchronistik und ihren historischen Auskunftswert, in: MVGN 87 (2000), S. 5–46.

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Zeit‹, die Geschehnisse von 1126 bis 1438 /41 verzeichnet, sowie die gleichfalls anonymen ›Nürnberger Jahrbücher des 15. Jahrhunderts‹, die in zwei Reihen (a. bis 1469, b. bis 1487) überliefert sind, ferner gibt es Fortsetzungen. In den Umkreis der Chronistik gehören auch Texte wie das ›Memorial‹ (seit 1420) Endres I. Tuchers (gest. 1440), die von Erhard Schürstab d. J. (gest. 1461) zusammengestellten Kriegsberichte und Kriegsordnungen (1. Markgrafenkrieg 1449 /50), die seit 1487 gedruckten ›Heiltumsbücher‹, d. h. Reliquienverzeichnisse, die ›Ordnung des Einund Ausreitens Kaiser Friedrichs III. 1485‹ von Ruprecht Haller (gest. 1489), das ›Salbuch‹ (1477) und das Stadtrechtsbuch (1479. gedruckt 1484) Hans VI. Tuchers (s.o.). Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang darauf, daß die Nürnberger Ratsprotokolle, die ›Ratsverlässe‹, seit 1449 vereinzelt, von 1471 (bis 1808) fortlaufend erhalten sind. 14 Eine sowohl in lateinischer wie in deutscher Sprache abgefaßte, dem Frühhumanismus verpflichtete Stadtchronik schloß der Benediktiner Sigismund Meisterlin (um 1435 – nach 1497) im Jahr 1488 ab. Vermutlich auf den Ratsschreiber Georg Spengler (1423–1495), den Vater von Lazarus Spengler, zurück geht eine kurze Nürnberger Chronik (1488 /91). Die bedeutendste und umfangreichste, bis 1506 reichende Stadtchronik schrieb der wohlhabende Bierbrauer Heinrich Deichsler (1430–1506 /07). Eine umfangreiche deutsche ›Weltchronik‹ (abgeschlossen 1459) nach lateinischen Quellen verfaßten die beiden städtischen Schreiber Johannes Platterberger (bezeugt 1445 /67) und Dietrich Truchseß (bezeugt seit 1443, 1467 hingerichtet). 15 Sie diente Hartmann Schedel (1440–1514) als eine der Quellen für seine berühmte lateinisch geschriebene, von Georg Alt (um 1450–1510) verdeutschte ›Weltchronik‹ (erschienen 1493 bei Koberger). 16 Anschließen lassen sich hier zwei weitere Schriften: die ›Geschichte von den Türken‹ (gedruckt 1482 /83) eines Jörg von Nürnberg und die bearbeitende Übersetzung eines Traktats des Enea Silvio Piccolomini ›Vom Ursprung der Herolde‹ (Ende 15. Jahrhundert). C. Sachliteratur Mathematik. ›Bamberger mathematisches Manuskript‹ (redigiert um 1460, Sammlung von Rechenaufgaben aus dem Umfeld des kaufmännischen Rechnens in Nürnberg); ›Bamberger Rechenbuch‹ (1471 / 82, Blockbuch, wahrscheinlich aus 14 Vgl. Die Nürnberger Ratsverlässe. Heft 1: 1449–1450, hg. v. Irene Stahl, Neustadt/Aisch 1983. 15 Edition des Trojateils durch Christoph Roth in: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Horst Brunner, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3), S. 245–301. 16 Vgl. 500 Jahre Schedelsche Weltchronik, hg. v. Stephan Füssel, PirckheimerJahrbuch 9 (1994).

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Nürnberg); Ulrich Wagner (gest. 1489 /90), Rechenmeister, ›Bamberger Rechenbuch von 1482‹; Konrad Heinfogel, belegt seit 1471, gest. 1517, lateinische und deutsche Schriften, darunter eine ›Karte des südlichen Sternenhimmels‹ (1515) und eine ›Sphera materialis‹ (1516). Gedächtniskunst. Bernhard Hirschvelder, ab 1482 Schreiblehrer (Modist) in Nürnberg, bezeugt bis 1502, ›Kunst der Gedächtnis‹; 17 Hirschvelder ist auch Autor eines Briefstellers. Bauwesen. Baumeisterbücher verfaßten: Hans Graser (Stadtbaumeister 1441 / 52), Lutz Steinlinger (Stadtbaumeister spätestens seit 1451, gest. vor 1461), Endres II. Tucher (1423–1507, Stadtbaumeister 1461–1476, ab 1476 Kartäuser); hierher gehört auch das ›Fialenbüchlein‹ (1487 /88) von Hans Schmuttermayer. Handwerksliteratur. Johannes Karpf (15. Jh.), zwei Arbeitsanweisungen zur Kupfervergoldung; ›Nürnberger Kunstbuch‹ (nach 1461; kunstgewerbliche Lehrschrift). Fecht- und Büchsenmeisterbücher. 18 Büchsenmeisterbücher stammen von Hans Formschneider (belegt um 1440 /70) und Hans Henntz (belegt 1470 /90), eine Messerfechtlehre verfaßte Hans Lecküchner (gest. 1482). Medizinische Schriften. Heinrich Zollner (um 1415–1474), Rezepte; Sebald Wagner/Mulner (vgl. VL 11, 1038; um 1415–1495, Stadtarzt), medizinische Schriften; Hermann Schedel (1410–1485, Stadtarzt), medizinische Schriften (außerdem Briefe); Hieronymus Münzer (s. o. Reise- und Pilgerberichte), medizinische Schriften; ›Almanache‹, kalendarisch-medizinische Texte (»Laßtafeln«), Einblattdrucke, ab 1473 deutsch und lateinisch bei Koberger. Meteorologie. Leonhard Reynmann schrieb das älteste meteorologische Werk in deutscher Sprache (gedruckt 1505). D. Dichtung Sammelhandschriften älterer Literatur. Mehrere in Nürnberg entstandene Sammelhandschriften markieren gleichsam das Ende der Überlieferungsgeschichte älterer literarischer Gattungen. Als späteste Minneliedsammlung gilt die ›Weimarer Lie17 Vgl. Sabine Heimann-Seelbach, Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert, Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 58), S. 93–96. 18 Vgl. Rainer Leng, Ars belli. Deutsche taktische und kriegstechnische Bilderhandschriften und Traktate im 15. und 16. Jahrhundert. 2. Bde., Wiesbaden 2002 (Imagines medii aevi 12 /1 und 2); Rainer Leng, Fecht- und Ringbücher, in: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Bd. 4 /2, hg. v. Norbert H. Ott u. a., München 2008 / 09.

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der-(Papier-)Handschrift F‹ (3. Viertel des 15. Jahrhunderts). Am Ende der handschriftlichen Überlieferung von Neidhartliedern steht die zugleich als wichtigster Zeuge für die Melodieüberlieferung von Neidhartliedern geltende NeidhartHandschrift c (Berlin Mgf 779, um 1460, im 16. Jahrhundert vermutlich im Besitz Lazarus Spenglers). 19 Zu den spätesten Sammelhandschriften mit älterer Heldendichtung gehören das ›Dresdener Heldenbuch‹ (1472; vgl. VL 3, 949) und das ›Heldenbuch des Lienhard Scheubel‹ (1480 /90; vgl. VL 3, 951; Scheubel wohnte in der Breiten Gasse nahe St. Lorenz); ob die unikal im ›Dresdener Heldenbuch‹ überlieferte Dichtung ›Das Meerwunder‹ über ihre Überlieferung hinaus nähere Beziehungen zu Nürnberg hat, ist unklar. Nicht in Nürnberg entstanden ist die hier wahrscheinlich hier in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts mit anderen Faszikeln zu einem Codex zusammengebundene lateinische ›Augsburger Cantionessammlung‹ (VL 10, 803); sie war somit in der Reichsstadt präsent. Patrizische Liederbücher. Aus Nürnberg stammen zwei der wichtigsten Sammlungen weltlicher Lieder des 15. Jahrhunderts, beide mit Noten versehen: das ›Lochamer-Liederbuch‹ (1451 / 53) und das ›Liederbuch des Hartmann Schedel‹ (1461–1467). 20 Weitere Werke und Autoren. Nicht in Nürnberg entstanden ist der ›Nürnberger Prosa-Äsop‹ (vor 1412), die älteste deutsche Prosaübersetzung äsopischer Fabeln; die Handschrift gehörte im 15. Jahrhundert dem Klarissenkloster. Johannes Vorster (gest. 1444, Stadtgerichtsschreiber) bearbeitete den ›Renner‹ Hugos von Trimberg; er schrieb außerdem die ›Vulgata‹ ab und versah sie mit texterschließenden Beigaben, ferner kopierte er das ›Summarium biblicum‹ des Alexander de Villa Dei. Die italienische Lehrdichtung ›Fiore di Virtú‹ (von Tommaso Gozzadini?) übersetzte der Patrizier Heinrich Schlüsselfelder (in Frage kommen zwei Träger des Namens, gest. entweder 1483 oder 1491) in deutsche Prosa (1468). Der kaiserliche Rat Melchior Pfinzing (1481–1535), ebenfalls Patrizier, betätigte sich als Mitautor des ›Theuerdank‹ (1517) Kaiser Maximilians I. Handwerkerdichtung. Als Autoren gereimter Texte begegnen in Nürnberg so gut wie ausschließlich Handwerker. Die wichtigsten literarischen Typen waren Meisterlieder, politische Ereignislieder, Spruchdichtung in Reimpaaren mit unterschiedlicher Thematik und von unterschiedlicher Länge (geistliche und weltliche, 19 Vgl. Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hg. v. Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz und Franz Viktor Spechtler, 3 Bde., Berlin/New York 2007. 20 Vgl. Martin Kirnbauer, Hartmann Schedel und sein ›Liederbuch‹. Studien zu einer spätmittelalterlichen Musikhandschrift (BSB München, Cgm 810) und ihrem Kontext, Bern 2001 (Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft II, 42).

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ernste, komische und scherzhafte Erzählungen, Politisches und Panegyrisches, Lehrhaftes u. a.), Fastnachtspiele. Herausragende, stilbildende Autoren waren Hans Rosenplüt (Schnepperer; um 1400–1460, seit 1426 Nürnberger Bürger), der ursprünglich Panzerhemdenmacher, später Rotschmied war und der Stadt als Büchsenmeister diente, ferner Hans Folz (aus Worms, um 1435 /40–1513, Nürnberger Bürger seit 1459) Wundarzt und Barbier, zeitweise (1479–1488) auch Drucker eigener Werke. Beide hinterließen ein umfangreiches Oeuvre. a. Meistergesang. 21 In Nürnberg gab es bereits im frühen 15. Jahrhundert Meistersinger, Handwerker, die die Kunst des Dichtens und des Vortrags kunstvoller, nach bestimmten Regeln gedichteter Liedern mit überwiegend geistlicher Thematik ausübten. Die älteste bekannte Meisterliederhandschrift (München Cgm 351) entstand in Nürnberg um 1425, weitere wichtige Quellen wurden hier seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts geschrieben (Weimar Q 566, München Cgm 6353, beide Handschriften sind autographe Sammlungen von Meisterliedern des Hans Folz; Berlin Mgq 414, 1517 /18 Schreiber: Hans Sachs, die wichtigste Sammlung des älteren Nürnberger Meistergesangs). Folgende Nürnberger Meistersinger sind aus der Zeit vom frühen 15. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts namentlich bekannt (Namen ohne nähere Erläuterung sind archivalisch bis jetzt nicht nachgewiesen): Albrecht Baumholz, Sixt Beckmesser, Hans Bogner (gest. vor 1485), Ulrich Eislinger (belegt 1469–1501, Barbier und Wundarzt), Hans Folz (s.o.), Peter Fridel (um 1490–1543, Schuhmacher), Frumon, Kunz Schneider (von Gostenhof), Merten Grim (belegt 1489 / 90), Grimon, Hans von Landshut (II), Fritz Kettner (belegt vermutlich 1392–1408), Augustin Moser (Hayweger; belegt 1487, Schlosser), Michel Nachtigall (belegt seit 1414, gest. 1427 / 33, Bäcker; Lieddichter, ob Meistersinger ?), Konrad Nachtigall (belegt seit 1436, gest. 1484 / 85, Bäcker), Lienhard Nunnenbeck (belegt 1514 / 15, Leineweber), Hermann Örtel (belegt 1459, Heftleinmacher), Kunz Vogelsang (belegt 1436–1447, Spengler), Fritz Zorn (belegt seit 1427, gest. 1482, Nagler).

Überliefert sind aus dieser Zeit etwa 150 namentlich gekennzeichnete Liedtexte, ferner mit Sicherheit eine größere Zahl anonym auf die Nachwelt gekommener Lieder, außerdem zahlreiche Töne, d. h. Strophenschemata, großenteils mit den Melodien, die mit Autornamen versehen sind. 22

21 Vgl. zum Meistergesang des 15. und frühen 16. Jahrhunderts in Nürnberg meine Darstellung bei Pfeiffer [Anm. 1], hier S. 203–206, ferner Irene Stahl, Die Meistersinger von Nürnberg. Archivalische Studien. Nürnberg 1982 (Nürnberger Werkstücke 33). 22 Vgl. Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. v. Horst Brunner und Burghart Wachinger, 16 Bde., Tübingen 1986–2009.

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b. Politische Ereignisdichtung in Liedern und Reimsprüchen. Texte dieser Art dienten der politischen Agitation, in erster Linie im Zusammenhang von Fehden und kriegerischen Ereignissen. Mehrere einschlägige Texte stammen von Hans Rosenplüt, 23 andere Autoren waren ein gewisser Viechtlein, dessen Schmähgedicht auf Markgraf Albrecht Achilles 1448 /49 allerdings nicht erhalten ist, der Färber Hans Kugler (gest. 1495), der ein Lied auf die Hinrichtung des Raubritters Schüttensam 1474 dichtete, Peter Hasenstaud (Lied auf die ›Kirchweih von Affalterbach‹ 1502), Hans Peck (Aufhebung zweier Raubschlösser 1502). Nicht wenige Texte sind anonym, vgl. ›Markgrafenkrieg‹ (VL 6, 66) und ›Kirchweih zu Affalterbach‹ (VL 11, 839). 24 Eine Reihe politischer Reimsprüche verfaßte der seit 1501 in Nürnberg ansässige Berufsdichter Hans Schneider (um 1450–um 1513 /14), der dem Herzog von Bayern und den Kaisern Friedrich III. und Maximilian I. als Herold diente. c. Reimsprüche. Die älteste erhaltene Reimdichtung aus Nürnberg ist ein aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts stammendes deutsches Vagantengedicht, als dessen Autor sich Johann von Nürnberg nennt. Von Rosenplüt stammen etwa 30 Reimsprüche unterschiedlicher Thematik (siehe oben), darunter Städtelobgedichte auf Nürnberg und Bamberg, 25 ferner über 100 kurze Reimpaargedichte (Priameln, d. h. kurze Gedichte mit pointiertem Schluß, Bier- und Weingrüße, Klopfansprüche, vgl. VL 4, 1222); Folz verfaßte 48 Reimsprüche, ebenfalls mit unterschiedlicher Thematik. Weitere Nürnberger Autoren waren die schon genannten Hans Kugler (außer dem bereits erwähnten Lied stammt von ihm ein Lügengedicht) und Hans Schneider (außer den politischen Ereignisdichtungen sind von ihm vier kurze Erzähldichtungen überliefert). Von Kunz Has (um 1460 – vor 1527), zuletzt kleiner städtischer Bediensteter, sind neun Reimsprüche, darunter ein ›Lobspruch auf Nürnberg‹ (1490), und zwei Lieder bekannt. Hensel Lebenter setzte sich um 1500 in drei Reimsprüchen mit dem Nürnberger Lochgefängnis auseinander, in dem er einige Zeit selbst eingesessen hatte. Der Briefmaler und Formschneider Jörg Glockendon (Bürger seit 1484, gest. 1514 /15) dichtete zwei Reimsprüche zu eigenen Einblattdrucken. Als Autor einer Scheltrede gegen 23 Vgl. Hans Rosenplüts Reimpaarsprüche und Lieder, hg. v. Jörn Reichel, Tübingen 1990 (Altdeutsche Textbibliothek 105). 24 Vgl. Sonja Kerth, Der landsfrid ist zerbrochen. Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1997 (Imagines medii aevi 1); Karina Kellermann, Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung, Tübingen 2000 (Hermaea 90). 25 Vgl. Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters, München 1986 (Münchener Texte und Untersuchungen 88); Hartmut Kugler, Stadt und Land im humanistischen Denken, Weinheim 1983.

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übermäßiges Trinken begegnet Ende des 15. Jahrhunderts Niklas Frauenpreis. Hans Meißner schuf, wohl Mitte des 15. Jahrhunderts, die Erzählung ›Die bestrafte Kaufmannsfrau‹. Ob sich hinter dem Namen Hans (?) Rosner (Rosener/Rößner), der als Autornamen dreier Reimpaarreden angegeben ist, ein eigenständiger Autor verbirgt oder ob damit Rosenplüt gemeint ist, gilt als unklar. Ohne Autornamen überliefert sind einige Texte des 15. Jahrhunderts, die mit einiger Sicherheit aus Nürnberg stammen: ›Ein alter Mann verweist dem Minner seine Untreue‹ (Fragment einer Minnerede), ›Anrufung der Minne‹ (Minnerede), ›Der Bildschnitzer von Würzburg‹ (Schwankmäre), ›Die drei Wäscherinnen‹ (Schwankmäre), ›Ritter Alexander‹ (Erzählung), ›Die Sag von Nürnberg‹ (bald nach 1424), ›Der wucherische Wechsel‹ (geträumter Dialog). d. Fastnachtspiele. Aus vorreformatorischer Zeit sind knapp über 100 Nürnberger Fastnachtspiele überliefert. Namentlich bekannte Autoren sind auf diesem Gebiet nur Rosenplüt und Folz. Durch Namensangabe in der Überlieferung für Rosenplüt gesichert ist zwar nur ein einziges Spiel, ›Des Künig von Engellant Hochzeit‹, doch dürften ihm aus der großen Zahl von weiteren 75 Stücken, die mehr oder weniger in seiner Art abgefaßt sind (vgl. VL 8, 211), weitere gehören. Folz verfaßte mindestens 12 Fastnachtspiele, weitere Spiele der Zeit um 1500 folgen seiner Manier: ›Das böse Weib‹, ›Domherr und Kupplerin‹, ›Die drei Brüder und das Erbe‹, ›Ehestreit‹, ›Der Freihart‹, ›Der Hasenkauf‹, ›Kaiser und Abt‹, ›Der töricht Tausch‹, ›Der Wallbruder‹, ›Zeugenaussagen‹, ›Die zwölf Pfaffenknechte‹. 26 Ohne nähere Beziehungen zu Rosenplüt und Folz sind das ›Nürnberger (Kleine) Neidhartspiel‹, ›Parisurteil I‹, ›Parisurteil II‹, ›Das salomonische Urteil‹, ›Vier Reden‹, ›Mißglückte Werbung‹, ›Das Ungetüm‹. E. Humanismus Dem Nürnberger Rat bzw. den Losungs- und Gerichtsschreibern widmete 1478 Wilhelm von Hirnkofen, gen. Rennewart, Berittener in Diensten der Stadt, Drucke zweier von ihm in Mußestunden hergestellter Übersetzungen, einen Weintraktat auf der Basis von Arnald von Villanova und Gottfried von Franken und eine deutsche Fassung von Enea Silvio Piccolominis Brieftraktat ›De miseriis curialium‹. Möglicherweise Endres III. Tucher (1453–1531) war Übersetzer einer Pseudo-Seneca-Schrift (Martin von Braga, ›De quattuor virtutibus cardinalibus‹) von 1481. 26 Im Unterschied zu den Fastnachtspielen in Rosenplüts Manier, die im VL in einem Artikel (Bd. 8, 211) zusammengefaßt sind, werden die Folz nahestehenden Spiele dort in einzelnen Artikeln gewürdigt.

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Unter anderem folgende humanistisch gebildete Autoren hielten sich in vorreformatorischer Zeit kürzer oder länger in Nürnberg auf: Alt, Georg (um 1450–1510); Bernhaubt, Pangratz, gen. Schwenter (1481–1555); Celtis, Konrad (1459–1508, in Nürnberg 1487, 1491, 1493 und öfter); Chelidonius, Benedikt (gest. 1521); Cochlaeus, Johannes (1479–1555; in Nürnberg 1510–1515); Cuno, Johannes (um 1463–1513); Danhauser, Peter (belegt ab 1479, gest. 1528); Euticus, Henricus (gest. 1507; ab etwa 1485 zeitweise als Arzt in Nürnberg); Grieninger, Heinrich (gest. 1511, ab 1496 Leiter der Poetenschule); Heimburg, Gregor (um 1400–1472); Pirckheimer, Hans (um 1415–1492); Pirckheimer, Johannes (um 1440–1501); Pirckheimer, Willibald (1470– 1530) 27 ; Regiomontanus, Johannes (1436–1476; ab 1471 in Nürnberg); Ruchauer, Jodocus (belegt 1485–1515); Schedel, Hartmann (1440–1514); Schedel, Hermann (1410–1485).

Literarische Texte unterschiedlichster Art durchdringen im topographisch und ständisch reich gegliederten Raum der großen Reichsstadt nördlich und südlich der Pegnitz nahezu alle Lebensbereiche. Geistliche Literatur in deutscher und lateinischer Sprache entsteht für unterschiedliche Bedürfnisse in den Klöstern und an den Kirchen, zu Erbauung, Trost und Belehrung erreicht sie auch die Laien. Geschlechter-, Gedenk-, Haushalts- und Wirtschaftsbücher dienen dem ›internen‹ praktischen Gebrauch, aber auch zur Behauptung des Besitzes und zur Standeslegitimation in den Patrizierfamilien; ihre Reiseerfahrungen geben Angehörige dieser Familien in Reise- und Pilgerberichten weiter. An ›schöner‹ Literatur finden sich in diesen Kreisen Lieder zum Zweck der geselligen Unterhaltung. Für den offiziellen Gebrauch durch den Rat entstehen die Legende des Stadtheiligen St. Sebald und umfangreiche chronikalische Aufzeichnungen. Nüchterne Sachliteratur wird für vom Rat eingesetzte Fachleute, aber auch für weitere Spezialisten unterschiedlicher Richtungen abgefaßt. Autoren deutscher Reimdichtung sind fast ausschließlich Handwerker, die sich in ihrer Freizeit mit literarischen Typen beschäftigen, die sich im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts herausgebildet hatten: ernster, fast ausschließlich religiöser Meistergesang zur Verwendung in öffentlichen Singschulen (an welchen Orten diese vor der Reformation stattgefunden haben, ist unbekannt); kurze oder mittellange Reimsprüche zu Belehrung und Unterhaltung oder in brauchtümlichem Zusammenhang, etwa dem des Neujahrsbeginns (Klopfansprüche), vorgetragen meist von einem Sprecher, jedoch auch handschriftlich, später auch gedruckt weitergegeben; Fastnachtspiele, gespielt von kleinen Schauspielertrupps in Wirtshaus- oder Privatstuben, als angemessener Ausdruck der vorfastnächtlichen Heiterkeit und Ausgelassenheit; schließlich politische Ereignisdichtung, um die öffentliche Meinung in dem vom Rat gewünsch27 Grundlegend: Niklas Holzberg, Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland, München 1981 (Humanistische Bibliothek I, 41).

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ten Sinn zu steuern. Seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts ist dann das stark pragmatisch orientierte Interesse der Oberschicht – deren Mitglieder nun vielfach studiert haben, meist in Italien – am Humanismus in seinen unterschiedlichen Facetten unverkennbar. 28 Zwei für die Literatur des Spätmittelalters als signifikant angesehene literarische Typen fehlen in Nürnberg: das große geistliche Spiel und der Prosaroman. Man kann davon ausgehen, daß das geistliche Spiel dem Rat unerwünscht war, weil die aufwendigen, bisweilen mehrtägigen Aufführungen die – potentiell nicht ungefährliche – Zusammenrottung großer Menschenmengen bedeutet hätte. Der deutsche Prosaroman war hingegen seit etwa 1470 eine Domäne der Augsburger, daneben der Straßburger Drucker. 29 In Nürnberg – einem der bedeutendsten Druckorte des Alten Reichs – wurden seit genau dieser Zeit das Druckwesen und der Vertrieb von dem Großdrucker Anton Koberger (1440 /45–1513) dominiert, »der alle örtliche Konkurrenz rasch aus dem Felde schlug.« 30 Kobergers Hauptprojekte waren die deutsche Bibel, das Stadtrechtsbuch Hans VI. Tuchers (›Nürnberger Reformation‹), ›Der Heiligen Leben‹, Fridolins ›Schatzbehalter‹, Schedels ›Weltchronik‹, Dürers ›Apokalypse‹. ›Belletristik‹ nach Art der Prosaromane lag offensichtlich nicht auf seiner vorwiegend utilitaristisch orientierten Linie; ob es dafür damals in der Stadt ein Publikum gegeben hätte, wäre zu fragen. Spätestens mit Hans Sachs (1494–1576) änderte sich das dann auf jeden Fall. 31

28 Eine knappe Übersicht über patrizische Privatbibliotheken findet sich bei Eva Pleticha, Adel und Buch. Studien zur Geisteswelt des fränkischen Adels am Beispiel seiner Bibliotheken vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Neustadt/Aisch 1983 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX, 33), S. 47–55; vgl. ferner Bettina Wagner, Nürnberger Büchersammler um 1500. Inkunabeln aus dem Besitz von Christoph Scheuerl und einigen seiner Zeitgenossen in Oxforder Bibliotheken, in: MVGN 82 (1995), S. 69–87. 29 Vgl. Joachim Knape, Augsburger Prosaroman-Drucke des 15. Jahrhunderts, in: Janota/Williams-Krapp [Anm. 5], S. 330–357. Vgl. auch Werner Williams-Krapp, Literatur in der Stadt: Nürnberg und Augsburg im 15. Jahrhundert, in: Medieval to Early Modern Culture, Bd. 2: Normative Zentrierung, hg. von Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra, Frankfurt u. a. 2003 (Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 2), S. 161–173. 30 Vgl. Pfeiffer [Anm. 1], S. 218–224, das Zitat S. 219. 31 Für kritische Lektüre des Manuskripts danke ich Johannes Janota und Johannes Rettelbach.

Miteinander – nebeneinander – gegeneinander Die vielen Facetten des Zusammenlebens im spanischen Mittelalter von Klaus Herbers, Erlangen

I. Granada – Eroberung und romantische Rückbesinnung Als die Könige Ferdinand und Isabella am Dreikönigstag 1492 triumphal in Granada einzogen, wurde das Te Deum in ganz Europa angestimmt. Die sogenannte Reconquista, die ›Rückeroberung‹ der Iberischen Halbinsel durch die christlichen Reiche war abgeschlossen, die Muslime wurden in der Folge zur Taufe oder zum Verlassen des Landes gezwungen, wie in einem Edikt von 1502 schließlich festgelegt wurde. Die Eroberung Granadas war ein mühsamer, über ein gutes Jahrzehnt erfochtener Sieg, der den Zeitgenossen wichtig erschien, weil nach dem Verlust von Konstantinopel 1453 die Türkengefahr vor allem im Osten Europas eine allgemeine antimuslimische Stimmung begünstigte. 1 Hieronymus Münzer, Humanist und Arzt aus Nürnberg, der einen Bericht über seine 1494 /1495 unternommene Reise durch Westeuropa hinterließ und der 1495 in Madrid von Ferdinand empfangen wurde, hat nach den eigenen Worten den König darum gebeten, nach diesen ehrenvollen Siegen auch noch Jerusalem zu erobern: »Der Kerker der Christen ist entzwei […]. Ich glaube, dass Euren Majestäten nichts fehlt, außer

1 Zur Eroberung Granadas vgl. generell Miguel Ángel Ladero Quesada, Las guerras de Granada en el siglo XV, Barcelona 2002; vgl. allgemein zum Hintergrund Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 282–288. Der hier Hartmut Kugler gewidmete Beitrag wurde erstmals in leicht abweichender Form im Juli 2008 in Eichstätt und im Februar 2009 in Bad Herrenalb vorgetragen. Einige der Unterkapitel wurden auch an anderer Stelle vorgetragen. Dies wird am jeweiligen Ort angegeben. Es geht mir mit diesem Beitrag darum, die weiteren Perspektiven dieser Überlegungen für Hartmut Kugler, den Motor des Erlanger Graduiertenkollegs »Kulturtransfer im Europäischen Mittelalter«, in alter Freundschaft und Verbundenheit zu entwickeln. – Für Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskriptes danke ich Frau Eva Djakowski und Dr. Gordon Blennemann (beide Erlangen).

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Euren Triumphen noch die Rückeroberung des Herrengrabes in Jerusalem hinzuzufügen«, so der Nürnberger Zeitgenosse (f. 199 v). 2 Bedeutete das Jahr 1492 aber nur das Ende einer Serie fortwährender Kämpfe und Konflikte, die schon bald nach der Eroberung Spaniens durch die Muslime 711 begonnen hatten? Oder schloß dieser Sieg nicht auch den Verzicht auf die Möglichkeiten von Austausch und gegenseitiger Befruchtung ein, die ein Zusammenleben verschiedener Religionen zuvor geboten hatte? 2 Vgl. hierzu ›Itinerarium sive peregrinatio excellentissimi viri artium ac utriusque medicine doctoris Hieronimi Monetarii de Feltkirchen civis Nçrembergensis‹ (im folgenden kurz ›Itinerarium‹). Das Zitat ist eine eigene Übersetzung des lateinischen Textes von Hieronymus Münzer, zu dem in einem Erlanger Projekt eine Neuausgabe samt Kommentierung für die MGH vorbereitet wird, die lateinischen Zitaten folgen dieser Edition nach der Handschrift der Münchener Staatsbibliothek Clm 431 mit Angabe des jeweiligen Folios. Der Text ist bisher nur teilweise und in unterschiedlicher Qualität verfügbar, vgl. die beiden bisher wichtigsten Transkriptionen bzw. (Teil-)Editionen: Ludwig Pfandl, Itinerarium Hispanicum Hieronymi Monetarii 1494–1495, in: Revue Hispanique 48 (1920), S. 1–179; Ernst Philipp Goldschmidt, Le voyage de Hieronimus Monetarius à travers la France, in: Humanisme et Renaissance 6 (1939), S. 55–75, 198–200, 324–348, 529–539. Mit einer Analyse der verschiedenen Nürnberger Kontaktfelder auf der Iberischen Halbinsel habe ich den Text des Hieronymus Münzer mit weiteren Literaturhinweisen in einer von Helmut Neuhaus veranstalteten Ringvorlesung vorgestellt: Klaus Herbers, »Murcia ist so groß wie Nürnberg« – Nürnberg und Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel: Eindrücke und Wechselbeziehungen, in: Nürnberg – europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Helmut Neuhaus, Neustadt an der Aisch 2000 (Nürnberger Forschungen 29), S. 151–183; ders., Die ›ganze‹ Hispania: der Nürnberger Hieronymus Münzer unterwegs – seine Ziele und Wahrnehmung auf der Iberischen Halbinsel (1494–1495), in: Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Rainer Babel und Werner Paravicini, Ostfildern 2005 (Beihefte der Francia 60), S. 293–308; René Hurtienne, Ein Gelehrter und sein Text. Zur Gesamtedition des Reiseberichts von Hieronymus Münzer, 1494 /95 (Clm 431), in: Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quellenedition; Berichte und Studien, hg. von Helmut Neuhaus, Erlangen, Jena 2009 (Erlanger Studien zur Geschichte 8), S. 255–272; ders., Venedig als Maßstab für einen Spanienreisenden? Wirtschaftsnachrichten von der Iberischen Halbinsel aus der Feder des Nürnbergers Hieronymus Münzer (1494 /95), in: Venezia incrocio di culture. Percezioni di viaggiatori europei e non europei a confronto. Atti del convegno Venezia, 26–27 gennaio 2006, hg. von Klaus Herbers und Felicitas Schmieder, Rom 2008, S. 183–200; vgl. dort wie in der künftigen Edition weitere Literaturhinweise. Allgemein zu Reisen des späten Mittelalters Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001, mit reicher Literatur. Eine eingehende begleitende Studie (mit verschiedenen Einzelbeiträgen) zur Reise des Hieronymus Münzer bleibt der angekündigten Neuausgabe vorbehalten. Zum aktuellen Stand vgl. die Bibliographie bei Klaus Herbers, Humanismus, Reise und Politik. Der Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer bei europäischen Herrschern am Ende des 15. Jahrhunderts, in: Studien zur politischen Kultur Alteuropas. FS Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag, hg. von Axel Gotthard, Andreas Jakob und Thomas Nicklas, Berlin 2009 (Historische Forschungen 91), S. 207–219.

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Spanien wurde nach 1492 ein religiös einheitlich geprägter Staat. Aber an Granada schieden sich die Geister, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der maurische Palast, die Alhambra, zum Symbol einer neuen Entdeckung Andalusiens und des muslimischen Spaniens wurde. Der spätere nordamerikanische Botschafter in Madrid, Washington Irving, nahm 1829 Quartier in den verlassenen und verfallenen Gemäuern der Alhambra, die inzwischen Bettlern und Haustieren als Obdach diente, und vermittelte seine Eindrücke der vergangenen maurischen Zeit vor allem in den bekannt gewordenen ›Erzählungen von der Alhambra‹, die 1832 erstmals erschienen: »Der besondere Reiz dieses alten, träumerischen Palastes liegt in der ihm innewohnenden Macht, träumen zu lassen und Bilder aus der Vergangenheit hervorzuzaubern, die die nackte Wirklichkeit hinter dem schönsten Schleier der Illusion verbergen und die Härte des Kampfes ums Dasein abschleifen […]«

und wenig später: »All die zarten Schnitzereien und Stuckarbeiten an den gewölbten Decken, so fein wie Eisblumen an Fensterscheiben, erfreuen uns heute noch nach Jahrhunderten und sind so frisch und schön, als kämen sie eben aus der Werkstätte des maurischen Künstlers.« 3

Solche Schwärmerei vereinte jedoch im 19. Jahrhundert vor allem Ausländer, nicht Spanier, wie die literarischen Verarbeitungen der Reisehandbücher eines Richard Ford (1845) oder von Victor Hugo (1843), Alexandre Dumas (1847) und Théophile Gautier erkennen lassen. In Deutschland fand dieser sogenannte Alhambraismus ein Echo bei Johann Gottfried Herder, August Wilhelm Schlegel, aber auch bei Ludwig Uhland, Clemens Brentano und Heinrich Heine. Die Deutung, in der Alhambra das Symbol einer glänzenden, untergegangenen Kultur zu sehen, kontrastiert mit Interpretationen, die das Ende der muslimischen Herrschaft in Spanien 1492 als den Beginn eines einheitlichen, katholischen Spanien interpretieren, wie dies seit den ersten Rückeroberungen angelegt gewesen sei. Einerseits Austausch und Befruchtung, andererseits Konfrontation und Abgrenzung: Diese entgegengesetzten Interpretationen der mittelalterlichen Geschichte Spaniens sind nicht neu, haben aber durch die gegenwärtigen Diskussionen über das Zusammenleben von Muslimen und Christen an Aktualität gewonnen, denn unter den Stichpunkten des Zusammenpralls der Kulturen (clash of civilisations) und des multi-kulturellen Zusammenlebens wird nach wie vor 3 Washington Irving, Erzählungen von der Alhambra, Granada o. J., S. 99; vgl. Raimund Allebrand, Alles unter der Sonne. Irrtümer und Wahrheiten über Spanien, mit einem Beitrag von Walther L. Bernecker, Bad Honnef 2000 (1. Aufl.), verbesserte, erw. und aktual. Neuaufl., Bad Honnef 2007, S. 19f., zitiert wird nach der Neuauflage.

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öffentlich in den Zeitungen diskutiert. Dabei wird auch immer wieder das historische Beispiel des mittelalterlichen Spanien bemüht. Wie aber ist das komplizierte Geflecht von Zusammenleben, von ›Convivencia‹, zu fassen? Zusammenleben konnte von offener Konfrontation über Anpassung, Zusammenarbeit bis zu gemeinsamem Handeln reichen. Welche Konzeptionen waren bestimmend, welche Konstellationen entscheidend? Wie lässt sich die ›Convivencia‹, wenn sie Bedeutung hatte, zeitlich und räumlich differenzieren? Welche Formen der Konfrontation dominierten? Wie wurden Kampfeshandlungen legitimiert? Nach der Vorstellung einiger neuerer Beiträge, die sich sowohl auf die Frage des Verhältnisses von Christentum und Islam als auch auf die spezifisch spanische Situation beziehen, werden einige Beispiele vom 9. bis zum 12. Jahrhundert diskutiert. II. Christentum und Islam: Wissenschaftliche und publizistische Diskussionsbeiträge a) Monotheismus und Gewalt Die These, dass Zusammenleben von religiösen Gruppen unter bestimmten Voraussetzungen eher zu gewalttätigen Konflikten führte, ließe sich vielleicht aus den Diskussionen um die Frage von Gewalt und Gewaltbereitschaft in den Monotheismen weiter konturieren. Schon seit einiger Zeit vertritt der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann die These, dass mit dem Alten Testament und dem Eingottglauben gleichzeitig Intoleranz und Gewalt gefördert worden seien. In den Werken ›Moses der Ägypter‹ (1988), ›Die Mosaische Unterscheidung‹ (2003) sowie vor allem in ›Monotheismus und die Sprache der Gewalt‹ (2006) 4 wird diese These weiter begründet. Das Hauptanliegen greift auf philosophische Diskussionen des 19. Jahrhunderts zurück und wird bis heute immer noch intensiv – auch in der Presse – diskutiert. Nach Assmann sei der Monotheismus exklusiv, die Mosaische Unterscheidung habe eine neue, problematische Revolution der Religionsgeschichte herbeigeführt. Demgegenüber eignete laut Assmann den Polytheismen der Charakter einer Übersetzbarkeit von Religion, weil Götter nach »Name, Gestalt und Funktion 4 Jan Assmann, Moses der Ägypter, München 1988; ders., Die Mosaische Unterscheidung, München, Wien 2003; ders., Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006. Eine gute Auseinandersetzung mit Assmanns Thesen aus theologischer Sicht bietet Hans-Christoph Schmitt, Mose, der Exodus und der Monotheismus. Ein Gespräch mit Jan Assmann, in: Monotheismus als religiöses und kulturelles Problem: Zwei Abschiedsvorlesungen der Erlanger theologischen Fakultät, hg. von Hans-Christoph Schmitt und Walter Sparn, Erlangen 2007, S. 7–28.

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[…] unterschieden« wurden. Die griechische Götterwelt konnte leicht in eine römische übersetzt werden. »Die Gottheiten waren international, weil sie kosmisch waren«. 5 Insofern bedeute die Mosaische Unterscheidung etwas radikal Neues, das den Polytheismus abwertete und – so Assmann – zugleich eine permanente Geschichte der Intoleranz begründete. Allerdings beschränkt sich dies – so die Kritik aus Erlangen von Hans-Christoph Schmitt – auf die Wirkungsgeschichte und betrifft nicht die Entstehungsgeschichte. 6 Ob die Thesen Assmanns an Spanien besonders gut erörtert werden können, ist zu prüfen. Vor allem in den Diskussionen nach der Regensburger Rede Papst Benedikts XVI. über Religion und Gewalt, Religion und Vernunft und über die jeweilige Stellung von Islam und Christentum in diesem Verhältnis wurde auch Spanien in Zeitungsartikeln immer wieder ins Blickfeld gerückt. Sie reichten von Stellungnahmen, die dem Islam eine inhärente Gewaltbereitschaft zuschrieben, bis zu Überlegungen, dass die Unterwerfung großer Teile Spaniens unter islamische Herrschaft nach 711 eher als ein missionsgeschichtlicher Akt bzw. eine Konversionsgeschichte der zuvor unter westgotischer Herrschaft lebenden Bevölkerung zum Islam bedeutet habe. Dabei wird die Gewaltbereitschaft öfter dem Islam zugeschrieben, vor allem vor dem Hintergrund, dass der Zusammenhang von Religion, Politik und gewaltsamer Ausbreitung – anders als im Christentum – schon seit den Anfängen der muslimischen Expansion beobachtet werden kann. b) Der ›Charakter Spaniens‹ und der Anteil arabisch-muslimischer Einflüsse Weniger Fragen der Gewalt als eine Bestimmung von Austausch und Kontinuität charakterisierte den zweiten Diskurs. »Spain is different«, mit diesem fast geflügelten Wort des nordamerikanischen Autors James Michener aus dessen Buch ›Iberia‹ 7 ist seit den 1960er Jahren vielfach Politik und Werbung betrieben worden. 8 Worin lag aber das Besondere? Es wurde keinesfalls immer in dem im westlichen Europa einzigartigen Zusammenleben von Angehörigen der drei großen monotheistischen Religionen gesehen, sondern auch in der sehr differenzierten Entwicklungsgeschichte der Iberischen Halbinsel. Im Anschluss an den spanischen 5

Assmann, Moses [Anm. 4], S. 19; vgl. Schmitt [Anm. 4], S. 9. Schmitt [Anm. 4], S. 10. 7 Vgl. James A. Michener, Iberia: Spanish travels and reflections, 2. Aufl. New York 1968; dt. Iberia: Reisen und Gedanken, Darmstadt 1969 (mehrere Neuauflagen), vgl. zu diesem und anderen Klischees auch Raimund Allebrand [Anm. 3], bes. S. 27–40. 8 Klaus Herbers, Das kommt mir spanisch vor, in: »Das kommt mir spanisch vor« – Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. von Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, Münster 2004 (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt. Band 1), S. 1–30, bes. S. 1f. mit Anm. 2 und 3. 6

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Bürgerkrieg von 1936–1939 erreichten die Diskussionen einen ersten Höhepunkt. Der 1936 ins Exil gegangene spanische Historiker Claudio Sánchez Albornoz († 1984) sah kaum einen entscheidenden Einfluss der Araber und Muslime auf die Entwicklung Spaniens. So unterstrich er mit seinem 1956 erschienenen zweibändigen Werk: ›España, un enigma histórico‹ (»Spanien, ein geschichtliches Rätsel«) eher langfristige Kontinuitäten, denn Iberer, Römer und Westgoten hätten deutlich Anteil an dieser spanischen Geschichte. Es gebe kontinuierliche Elemente des Homo hispanus seit der Antike, die der Verfasser nach der weitgehenden Eroberung der Iberischen Halbinsel durch die Muslime 711 vor allem dem kleinen christlichen Reich Asturien im Norden zuschrieb. Als die Möglichkeit zu einem Austausch mit Arabern für größere Bevölkerungsschichten bestanden habe, vor allem seit dem 11. Jahrhundert, habe ein massiver zentral- und westeuropäischer Einfluss auf der Iberischen Halbinsel diesen nicht recht zum Zuge kommen lassen. 9 Dieses Buch antwortete auf Thesen eines weiteren Exilspaniers, Américo Castro († 1972), der vor allem Christen, Muslime und Juden als prägende Gruppen der spanischen Geschichte hervorgehoben hatte. Für ihn waren Iberer, Römer oder Westgoten noch keine Spanier, sondern Spanien und das spanische Volk seien vor allem vom 8.–15. Jahrhundert durch das Zusammenleben und Zusammenwirken von Christen, Juden und Muslimen geprägt worden. Ablesbar sei dies an technischen Errungenschaften wie dem Papiergebrauch oder an geistigen Hervorbringungen und besonders an der Sprache. 10 Castros Argumentation ist eher geistesgeschichtlich-philologisch geprägt, während Sánchez Albornoz stärker historische und verfassungshistorische Quellen heranzieht. Der Tendenz Castros und seiner Anhänger, das Zusammenleben der Angehörigen der drei Buchreligionen hervorzuheben, steht mithin die These entgegen, nach Römern, Westgoten und anderen seien vor allem in Asturien und Kastilien die Keimzellen des späteren Spanien zu suchen. Beide Erklärungsversuche sind immer wieder diskutiert worden, ohne abschließendes Ergebnis, und könnten auf sich beruhen, wären nicht diese Diskussionen angesichts aktueller Ereignisse auch in Spanien neu aufgegriffen worden, 9

Claudio Sánchez Albornoz, España, un enigma histórico, Barcelona 1956. Américo Castro, España en su historia: christianos, moros y judíos, 1. Auflage Barcelona 1938, Nachdruck Barcelona 2003; deutsch unter dem Titel: Spanien, Vision und Wirklichkeit, Köln u. a. 1957. Zum Streit zwischen Sánchez Albornoz und Castro gibt es inzwischen eine breite Literatur, vgl. hierzu zum Beispiel Walter L. Bernecker, Die Vertreibung der Juden aus Spanien – Zur Diskussion über das ›Dekadenz-Syndrom‹, in: Spanien und die Sepharden. Geschichte, Kultur, Literatur, hg. von Norbert Rehrmann und Andreas Koechert, Tübingen 1999, S. 27–42, oder Herbers, Geschichte Spaniens [Anm. 1], S. 12–15. 10

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vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung des muslimischen Extremismus, den man zuweilen sogar in den Zusammenhang eines clash of civilisations stellt. Mit Blick auf die spanische Vergangenheit hat der Schriftsteller Juan Goytisolo inzwischen behauptet, nicht die arabisch-muslimische Conquista seit 711, sondern die christliche Reconquista während des Mittelalters sei das Grundübel der spanischen Geschichte. Dem trat jüngst Serafín Fanjul indirekt entgegen, indem er die Geschichte von Al-Andalus mit seinen politischen und kulturellen Hervorbringungen als einen Mythos entlarven wollte. 11 c) Arabisches Wissen durch Transfer? Gouguenheim und die ›political correctness‹ Von einer weiteren Seite, und damit greife ich ein drittes Diskussionsfeld auf, könnte aber die These des fruchtbaren Austausches in Frage gestellt werden, wenn man in die jüngeren Artikel der französischen Presse sieht. Im Jahr 2008 entbrannte dort eine erregte Diskussion um ein Buch. Ein Historiker von der École normale supérieure von Lyon, Sylvain Gouguenheim, erregte die Gemüter mit einer Monographie, die in den renommierten Editions du Seuil erschien unter dem Titel: ›Aristote au Mont St-Michel‹ 12 . Zahlreiche Zeitungsnotizen erschienen; Le Monde und Le Figaro signalisierten Zustimmung. Die Debatte erreichte auch die deutsche Presse, und deshalb mag sie hier als weiterer Einstieg dienen. Was ist die Hauptthese von Gouguenheim ? Nach seiner Meinung wurde lange Zeit – völlig überzogen – eher aus Gründen politischer Korrektheit davon ausgegangen, dass über die Araber griechisch-antikes Wissen sowie weiteres Know-how in den lateinischen Westen gekommen sei. Dies sei aber keineswegs der Fall, denn als man in Spanien begonnen habe, antike Werke aus dem Arabischen ins Lateinische zu übertragen, sei der Rezeptionsprozess griechischer Werke im Westen längst angesprungen gewesen, denn die Beziehung zu Byzanz sei nie abgerissen. Dag Nikolaus Hasse hat den zustimmenden Äußerungen in Frankreich und dem Autor selbst in einem Zeitungsartikel der FAZ vom 19. Juni 2008 widersprochen.

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Vgl. zu diesen neuen Interpretationen z. B. Werner Altmann, Die beiden Spanien. Eine historische Debatte geht weiter, in: Terror oder Toleranz. Spanien und der Islam, hg. von Raimund Allebrand, Bad Honnef 2004, S. 181–194 mit den entsprechenden bibliographischen Angaben. 12 Sylvain Gouguenheim, Aristote au Mont-St-Michel: les racines grecques de l’Europe chrétienne, Paris 2008.

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III. Christen unter muslimischer Herrschaft: Verrat, Anpassung oder Kollaboration? Was sagen jedoch einzelne Befunde zur spanischen Geschichte aus? Zum ersten Fallbeispiel: Es wird schon seit langem diskutiert, warum die Muslime 711 relativ schnell große Teile der bisher von Westgotenkönigen beherrschten Iberischen Halbinsel militärisch unterwerfen konnten. Basierte dies nur auf der Anwendung von Gewalt und militärischer Überlegenheit? Gab es gar Verrat oder Kollaboration? Deutlich wird zumindest, dass die Araber auf der Iberischen Halbinsel ähnlich wie bei ihren Feldzügen im Osten eine recht flexible Eroberungstaktik anwandten, die auf die bestehenden Kräfteverhältnisse Rücksicht nahm. Manche einflussreiche Familien erhielten teilweise sogar eigene Herrschaften und mussten nur die arabische Oberhoheit anerkennen. Ein Beispiel für diese Einbindung bietet der Westgote Teudemir, der über umfangreiche Gebiete als dux in der Cartaginensis, dem heutigen Gebiet um Murcia, gebot. Zu seiner Stellung ist ein Vertrag aus dem Jahre 713 (April) überliefert, der bereits früher praktizierte Verfahrensweisen der islamischen Expansion aufgriff. Teudemir sollte demnach den Patronat Allahs anerkennen und gewisse Abgaben leisten, aber in seiner Herrschaft unangetastet bleiben. Tudm§r (das ist etwa die heutige Provinz Murcia) hieß die nach diesem König Tudm§r (Teudemir) benannte Provinz des Andalus. Der Friedensvertrag, den ‘Abd al-‘Az§z b. Mu¯sa¯ b. Nus. air mit Teudemir schloss, hat folgenden Wortlaut: 13 »Im Namen Gottes des Erbarmers des Barmherzigen! Brief von ‘Abd al-‘Az §z b. Mu¯sa¯ b. Nus. air an Tudm§r (Teudemir) b. ‘Abdu¯š: Er (Teudemir) akzeptiert den Friedensvertrag, Gottes Pakt und Schutzbrief und seines Propheten Schutzbrief folgenden Inhaltes: Weder für ihn noch für einen seiner Leute werden Änderungen (seines jetzigen Status) zu seinen Gunsten oder Ungunsten verfügt. (2) Er wird nicht enteignet. (3) Sie (er und seine Leute) werden weder getötet noch versklavt, noch von ihren Frauen und Kindern getrennt, noch wegen ihrer Religion behelligt. (4) Ihre Kirchen werden nicht verbrannt, Devotionalien nicht daraus geraubt. Das gilt, solange er sich an unsere Vereinbarungen hält. Er genießt den Vertragsschutz: Gegen Überlassung von sieben Städten: Orihuela (Uriju¯la), Baltana (Baltana), Alicante (Laqant), Mula (Mu¯la), Villena (Bala¯na), Lorca (Auraqa) und Ello (Alluh). (2) Er darf keinen Flüchtling von uns aufnehmen, er darf keinen Gegner von uns 13 Wilhelm Hoenerbach, Islamische Geschichte Spaniens: Übersetzung der A‘ma ¯l al-A‘la¯m und ergänzender Texte, Zürich, Stuttgart 1970 (Die Bibliothek des Morgenlandes), S. 54f. und S. 521 Anm. 11; abgedruckt auch bei Herbers, Geschichte Spaniens [Anm. 1], S. 79f.

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aufnehmen, er darf keinen Schützling von uns bedrohen. (3) Er darf keine Feindnachricht, die ihm zur Kenntnis gelangt, verheimlichen. (4) Er und seine Leute müssen alljährlich (folgende Abgaben) entrichten: [...].«

Insgesamt wird – auch in diesem Vertrag – das Ziel erkennbar, dass die Muslime zunächst feste, sichere Stützpunkte gewinnen wollten. Teilweise dürften die arabischen Eroberer von bisher schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen des Westgotenreiches vielleicht sogar freundlich begrüßt worden sein; Übertritte und Zusammenarbeit sind nicht nur im Gebiet von Murcia, sondern auch im oberen Ebrogebiet nachzuweisen. Woanders konnten die Muslime jedoch auch in bereits stärker entvölkerte Räume vordringen, wie das Beispiel Toledo verdeutlicht. Trotzdem blieb die erste Eroberungsphase nicht ohne Probleme. Musa nahm zum Beispiel Carmona und Sevilla erst nach einigen Schwierigkeiten ein, in Mérida war sogar eine längere Belagerung notwendig. Der Ort diente offensichtlich als eine Art Fluchtburg für den westgotischen Adel. In den folgenden Jahren, zwischen 714–716, wurden weitere Städte wie Sigüenza, Calatayud, Zaragoza, León, Astorga und Lugo, im Nordosten Pamplona, Tarragona, Barcelona, Girona und Narbonne eingenommen. Religiöse Spannungen scheint es mit Angehörigen der monotheistischen Religionen seltener gegeben zu haben, denn man ließ deren Anhängern grundsätzlich ihren Glauben. Jedoch gab es wirtschaftliche Gründe, den Glauben zu wechseln, denn Andersgläubige mussten eine besondere Steuer bezahlen, die bei Konversion entfiel. Dieses sogenannte dhimma-System führte zu einer stattlichen Anzahl von Übertritten. Die zum Islam konvertierten Christen bezeichnet man in der Regel als muwalladu¯n oder Muladíes, während die christlich gebliebenen Bewohner von al-Andalus Mozaraber genannt wurden. Sie bewahrten zwar ihren Glauben, konnten sich aber einer allgemeinen Arabisierung (musta‘rib) nicht entziehen. 14 IV. Die Märtyrer von Córdoba: Religiöser Druck, Widerstand oder Fanatismus? Zu meinem zweiten Beispiel. Das entstehende Emirat bzw. später das Kalifat von Córdoba musste große Integrationsanstrengungen unternehmen. Es war nicht nur durch ein Zusammenleben von Anhängern der drei monotheistischen Religionen gekennzeichnet, sondern auch durch Personen verschiedener Herkunft: Zu den 14

Ich belasse es hier bei dieser vorläufigen Charakterisierung; die ersten Ergebnisse zu einem größeren Erlanger Mozaraberprojekt innerhalb des SPP 1173 »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter« finden sich in einem Sammelband: Die Mozaraber – Definitionen und Perspektiven der Forschung, hg. von Matthias Maser und Klaus Herbers, Münster 2011 (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 7).

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Romanen und Goten früherer Zeiten kamen neben Berbern, Arabern und Syrern auch schwarze Bevölkerungsgruppen sowie Slawen als Sklaven. In Bezug auf religiöse Fragen wäre es interessant zu verfolgen, wie neue theologische Positionen vor allem von mozarabischen Christen im Adoptianismusstreit zu Ende des 8. Jahrhunderts bezogen wurden. Ohne mich hier auf theologische Fragen einlassen zu wollen, wird deutlich, wie sehr diese Lehre, nach der Jesus von Gottvater adoptiert worden sei, vielleicht als Kompromissangebot einiger Toledaner Christen an einen streng monotheistischen Islam formuliert wurde, was freilich auf einem Konzil in Frankfurt 794 von karolingischen Theologen und später in Rom abgelehnt wurde. 15 Neben solchen Kompromissversuchen war aber auch Widerstand erkennbar. Unter dem Emir Abd ar-Rahman II. (822–852) setzte im muslimisch dominierten Spanien eine verstärkte Arabisierung und Islamisierung der Bevölkerung ein. 16 Aufgrund eines gewissen Anpassungsdruckes, aber auch wegen der Schwierigkeiten, den angemessenen Platz in dieser muslimisch dominierten Gesellschaft zu finden, kam es zur Bewegung der sogenannten freiwilligen Märtyrer von Córdoba, etwa 50 Personen, die in der Mitte des 9. Jahrhunderts, zwischen 850 und 859, von Muslimen getötet wurden. Über sie wissen wir in erster Linie aus einem 15

Zum Adoptianismusstreit und zur oben vorgetragenen Interpretation vgl. die Thesen von Juan Francisco Rivera Recio, La iglesia mozárabe, in: Historia de la Iglesia en España II-1: La Iglesia en la España de los siglos VIII al XIV, hg. von Javier Fernández Conde, Madrid 1982 (Biblioteca de Autores Cristianos Maior 17), S. 22–60, hier S. 39. Vgl. allgemein zum Adoptianismus Knut Schäferdieck, Der adoptianische Streit im Rahmen des spanischen Kirchengeschichte, zuletzt in: ders., Schwellenzeit. Beiträge zur Geschichte des Christentums in Spätantike und Frühmittelalter, hg. von Winrich A. Löhr und Hanns Christof Brennecke, Berlin, New York 1996 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 64), S. 381–416 (Originalpublikation von 1969 /70); zum Frankfurter Konzil vgl. André Bonnery, A propos du concile de Francfort (794). L’action des moines de Septimanie dans la lutte contre l’adoptianisme, in: Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, 1–2, hg. von Rainer Berndt, Mainz 1997, Bd. 2 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 60, 1–2), S. 767–786, bes. S. 773–779; John C. Cavadini, Elipandus and his Critics at the Council of Frankfort, in: ebd. S. 787–807 und Theresia Hainthaler, Von Toledo nach Frankfurt. Dogmengeschichtliche Untersuchungen zur adoptianischen Kontroverse, in: ebd. S. 809–860 (auch mit eingehender Sichtung der einschlägigen Quellen) sowie die weiteren Beiträge in diesem Sammelband; Alexander P. Bronisch, Asturien und das Frankenreich zur Zeit Karls des Großen, in: Historisches Jahrbuch 119 (1999), S. 1–40, hier S. 8–24. 16 Vgl. als allgemeinen Überblick: Hans-Rudolf Singer, Der Maghreb und die Pyrenäenhalbinsel bis zum Ausgang des Mittelalters, in: Geschichte der arabischen Welt, hg. von Ulrich Haarmann, 3. Aufl. München 1994, S. 264–322 und S. 675–682; zur Orientalisierung im 9. Jh. vgl. S. 277–279; Pierre Guichard, De la expansión árabe a la Reconquista. Esplendor y fragilidad de al-Andalus, Granada 2000, S. 63–65.

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Quellencorpus 17 , das ihre Wortführer, vor allem Eulogius und Álvarus, aufgezeichnet haben. 18 Einer der ersten sogenannten Märtyrer hatte den programmatischen Namen Perfectus. Er war ein Priester aus Córdoba, der in ein Gespräch über Christus und Mohammed verwickelt wurde. 19 Perfectus soll die Brisanz der Situation in Córdoba insofern erkannt haben, als er auf die Frage nach seiner Ansicht zum Propheten diplomatisch mit einem Bibelzitat über wahre und falsche Propheten (Mt 24,24) geantwortet habe. Trotzdem wurde er wenig später vor den Richter gestellt und am Fest des Fastenbrechens, am 18. April 850, öffentlich hingerichtet. Die Situation spitzte sich zu. Nicht nur Priester, auch Mönche und Laien, erfolgreiche Kaufleute und andere gehörten bald zu den freiwilligen Opfern, von denen manche selbst vor den Richter traten, den Namen des Propheten schmähten und dann getötet wurden. Die so geschaffenen Märtyrer lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Einerseits handelt es sich um Personen aus muslimisch-christlichen Mischehen, bei denen die Hinwendung der Nachkommen zum Christentum als 17 Vgl. Wilhelm Wattenbach und Wilhelm Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger. III. Heft: Die Karolinger vom Tode Karls des Großen bis zum Vertrag von Verdun (bearb. von Heinz Löwe), Weimar 1957, S. 363–365, am handlichsten bei Iohannes Gil, Corpus Scriptorum Muzarabicorum, 2 Bände, Madrid 1973 (Manuales y Anejos de ›Ermita‹ 28), zu benutzen. Im folgenden Abschnitt orientiere ich mich an meinem Beitrag: Patriotische Heilige in Spanien vom 8.–10. Jahrhundert, in: Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne, hg. von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers und Gabriela Signori, Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie 5), S. 67–85, hier S. 70–76; vgl. dort zu weiterem Schrifttum. 18 Von Álvarus sind einige Briefe seiner Korrespondenz zwischen 840 und 860 /61 erhalten, dazu treten ein antiislamischer Traktat (Indiculus luminosus, 854 geschrieben), die Vita Eulogii, die nach dem Tod des Eulogius (859) verfasst wurde, sowie einige kleinere Schriften, hg. von Gil [Anm. 17], Bd. I, S. 144–361. Von Eulogius besitzen wir einige Briefe und drei theoretische Werke. Zunächst das Memoriale sanctorum (851 geschrieben und 856 ergänzt [III. Buch]), in dem die Legitimität der Märtyrer verteidigt wird, das Documentum martyriale, im Gefängnis geschrieben, und schließlich ein drittes Werk (Apologeticus martyrum), das nach 857 aufgezeichnet wurde (ebd. Bd. II, S. 363–503). Zum Werk insgesamt vgl. Franz Richard Franke, Die freiwilligen Märtyrer von Cordova und das Verhältnis der Mozaraber zum Islam (nach den Schriften von Speraindeo, Eulogius und Alvar), Münster 1958 (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Erste Reihe. Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens 13), S. 1–170, und Patrick Henriet, Sainteté martyriale et communauté de salut. Une lecture du dossier des martyrs de Cordoue (milieu IX e siècle), in: Guerriers et moines. Conversion et sainteté aristocratique dans l’Occident médiéval, hg. von Michel Lauwers, Antibes 2002 (Collection d’Études Médiévales de Nice 4), S. 93–139 (mit weiteren Literaturangaben). 19 Eulogius, Memoriale sanctorum 2 1, S. 1–5, hg. von Gil [Anm. 17], Bd. II, S. 397– 401; vgl. Álvarus, Indiculus, c. 3, ebd. Bd. I, S. 275–277.

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Apostasie galt. Andererseits waren es Christen, die eher aus Überzeugung den Namen Mohammeds schmähten und die nach ihrer Inhaftierung die Möglichkeit des Widerrufs nicht nutzten. So gab es bald christliche Märtyrer, die von ihren Glaubensbrüdern und -schwestern aber nicht immer geschätzt, sondern häufig sogar abgelehnt wurden. Besonders einige Kirchenmänner hatten sich in arabisch-berberische Strukturen integriert; sie erblickten in den christlichen Fanatikern eher Problemfälle, behinderten diese doch inzwischen eingespielte Formen des Zusammenlebens. So wurden die Märtyrer 852 auf einer vom Emir einberufenen Synode, bei der Erzbischof Reccafred von Sevilla tonangebend gewesen sein dürfte, verdammt und ihre Verhaltensweisen für die Zukunft verboten. 20 Aus dieser kritischen Position verschiedener Mozaraber ergab sich aber die zentrale Frage, ob man Märtyrer werden kann, wenn man dies bewusst provoziert. Dies hatten die Kirchväter zumeist kritisch beurteilt. Dem setzten die Schriften der Wortführer für ein ›Martyrium‹ entgegen, dass die betroffenen Personen sich in ihrem Glaubensleben behindert fühlten. Die Argumentationsweise und Rechtfertigung deutet dabei auf eine breitere vorangegangene Diskussion und Kritik. Mit Rückgriff auf Gregor den Großen erläutert Eulogius, dass die bei den Cordobeser Märtyrern fehlenden Wunder für Märtyrer und Heilige keinesfalls konstitutiv seien. So könnten sogar am Ende der Zeiten Wunder fehlen. 21 Der Urgrund aller Zeichen und ein Symbol des Sieges sei der Glaube der Gerechten. Der apologetische Ton der Schriften lässt aber erkennen, dass die Problematik noch nicht zu Ende diskutiert war. Wurden hier, wie bemerkt worden ist, Martyrien ohne Wunder, ohne Heiden und ohne Verfolgung verteidigt? 22 Ein Brief des Eulogius an den im kleinen christlichen Pyrenäenreich lebenden Bischof Wilisendus von Pamplona lässt aber etwas weiteres dieser Bewegung erkennen. 23 Eulogius berichtet hier von einer Reise seiner Brüder Álvarus und Isidor ins Reich Ludwigs des Deutschen und über seinen eigenen Besuch in Pamplona und in einigen Pyrenäenklöstern, wo er das geistige Leben der Mönche bewundert habe. Er erzählt von Handschriften, die er kopierte, lateinischen Texten, die er schon lange gesucht hatte, darunter auch eine lateinische Vita des Propheten Mohammed. 20 Vgl. den Bericht in Eulogius, Memoriale sanctorum 2, S. 15, hg. von Gil [Anm. 17], Bd. II, S. 434ff. 21 Eulogius, Memoriale sanctorum 1, S. 13–16, hg. von Gil [Anm. 17], Bd. II, bes. S. 379–381. 22 Kenneth Baxter Wolf, Christian Martyrs in Muslim Spain. Cambridge 1988, S. 77–104¸ vgl. Henriet [Anm. 18], S. 115–118 und S. 131, der Bezugslinien zur Spätantike und zu späteren protestantischen Traditionen zieht. 23 Gil [Anm. 17], Bd. II, S. 497–500, Kap. 1–8.

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Waren also die in den Schriften deutlichen Begründungen des Märtyrertums eher theologisch-intellektuell und auf Diskussionen der Spätantike bezogen, so macht vor allem dieser Brief deutlich, dass Eulogius und seine Mitstreiter nicht nur zu religiös unterdrückten Personen gehörten, sondern zu einer Gruppe, die sich zugleich gegen einen kulturell und sprachlich fortschreitenden Assimilationsprozess im Zentrum des Emirates, in Córdoba, zur Wehr setzte und mit einem – so jedenfalls die Perspektive der Quellen – letzten Kraftakt nochmals eine lateinisch bestimmte Kultur der Spätantike und der Westgotenzeit wiederbeleben wollte. Klagen über den Niedergang lateinischer Sprache und Dichtung sowie die gleichzeitige Beschimpfung des Propheten und des Islam finden nämlich in dem hier nur kurz vorgestellten Werk über die Märtyrer zusammen. V. Muslime und andere Gruppen unter christlicher Herrschaft Waren mit den ersten beiden Beispielen Situationen charakterisiert, die in die erste Phase bei der Formierung eines muslimisch bestimmten Einheitsstaates als Emirat, später als Kalifat gehören, so ergaben sich in den Konfrontationen des 11. und 12. Jahrhunderts neue Konstellationen und Gemengelagen. Nach dem Zerfall des Kalifates 1031 /1035 erstarkten die christlichen Reiche des Nordens und trotzten den Muslimen wieder große Gebiete ab, so dass diese Zeit als die für die Christen wohl erfolgreichste Epoche der Wiedereroberung, der Reconquista, gelten kann. Nun kehrte sich die Situation teilweise sogar um: Lebten bis ins 9. Jahrhundert größere christliche und jüdische Gruppen unter muslimischer Herrschaft, so gab es in den expandierenden christlichen Reichen inzwischen vielfach mehr oder weniger große muslimische und jüdische Bevölkerungsanteile. Hießen die unter muslimischer Herrschaft lebenden Christen Mozaraber, so bezeichnete man die nun unter christlicher Herrschaft lebenden Muslime Mudéjares. Vielfach waren Christen unter muslimischer Herrschaft weiter arabisiert worden – wir kennen einen ins Arabische übertragenen Psalter, eine kirchliche Rechtssammlung in arabischer Schrift sowie weitere Hinweise darauf, dass diesen Christen vor allem das Lateinische verloren ging. Teilweise trugen sie sogar arabische Namen und ließen ihre Urkunden noch bis ins 13. Jahrhundert hinein in Arabisch ausstellen. Das enorme Material von mehr als 4000 arabischen Urkunden aus Toledo ist ein einmaliger Schatz, der deutlich macht, wie sehr man sich hüten muss, Arabisierung und Islamisierung gleichzusetzen. 24 24 Vgl. hierzu Diego Adrián Olstein, La era mozárabe: los mozárabes de Toledo (siglo XII y XIII) en la historiografía, las fuentes y la historia, Salamanca 2006, vgl. vor allem die Tabellen und Schaubilder auf S. 55f.: das Toledaner Quellenmaterial wird momentan von Christian Saßenscheidt in Erlangen einer genaueren Sichtung unterzogen.

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In den neuen christlichen Herrschaften lebten auch oft weiterhin Muslime. Gerade in der Krone Aragón, besonders in Valencia und am Ebro, machte diese Gruppe teilweise den größten Anteil der Gesamtbevölkerung aus, besaß oder schuf sich eigene Institutionen, so dass hier – mehr noch als bei den Mozarabern unter muslimischer Herrschaft – sogar der moderne Ausdruck ›Parallelgesellschaft‹ geeignet sein mag. Brian A. Catlos hat in diesem Zusammenhang jüngst in einer vielleicht etwas problematischen Begrifflichkeit von einer sukzessiv stattfindenden »Ethnogenese der Mudéjares« gesprochen. Entscheidend ist aber hier auch der Unterschied zwischen Stadt und Land. Vor allem auf dem Land blieben Dörfer teilweise vollständig homogene muslimische Siedlungen, die auf lokaler Ebene eigenständige administrative und juristische Befugnisse wahrnahmen, nur für übergeordnete Fragen griff die königliche Gerichtsbarkeit. 25 VI. Gemeinsames Ringen um das geistige Erbe der Antike? In dem 1085 von Alfons VI. eroberten Toledo lassen sich aber nicht nur Aspekte des Zusammenlebens unter administrativen Aspekten fassen, sondern auch andere Tendenzen hervorheben. Hier, aber auch in einigen anderen Städten, ergab sich eine neue Konstellation. Da die Mozaraber ebenso wie die Juden unter christlicher Herrschaft eine gewisse Eigenständigkeit behielten, konnte diese Gemengelage zu einem fruchtbaren Austausch auch in wissenschaftlich-kultureller Hinsicht führen, denn über syrische Übersetzer waren zahlreiche Werke der Antike auch in den muslimisch-iberischen Raum gelangt. 26 Diese Wissensbestände wollte man lange Zeit nicht an Christen preisgeben, wie eine Notiz aus einer Sevillaner Quelle (Ibn Abdun) um 1100 deutlich macht: Demnach solle, so der muslimische Autor, weder Juden noch Christen ein Buch verkauft werden, weil diese die Texte übersetzten und oft sogar als eigene Schriften ausgäben. 27 Dies verdeutlicht, wie sehr die Bücher sogar in dem noch muslimisch dominierten Sevilla von Christen 25 Brian A. Catlos, The Victors and the Vanquished. Christians and Muslims of Catalonia and Aragon, 1050–1300, Cambridge 2004, bes. part II, hier S. 213–260, vgl. die Karten S. 210 und 211. Vgl. demnächst auch Integration – Segregation – Vertreibung. Minderheiten und Randgruppen auf der Iberischen Halbinsel (6.–17. Jh.), hg von Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, im Druck (erscheint in der Reihe Geschichte und Kultur der Iberischen Welt). 26 Vgl. zusammenfassend – auch zum Forschungsstand hierzu: Matthias Maser, Die ›Historia Arabum‹ des Rodrigo Jiménez de Rada: Arabische Traditionen und die Identität der Hispania im 13. Jahrhundert. Studie – Übersetzung – Kommentar, Berlin 2006 (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 3), S. 49–68. 27 Ibn ‘Abdu ¯ n, Seville musulmane, trans. Évariste Lévi Provençal, Paris 1947, S. 128.

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und Juden begehrt wurden, wie aber andererseits Ängste der Muslime bestanden, diese könnten sich sogar unter Verfälschung der Autorschaft den Wissensschatz der arabisch-muslimischen Tradition aneignen. In manchen islamischen Herrschaften Spaniens sollen Schriften vor den Eroberungen der Christen vernichtet worden sein. Erst unter christlicher Herrschaft war eine Aneignung des antiken Wissens offensichtlich möglich, Toledo diene als Beispiel, obwohl individuelle Übersetzungsleistungen nicht nur dort, sondern auch an anderen Orten geschahen. Übernahmen erfolgten schon im späten 10. Jahrhundert im nordostspanischkatalanischen Raum, ab dem 11. Jahrhundert in Süditalien. Ein Körnchen Wahrheit steckt dennoch im zu eng gefassten Schlagwort von der ›Übersetzerschule von Toledo‹, denn in Toledo dürften zumindest im 12. Jahrhundert neben Barcelona, Tarazona und Tudela viele und bekannte Übersetzungen angefertigt worden sein. Jedoch war auch besonders das obere Ebrotal, und damit Navarra und Aragón, in diesen Prozess eingebunden. Geknüpft war dies zugleich an den Aufschwung der lateinisch-westlichen Wissenskultur, wie dies zum Beispiel an der Schule von Chartres im 12. Jahrhundert ablesbar ist. 28 Die Suche nach neuen oder nur vom Hörensagen bekannten Schriften brachte viele Wissbegierige auf die Iberische Halbinsel, die aus England, Italien, Frankreich, Deutschland und anderen Gegenden kamen. Diese erste Phase der Übersetzungstätigkeit, der später eine zweite unter Alfons dem Weisen folgte, ist durch Namen wie Dominicus Gundisalves († nach 1181), Gerhard von Cremona († 1187) oder später Michael Scotus († 1235) oder Hermannus Alemannus († 1272) gekennzeichnet. Woher kannten aber übersetzungswillige Gelehrte die Schätze, die sie suchten, und mit welchen Arbeitsbedingungen waren die Übersetzer konfrontiert? Gab es in ihrer Zielsprache überhaupt die Termini, um die Sachverhalte der arabischen Vorlagen angemessen wiederzugeben? Das Schicksal eines der bekanntesten Übersetzer, Gerhard von Cremona, der sich etwa dreißig Jahre um die Übersetzung des ›Almagest‹ bemühte, kann einige Punkte konkretisieren. Die Vita Gerhards berichtet, dieser sei – etwa 1140 – nach Toledo gezogen, um das Handbuch der Astronomie des Ptolemaios in arabischer Fassung zu finden und auf Lateinisch zugänglich zu machen. Das Werk trug den arabisierten Titel ›Almagest‹ und war für das Wissen von den Gestirnen und damit auch für die weitere Entwicklung von Naturbeschreibungen zentral. Es könnte in Cremona durchaus bekannt gewesen sein, denn frühere Übersetzungen des beginnenden 12. Jahrhunderts hatten es schon mit diesem Titel zitiert. Gerhard dürfte sich in Toledo um die 28 Zur Schule von Chartres vgl. Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, 2. Aufl., Stuttgart 2001, S. 255–258.

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arabische Sprache selbst bemüht, außerdem einen Sprachkundigen gesucht haben. Er gewann einen Dolmetscher, der Mozaraber war. Die Arbeit am ›Almagest‹ zog sich über drei Jahrzehnte hin. 29 Die lateinischen ›Endprodukte‹ dieser Übersetzungen lassen erkennen, dass teilweise Begriffe in spanisch-arabischem Dialekt stehen blieben. Dies verweist auf Probleme der Begriffsbildung sowie der tatsächlichen Sprachbeherrschung. Häufig wurde zudem die Wortstellung der arabischen Vorlage bis zum Extrem beibehalten, so dass die Wörtlichkeit das Ergebnis zuweilen fast unverständlich machte. Trotz der entsprechend im 15. Jahrhundert geäußerten Kritik der Humanisten, die inzwischen zu den Urtexten vordringen konnten, darf jedoch nicht übersehen werden, wie fruchtbar der mühsame Prozess der Wissensaneignung durch Übersetzung auch auf die Entwicklung von Diktion und Begrifflichkeit im lateinischen Westen wirken konnte. Man erarbeitete sich nicht nur die philosophischen und naturwissenschaftlichen Inhalte, sondern zugleich das sprachlich-begriffliche Instrumentarium, um das neue Wissen weiter nutzen zu können. In diesem Sinne lösten die Übersetzungen Transferprozesse aus, denn die Ergebnisse wurden nicht einfach rezipiert, sondern an den Universitäten oder an den Höfen in bestehende Zusammenhänge eingepasst und anverwandelt. Die Aristotelesrezeption und die universitären Diskussionen sind aber nur ein Aspekt dieser Übersetzungen, insgesamt scheint jedoch weniger die Originalität jeder einzelnen übersetzten Schrift wichtig als vielmehr der zu neuen Fragen führende Prozess des Übersetzens. 30 Wie immer das Bild dieser insgesamt internationalen Bemühungen weiter differenziert wird, sicher ist, dass im Laufe von ein oder zwei Generationen viele griechische und arabische Texte zur Naturkunde und Philosophie oft in unterschiedlichen Fassungen vorlagen. In eine Zwischenphase gehörten aber weitere Ergebnisse wie die zu Beginn des 13. Jahrhunderts von Marcus von Toledo gefertigte Koranübersetzung, die eine frühere aus dem 12. Jahrhundert deutlich übertraf.

29 Basis für die folgenden Bemerkungen ist der Artikel von Paul Kunitzsch, Gerhard von Cremona und seine Übersetzung des ›Almagest‹, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten, hg. von Odilo Engels und Peter Schreiner, Sigmaringen 1993 (Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes), S. 333–340. 30 Allgemein hierzu mit weiterer Literatur: Klaus Herbers, Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Artes im Mittelalter, hg. von Ursula Schaefer, Berlin 1999, S. 232–248, hier S. 233–239.

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VII. Djihad und Kreuzzug – Legitimationen des Krieges Diesen Austauschprozessen, die stärker in christlich dominierten Reichen stattfanden, sind gleichzeitig abgrenzende Tendenzen in dem verbliebenen muslimischen Teil der Iberischen Halbinsel entgegenzustellen. Nachdem im 11. Jahrhundert im Süden kulturell oft blühende Reiche unter muslimischen Kleinkönigen bestanden, deren militärische Widerstandskraft gegen die christlichen Truppen allerdings oft schwach blieb, kam es im 12. Jahrhundert zur Dominanz der Almoraviden und Almohaden, deren Herrschaftsschwerpunkte allerdings zunächst in Nordafrika lagen, dann aber Südspanien einschlossen. Besonders unter den Almohaden griffen Vorstellungen des Islam um sich, die gegenüber Andersgläubigen eine härtere Gangart forderten. War bereits unter den Almoraviden der Druck auf die Christen, das Gebiet zu verlassen, erhöht worden, so könnte sich dies unter den Almohaden gesteigert haben. Schon bei der almohadischen Eroberung von Sevilla gab es christliche und jüdische Opfer, 31 aber erste Deportationen – in diesem Fall von Christen – sind erst zum Jahr 1170 belegt. Insbesondere – so zeigen die Kämpfe auch – scheint sich nun die Lehre vom kleinen Djihad, vom Heiligen Krieg, stärker auch auf die kriegerischen Auseinandersetzungen ausgewirkt zu haben. Diese Vorstellungen dürften aber die christlichen Kampfeshandlungen weniger beeinflusst haben. Der Inbegriff eines christlichen Kämpfers, den auch die spanische Literatur verewigt hat, der Cid, kämpfte noch zu Ende des 11. Jahrhunderts auf verschiedenen Seiten, unter christlicher oder muslimischer Herrschaft, ohne dass religiöse Aspekte dabei deutlich werden. Eine religiös ungebundene Reconquista scheint – manchen Thesen zum Trotz – bis ins 12. Jahrhundert eher die Regel denn die Ausnahme gewesen zu sein. Tendenzen zur Abgrenzung dürften stärker durch Personen aus Frankreich und Mitteleuropa auf die Iberische Halbinsel gekommen sein, die neue Vorstellungen des Kreuzzugs auch auf die Kämpfe der Reconquista übertrugen. 31 El retroceso territorial de Al-Andalus. Almorávides y Almohades. Siglos XI a XII, hg. von María Jesús Viguera Molíns, 2. Aufl. Madrid 1998, darin vor allem Maribel Fierro, La Religión, ebd., S. 423–546, hier S. 525 mit Anm. 24; vgl. den allgemeinen Überblick bei Klaus Herbers, Die Iberische Halbinsel im 12. Jahrhundert. Streiflichter auf die politisch-kulturelle Geschichte eines ›Grenzraumes‹, in: The Trias of Maimonides. Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge. Jüdische, arabische und antike Wissenskultur, hg. von Georges Tamer, Berlin 2005 (Studia Judaica 30), S. 23–39; zur Ausrichtung der Almohaden vgl. auch Hartmut Bobzin, Gedanken zum Fundamentalismus in der islamischen Welt, in: Fundamentalismus. Erscheinungsformen in Vergangenheit und Gegenwart. Atzelsberger Gespräche 2004, hg. von Helmut Neuhaus, Erlangen 2005 (Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswiss. 108), S. 63–95.

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Mit den Kreuzzügen wurden Vorstellungen und Definitionen eines ›Gerechten Krieges‹ wieder stärker in die christlichen Überlegungen einbezogen. Im Sinne des Kirchenvaters Augustinus († 430), der seinerseits auf Cicero basiert und dessen eher naturrechtliche Begründungen in eine theologische Argumentation weiterentwickelte, gab es einen Gerechten Krieg, ein bellum iustum, von einer legitimen Autorität – hier dem Papsttum – verkündet, mit einem legitimen Grund – der Wiedererlangung der heiligen Stätten – begonnen und mit dem Endziel des Friedens geführt. 32 Außerdem war es ein Krieg für Gott, für den ein geistlicher Lohn in Form des Ablasses zugesagt wurde. Einen solchen Gerechten Krieg bezeichneten die zeitgenössischen Quellen zuweilen auch als bellum sacrum, und so hat sich in vielen europäischen Sprachen auch die Bezeichnung ›Heiliger Krieg‹, ›holy war‹, ›guerra santa‹ oder ›guerre sainte‹ eingebürgert, obwohl die Bezeichnung bel32

Die Literatur zum Heiligen bzw. Gerechten Krieg ist unübersehbar. Vgl. zu den mittelalterlichen Traditionen: James A. Brundage, Holy War and the Medieval Lawyers, in: Holy War. Essays on the Crusades, hg. von Thomas Patrick Murphy, Ohio 1976, S. 99–140, hier S. 102; Frederick Hooker Russell, The Just War in the Middle Ages, Cambridge 1975; Ernst-Dieter Hehl, Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit, Stuttgart 1980 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 19), vor allem zur Dekretistik in der Mitte des 12. Jahrhunderts. – Zu der oben genannten Definition tritt bei Augustinus hinzu: Es darf keine andere Lösungsmöglichkeit geben, und angemessene Formen der Kriegsführung sind zu beachten. – Die Basisstellen bei Cicero sind: De re publica 3.23.35, hg. und übers. von Clinton Walter Keys, Cambridge 1928, S. 212, vgl. auch die längere Passage in De officiis (1,34–40). Eine vorzügliche Untersuchung der Positionen Ciceros und Augustins findet sich mit Diskussion der einschlägigen Stellen bei Maximilian Forschner, Naturrechtliche und christliche Grundlegung der Theorie des gerechten Krieges in der Antike (bei Cicero und Augustinus), in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 111 (2004), S. 557–572, zu Cicero S. 558–565. Zur Entwicklung der christlichen Lehren im frühen Mittelalter vgl. außer Brundage auch August Nitschke, Von Verteidigungskriegen zur militärischen Expansion. Christliche Rechtfertigung des Krieges beim Wandel der Wahrnehmungsweise, in: Töten im Krieg, hg. von Heinrich von Stietencron und Jörg Rüpke, Freiburg, München 1995, S. 241–276, zu Augustinus S. 246–257 (unter dem Aspekt der Wirksamkeit Gottes in der Welt). Die einschlägigen Passagen bei Augustin finden sich vor allem in: ›Contra Faustum Manichaeum‹, bes. XXII c. 76, hg. von Joseph Zycha, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 25, VI, 1, Prag, Wien, Leipzig 1891, S. 251–797, bes. S. 674–676; Aurelius Augustinus, De Civitate Dei, bes. 1,21; 19,7; 19,12, hg. von Bernard Dombart und Alfons Kalb, Corpus Christianorum. Series Latina 47 und 48, Leipzig 1928–1929, ND 1955, Bd. 47, S. 23; Bd. 48, S. 671f., S. 675–678; vgl. weitere einschlägige augustinische Texte samt Interpretation bei Forschner, S. 565–572. Die obigen Überlegungen habe ich bereits im Zusammenhang der Atzelsberger Gespräche skizziert; ich folge hier dieser Argumentation, vgl. Klaus Herbers, »Gott will es!« – Christlicher ›Fundamentalismus‹ im europäischen Mittelalter?, in: Fundamentalismus [Anm. 31], S. 9–40, hier S. 20–27.

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lum sacrum eher meinte, dass die Teilnehmer eines solchen Krieges geheiligt werden konnten, 33 nicht der Krieg selbst wurde als etwas Heiliges angesehen. Wie konnten aber Krieger geheiligt werden? Dies lässt sich am Bericht über die Teilnehmer einer Kriegsflotte zum Zweiten Kreuzzug 1147 besonders gut erläutern. 34 Friesische, englische und niederdeutsche Kreuzfahrer waren per Schiff nach Jerusalem aufgebrochen, gingen aber unterwegs mehrfach an den Küsten der Iberischen Halbinsel an Land. In Porto ermahnte sie der dortige Bischof, bei der Eroberung Lissabons zu helfen, bevor sie weiter ins Heilige Land führen. Dieser Bischof Peter (1146–1152) sprach zu den Kreuzfahrern in lateinischer Sprache, die von Dolmetschern in die jeweilige Landessprache übersetzt wurde, wie ein englischer Chronist überliefert. 35 Der Bischof mahnt an, Neid und Zwietracht zu meiden, bis er schließlich zum eigentlichen Ziel seiner Rede kommt: »Wir glauben, dass euch in euren Ländern bekannt geworden ist, dass die Mauren und Moabiten ganz Spanien mit der Klinge des Schwertes erobert haben.« 36 Peter schildert dann das schwere Los der wenigen noch verbliebenen Christen unter muslimisch-almohadischer Herrschaft und weist darauf hin, dass die Muslime erst vor kurzem zahlreiche christliche Gefangene weggeführt hätten. Angesichts dieser Zustände rufe die Mutter Kirche auch sie, die Kreuzfahrer, zu Hilfe. Die anwesenden Kämpfer sollten nicht ihren Wünschen nachgeben, die Reise nach Osten, nach Jerusalem fortzusetzen, denn es sei nicht wichtig, nach Jerusalem zu gelangen, sondern ein gutes Leben auf dem Weg geführt zu haben. Deshalb sollten sie der Kirche der 33 Vgl. zu dieser Interpretation Rudolf Hiestand, »Gott will es!« – Will Gott es wirklich? Die Kreuzzugsidee in der Kritik ihrer Zeit, Stuttgart 1998 (Beiträge zur Friedensethik 29), S. 5. 34 Giles Constable, The Second Crusade as seen by Contemporaries, in: Traditio 9 (1953), S. 213–279, hier S. 221; ders., A Note on the Route of the Anglo-Flemish Crusaders of 1147, in: Speculum 28 (1953), S. 525–526 (Nachdruck in Ders., Religious Life and Thought [11th–12th centuries] n. XI und n. X, London 1979); Hehl [Anm. 32], bes. S. 137–140; Richard A. Fletcher, Reconquest and Crusade, in: Transactions of the Royal Historical Society 5. ser. 37 (1987), S. 31–47, bes. S. 43f.; Matthew Bennett, Military Aspects of the Conquest of Lisbon, 1147, in: The Second Crusade. Scope and Consequences, hg. von Jonathan Phillips und Martin Hoch, Manchester 2001, S. 71–89 (eher zu militär- und technikgeschichtlichen Aspekten). 35 Ranulf von Glanvill, De Expugnatione Lyxbonensi. The Conquest of Lisbon, hg. von Charles W. David, New York 1976; A Conquista de Lisboa aos Mouros. Relato de um Cruzado, hg. von Aires A. Nascimento (introd. Maria J. V. Branco), Lissabon 2001, S. 60: einleitend »per interpretes […]«. Früher wurde dieser Bericht Osbernus von Gloucester zugeschrieben, vgl. inzwischen aber Harold V. Livermore, The Conquest of Lisbon and its Author, in: Portuguese Studies 6 (1990), S. 1–16. Zu den Bibelanklängen und weiteren Similien vgl. die beiden Editionen, sowie Hehl [Anm. 32], S. 137–140. 36 A Conquista [Anm. 35], S. 66.

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Spanier (ecclesia hispanorum) zu Hilfe eilen. 37 Für diesen Kampf würden sie keinesfalls mit einer Buße belegt werden. Es gibt »keine Grausamkeit, wo die Frömmigkeit für Gott herrscht«, so würde ich non est vero crudelitas pro Deo pietas übersetzen. 38 Deshalb ruft Peter im Sinne Isidors und Augustinus’ zu einem Gerechten Krieg auf. Ein Gerechter Krieg diene laut Isidor, so der Bischof, »der Wiedererlangung von Dingen oder dazu, die Feinde zu vertreiben«. 39 Die Kreuzfahrer sollten nicht ihr Handeln (actum), sondern ihre Absicht (voluntas) ändern. Es sei keinesfalls Sünde (peccatum) zu kämpfen, sondern es sei nur Sünde, wenn man der Beute wegen kämpfe. 40 Ein Krieg nach Gottes Absicht (Deo auctore) sei rechtmäßig (recte). 41 Deshalb sollten die Kreuzfahrer bei der Befreiung Lissabons helfen. 42 Entscheidend sind die Bezugnahmen auf Augustinus und Isidor sowie die Beobachtung, welches Gewicht der Text der Intention in diesem Zusammenhang zuschreibt. Schon Papst Urban II. soll 1095 gesagt haben, himmlischer Lohn werde nur einem Kreuzfahrer zuteil, der ausschließlich aus Gottergebenheit nach Osten ziehe (sola devotione). Unternahm man jedoch einen solchen Kriegszug, um Ansehen, Herrschaft oder Belohnungen zu erlangen, so war eine entscheidende Voraussetzung nicht gegeben. Die objektive Berechtigung eines Krieges war zwar nicht in Frage gestellt, aber was den Teilnehmern als ein religiöses Verdienst anerkannt werden konnte, das lag an der individuellen Einstellung. Nicht Krieg und Kampf als solche, sondern die eigene Zuwendung zu Gott machte aus den Kämpfen ein vor Gott verdienstvolles Werk. Vor diesem Hintergrund sind auch die skizzierten Quellenpassagen zu verstehen, die unter Bezug auf Isidor und Augustinus hervorheben, dass Kampf und Töten nur dann Sünde seien, wenn jemand ausschließlich der Beute wegen kämpfe. 37 Ebd., S. 68, vgl. dort auch die Betonung guter Werke mit einem sinngemäßen Zitat aus Hieronymus (ep. 58,2 an Paulinus). 38 Ebd., S. 68: Non est vero crudelitas pro Deo pietas. Nascimento emendiert mit Verweis auf Isidor von Sevilla, Etymologiae 18,1,2: Non est vero crudelitas pro Deo [ punire, sed ] pietas. 39 Iustum vero bellum, dicit Ysidorus noster, quod ex indicto geritur de rebus repetendis aut hostium pulsandorum causa, ebd., S. 68, vgl. Isidor von Sevilla, Etym. 18, 1,2. 40 Ebd., S. 70: Vos, ut videtur, arma portatis et rei militaris insignia, sed diuerso affectu, ut superius dictum, non mutantes actum sed voluntatem [...] ut boni milites agite, quia non es peccatum militare, sed propter predam peccatum est militare. Es folgt ein Hinweis auf Augustinus, Epist. 189, S. 4–6 (ad Bonifatium comitem); zu dieser augustinischen Position vgl. Forschner [Anm. 32], S. 570. 41 Ebd., S. 72. 42 Vgl. zur Interpretation vor allem Hehl [Anm. 32], S. 137–142 und 260f.; ders., Was ist eigentlich ein Kreuzzug [Anm. 16], S. 319f., sowie allgemein die oben in Anm. 32 genannte Literatur.

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Wie sehr augustinische Begründungen um sich griffen, ist etwa zeitgleich an einer berühmten Fälschung nachzuweisen, wie ich hier nur andeuten kann. In einem gefälschten Dokument aus der Mitte des 12. Jahrhunderts wird die Hilfe des Heiligen Jakobus bei den Schlachten gegen die Muslime auch indirekt auf die Vorstellungen des Kirchenvaters Augustinus bezogen: Weil Jakobus die gesamte Iberische Halbinsel zum christlichen Glauben geführt haben soll, muss er auch das an die Muslime verlorene Gebiet – das unrecht geraubte Gut – wieder zurückholen. Es ist auffällig, dass dem Heiligen Jakobus – neben seiner Bedeutung als Pilgerpatron – diese Aufgabe erst seit dem 12. Jahrhundert zunehmend zufällt. VIII. Bilanz Was bedeuten die Beispiele für unsere Ausgangsfragen? Konfrontation, Zusammenleben oder fruchtbarer Austausch folgten offensichtlich kaum einem bestimmten religiösen Konzept, das am ehesten noch für die Konfrontation in den verschiedenen Verlautbarungen des hohen Mittelalters zu kleinem Djihad und zum Kreuzzug zu finden sein könnte. Hierbei sind aber wechselseitige Beeinflussungen bisher ohne direkten Nachweis geblieben. Erst später, im 13. Jahrhundert, entwarfen Autoren wie der Toledaner Erzbischof Rodrigo Jiménez de Rada mit seiner ›Historia Arabum‹ ein Konzept, das die arabischen Traditionen und Quellen in eine breit angelegte Gesamtgeschichte Spaniens integrierte. Ihn hat man auch – vielleicht etwas überspitzend – mit dem Gedanken der Toleranz in Verbindung gebracht. Meine Fallbeispiele ließen aber jenseits konzeptioneller Entwürfe dennoch einige Aspekte erkennen, die für eine Beurteilung des Zusammenlebens der Religionen im spanischen Mittelalter wichtig erscheinen: 1. Hervorzuheben ist zunächst die Vielfalt, die sich geographisch, zeitlich und sozial erschloss. Die Fragen von Kollaboration oder Abgrenzung konnten schon zu Beginn in Murcia anders aussehen als in Mérida, waren bei Mozarabern in Córdoba im 9. Jahrhundert anders als später in Toledo. Auch der Umgang mit den jeweiligen Minderheiten konnte erheblich differieren. Dies hing nicht nur von den religiösen Voreinstellungen ab, die im 9. Jahrhundert offensichtlich auf muslimischer Seite ebenso wie unter den Almohaden im 12. Jahrhundert verschärft auf Abgrenzung aus waren, sondern ebenso stark von den lokalen Gegebenheiten. 2. Dazu tritt die Verschränkung von religiösen und kulturellen oder wirtschaftlich-sozialen Aspekten. Konnte Teudemir seine Position durch einen Vertrag in religiöser und sozialer Hinsicht sichern, so beklagten die ›Märtyrer‹ von Córdoba nicht nur verschlossene Aufstiegsmöglichkeiten in der muslimischen Ge-

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sellschaft, sondern auch den Verlust einer eigenständigen spätantik beeinflussten lateinisch-romanischen kulturellen Prägung. Auch die Beispiele der ›Übersetzerschule von Toledo‹ legen für die Christen nahe, dass zunächst weniger die Kenntnis der anderen Religion als vielmehr die Vermittlung antiken Wissens im Vordergrund stand. 3. Es lohnt sich aber, die Konstellationen genauer zu betrachten, wo Nebeneinander und Austausch in unterschiedlicher Intensität möglich wurden: Die Leistung der cordobesischen Märtyrer wurde in Asturien gewürdigt, kaum aber von den christlichen Glaubensgenossen in Al-Andalus. Das Neben- oder Miteinander war zudem von den Bedingungen in Stadt oder Land mitbestimmt. Handel und städtische Kultur waren offensichtlich gute Begleiter für eine Begegnung zwischen verschiedenen religiösen und kulturellen Welten, während in der Krone Aragón die Mudéjar-Gemeinden mit ihrer eher regional organisierten Landwirtschaft zu parallelen Gesellschaften führten. 4. Gewalt wurde aber nicht durchgehend mit Absolutheitsansprüchen der Monotheismen begründet, die Siedlungen der Muladíes im 12. und 13. Jahrhundert sprechen ebenso dagegen wie die lange Zeit geduldeten Christen unter muslimischer Herrschaft. Insofern wurde 1492 in der Tat wesentlich exklusiver mit den Ansprüchen der eigenen Religion verfahren, dies gilt nach der Eroberung von Konstantinopel 1453 ebenso wie nach der Eroberung Granadas 1492. 5. Es fällt weiterhin auf, dass das Interesse der Christen an Errungenschaften der Muslime, später auch an deren religiösen Überzeugungen, stärker ausgeprägt scheint als umgekehrt. Dabei dürften die Bemerkungen Gouguenheims zwar vor einer Überschätzung dieser Prozesse warnen, aber vielleicht sollten weniger Listen von hier oder dort übersetzten Werken gegenübergestellt und aufgerechnet, sondern vielmehr der durch die Übersetzungen des 12. und 13. Jahrhunderts angestoßene Diskussionsprozess in den Vordergrund gerückt werden. Jedoch dürfte die einseitige Rezeption und Weiterverarbeitung antiker Schriften vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten weitere Vertiefung verdienen. Was bedeutet es hinsichtlich eines geforderten Dialoges der Religionen oder Kulturen, wenn das Interesse am jeweils anderen sehr unterschiedlich ist und gegebenenfalls auch die Aufarbeitung der eigenen Traditionen mit unterschiedlichen Instrumentarien bewerkstelligt wird? Jüngste Meldungen über Tendenzen zu einer historisch-kritischen Aufarbeitung des Korans in der Türkei könnten hier neue Wege aufzeigen. Schließlich ist zu unterstreichen, dass neben den Juden die entstandenen neuen Gruppen wie die Mozaraber oder Mudéjares bei den Transferprozessen eine besonders wichtige Rolle einnahmen. Sie konnten im Adoptianismusstreit Kompromissformeln suchen, sie begleiteten durch ihre sprachliche Kompetenz den Pro-

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zess der Übersetzungen in Toledo und anderswo, sie erschlossen für den später wirkenden Toledaner Erzbischof Rodrigo Jiménez de Rada auch die Schriften der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund – wenn ›Convivencia‹ mehr als ein Nebeneinander bedeuteten soll – fragt es sich, ob nicht die Gemengelage der Religionen auf der Iberischen Halbinsel sehr eigenständige neue Ausprägungen auf christlicher wie muslimischer Seite hervorbrachte. Mozaraber bewahrten unter späterer christlicher Herrschaft besondere religiöse Formen. Personen, die verschiedene Seiten kennen lernen konnten, scheinen in den Vermittlungsprozessen zentral. Die Zahl solcher Personen ging im 15. Jahrhundert auch auf der Iberischen Halbinsel zurück, nicht nur im fast homogen muslimischen Königreich Granada. Deshalb kann Granada, je nachdem welche Zeiten und Bedingungen wir im Blick haben, zumindest zwei Assoziationen hervorbringen.

Der »wahlfisch zu Zürche in Seland« Albrecht Dürers Erzählung eines niederländischen Abenteuers von Dirk Niefanger, Erlangen

Die sprachliche Verwandlung der großen Meerungeheuer der Schöpfungsgeschichte, so wie sie die ›Vulgata‹ erzählt, zu real existierenden ›Walfischen‹ in Luthers Bibel-Übersetzung von 1545 zeugt vom großen Respekt, den das 16. Jahrhundert vor dem bis heute größten aller Säugetiere hegte: Creavitque Deus cete grandia et omnem animam viventem atque motabilem quam produxerant aquae in species suas et omne volatile secundum genus suum. (Gen 1, 21) Vnd Gott schuff grosse Walfische vnd allerley Thier / das da lebt vnd webt / vnd vom Wasser erreget ward / ein jeglichs nach seiner art. (Gen 1, 21)

Die Luther-Übersetzung von 1545 macht, dass der Wal eine Sonderstellung unter den ›Fischen‹ bekommt, er wird zum einzigen Meeresbewohner, der in der Erschaffung der Welt separat erwähnt wird. Dies hängt sicherlich mit der großen Ehrfurcht zusammen, die die Lutherzeit dem Wal entgegenbrachte. Etlich wal visch, so etwa Konrad von Megenberg in seinem ›Buch der Natur‹ (1499), werden so groß das man wänet es seyen insel oder weld wa man sy sicht oder sy scheinen als die grossen berg. 1 Auch zeitgenössische Abbildungen, zum Beispiel in der berühmten ›Carta Marina‹ (1539) von Olaus Magnus, zeigen, wie ungeheuerlich man sich diese Wassertiere vorstellte und wie wenig man gemeinhin im Grunde von diesen Tieren wusste. Noch in Conrad Gesners ›Fischbuch‹ (1575), das sich bei der graphischen Darstellung der angeblich gefährlichen Schweinswale (»Braunfisch[e] oder Balenen« 2 ) offenbar an der ›Carta Marina‹ anlehnt, sieht man schiffsgroße 1

Konrad [Cunrat] von Megenberg, Hie nach volgt das buch der natur. innhaltende zum ersten vo[n] eigenschafft vnd natur deß menschen. Darnach von der natur vn[d] eigenschafft deß hymels. d[er] tier. des gefügels. der kreüter. d[er] stein. vn[d] von vil andern natürlichen dingen, Augsburg 1499, Kapitel: Von dem wal visch. 2 Conrad Gesner, Fischbuch / Das ist / Außführliche / beschreibung- und lebendige / Conterfactur aller vnnd jeden Fischen / […] Hanach aber von Conrad Forer […] ins Teutsch gebracht, Frankfurt/M. 1598 [EA der deutschen Übersetzung von Forer 1583], S. 98f. Vgl. zu Gesners Tierdarstellungen allgemein: Johannes Pommeranz / Barbara Niegisch, Das Tierbuch von Conrad Gesner, in: G. Ulrich Grossmann (Hg.), Vom An-

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Abb. 1: Abbildung eines angreifenden Bartwals aus: Conrad Gesner: Fischbuch / Das ist kurtze / doch vollkommene beschreibung aller Fischen […] yetz neüwlich aber durch D Cünrat Forer […] in das Teütsch gebracht, Zürich 1583.

Walköpfe, die in der Form an Wildschweine erinnern und überdimensionierte Hauer grimmig über die Oberlippe schieben; die Augen schauen dabei ausgesprochen angriffslustig auf das menschliche Schiff, dessen Besatzung trotz einiger Ablenkungsmanöver dem Tode geweiht ist (vgl. Abb. 1). Heutigen Vorstellungen des Wals ähnlicher sind indes jene Abbildungen Gesners, die sich ausdrücklich auf Zeichnungen von Alentinus Grauius beziehen: Sie scheinen tatsächlich eher Glattwale (Balaenidae) abzubilden (vgl. S. 92f.). Die zoologische Beschreibung der »Balenen« (nach lat. bal[l]eaena, Walfisch) erstaunt hingegen angesichts der zum Teil sehr fremd wirkenden bildlichen Darstellungen, kommt sie doch heutigem Wissen von Walen erstaunlich nahe: [Die Balenen] sollen ein mächtig feist Fleisch haben / eines vnlieblichen Geschmacks. Etlich schreiben / er habe einen Zumpel so dick als eines grossen feisten Manns Schenckel: haben sonst / als hievor von den Wallfischen gehört / ihre natürliche Glieder dem Menschen gantz gleich / empfahen vnd gebären lebendige Frucht ohn Eyer / haben milch / an der Farb schwartzgrün / Dutten / als hievor gehört / Item auff ihrer Stirnen Löcher / durch welche sie den Lufft ziehen zu den Lungen / und das Wasser herauß sprützen / haben ein harte Haut / dick / gar nah vnempfindtlich / schwartz / allein der vnder Kiffbacken / ein theil deß Bauchs / vnd ob den Augen gantz weiß. […] Hievor ist viel gehört worden von der mächtigen grösse etlicher Wallfischen / auß solchen wirt die Balenen gar nah der gröste geachtet. (S. 97)

Schweinswale (Phocanidae) werden heute zu den vergleichsweise kleineren delphinartigen Waltieren (Delphinoidea) mit einer Größe von etwa 1,3 bis 1,8 Metern Länge gerechnet. Diese waren im 16. Jahrhundert an den europäischen Küsten und auch in den Flussläufen immer mal wieder zu sehen. Angesichts der Größe, sehen der Tiere. Kulturgeschichtliche Spaziergänge im Germanischen Nationalmuseum, Bd. 11, Nürnberg 2009, S. 58–70. Gesners Abbildung des Meerelefanten auf der Doppelseite 92 der erwähnten Ausgabe erinnert übrigens deutlich an Albrecht Dürers berühmte Zeichnung eines Walrosses von 1521 (s. Abb. 5).

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die Gesner für diese Tiere angibt, lässt sich vermuten, dass er alle Zahnwale (Odontoceti), also auch etwa die viel größeren Grindwale, die Pottwale und die Schwertwale, die schon einmal eine Länge bis zu 20 Metern haben können, unter die »Balenen« ordnet. 3 Der größte Wal war indes auch in der Frühen Neuzeit der Blauwal, ein Bartenwal. Dessen zoologischer Gattungsname (Finnwal, Balaenoptera) erinnert noch an die von Gesner für die Schweinswale und von Konrad von Megenberg für die weiblichen Exemplare von Walen verwendete latinisierte Bezeichnung »Balenen«. Ein solch gigantisches Wesen wie einen Wal einmal sehen zu können, birgt auch heute noch einige Reize; die zahlreichen Whale Watching-Touren in amerikanischen, australischen oder nordeuropäischen Küstenorten zeugen davon. Wenn man so will, hat eine solche Tour schon Albrecht Dürer 1520 von Antwerpen aus unternommen; als Dokument dieser damals eher außergewöhnlichen Unternehmung ist eine kleine Abenteuererzählung mit ansehnlicher literarischer Qualität entstanden. Ihr sind die folgenden Ausführungen gewidmet. 4 Der umfangreichste literarische Text Albrecht Dürers ist sein ›Tagebuch der Reise in die Niederlande‹ 5 , die der Maler zusammen mit seiner Frau Agnes und ihrer Magd Susanna vom 12. Juli 1520 bis Ende Juli 1521 unternommen hat. Die frühen Dürer-Biographien, etwa von Henrich Conrad Arend oder Joachim von Sandrart, interpretieren die legendäre Niederländische Reise als Flucht vor der angeblich zänkischen Agnes. 6 Dieser Irrtum wurde erst mit der Publikation des Tagebuchs durch Christoph Gottlieb von Murr 1779 korrigiert. 7 Erste Station der einjährigen Reise war Erlangen: Am Donnerstag hab jch […] mich […] von Nürnberg hinweg in das Niederland gemacht. Und do wir desselben tags 3 Vgl. hierzu: Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs, hg. v. Bernhard Grzimek et al., München 1993, Bd. Säugetiere 2, S. 477–505. 4 Sie orientieren sich zum Teil an dem, was Hartmut Kugler und ich in unserem gemeinsamen Hauptseminar zu Albrecht Dürers literarischen Schriften im Wintersemester 2007/08 an der Universität Erlangen-Nürnberg diskutiert haben. 5 Vgl. Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlaß, hg. v. Hans Rupprich, Bd. 1, Berlin 1956, S. 146–202. Diese Ausgabe wird im Folgenden im Text zitiert. 6 Vgl. Joachim von Sandrart, Teutsche Academie der Bau-, Bild- und MahlereyKünste, Nürnberg 1675–1680, II. Theils III. Buch, III Capitel, S. 225, und Henrich Conrad Arend, Das gedechtniß der ehren eines derer vollkommnesten künstler seiner und aller nachfolgenden zeiten, Albrecht Dürers […], Goslar 1728, ohne Paginierung. Mit der frühen Dürer-Rezeption befasst sich die entstehende Habilitationsschrift von Anja Grebe, Retrospektive als Ursprung. Ansätze zu einer kunsthistorischen Überlieferungsforschung am Beispiel Albrecht Dürers. Vgl. auch: Anja Grebe, Albrecht Dürer: Künstler, Werk und Zeit, Darmstadt 2006. 7 Vgl. Christoph Gottlieb von Murr, Reisejournal Albrecht Dürers von seiner niederländischen Reise 1520 und 1521. Excerpt aus der Hs. A, in: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Literatur VII (1779), S. 53–98.

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außzogen durch Erlang, do behauseten wir uns nachts zu Baiersdorff. […] Darnach sind wir den nechsten, am Freitag, gen Forchhaim kommen. 8 Dürer notiert sehr akribisch Orte, Begegnungen, Ausgaben, Einnahmen, Einladungen und öffentliche Festveranstaltungen, die er besuchte. Die primären Funktionen des Tagebuchs lassen sich daraus ableiten: Es sollte den Sinn der kostspieligen Reise dokumentieren, das auf- und ausgebaute Netzwerk nachvollziehbar halten, die Distribution der eigenen Kunstproduktion anzeigen und zusätzlich – in vorwiegend äußerst knapper Form – Erinnerungen bewahren. Zur Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung dienten die Aufzeichnungen im Allgemeinen weniger. 9 Dies gilt nicht für zwei längere ungewöhnliche Passagen, die das Reisetagebuch auch enthält. Sie weichen vom sonst üblichen sachlich-diarischen Ton deutlich ab: Die »Klage um Luther« (vgl. Bd. 1, S. 170– 172) nach dem Reichtag zu Worms und die Reise nach Zeeland, einer Provinz im Bereich der Rhein- und Schelde-Mündung, die sich im Süden der heutigen Niederlande befindet (vgl. Bd. 1, S. 162–163). Unterscheidet sich die so genannte Luther-Klage, die davon ausgeht, der Reformator sei auf dem Rückweg von Worms ermordet worden, durch ihren religiösen, fast gebetartigen Ton vom bislang dominanten Darstellungsstil, so fällt die Zeeland-Reise durch ihren novellistischen Charakter auf. Die Reise diente dem Verkauf und Tausch von Kunstwerken, der Kontaktaufnahme und -pflege, der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten, dem Einkauf von Waren und – vor allem – der Sicherstellung seines Leibgedinges, 10 einer jährlichen Rente von 100 Gulden durch Kaiser Karl V. Sie war nach dem Tode Maximilians und dem folgenden Herrscherwechsel notwendig geworden. Auch wenn die Reise insgesamt mehr Kosten verursacht haben mag, als sie unmittelbar durch den Verkauf von Bildern und durch Auftragsarbeiten einbrachte, so war sie angesichts der vielen Kontakte, Erfahrungen, der erworbenen Materialien und der Beglaubigung der Leibrente doch ein ansehnlicher Erfolg. Bedenkt man zudem, wie viel Aufmerksamkeit die Reise vermutlich bei Zeitge8 Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlaß [Anm. 5], Bd. 1, S. 148. Vgl. zum Folgenden auch: Jan Veth / Samuel Muller, Albrecht Dürers Niederländische Reise. Band I.: Die Urkunden über die Reise / Band II: Geschichte der Reise, Berlin/Utrecht 1918, und den Katalog: Albrecht Dürer aux Pays-Bas, son Voyage (1520–1521), son influence, hg. v. Fedja Anzelewsky et al., Brüssel 1977 (mit vielen einschlägigen Abbildungen zur Reise). 9 Zur Gattung ›Tagebuch‹ und ihren unterschiedlichen Varianten (mit weiterführenden Literaturangaben) vgl. Sibylle Schönfeld, Tagebuch, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III. Hg. v. Jan-Dirk Müller et al., S. 574–577. 10 Vgl. Dürer, Schriftlicher Nachlaß [Anm. 5], Bd. 1, S. 88–94 (Briefe 33–39) und 160 (Tagebuch der Reise in die Niederlande).

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nossen, ganz sicher aber schon bei den ersten Biographen erregte – Sandrart hebt etwa die vielen Künstler-Kontakte Dürers auf der Reise hervor –, hat sich die Reise auch im Hinblick auf das ›ästhetische‹ Marketing gelohnt. 11 Dürers Originalhandschrift des Tagebuchs existiert heute nicht mehr. Sie wurde wahrscheinlich 1642 Opfer eines Brandes. Vermutlich gehörte ein erhalten gebliebenes Einzelblatt von 14,5 × 10 cm mit Umriss-Zeichnungen von niederländischen Frauenmänteln zum Originalkonvolut. Es gibt zumindest einen Eindruck von der Größe des Notizbuches, das Dürer benutzt haben mag. 12 Auch sieht man an dem Blatt, dass Dürer seine schriftlichen Anmerkungen, wie er es gelegentlich auch in Briefen tat, durch Skizzen ergänzte. Als Beispiel sei hier auf Dürers komisches Selbstportrait aus dem Venedig-Brief an Pirckheimer vom 8. September 1509 verwiesen (Abb. 2). Da die vermutlich existierenden Piktogramme, die die

Abb. 2: Selbstportrait Dürers, in: Brief Dürers an Willibald Pirkheimer, Venedig 8. September 1506, in: Dürer: Schriftlicher Nachlaß [Anm. 5], Bd. 1, S. 54–56.

Schrift ergänzten, in den Abschriften fehlen, verliert der erhaltene Texte natürlich an Anschaulichkeit und ursprünglicher Präsenz. Neben dem Reisetagebuch existiert noch das niederländische Skizzenbuch mit Silberstiftzeichnungen, die Dürer vorwiegend zur eigenen Erinnerung anfertigte. Die Zeichnungen gaben deshalb in der Regel keine Vorlagen für komplexere Werke. Dürer nennt das querformatige, 13 × 19 cm große Skizzenheft, das in mancher Hinsicht die Funktion einer heutigen Digitalkamera übernahm, schlicht sein büchlein (Bd. 1, S. 159, 162 u. ö.). Es ist nur noch in Bruchstücken, etwa 15 Blätter, die an ganz unterschiedlichen 11

›Aufmerksamkeit‹ ist hier im Sinne Georg Francks als »Währung« im Bereich des Ästhetischen zu verstehen, wo normale ökonomische Gesetze nicht gelten: Vgl. Georg Franck, Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, in: Markus Joch, YorkGothart Mix, Norbert Christian Wolf und Nina Birkner (Hgg.), Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen 2009, S. 11–21, hier S. 12, und zum Kontext: Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf [1998], München 2007. 12 Vgl. die Abbildungen in: Dürer, Schriftlicher Nachlaß [Anm. 5], Bd. 1, S. 178.

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Orten liegen, erhalten. 13 In gewisser Weise sind Tage- und Skizzenbuch als ein sich ergänzendes Ensemble zu sehen, auch wenn es sich bei den beiden Büchern oder Buchfragmenten um unterschiedliche Medien mit differenter Notationstechnik handelt. Die gängige getrennte Edition und wissenschaftliche Bearbeitung scheint mir den Interessen zweier unterschiedlicher Disziplinen – Germanistik und Kunstgeschichte – geschuldet zu sein und sollte einmal korrigiert werden. Vom Tagebuch selbst gibt es zwei ältere Abschriften durch professionelle Schreiber: Fassung A aus dem frühen 17. Jahrhundert, die jetzt in Bamberg liegt, und Fassung B, eine etwas ältere Handschrift, die in Nürnberg aufbewahrt wird. Zitiert wird, wenn ich es nicht anders angebe, die Fassung A, von der der Herausgeber der ›Nachgelassenen Schriften‹ Dürers, Hans Rupprich, meint, sie gäbe besser dessen Sprache wieder. 14 Beide Abschriften zeugen vom frühen Dürerkult in Deutschland, der schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts einsetzte. Insofern haben die beiden Abschriften selbst nicht nur als (defizitäre) Überlieferungen des Tagebuchs, sondern auch als Dokumente der frühen Dürer-Rezeption und Künstlerkonstruktion einen kulturgeschichtlichen Wert. Hierfür ist es unerheblich, dass die Sprache der erhaltenen Texte von der ursprünglichen abweicht. Ziel der Niederlande-Reise war die große Hafen- und Handelsstadt Antwerpen in Brabant. Eine Hafenansicht findet sich in Dürers Skizzenbuch (vgl. Abb. 3). Von hier aus unternahm Dürer einige weitere, meist mehrwöchige Ausflüge: etwa nach Mechelen und Brüssel, Aachen, Jülich und Köln zur Krönung Karls V., Brügge und Gent sowie nach Zeeland. In Antwerpen wohnte er bei Jobst Planckfeldt, den er in seinem ›Büchlein‹ portraitiert hat. Bei ihm könnte er am 24. November 1520 von dem gestrandeten Wal erfahren haben, der ihn zu seiner zunächst nicht geplanten Zeeland-Reise veranlasste. Waren es sonst Kontakte oder Kunstschätze, die ihn zu ausgedehnten Touren motivierten, brachte ihn jetzt – und das einzige Mal in der Niederländischen Reise – ein Naturereignis dazu, ein kostspieliges, anstrengendes und – wie sich zeigen wird – auch gefährliches Unternehmen zu wagen. Aus der Unerhörtheit des Ereignisses und des gepflegten Aufwandes erklären sich natürlich der relativ breite Raum, den die Reise einnimmt und ihre narrative Struktur im ›Tagebuch‹. Was Dürer letztlich auf dieser Reise sah und notierte, war aber anders als das, was er vorher vermutet oder gehofft hatte.

13 Vgl. Albrecht Dürer, Niederländisches Reiseskizzenbuch 1520–1521, hg. v. Edmund Schilling, Frankfurt/M. 1928. 14 Vgl. Hans Rupprichs Kommentar in: Dürer, Schriftlicher Nachlass [Anm. 5], Bd. 1, S. 146f.

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Abb. 3: Albrecht Dürer: Ansicht des Hafens von Antwerpen, Federzeichnung aus dem Skizzenbüchlein (1520/21).

Doch beginnen wir mit der Nachricht, dem ersten Teil der Narration, die mitten zwischen ökonomischen Notizen zu finden ist: Jtem es ist ein wahlfisch zu Zürche in Seland mit einer großen Fortuna und sturmwind an land kummen, der ist viel mehr dann hundert klaffter lang. Und lebt niemand in Seeland, der ein gesehen hat, der ein drittaihl von der leng hett gehabt, und der fisch kann nit von land. Das volck sehe gern, das er weg were, dan sie forchten den grosen gestanck. Dann er ist so gar groß, das sie mainen, man könn jn [in] ein halben jahr nit auffhauen und öhl von im sieden. (Bd. 1, S. 162)

Die Strandung des riesigen Wals war tatsächlich – wie sie es auch heute noch wäre – eine Sensation, die sich rasch herumgesprochen hatte. Dass der Kadaver für die wohlhabende Bürgerstadt Zierickzee mit ihren zum Meeresarm hin vorgelagerten Sandstränden auch ein Problem darstellte, versteht sich von selbst. Das war es auch ohne heutige Touristen und Badegäste. Denn der Kanal zum Stadthafen ging durch die Sandflächen hindurch, so dass der Empfang fremder Handelsschiffe durch den Gestank nicht gerade freundlich gewesen wäre; hinzu kam, dass der stete Seewind den Geruch kräftig in die Gassen der Stadt getrieben hätte. Merians Stadtansicht aus dem 17. Jahrhundert kann diese Hafensituation, die sich

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in der Zwischenzeit kaum verändert haben dürfte, ganz gut sichtbar machen. 15 Gegenüber den Vorteilen, von denen vielleicht das einfache Volk profitiert hätte (Nahrung, Öl, willkommene Abwechslung im Alltag usw.), überwiegen für die wohlhabenden Handelsleute wohl eher die Nachteile der Strandung. Da die Nachricht aber über die südniederländischen Handelswege nach Antwerpen gekommen ist, stellt Dürer vermutlich im Sinne seiner Quellen die Nachteile in den Vordergrund. In der Erzählfolge wird zuerst das Sensationelle der Strandung, der Sturmwind und der großen Zufall, der den Wal gerade hierher gelenkt hat, bedacht, dann seine ungeheure Größe, die mit über 100 Klaftern – mit mehr als 80 Metern – völlig übertrieben angegeben wird, um das Einzigartige der Nachricht zu beglaubigen. Es folgt der Nachweis, dass das Geschehen singulär gewesen sei; keiner in der Provinz habe je ein so großes Tier gesehen. So wird ganz nebenbei evident, dass das Ungeheuer nicht so einfach wieder ins Meer verschwinden kann. Dies wird sich später als relevanter Teil der Geschichte erweisen. Hier kommen aber erst einmal die pragmatischen Erwägungen in Bezug auf die Einwohner zur Sprache. Der gestrandete Wal und sein Verwesungsgeruch erinnert an eine ältere apokalyptische Reisegeschichte, an Ovids ›Metamorphosen‹. Dort wird im zweiten Buch erzählt, wie sich der Jüngling Phaëthon von Helios den Sonnenwagen borgt, aber unglücklicherweise nicht beherrscht. Es reißt ihn hin und her, gleich einem Schiff, das der stürmische Boreas umtreibt; hilflos lässt der Steuermann das Schiff fahren und fleht um Erbarmen zu den Göttern. 16 Als sich der Sonnenwagen der Erde zu sehr nähert, kommt es zur Klimakatastrophe. Hier nun kommen in einer zeitgenössischen deutschen Übersetzung von Georg Wickram gestrandete Walfische ins Blickfeld, denn die Hitze hat die Meere zurückgehen lassen, so dass: Die Walfisch ungeheur und groß Lagen imm Sand wassers gantz bloß Gestrecket und jetz halber todt. 17

15

Vgl. Caspar Merian, M. Z. Topographia Germaniæ-Inferioris vel Circoli-Burgundiei das ist Beschreibung und Abbildung der Fürnembsten Örter in den Niederländischen XVII Provinzen […], Frankfurt/M. 1659, 2. Abb. zwischen S. 156 und 157. 16 Ovid, Metamorphosen, 2. Buch, v. 184f.: ut acta praecipiti pinus borea, cui victa remisit frena suus rector, quam dis votisque reliquit. Georg Wickram übersetzt: Der wagen schwancket hin und her / Gleich eym leichten Schiff uff dem Meer / Dann er hatt seinen last nit voll / Drum hupfft und schwanckt er manigs mol (Sämtliche Werke, Bd. 13,1, hg. v. Hans-Gert Roloff, Berlin u. a. 1990, S. 107, II. Buch, Verse 347–350). 17 Wickram, Sämtliche Werke, Bd. 13,1, S. 114 (II, v. 576–578).

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Dies ist der Augenblick, wo Neptun sein Haupt empor richtet und Jupiter um die Beendigung der apokalyptischen Reise Phaëthons bittet. Hat man die Verse Wickrams im Ohr, versteht man, dass der gestrandete Wal von Ziericksee im 16. Jahrhundert auch als Zeichen großen Unheils gedeutet werden konnte. Dies gilt insofern noch, als gestrandete Wale heute nicht selten als Hinweis auf Zivilisationsschäden etwa durch den Klimawandel, menschliche Ortungsgeräte oder veränderte Meeresströmungen verstanden werden. Die Verwendung der Vokabel »Walfisch« durch Wickram statt phôca – Robbe, Seehund – bei Ovid belegt erneut die modische Symbolhaftigkeit des Wals im 16. Jahrhundert. Zurück zu Dürers Niederlandeaufenthalt: Die Einzigartigkeit der Sensation und die vermutete Dauer der Naturerscheinung, der gigantische Wal kann ja nicht so einfach verschwinden, reizen und rechtfertigten für Albrecht Dürer eine recht aufwendige Reise. Die Strandung eines großen Wals mag ja auch heute noch ein Ereignis sein, das man nicht jeden Tag geboten bekommt. So zögert unser Reisender nicht lange und bricht nach Zierickzee in Zeeland auf. Ja, unser frühneuzeitlicher Ahab 18 verfolgt, wie wir sehen werden, mit immenser Energie seinen eigenen, durchaus fanatischen und gefährlichen Walfang. Dies aber wird erst nach einer Passage mit ökonomischen Notizen fast nebenbei vermerkt und deshalb auch beim Lesen erst peu à peu bemerkbar. Die Walerzählung ist hier also geteilt, so dass man die Vermutung hegen könnte, dass der Erzähler einen retardieren Effekt beabsichtigt. Da wir aber nicht wissen, welchen Notizrhythmus unser Schreiber pflegte und ob es eine spätere Umstellung oder Strukturierung der Eintragungen durch denselben oder seine Abschreiber gegeben hat, können wir über den Gestaltungshintergrund hier nur Vermutungen anbringen. 19 Dürer begann seine Zeelandreise am 3. Dezember 1520 mit einem Ritt von Antwerpen nach Bergen op Zoom, auch heute noch das Eingangstor in die Wasserprovinz. Die Landreise wird wie üblich mit ökonomischen Notizen und Arbeitsnachweisen begleitet. Im Skizzenbuch finden sich eine Reihe von Portraits und zwei Stadtansichten, eine stellt die in Bau befindliche Kathedrale dar. Die Zeichnungen werden zum Teil im Tagebuch vermerkt: 18

Vgl. Herman Melville, Moby-Dick; or, The Whale, New York, London 1851. Melvilles legendärer Roman gilt bis heute als eine der besten Enzyklopädien des vorindustriellen Walfangs. 19 Die beiden Versionen unterscheiden sich im Aufbau der Zeeland-Passage jedenfalls nicht. Da der Herausgeber aber annimmt, die Abschriften bezögen sich beide auf eine Reinschrift, die sich im Besitz Willibald Pirkheimers befunden habe – so der Kommentar von Hans Rupprich, in: Dürer, Schriftlicher Nachlaß, Bd. 1, S. 146 – erbringt diese Information insofern keine Klärung, als diese ja schon Produkt einer ästhetischen Umgestaltung gewesen sein könnte.

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Jch hab den Jan de Has, sein weib und sein zwo töchter mit dem kohln conterfet, und die magdt und die alt fraw mit dem stefft in mein büchlein. (Bd. 1, S. 162)

Bergen op Zoom, so Dürer, sei ein lustig ort jm Sommer, und sind des jahrs zween groß merckt (ebd.). Von hier aus geht die Reise per Schiff weiter. Sie führt über Goes zum Hafen Arnemuiden. Nun deutet sich an, dass es beschwerlicher zugeht. Auf die lustigen Tage in Bergen folgt eine kalte Nacht auf See: Es war fast (im Sinne von ›überaus, sehr‹) kalt, und hetten weder speiß noch trank (ebd.), notiert Dürer zu Beginn des abenteuerlichen Parts der Reise. Doch ehe er in dessen Erzählung einsteigt, notiert er den Reiseverlauf (vgl. Abb. 4), den er sowohl mit kulturellen Sehenswürdigkeiten als auch mit natürlichen Besonderheiten illustriert. Den Samstag kamen wir zu der Güs [Goes] […]. Von dannen fuhren wir geng Erma [Arnemuiden] […]. Wir fuhren für die untergangene flecken, da wir die spitz von dächern beÿ dem waßer sahen außragen. Und fuhren für das insulein Wohlfärtig [Wolfersdijk] und für das stättlein Gunge [Kortgene] in einer andern noch beÿliegenden jnsuln. […] Von dannen fuhr ich gen Mitelburg [Middelburg]; do hat in der abteÿ Johann de Abüs [Jan Gossart gen. Mabuse] eine grosse taffel gemacht, nit so gut im hauptstreichen als in gemähl. Darnach für jch zu der Fahr [Veere], da aus allen landen die schiff anlenden, ist ein fast feines stätlein. (Bd. 1, S. 162f.)

Abb. 4: Dürers Reiseroute von Bergen op Zoom nach Zierickzee (Karte nach Caspar Merian 1659).

Die offensichtlich wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Reise sind Zeelands Hauptstadt Middelburg und sein 1512 erbautes Rathaus sowie das (erst 1612 vollständig) versunkene Städtchen Pyr, von dem Dürer noch Reste aus dem Meer ragen sieht. Die unter dem Meeresspiegel liegenden und deshalb räumlich gewissermaßen inversen Insel-Landschaften werden später nochmals gewürdigt: Seland, heißt es re-

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sümierend, ist hübsch und wunderlich zu sehen, des wassers halben. Dann es ist höher als das erdreich. (Bd. 1, S. 163) Für die niederländische Raumwahrnehmung Dürers, insbesondere die Lokalisierung der höchst instabilen und deshalb für den Menschen prekären Schwelle zwischen Meer und Land, auf die ich später noch eingehen werde, sind diese Beobachtungen signifikant. Die Analepse, die zwischen erster und zweiter Erwähnung von Middelburg und der ›zeeuwschen‹ Landschaft unter dem Meeresspiegel eingefügt wird, zeigt die literarische Konstruktion der Zeeland-Passage im ›Tagebuch‹. Mit ihr bricht der Erzähler die diarische Chronologie zugunsten narrativer Komplexität auf, die, wie sich zeigen wird, allegorische Lesarten des Reiseabenteuers ermöglicht. Ästhetische und theologische Gestaltungsideen lassen den ökonomischen Rechtfertigungsdiskurs deshalb an dieser Stelle der Zeeland-Narration deutlich in den Hintergrund treten. Ausgaben und Kontakte, Sehenswürdigkeiten und Reisestationen werden nämlich vorerst nicht mehr verzeichnet. Die folgende Passage behandelt ausschließlich und dramaturgisch zugespitzt das Unheil, wie Dürer es formuliert, den »Unrath« von Arnemuiden: Aber zu Armuÿd, do ich anfuhr, do geschah mir ein grosser unrath. Do wir am lande stissen und unser saihl anwurffen, da trüng ein grosser schiff neben uns so kräfftig, und was eben in aussteigen, das ich ihm gedräng jederman für mir ließ außsteigen, alßo das niemand dan jch, Görg Köczler, zweÿ alte weiber und der schiffmann mit einen klainen buben jn schiff blieben. (ebd.)

Das ›Aber‹ zu Beginn des Absatzes markiert eine Besonderheit innerhalb der vorher chronologisch erzählten Reise, die die ausführliche Analepse rechtfertigt. Das Unglück beginnt mit der Isolierung weniger Reisender, zu denen Dürer gehört. Sie hatten teils zwangshalber, teils aus Freundlichkeit andere, auch kräftige und erfahrene Seeleute, deren Hilfe man später noch gut hätte gebrauchen können, vorher aussteigen lassen. Als sich nun das ander schiff mit uns trung und ich noch also mit den genanden vf dem schiff waren und nit auß konten weichen, do zerriß das starcke saihl, und so kam in selben ein starcker sturmwind, der trieb unser schiff mit gewahlt hinter sich. Do schrien wir alle umb hülff, aber niemand wolt sich wagen. Da schlug uns der wind wieder in die see. Da raufft sich der schiffmann und schriehe, dan seine knecht weren al auß getretten, und war das schiff ungeladen. Do war angst und noth, dan der wind war groß und nit mehr dan 6 personen jnn schiff. Do sprach ich zum schiffmann, er solt ein hercz fahen und hoffnung zu gott haben und nachdächt, was zu than were. Sagte er, wan er den klein segel kunt auffziehen, so wohlt wir … vnd versuchen, ob er wieder möcht anfahrn. Also halffen wir schwerlich aneinander und brachten lechst halb auff und fuhren wieder an. Und do die am landt sahen, die sich unser verwegen hetten, wie wir uns behulfen, do kamen sie uns zu hülff, und kammen zu land. (ebd.)

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Die Geschichte der Walstrandung zu Zierickzee, von der Dürer vor allem berichten wollte, dreht der Erzähler hier in gewisser Weise um. Wurde dort durch einen Sturm ein manövrierunfähiger Wal an Land getrieben, so drängt der Sturmwind nun Dürers Schiff, unlenkbar wie der Sonnenwagen, den einst der Sohn des Helios nicht in den Griff bekam, in rascher Geschwindigkeit vom Hafen vor Arnemuiden aufs offene Meer. Die Situation erscheint deshalb so dramatisch, weil das Schiff mit den wenigen, zudem meist unerfahrenen Menschen an Bord kaum zu beherrschen ist. Die berufenen Seeleute waren ja schon vor dem Unglück an Land gegangen. Als Held der Geschichte erscheint nun Dürer selbst; im Bauch des Schiffes gefangen, wendet er sich Gott und dem Steuermann zu. Mit Mut und Gottvertrauen gelingt schließlich die Rettung. Dürers Geschichte verläuft hier ganz anders als die des großspurigen Phaëthon, der zwar auch die Götter anruft, die wilde Fahrt aber nicht mehr in den Griff bekommt. Der verbleibende Schiffsmann lässt von den unfreiwilligen Helfern in der Not ein kleines Segel setzen, damit die Barke manövrierbar wird; so schafft man gemeinsam und ohne Katastrophe schließlich die behutsame Landung. Das Abenteuer in Arnemuiden kehrt die Strandung des Wals von Zierickzee zwar um, hat aber zudem unübersehbare Parallelen zur Geschichte des biblischen Jonas und seiner wundersamen Rettung. Schiff und Wal muss man indes, wie es die Bibel an dieser Stelle durchaus vormacht, weiterhin analog denken. Zwar konnte Dürer die zeitgenössische Luther-Übertragung noch nicht kennen, 20 doch dürfte sie die volkssprachliche Erinnerung der Jonasgeschichte im 16. Jahrhundert recht ›authentisch‹ wiedergeben. Von einem Wal im engeren Sinn ist aber auch bei Luther nicht die Rede: 21 In seiner Übersetzung verschafft der Herr einen grossen Fisch / Jona zuuerschlingen. Er hält sich dabei an die ›Vulgata‹: Dominus piscem grandem (Jona 2, 1). Doch wird sich hier wie dort und wie heute vermutlich jeder das größte aller Meerestiere, den Wal, vorgestellt haben. Vor seinem Abenteuer hält sich Jonas ganz wie Dürer im Bauch des Schiffes auf; wie dieser wendet er sich an Gott und die Schiffsleute als der Sturm losbricht. Schließlich scheint auch Jonas schiff ungeladen (Bd. 1, S. 163) zu sein wie dasjenige Dürers vor Arnemuiden. DA lies der HERR einen grossen wind auffs Meer komen / vnd hub sich ein gros vngewitter auff dem Meer / Das man meinet / das Schiff würde zu brechen. Vnd die Schiffleute 20 Die Abschreiber, die den Text sprachlich verändert haben, kannten die LutherÜbersetzung natürlich, zumal sie vermutlich im protestantischen Nürnberg wohnten. 21 Die Abbildung zu Beginn des Jonas-Kapitel in der illustrierten, letzten von Luther selbst für den Druck überarbeiteten Bibel (Wittenberg 1545) erinnert allerdings an die Zahnwal-Darstellungen bei Gesner oder Olaus Magnus (s. o.).

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furchten sich / vnd schrien / ein jglicher zu seinem Gott / vnd worffen das Gerete / das im Schiff war / ins Meer / das es leichter würde. Aber Jona war hinunter in das Schiff gestiegen / lag vnd schlieff. (Jona 1, 4–5)

Dürers Geschichte geht freilich anders aus als die von Jonas. Doch werden beide durch Gottes Gnade gerettet, genauer: beide retten mit Gottes Hilfe das Schiff und seine Passagiere. Und in beiden Fällen spielt das größte Meerestier eine Schlüsselrolle: Jonas wird durch einen ›großen Fisch‹ gerettet, Dürer auf der Fahrt zu einem gestrandeten Wal. Wie nah die beiden Geschichten beieinander liegen, wird evident, wenn man die Raumbewegungen beider Schiffe ansieht. In beiden Fällen treibt der Sturm sie ins Meer, während die Schiffsleute an Land zu kommen suchen. In der Luther-Bibel heißt es: Vnd die Leute trieben / das sie wider zu lande kemen / Aber sie kundten nicht / Denn das Meer fuhr vngestüm wider sie. (Jona 1, 13)

Als die Rettung schließlich gelingt, zeigt sich bei Dürer ein Publikum, das in seinem Duktus sehr an die Schiffsleute in der Jonas-Prophetie erinnert, die durch den beruhigten Sturm zu Gott finden, ganz abgesehen davon, dass dies für Dürer und den armen Jonas ja auch gilt. Bei diesem dauert die Rettung allerdings drei Tage, bis er an Land gespuckt wird. Im Tagebuch Dürers übernimmt dies das Schiff. Übrigens braucht die dann folgende Schiffsreise auch genau drei Tage, um von Arnemuiden, dem Unglücksort, nach Zierickzee zu gelangen, wo Dürer hofft, den Wal zu sehen. Nimmt man die Sturmstillung im Markus-Evangelium (Mk 4, 35–41) 22 hinzu, die als eine Art Überbietungsgeschichte zu Jona 1 gelesen werden kann, erscheint die Tat Dürers geradezu übermenschlich. Auch Jesus ruht noch wie Jonas zu Beginn des Sturms. Allerdings ist er nicht wie dieser Gottes Werkzeug, sondern dessen eigenständig agierender Sohn. Nicht Gottvater bezwingt in dieser Geschichte den Sturm, sondern Christus selbst. Mit göttlicher Kraft kann Dürer freilich das Wasser nicht bändigen, aber durch selbstbewusstes und tatkräftiges Zupacken kann er sich erfolgreich dem Unheil entgegenstemmen. Die Imitatio Christi Dürers wird bei der Beruhigung der Seeleute noch deutlicher: Dürers aufmunternde Rede entspricht in seiner zweigliedrigen Struktur deutlich der Mahnung Christi im Markus-Evangelium: Do sprach ich zum schiffmann, er solt ein hercz fahen und hoffnung zu gott haben. (Dürer, Bd. 1, S. 163) Vnd er sprach zu jnen / Wie seid jr so furchtsam? Wie das jr keinen glauben habt? (Mk 4, 40) 22

Den Hinweis verdanke ich Denise Hagedorn.

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So erscheint in Arnemuiden Dürer wie Christus als Vorbild in Gottvertrauen und Tatkraft. Eine Parallele von Wal und Schiff legt nicht nur die Jonas-Geschichte nahe, sondern auch Psalm 104, wo es, mit Luther, heißt: DAS Meer das so gros vnd weit ist / da wimmelts on zal / Beide gros vnd kleine Thier. Daselbs gehen die Schiffe / Da sind Walfische / die du gemacht hast / das sie drinnen schertzen. (Ps 104, 25–26)

Was den Menschen Angst und Schrecken einjagt, ist für Gott nur ein Scherz, ein Spiel: der Wal als Leviathan. Dass dieser gleichzeitig auch die Macht des Teufels symbolisiert sei zumindest noch erwähnt. 23 In Dürers Erzählung und vielen anderen Seegeschichten ist es natürlich der Sturm, der sein Spiel mit den Schiffen treibt. In den Walfängerlegenden à la ›Moby Dick‹ sind es dann beide zusammen, Wal und Sturm. All dies ist im Schreckbild des Leviathan angelegt, auch wenn bei Dürer Sturm und Wal, die beiden ungeheuren Naturgewalten, bei genauem Hinschauen noch zu unterscheiden sind. Durch die Macht Gottes, dem es gegeben ist, mit Schiff und Wal oder durch den Sturm als Leviathan zu spielen, der aber auch die Kraft geben kann, dem Unheil standzuhalten, erhalten die Bibel-Geschichten und Dürers Erlebnis einen vergleichbaren theologischen Sinn, auch wenn in Zeeland vom Helden selbst noch kein Wal gesichtet wurde. Was ist eigentlich aus dem wahlfisch zu Zürche in Seland (Bd. 1, S. 162), dem Ausgangs- und Endpunkt der Reise, geworden? Kommt der Erzähler nun endlich zur Sache? Nein, er verzögert wieder. Narratologisch könnte man das, was jetzt folgt, als Erzählpausen und Dehnungen verstehen. Denn nun lesen wir wieder über die Landschaft Zeelands, die Sehenswürdigkeiten in Middelburg und müssen fast eine halbe Seite ökonomischen Diskurs ertragen: Von gemalten Bildern ist die Rede, von Ausgaben und Geschenken, einer indianischen Nuß und – wir sind ja in den Niederlanden – einer kostbaren Blumenzwiebel. Dann erst geht es weiter, allerdings erschreckend lapidar: Vnd am mondag frühe fuhren wir zu schiff wieder aus und führen für die Fahr [Veere] und für Zürchse [Zierickzee]. Wolt den grosen fisch gesehen haben, da hett in die Fortuna wieder weg geführt. (Bd. 1, S. 163)

Als Dürer in Zierickzee landet, ist der Wal also vom Land verschwunden. Es folgen Angaben zu Gemälden, Einnahmen und Ausgaben. Die reibungslose Rückfahrt geht über Bergen op Zoom nach Antwerpen. Die große Reise, die überstan23 In der Luther-Bibel heißt es zu Hiob 40, 19 entsprechend: Wie Leuiathan alle grosse vngehewre Fische [heißen]. Aber dar vnter berschreibet er [der Herr] die gewalt vnd macht des Teufels vnd seines Gesinds / des gottlosen Hauffens in der Welt.

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dene Gefahr in Arnemuiden – beides war, wenn man das enttäuschende Ende betrachtet – eigentlich sinnlos. Wie aber kann man seine spärliche Notation über den ins Meer getriebenen Wal deuten? Zuerst einmal schließt sich der Kreis: Der HERR hats gegeben / der HERR hats genom[m]en, heißt es bekanntlich bei Hiob (1, 21). Die Geschichte hat sich selbst erledigt. Sie zeigt sich dabei rückblickend als Geflecht sich überlagernder Strukturen: Kreis, Antinomie und Parallele. Doch wenn man diese sieht, erscheinen weder die Reise noch ihre Geschichte sinnlos. Beides erhält ihren Sinn aus der narratologischen Struktur, die mehrfache Spiegelungen, Neuanfänge und Parallelen hervortreibt. Diese ermöglichen eine Lektüre, die die Einzelteile der Geschichte zur gegenseitigen Deutung heranzieht. Dabei sind stets jene vorwiegend biblischen Parallelen zu bedenken, die die Einzelteile der Geschichte aufrufen. Ein besonderes Gewicht erhält dabei natürlich die Jonas-Prophetie. Schauen wir uns die fünfteilige Struktur der kleinen Walfisch-Geschichte noch einmal an. Sie erscheint in ihren Strukturen so artistisch, dass es lohnt, sie sich als kleines Schema zu vergegenwärtigen; mit etwas Geschick kann man novellistische und dramatische Gestaltungsmuster erkennen, die Dürer vermutlich eher intuitiv einsetzt: 1. Nachricht von der Strandung des Wals vor Zierickzee am 24. 11. 1520 (Dritter Aufenthalt in Antwerpen, 37–46 24 ): Exposition 2. Reise von Antwerpen nach Veere vom 3. 12. 1520 bis 10. 12. 1520 I. Teil, (Reise nach Zeeland, 1–34): Retardierende Passage 1 3. Analepse des Unglücks in Arnemuiden am 8. 12. 1520 (Reise nach Zeeland, 35–63): Höhepunkt 4. Reise von Antwerpen nach Veere vom 3. 12. 1520 bis 10. 12. 1520 II. Teil, (Reise nach Zeeland, 64–77): Retardierende Passage 2 5. Nachricht vom Verschwinden des Wals vor Zierickzee am 10. 12. 1520 und Rückreise bis zum 14. 12. 1520 (Reise nach Zeeland, 78–101): Katastrophe 25

Das Ende der Geschichte erweist sich als Inversion ihres eigentlichen narratologischen Kerns, des Unglücks von Arnemuiden, und als Aufhebung ihres Ausgangspunktes, der Anschwemmung des Wals. Spuckte einst der Wal den Propheten 24

Angaben in Zeilen nach: Dürer, Schriftlicher Nachlaß [Anm. 5], Bd. 1, S. 162–

167. 25 Als ›Katastrophe‹ könnte man das Verschwinden des Wals und damit die Unsinnigkeit der Reise ansehen. Der Wal verschwindet aus Dürers Leben, in gewisser Weise ›stirbt‹ er also ein zweites Mal.

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Jonas zur Rettung an Land, hat das Meer jetzt den großen Wal – vielleicht zur Rettung, vielleicht aber nur den Kadaver – zurückgenommen. Die Jonas-Geschichte hat sich hier also ebenfalls umgedreht. In Bezug auf Dürers Abenteuer in Arnemuiden gibt es auch eine signifikante Verkehrung: Bestand dort die Rettung in der Strandung, liegt sie hier, sollte der Wal gerettet worden sein, reziprok dazu im Meer. Befreit wurde aber die Stadt Zierickzee. Wenn man an Ovids ›Metamorphosen‹ und den Leviathan als lutherisches Symbol des Teufels denkt, so erleben wir mit den Bürgern eine Peripetie. Die apokalyptischen Zeichen mit ihrem zu erwartenden höllischen Gestank haben sich ins Meer zurückgezogen. In allen Fällen erweist sich die Meeresküste als Schwelle zwischen Rettung und Gefahr, wobei – das ist der Witz – die Schwelle sich mit dem Anschwellen des Meeres so verschiebt, dass die Gefahr wächst oder eben vergeht und das Rettende kommt. Man mag es mit Hölderlins ›Pathmos‹-Hymne denken: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. 26

Das Anschwellen des Meeres bedeutet eben beides, die Gefahr und die Rettung; das Meer trägt Dürers Schiff hinaus und bringt es zurück in den Hafen. Tatsächlich gelten für den betenden Dürer auch die ersten Verse: die Präsenz des schwer zu fassenden, schwer zu begreifenden Gottes angesichts der Gefahr. Erinnern muss man sich dabei an das, was Dürer über die merkwürdige Lage des zeeuwschen Landes gesagt hat: Zeeland liegt größtenteils unter dem Meeresspiegel und wird auch heute noch nur durch Dünen, Schleusen und Wälle geschützt. Der Sturm zeigt sich als himmlische Kraft, die die Schwelle durch Anschwellen verändern und überwinden kann, wann und wie es ihr gefällt. Die Dächer des versunkenen zeeländischen Städtchens Pyr hatte Dürer ja gesehen. Anfang der 1953er Jahre hat die letzte große Sturmflut Zeeland überschwemmt. Margriet de Moors Roman ›De verdronkene‹ aus dem Jahr 2005 handelt davon. Zierickzee ist hier der Ausgangspunkt einer verhängnisvollen Reise. 27 Dass zu Beginn von Dürers Zeelandreise, bei der Strandung des Wals und jetzt bei seiner Rückkehr ins Meer von der Fortuna die Rede ist, akzentuiert auch sprachlich den Kreischarakter der Walerzählung, in deren Zentrum nicht der Wal, sondern das Unglück von Arnemuiden steht. Hier wurde, wie einst Jonas, Dürer nach der Gefahr wieder an Land gespuckt. Nur in dieser Spiegelung rückt der Wal 26 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Darmstadt 1998, Bd. 1, S. 447. 27 Vgl. Margriet de Moor, De verdronkene [dt. Titel: Sturmflut], Amsterdam 2005.

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– ohne vom Helden je gesehen zu werden – zurück ins narratologische Zentrum. Die Zeelandreise erzählt eigentlich vom Abenteuer in Arnemuiden, erhält ihre Motivation und Deutung aber durch den »wahlfisch zu Zürche« (Bd. 1, S. 162).

Abb. 5: Albrecht Dürer: Kopf eines Walrosses, Federzeichnung aus dem Skizzenbüchlein (1520/21).

Einen Wal hat Dürer übrigens nie gesehen, aber ein Walross (vgl. Abb. 5). Das hat er bei seiner Reise in die Niederlande gezeichnet und beschriftet. Das dosig thÿr, van dem jch do das hawbt conterfett hab, ist gefangen worden jn der Niderlendischen see vnd was XII ellen lang brawendisch mit für füssen. (Bd. 1, S. 209)

Das Bild und der Text über das gebändigte Tier mäßiger Größe machen deutlich, dass wir es beim Walross anders als beim Walfisch keinesfalls mit einem Leviathan zu tun haben.

Die Provence und die Provenzalen im ›Parzival‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach von René Pérennec, Tours / Osny

Es wird im Folgenden um einige Manifestationen der poetischen Kreativität Wolframs von Eschenbach gehen, die – so die hier vorgebrachte These – in Beziehung gesetzt werden können zu einer mentalen Grunddisposition des Autors wie auch zu dessen (aus der geschilderten epischen Welt im ›Willehalm‹ sowie aus Erzählereinschüben im ›Parzival‹ ableitbaren) Vorstellung eines realgeographischen Raums, der Provence. Vor dem Hintergrund der deutschsprachigen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts erweist sich die Frequenz der Bezeichnungen Provenz(e) und Provenzal(e, en) im ›Parzival‹ (= Pz.) und im ›Willehalm‹ (= Wh.) und vor allem ihr Stellenwert in beiden Texten als auffällig hoch. Mit der Herkunft des Stoffes hat dies unmittelbar nichts zu tun, denn die französischen Entsprechungen Provence und Provençal kommen in den französischen Vorlagen von Wolframs Erzählungen nicht vor. Die ›Kaiserchronik‹ kennt die Stadt Arl 1 ; dabei läßt sich die phonetische Assoziationslogik (Reimwort: Karl) leichter fassen als die geographische, denn diese Episode des Kampfes Karls des Großen gegen die ›Heiden‹ folgt auf eine Schlacht ze Navarren (V. 11479) und geht der Belagerung ainer burch haizet Gerundo (V. 14911, wohl das antike Gerunda, das heutige Gerona in Nordostspanien) voraus, was darauf deuten könnte, daß Arl aus der Sicht der Chronik zum süd w e s t l i c h e n Teil des karolingischen Aktionsbereichs gehört. Die Erwähnung des Wunders von der Scheidung der Gefallenen nach ihrer Glaubenszugehörigkeit und von der Einsargung der Christen (V. 14904–907) verrät allerdings eine gewisse Kenntnis einer mit der Nekropole von Arles, Alyscamps, verbundenen Sage mutmaßlich provenzalischer Herkunft, 2 doch fällt der Name Provence nicht. Man 1 Kaiserchronik, hg. von Edward Schröder, Berlin 1892, Nachdruck Dublin, Zürich 1969, V. 14885: Do besaz aver der kaiser Karl / aine burch, haizet Arl. 2 S. dazu: Karl-Heinz Geith, Die Sarkophage von Alyscamps in Wolframs ›Willehalm‹, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 12 (1977), S. 101–117.

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kann auch nicht schlichtweg sagen, daß dies dann im ›Rolandslied‹ geschieht, denn dort wird Provence als Schauplatz der Großtaten von Rolands Schwert im Heidenkampf mit Provincia wiedergegeben. 3 Wie in der ›Kaiserchronik‹ (Italia, Yspania usw.) wird noch aus dem Fundus der lateinischen Nomenklatur geschöpft. Erst im dritten Text dieser franko-deutschen Reihe, im ›erniuweten‹ Rolandslied, im ›Karl dem Großen‹ des Stricker, erscheint der Ländername, noch leicht latinisiert (das i), aber auch etwas germanisiert, in seinem eigenen zeitgenössischen Gewand, und zwar nicht im Lob der Waffe 4 , sondern in einem Einschub, der von der Beglaubigung des Berichts über Rolands Tod durch St. Ägidius erzählt: sante Gilje der reine, der saz do alterseine ze Provinze in eime hol. dâ weste in Karl vil wol und quam durch got vil dicke dar. dem hete dise rede gar der heilege engel geseit. dô schreip erz für die wârheit und gap ez Karle alsô geschriben. sus ist daz buoch unz her beliben ungevelschet sîne zît. (Stricker, ›Karl‹, V. 8239–49)

In den drei erwähnten deutschen Texten liegt die Provence – oder mehr oder minder deutlich dafür stellvertretend Arles – am äußeren Rand der christlichen Welt, wodurch sie sich zum Betätigungsfeld für ›Athleten Christi‹ beider Arten besonders gut eignet. Das schemenhafte Bild gewinnt an Deutlichkeit in Wolframs ›Parzival‹, der, folgt man der gängigen literaturgeschichtlichen Chronologie, vor dem Strickerschen ›Karl‹ verfaßt wurde und dementsprechend, wenn man recht sieht, den ersten Beleg für die deutsche Form des Namens Provence liefert, 3 La Chanson de Roland – The Song of Roland. The French Corpus, hg. von Joseph J. Duggan, Part 1: The Oxford Version, hg. von Ian Short (Bd. 1), Laisse 172, V. 2325f.: si l’en cunquis [auch gewann ich (= Roland) ihm (= Karl dem Großen) damit] Provence et Equitaigne / e Lumbardie e trestute Romaine. Die Fassung Venedig 4 klingt der okzitanischen Lautung näher, hg. von Robert F. Cook, ebd., Laisse 188, V. 2479: si li conuis e Pröençe e Geraine […]. – Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg., übers. und komm. von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993, V. 6833f.: ich twanc mit dir Provinciam / unt die starken Progetaneam. 4 Die Strickersche ›erneuerte‹ Fassung (V. 116) zieht an dieser Stelle eine Nord-SüdLinie und nennt wie die ›Kaiserchronik‹ einen südlichen Grenzpunkt, Arl, nicht ein Grenzgebiet: Karl der Große von dem Stricker, hg. von Karl Bartsch, Quedlinburg, Leipzig 1857, Nachdr. Berlin 1965, V. 8186: swaz lande von Tenemarke / unz hin ze Arle sint gelegen, / die müezen sîn [= des keisers] ze herren pflegen.

Provence und Provenzalen bei Wolfram von Eschenbach

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827,9: von Provenz in tiuschiu lant / diu rehten mære uns sint gesant. 5 Die Provence wird demnach nicht nur als Vorposten der Christenheit gesehen, sie kann auch für das ›Hinterland‹ eine Versorgungsfunktion erfüllen. Und sie ist bewohnt; sie hat sogar mobile Einwohner. Einige von ihnen finden sich in Kanvoleis zu dem von Herzeloyde, der Königin von Waleis, eingerichteten Turnier ein, 66,29: Hie hânt die Provenzâle / schilde wol gemâle. Jovedast von Arl ein Provenzâl (772,22) zählt zu den Rittern, die von Parzival besiegt wurden. Große Mobilität zeigt auch der Provenzale, der laut verschiedener Aussagen des Erzählers die wahre Geschichte von Parzival vermittelt haben soll, 416,25: Kyot ist ein Provenzâl, / der dise âventiur von Parzivâl / heidensch geschriben sach und anschließend eine ›Forschungsreise‹ unternahm. Vor allem aber: wenn es im ›Parzival‹ prinzipiell jederzeit möglich ist, neben Vertretern anderer ethnischer Gemeinschaften wie Franzoys od Bertûn, […] od Burgunjoys (416,9f.) auf Provenzalen zu treffen oder auf einen Provenzalen insbesondere, scheinen zwei Stellen, 805,9: op der Provenzâl die wârheit las und 827,5: endehaft giht der Provenzâl, / wie Herzeloyden kint den grâl erwarp zu suggerieren, daß es bei Wolfram nicht nur die Provence und die Provenzalen gibt, sondern auch den Provenzalen per se und damit – als herausgehobene Qualität – so etwas wie ›die Provenzalität‹. Was macht in dieser Angelegenheit der Quellendoppelung und -konkurrenz das Besondere am Provenzalen aus? Warum hat Kyot anscheinend ein Provenzale zu sein, wo er doch seinerseits die Geschichte von Parzival en franzoys (416,28) erzählt? Es hätte doch unter diesen Umständen genügt, einen Auch-Franzosen als Gewährsmann für die ›Gegen-Quelle‹ zu nennen. Man kann hier je nach Gewichtung von Ernst und Spiel, Zufall und Überlegung an verschiedene Möglichkeiten denken. 6 Ernst zu nehmen ist die Kyot-Figur als Hypostase eines doppelten Kulturvermittlungsprozesses – zwischen arabischer und jüdischer Kultur in der iberischen Welt, zwischen dem Produkt dieses Kontakts und der christlichen Welt. 7 Ebenso wichtig ist die Dimension des Spiels. Das zeigt sich eindrücklich schon an der Stelle, wo der Name Kyot zum ersten Mal fällt, bei Vers 416,20, im 8. Buch. Entstehungsgeschichtlich gesehen gehört das Auftauchen der Kyot-Figur in eine Schaffensphase, in der Wolfram wohl schon wußte, daß er mit der nächsten Epi5

Zitate nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin 1998. 6 Forschungsgeschichtlicher Überblick zum ›Kyotproblem‹ in: Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 244–247. 7 S. Victor Millet, Von Drachentötern, Quellenfiktionen, Pastourellen und Lehnwörtern. Kritische Notizen zu jüngeren Thesen über deutsch-spanische Beziehungen im Mittelalter, in: ZfdPh 124 (2005), S. 103–111 (siehe den Teil »Wolframs Kyot in Toledo?«).

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sode gegenüber dem ›Conte du Graal‹ (= CdG) eine gewaltig erweiterte und mit viel Material nicht-Chrétienscher Provenienz angereicherte Fassung der Karfreitagsepisode ›liefern‹ würde. Den Rahmen bildet eine Beratungsszene, die in Schampfanzun (Escavalon im CdG), der ›Hauptstadt‹ des Lands Ascalun, stattfindet. Es geht um die Frage, wie man sich dort gegenüber Gawan verhalten soll: die Königsfamilie von Ascalun betrachtet ihn als ihren Erzfeind, aber eben in dieser Eigenschaft hätte er bis zum Zweikampf gegen den Vertreter dieser Familie unter Geleitschutz stehen sollen. Ein Fürst im Dienste des Königs von Ascalun ergreift das Wort: der was geheizen Liddamus. / Kyôt in selbe nennet sus (416,19f.). Besagter Liddamus beruft sich in Rede und Gegenrede auf literarische Gestalten, die eines gemeinsam haben: notorischerweise kämpfen sie (selber) ungerne. Es handelt sich um: Drances (419,13), der im Eneasroman (sowohl im ›Roman d’Eneas‹ wie in Veldekes Wiedererzählung) einen Zweikampf zwischen Turnus und Eneas als Weg zur Regelung des Konflikts empfahl, um Rumolt (420,26), den Küchenmeister am Burgundenhof im ›Nibelungenlied‹, der seinen Herrn Gunther vor den Gefahren einer Fahrt ins Hunnenland warnte, und um Sibeche (421,23), den bösen Ratgeber aus der Dietrich-Epik, der selber nie das Schwert zog. Kyot soll demnach die Richtigkeit des (aus Solin stammenden und »eher lateinisch als schampfanzisch« 8 klingenden) Namens Liddamus und damit wohl auch die Existenz der Figur dieses Namens verbürgen, die ihrerseits auf real existierende Erzählungen verweist. Geht man in der Kette rückwärts – so der damit geschaffene Eindruck –, dürften die zwei ersten Kettenglieder die Wahrhaftigkeitsprobe genau so gut bestehen wie die letzten. Liddamus zitiert seine Quellen, der Auftritt des Liddamus ist wiederum ›quellenkundlich‹ gedeckt. Von Kyot, dem Ur-Bürgen. Kurz: Gerade im Moment, wo er beginnt, seine Quellenfiktion aufzubauen, entmystifiziert Wolfram diese Fiktion (auch eine Form der von Dennis H. Green beschriebenen Technik des revealing while concealing) 9 : wenn alle Worte der Literatur stufenweise auf eine Quelle zurückgeführt werden können, kann diese Quelle keine andere sein als die Phantasie. Nun zurück zu der Frage: warum ist dieser zum Schimpf wie zum Ernste tendierende Kyot ein Provenzale? Carl Lofmarks Antwort war: 8

Carl Lofmark, Zur Interpretation der Kyotstellen im ›Parzival‹, in: WolframStudien IV, hg. von Werner Schröder, Berlin 1977, S. 33–70, hier S. 63, mit Verweis auf Jean Fourquet, Les noms propres du Parzifal, in: Mélanges de philologie romane et de littérature médiévale offerts à Ernest Hoepffner, Paris 1949, S. 247–260, hier S. 258 [nachgedruckt in: Jean Fourquet, Recueil d’études, réunies par Danielle Buschinger et Jean-Paul Vernon, vol. I: Etudes médiévales, Université de Picardie, Centre d’études médiévales, Amiens 1979, S. 190–205, hier S. 203]. 9 Dennis H. Green, The Art of Recognition in Wolfram’s ›Parzival‹, Cambridge 1982, bes. S. 11–14.

Provence und Provenzalen bei Wolfram von Eschenbach

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»Der Einfall, aus dem Gewährsmann Kyot einen Provenzalen zu machen, dürfte zunächst wohl durch das Wort Provenzâle 416,9 – knapp zehn Verse vor dem ersten Kyoteinschub – suggeriert sein: Wolframs Phantasie wird oft durch nichtssagende Kleinigkeiten dieser Art angeregt.« (Ebd. [Anm. 8], S. 64)

Es liegt mir fern, die Macht des Schmetterling-Effekts in Wolframs Dichtungen in Frage stellen zu wollen, aber in diesem besonderen Fall wird nicht klar, warum das Wort Provenzâle und nicht etwa Bertûn oder Burgunjoys oder noch Galiciâne dem Dichter ins Auge stach oder im Ohr blieb, werden doch diese weiteren Gentilnamen im gleichen Atemzug genannt (416,8–10). Einmal das Postulat angenommen, daß die quintessentielle Gewährsperson aus der Provence stammen sollte, kann man aber Carl Lofmark folgen und mit ihm mutmaßen oder zumindest selber nicht ausschließen, daß eine provenzalische Herkunft des Garanten »die Gelegenheit zu einer köstlichen Verwirrung mit dem (auch in Deutschland) bekannten französischen Dichter Guiot de Provins bot« (ebd., S. 64). Die Hypothese hat in der Tat einiges für sich; recht besehen, setzt sie einen Konnex über die phonetische Interpretation einer Graphie, also den Weg über den buochstap voraus. Guiot de Provins kann in der Tat (auch heute) auf recht natürliche Weise von einem deutschen Muttersprachler, der diesem Namen nur in geschriebener Form begegnet und keine Vorkenntnis der Regeln der französischen Phonetik hat, oral als [ki'o:tfonpro'vints] wiedergegeben werden. Jetzt von der anderen Seite her betrachtet: eine deutsche phonetische Wiedergabe von frz. Provence (oder provençal) mit einem i-Element in der Mitte ist konkret realisiert im Strickerschen ze Provinze (s. o.); sie kann auch punktuell in der Wolfram-Überlieferung 10 und anderswo in Texten aus dem 13. Jahrhundert belegt werden. 11 Werden nun das apokopierte deutsche Fremdwort Proventz (wie in Pz. 827,9) und das [pro'vints] gesprochene französische Wort Provins irrtümlich als Varianten ein und desselben Namens interpretiert 12 oder spaßeshalber als solche hingestellt (die Mystifikations10

Vgl. die Lesarten provinzale zu ›Willehalm‹ (Wh.) 439,4 der Provenzalen lant und prouinzalen zu Wh. 439,30 der Provenzale vürste, Ausgabe Werner Schröder, Berlin, New York 1978. 11 Rudolf von Ems, Wilhelm von Orlens, hg. von Victor Junk, 1905, Nachdr. Dublin, Zürich 1967, V. 6182: Grave Arialt der Provenzal; V. 6419: Der Provinzal grave Arialt. S. auch Ulrich von Türheim, Rennewart, hg. von Alfred Hübner, die Varianten zu Provenze V. 20857: prvfentze, provincien. 12 Nach Ausweis des ›Willehalm‹ unterschied Wolfram seinerseits sehr wohl zwischen beiden Namen. Provins (eine Stadt, die als Standort einer der großen Champagnemessen bekannt war), erscheint dort als Provis (Wh. 437,11). Die Endung ist durch den Reim (Salis = Senlis) gesichert; Provis ist der Schlachtruf des Gandalus von Schampane (Wh. 437,10). Es könnte sein, daß Wolfram den Stadtnamen aus berufenem, weil champagnischem Munde kannte, s. dazu Lofmarks Bemerkung [Anm. 8], S. 40, Anm. 17: »Die Form Prôvîs ist richtig, weil in Provins das i lang ist, was den Nasalschwund vor s regel-

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hypothese setzt eine gleichsam arbeitsteilige Kombination beider Möglichkeiten voraus), so kann in einem zweiten Schritt Provenzal als Ableitung von Proventz oder von Provins verstanden bzw. angeboten werden. Die Annahme eines Ineinanderblendens von Provence und Provins erklärt, daß der ›pan-prov(e/i)nzalische‹ Gewährsmann Kyot heißt (< altfrz. Guiot) und nicht anders, was der Mystifikation die unentbehrliche relative Glaubwürdigkeit verleiht, denn, wie es die Literaturgeschichte bestätigt, ist dieser Guiot keine schlechte Besetzung in der Rolle des ›Fährmanns‹ zwischen dem okzitanischen, dem französischen und dem deutschen Sprach- und Kulturraum. Er »erhielt einen Teil seiner Ausbildung in der Provence, namentlich an der St. Trophime-Schule in Arles. Er pflegte dort die Lyrik provenzalischer Prägung, was seinen Ruf als Dichter der Liebe begründete. Er wurde für seine Kunst an den meisten großen europäischen Höfen gefeiert« 13 (und soll bei der curia celebris von 1184 in Mainz erschienen sein). Um diese Bemerkungen über die ausdrucksseitigen Folgen der Wahl der Provence als Herkunftsland des Garanten der rehten mære zu beschließen, soll an eine weitere phonetische Koinzidenz erinnert werden. Was erzählt Wolfram? In der Hauptsache: die aventiur von Parzivâl (416,26). Was soll dabei erworben werden? der grâl (827,6). Von allen Gentilnamen, die im ›Parzival‹ vorkommen, kann, wenn man recht sieht, nur der Name Provenzal das Reimwort auf Parzival und gral liefern, und das tut er an den zwei eben angegebenen Stellen. Die Person des Gewährsmanns und das Wesen der Geschichte harmonieren miteinander … Daß diese Harmonie prästabiliert war, daß der Gleichklang der Grund war, weshalb Wolfram sich für einen Provenzalen als Garanten und Mittler entschied, wäre aber ein gewagter Schluß. Man wird wohl auch mit anderen Parametern zu rechnen haben. Besieht man sich jetzt die ernsthaftere Facette der Kyot-Figur (das, was oben als Hypostasierung eines doppelten Kulturkontakts bezeichnet wurde), kann man sich wieder – und zwar spontaner als bei der Hypothese eines Vexierspiels um Provenz und Provins – Lofmarks 14 Urteil anschließen: »Die Vorstellung vom Provenzalen, e i n m a l g e s c h a ff e n [Hervorhebung von mir, R. P.], paßt dann ausgezeichnet zum Vermittler arabischen Wissens, der in Tole-

mäßig zuläßt.« S. auch Wendelin Foerster, Wörterbuch zu Christian von Troyes, Halle 1914, S. 200. Die Länge des i in Provis erschließt Lofmark wohl aus dem Versbau: Gandalus von Schampane / und die sinen schriten Provis. / Jofreit von Salis / ouch siner krie niht vergaz. 13 Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age (Neubearbeitung), hg. von Geneviève Hasenohr und Michel Zink, Paris 1992, S. 649f. – S. auch Wolfgang Mohr, Wolframs Kyot und Guiot de Provins, in: ders., Wolfram von Eschenbach. Aufsätze, Göppingen 1979, S. 152–169. 14 Lofmark [Anm. 8], S. 64f.

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do arbeitet, aber auch angewinische 15 Quellen kennt; und das paßt auch zum Gral, der in wilder Landschaft entlegen durch die (in Südfrankreich und Nordspanien starken) 16 Tempelritter geschützt wird.«

Allerdings würde ein Katalane ebensogut, wenn nicht besser, ins Bild passen, und es gibt im ›Parzival‹ einen solchen Katalanen: der herzoge von Katelangen (477,4) erfreut sich als Parzivals oheim, Condwiramurs veter und als Vater der Sigune einer gewissen Sichtbarkeit im verwandtschaftlichen Beziehungsnetz. Er gerät an einer Stelle – zufällig? – durch Kontiguität ins Spannungsfeld, das sich um Kyot bildet: die Erzählung nennt ihn zum letzten Mal (805,11) unmittelbar nach einem erneuten Hinweis auf die Autorität des »Provenzalen«. Nicht zuletzt: von Katelange der herzog (799,28f.) trägt auch den Namen »Kyot«. Wäre die relativ geringe Entfernung von Toledo und die geistig-atmosphärische Nähe zum Templerorden für die Wahl des Basis-Standorts des Gewährsmanns von entscheidender Bedeutung gewesen, hätte Wolfram mühelos und mit unverminderter Glaubwürdigkeit eine Permutation zwischen seinen beiden Kyot-Figuren vornehmen können. Wir ziehen ein Teil-Fazit: Man sieht bzw. man hört (das -âl-Echo) oder meint herauszuhören (Provence/Provins), w i e Wolfram Kyots ›Provenzalentum‹ gestalterisch zu n u t z e n wußte. W e s h a l b der angebliche Gewährsmann (ziemlich emphatisch) zum Provenzalen deklariert wird, ist vom ›Parzival‹ her nicht wirklich ersichtlich. Wir wiederholen also die Frage und richten sie – deplaziert im unmittelbaren Wortsinn, ob auch im anderen Sinne wird sich erst im Endeffekt zeigen – an den ›Willehalm‹ und erhoffen uns von dieser zweiten Erzählung weitere Informationen über das Bild, das sich Wolfram von der Provence machte. Wie in den eingangs erwähnten Texten (›Kaiserchronik‹, ›Rolandslied‹, ›Karl der Große‹) ist die Provence im ›Willehalm‹ ein Gebiet, in dem ein bewaffneter Konflikt zwischen der Christenheit und dem Islam stattfindet; und dies wird in dramatischerer Form als in den schon zitierten Texten formuliert: 8,9f.: Provence 15 In diesem besonderen Punkt wäre zu fragen, ob die Kontakte zwischen der Provence und Anjou zu Anfang des 13. Jahrhunderts so bedeutend waren. Klar ist dagegen, daß sie ab 1246 mit der Vermählung Karls I., Graf von Anjou, mit Beatrix von der Provence, der letzten Tochter Raimund Berengars V., stark intensiviert wurden. 16 Dazu jetzt: Damien Carraz, L’Ordre du Temple dans la basse vallée du Rhône (1124–1312). Ordres militaires, croisades et sociétés méridionales, Lyon 2005, s. hier u. a. S. 18: »L’implantation templière qui suivit ici [sc. im Raum zwischen Saint-Gilles, Arles, Avignon und Marseille] celle de l’Hôpital avec un décalage de deux décennies, s’inscrit dans le cadre de la maîtrise de Provence et partie des Espagnes. Sans doute constituée dès les années 1140, celle-ci regroupe les États de deux dynasties dont l’attachement aux ordres militaires ne s’est jamais démenti, celles des comtes de Barcelone et de Provence et des comtes de Toulouse.«

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her und ouch da / gewan sit jamers künde – oder auch ›heteroglossisch‹ 439,1–7: E truogen vörhen rotiu mal (es handelt sich um die heute aus unserem Gesichtskreis verschwundenen Forellen von der fario-Varietät), und: rot wurden vische über al von dem strite in Larkant. ouch wart der Provenzalen lant von mange vlühteclicher schar uf der sla al rot gevar also der berc Tahenmunt. (Wh. 439,2–7)

Im Unterschied zu ›Kaiserchronik‹, ›Rolandslied‹ und dem Strickerschen ›Karl‹ (nicht aber zum ›Parzival‹) ist die Provence hier ein bewohntes Land, und die Einwohner haben einen Namen. Der Unterschied zu den Chansons de Geste aus dem Wilhelm-Zyklus, die Wolfram kannte oder kennen mochte, ist noch viel auffallender. Es handelt sich dabei um die Quelle des ›Willehalm‹, ›Aliscans‹ (= Al., um 1190), 17 und um Werke, die zum Grundstock des zyklischen Korpus gehören: ›La Chanson de Guillaume‹ (Mitte 12. Jh.), ›Les Narbonnais‹ – wegen des Fortschickens der Söhne aus dem narbonesischen Nest, vgl. den Anfang des Wh. –, ›Le Charroi de Nîmes‹ – wegen des Petit Pont [der Brücke zwischen der Ile de la Cité und dem linken Seineufer in Paris] 18 , recycelt als Pitit Punt 19 im ›Wh.‹, und der Anspielung auf die Zeit, wo Willehalm Nimes gewan, die guoten stat / mit wagen (Wh. 298,15f.); man kann auch die ›Prise d’Orange‹ oder vielmehr eine Frühfassung dieses Epos dazunehmen, sowie die ›Moniage Guillaume‹ (2 Fassungen, beide 12. Jh.). Diesen Epen ist die Provence als Territorium und erst recht als bewohntes Territorium nicht bekannt; sie kennen Städte: Orange »la cité«, Nîmes »la ville«, Beaucaire. Der ›Prise d’Orange‹ ist zu entnehmen, daß man die Rhône überqueren muß, wenn man von Nîmes aus Orange erreichen will. 20 Aber ein Land namens Provence gerät nicht ins Blickfeld; wenn das geschieht, wie in der 17 Aliscans, hg. von Claude Régnier, 2 Bde., Paris 1990; La versione franco-italiana della »Bataille d’Aliscans«: Codex Marcianus fr. VIII [= 252]. Testo con introduzione, note e glossario, hg. von Günter Holtus, Tübingen 1985 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 205). 18 Le Charroi de Nîmes. Chanson de geste du XII e siècle, hg. von Duncan McMillan, Paris 1972, V. 27: Par Petit Pont sont en Paris entré. 19 Der poncel der Quelle (Ausg. Régnier [Anm. 17], Laisse XCIV, V. 5019; XCV, V. 5038; Ausg. Holtus [Anm. 17], V. 4803; 4822: pontel) wird im Wh. quasi zur historischen Stätte hochstilisiert. Pitit Punt (232,26; 302,11; 323,13; 389,6) ist der Ort der (von Rennewart erzwungenen) physischen und (nachträglich feststellbaren) moralischen Umkehr der Franzoyser. 20 La Prise d’Orange. Chanson de geste de la fin du XII e siècle, hg. von Claude Regnier, 7. Aufl. Paris 1986, V. 401–408; 651.

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›Moniage Guillaume‹, dann steht der Name für ein südfranzösisches Gebiet, das sich von Italien zu den südlichen Ausläufern des französischen Zentralmassivs (Rodez, Montpellier) zu erstrecken scheint, einen idealen Lebensrahmen für einen Eremiten. Dorthin begibt sich Guillelme, nachdem er für die Klostergemeinschaft von Aniane (Agnenes) untragbar geworden ist. Die Heiden finden heraus, »dass er als Einsiedler in einem großen Wald in der Provence, dieser fremden Gegend, haust«. 21 Diese Provence ist menschenleer. 22 Wolframs Provence ist dagegen eine Provence mit Provenzalen. Das ist an sich kein aufregender Befund, im Vergleich mit den anderen frühen Zeugen des Wilhelm-Zyklus ist das aber ein Zug, der Aufmerksamkeit verdient. Auch erst im Vergleich fällt die Verbindung Land/Einwohner-Herrschaftsbezeichnung auf: Willehalm ist von Provenze der markîs (dreimal), der vürste uz Provenzalen lant (zweimal), der Provenzale(n) vürst; in den französischen Texten fehlt es wahrlich nicht an epithetischen Expansionen nach rechts: Guillelme au cort nes / G. le marquis au vis fier / G. le guerrier / G. le poissant / li sages / le vaillant / le ber / li prouz (alle diese Epitheta im ›Charroi de Nîmes‹); er ist li quens Guillelmes (z. B. Al. Ausg. Régnier [Anm. 17] 7662) / le marchis Guillelme (Al. 7605), aber nie Graf oder Markgraf von und zu etwas. Die Verbindung Name + Herrschaftsbereich beschränkt sich auf die Bezeichnung Guillelme d’Orange. Guillelme ist also, wenn man so will, Graf und Markgraf von Orange, aber er wird nie so genannt. Ist es legitim, nachdrücklich festzuhalten, daß Wolfram imstande ist, das Orange seiner Quelle in der Provence zu situieren, daß er den Namen der Mark, über die der Held im Prinzip herrscht, mit dem Titel marcgrave / markis eng verknüpft? Kurz, ist dieses Interesse für die Provence wirklich bemerkenswert? Wir dürfen sagen: Gemessen am Aussagewert der früheren oder kaum jüngeren deutschen literarischen Zeugnisse ist es bemerkenswert; es ist noch bemerkenswerter vor dem Hintergrund der nordfranzösischen Heldenepik, die die Provence nicht kennt bzw. ignoriert: der deutsche Dichter dagegen nimmt die Provence zur Kenntnis, auch in seiner Verwendung einer mit der Nekropole von Arles verbundenen frommen Sage (s. oben und Anm. 2), während die Chanson de geste, die ›Aliscans‹ genannt wird, keine Spur dieser Erzähltradition aufweist. Und es gewinnt im Laufe des 13. Jahrhundert noch an Relief angesichts der Rezeption von Wolframs ›Willehalm‹. Proven(t)z(e) kommt in den Fortsetzungen Ulrichs von Türheim (›Rennewart‹, dreimal) und Ulrichs von dem Türlin (›Willehalm‹, 21 Le Moniage Guillaume. Chanson de geste du XII e siècle. Édition de la version longue par Nelly Andrieux-Reix, Paris 2003, V. 2948–50: »Mes l’en me [sc. Synagon] dit, par ma barbe mellee, / Qu’il est ermites en une forest lee / Dedenz Provence, cele estrange contree.« 22 Ebd. V. 2995: Dedenz Provence cele terre deserte.

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dreimal) vor; bei Ulrich von Türheim findet sich vor allem (32 Mal) die Form Provenzal(e) in der Bedeutung von Provence. In beiden Werken fällt Willehalm titelmäßig auf seinen Chanson de geste-Status zurück, eine aus der Matrix ›Titel + von/uz + deutsche Form für Provence‹ abgeleitete Bezeichnung begegnet nur einmal: »der markys von Provenzale, / weiz ich wol daz ir daz sît«, sagt im ›Rennewart‹ (V. 35238f.) der stete rihtaere von Muntbasiliere zu Willehalm, der gerade auf dem Weg zu einer »Wüste« ist, wo er sein Leben als Mönch beschließen will (V. 35030–40), nachdem er auf Position, Macht und Land verzichtet hat. 23 Von der ›Erhebung‹ Willehalms zum Landesfürsten in Wolframs Gedicht bleibt nicht viel, wenn die unmittelbare Verknüpfung von Titel und Territorium post festum stattfindet. Provenzal als Einwohnername erscheint zwei Mal in Ulrichs von dem Türlin ›Willehalm‹ bei der Aufzählung von ›Landsmannschaften‹ (XXI, 3–5: Franzois, / Yspan unde Borgunois, / Provenzâl, Britûn und Pikarde sowie XXX, 9) und hat dort kein besonderes Gewicht, auch zwei Mal im ›Rennewart‹ in unmittelbarer Assoziation mit lant – das erste Mal im Zitat, mit dem die Fortsetzung an Wolframs Torso anschließt: sus rumte er Provenzalen lant (V. 168), das andere Mal im Satz: vil balde ich [sc. Willehalm] nu gahen wil / gein der Provenzalen lant (V. 6604f.). Ansonsten (32 Belege also) bezeichnet Proven(t)zal(e) das Land selbst: zu Provenzale, in Provenzale, gein Provenzal, Provenzale daz lant (V. 33851). Das zugrundeliegende lexikalische Räsonnement ist erschließbar: Da Swaben und Swaben lant, Sahsen und Sahsen lant austauschbar sind, kann Provenzal(e) als Äquivalent für (das in Wolframs ›Willehalm‹ drei Mal: 422,12; 452,15; 467,8 vorkommende) Provenzalen lant verwendet werden. Erschließbar ist freilich zugleich eine beträchtliche mentale Ferne zum Gegenstand selbst, dem Lande eben. Von der Wolfram-Nachfolge her nimmt sich also die Präsenz der Provenz in der Vorstellungswelt des ›Parzival‹ und ›Willehalm‹-Dichters noch eindrucksvoller aus. Kontakte mit Landeskundigen, vielleicht sogar ein direkter Kontakt mit dem Land 24 mögen eine Rolle gespielt haben. Man betritt aber sichereren Boden, wenn man einen Zusammenhang erwägt zwischen Wolframs Interesse für die Provence und einem bedeutenden Eigenzug seines ›Willehalm‹, nämlich der Imperialisierung, der Rückfrankisierung des Handlungsraums, die sich am unmittelbarsten darin ausdrückt, daß König Loys ouch rœmischer vogt (Wh. 210,1), rœmisch künec (Wh. 95,23; 143,7; 180,7, etc.) ist. Mit dieser Imperialisierung ist – so die zweite Stufe der Hypothese – ein bestimmtes Bild der Grenzen des Imperium Romanum (rœmisch riche, 207,12), und die Vorstellung von der Zugehörigkeit der 23 ›Rennewart‹, V. 35116: »da Kyburg in die cluse gie, / sa zu dem selben male / verkos ich Provenzale / und gutes vil und ere.« 24 Vgl. Wolfgang Mohr, Willehalm, in: ders., Wolfram von Eschenbach [Anm. 14], S. 266–331, dort Abschnitt 8, »Wolframs Bild der Provence«, S. 298–307.

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Provence zum Reich verbunden. Für die Pflege und sogar die Aktivierung einer solchen Vorstellung sorgte in der Zeit, die Wolframs dichterischem Schaffen vorausgeht, Friedrich Barbarossa. Man wird natürlich zuerst an die Machtdemonstration vom Juli 1178 denken, als der Kaiser nach der Versöhnung mit Papst Alexander III. im Anschluß an seinen Italienaufenthalt durch die Provence zog und sich in Arles als König Burgunds krönen ließ. 25 Aussagekräftig ist aber auch der Brief, den Barbarossa im November 1189 aus Philippopel (Plovdiv) an seinen Sohn Heinrich schrieb. In diesem Lagebericht erregt er sich über das Verhalten des Patriarchen von Konstantinopel, der die Griechen gegen die Pilger hetzt, die sich den Kreuzfahrern zugesellen wollen: »Viele Pilger aus unserem Reich, aus der Provence und aus Soest, werden in Konstantinopel gefangen gehalten, wo sie zu uns stoßen wollten.« 26 Auch Friedrich II. war der Auffassung, daß die Provence zum Reichsverband gehörte, selbst wenn inzwischen der Manövrierraum enger geworden war. Nach Bouvines und mit dem Ende des Albigenserkreuzzugs »eröffnete sich für ihn die Gelegenheit, die Reichshoheit über die Provence wieder zur Geltung zu bringen, was um so erforderlicher war, als der päpstliche und französische Einfluß gerade begann, dort tiefere Wurzeln zu schlagen.« 27 »Die Anfänge der Reichspolitik Friedrichs II. gegenüber der Provence« 28 fallen in die Zeitspanne Ende 1214–1215, also in eine Zeit, da Wolfram an seinem ›Willehalm‹ arbeitete. Bezieht man eine bestimmte Remanenz der reichspolitischen Vorstellungen der Barbarossa-Ära und eine gewisse Latenz der Fortsetzung dieser Politik durch den Enkel ins historisch-kontextuelle Kalkül mit ein, so darf man wohl – in erster Annäherung – im besonderen Stellenwert, den die Provence in Wolframs ›Willehalm‹ besitzt, einen Reflex eines reichspolitischen Interesses an diesem Zipfel der – wolframisch gesprochen – rœmisch erde (Wh. 225,16; 443,28; 453,21) und die Folge einer nicht nur im sprachlichen Sinne verstandenen Verdeutschung der Quelle sehen. 25 S. zu dieser »Betonung der Reichshoheit« über die Provence Christian Keck, Die Provence in der späten Stauferzeit. Das Land an der Rhone im Spannungsfeld von gräflicher Territorialpolitik, Reichspolitik Friedrichs II. und französischer sowie päpstlicher Einflußnahme, Aachen 1996, S. 21f. 26 Der Kreuzzug Friedrich Barbarossas 1187–1190. Bericht eines Augenzeugen. Eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Arnold Bühler, Sigmaringen 2002, S. 99. – Originaltext: Ansbert, Historia de expeditione Friderici imperatoris, in: Quellen zur Geschichte des Kreuzzugs Kaiser Friedrichs I., hg. von Anton Chroust, Berlin 1928 (MGH, Scriptores rerum germanicarum, Nova Series 5), S. 1–115, hier S. 43: Multi de peregrinis imperii nostri Constantinopoli captivi tenentur tam de Provincia quam de Sosat qui obviam nobis illo venerunt. 27 keck [Anm. 25], S. 58. 28 Titel des Abschnitts C II in kecks Untersuchung [Anm. 25].

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Fährt man nun in der Analyse der ›geopolitischen‹ Aspekte von Wolframs ›Willehalm‹ fort, so fällt allerdings auf, daß diese Verdeutschung gar nicht homogen ist. König Loys verweist in Orlens, bevor er selber kehrtmacht, vollmundig auf das militärische Potential des deutschen Hinterlands: ir wizzet wol mine besten kraft / hinter mir ze tiuschen landen (210,28f.). Sieht man sich aber an, worin – in den verschiedenen Schichten der Erzählung – der kämpferische tiusche Beitrag effektiv besteht, läßt sich ein klarer Unterschied feststellen, und zwar, ohne Verwischung der Grenze, zwischen links und rechts. 29 Aus dem rechtsrheinischen Raum kommen schon Angriffe – aus Nördelingen (295,16), aus Berhartshusen (Beratshausen, 397,4), dem Bodemse (377,5), dem Spehtshart (377,25), dem Swarzwalt –, aber sie sind gegen das heldenepische Pathos gerichtet. Kriegerische Effizienz auf dem Schlachtfeld selbst zeigen dagegen die Flamen (Flæminge, Schlachtrufe: Yper, Arraz, 437,14f.) und die Lothringer (Lahreine, Schlachtruf: Nanzei, 413,18f.), die im ›Willehalm‹ explizit dem tiuschen lande zugeordnet werden. 30 Sie zählen mit den auch vom tiuschen lande stammenden Brabantern zu den ethnischen Gruppen, die zer hochgezit in Munleun gekommen waren, wo auch manec Franzoys und Bertun / und vil der Engeloyse / und der werden Burgunschoyse (126, 8–11) zugegen waren und die mit Willehalm nach Oransche gezogen sind. Es wird vermerkt, daß in Oransche den Burgunzoys, den Bertun, / den Flæminc und den Engeloys, / den Brabant und den Franzoys das Verhalten Rennewarts auffällt (269,24–26). Die Lothringer werden bei dieser zweiten Aufzählung nicht erwähnt, sind wohl aber mitgemeint. Und entscheidend ist, was getan bzw. nicht getan wird. Flæminc und Lahreine gehören unter den in Oransche versammelten Truppen, die her von Franchriche sint geriten (301,23) und die Bernhart von Brubant, ein Bruder Willehalms, als geste bezeichnet (301,25). Demgegenüber bildet die Heimrich-Sippe eine Einheit. Die geste werden nach der Wiederherstellung der Kampfmoral der Franzoyser unter Rennewarts Führung in einer schar zusammengefaßt, man rottieret sie (333,2). Nun unterscheiden sich Flæminc und Lahreine in actu von den anderen gesten, und zwar nach zwei Seiten hin. Sie gehören nicht zu denjenigen, die der Versuchung der Fahnenflucht erliegen und denen sich am Pitit Punt Rennewart in den Weg stellt. Es handelt sich dabei nicht mehr pauschal um die, die von Franchriche gekommen sind, sondern explizit um Franzeyse/Franzoyse. Sie werden mehrmals als solche bezeichnet (330,23; 331,21; 332,18). Was mit dem lande ze Franchriche gemeint ist und was den Franzoys 29 S. Verf., Histoire, géographie et écriture dans le ›Willehalm‹ de Wolfram von Eschenbach, in: La Chanson de geste. Écriture, intertextualités, translations, hg. von François Suard, Paris X-Nanterre 1994 (Littérales Nr. 14), S. 173–201. 30 V. 126,13: da [sc. in Munleun] was von tiuschem lande / Flæminge unde Brabande / und der herzoge von Lahrein.

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ausmacht, dürfte hier außer Zweifel stehen: Entscheidend ist das sprachliche Kriterium; das ergibt sich schlagend aus einer Selbstdefinition: Franchriche ist das Land, wo man in tavernen ligen, den lîp eisieren, sich vintusen ansetzen lassen kann (326,10f.; 323,23). Gandaluz, der hoh gemuote Schampanoys (366,17), und Jofreit von Salis (= Senlis), die in der Nähe der Flæminge und der Lahreine ihre Schlachtrufe schreien (437,1–13), werden daher zuerst zu den kleinmütigen Franzoys gehört haben. Die Burgunzoys, die Bertun, die Engeloys und die Brabant werden nicht zu den Fahnenflüchtigen gezählt, aber ihre Präsenz auf dem Schlachtfeld wird ebenfalls nicht erwähnt. Hat der Erzähler einigermaßen sorgsam darüber Buch geführt, wer aktiv am Kampf teilnimmt und wer hinter den Kulissen bleibt, wer sich dem Kampf verweigert und dann doch ›konvertiert‹ wird, dann darf man aus seinen Angaben schließen, daß Flæming und Lahreine unter den gesten einen Sonderstatus besitzen: sie zeigen auf Anhieb dieselbe Kampfbereitschaft wie die durch den Pakt des Sippenzusammenhalts unter der Führung des vürsten uz Provenzalen lant ›konföderierten‹ Truppen. Zieht man eine Linie zwischen Flandern, Lothringen und der Provence, entsteht ein Nordwest-Süd-Bogen der Solidarität und der Effizienz und es kommt ein Bild der rœmisch erde, das an bekannte historische Karten erinnert. Es war vorhin von einer Frankisierung der Chanson de geste in Wolframs Wiedererzählung die Rede. Man könnte jetzt hinzufügen: Die geopoetische Karte, die im ›Willehalm‹ allmählich entsteht, läßt in der Auffächerung der Räume nach Maßgabe der Einsatzbereitschaft ihrer Bewohner an das Frankenreich nach dem Vertrag von Verdun denken. Östlich, rechtsrheinisch, zwar nur etwa von der Mainlinie abwärts – bis z. B. nach Soest hebt Wolfram nicht den Blick –, dann aber hinunter bis nach Bozen (136,10) herrscht die renitent-subversive, das heroische Pathos zersetzende Einstellung. Im Westen zeigt man sich indifferent oder feige, doch schließlich eines Rucks fähig. Zum Widerstand gegen den heidnischen Angriff sofort entschlossen ist man nur in einem mittleren Streifen, der von der Konfiguration her an Lothars Teil des Frankenreichs gemahnt. Dort steht man aus eigener Kraft auf der Höhe des karlischen Erbes. Reale Grenzen, alte wie auch z. T. zu Wolframs Zeit mindestens ›theoretisch‹ noch gültige Grenzen wie die Flußgrenze der Rhone zwischen dem regnum Francie des 13. Jahrhunderts und dem deutschen Reich 31 , sind hinter der geopoetischen Gesamtkonfiguration erkennbar. Diese scheint aber vor allem eine Ausdrucksform dessen zu sein, was Karl Bertau als einen Willen und eine Fähigkeit 31 Bernd Schneidmüller, Nomen Patriae. Die Entstehung Frankreichs in der politisch-geographischen Terminologie (10.–13. Jahrhundert), Sigmaringen 1987, S. 238–246, bes. 245f.

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dazu beschrieben hat, die Gegenstände der Erzählung »vom Gegenüber her, vom anderen Ende her« zu betrachten. 32 Es ist eine potenzierte Erscheinungsform dieses Stils – in dem man die Manifestation einer mentalen Grunddisposition sehen kann –, insofern die Dreiteilung des Raums ein rasches Oszillieren der Perspektiven um eine mittlere Gelenkstelle ermöglicht. Einerseits läßt die Kleinmütigkeit der Franzoys die entschlossenen Taten des markis heller leuchten, bald aber wird andererseits vom südlichen rechtsrheinischen Raum her das kriegerische Geschehen illusionsbehebend oder gar grell beleuchtet. Die Heroen in der Mitte stehen damit um so mehr im Licht, aber diese Inszenierung schließt die Skepsis nicht aus. Der Franzoys, der Rennewart zum wider keren (326,2) überreden will, wird als wise man bezeichnet; das Attribut ist vielleicht nicht völlig ironisch. Die ›mentalitätsgeographische‹ Gliederung der rœmischen erde resultiert aus der Verdeutschung einer französischen Erzählung durch einen Dichter, der bei dieser Chanson de geste der zweiten Generation einen Nachholbedarf feststellt, aber die Bedarfsdeckung nicht systematisch-aufbauend vornimmt, sondern durch einen mobilen Erzähler betreiben läßt, der sich prinzipiell das Recht vorzubehalten scheint, sich anderswo als erwartet zu befinden. Es gab bei der Verdeutschung von ›Aliscans‹ einen geohistorisch realen Referenzraum mit z. T. vorgezeichneten Grenzen. Noch deutlicher ›vor-geteilt‹, aber nur zweigeteilt war der geolinguistische Referenzraum, und es ist ein weiteres Argument für die Existenz einer Relation zwischen Wolframs Grundtendenz, sich den Blick nach zwei Seiten hin freizumachen, und der Gliederung des Raums, daß bei der Reflexion des (jetzt im engeren, sprachlich verstandenen) Verdeutschungsprozesses wiederum drei Bereiche sichtbar werden: der romanische und der tiusche Bereich und dazwischen der Bereich des ›Operators‹, der sich sozusagen sein Teil denkt. Diese Reflexion findet bekanntlich im loschieren-Exkurs (Wh. 237,3–14) statt. 33 Was hier erzählerisch geleistet wird, ist analog zu dem, was auf Französisch im Fußballjargon-Wortfeld eine ›Kleinbrücke‹, un petit pont, genannt wird: Körperbewegung nach links (ein ungehobelter Mutterspracher aus der Champagne spricht besser Französisch als ich, aber ganz inkompetent bin ich in dem Punkt auch nicht), dann nach rechts (im Urteil meiner Landsleute ist mein Deutsch auch gewöhnungsbedürftig und bedarf der Begradigung), und der Ball 32 Karl Bertau, Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, bes. S. 113, 115. 33 S. dazu: Carl Lofmark, Zur Veröffentlichung des fünften Buches von Wolframs ›Willehalm‹, in: ZfdA 95 (1966), S. 294–300; Ulrich Wyss, Herbergen ist loischiern genant. Zur Ästhetik der fremden Wörter im ›Willehalm‹, in: Blütezeit. FS L. Peter Johnson, hg. von Mark Chinca, Joachim Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 363–382.

Provence und Provenzalen bei Wolfram von Eschenbach

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wird durch die Beine des Gegenspielers geschoben (so gehe ich halt meinen eigenen Weg). Hier verengt sich allerdings der mittlere Streifen quasi zu einer Übergangslinie, die Vorstellung eines mehr oder minder zweisprachigen (lothringischen) Zwischengebiets ist nicht vorhanden, dennoch dürfte klar sein, daß auf Grund der eben angedeuteten Doppelbewegung Wolframs Pitit Punt sich nicht ganz zufällig auf dem Bogen befindet, der sich von Flandern zur Provence hinspannt. Ein letzter Verortungsversuch ist jetzt fällig: Wo befindet sich Willehalm selbst? Ist der vürste uz Provenzalen lant selbst ein Provenzale? Nur die Stelle bei 439,30 könnte so verstanden werden: wie der Provenzale vürste, / Wilhelm der markys, / und sine helfære wurben pris. Hier könnte provenzal ausnahmsweise Adjektiv sein, aber verschiedene provinzalen-Lesarten (also mit -n-Endung, s. Ausg. Schröder [Anm. 10] zur Stelle) lassen vermuten, daß auch hier ein Genitiv Plural vorliegt. Viele andere Stellen sprechen dagegen eine eindeutige Sprache: Willehalm ist ein Franzeis/Franzoys. 34 Wohl kein rehter Franzoys – eine Kategorie, die sich aus einer zugleich gruppierenden und unterscheidenden Formulierung 15,27– 29 herausschälen läßt 35 , aber ein Franzoys. Man würde Wolframs geopoetischer Imagination kein Unrecht tun, wenn man sich Willehalm und hinter ihm den Dichter nicht links oder rechts von der Rhone, sondern auf dem Fluß selbst vorstellen würde, als einen Rhone-Schiffer, der, wie es noch bis in die Moderne hinein der Fall war, das rechte Ufer als Royaume und das linke als Empire kannte, 36 der sich aber mehr für das Geschehen auf dem Fluß als für den Betrieb an den 34 3,30: an den keiser Karlen nie / So werder Franzoys wart geborn; 11,25: Willem ehkurneis / was so wert ein Franzeys; 50,1: Der siuftebære Franzeys / Willelm ehkurneis; 77,21: dem Franzoys, etc. 35 Provenzal und Burgunjoys / und der rehten Franzoys / het er [Willehalm] gehabt gerne mer. »reht« ist natürlich ein Symptom terminologischer Unschärfe. Schneidmüllers [Anm. 31] Analyse der Verwendung der Begriffe terra und regnum könnte aber hier hilfreich sein: die »eigentlichen Franzosen« sind in der terra Franciae zu Hause, die Burgunjoys sind Burgunder a parte regni Franciae, also, vom Westen her gesehen, citra Saonnam. 36 S. Jacques Rossiaud, Dictionnaire du Rhône médiéval. Identités et langages, savoirs et techniques des hommes du fleuve (1300–1500), 2 Bde., Grenoble 2002, Bd. II, S. 120: »Empire et Royaume ont anciennement servi sur la Saône et le Rhône en aval de Lyon, à distinguer mer et galerne, autrement dit babord et tribord.« S. auch Bernard Clavels Erzählung ›Le seigneur du fleuve‹ (Paris 1972), die das Leben von Rhone-Schiffern in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Szene setzt (in Wirklichkeit ist der Strom des mæres herre): »Depuis le temps de Charlemagne et de Lothaire, où il avait servi de frontière entre un royaume et un empire, les mariniers continuaient d’appeler Reiaume sa rive droite et Emperi sa rive gauche. Et lorsqu’ils criaient des ordres, ça donnait: – Pousse à l’Empie! – Tire au Ryaume !« (Ausgabe »Pocket«, 2001, S. 51). Den Hinweis auf Clavels Erzählung verdanke ich Gérard Gros (Universität Amiens).

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Anlegestellen interessierte. Bleibt man nun vorsichtshalber am Ufer stehen, so läßt sich immerhin behaupten, daß Willehalm ein Franzoys ist, dessen – in der Quelle evidente – Zuverlässigkeit durch die Reichsnähe, die ihm seine Position als vürste uz Provenzalen lant verleiht, gleichsam abgesichert wird. Eine Nähe, die Abstand schafft zum benachbarten Franchriche, aber auch, weil sie leidlich theoretisch ist, Distanz zum ohnehin räumlich ziemlich fernen tiuschen lande garantiert. Die geometrische Figur, die dabei entsteht, ist nicht mehr eine dreigeteilte oder durch einen Trennungsstrich in zwei geteilte Fläche, sondern ein Dreieck. Die Kyot-Figur, auf die nun zurückzukommen ist, schreibt sich in ein ähnliches Dreieck ein: von Troys meister Cristjan (827,1) – ich Wolfram von Eschenbach (827,13) – Kyot, der meister (827,3; 827,14). Die dritte Ecke, die fiktive Quelle, ergibt sich aus einer Komplexisierung des dem interlingualen Transfer inhärenten Konkurrenzgedankens 37 : Dem Konkurrenten (meister Cristjan) wird ein Gegenkonkurrent entgegengestellt. Will man ein schönes Dreieck bekommen, in dem von der ›Produzentenecke‹ her die zwei anderen Enden gut sichtbar bleiben, darf die Gegenkonkurrenz nicht ganz weitab liegen. Stammt die reale Quelle aus Frankreich, ist eine von Provenz kommende zweite Quelle nicht weithergeholt. Blickt man vom ›Willehalm‹ aus auf den ›Parzival‹, so erscheint Kyot als eine symmetrische Figur zu Willehalm. Dieser ist von Provenz der markis und als solcher, dank des imperialen Hauchs, um so mehr ein werder Franzeys (vgl. Wh. 92, 18). Kyot, der en franzoys von der aventiur von Parzival gesprach (416, 26 u. 28), ist ein Provenzal, weil er ein besserer französischer Erzähler als von Troys Cristjan zu sein hat.

37 Zu dieser agonalen Tendenz der Übersetzung s. Rita Copeland, Rhetoric, Hermeneutics and Translation in the Middle Ages. Academic Traditions and Vernacular Texts, Cambridge 1991.

Binnenstrukturen heilsgeschichtlicher Projektion Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte von Antje Willing, Erlangen

Detailreichtum in der Weltdarstellung, Jerusalemzentrierung und christologische Rahmung verbinden drei Weltkarten des 13. Jahrhunderts miteinander: die Londoner Psalterkarte (London, British Library, Ms. Add. 28681, fol. 9 r/v) von ca. 1262, die Herefordkarte, im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts entstanden, und die 1943 bei einem Luftangriff auf Hannover verbrannte Ebstorfer Weltkarte von ca. 1300. Die kleinste dieser drei Weltkarten, die Londoner Psalterkarte (ca. 9,5 cm Durchmesser), nimmt einen Folio in einem mittelalterlichen Psalter ein: Auf der Vorderseite des Blattes ist der Erdkreis abgebildet (Abb. 1a), in dessen Zentrum Jerusalem liegt 1 , dessen heilsgeschichtliche Bedeutung im Stadtbild durch die vollkommene, weil anfangs- und endlose Kreisform betont wird. Im äußersten Osten (am oberen Kartenrand) ist Christus als Salvator mundi abgebildet, in der Linken den (als T-O-Karte dargestellten) Globus haltend, die Rechte segnend erhoben. 2 Am entgegengesetzten Ende der Welt, im äußersten Westen sind unter dem Orbis terrarum zwei Untiere zu sehen. An derselben Stelle finden sich diese auch auf der Versoseite der Orbisdarstellung (Abb. 1b): Hier ist eine schematisierte T-O-Karte mit einer summarischen Auflistung der Völker und Städte der drei Kontinente abgebildet. Umrahmt wird dieser schematisierte Orbis von einer Christusfigur, deren Kopf sich im äußersten Osten findet, deren beiden Arme die 1 Jerusalem ist bereits auf der Oxford-Karte von 1110 ins Zentrum gerückt (cf. Ingrid Baumgärtner, Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter. Konflikte und Konfliktbewältigung – Vorstellungen und Vergegenwärtigungen, hg. von Dieter Bauer, Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, Frankfurt/Main, New York 2001, S. 271–334; S. 294f.), doch erst nach dem Fall der Stadt im Jahr 1244 tritt sie kartographisch regelmäßig ins Zentrum der Welt (cf. ebd., S. 297). 2 Diese Darstellung ist vor allem in Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts belegt; cf. Anton Legner, Art. ›Das Christusbild der gotischen Kunst‹, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 1 (1968), Sp. 414–425; Sp. 423f.

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Abb. 1a: Psalterkarte: London, British Library, Ms. Add. 28681, fol. 9 r.

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Abb. 1b: Psalterkarte: London, British Library, Ms. Add. 28681, fol. 9 v.

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Ränder des asiatischen Kontinents rahmen, und dessen Füße im äußersten Westen die beiden Untiere, Symbol des Bösen, 3 niederdrücken. Durch die Rahmung des Orbis terrarum mit Christus stellt die Londoner Psalterkarte die erschaffene Welt in den Heilsplan Gottes. Ebenfalls jerusalemzentriert und christologisch gerahmt ist die ca. 162 × 132 cm große Herefordkarte (Abb. 2). Hier ist Jerusalem zentral als kreisrundes Stadtbild mit acht Stadttoren und dem gekreuzigten Christus dargestellt. 4 Der stigmatisierte, wiederauferstandene Christus thront im Tympanon über dem Ostrand des Orbis terrarum als Richter im Jüngsten Gericht; unter ihm ist Maria als Himmelskönigin und Fürsprecherin der Menschen dargestellt. 5 Der Orbis terrarum selbst ist von den vier Buchstaben M O R S gerahmt. Auf der Herefordkarte steht die Weltdarstellung im Zeichen von Memento mori und Jüngstem Gericht. Schließlich stellt auch die größte der mittelalterlichen Weltkarten, die rund 3,6 × 3,6 m durchmessende Ebstorfer Weltkarte (Abb. 3) Jerusalem ins Zentrum der Welt und den Orbis terrarum in einen christologischen Rahmen. Auf ihr ist die Stadt nicht in einem Kreisrund gezeichnet, sondern als das himmlische Jerusalem der Apokalypse (Abb. 4; cf. Apoc 21, 12–18): als quadratisch angelegte, von einer zwölftorigen Stadtmauer umgebene goldene Stadt, deren Stadtürme nach innen gerichtet sind (während die des irdischen Rom nach außen gekehrt sind). Im Jerusalembild ist nicht wie auf der Herefordkarte der gekreuzigte Christus dargestellt, sondern der auferstehende Christus, der, die Rechte zum Segen erho-

3 Cf. Herma Kliege, Weltbild und Darstellungspraxis hochmittelalterlicher Weltkarten, Münster 1991, S. 97 und 169. Kliege sieht auf der Rectoseite der Psalterkarte Christus als Pantokrator dargestellt, da er dort den Globus in seiner Hand halte. Auf der Versoseite dagegen sieht sie eine Salvator mundi-Darstellung, da Christus hier die Erde beschützend in seinen Händen halte (cf. ebd., S. 169). Diese Interpretation widerspricht der ikonographischen Tradition, in der gerade die segnende Rechte und der Globus in der Linken den Salvator mundi kennzeichnet (cf. Legner [Anm. 2], Sp. 423–425). 4 Damit schließt sich die Herefordkarte jener Tradition an, die Golgatha als eigentliches Zentrum der Welt sieht und die Passion Christi betont; cf. Jörg-Geerd Arentzen, Imago mundi cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild, München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 53), S. 221. 5 Die Beischrift zur Marienkrönung lautet: Veici ben fiz mon piz dedeinz la quele chare preises: / E les mameleites dont leit de Virgin queistes; / Evez merci de touz si com uos memes deistes: / Ke moi ont servi kant Sauveresse me feistes. (»Sieh’, lieber Sohn, meinen Leib, in welchem Du Fleisch angenommen hast, / Und die Brüste, von denen Du jungfräuliche Milch gesogen hast: / Habe Erbarmen, so wie Du selbst es versprachest, mit allen, / Welche mir gedient haben, denn Du hast mich zur Retterin gemacht.« Zitiert und übersetzt nach: Die ältesten Weltkarten, hg. und erläutert von Konrad Miller, IV. Heft: Die Herefordkarte, Stuttgart 1896, S. 6.

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Abb. 2: Herefordkarte (Nachzeichnung von Konrad Miller).

ben, in der Linken die Siegesfahne haltend, mit dem linken Fuß bereits die Erde berührt und dem Sarkophag entsteigt (Abb. 4). Anders als die Herefordkarte stellt die Ebstorfer Karte die Welt also nicht unter das Zeichen des Jüngsten Gerichts, sondern unter das Zeichen des himmlischen Jerusalem als Stätte der Erlösung und des Heils. Auch auf der Ebstorfer Karte ist der Orbis terrarum mit einer Christusfigur verbunden: Christi Haupt, seine Hände und seine Füße sind an den vier äußersten Enden der Welt in den Erdkreis eingezeichnet, und ihnen ist jeweils eine kur-

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Abb. 3: Ebstorfer Karte.

ze Legende beigefügt: In den Winkeln des Christuskopf bildes steht " ‡ (4/2) 6 , *Primus et novissimus (4/7), bei den Füßen Christi stehen die Legenden Usque ad finem fortiter (58/24) und Suaviter disponensque omnia (58/42), bei der rechten Hand stand ursprünglich *Dextera Domini fecit virtutem (29/13) und bei der Linken Terram palmo concludit (35/4). 6 Im folgenden wird der Text der Ebstorfer Karte sowie seine Übersetzung unter Angabe der Legendennummer zitiert nach Hartmut Kugler (Hg.), Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden. Unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing. Digitale Bearbeitung: Thomas Zapf, Berlin 2007. Mit einem * sind entsprechend der Neuausgabe diejenigen Kartenlegenden gekennzeichnet, die auf der Reproduktion nicht mehr zu erkennen, von den ersten Kartenherausgebern Ernst Sommerbrodt und Konrad Miller jedoch bezeugt sind.

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Abb. 4: Ebstorfer Karte: Jerusalem.

Ebendiese Legenden unterscheiden die Ebstorfer Karte wesentlich von der Londoner Psalterkarte, denn die Ebstorfer Karte beschränkt die Christusdarstellung nicht auf das Visuelle. Und anders als die Herefordkarte, die die beschriftete Darstellung Christi als Weltenrichter außerhalb des eigentlichen Kartenbildes ansiedelt, während sich im Kartenzentrum nur die Darstellung des Gekreuzigten findet, verbindet die Ebstorfer Karte Text und Bild auch innerhalb des Kartenbildes. Den Legenden zum Haupt und den Gliedmaßen Christi darf mithin eine für die Ebstorfer Karte programmatische Bedeutung zugemessen werden. Eine Interpretation der Christusfigur darf sich deswegen nicht auf die ikonographische Darstellung beschränken, sondern muß den der Karte eigentümlichen Text-Bild-Bezug genügend berücksichtigen. *

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Abb. 5: Ebstorfer Karte: Christuskopf und Paradies.

Bereits Uwe Ruberg hat festgestellt, daß der Christuskopf auf der Ebstorfer Karte (Abb. 5) denjenigen Platz einnimmt, der auf mittelalterlichen Weltkarten in der Regel dem Paradies vorbehalten war: 7 den äußersten Osten des Orbis terrarum, in dem sich nach Gen 2, 8 das irdische Paradies befindet. An ebendieser Stelle findet sich auch auf der Psalter- und der Herefordkarte das (in Korrespondenz zum Jerusalembild) kreisrunde Paradiesbild. Auf der Ebstorfer Karte ist das Paradiesbild aus dem (ebenfalls in Korrespondenz zum Jerusalembild) nahezu quadratischen Rahmen in den Nordosten verrückt und an seine Stelle ein Christuskopf mit Kreuzesnimbus getreten. In den vier Ecken des Bilderrahmens findet sich die Beischrift " ‡ (4/2), *Primus et novissimus (4/7). In symmetrischer Korrespondenz zum Christuskopf im äußersten Osten sind im äußersten Westen der Karte die Füße Christi eingezeichnet, dort, wo üblicherweise die Säulen des Herkules als Grenzmarke der bewohnten Welt eingezeichnet waren. 8 Stellvertretend für die finis terrae nehmen so die Füße Christi das ‡ und das novissimus des Christuskopfes wieder auf. Die Christusfigur der Karte wird durch die Hände Christi am nördlichen bzw. südlichen Kartenrand vervollstän7

Cf. Uwe Ruberg, Mappae mundi des Mittelalters im Zusammenwirken von Text und Bild. Mit einem Beitrag zur Verbindung von Antikem und Christlichem in der principium- und finis-Thematik auf der Ebstorfkarte, in: Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Christel Meier und Uwe Ruberg, Wiesbaden 1980, S. 550–592; S. 571. So auch Arentzen [Anm. 4], S. 207. 8 Cf. Ruberg [Anm. 7], S. 582.

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digt. Das zentrale Jerusalembild der Karte mit dem auferstehenden Christus erscheint so nicht nur als umbilicus mundi, sondern zugleich als Nabel Christi. Zurecht schließt Jörg-Geerd Arentzen aus der Tatsache, daß Kopf und Füße Christi kartographische Stellen fremdbesetzen, daß die Christusfigur von Anfang an zum Konzept der Kartenzeichnung gehörte. 9 In der Natur der Sache liegt es dabei, daß dem Kopf eine zentrale Aussagekraft zukommt, da die Christusdarstellung der Karte auf den Kopf und die Gliedmaßen Christi beschränkt ist. Vor allem von kunstgeschichtlicher Seite wurde die Christusgestalt der Karte hauptsächlich von ihrem Haupt her interpretiert, während die Gliedmaßen Christi für die Karteninterpretation an Gewicht verloren. Im Christuskopf wird entweder eine Maiestas Domini-Darstellung gesehen oder eine Vera icon, ein wahres Abbild des Gekreuzigten, wie es sich nach der Legende auf dem Schweißtuch der Veronika abgedrückt habe. 10 Harald Wolter-von dem Knesebeck verbindet die Christusdarstellung der Karte mit der Verehrung der Vera icon und der Kontemplation der Wunden Christi: Seit 1216, spätestens aber seit dem Heiligen Jahr 1300 sei mit dem Gebet vor der Vera icon ein Ablaß verbunden gewesen. 11 Und im 12. Jahrhundert sei auch in Niedersachsen eine Passionsmystik weit verbreitet gewesen, die die Marterwerkzeuge und die Wunden Christi exzessiv verehrte. Da auf der Ebstorfer Karte der Christuskopf als Vera icon dargestellt sei und die Gliedmaßen Christi lebensgroß und stigmatisiert abgebildet seien, sei »eine Betrachtung der Karte zu vermuten, welche solche religiösen Belohnungen« wie Ablaß versprach. 12 Obgleich Wolter-von dem Knesebeck zurecht bemerkt, daß das für die Passionsmystik wesentlichste Stigma, nämlich die Seitenwunde Christi (das aus ihr fließende Blut und Wasser wurde im Mittelalter als der mit Wasser vermischte Wein des Abendmahls gedeutet) auf der Karte fehle, 13 nimmt er an, 9

Cf. Arentzen [Anm. 4], S. 224. Zur Vera icon-Darstellung grundlegend Jeffrey F. Hamburger, The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, besonders Kap. 7 (Vision and the Veronica), S. 317–382. 11 Cf. Horst Appuhn, Datierung und Gebrauch der Ebstorfer Weltkarte und ihre Beziehungen zu den Nachbarklöstern Lüne und Wienhausen, in: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, hg. von Hartmut Kugler in Zusammenarbeit mit Eckhard Michael, Weinheim 1991, S. 244–259; S. 250. 12 Harald Wolter-von dem Knesebeck, Neue Formen der Bildung und neue Bildformen im Vorfeld der Ebstorfer Weltkarte in Sachsen, in: Kloster und Bildung im Mittelalter, hg. von Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218; Studien zur Germania Sacra 28), S. 231–261; S. 261. 13 Die Frage einer stigmatisierten Christusfigur auf der Karte ist problematisch: Konrad Miller verzeichnet nur ein einziges Stigma auf der Karte, nämlich an der Rechten Christi (Die Ebstorfkarte. Eine Weltkarte aus dem 13. Jahrhundert, hg. und erläutert 10

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die Ebstorfer Karte sei von den Schwestern in der Lüneburger Heide zur spirituellen Pilgerfahrt genutzt worden. In Rückgriff auf die ›Otia imperialia‹ des Gervasius von Tilbury, der lange Zeit als Autor der Karte galt, dessen Autorschaft Hartmut Kugler jedoch überzeugend widerlegen konnte 14 , versucht Christine Ungruh die Vera icon auf der Karte mit dem Volto Santo von Lucca (um 1200) zu verknüpfen. So wie Gervasius in seinen ›Otia imperialia‹ beider Ähnlichkeit miteinander und beider Verehrungswürdigkeit erwähne 15 , so sei auf der Ebstorfer Karte die Vera icon Teil des Volto Santo, des Gekreuzigten, der von dem Weltkreis umgeben sei. Für Ungruh gilt die Ebstorfer Karte als eines der Referenzbilder der Vera icon in St. Peter, das, bete man davor, päpstlichen Ablaß gewähre. 16 Auch hier zielt die Interpretation der Christusdarstellung auf eine spirituelle Pilgerfahrt nach Rom, mit der die Nonnen im heimatlichen Kloster hätten Ablaß erwerben können. 17 von Konrad Miller, 3., neubearb. Aufl., Stuttgart, Wien 1900, S. 27 und Die ältesten Weltkarten, hg. und erläutert von Konrad Miller, Heft V: Die Ebstorfer Weltkarte, Stuttgart 1896, Sp. 10b). Möglicherweise waren die restlichen Stigmata der Retuschierung durch Ernst Sommerbrodt zum Opfer gefallen. Eine stigmatisierte Christusfigur setzte das Vorhandensein der Seitenwunde Christi voraus, die allerdings auf der Karte fehlt. Ob auf der Karte ursprünglich Stigmata zu sehen waren, ist daher zumindest fraglich. Das einzige von Miller verzeichnete Stigma sollte jedenfalls nicht als Argument dafür dienen, der Kartenzeichner habe mit der rechten Hand Christus als Bekämpfer des Unglaubens und des Bösen zeigen wollen und deshalb nur diese mit einem Stigma versehen (so Arentzen [Anm. 4], S. 272). Warum sollten die Kartenhersteller auf die außergewöhnliche Idee gekommen sein, die Zahl der Wunden Christi zu reduzieren? 14 Cf. Hartmut Kugler, Die Ebstorfer Weltkarte ohne Gervasius von Tilbury, in: Kloster und Bildung im Mittelalter, hg. von Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218; Studien zur Germania Sacra 28), S. 497–512. 15 Cf. Christine Ungruh, Paradies und vera icon. Kriterien für die Bildkomposition der Ebstorfer Weltkarte, in: Kloster und Bildung im Mittelalter, hg. von Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218; Studien zur Germania Sacra 28), S. 301–329; S. 320. 16 Cf. Ungruh [Anm. 15], S. 309f. 17 Cf. Ungruh [Anm. 15], S. 329. Bemerkenswerterweise verzichtet Ungruh in diesem Zusammenhang darauf, auf die Romdarstellung der Ebstorfer Karte hinzuweisen: Im Kartenbild ist Rom großflächig mit seinen sieben, namentlich bezeichneten Hauptkirchen eingezeichnet, die ebenfalls mit dem Ablaßgedanken verbunden werden könnten. Allerdings gilt es hier einzuschränken, daß die ›Indulgentiae Romae‹, die den Ablaß verzeichnen, den man bei dem Besuch der römischen Kirchen erwerben konnte, erst seit dem 14. Jahrhundert weite Verbreitung gefunden hatte (cf. Nine Robijntje Miedema, Die ›Mirabilia Romae‹. Untersuchung zu ihrer Überlieferung mit Edition der deutschen und niederländischen Texte, Tübingen 1996 [MTU 108] und dies., Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die ›Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‹ [deutsch/ niederländisch]. Edition und Kommentar, Tübingen 2003 [Frühe Neuzeit 72], S. 398–

Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte

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Die Deutungen des Christuskopfes als Vera icon oder als Maiestas Domini können nur eingeschränkt Gültigkeit haben: Von der Maiestas-Domini-Darstellung – der über der Erde thronende Schöpfergott, umgeben von den vier Tieren der Evangelisten, das Buch der Sieben Siegel in der Rechten haltend – ist auf der Karte nur der Kopf mit den Buchstaben " und ‡ übriggeblieben. Und wollte man im Christuskopf eine Vera icon-Darstellung sehen, müßte man die quadratische Rahmung des Christuskopfes als Schweißtuch interpretieren. Sie war allerdings ursprünglich Rahmung des Paradiesbildes, dessen Platz der Christuskopf auf der Karte eingenommen hat. 18 Zudem steht die Verehrung der Vera icon im Zusammenhang mit einer ausgeprägten Passionsfrömmigkeit, von der sich auf dem Kartenbild kaum Zeichen finden (so fehlt auf der Karte nicht nur die Seitenwunde Christi, sondern auch die Kreuzigung und die Kreuzigungsstätte Golgatha). * Wenig oder gar nicht berücksichtigt sind bei den genannten Interpretationen die Gliedmaßen Christi, die auf der Karte allerdings wesentliche Bestandteile der Christusfigur sind. Ihre Bedeutung für die Kartenkonzeption wird unterstrichen durch die Legenden, die dem Kopf und den Gliedmaßen Christi beigefügt sind. Diese Legenden haben ebenso wie die Legende Sepulchrum Domini gloriosum teste Ysaia (32/15) zum Auferstehungsbild der Karte Parallelen in der Bibel wie auch in liturgischen Gesangstexten. Die nachweisbaren Antiphontexte zu den Füßen und zur linken Hand Christi führten zur Annahme, die Legenden zur Christusfigur zeigten eine Einbindung der Karte in einen liturgischen Kontext an. 19 Die Gegenüberstellung der Parallelen aus Bibel und Antiphonen allerdings zeigt ein durchaus heterogenes Bild der Quellenlage (die zum Kartentext stimmenden Passagen sind in den Paralleltexten gesperrt gedruckt): Christuskopf: Vulgata:

" ‡ (4/2) und *Primus et novissimus (4/7) Apoc 22, 13: Ego sum a l p h a e t o m e g a , p r i m u s e t n o v i s s i m u s , principium et finis. Cf. Apoc 1, 8: Ego sum a l p h a e t o m e g a , principium et finis, dicit Dominus Deus: qui est, et qui erat, et qui venturus est, omnipotens.

492, bes. S. 410). Die Romdarstellung auf der Ebstorfer Karte wäre dann eines der frühesten Zeugnisse des Ablaßerwerbs durch spirituelle Rompilgerfahrt. 18 Christine Ungruh erklärt die Darstellung des Christuskopfes auf der Karte dadurch, daß nach der Legende sich das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch der Veronika abgedrückt habe (cf. Ungruh [Anm. 15], S. 309). Diese Erklärung setzt allerdings die Annahme der Vera icon bereits voraus. 19 Cf. Kugler [Anm. 6], Bd. II, S. 23.

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Antje Willing

Antiphon:

Füße Christi: Vulgata: Antiphon:

rechte Hand: Vulgata:

Antiphon:

linke Hand: Vulgata:

Antiphon:

Cf. Apoc 1, 17: Et cum vidissem eum, cecidi ad pedes eius tanquam mortuus. Et posuit dexteram suam super me, dicens: Noli timere: ego sum p r i m u s , e t n o v i s s i m u s . ›Ego sum alpha et o. primus et‹ (CAO 2588): Ego sum a l p h a e t o . p r i m u s e t n o v i s s i m u s et stella matutina ego clavis David alleluia. 20 ›Ego sum alpha et o. primus et‹ (CAO 2589): Ego sum a l p h a e t o . p r i m u s e t n o v i s s i m u s initium et finis qui ante mundi principium et in saeculum saeculi vivo in aeternum manus meae quae vos fecerunt clavis confixae sunt propter vos flagellis caesus sum spinis coronatus sum aquam petii pendens et acetum porrexerunt in escam meam fel dederunt et in latus lancea mortuus et sepultus sum resurrexi vobiscum sum videte quia ego ipse sum et non est deus praeter me alleluia. Usque ad finem fortiter (58/24) und Suaviter disponensque omnia (58/42) Sap 8, 1: Attingit ergo a fine u s q u e a d fi n e m f o r t i t e r , e t disponit omnia suaviter. ›O sapientia quae ex ore‹ (CAO 4081): O sapientia quae ex ore altissimi prodisti attingens a fine u s q u e a d fi n e m f o r t i t e r s u a v i t e r d i s p o n e n s q u e o m n i a veni ad docendum nos viam prudentiae. *Dextera Domini fecit virtutem (29/13) Ps 117, 15f.: Vox exsultationis et salutis, in tabernaculis iustorum. D e x t e r a D o m i n i f e c i t v i r t u t e m , dextera Domini exaltavit me; d e x t e r a D o m i n i f e c i t v i r t u t e m . ›Dextera domini fecit virtutem‹ (CAO 2185): D e x t e r a d o m i n i f e c i t v i r t u t e m dextera domini exaltavit me. Terram palmo concludit (35/4) Is 40, 12: Quis mensus est pugillo a q u a s , e t c a e l o s p a l m o p o n d e r a v i t ? Quis appendit tribus digitis molem terrae, et libravit in pondere montes, et colles in statera? ›Qui caelorum contines thronos‹ (CAO 4460): Qui caelorum contines thronos et abyssos intueris domine rex regum montes ponderas t e r r a m p a l m o c o n c l u d i s exaudi nos domine in gemitibus nostris.

Auferstehender: Sepulchrum Domini gloriosum teste Ysaia (32/15) Vulgata: Is 11, 10: In die illa radix Iesse, qui stat in signum populorum, ipsum gentes deprecabuntur, et erit s e p u l c h r u m e i u s g l o riosum. 20 Angaben im folgenden nach René-Jean Hesbert, Corpus Antiphonalium Officii (CAO), 6 Bde., Rom 1963–1979.

Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte

Antiphon:

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›Ecce radix Jesse ascendet in‹ (CAO 6606): Ecce radix Jesse ascendet in salutem populorum ipsum gentes deprecabuntur et erit nomen ejus gloriosum.

Der Wortlaut der Karte entspricht zum Teil dem der Antiphonen (linke Hand, Füße), zum Teil entspricht er dem des biblischen Textes, auf den die Antiphonen zurückgehen (Auferstehungsbild), und zum Teil sind der Wortlaut von Antiphon, Bibelstelle und Kartentext identisch (rechte Hand und Kopf Christi). Dieser Befund spricht gegen eine konkrete liturgische Verortung der Karte, denn eine solche setzte die Antiphonen jeweils als primäre Kartenquelle voraus. Zwar konnten alle Gesänge entweder im adventlichen (die Antiphonen ›O sapientia quae ex ore‹ 21 , ›Qui caelorum contines thronos‹ 22 und ›Ecce radix Jesse ascendet in‹ 23 ) oder im österlichen Festkreis (die Antiphonen ›Dextera domini fecit virtutem‹ 24 , ›Ego sum alpha et o. primus et‹ [CAO 2588] 25 und ›Ego sum alpha et o. primus et‹ [CAO 2589] 26 ) Verwendung finden. Doch ist eine systematische Zuordnung der adventlichen und österlichen Gesänge zu den Gliedmaßen Christi (etwa in der Art: Hände – Ostergesänge, Kopf und Füße – Adventsgesänge) nicht zu erkennen. Beides, die teilweise Abweichung des Kartentextes von den Antiphontexten und das Fehlen einer systematischen Verteilung der Gesänge auf die Gliedmaßen, weisen darauf, daß der liturgische Zusammenhang für die Wahl der Kartentexte nicht entscheidend gewesen sein dürfte. Die Antiphonen waren wesentlicher Bestandteil des täglichen Stundengebets und gehörten ebenso wie die biblischen Texte vor allem im monastischen Bereich – der für die Entstehung der Ebstorfer Karte angenommen werden darf – zum jederzeit abruf baren, da täglich repetierten Wissen. Es darf daher vorausgesetzt werden, daß beim Kartenbetrachter die Legenden zur Christusfigur und zum Jerusalembild nicht nur die zitierte biblische bzw. liturgische Stelle ins Gedächtnis 21 ›O sapientia quae ex ore‹ (CAO 4081) ist für den Freitag der dritten Adventswoche belegt, als adventlicher Mariengesang und als Antiphona Major. 22 ›Qui caelorum contines thronos‹ (CAO 4460) ist als Gesang zu ›De Prophetis‹ und zu den Sonntagen im November bezeugt. 23 ›Ecce radix Jesse ascendet in‹ (CAO 6606) ist belegt für den 3. Adventssonntag, für Heilig Abend und Mariae Verkündigung (25. März). 24 ›Dextera domini fecit virtutem‹ (CAO 2185) ist belegt für den 2. Sonntag Quadragesimae und Ostermittwoch. 25 ›Ego sum alpha et o. primus et‹ (CAO 2588) ist belegt für Ostersonntag, für die Osterzeit, die Osterwoche, die Woche nach Ostersonntag, den 2. und 3. Sonntag nach Ostern, den Montag in der 2. Woche nach Ostern, den Donnerstag der 3. Woche nach Ostern und als österlicher Allerheiligengesang. 26 ›Ego sum alpha et o. primus et‹ (CAO 2589) ist belegt für den Ostersonntag, die Osterzeit, die Osterwoche, die 1. und 2. Woche nach Ostern sowie als österlicher Gesang zum Heiligen Kreuz.

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riefen, sondern auch ihren jeweiligen Textzusammenhang. Eine ausführliche Kontextualisierung der Legenden aufgrund ihrer biblischen und liturgischen Quellen und Parallelen soll im folgenden versucht werden. * Die Legenden " und ‡, Primus et novissimus zum Christuskopf gehen auf Apoc 22, 13 zurück: Ego sum alpha et omega, primus et novissimus, principium et finis. Diese Worte gehören zur abschließenden Prophetie des apokalyptischen Engels; aus ihr ergibt sich der Kontext der Kartenlegende. Im vorangehenden Vers Apoc 22, 12 wird die Wiederkunft Christi als Weltenrichter im Jüngsten Gericht thematisiert: Ecce venio cito, et merces mea mecum est, reddere unicuique secundum opera sua, und im nachfolgenden Vers Apoc 22, 14 die Teilhabe der Gerechten am Baum des Lebens und am himmlischen Jerusalem: Beati, qui lavant stolas suas in sanguine Agni: ut sit potestas eorum in ligno vitae, et per portas intrent in civitatem. Der Baum des Lebens ist auf der Karte im Paradiesbild neben dem Baum der Erkenntnis abgebildet (Abb. 5) und in der zum Bild gehörigen Legende Paradysus et lignum vite et IIII flumina fluentes de Paradyso, ubi primos parentes decepit serpens suadens de ligno vetito manducare (3/4) 27 genannt. Zudem verweist per portas intrent in civitatem vom Christuskopf auf das Kartenzentrum mit dem himmlischen Jerusalem, in dem nach dem Jüngsten Gericht die Gerechten Aufnahme finden sollen. Auf ebendieses Kartenzentrum führt den Kartenbetrachter auch Apoc 22, 16: Ego Iesus misi angelum meum, testificari vobis in Ecclesiis. Ego sum radix, et genus David, stella splendida et matutina, das in der Antiphon ›Ego sum alpha et o. primus et‹ (CAO 2588) aufgegriffen ist: et stella matutina ego clavis David alleluia. Mit der Legende Sepulchrum Domini gloriosum teste Ysaia (32/15) zum Auferstehungsbild der Karte wird die Wurzel Jesse wiederaufgenommen, Is 11, 10 zitierend: In die illa radix Iesse, qui stat in signum populorum, ipsum gentes deprecabuntur, et erit sepulchrum eius gloriosum. Auch in dem Falle, daß der Kartenbetrachter nicht Apoc 22, 13 erinnerte, sondern Apoc 1, 8 bzw. Apoc 1, 17, würde er durch deren Kontext ebenfalls auf Jerusalem im Zentrum der Karte mit dem Auferstehenden verwiesen. Denn in Apoc 1, 8 ist von dem ewigen Weltenschöpfer die Rede, der in der Erfüllung der Zeiten wiederkommen wird: Ego sum alpha et omega, principium et finis, dicit Dominus Deus. Und in Apoc 1, 17f. wird die Wiederauferstehung Christi angesprochen und seine Herrschaft über den Tod und die Unterwelt: Ego sum primus, et 27 »Das Paradies und der Baum des Lebens und die vier aus dem Paradies entspringenden Flüsse; wo die Schlange unsere Ureltern betrog, indem sie sie anstiftete, vom verbotenen Baum zu essen.«

Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte

311

novissimus, et vivus, et fui mortuus, et ecce sum vivens in saecula saeculorum, et habeo claves mortis, et inferni. Einen anderen Zusammenhang evoziert die längere Antiphon ›Ego sum alpha et o. primus et‹ (CAO 2589), denn sie ruft dem Kartenbetrachter die Passion und Auferstehung Christi in allen ihren Details in Erinnerung, die nicht im himmlischen, sondern im irdischen Jerusalem geschahen. Dadurch stellt sich auf der Karte das Stadtbild Jerusalems als Zentrum des bewohnten Orbis terrarum dar, das durch die Auferstehung Christi auch Zentrum der Heilsgeschichte ist. Diese doppelte Bedeutung des zentralen Jerusalembildes ist wiederum in der Jerusalemlegende der Karte, Iherusalem sanctissima (32/2), formuliert: Hec civitas celeberrima capud omnium civitatum toti mundo extat, quia in ea salus humani generis morte et resurrectione Domini consumata est dicente psalmista: ›Rex noster ante secula‹ etc. Ipsa etiam civitas magna continet sepulchrum Dominicum, quod pia aviditate querere desiderat totus orbis, quia nobilitavit illud resurgens a mortuis victor mortis, unde Sedulius: ›Ubi, inquid, depositi thesaurum corporis amplum nobilis accepit Domino locus ille iacente, nobilior ipso resurgente sanctus est.‹ 28

Die Kontextualisierung der anzitierten biblischen und liturgischen Stellen läßt auf der Karte Binnenstrukturen von Text und Bild zutagetreten. Sie führen den Kartenbetrachter vom Christuskopf am oberen Kartenrand zur Paradiesdarstellung der Karte, Bild des Eintritts des Menschen in die irdische Zeit, und zum Beginn der Heilsgeschichte. Sie führen den Kartenbetrachter weiter vom Christuskopf auf die Jerusalemdarstellung in der Kartenmitte. Die Verbindung dieser beiden auffälligsten Kartenzeichnungen streicht die heilsgeschichtlich zentrale Bedeutung Jerusalems als historischer Ort der Auferstehung Christi und zukünftige Stätte der Wiederkunft Christi und des tausendjährigen Friedensreiches heraus.

[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y Beginn der irdischen Zeit

Kopf

Paradies

Beginn der Heilsgeschichte

28 »Diese hochberühmte Stadt ist für die ganze Welt die Hauptstadt aller Städte, weil hier die Rettung des Menschengeschlechts durch Tod und Auferstehung des Herrn vollbracht worden ist, wie der Psalmist sagt (Ps. 73, 12): ›Er ist unser König vor aller Zeit‹ etc. Diese große Stadt umschließt das Grab des Herrn, das aufzusuchen der ganze Erdkreis mit frommem Eifer verlangt, weil der Sieger über den Tod es durch seine Auferstehung verherrlicht hat. So sagt Sedulius: ›Nachdem diese Stätte den reichen Schatz des vom Kreuz abgenommenen Leichnams aufnahm und damit ausgezeichnet war, so wurde sie noch mehr erhoben und geheiligt durch seine Auferstehung.‹«

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[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y Ende der irdischen Zeit

Kopf

Jerusalem

Ende der Heilsgeschichte

Durch die anzitierten Textstellen werden auf der Karte Querbezüge deutlich, die zur Interpretation der Christusdarstellung führen; die Aussage der Legende " und ‡, Primus et novissimus zum Christuskopf wird durch diese Querverbindungen des Kopfes zum Paradies- und Jerusalembild evident: Der Gottessohn als Anfang und Erfüllung der Zeiten, als Weltenschöpfer und Weltenrichter, der allein durch seine heilsgeschichtlichen Taten die Restauration des Paradieses für den Menschen vermag. Auf den Christuskopf der Karte wiederum verweisen den Kartenbetrachter die Legenden Usque ad finem fortiter (58/24) und Suaviter disponensque omnia (58/42) zu den Füßen Christi. Sie sind Zitat aus der Antiphon ›O sapientia quae ex ore‹ (CAO 4081), die die göttliche Weisheit als die alles durchgestaltende Kraft anspricht. Sie geht aus dem Mund des Höchsten hervor (quae ex ore altissimi prodisti), ist der Logos des erschaffenden Gottes (cf. Io 1, 1–5). Dieser Bezug wird auch in Sap 9, 1 deutlich (Deus patrum meorum, et Domine misericordiae, qui fecisti omnia verbo tuo), dem Beginn des Gebets Salomons um Erlangen der Weisheit. Auch die Antiphon enthält die abschließende Bitte, auf den Weg der Klugheit geführt zu werden (veni ad docendum nos viam prudentiae), welche den Menschen wieder zur göttlichen Weisheit zurückzubringen vermag. Im Sinne dieser Bitte versteht Hartmut Kugler die Christusfigur der Karte als Aufforderung und Einladung zur Kontemplation, also zu derjenigen Seelentätigkeit, die vom irdischen Erkenntnisbild (des dargestellten Orbis terrarum) stufenweise zurückfinden soll zu ihrem Schöpfer. Nach Kugler ist »als Garant der Durchlässigkeit für die religiöse Dimension die Gestalt Christi ins Bild gerufen, groß dimensioniert mit Haupt und Gliedmaßen an der Peripherie, an den ›vier Enden‹ des Orbis terrarum; und noch ein zweites Mal klein dimensioniert im Kartenzentrum: als Auferstehender im Jerusalemquadrat.« 29 Die Antiphon selbst geht auf Sap 8, 1 zurück. Im 8. Kapitel des Buchs der Weisheit wird wiederum das Thema " und ‡, Primus et novissimus aufgenommen, sowie die alles ordnende göttliche Weisheit: Et si multitudinem scientiae desiderat quis, scit praeterita, et de futuris aestimat; scit versutias sermonum, et dissolutiones argumentorum; signa et monstra scit antequam fiant, et eventus temporum et saecu29 Hartmut Kugler, Die Seele im Konzept von Mikrokosmos und Makrokosmos. Zum Christuskopf auf der Ebstorfer Weltkarte, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. von Katharina Philipowski und Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 59–79; S. 75.

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Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte

lorum (Sap 8, 8). Mit Sap 8, 1 selbst (Attingit ergo a fine usque ad finem fortiter, et disponit omnia suaviter) wird die Charakterisierung der göttlichen Weisheit beschlossen, an der der Mensch durch seine Gottähnlichkeit partizipiert, so daß er die Weisheit und Güte der Schöpfung und des Schöpfers erkennen kann.

[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y göttliche Weisheit

Füße

Kopf

Schöpfung

Durch das Sapientia-Zitat bei den Füßen Christi ist der textliche Bezug zum Christuskopf evident, der auf der Karte durch die Beischriften als Weltenschöpfer und -richter vorgestellt ist, und der als Haupt Gottes dessen schöpferische Potenz symbolisiert. Bei der rechten Hand Christi steht auf der Karte die Legende *Dextera Domini fecit virtutem (29/13). Sie zitiert Ps 117, 15f.: Vox exsultationis et salutis in tabernaculis iustorum. Dextera Domini fecit virtutem, dextera Domini exaltavit me; dextera Domini fecit virtutem 30 , auf den auch die Antiphon ›Dextera domini fecit virtutem‹ (CAO 2185) wörtlich zurückgeht. Im Psalm wird durch die Worte in tabernaculis iustorum auf das himmlische Jerusalem im Kartenzentrum verwiesen, in das nach dem Jüngsten Gericht die Gerechten eingehen werden. Der Eintritt in die himmlische Stadt wird ebenfalls in Ps 117, 20 erwähnt: Haec porta Domini, iusti intrabunt in eam. Auf der Karte ist Christus durch das Bild des in Jerusalem Auferstehenden als Herrscher der himmlischen Stadt dargestellt.

[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y himmlisches Jerusalem

rechte Hand

Jerusalem

Auferstehung

Auch der dem Psalmzitat der Karte unmittelbar folgende Vers Non moriar, sed vivam (Ps 117, 17) verweist den Kartenbetrachter auf das Auferstehungsbild, während das folgende et narrabo opera Domini (ebd.) auf das Kartenbild selbst bezogen werden kann, das nicht nur den Orbis terrarum als Schöpfungswerk Gottes darstellt, sondern in diesem auch heilsgeschichtliche Taten bildlich festhält (die 30

Ruberg [Anm. 7], S. 581 dagegen nimmt an, die Legende sei eine Abwandlung von Is 48, 13: Manus quoque mea fundavit terram, et dextera mea mensa est caelos, ego vocabo eos, et stabunt simul, da im vorangehenden Vers Is 48, 12 auf die Legende beim Christuskopf Bezug genommen werde: Audi me, Iacob, et Israel quem ego voco; ego ipse, ego primus, et ego novissimus. Diese Annahme ist jedoch unnötig, da der Wortlaut der Kartenlegende mit dem Psalmtext übereinstimmt.

314

Antje Willing

Sonntagswerke in der Legende Prima die condidit [6/1] 31 , die Archa Noe [24/1], den Auszug Israel [Transitus filiorum Israel 27/16] mit seinen einzelnen Stationen, das Wunder von Kanaa, symbolisiert durch die sechs Krüge in 32/A2 etc.), die schließlich in der Auferstehung gipfeln.

[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y Schöpfung

rechte Hand

Orbis terrarum

Heilsgeschichte

Die Legende Terram palmo concludit (35/4) zur linken Hand Christi entstammt wörtlich der Antiphon ›Qui caelorum contines thronos‹ (CAO 4460): Qui caelorum contines thronos et abyssos intueris domine rex regum montes ponderas terram palmo concludis exaudi nos domine in gemitibus nostris. 32 Im Antiphontext scheint die Maiestas Domini-Vorstellung (Christus der thronende Weltenherrscher) auf, die auch auf der Karte mit dem Christuskopf rudimentär vorhanden ist. Zugleich ist das Maß, mit dem Gott die Welt wiegt, Anspielung auf die alles ordnende Kraft der göttlichen Weisheit, die auf der Karte mit den Legenden zu den Füßen Christi thematisiert ist. Ruberg und Arentzen nehmen nicht die Antiphon als Grundlage des Kartentextes an, sondern die dieser zugrundeliegende Isaias-Stelle: Der Kartentext sei eine Umformung von Is 40, 12: Quis mensus est pugillo aquas, et caelos palmo ponderavit? Quis appendit tribus digitis molem terrae, et libravit in pondere montes, et colles in statera? 33 , zumal der vorangehende Vers Is 40, 10 (Ecce Dominus Deus in fortitudine veniet, et brachium eius dominabitur, ecce merces eius cum eo, et opus illius coram illo) an die Legende *Dextera Domini fecit virtutem (29/13) zur rechten Hand Christi anklinge. Spricht auch die wörtliche Übereinstimmung von Karte und Antiphon gegen eine primäre Umformung von Is 40, 12 durch den Kartenhersteller, so bleibt dennoch zu bedenken, daß der Kartenbetrachter durch die Legende nicht nur die Antiphon erinnert haben dürfte, sondern auch die ihr zugrundeliegende Isaias-Stelle. Die Querbezüge im Kartenbild, die sich durch die Kontextualisierung des Antiphontextes eröffneten, stimmen mit denjenigen überein, die sich aus der Kontextualisierung der Isaias-Stelle ergeben. Is 40, 12 zitiert den Schöpfergott, der die Welt nach seinem göttlichen Maß (nämlich dem der 31

Ausführlich zu den Sonntagswerken und ihrem Querbezug zum Christuskopf auf der Karte: Jürgen Wilke, Die Ebstorfer Weltkarte. 1. Textband, Bielefeld 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 39), S. 272–281. 32 Cf. auch das textgleiche Responsorium CAO 7471. 33 Cf. Ruberg [Anm. 7], S. 581, Anm. 98 und Arentzen [Anm. 4], S. 272.

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Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte

göttlichen Weisheit) geschaffen hat, und Is 40, 13 zitiert die göttliche Weisheit: Quis adiuvit spiritum Domini? Aut quis consiliarius eius fuit, et ostendit illi? Beide Verse stellen Bezüge zwischen der linken Hand und dem Kopf bzw. den Füßen Christi her.

[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y Weltenherrscher

linke Hand

Kopf

Schöpfung

[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y göttliche Weisheit

linke Hand

Füße

Schöpfung

Auf den Christuskopf der Karte, der mit der Legende " und ‡, Primus et novissimus den ewigen Weltenschöpfer zitiert, verweisen wiederum Is 40, 22 und 28: Die Maiestas Domini ist in Qui sedet super gyrum terrae (Is 40, 22) explizit, und mit Bezug auf die göttliche Weisheit heißt es in Is 40, 28: Numquid nescis, aut non audisti? Deus sempiternus Dominus, qui creavit terminos terrae; non deficiet, neque laborabit, nec est investigatio sapientiae eius. Nach Ruberg zeigten die Legenden zu den Händen Christi an, daß auf der Karte »die Dimension der Zeit nicht linear, sondern synoptisch umfassend in jüdischer [die alttestamentlichen Bilder der Karte; A. W.], christlicher [neutestamentliche Bilder; A. W.] und eschatologischer [Auferstehungsbild; A. W.] Phase dargestellt werden soll.« 34 Arentzen spitzt dies zu einer waagrechten »Achse der Zeitlichkeit und des Irdischen« auf der Karte zu, in der Christus durch die Legenden zu seinen Händen – und durch die Ausrichtung des Auferstehenden gegen den Norden, die Zone des Bösen, die auf der Karte durch Gog und Magog vertreten ist 35 – »als Helfer des Menschen gegen Unglauben und Sünde in der Zeitlich34

Ruberg [Anm. 7], S. 581f. Nach Kerstin Hengevoss-Dürkop erklärt das Zitat von Is 11, 10 in der Legende Sepulchrum Domini gloriosum teste Ysaia (32/15) die Nordwendung des Auferstehenden auf der Karte: In Is 9, 8–10, 34 stehe die Drohung gegen das Nordreich, Sitz des Unheils, symbolisiert durch Gog und Magog, die nach Ez 39, 2 im äußersten Norden siedelten. Auf der Karte seien die Völker Gog und Magog im Nordosten angesiedelt (Hic inclusit Alexander duas gentes immundas Gog et Magog, quas comites habebit Antichrist. Hii humanis carnibus vescuntur et sanguinem bibunt [8/7]), weshalb der Auferstehende seinen Blick dorthin wende. Cf. Kerstin Hengevoss-Dürkop, Jerusalem – Das Zentrum der EbstorfKarte, in: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, hg. von Hartmut Kugler in Zusammenarbeit mit Eckhard Michael, Weinheim 1991, S. 205–222; S. 217. Diese Nordwendung interpretiert Hengevoss-Dürkop im 35

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Antje Willing

keit dieser Welt dargestellt« sei. 36 Diese Achse kreuze sich im Jerusalembild des Auferstehenden mit einer Ost-West-Achse der Ewigkeit, die durch den Beginn der Welt mit der Schöpfung (" und primus) und dem Ende der Welt in Erfüllung der Zeiten (die Füße Christi an der Stelle der herkulischen Säulen) markiert sei. Durch die aufgezeigten Querbezüge nicht nur zwischen Kopf und Füßen Christi und zwischen den beiden Händen Christi, sondern auch zwischen den Händen und dem Kopf sowie den Händen und den Füßen Christi, verlieren Arentzens Ost-West-Achse der Ewigkeit und Nord-Süd-Achse der Zeitlichkeit ihre ausschließliche Ausrichtung. Gegen eine streng achsensymmetrische Konzeption der Christusfigur spricht zudem ein weiterer Süd-West-Bezug auf der Karte: Sowohl die Antiphon zu den Füßen Christi wie auch die Antiphon zur Linken Christi schließt mit einer Bitte des Menschen an Gott – in ›O sapientia quae ex ore‹ mit der Bitte, auf den Weg der göttlichen Weisheit bzw. Klugheit geführt zu werden, in ›Qui caelorum contines thronos‹ mit der Bitte, das Seufzen der Menschen zu erhören und sie zu erlösen. * Alle Legenden zur Christusfigur verweisen immer wieder auf Jerusalem und den Auferstehenden in der Kartenmitte. Dieses der Karte zentrale Bild hat eine doppelte Legende: einmal die das Stadtbild erläuternde Legende Iherusalem sanctissima (32/2), zum zweiten die das Auferstehungsbild erklärende Legende Sepulchrum Domini gloriosum teste Ysaia (32/15). Letztere zitiert Is 11, 10–12: In die illa radix Iesse qui stat in signum populorum, ipsum gentes deprecabuntur, et erit sepulchrum eius gloriosum. Et erit in die illa; adiiciet Dominus secundo manum suam ad possidendum residuum populi sui [...]. Et levabit signum in nationes, et congregabit profugos Israhel, et dispersos Iuda colliget a quattuor plagis terrae.

Christus als Sproß Jesse ist Heilszeichen für alle Völker der Welt, welches sich in seinem Grab in der heiligen Stadt Jerusalem manifestiert, denn aus diesem ist er von den Toten auferstanden. Is 11, 10 wie auch die hierauf fußende Antiphon ›Ecce radix Jesse ascendet in‹ (Ecce radix Jesse ascendet in salutem populorum ipsum gentes deprecabuntur et erit nomen ejus gloriosum) 37 stellen die Bedeutung des Sinne der Kreuzzugstheologie (ebd., S. 217f.), insofern in Apoc 20, 8 Gog und Magog für die Ungläubigen in allen vier Enden der Welt stünden, die es zu besiegen gelte. Auf der Karte allerdings ist der Auferstehende exakt nach Norden gerichtet, nicht nach Nordosten, wo Gog und Magog zu sehen sind. 36 Arentzen [Anm. 4], S. 272f. 37 CAO 6606.

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Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte

Erlösers nicht nur für einen Teil der Welt, sondern für den ganzen Orbis terrarum heraus, in dessen Mitte er auf der Ebstorfer Karte übergroß dargestellt ist. Die Legende Iherusalem sanctissima (32/2) zum Stadtbild erläutert ebenfalls die zentrale Bedeutung des Auferstehungsbildes für die Karte unter Zitierung des ›Carmen paschale‹ des Sedulius: unde Sedulius: ›Ubi, inquid, depositi thesaurum corporis amplum nobilis accepit Domino locus ille iacente, nobilior ipso resurgente sanctus est.‹ 38 Aus dieser Überhöhung leitet sich seit Hieronymus die zentrale Stellung der heiligen Stadt als Nabel der Welt her 39 , die in der Legende Iherusalem sanctissima (32/2) mit Ps 73, 12 begründet wird: Hec civitas celeberrima capud omnium civitatum toti mundo extat, quia in ea salus humani generis morte et resurrectione Domini consumata est dicente psalmista: ›Rex noster ante secula‹ etc. 40 Die nachfolgenden Psalmverse (Ps 73, 13–17) sprechen Gott als Weltenschöpfer und -herrscher an: Tu dirupisti potentia tua mare, contrivisti capita draconum in aquis. Tu confregisti capita Leviathan, dedisti eum escam monstris marinis. Tu dirupisti fontes et torrentes; tu siccasti fluvios Ethan. Tuus est dies, et tua est nox; tu fabricatus es auroram et solem. Tu fecisti omnes terminos terrae; aestatem et ver tu plasmasti ea.

Sie verweisen den Kartenbetrachter wiederum vom Zentrum der Karte auf den Christuskopf am oberen Kartenrand.

[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[[Y Schöpfung

Jerusalem

Kopf

Die biblisch-liturgische Kontextualisierung der Legenden zur Christusfigur hat vielfältige Querbezüge der Kartenbilder aufgedeckt: Die Legenden zu den einzelnen Teilen der Christusfigur thematisieren immer wieder die göttlichen Weisheit, Gott als Weltenschöpfer und -herrscher sowie die Auferstehung und Erlösung im 38 »So sagt Sedulius: ›Nachdem diese Stätte den reichen Schatz des vom Kreuz abgenommenen Leichnams aufnahm und damit ausgezeichnet war, so wurde sie noch mehr erhoben und geheiligt durch seine Auferstehung.‹« Quelle ist Sedulii Carmen paschale V, 295–297 (cf. den Kommentar zu 32/2 in der Neuedition der Ebstorfer Weltkarte). 39 Hieronymus, In Ez II: Haec dicit Dominus Deus: Ista est Hierusalem, in medio gentium posui eam, et in circuitu eius terras [...]. Hierusalem in medio mundi sitam, hic idem propheta testatur, umbilicum terrae eam esse demonstrans (S. Hieronymi presbyteri opera, Pars I: Opera exegetica 4: Commentariorum in Hiezechielem libri XV, ed. Franciscus Glorie, Turnhout 1964 [CCSL 75], S. 55f.). 40 »Diese hochberühmte Stadt ist für die ganze Welt die Hauptstadt aller Städte, weil hier die Rettung des Menschengeschlechts durch Tod und Auferstehung des Herrn vollbracht worden ist, wie der Psalmist sagt (Ps. 73, 12): ›Er ist unser König vor aller Zeit‹ etc.« Zitiert ist hier Ps 73, 12: Deus autem rex meus est ab antiquo, qui effecit salutem in medio terrae.

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Antje Willing

irdischen und himmlischen Jerusalem. Durch diese Legende sind auf der Karte die Gliedmaßen und der Kopf Christi solcherart miteinander verquickt und aufeinander bezogen, daß sie eine zweidimensionale Konstruktion der Christusfigur, wie sie Arentzen mit der ›Ost-West-Achse der Zeitlichkeit‹ und ›Nord-Süd-Achse der Ewigkeit‹ auf der Karte erblickt, ausschließen. Der Kartenbetrachter wird durch die Legende des Christuskopf nicht nur auf die Füße Christi verwiesen, und durch die Legenden zu den Händen Christi auf die je andere Hand im Kartenbild. Sondern die anzitierten Bibelstellen und Gesangstexte führen den Kartenbetrachter ebenso von der linken Hand auf die Füße und den Kopf, von der rechten Hand auf das Kartenzentrum und den ganzen Orbis terrarum. Die Christusfigur auf der Ebstorfer Karte stellt sich somit als ein Bezugsgeflecht dar, das ihre Teile ebenso unter- und miteinander verbindet wie mit dem Kartenzentrum, mit Jerusalem und dem Auferstehenden. Auf der Londoner Psalterkarte und der Herefordkarte steht die Christusfigur über dem dargestellten Weltenkreis: Er steht nicht nur als Bild über dem Orbis terrarum, sondern auch programmatisch als Außerweltlicher, der als Erlöser und Richter über die Welt herrscht. Diese Diskrepanz zwischen Schöpfer und Schöpfung ist auf der Ebstorfer Karte ikonographisch durch die Einzeichnung der Christusfigur in den Erdkreis aufgehoben. Der enge Zusammenhang von Schöpfungsund Heilsgeschichte wird auf der Karte nicht nur durch die Christusfigur visualisiert, sondern durch die biblisch-liturgischen Legenden zum Kopf und den Gliedmaßen Christi auch textualisiert: Als Gottessohn hat Christus die irdische Welt nach Maßgaben der göttlichen Weisheit erschaffen (" und primus), und als Gottessohn vollendet er die irdische Heilsgeschichte durch seine zeitliche Auferstehung und überzeitliche Wiederkunft in Jerusalem (‡ und novissimus). Mag es auch unwahrscheinlich sein, daß sie den Kartenherstellern präsent war, so bringt die aquitanische Sequenz ›Laudes Deus sexus omnis‹, in Quellen des 10. und 11. Jahrhunderts aus Limoges überliefert, das christologische Rahmenprogramm der Ebstorfer Weltkarte auf den Punkt: Alpha et ‡, orbis conditor, primus atque novissmus, redemptor surrexit mortis victor. 41 41

Prosarium Lemovicense. Die Prosen der Abtei St. Martial zu Limoges, aus Troparien des 10., 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Guido Maria Dreves, Leipzig 1889 (Analecta Hymnica Medii Aevi 7), Nr. 67, 3b. Nahezu textgleich ist die Sequenz ›Laus Deo nostro sit per saecula‹ (Thesauri Hymnologici prosarium, Pars I: Liturgische Prosa erster Epoche aus den Sequenzschulen des Abendlandes, hg. von Clemens Blume und Henry Bannister, Leipzig 1911 [Analecta Hymnica Medii Aevi 53], Nr. 44, 3b).

III. In Räumen denken

Raumüberspannende Vernetzungen Verwandtschaftssysteme in Rechtstexten und fiktionaler Literatur von Claudia Brinker-von der Heyde, Kassel

Mit dem world wide web bzw. Internet 1 des digitalen Zeitalters hat sich über die Welt ein Netz gigantischen Ausmaßes gelegt. Aus Knoten und Verbindungen (Links) besteht es, erstreckt sich in einen unendlichen Raum und umschließt jeden nur denkbaren Bereich des Lebens. Gleichzeitig ist es so viel- und engmaschig geknüpft, dass auf der Basis weniger zentraler Knoten jeder weitere mit relativ wenigen Umwegen erreicht werden kann, ein Phänomen, das Barabási in seiner vielbeachteten Studie ›Linked. A New Science of Networks‹ 2 als gemeinsame Schablone aller natürlich gewachsenen Netze erkennt. 3 Wer daher den Aufbau eines dieser Netze entschlüsselt, kann auch alle anderen erklären. Auf diese Weise wird das Netz zu einem universalen Ordnungsprinzip, das in zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen genauso zu finden ist wie in Verkehrstechnik, Wissensaneignung, der weltweiten Kommunikation, der interkulturellen Verständigung, der Wirtschaft, der Politik, der Natur. Je komplexer allerdings solche Netze werden, um so schwieriger wird deren Darstellung. Da genügt dann nicht mehr ein einfaches ›Gestrick‹ im Grimmschen Verständnis 4 , sondern es bedarf komplex verknoteter Gebilde, die teils geometrische Formen – Kreis, Dreieck, Rechteck usw. –, teils Strukturen des Baummodells annehmen, das wie kaum ein anderes das »strukturlogische Problem der Vernet-

1 Der Begriff ist eigentlich tautologisch, denn dem Netz ist das ›Zwischen‹ qua Definition inhärent, handelt es sich doch in seiner ursprünglichen, materiellen Form um »ein aus weiten maschen bestehendes gestrick« (Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854ff., Bd. 13 [1889], Sp. 638). 2 Albert-László Barabási, Linked. The New Science of Network, Cambridge 2002. 3 Vgl. dazu das in der Soziologie bekannte ›Kleine-Welt-Phänomen‹. Der Begriff wurde 1967 von Stanley Milgram geprägt und drückt aus, dass zwei Menschen mit einer nur sehr kurzen Kette von Bekanntschaften miteinander verknüpft sind. Stanley Milgram, The Small World Problem, in: Psychology Today (1967), S. 60–67. 4 Vgl. DWB [Anm. 1].

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zung differenziert zu thematisieren« vermag. 5 Alle diese aktuellen Graphentypen greifen damit letztlich auf die ältesten Formen überhaupt zurück, mit deren Hilfe Abhängigkeiten, Hierarchien und Verbindungen systematisiert oder visualisiert wurden. Sprachbäume, Tugend- und Lasterbäume, Organigramme von Kirchenhierarchien oder ganzen Enzyklopädien klassifizieren, systematisieren und hierarchisieren Wissensbestände bereits in antiken wie mittelalterlichen Handschriften und Frühen Drucken. Besonders beliebt sind die graphischen Formen bei Familien, Sippen und Dynastien, allen voran das Baummodell als das »wirkungsmächtigste Mittel, biologische und sozialpolitische Argumentationen zu verknüpfen und daraus Wertzuweisungen und Rechtstitel abzuleiten.« 6 Genealogie heißt – wie bereits im Zedler zu lesen – die »Wissenschafft die Vorfahren eines Geschlechts in gehöriger Folge anzugeben«, 7 wird demnach als »ein wissenschaftlicher Terminus« aufgefaßt, der »eine historische Epistemologie der verwandtschaftlichen Verbindungen von Personen darstellt«. 8 Im vormodernen Analogiedenken greift die Bedeutung der Genealogie aufgrund ihrer Kompetenz, »zeitliche und räumliche Relationen herstellen zu können«, 9 aber noch weit darüber hinaus und wird gleichsam zur »Urform des Weltverstehens, weil man sich und die sichtbare Welt als Ergebnis einer endlichen Zahl von Zeugungen« 10 vorstellen konnte. Konsequent weitergedacht bedeutet dies, dass genealogische Netzwerke nicht nur über Räume gespannt werden, sondern auch und gerade das für die Orientierung in ihnen benötigte Koordinatensystem liefern können und damit fast so etwas wie das world wide web der Vormoderne darstellen. Dies und Gedanken über den Zusammenhang von Raum und Genealogie sowie das Wechselspiel von verräumlichter Genealogie und genealogischem Raum sollen im folgenden weiter ›gesponnen‹ werden. 5 Jörg Jochen Berns, Baumsprache und Sprachbaum. Baumikonographie als topologischer Komplex zwischen 13. und 17. Jahrhundert, in: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Kilian Heck und Bernhard Jahn, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), S. 155–177, hier S. 172. Berns macht darauf aufmerksam, welch wichtige Rolle die Baummetaphorik in der Graphentheorie für die Erklärung und graphische Darstellung von Datenstrukturen und Datenoperationen spielt. 6 Berns [Anm. 5], S. 155. 7 Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 10, Sp. 832; online abrufbar unter: http://www.zedler-lexikon.de. 8 Kilian Heck und Bernhard Jahn [Anm. 5], S. 1. 9 Ebd. 10 Vgl. W. Speyer, Genealogie, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 9, Sp. 1145–1268, hier Sp. 1148. Auch: Howard Bloch, Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages, Chicago und London 1983.

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Der erste Teil widmet sich dabei den Netzwerkstrukturen der – hauptsächlich in Rechtsbüchern zu findenden – arbores consanguinitatis und arbores affinitatis und ihrer Verortung im Raum. Denn einerseits systematisieren die keineswegs nur mit dem Baummodell operierenden Stammbäume Relationen, Hierarchien und Verbindungen innerhalb einer Familie auf derart abstrakter Ebene, dass sie auf jeden individuellen Familienverband zutreffen, andererseits basieren sie auf Prämissen, die sie in den sehr viel umfassenderen Kontext der allgemeinen Menschheitsgeschichte stellen. Im zweiten Teil soll dann der Frage nachgegangen werden, ob bzw. inwieweit diese Stemmata im ›Parzival‹ des Wolfram von Eschenbach ihre narrative Umsetzung finden und welche Bedeutung sie möglicherweise für den literarischen Entwurf von Raum und Welt haben. Arbores consanguinitatis und arbores affinitatis Weil – wie in den Institutiones Justinians 534 zu lesen – »die Wahrheit sich dem menschlichen Geist mehr durch das Auge als durch das Ohr einprägt« und erst »die Anschauung die vollkommenste Übersicht der Abstufungen erlangen« kann, 11 fanden abstrakte Stammbaumgraphiken wohl schon zu römischer Zeit Eingang in Rechtsbücher, die sich mit ehe- bzw. erbrechtlichen Angelegenheiten beschäftigten. Erste Abbildungen sind allerdings erst in Rechtshandschriften um 800 überliefert. Als Vorlage dienten ihnen meist die Stemmata der Blutsverwandtschaft in den ›Etymologiae‹ des Isidor von Sevilla. 12 Er selbst hat sie wohl von einer um 300 verfassten, weit verbreiteten Rechtsschrift des Juristen Julius Paulus übernommen. Über Burchard von Worms fanden die Isidorschen Vorlagen dann ihrerseits Aufnahme in das ›Decretum Gratiani‹. 13 Im Zentrum der Graphiken steht jeweils ein ego oder ipse, von dem aus die verwandtschaftlichen Relationen entwickelt sind. Trapez, Dreieck und Kreis dienen als geometrische Grundformen, an denen sowohl die vertikale und horizontale Linearität als auch die Zirkularität genealogischer Systeme gezeigt werden können. Als eigentlicher Baum stellt sich nur Stemma II dar. Isidor spricht selbst denn auch nie von arbor, benutzt aber Begriffe aus dessen semantischem Feld wie truncus (Baumstamm), radix (Wurzel) und ramusculi (Ästchen). 11

Corp. iur. civ. I, 32, zit. in: Hermann Schadt, Die Darstellungen der Arbores Consanguinitatis bis zum 4. Laterankonzil 1215. Bildschemata in juristischen Handschriften, Tübingen 1982, S. 22. Die Studie ist nach wie vor das Standardwerk für dieses Thema. 12 Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. von W. M. Lindsay, Oxford 1911 (Neudruck: 1987), IX, vi, 28–29. 13 Vgl. dazu Schadt [Anm. 11], S. 22–24.

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Stemma I (Abb. 1) nennt auf der heraldisch rechten Seite die Aszendenz und deren Deszendenten, die linke Seite nennt die Deszendenz des ipse. In der Mitte finden sich die Geschwister mit ihren Deszendenten. Gleiche Verwandtschaftsgrade stehen horizontal auf gleicher Linie. Stemma II (Abb. 2), das in mittelalterlichen Schriften am weitesten verbreitete, sog. Etymologienschema, zeigt ein treppenförmiges Dreieck auf einem Stamm und kombiniert eine vertikale und eine horizontale Ordnung. Vertikal ist die direkte Abstammungslinie angeordnet. Anders als in späteren Stammbaummodellen üblich, verläuft dabei die Aszendenz des in der Mitte der Dreiecksbasis stehenden ipse nach oben und die Deszendenz nach unten. Horizontal von innen nach außen sind die Abstammungsfolgen aufgelistet, wobei die väterliche Linie ebenfalls rechts, die mütterliche links vom ipse steht. Die frater-soror-Folgen fehlen. Die seitlichen Vertikalen geben anders als in Stemma I nur die Generationenabfolgen und die Grade in aufsteigender Reihenfolge an ohne eigene verwandtschaftliche Verknüpfung. Die Kombination von vertikaler und horizontaler Anordnung legt die Plätze der einzelnen Glieder unverrückbar fest. Stemma III (Abb. 3) gelingt es, über die Kreisform auch noch gleiche Verwandtschaftsgrade auf einen Blick kenntlich zu machen, indem jeder Grad im selben Ring angeordnet ist. Die sechs bzw. sieben Grade der Blutsverwandtschaft entsprechen den bis 1215 mit einem Eheverbot belegten Verwandtschaftsgraden. Sie basieren keineswegs

Abb. 1: Stemma I, Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. von W. M. Lindsay, Oxford 1911 (Neudruck: 1987), IX, vi, 28.

Verwandtschaftssysteme in Rechtstexten und fiktionaler Literatur

Abb. 2: Stemma II, Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. von W. M. Lindsay, Oxford 1911 (Neudruck: 1987), IX, vi, 28.

Abb. 3: Stemma III, Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. von W. M. Lindsay, Oxford 1911 (Neudruck: 1987), IX, vi, 28.

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auf biologischen Gesetzen, sondern auf einem Analogiedenken, das für die Funktion genealogischer Modelle gerade in der Literatur bedeutsam ist. Isidor formuliert es in aller Deutlichkeit: Ideo autem usque ad sextum generis gradum consanguinitas constituta est, ut sicut sex aetatibus mundi generatio et hominis status finitur, ita propinquitas generis tot gradibus terminaretur. 14 »Die Blutsverwandtschaft ist aber deshalb bis zum 6. Grad festgesetzt, weil so wie das Menschenalter und der Rang des Menschen von den sechs Weltzeitalter bestimmt wird, auch die Verwandtschaftsfolge eines Geschlechts mit derselben Zahl von Graden bemessen wird.«

Der Widerspruch zwischen Text und dem siebengradigen Stemma II wurde in späteren Handschriften oft dahingehend gelöst, dass man entweder den Text auf sieben Grade erweiterte oder analog zu den sieben Schöpfungstagen ein siebtes Zeitalter einführte, das als Zeitalter des Gerichts verstanden wurde. 15 Das Analogiedenken als grundlegendes Denkmodell mittelalterlicher Epistemologie ist allein schon deswegen netzwerkbildend, als es Bezüge zwischen unterschiedlichen Phänomenen herstellt und Verständnis über Vergleich schafft. Der Konnex Mensch–Welt ist dabei ganz besonders eng, weil – und auch dies formuliert Isidor geradezu dogmatisch für mehr als ein Jahrtausend – homo autem mikrokosmos, id est minor mundus, est appellatus, 16 der Mensch Mikrokosmos, d. h. kleine Welt, genannt wird, und damit die Welt in übertragenem Sinn ebenfalls als homo, als Mensch, bezeichnet werden kann. Eine solch enge Wechselbeziehung bringt es mit sich, dass sich mit den an sich nur Verwandtschaftsverhältnisse und Generationenfolgen aufzeigenden Stemmata auch Welt konstruieren lässt. Genealogische und geographische Räume überblenden sich gegenseitig. Konsequent weitergedacht heißt dies, dass über die Kenntnis von genealogischen Ordnungen auch Wissen über den orbis terrarum erworben werden kann. Die Bedeutung der Schemata erschöpft sich damit nicht in der Vernetzung von Familienmitgliedern und Generationen bzw. dem Erstellen von Stammtafeln einzelner Geschlechter, sondern prädestiniert sie dazu, auf verschiedensten Ebenen des Wissens eingesetzt zu werden. Daran ändert sich auch dann nichts, als 14

Isidor von Sevilla [Anm. 12], IX, vi, 29. Beispiele aus der lateinischen Überlieferung bei Schadt [Anm. 11], S. 100–104. Vgl. auch Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel: Landrecht, hg. von Claudis Freiherr von Schwerin, Stuttgart 1974, Ldr. I, 3, 1: Orienis wissagete hie bevor, daz sechz werlde solden sin, die werlt bi tusent iaren ufgenomen, unde in deme sibenden solde se zugen. 16 Isidor von Sevilla, De natura rerum, MPL 83, Sp. 977f. Vgl. dazu: Hartmut Kugler, Symbolische Weltkarten – der Kosmos im Menschen. Symbolstrukturen in der Universalkartographie bis Kolumbus, in: Gutenberg und die Neue Welt, hg. von Horst Wenzel, München 1995, S. 33–58. 15

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1215 das Eheverbot wieder auf vier Grade reduziert wurde. Nur wird jetzt der aus den vier Elementen des Makrokosmos zusammengesetzte Mikrokosmos, d. h. der menschliche Körper, zur Bezugsgröße. Tatsächlich reflektieren die Stammtafeln diese Überlagerung verschiedenster Verständnisebenen auf vielfältige Weise. Bei Eike von Repgow verankern sich die für Erbschaft und Eheschließung gleichermaßen wichtigen Verwandtschaftsgrade ausschließlich »in der Konstitution des menschlichen Körpers.« 17 Isidor-Handschriften visualisieren dies häufig mit Hilfe einer sog. Präsentationsfigur 18 , die Phylogenese und Ontogenese miteinander verknüpft. Der Begriff Ipse wird darin vollständig durch einen Kopf ersetzt, Hände und Füße machen die abstrakte Trapezform zum vollständigen Körper (Abb. 4).

Abb. 4: Heidelberg, UB. Salem IX 39, fol. 65 v, aus: Schadt [Anm. 11], Tafel 17.

17 Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 18. Vgl. dazu: Eike von Repgow [Anm. 15], 3, 3. Eine Abbildung findet sich in: Gott ist selber Recht. Die vier Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, hg. von Ruth Schmidt-Wiegand und Wolfgang Milde, Wolfenbüttel 1993, S. 63. Die zweiköpfige Figur nennt die Abfolge der Vollgeschwister, die einköpfige Figur berücksichtigt die Halbgeschwister. Die Punkte weisen auf sieben Verwandtschaftsgrade bis hin zum sog. Nagelmagen, mit dem die Sippe endet. Alle im selben Glied, so Eike von Repgow, haben Anrecht auf dasselbe Erbe. Zu der Spiegelung des Sippenkörpers im Einzelkörper vgl. Kellner, S. 25f. 18 Der Begriff wurde von Schadt [Anm. 11] geprägt.

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Abb. 5: Ebstorfer Weltkarte.

Die vergangenen und die zukünftigen Generationen mit ihren Filiationen schreiben sich buchstäblich in diesen Körper ein, reproduzieren sich damit gleichzeitig in ihm und bringen in der Verbindung aller Zeiten in einem Ich das Prinzip genealogischer Zirkularität zur Anschauung. Das augustinische Zeitmodell scheint hier übernommen, das von einer dreidimensionalen Gegenwart ausgeht: »Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung, Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein; Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung.« 19 Denn der Ipse ist zu verstehen als Gegenwart von Gegenwärtigem, d. h. als das unmittelbar Sichtbare, die Gegenwart des Vergangenen zeigt sich in der Aszendenz, die Gegenwart des Zukünftigen in der Deszendenz. 19 Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, Lib. XI, 20, 26.

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Vergleichbare Darstellungen eines von Kopf und Extremitäten umschlossenen Körpers angefüllt mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, kennen wir vornehmlich von den mappae mundi des 13. Jahrhunderts, allen voran der Ebstorfer Weltkarte (Abb. 5) und der Londoner Psalterkarte (vgl. S. 299 mit Abb. 1b). 20 So wie Christus auf der Rückseite der nur 9 cm großen Londoner Psalterkarte den Weltkreis umspannt, so umgreift eine dem ipse ähnelnde Figur das genealogische Modell (Abb. 6). Und wie die Christusdarstellung auf der Ebstorfer Weltkarte in

Abb. 6: Cambrai, Bibl. Municip. 967, fol. 1 v, aus: Schadt [Anm. 11], Tafel 68. 20

Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. Birgit Hahn-Woernle, Ostfildern 1987, S. 36.

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das Kartenbild integriert ist (Abb. 5), 21 so ist es der ipse im isidorschen Stemma (Abb. 4). Damit wird der in Zeit und Raum ausgreifende Geschlechterkörper mit dem statischen Hier und Jetzt des einzelnen Geschlechtskörpers zur Deckung gebracht. Ab und an sind die Figuren sogar nimbiert (vgl. Abb. 6), häufiger entspricht die Ikonographie des bärtigen Männerkopfes aber derjenigen Adams, des Urvaters des Menschengeschlechts (vgl. Abb. 4). Dass diese Deutung keineswegs Spekulation ist, zeigen Darstellungen, in denen ganz explizit eine Umschrift die dargestellte Figur als stirpis Adam pater est humanae kennzeichnet. 22 Die auf Parität aller angelegte Urverwandtschaft der Menschen steht also keineswegs in Konkurrenz zur Exklusivität eines Geschlechts, mündet nicht in eine Aporie 23 , sondern ist als Urmodell allen Genealogien eingeschrieben. So wie Adam Spitzenahn der Menschheit ist, so kann sich jeder ipse, auch wenn er – anders als Adam – bereits innerhalb einer Kette genealogischer Sukzession steht, selbst wieder als Spitzenahn gerieren, sofern es ihm gelingt – und hier erneut in Analogie zu Adam –, als Gründer aufzutreten. Die befestigte Burg / Stadtanlage, aus der die beiden Füße herausragen (Abb. 4), 24 scheint auf diesen Zusammenhang zu deuten, ist doch generell die Tendenz zu beobachten, den Spitzenahn als Städte- oder Ländergründer auszuweisen. Besonders prominente Beispiele in der mittelalterlichen Literatur sind Dido, Eneas oder Melusine. Möglicherweise ist auch dafür eine isidorsche Etymologie prägend gewesen, die homo und humus in unmittelbaren Zusammenhang bringt. 25 Eine ganz ähnliche Verbindung von konkreter und abstrakter Genealogie findet sich in einer der ältesten Papierhandschriften aus dem 13. Jahrhundert, wo die Verwandtschaftstafel aus einer darunter 21 Kugler rückt in seiner monumentalen Edition und Kommentierung der Ebstorfer Karte von früheren Aussagen ab, nach denen er »von einer Überblendung von Christusleib und Erdleib« ausgeht [vgl. Anm. 16, S. 50]. Stattdessen ist eine Integrierung von Körperteilen Christi anzunehmen, die der Karte »den Charakter einer Mappamundi spiritualis verleiht«. Hartmut Kugler, Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, Berlin 2007, S. 22. 22 Z. B. in einer in Stuttgart aufbewahrten Etymologien-Handschrift, LB, poet. et philol. 33, 2°, fol 85 r. Abbildung in Schadt [Anm. 11], Tafel 29. Weitere Beispiele: Tafel 30 und 31. Dazu auch S. 98. 23 Kellner [Anm. 17], S. 108. 24 Schadt will hier eine Abbildung der Arche Noah erkennen, die in Texten häufig genannt und in anderen Handschriften auch abgebildet wird [Anm. 11, S. 35]. Die Architektur unseres Beispiels unterscheidet sich aber so eklatant von den Archen anderer Abbildungen, dass sich diese Behauptung kaum stützen lässt. 25 Isidor von Sevilla [Anm. 12], I, xxix, 3. Dazu: Howard Bloch, Genealogy as a Medieval Mental Structure and Textual Form, in: La littérature historiographique des origines à 1500, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer und PeterMichael Spangenberg, Heidelberg 1986 (Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters 11), S. 135–156, hier S. 142.

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Abb. 7: Sentenzenhandschrift des Julius Paulus. Madrid B.N. Hs. 51, fol 3 r, aus: Schadt [Anm. 11], Tafel 11.

liegenden männlichen Figur herauswächst. Als »Wurzel Jesse«, d. h. als Gründer der »linage de la vergine sancta maria« ist sie unmissverständlich in der Inschrift benannt, der aus ihr herauswachsende ›Baum‹ aber gibt nicht die Generationenfolge bis zu Jesus wieder, wie man erwarten könnte, sondern nur die abstrakten, auf jeden Menschen anwendbaren Verwandtschaftsbezeichnungen (Abb. 7). 26 Wie beliebt diese Verschränkung von adelig repräsentativer Genealogie mit biblischer Ikonographie war, zeigt sich noch im 16. Jahrhundert in der sog. Meß26

Dazu Schadt [Anm. 11], S. 51f.

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kircher Stammtafel, die den Gründerahn ikonographisch als Wurzel Jesse abbildet. 27 Gerade dieses Bildmotiv steht aber auch in enger Verbindung mit den Abläufen der Weltgeschichte. So ergänzt u. a. das Deckengemälde der Kirche St. Michael in Hildesheim den aus Jesse herauswachsenden Stammbaum Christi um die Paradiesflüsse, die Evangelistensymbole sowie die biblische Geschichte vom Sündenfall bis zu Christus als Weltenrichter. 28 Am deutlichsten ausgeprägt findet sich das jeder Genealogie inhärente, gleichwohl nicht allein bestimmende zirkuläre Modell mit deutlich kosmologischen und chronographischen Bezügen in den kreisförmigen Stemmata, vor allem dort, wo sie von an den Ouroboros gemahnenden, gleichwohl aber nicht mit ihm identischen, weil den Kreis nicht vollkommen schließenden Schlangen umschlossen sind (Abb. 8). 29

Abb. 8: Vatikan, Reg. lat. 1023, f. 64 v/65 r, aus: Schadt [Anm. 11], Nr. 3. 27 Die ›Meßkircher Stammtafel‹ der Herren von Geroldseck aus dem Fürstl. Fürstenbergischen Archiv in Donaueschingen. Die Abbildung findet sich online unter: http:// www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/rhein/territor/geroldseck/messkiges.htm. Zugriff: 21.5.2009. 28 Eine recht gute Abbildung der Bilderdecke der als Unesco-Welterbe eingetragenen Kirche findet sich unter: http://de.wikipedia.org/wiki/St._Michael_(Hildesheim). Vgl. auch Abb. 10. 29 In der ägyptischen Kultur wird die zyklische Zeit in der Ouroboros-Schlange symbolisiert, welche von zwei nach rechts (Zukunft) und links (Vergangenheit) schauenden Löwen als Symbole für die lineare Zeit getragen wird. Eine Abbildung findet sich in: Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion: Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt/New York 1989, S. 308. Zu den kosmologischen und chronographischen Bezügen vgl. das Isidorsche Kosmogramm. Dazu: Kugler [Anm. 16], S. 33f.

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Auch wenn die Gewichtung in den Darstellungen also unterschiedlich sein kann, so ist damit doch allen drei Grundtypen genealogischer Stemmata gemeinsam, dass sie nicht nur über die für jedermann anwendbare abstrakte Aszendenz und Deszendenz informieren, sondern auch die genealogische Zirkularität betonen sowie Bezüge herstellen zur Abstammungskette der Spezies Mensch und Analogien zu den Stadien der Weltgeschichte erlauben. Aufbauend auf diesen Formen, aber mit einem noch höheren Grad an Komplexität sind die arbores affinitatis konstruiert, in denen nicht ein ego oder ipse, sondern ein Paar buchstäblich die Fäden in den Händen hält und so miteinander verknüpft, dass optisch anstelle eines Baumes ein Netz entsteht. Häufig ist es im Inneren eines Gebäudes ausgebreitet (vgl. Abb. 9) als Zeichen für die Gründung des eigenen neuen Hauses, das jedes Paar gründet, manchmal finden sich nimbierte Figuren, was erneut biblische Assoziationen an das Stammelternpaar Adam und Eva weckt. 30 In der vor 1163 zu datierenden Abbildung (Abb. 9) sind die Verwandten der Frau unterhalb des Mannes, die des Mannes unterhalb der Frau angeordnet. Beide halten ihre Blutsverwandten an einem Seil fest, wobei sich in den gekreuzten Armen das Prinzip der Affinität veranschaulicht: Die Blutsverwandten des einen verschwägern sich mit denen des anderen, bilden eigentliche ›Seilschaften‹. In den siebengradigen äußeren Rubriken sind die Geschwister der Ehegatten und deren Nachkommen eingetragen. Der zweite Grad der Affinität wird dann durch beide Ehegatten vermittelt, verbildlicht im kurzen Seilstück, das von einer einzelnen Hand gehalten wird. Da sich die Verwandten dritten Grades nicht mehr unmittelbar vom Paar herleiten, sondern von den Verwandten zweiten Grades, steht die dritte Hand nicht mehr mit dem Paar in Verbindung. Erfasst werden die Beziehungen innerhalb dieser Gruppe, die verschiedenen Rubriken sind aufeinander bezogen und durch zwei halbkreisförmige Seile miteinander verbunden. 31 Ein noch vollständigeres Bezugssystem finden wir dann, wenn alle genera ex una parte und ex utraque parte aufgeführt sind und die Rubriken mit Hilfe eines Geflechts von sich überschneidenden Kreisen und gekreuzten, sich aufspaltenden Halbkreisen auf verschiedene genera bezogen werden. 32 Ausgebreitet wird das tatsächlich wie ein »großmaschiges gestrick« 33 wirkende Beziehungsgefüge oft über einen durch Architekturelemente kenntlich gemachten Raum. Der jeder Genealogie inhärente Faktor Zeit ist demgegenüber graphisch

Z. B. Cambrai, Bibl. Commune 967, fol 2 r. Abb. in Schadt [Anm. 11], Tafel 78. Schadt [Anm. 11], S. 176–180. 32 Z. B. Decretum Gratiani, Ende 12. Jh., Trier Stadtbibliothek 906, fol 218 r. Abb. in Schadt [Anm. 11], Tafel 80. 33 DWB [Anm. 1]. 30 31

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Abb. 9: Decretum Gratiani, um 1163, Baltimore, Walters Art Gallery 777, fol. 305 v, aus: Schadt [Anm. 11], Tafel 76.

kaum realisiert, deutet sich aber in den vielfältigen Komposita einer verwandtschaftlichen Kette an. 34 Als streng gegliedertes Ordnungssystem sind alle Stemmata zu erkennen. Ihre Bildhaftigkeit, die weit über die ursprünglichen isidorschen Stemmata hinausgehen, erweitern aber ihren Verwendungsbereich über Rechtsfragen hinaus. Herr34

Z. B. nepos – pronepos – abnepos – adnepos – trineptis filii – trinepotis nepos.

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schaftsansprüche und -legitimation lassen sich aus ihnen ableiten, Repräsentation und Reputation werden in ihnen manifest wie auch der heilsgeschichtlich so bedeutsame Verweis auf eine allen Menschen gemeinsame Abstammung, die sich in jedem Geschlechterverband durch alle Zeiten hindurch immer wieder neu abbildet und damit perpetuiert. Die große Zahl der Abbildungen in der handschriftlichen Überlieferung und ihre Relevanz für adelige Belange spricht dafür, dass diese ›Bildstemmata‹ nicht nur im gelehrten Diskurs, sondern auch innerhalb der höfischen Gesellschaft als geradezu omnipräsentes Denkmodell bekannt gewesen sind. Damit und dank ihrer Bildhaftigkeit sind sie durchaus dafür prädestiniert, als visuelle und strukturelle Vorgaben für die Erfindung literarischfiktionaler Geschlechterfolgen zu dienen. Verwandtschaftssysteme im ›Parzival‹ oder die literarische Familie als world wide web Dass Verwandtschaftskonstellationen in der Literatur häufig sehr viel mehr sind als bloße Reflexe auf historische Realität, dass sie sich nicht zwangsläufig erschöpfen müssen in Legitimationsbestrebungen einzelner Geschlechter 35 und dass keineswegs zwangsläufig ein reziprokes Verhältnis zwischen der in der Realität immer größer werdenden Bedeutung der Genealogie und deren literarischer Beachtung bestehen muss, 36 bedarf kaum der Begründung. Dies umso mehr, als Literatur in weit höherem Maß als der Sachtext »von einer direkten Wirklichkeitsreferenz entlastet ist«, was es ihr ermöglicht, »anthropologische Themen neu zu entwerfen oder auch zu rekonfigurieren und […] utopisches Potential auch in der Charakterisierung anthropologischer Dispositionen zu entfalten.« 37 Bei kaum einem anderen Text wird dies offenkundiger als in Wolframs ›Parzival‹ 38 , einem der wirkmächtigsten mittelalterlichen Texte überhaupt, der nicht nur bis heute die Interpreten herausfordert, sondern über Jahrhunderte hinweg (Nach)dichter zu immer wieder neuen Bearbeitungen, Mutmaßungen und kühnen Setzungen reizte und reizt. 35 Ursula Peters, Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1999 (Hermaea 85). 36 Dies die These von Uwe Ruberg, Verwandtschaftsthematik in den Tierdichtungen um Wolf und Fuchs vom Mittelalter bis zur Aufklärungszeit, in: PBB 110 (1988), S. 29–62, hier S. 33. 37 Beate Kellner, Kontinuität der Herrschaft. Zum mittelalterlichen Diskurs der Genealogie am Beispiel des ›Buches von Bern‹, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel, Stuttgart und Leipzig 1999, S. 43–62, hier S. 45. 38 Wolfram von Eschenbach, Parzival, übersetzt von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin 1998.

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Nicht zu übersehen und deshalb in der Forschung vieldiskutiert ist das Bestreben Wolframs, alle Figuren verwandtschaftlich miteinander so zu verknüpfen, dass der gesamte orbis terrarum weitgehend mit nur einer einzigen großen Familie besetzt wird. Von den 293 Personen, die namentlich genannt werden, lassen sich 113 unmittelbar der Artus- und der Gralsfamilie zuordnen, viele andere stehen in deren näherer oder auch weiterer Umgebung. Ausführlich wurden die Strukturen von Filiation und Allianz untersucht, Fragen zu Exogamie und Endogamie aufgeworfen, die Bedeutung des Avunkulats herausgearbeitet, 39 auf die Totalität des Systems und die herausgehobene Stellung der mütterlichen Verwandten hingewiesen und mit gewissem Erstaunen »die auffallend geringe Rolle« zur Kenntnis genommen, die »das gesamte Themenspektrum von Adelsfamilie und Verwandtschaft […] einnimmt.« 40 Es gibt keine dynastischen Heiraten, keine Erbproblematik wie etwa in den chansons des geste, so dass man sagen kann, die Familienkonzeption habe nur wenig zu tun mit »der zeitgenössischen Entwicklung und Erfahrungswirklichkeit«. 41 Kaum in den Blick gerückt sind in all diesen Untersuchungen bisher jedoch die im ersten Teil vorgestellten juridischen, nicht nur graphisch, sondern bildhaft aufgelösten Stemmata mit den ihnen inhärenten genealogischen Modellen als mögliche Vorgaben für eine narrative Umsetzung. 42 Auch sie reflektieren ja nicht die Alltagswelt mittelalterlicher Adeliger, sondern bieten Modelle, die je nach Zeit, Ort, Anlass und Intention unterschiedliche Bedeutungen haben können. Und sie sind dazu angetan, weltumgreifend ihre Netze auszuspannen. 39 Um nur einige wenige zu nennen: Elisabeth Schmid, Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts, Tübingen 1980 (ZfrPh, Beihefte 211); Elisabeth Schmid, Über Verwandtschaft und Blutsverwandtschaft im Mittelalter, in: Acta Germanica. 13 (1980), S. 31–46; Karl Bertau, Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, München 1983; Helmut Brall, Familie und Hofgesellschaft in Wolframs Parzival, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen, hg. von Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986, S. 541–583, Walter Delabar, erkantiu sippe unt hoch geselleschaft. Studien zur Funktion des Verwandtschaftverbandes in Wolframs von Eschenbach Parzival, Göppingen 1990 (GAG 518); James A. Schultz, The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages, 1100–1350, Philadelphia 1995; Ursula Peters, Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1999 (Hermaea 85); Sandra Linden, Mazadans Erben: Zum Zusammenhang von Minne und Genealogie in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹, in: Genealogische Diskurse, hg. von Wolfgang Haubrichs (LiLi 147, 2007), S. 71–95. 40 Peters [Anm. 35], S. 297. 41 Peters [Anm. 35], S. 299. 42 Kellner [Anm. 17] zeigt zwar drei Abbildungen aus Schadt (S. 21–23), bezieht diese Schemata aber bei den Textinterpretationen kaum mehr in ihre Überlegungen ein.

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Betrachtet man die Stammtafel, wie sie Bertau anhand von Wolframs Angaben entworfen hat, 43 so denkt man unwillkürlich an ein seriell geschaltetes Relais oder eine Schalttafel. Es gibt kaum einen Punkt darauf, der nicht so mit anderen verbunden wäre, dass von ihm ausgehend jeder andere erreicht werden könnte. In dem Gewirr von Buchstaben, Linien und Zahlen verliert sich der Überblick. Um das System zu verstehen, bedarf es einerseits eines sehr genauen Hinsehens und andererseits einer intensiven Lektüre keineswegs nur dieses einen Romans. Gut erkennbar sind zwei von ihrem Ursprung her zunächst unverbundene Schaltkreise, das Artusgeschlecht und die Gralsfamilie, wobei ersteres über deutlich mehr ›Knotenzentren‹ verfügt. In diese implementiert finden sich – um nur die zwei wichtigsten zu nennen – die Sippe von Gahmurets Mutter Schoette und diejenige von Condwiramurs namenloser Mutter, während Belakane, abgesehen von einer sehr spät genannten Schwester und natürlich dem Sohn Feirefiz, über keine weiteren familiären Verknüpfungen verfügt, d. h. sie agiert gleichsam autonom und ist allein über ihre Ehen ins Geflecht eingebunden, bzw. mit ihm verknotet. Aufgelistet finden sich wie in den arbores affinitatis einerseits die direkte Abstammungslinie als auch die Abstammungsfolgen bis in den siebten (Artussippe), resp. den vierten (Gralssippe) Verwandtschaftsgrad. Im nicht menschlichen Ursprung der Spitzenahnin Terdelaschoye und ihrem nicht irdischen Herrschaftsgebiet (56, 17) findet die herausragende Stellung des Artusgeschlechts und die Dauerhaftigkeit des es auszeichnenden liehten schîn (56, 22) ihre Begründung und Legitimation. 44 Titurels Prädestination als Gründerahn der Gralsfamilie wird demgegenüber anders motiviert: In dem Augenblick, als Parzival die erlösende Frage versäumt, erblickt er auf einem spanbette den aller schoensten alten man, den er je gesehen hatte, der gleichzeitig noch grâwer dan der tuft (240, 24ff.) ist. Schönheit, Alter, Spannbett und nebelhaft graue Erscheinung – diese Attribute scheinen sich zu widersprechen. Sie erhalten nur dann einen Sinn, wenn sie gedeutet werden als Zeichen für das Heil, für die Legitimation aus einer gleichsam grauen, nebulösen Vorzeit, die immer noch in die Gegenwart hineinragt, sowie für den Ursprung des 43 Stammbaum von Karl Bertau, Versuch über Verhaltenssemantik von Verwandten im Parzival, in: Bertau 1983 [Anm. 39], S. 190–240, hier S. 236f. 44 Gunhild und Uwe Pörksen haben vor vielen Jahren auf die Bedeutung der ungewöhnlichen Zeugung für mythische und literarische Helden aufmerksam gemacht. Gunhild und Uwe Pörksen, Die Geburt der Helden in mittelhochdeutschen Epen, in: Euphorion 74 (1980), S. 257–287. Kellner [Anm. 17] spricht von »der Bindung der Gründergestalten an den Raum der Transzendenz« als »kulturgeschichtlich verbreitete Denk- und Argumentationsfigur« (S. 110).

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Abb. 10: Ausschnitt aus dem Deckengemälde in St. Michael, Hildesheim.

als Heilsbringer erwählten, wenn auch zunächst scheiternden Parzival. Die Beschreibung des auf einem Spannbett liegenden Alten erinnert dabei nicht nur deutlich an die Ikonographie der Wurzel Jesse in den arbores consanguinitatis (vgl. S. 331 und Abb. 7), sondern entspricht auf geradezu frappante Weise der Darstellung des schlafenden Jesse in der Hildesheimer Kirche St. Michael (Abb. 10). Auch Wolfram scheint also die je individuelle spezifische Abstammungskette mit dem geistig-spirituellen Modell der allen Menschen eigenen Urverwandtschaft verbinden zu wollen. Die Analogie von Ithermord und Kainstat, von mütterlicher Deszendenz und Abstammungskette der Spezies Mensch, wie sie vornehmlich Trevrizent immer wieder herstellt, 45 führt diese Parallelität systematisch weiter 45 Ither ist nicht unmittelbar blutsverwandt, steht aber als Mann der Vaterschwester in Affinität 2. Grades.

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und ruft im weiteren das Gesetz des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen in Erinnerung. Bemerkenswert, wenn hier auch nicht weiter zu verfolgen, ist darüber hinaus die zu beobachtende geschlechtliche Gegenläufigkeit zwischen Gründerahn(in) und Parzivals Abstammung. Die Vaterlinie nämlich, die Parzival die ritterlichkämpferische Art vererbt, verdankt die Exklusivität ihrer Abstammung der feenhaften Gründerahnin, während sich die mütterliche Linie, die ihm die Fähigkeit zur Liebe und zum Mitleiden mitgibt, auf einen männlichen Gründerahn beruft. Sehr deutlich finden sich damit alle Bedeutungsebenen der juridischen Stemmata bei Wolfram wieder. Der Weg der Menschheit lässt sich mit Hilfe genealogischer Zusammenhänge darstellen. Gleichsam im Zeitraffer muss er – stellvertretend für alle – von Parzival erneut gegangen werden. Ganz offensichtlich sucht Wolfram das theologische Postulat einer gemeinsamen Urverwandtschaft nicht nur als Matrix zu benutzen, auf der das Geschehen einer in verschiedene Sippen gespaltenen Welt abläuft, sondern beides – die paritätische Ordnung durch gemeinsame Herkunft und die Exklusivität durch hervorragende Abstammung – in den handelnden Figuren selbst zur Deckung zu bringen, eine wirkliche Weltverwandtschaft vorzustellen. Damit löst Wolfram die verschiedenen, in den genealogischen Stemmata sich überblendenden Sinnebenen gleichsam in Handlung auf. Damit dies gelingt, bedarf es freilich hochkomplexer und vielfältig ineinander verwobener Verfahren. So sind die verwandtschaftlichen Bezüge so vielgestaltig und weitflächig, dass sie nur unvollständig in ein Schema zu pressen sind. Hauptknotenpunkte für die Verbindung der zwei bedeutsamsten Sippen sind Gahmuret und Herzeloyde. Belakane stellt die räumliche Verknüpfung von Orient und Okzident her. Sie taucht im Stammbaum an zwei weit voneinander entfernten Orten auf, einmal als Ehefrau von Gahmuret im Zentrum des genealogischen Netzes, ein anderes Mal als Ehefrau Isenharts an dessen Peripherie. Der nun wieder lässt sich über acht komplizierte Verzweigungen zu Gahmurets Mutter Schoette führen, so dass nicht nur die Vatersippe Gahmurets, sondern auch dessen Muttersippe ins Beziehungsgeflecht eingebunden wird. Dass Mahaute die Schwester Schoettes ist, wird im ›Parzival‹ verschwiegen. Dort tritt sie lediglich als die Frau Gurzgris, des Sohnes von Gurnemanz und Cousins von Condwiramurs, in Erscheinung, dem sie von ihrem Bruder Ehkunat übergeben wurde (178). Auch dass sie die Mutter Schionatulanders sein soll, finden wir nicht im ›Parzival‹. Erst der ›Titurel‹ gibt hier die entsprechenden Auskünfte, 46 wodurch Ehkunat dann auch 46 Wolfram von Eschenbach, Titurel, hg. von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin 2003. Str. 131f.

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als Bruder von Schoette eingeordnet werden kann. Das genealogische Schema speist sich also nicht allein aus dem ›Parzival‹, sondern wird intertextuell ergänzt. Jeder Text knüpft eigene, neue Knoten, ohne die bereits bestehenden zu zerschneiden, so dass Genealogie gleichsam »als Intertextualitätsmodell« funktioniert. 47 Unübersehbar ist das Bemühen Wolframs, die Relationen nicht linear zu gestalten, sondern unzählige ›Links‹ zu setzen, die sich kreuz und quer über die einzelnen Sippenstammbäume und die miteinander korrespondierenden Texte legen und einen Raum unendlicher Weite schaffen. Recht eigentlich haben wir es hier mit dem bereits genannten Phänomen der ›small world‹ zu tun, braucht doch jeder Akteur überraschend wenige Verwandtschafts›knoten‹, um mit jedem verbunden zu sein. 48 Explizit wird nun dieses genealogische Koordinatensystem verknüpft mit geographisch benannten Herrschaftsgebieten, die sich über die gesamte Welt bis in ihre äußersten Winkel verteilen. Damit verschmelzen das über eine Vielzahl von Figuren gesponnene genealogische Netz und das aus Örtern und Räumen gesponnene geographische Netz zu einem »Weltgewebe« 49 . Zusammengehalten wird dieses aber gerade nicht von den »geographischen Koordinaten«, sondern durch »die mannigfaltigen genealogischen Beziehungen«. 50 Der auf aventiure ziehende Ritter reist nicht in ein spezifisches Land, sondern zu einer dieses Land repräsentierenden, in der Regel weiblichen Figur. Sie ist der sich durch Statik auszeichnende Ort und damit der stabile Knoten im Gewebe, während der Mann die Fäden zu ziehen, d. h. die Verbindung von einem zum anderen herzustellen hat. Die Welt erhält ihre räumlichen Konturen über sich in ihr bewegende Menschen, 51 47 Kellner [Anm. 17], S. 32. Sie verweist dabei besonders auf die chansons de geste und die Heldenepik. Bereits Bloch [Anm. 25] hat diesen Zusammenhang deutlich formuliert: »Lineage and geste are synonymous as the epic cycle constitutes itself according to a pattern of affiliation between families of heroes and families of poem« (S. 148). Vgl. in diesem Kontext auch: Dorothea Kullmann, Verwandtschaft in epischer Dichtung. Untersuchungen zu den französischen ›chansons de geste‹ und Romanen des 12. Jahrhunderts, Tübingen 1992 (ZfrPh Beihefte 242). 48 Milgram [Anm. 3]. 49 Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. 2, München 1973, S. 780. 50 Hartmut Kugler, Zur literarischen Geographie des fernen Ostens im ›Parzival‹ und ›Jüngeren Titurel‹, in: Ja muz ich sunder riuwe sin. Festschrift für Karl Stackmann zum 15. Februar 1990, hg. von Wolfgang Dinkelacker und Ludger Grenzmann, Göttingen 1990, S. 107–147, hier S. 126. 51 Vgl. dazu: Hartmut Beck, Raum und Bewegung. Untersuchungen zu Richtungskonstruktion und vorgestellter Bewegung in der Sprache Wolframs von Eschenbach, Erlangen 1994; Andreas Ramin, Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität. Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit, München 1994; Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten

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ihre Entdeckung führt über immer wieder neue genealogische Verflechtungen. Genau wie in den mappae mundi konstituiert damit nicht eine vermessene Oberfläche, sondern die Menschheitsgeschichte den orbis terrarum. Eine Diskrepanz von Präzision einerseits und Unbestimmtheit andererseits ist in den Verwandtschaftstermini zu beobachten. Aus den Stemmata ist bekannt, dass sie kein autonomes Subjekt bezeichnen, sondern nur die jeweilige Relation zwischen mindestens zwei Angehörigen eines Familienverbandes. So unterscheidet Wolfram sehr genau zwischen Vaterbruder (Onkel) und Mutterbruder (Oheim), 52 verwendet aber z. B. den Begriff ›Neffe‹ sowohl für sehr nahe wie sehr entfernte Verwandte. 53 Die namenlose germaine cousine des Chrétien de Troyes nennt Wolfram Sigune und scheint damit die Figur nicht nur in ihrer verwandtschaftlichen Relation zu funktionalisieren, sondern ihr auch individuelle Identität zuzubilligen. Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich Sigune als Anagramm von Cousine, 54 so dass nach wie vor im Namen ihre in Bezug zu Parzival relevante Funktion als ›Knoten‹ zur mütterlichen Verwandtschaft bestimmend bleibt. Als Milchschwester zu Condwiramurs wird die Verbindung auch zu Parzivals Frau gezogen, so dass sie gemäß mittelalterlicher Vorstellung sogar zweimal im Stemma aufscheinen müsste. Komplizierte Umschreibungen einfacher Relationen – etwa wenn Gawan sich als sîner basen bruoder sun (406,15) bezeichnet, und damit nichts anderes sagt als: er sei der Sohn seines Vaters – sind möglicherweise nicht nur »Spaß« 55 , sondern sehr bewusst gewählt, um den Eindruck eines mit unendlich vielen Fäden geknüpften Netzes zu erhöhen. Ein weiterer Effekt solch komplizierter Begrifflichkeit liegt darin, dass die vertikale Achse der Generationenfolge, die ja nicht zuletzt auch eine zeitlich lineare Dimension beinhaltet, ihre Stringenz verliert. Der Erzähler springt sozusagen terminologisch zwischen den Generationen hin und her. Es gilt nicht mehr die Trennung vom vertikalen Prinzip strikter Sukzession und dem horizontalen Prinzip von Verbindungen derselben Generation untereinander, sondern ein Ineinandergreifen beider Achsen, die nicht zuletzt die Linearität der zeitlichen Abfolge, Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, u. a. 2004 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1888); Karl-Siegbert Rehberg, Mobilität – Raum – Kultur: Erfahrungswandel vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Dresden 2005. 52 Auf die herausragende Stellung des Mutterbruders hat Elisabeth Schmid [Anm. 39] aufmerksam gemacht. 53 Vgl. dazu: Bertau [Anm. 43], S. 193f. und 205. 54 Nicht unmittelbar zu erkennen ist dies nur deshalb, weil Wolfram die erste Silbe sozusagen ›eindeutscht‹: gu-si-ne = si-gu-ne. 55 Bertau [Anm. 43], S. 191.

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wie sie zwischen Vorgeschichte und Hauptgeschichte zu beobachten ist, 56 konterkarieren. Auch dies wird in Handlung vorgeführt, wenn Feirefiz die Tante Parzivals (Repanse de Schoye) und damit eine Generation nach ›oben‹ heiratet oder Mahaute, die Großtante Parzivals, mit Gurzgi, dem Cousin Condwiramurs’, vermählt wird, damit zwei Generationen nach ›unten‹ rutscht und horizontal auf derselben Ebene steht wie Parzival. Unmittelbar sichtbar wird gemeinsame Abstammung in physiognomischer Ähnlichkeit, also am Körper, der ja ebenfalls ein Bildspender ist, wenn es darum geht, Verwandtschaftsgrade zu visualisieren. 57 Dies gilt im Parzival sowohl für die vertikale wie für die horizontale Linie der Verwandtschaft. Gahmuret habe ihn – so erzählt es Trevrizent – bei der ersten Begegnung im Orient sofort als Bruder Herzeloydes identifiziert, Killirjacac und Gaschier waren sich als Neffe und Onkel (Vaterbruder) ebenfalls so ähnlich, dass Gahmuret ir antlütze sippe jach (46,28). 58 Darüber hinaus manifestiert sich ›Art‹verwandtschaft über Verhaltensmuster und Begabungen. Jagdleidenschaft und Fernweh bei gleichzeitigem Mitleiden mit der von eigener Hand getöteten Kreatur vereinen in Parzival die väterlichen und mütterlichen Anlagen und damit die jeweilige Sippenidentität: die Kampfeskraft der Artussippe und die Fähigkeit zum Erbarmen der Gralsfamilie. Eine derartige similitudo ist Motiv und Antrieb der natürlichen Liebe, 59 denn »jedes Lebewesen«, so Jes. Sirach 13, »liebt das ihm Ähnliche«. Daher fühlen sich Verwandte, sogar ohne sich zu kennen, zueinander hingezogen und entdecken den Bekannten

56 Viele Figuren tauchen in der Vorgeschichte auf und werden dann in der Hauptgeschichte handlungswirksam. Oft ›erinnert‹ sich dabei einer der Protagonisten. 57 Vgl. S. 327 und Anm. 17. 58 Im ›Willehalm‹ spricht Wolfram über die Ähnlichkeit von Rennewart und Giburg, die allerdings nur dem Erzähler, nicht den Protagonisten aufzufallen scheint, gar als von einem nahezu identischen Abdruck einer Siegelform: sîn und ir, ir bêder schîn / sich kunde alsus vermæren, / als ob si bêde wæren / ûf ein insigel gedrucket / und gâhes her abe gezucket: / daz underschiet niht wan sîn gran. / mir wære noch liep, wæren die her dan: / man ersæhe den man wol vür daz wîp: / sô gelîche was ir bêder lîp. (Nun zeigte sich, sie sahen aus, als hätte man sie beide auf eine Siegelform gedrückt und schnell wieder abgezogen. Nur sein Bart machte einen Unterschied. Ich wünschte, der wäre weg gewesen: dann hätte man den Mann für eine Frau genommen: so sahen sie sich gleich.) Wolfram von Eschenbach, Willehalm, hg. von Joachim Heinzle, mit Miniaturen aus den Handschriften und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker: Bibliothek des Mittelalters 9), 274, 18ff. 59 Klaus Schreiner, ›Consanguinitas‹. ›Verwandtschaft‹ als Strukturprinzip religiöser Gemeinschafts- und Verfassungsbildung in Kirche und Mönchtum des Mittelalters, in: Beiträge zu Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania sacra, hg. von Irene Crusius, Göttingen 1989 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 93), S. 176–305.

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im Unbekannten. 60 Und nicht zuletzt kommt die »Erinnerung an den Vorfahren […] im Nachkommen zur Anschauung.« 61 In größtmöglicher Steigerung wird von Herzeloyde diese Erinnerung als Wiedergeburt des toten Geliebten, d. h. des Vaters von Parzival wahrgenommen, wenn es ihr angesichts des Kindes an ihrer Brust erscheint als ob si hete Gahmureten / wider an ir arm erbeten (113, 13f.). 62 Lineare und zyklische Zeit sind damit genauso unauflöslich ineinander verschlungen wie Geschichte, Raum und Genealogie. 63 Entwicklung findet im Rückgriff auf das Gewesene statt. Koordinaten bzw. – um im Bild des Netzes zu bleiben – Knoten in Raum und Zeit sind die Menschen, die sich in steter Wiederholung ihres Tuns auf ihr Ende im je individuellen wie im umfassenden Sinn hin bewegen: »Eine Generation geht, eine andere kommt […] Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.« (Eccl. 1,4 und 9) Und so ist es wohl kaum mehr als Zufall anzusehen, dass die Genealogie Parzivals auf der Vaterseite sieben Generationen, d. h. sechs Verwandtschaftsgrade, 64 und auf der Mutterseite fünf Generationen, d. h. vier Verwandtschaftsgrade, 65 umfasst und so gleichzeitig mit den Weltaltern und den vier Elementen des Makrokosmos bzw. den vier Körpersäften des Menschen korreliert, d. h. zwei Bezugsgrößen für genealogische Schemata in eins führt (vgl. oben S. 326f.). Wolfram hat, dies sollte deutlich geworden sein, keineswegs diese Verknüpfungen und Korrelationen erfunden, sondern konsequent narrativ umgesetzt, was die Generationenschemata zur Verfügung gestellt haben. Auf diese Weise wurden 60 Vgl. Giburg, der ir herze kunt tut, was sie erst später erfahren wird (291, 2ff.), dass nämlich Rennewart ihr Bruder ist. Vgl. auch: Gottfried von Straßburg, Tristan. hg. von Rüdiger Krohn, nach dem Text von Friedrich Ranke. Ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort, 3 Bde., Stuttgart 1980 (Reclam Universal Bibliothek 4471–4473). Marke fühlt sich sofort zu Tristan hingezogen, denn sîn herze in sunder ûz erlas, / wan er von sînem bluote was. / diu natiure zôch in dar (»Sein Herz kannte ihn heraus, weil er von seinem Blute war. Die Natur zog ihn hin«, vv. 3243ff.). 61 Kellner [Anm. 37], S. 50. 62 Vgl. dazu: Claudia Brinker-von der Heyde, Geliebte Mütter – mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen, Bonn 1996 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 126). 63 Bloch [Anm. 25] hat darauf aufmerksam gemacht, dass es im Althebräischen begrifflich keine Unterscheidung von Geschichte und Genealogie gibt (S. 135). Zur Zyklizität bzw. zur Linearität der liturgischen Zeit vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 422–430. 64 Mazadan – Lazaliez – Addanz – Gandin – Gahmuret (= Aszendenz) – Parzival – Lohengrin/Kardeiz (= Deszendenz). 65 Titurel – Frimutel – Herzeloyde (= Aszendenz) – Parzival – Lohengrin/Kardeiz (= Deszendenz).

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die Generationenfolgen und Verwandtschaften zu einem gleichermaßen komplexen, die Welt abbildenden, konstituierenden, wie problematischen Netzwerk. Denn einerseits ist der Mensch eingebettet in dieses Verwandtschaftsgeflecht und gewinnt daraus seine Legitimation, seinen Platz in der Gesellschaft, seine Existenzsicherung, Schutz und Hilfe auch in schwierigen Situationen. Es erlaubt ihm,

Abb. 11: Der gute und böse Lebensweg des Menschen. Letztes Viertel des 12. Jh. Erlangen UB, Hs. 8, fol. 130 v, aus: Schadt [Anm. 11], Nr. 84.

Räume zu besetzen und sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Andererseits bringt es die durchgehende Vernetzung mit sich, dass auf den dadurch entstehenden, unzähligen Verbindungswegen der sünden wagen (465, 5) 66 die Ursünde des ersten Menschen durch alle Zeiten und alle Räume hindurch transportieren und bei jedem einzelnen abliefern kann. Lösen kann sich niemand aus diesen Verstrickungen, nur versuchen, schlussendlich doch die Knoten zu finden, die es erlauben, nach oben zu dem zu klettern, 66

Dazu Bertau [Anm. 43], S. 190.

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der die Fäden in der Hand hält, und sich nicht so zu verheddern, dass es zum tödlichen Absturz kommt (Abb. 11). Parzival hat seinen definitiven Absturz nur dadurch vermeiden können, dass er zwar zunächst alle Verbindungen nach oben gekappt, in seinen Vorfahren und vor allem in Condwiramurs aber stabile Knotenpunkte gefunden hatte, die es ihm erlaubten, nach und nach die zerrissenen Stellen erneut so zusammenzuknüpfen, dass er nicht mehr durch die Maschen fiel, sondern den Aufstieg zum Gralskönig schaffte, als der er nun selbst zusammen mit Condwiramurs die Fäden eines tragfähigen Netzes in den Händen hält wie in den Bildern der arbores affinitatis gezeigt. Familiäre Netzwerke lassen sich durchaus unterschiedlich bilden und darstellen. Zu denken ist an eine rein agnatische Linie, d. h. die Deszendenz des Blutes, eine lineare Abfolge, die noch vereinfacht werden kann, wenn nur die männliche Linie berücksichtigt wird. Genauso ist es aber möglich, auch die kognatische Verwandtschaft zu berücksichtigen. Beide Modelle mit zahlreichen Varianten finden sich graphisch dargestellt in den arbores consanguinitatis und arbores affinitatis. Mit Bedeutung aufgeladen werden diese Darstellungen dann, wenn die Stammbäume auf das allen Menschen gemeinsame Urpaar verweisen. Das sich daraus ergebende Problem, die Herausgehobenheit eines bestimmten Geschlechts zu betonen, ohne die in der Schöpfung begründete Weltverwandtschaft aufzugeben, lösen die arbores über Formen der Bildikonographie, die in der Lage sind, beides miteinander zu vereinen. Wolfram gelingt dies, indem er die graphischen Stammbäume so in Handlung umwandelt, dass auch hier die Exklusivität der Geschlechter und die Weltverwandtschaft zu keinen konkurrierenden, sondern zu sich überlagernden Modellen werden. Linearität wird erzeugt, indem Kinder auf der vertikalen Ebene häufig früh einen oder beide Elternteile verlieren (Feirefiz, Parzival, Sigune), Zirkularität dadurch, dass die horizontalen Verwandten der Eltern weiterhin vorhanden sind und sogar der Spitzenahn ins Leben des späten Nachfahren eingreift. Schließlich vernetzen sich die verschiedenen Familien so miteinander, dass über die Hauptfiguren schließlich alle mit allen in irgendeiner Form ›verbandelt‹ sind und dabei sowohl vertikal als auch horizontal Verbindungen eingehen können. Und weil mit jedem familiären Knoten auch noch ganz substantiell Räume verknüpft sind, die vom Orient bis in den Okzident reichen, wird die menschliche Mikrostruktur zum Schlüssel für die irdische Makrostruktur, Genealogie zum (nahezu) alles erklärenden Ordnungsprinzip.

Alexander unterwegs in Ebstorf und anderswo Ein Versuch zu kognitiven Karten, ihrer epistemologischen Rekonstruktion und logischen Implementierung von Günther Görz, Erlangen

1. Einleitung Die herausragende Rolle Alexanders des Großen in der europäischen mittelalterlichen Literatur wird auch auf den großen Weltkarten dieser Zeit deutlich: Auf der Ebstorfer Weltkarte ist er – in Hartmut Kuglers Edition – elf Mal erwähnt, 1 und ähnlich reichhaltig ist Alexanders Präsenz auf der Hereford-Karte. Naomi Kline 2 widmet in ihrer Monographie der Alexandersage ein ganzes Kapitel; auf der zugehörigen CD-ROM 3 kann man Alexanders bewaffnete Asienreise von Station zu Station virtuell nachvollziehen. Man mag spekulieren, welchen Zwecken die in der Kathedrale von Hereford oder in der Ebstorfer Klosterkirche aufgehängten großen Weltkarten gedient haben; dabei an virtuelle Reisen und Pilgerfahrten, vor allem zu dem in der Mitte besonders hervorgehobenen Jerusalem zu denken, liegt gerade in der Zeit der Kreuzzüge nahe. Vielleicht wurden die Novizen oder Lateinschüler auch vor solchen Karten unterrichtet? Im Unterschied zu den vor allem über Byzanz überlieferten Ptolemaeuskarten und den Portulanen (Seekarten) beansprucht die universalkartographische Überlieferung des Hoch- und Spätmittelalters zunächst keine auf exakte Messungen und empirische Nachweise gestützte Geltung. Vielmehr zielt sie auf eine welt1

Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, hg. von Hartmut Kugler unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing. 2 Bde., Berlin 2007. Siehe insbesondere auch: Hartmut Kugler, Der ›Alexanderroman‹ und die literarische Universalgeographie, in: Internationalität nationaler Literaturen, hg. von Udo Schöning, Göttingen 2000, S. 102–120. 2 Naomi Reed Kline, Maps of Medieval Thought. The Hereford Paradigm, Woodbridge, Suffolk 2001. 3 Naomi Reed Kline, A Wheel of Memory. The Hereford Mappamundi, Ann Arbor 2001.

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Günther Görz

anschauliche ›Orientierung‹ – gerade auch im wörtlichen Sinn. Dennoch hat der am weitesten verbreitete Kartentypus, die sog. T-O-Karte, ein geographisches Grundgerüst, das sich durch eine einfache Überlegung veranschaulichen lässt: Stellt man sich einen geostationären Satelliten über Jerusalem vor, von dem man auf das Mittelmeer mit Europa, Afrika und Asien blickt, so dass Osten oben ist, dann nimmt der große asiatische Kontinent den oberen Halbkreis des Blickkegels ein, Europa den linken unteren Quadranten und Afrika den rechten – ein T im O, dem kreisförmig umfassenden Ozean. Dieses Verteilungsschema, wie es besonders wirksam die ›Imago mundi‹ des Honorius Augustodunensis (12. Jh.) etabliert hat, war über mehrere Jahrhunderte von einer enormen normativen Kraft.

Abb. 1: Eine mit Google Earth erzeugte ›T-O‹-Ansicht der Erde.

Doch gilt für alle Karten, historische wie moderne, in gleicher Weise die Georeferenzierung, also die Bezugnahme auf geographische Orte, als das durchgängige Prinzip zur Darstellung aller Informationen. Personen, Bauwerke und andere Gegenstände, Ereignisse und historische oder fiktive Begebenheiten werden an bestimmten Orten wahrgenommen, mit ihnen assoziiert und so gemerkt und wieder erinnert. Erzählte Geschichte und Geschichten sind im Raum verankert; zeitliche Abläufe werden in räumliche Beziehungen abgebildet. Die enge Verbindung solcher kognitiven Leistungen mit der Kartierung bestimmt die Gestaltung der Karten, wobei die geographische Genauigkeit hinter narrative und epistemische Aspekte des christlich-enzyklopädischen Weltwissens zurücktritt, so dass sie in

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erster Linie als kognitive Karten zu verstehen sind. Letztlich kann dann schon eine Vorstellung der Karte bei der Reproduktion des Wahrgenommenen und Gelernten helfen. Dabei spielt neben dem strukturell-semiotischen Rahmen der ikonographische Ausdruck einzelner bildhafter Elemente eine wichtige Rolle. »In the last analysis all maps are cognitive maps« – diese These von Blakemore und Harley 4 markiert eine Position der jüngeren kartographiehistorischen Forschung, die immer wieder thematisiert wird und die auch für Hartmut Kugler in seinem Editionsprojekt der Ebstorfer Weltkarte wegweisend war. Während Karten vom Itinerartyp 5 , wozu in erster Linie auch Portulane und Regionalkarten 6 zu zählen sind, die Welt als Straße und Seeweg darstellen und wohl vor allem der praktischen Reisevorbereitung und -begleitung dienten, bieten die flächigen Weltkarten mit ihrem schematischen Aufbau ein breiteres Gerüst für das Gedächtnis. Das enzyklopädische Wissen über die Welt, geographisches und naturkundliches, aber auch historisches, und insbesondere antike Sagen, Geschichten von Monstern und den Schätzen des Orients sind eingebettet in die große christliche Heilserzählung. Der Kopf des auferstandenen Christus befindet sich auf der Ebstorfer Weltkarte am höchsten, östlichen Punkt, seine Hände umfassen die Erde im Norden und im Süden, und seine Füße berühren den westlichen Rand. Auch als im ausgehenden Mittelalter neue topographische Positionen hinzutraten, die es im Kartenschema unterzubringen und mit den alten ins Verhältnis zu setzen galt und die auch zu Modifikationen des Schemas zwangen, blieb die Grundstruktur des Memorierschemas der kreisförmigen Weltkarten erhalten, selbst als sie dann im 15. Jahrhundert mit der Renaissance der ptolemaeischen Geographie den neu gezeichneten, nun geographisch immer realistischer werdenden Weltkarten Platz machten. In einer langen Übergangszeit bis ins erste Viertel des 16. Jahrhunderts bestand eine Koexistenz und es entstanden Mischformen, die Elemente der unterschiedlichen Kartentypen in sich aufnahmen. Ein beeindruckendes Beispiel für erstere bietet der von Andrea Bianco in Venedig 1436 gezeichnete Portulanatlas: 7 Neben sieben Seekarten enthält er eine zwar an die neuen Erkenntnisse angepasste, runde Weltkarte des hochmittelalterlichen Typs und eine ptolemaeische Weltkarte. Die Kartentypen lassen sich als Resultate 4

M. J. Blakemore/J. B. Harley, Concepts in the History of Cartography – A Review and Perspective, Toronto 1980 (Cartographica Band 17 /4, Monograph 26). 5 H. Grossing, Das Itinerar-Weltbild, in: Focus Behaim-Globus. Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums, hg. von Gerhard Bott und Johannes Willers, Nürnberg 1992, Teil 1, S. 115–118. 6 Wie z. B. die Itinerarkarten von Matthaeus Parisiensis in seinen Chronica Maiora; vgl. Parker Library on the Web, Cambridge/Stanford: http://parkerweb.stanford.edu/; 10.05.2009. 7 Andrea Bianco, Atlante Nautico (1436), a cura di Piero Falchetta, Venezia 1993.

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unterschiedlicher Transferprozesse verstehen und repräsentieren verschiedene Wissensarten, weshalb sie sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern einander ergänzen. Insofern kann man Biancos Atlas durchaus eine Schlüsselrolle für die Wissensorganisation in der Frühzeit der modernen Naturwissenschaften zusprechen. Auch der Behaim-Globus, der ein ptolemaeisches Kartenbild zeigt, und in dessen Ausgestaltung die kommerziellen, Entdeckungsreisen und Fernhandel betreffenden Aspekte vorherrschen, weist zahlreiche Elemente mittelalterlicher Weltkarten auf. 8 Der »Heilsweg ist zur Handelsstraße« 9 geworden; die virtuellen Reisen lassen sich auf der Kugel umso eindrucksvoller demonstrieren. Die BildText-Kombinationen visualisieren die Handlungsräume, wobei die den Urhebern des Globus wichtigsten Informationen buchstäblich am Wege liegen. Auch auf Martin Behaims Erdapfel ist Alexander unterwegs, selbst wenn die Platzierung von »Alexanders Altar« im Baltikum nicht so recht gelungen ist. Doch der Landweg nach Asien zeigt sich auf dem Globus als der schwierigere: Augenfällig ist die Umrundung des im Süden deutlich verkürzten Afrika und gleichermaßen die Westfahrt nach Asien, die – unter Behaims Leitung – Hieronymus Münzer 1493 dem portugiesischen König empfahl. Im Folgenden soll auf die Elemente eingegangen werden, aus denen beispielsweise solche virtuellen Reisen auf Karten aufgebaut sind, sowie auf die Möglichkeiten ihrer – auch formalen – Beschreibung und Verarbeitung. Ohne Zweifel spielen dabei Gebiete (Regionen) und ihre relative Lage zueinander, Richtungen bzw. Orientierung und Distanz eine Schlüsselrolle. Diese Elemente wahrzunehmen, zu identifizieren und sich diskursiv auf sie zu beziehen ist eine Abstraktionsleistung, die jedenfalls auch ein kognitives Fundament hat. Die Bezugnahme auf Reisen ist aber nur ein Beispiel zur Motivation; im Allgemeinen geht es hier um den Aufbau von Karten, ihre Beschreibung anhand dieser primär qualitativen Kategorien und die Ausführung qualitativer Schlussfolgerungen. Durch die Betonung der Repräsentation des Qualitativen sind selbstverständlich quantitative Aspekte nicht ausgeschlossen; im Vordergrund steht das qualitative Schließen und nicht ein geographisch-numerisches Rechenmodell. Durch die Verbindung einer deskriptiven Modellierung von Karten, wie sie in Abschnitt 5 vorgestellt wird, mit einer Operationalisierung dieser Elemente wer8 Günther Görz, Altes Wissen und neue Technik. Zum Behaim-Globus und seiner digitalen Erschließung, in: Norica. Berichte und Themen aus dem Stadtarchiv Nürnberg 3 (2007), S. 78–87. 9 Renate Hilsenbeck, Mittelalterliche Weltkunde und Behaim-Globus. Vom Heilsweg zur Handelsstraße, in: Focus Behaim-Globus. Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums, hg. von Gerhard Bott und Johannes Willers, Nürnberg 1992, Teil 1, S. 239–272.

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den im digitalen Medium neuartige Verknüpfungen, insbesondere logischer Art, und die automatisierte Bearbeitung komplexer Anfragen an den Datenbestand möglich. 2. Über kognitive Karten Von ›kognitiven Karten‹ zu sprechen ist seit dem ›spatial turn‹ in den Kultur- und Sozialwissenschaften weithin gebräuchlich und es existiert eine umfangreiche Literatur, die dieses Thema aus verschiedenen disziplinären Sichten, primär aber aus der wissenspsychologischen und kognitionswissenschaftlichen behandelt. Eine repräsentative, umfassende Übersicht im letztgenannten Sinn geben z. B. Kitchin und Blades 10 sowie MacEachren 11 , wobei bei letzterem – ausgehend von Eigenschaften des visuellen Wahrnehmungssystems des Menschen – dann auch zeichentheoretisch/semiotische sowie praktische Fragen der Herstellung und Nutzung moderner Karten breiten Raum einnehmen. Nach Kitchin und Blades hat Tolman 12 den Terminus ›cognitive map‹ zur Bezeichnung der kognitiven Repräsentation des Raums und räumlicher Beziehungen eingeführt. Zunächst wurden dabei kognitive Karten auf der Ebene des Individuums untersucht, dann trat die Ebene der sozialen Kommunikation hinzu. Downs und Stea 13 sprechen von kognitiven Karten als einem Produkt, nämlich der strukturierten Abbildung eines Teils der räumlichen Umwelt eines Menschen. Dabei betonen die Autoren eine synchrone Perspektive: Eine kognitive Karte sei ein Querschnitt, der die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigt; sie spiegele die Welt wieder, wie der Mensch glaubt, dass sie sei. Auch wenn die Beschränkung auf die Synchronie, die für kognitionspsychologische Untersuchungen hinreichend sein mag, in unserem Zusammenhang als eine zu starke Einengung erscheint, sind zwei entscheidende Begriffe genannt: Abbildung (Repräsentation) und Umwelt. Davon ausgehend entwickeln Downs und Stea ein Programm, das auf der Basis einer systematischen Behandlung der Fragen des ›Wo‹, 10 Rob Kitchin/Mark Blades, The Cognition of Geographic Space, London, New York 2002. 11 Alan M. MacEachren, How Maps Work. Representation, Visualization, and Design, New York, London 1995; zum kognitiven Kartenentwurf s. a. Daniel R. Montello, Cognitive Map-Design Research in the Twentieth Century: Theoretical and Empirical Approaches, in: Cartography and Geographic Information Science 29, Nr. 3 (2002) S. 283–304. 12 E. C. Tolman, Cognitive Maps in Rats and Men, in: Psychological Review 55 (1948), S. 189–208. 13 Roger M. Downs/David Stea, Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen, New York 1982 (UTB 1126).

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des ›Was‹ und des ›Wann‹ zu einer Konzeption des kognitiven Kartierens führt. Dessen Ergebnis, kognitive Karten, wird sodann in Bezug gesetzt zu räumlichen Ausdrücken der Alltagssprache, und als ihre vielleicht wichtigste Funktion die Erstellung eines Bezugssystems für die Interpretation von Ereignissen in der Umwelt herausgestellt. Für das ›Wo‹, also die räumlichen Informationen im engeren Sinn, wird zunächst einmal die Benennung als elementares Mittel der Feststellung der Identität vorausgesetzt. Zur Beschreibung von Standorten reicht jedoch die Identifikation durch Namen nicht aus; sie bedarf, je nach Bezugssystem, einer Ergänzung durch eine Zustands- oder Verlaufsbeschreibung sowie Entfernungs- und Richtungsangaben. Ein Beispiel für eine Verlaufsbeschreibung wäre etwa eine Wegeinformation, die angibt, wie man einen bestimmten Ort erreichen kann. Das ›Was‹ – die Zielsetzung – und das ›Wann‹ wird beim Lösen räumlicher Probleme relevant: Es ist ein Satz von einschlägigen Eigenschaften bzw. Attributen anzugeben, die der Erstellung einer Lösung mittels kognitiver Kartierung dienlich sind. Die Tätigkeit des kognitiven Kartierens kann also nach Downs und Stea dahingehend präzisiert werden, dass sie ein Verfahren umfasst, wie man räumliche Informationen über das ›Wo‹ sowie das ›Was‹ und das ›Wann‹ gewinnt, strukturiert und so speichert, dass sie bei Bedarf effizient abgerufen werden können. So weit steht dies auch im Einklang mit Kuglers 14 Feststellung, dass kognitive Karten »darüber Aufschluß geben [sollen], wie Orientierung im Raum und die Speicherung von handlungsrelevanten räumlichen Informationen im menschlichen Denken vonstatten geht. Dabei kann die Organisation von ›Wissensspeicherung‹, deren graphische Umsetzung sich mit einer Landkarte abgleichen läßt, nur ein Spezialfall sein.« Genau um diesen geht es hier aber; weitergehende Fragestellungen, die bis in die Domäne der Hirnforschung hineinreichen, sollen ausgeklammert bleiben. Barbara Tversky 15 weist mit Recht darauf hin, dass der Begriff der kognitiven Karte wie viele nützliche Begriffe mehrere Bedeutungsfacetten hat, die zu unvermeidlichen Missverständnissen führen können. Sie weist auf Schwierigkeiten einer kognitionspsychologischen Konzeption hin, die in ihnen kartenartige mentale Konstrukte sieht, die durch Lernprozesse schrittweise immer komplexer werden und die mental inspizierbar sind. So hat sie z. B. bei der empirischen Unter14 Hartmut Kugler, Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik. Jean Bodels ›drei Materien‹ und die ›Matière de la Germanie‹, in: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart, Weimar 2005 (Germanistische Symposien, Berichtsband 27), S. 244–263. 15 Barbara Tversky, Cognitive Maps, Cognitive Collages, and Spatial Mental Models, in: Spatial Information Theory. A Theoretical Basis for GIS. European Conference, COSIT ’93, Marciana Marina, Elba Island, Italy, September 19–22, 1993, hg. von A. U. Frank und I. Campari, Berlin 1993 (Lecture Notes in Computer Science 716), S. 14–24.

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suchung von Aspekten der mentalen Organisation räumlichen Wissens systematische Fehleinschätzungen festgestellt und setzt deshalb dieser gewissermaßen holistischen Auffassung eine aus disparaten Modulen von Umgebungswissen bestehende in der Form sogenannter ›kognitiver Collagen‹ entgegen. In der vorliegenden Studie wollen wir uns mit dem Begriff der kognitiven Karte auf einer elementaren Ebene auseinandersetzen, indem wir den Versuch einer rationalen Rekonstruktion von ›kognitiv‹ in einem epistemologischen und (zunächst) nicht psychologischen Sinn unternehmen. Dabei gilt es, die epistemologisch zu einer Organisation räumlichen Wissens notwendigen Elemente zu benennen. Eine derartige Abstraktion führt zu einer Formalisierung, in der einige Aspekte – hier zunächst die psychologischen – nicht modelliert werden. Dieser Nachteil wird jedoch durch mehrere Vorteile aufgewogen, wozu eine einheitliche logisch fundierte Darstellung und präzise Operationalisierung gehören. Auch wenn Downs und Stea gerade einen psychologischen Ansatz verfolgen, haben sie dennoch, wenn man der obigen Skizzierung folgt, ein Gerüst geliefert, an dem man sich für unseren Zweck orientieren kann. Was sind diese Elemente? Wir fragen nach Orten und den relativen Lagen bestimmter Orte und Gebiete zueinander, nach Pfaden in Raum und Zeit, nach Richtungen und Distanzen. Es geht damit um Benennung, Zustands- und Verlaufsbeschreibung und alles Weitere, wie oben ausgeführt. Hierfür sollen zuerst logisch-formalsprachliche Mittel bereitgestellt werden, woran sich dann später der Übergang zu alltagssprachlichen Ausdrucksformen anschließen lässt. Dabei soll qualitatives Schließen über räumliche Beziehungen bereits in der formalsprachlichen Ebene verankert werden. Auf diese Weise besteht auch kein Anlass zu holistischen Ansprüchen der Art, die Tversky zu Recht kritisiert – ohne dass wir uns an dieser Stelle auf die Ebene der empirischen Psychologie einlassen müssen. In der Anwendung auf mittelalterliche Weltkarten setzen wir uns so auch nicht dem Verdacht einer ahistorischen Betrachtung aus, denn es darf angenommen werden, das es sprachliche Grundformen und -ausdrücke der räumlichen Orientierung gibt, die weitgehend kulturinvariant sind. Diese werden verbunden mit normierten kunst- und kulturhistorisch ausgewiesenen Objektbeschreibungen und elementaren Relationen für die historische Interpretation des Dargestellten. Gleichermaßen geht es hier zunächst auch nicht um eine historische Epistemologie des kosmographischen und kartographischen Wissens, 16 in der die historische Entwicklung des räumlichen Wissens thematisiert wird, sondern um eine konzeptionelle Grundlage, jedoch mit dem Anspruch, dass diese sich für die Bearbeitung weitergehender Fragestellungen eignet. 16

Vgl. das Berliner ›Excellence Cluster‹ TOPOI: http://www.topoi.org/; 15.05.2009.

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3. Topologische Beschreibung Es gibt eine Reihe von formalen Ansätzen für qualitative Theorien des geographischen (euklidischen) Raums, die einen Rahmen für das räumliche Schließen bieten. Gerade dann, wenn keine präzisen homogenen räumlichen Daten vorliegen oder es in der Argumentation nicht in erster Linie darauf ankommt, sind solche Theorien von besonderem Nutzen. 17 Laure Vieu hat eine für unseren Ansatz besonders einschlägige Theorie ausgearbeitet, 18 in der sie auf der Basis der Mereologie als axiomatisierter Teil-Ganzes-Beziehung eine Formalisierung topologischer Konzepte sowie einiger geometrischer Grundbegriffe, insbesondere Distanz und Orientierung, in der Sprache der Logik erster Stufe 19 vorgenommen hat. Um eine derart formalisierte qualitative Theorie des geographischen Raums in praktischen kartographischen Anwendungen einsetzen zu können, ist auf jeden Fall sicherzustellen, dass sie in eine entscheidbare Teilsprache der Logik übertragen werden kann und dass sie mit einem begrifflichen Modell der Karten in einem einheitlichen formalen Rahmen verbunden werden kann. Dies ist möglich mit einer geeignet erweiterten Beschreibungslogik, worauf in den folgenden Abschnitten eingegangen wird. Eine elementare topologische Theorie, der ›Region Connection Calculus‹, wurde im Hinblick auf das qualitative räumliche Schließen u. a. von Anthony Cohn et al. 20 entwickelt. Auf der Basis eines topologischen Regionen-Begriffs werden die räumlichen Relationen untersucht, in denen Regionen paarweise zueinander stehen können, und es wird gezeigt, dass die in Abb. 2 wiedergegebenen 17 Siehe u. a. M. Egenhofer/D. Mark, Naive Geography, in: Spatial Information Theory. Proceedings of COSIT ’95, Semmering, Austria, Berlin 1995 (Lecture Notes in Computer Science 988), S. 1–15. Umfassende Übersichten über die Forschung, das Verhältnis qualitativer und quantitativer Ansätze zum räumlichen Schließen sowie integrative Ansätze bieten Laure Vieu, Spatial Representation and Reasoning in Artificial Intelligence, in: Spatial and Temporal Reasoning, hg. von Oliviero Stock, Dordrecht, Boston, London 1997, S. 5–41, und, nach wie vor aktuell, Daniel Hernandez, Qualitative Representation of Spatial Knowledge, New York 1994 (Lecture Notes in Computer Science 804) (Diss. TU München 1992). 18 Laure Vieu, A Logical Framework for Reasoning about Space, in: Spatial Information Theory. A Theoretical Basis for GIS. European Conference, COSIT ’93, Marciana Marina, Elba Island, Italy, September 19–22, 1993, hg. von A. U. Frank und I. Campari, Berlin 1993 (Lecture Notes in Computer Science 716), S. 25–35. 19 Wird im Folgenden einfach von ›Logik‹ gesprochen, ist stets die Standardlogik erster Stufe gemeint. 20 Anthony G. Cohn et al., Representing and Reasoning with Qualitative Spatial Relations About Regions, in: Spatial and Temporal Reasoning, hg. von Oliviero Stock, Dordrecht, Boston, London 1997, S. 96–134.

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acht Relationen ein ausschöpfendes und paarweise disjunktes System bilden. Die Abkürzungen bedeuten: DC = disconnected from, EC = externally connected to, PO = partially overlaps, EQ = is identical with, TPP = tangential proper part of, NTTP = nontangential proper part of. Aus den – zunächst logisch ausgedrückten – Sätzen dieser sog. RCC8-Theorie, welche Eigenschaften der Relationen und Zusammenhänge zwischen ihnen formulieren, kann eine sog. Kompositionstabelle gewonnen werden, die das logische Schließen mit diesen Relationen entscheidend vereinfacht. Eine Anfrage der Form »Gegeben R1(x,y) und R2(y,z), was ist die Beziehung zwischen x und z, wobei R1 und R2 Relationen des Kalküls sind?« bedarf dann zu ihrer Beantwortung keines aufwendigen automatischen logischen Beweisverfahrens mehr. Vielmehr kann die Antwort direkt durch Nachschlagen in der Tabelle, deren Zeilen und Spalten mit den genannten Relationen beschriftet sind, ermittelt werden.

Abb. 2: Die elementaren topologischen Relationen in der RCC8-Theorie.

Bei den topologischen Beziehungen zwischen zwei Regionen können vier Fälle unterschieden werden: identisch (EQ), disjunkt (DC, EC), überschneidend (PO) und innenliegend (N/TTP/I). Angesichts der idealtypischen Abbildung von Regionen durch Kreise bzw. Ellipsen sei darauf hingewiesen, dass Regionen in diesem Sinn, in der mathematischen Teildisziplin Topologie als Punktmengen betrachtet, elastischen Verformungen unterworfen werden können; man spricht

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dann von topologisch äquivalenten Punktmengen. Bei der durch die sogenannte ›topologische Abbildung‹ ausgedrückten elastischen Verformung bleiben bestimmte Eigenschaften der Punktmengen erhalten: so gehen Randpunkte in Randpunkte über, benachbarte Punkte bleiben benachbart und die Randkurve bleibt geschlossen. Ersichtlich sind Regionen mit einem – anschaulich gesprochen – ›inneren Loch‹ nicht topologisch äquivalent zu einfach-zusammenhängenden. Der alltägliche Sprachgebrauch von Richtungsadverbien und Präpositionen 21 wie z. B. ›innerhalb‹ umfasst jedoch mehr als nur innenliegend im topologischen Sinn. Stellen wir uns eine Region mit einer Ausbuchtung vor, die einen Küstenverlauf abbilden möge. Sei weiterhin eine dieser Küstenlinie benachbarte Insel gegeben: Wann sprechen wir davon, dass die Insel in der Bucht liegt, und wann davor? Dies ist nur ein Beispiel für viele analoge Fälle, dass im aktuellen Fall in erster Näherung eine Region im Unterschied zu ›topologisch innerhalb‹ als ›geometrisch innerhalb‹ einer anderen Region angesehen wird, wenn sie innerhalb ihrer konvexen Hülle liegt. Genauer betrachtet wird man wohl mit Konvexitätseigenschaften und Sichtbarkeitskegeln arbeiten müssen, wie es in einer Studie zum Behaim-Globus 22 erprobt wurde. An dieser Stelle möge der Hinweis genügen, dass der RCC8 mit der Idee der konvexen Hülle kompatibel zu einem erweiterten (ausschöpfenden und paarweise disjunkten) System von Relationen ausgebaut werden kann. Für Richtungs- bzw. Orientierungs-Relationen werden drei Elemente benötigt: Ein Primärobjekt, ein Referenzobjekt und ein Bezugssystem. Ein Bezugssystem kann entweder extrinsisch sein wie z. B. ein festgelegtes Koordinatensystem oder ein Rumbenliniensystem auf Portulankarten, oder deiktisch, wobei ein Sprecher oder ein Beobachter einbezogen sind, oder intrinsisch, indem es eine Eigenschaft des Referenzobjekts wie z. B. die ›Vorderseite‹ eines Gebäudes benutzt. Qualitative Abstands- und Größen-Beziehungen können in absoluten oder relativen Skalen angegeben werden. Erstere arrangieren – in einem gegebenen Bezugsrahmen – qualitative Maßangaben wie ›nah‹ und ›weit‹ oder ›groß‹ und ›klein‹ in einer als absolut gesetzten Halbordnung. Im Fall der relativen qualitativen Maße werden Objekte immer relativ zu anderen beschrieben, z. B. ›größer als‹ oder ›näher als‹. Bei qualitativen Vergleichen spielen die Objektarten und auch 21 Unter den zahlreichen Untersuchungen hierzu sei beispielhaft hingewiesen auf Annette Herskovits, Language, Spatial Cognition, and Vision, in: Spatial and Temporal Reasoning, hg. von Oliviero Stock, Dordrecht, Boston, London 1997, S. 155–201, und Claude Vandeloise, Aristote et le lexique de l’espace. Rencontres entre la physique grecque at la linguistique cognitive, Stanford/CA 2001 (Collection langage et esprit). 22 Richard Jelinek, Räumliches Schließen in einer kartographischen Datenbasis, Studienarbeit Erlangen: Universität Erlangen-Nürnberg, IMMD VIII, August 1997.

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die Granularität eine wichtige Rolle für die Plausibilität der Angaben. So ist etwa die sachlich korrekte Aussage, dass im Katalanischen Atlas Cathay (China) östlich von den Heiligen Drei Königen – d. h. von der Region, die die Miniatur einnimmt – liegt, aber zur Lokalisierung nicht wirklich hilfreich. 4. Stellenkatalog und Anfragen Die Frage nach einer formal-logischen Repräsentation kognitiver Kategorien, hier zur Repräsentation qualitativen räumlichen Wissens und Schließens ist nur sinnvoll, wenn im Kontext der Forschung eine Menge komplexer Anfragen an einen kartographischen Datenbestand gestellt werden, die mit anderen Mitteln nur unter erheblichem Aufwand an vor allem zeitlichen Ressourcen oder realistischerweise gar nicht zu beantworten sind. Voraussetzung hierfür ist wiederum die Verfügbarkeit einer umfassenden Datenbasis. Unter der Rahmenvorgabe, dass mittelalterliche Weltkarten vor allem als kognitive Karten zu gelten hätten, entstand ausgehend von Kuglers Ebstorf-Projekt sowie von Arbeiten am Behaim-Globus 23 die Idee, langfristig einen vergleichenden Stellenkatalog für die wichtigsten hoch- und spätmittelalterlichen Weltkarten unter Einbezug von Ptolemaeuskarten und Portulanen zu erarbeiten. Als erster Schritt wurde dazu eine Datenbank hochaufgelöster digitaler Reproduktionen mittelalterlicher Weltkarten aufgebaut, 24 die es erlaubt, das einschlägige Kartenmaterial direkt an den Arbeitsplatz zu bringen; sie enthält z. Zt. ca. 1000 Kartenbilder. 25 Für den Stellenkatalog muss zuerst eine Systematik für die in ihm abzulegenden Objektbeschreibungen, d. h. ein Klassifikationsschema für die fraglichen, hier die auf den Karten dargestellten, Typen visueller Objekte und ihre Eigenschaften erarbeitet werden. Die nach einem derartigen Schema erstellten Objekt-

23 Günther Görz/Norbert Holst, The Digital Behaim Globe (1492), in: Museum Interactive Multimedia 1997: Cultural Heritage Systems – Design and Interfaces. Selected Papers from ICHIM-97, The Fourth International Conference on Hypermedia and Interactivity in Museums, Paris 1997, hg. von David Bearman und Jennifer Trant, Pittsburgh, Penn. 1997, S. 157–173; Görz [Anm. 8]. 24 Günther Görz, Kognitive Karten des Mittelalters. Digitale Erschließung mittelalterlicher Weltkarten, in: Geschichte im Netz: Praxis, Chancen, Visionen. Beiträge der Tagung .hist 2006, Berlin, 22.–24. Februar 2006, hg. für Clio-online von Daniel Burckhardt, Rüdiger Hohls und Claudia Prinz, Berlin 2007 (Historisches Forum 10), S. 539–572. 25 Zugriff über http://www8.informatik.uni-erlangen.de/mappae/; 15.5.2009. Für die hochaufgelösten Bilder ist eine Sondergenehmigung erforderlich.

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beschreibungen sind mit Positionen auf den zugehörigen Kartenbildern zu verankern. 26 Der Stellenkatalog stellt auf systematische Weise geographische und ikonographische Objekte sowie Toponyme mit ihren primär visuellen Eigenschaften in Form strukturierter Datensätze dar. Bis zu diesem Punkt unterscheidet ihn nichts von einer gewöhnlichen Datenbankanwendung mit den üblichen relationalen Abfragemöglichkeiten. Neben einfachen Anfragen nach dargestellten Objekten und ihren Eigenschaften sind auch komplexe nach Objektklassen anhand von partiellen Beschreibungen möglich. Doch erst durch die Einbettung in ein (beschreibungs-)logisches Rahmensystem mit einer Konzept- und Eigenschafts-Hierarchie werden auch Schlussfolgerungen über komplexen merkmalslogischen Verknüpfungen möglich, z. B. Überprüfung auf Widerspruchsfreiheit und automatische Klassifikation von Objekten anhand partieller Beschreibungen. ›Intelligente‹ Suche benötigt Inferenzen, inhaltliche innerhalb der Hierarchien von Konzepten und Eigenschaften und auch formal-logische. Damit können auch Geltungsansprüche und Begründungen in den Verarbeitungsprozess einbezogen werden. In diesen Rahmen werden die angesprochenen Erweiterungen um räumliches Wissen auf elegante Weise eingebracht, so dass in Anfragen die merkmalslogischen Angaben nun kombiniert werden können mit Angaben über regionale Beziehungen, Orientierung und Distanz. Dabei können folgende Anfragearten unterschieden werden: 27 Bei deiktischen Fragen sind die angefragten Objekte bekannt und man erkundigt sich nach bestimmten ihrer Eigenschaften. Bei Fragen vom iterativen Typ sind die Objekte noch nicht bekannt, die anhand bestimmter Eigenschaften zu identifizieren sind. Solche Eigenschaften können topologische sein, z. B. nach Nachbarschaft, Rand, Innerem und Äußerem, aber auch mengenorientierte, z. B. nach Durchschnitt, Enthaltensein oder Identität, oder metrische, z. B. nach Richtung und Entfernung. Auch wenn wir uns im folgenden auf propositionale Anfragen beschränken, soll doch darauf hingewiesen werden, dass mit der Kartendatenbank zur Bearbeitung von Fragen, die primär von bildlicher Art sind, ebenfalls Hilfsmittel bereitstehen. Hierzu gehören neben der visuellen Parallel-Präsentation auch Transformationen, um Karten vergleichen zu können – insbesondere historische, die i. d. R. nicht nach einer mathematischen Projektion erstellt wurden – und gegebe26 Hierfür sowie für diverse Bearbeitungsfunktionen für hochaufgelöste Bilder wird das in Web-Browsern lauffähige Anzeigeprogramm DIGILIB eingesetzt, das am MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, entwickelt wurde; siehe http://archimedes2.mpiwg-berlin.mpg.de/archimedes_templates/project4.htm; 15.05.2009. 27 Siehe im Detail Jelinek [Anm. 22], Kap. 3.

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nenfalls auch Animationen. Das Programmpaket MapViewer 28 bietet dafür Verfahren auf der Basis der Bildregistrierung an. 5. Logische Implementation Zunächst wird die Vorgehensweise zur semantischen Erschließung historischer Karten mittels eines Konzeptmodells vorgestellt. Seine Implementation und des darauf aufbauenden Stellenkatalogs erfolgt in einer beschreibungslogischen Sprache, in die dann die Repräsentation des räumlichen Wissens integriert wird. 5.1. Formale Domänen-Ontologie und Referenz-Ontologie Erste Überlegungen hierzu entstanden im Kontext eines Projekts, das das Ziel hatte, aus Materialien der Ausstellung Focus Behaim-Globus 29 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (1992/93) ein Informationssystem zu erstellen. 30 Diesem lag ein Stellenkatalog zugrunde, in dem neben den geographischen Objekten (Kontinente, Meere, Flüsse, Gebirge, etc.) die zahlreichen Miniaturen und Inschriften verzeichnet sind. Die Einträge des Stellenkatalogs waren als Instanzen eines Klassensystems realisiert, das zwei Teil-Hierarchien, eine geographische und eine nicht-geographische, vereinigte. Die gesamte Klassenhierarchie ist in Abb. 3 wiedergegeben. Die Modellierung der Konzepte (Klassen), ihrer Eigenschaften sowie der Instanzen wurde in einer objektorientierten Programmiersprache (CLOS: Common LISP Object System) implementiert. Die Speicherung der Objekte erfolgte in einer speziellen Datenbank; zur Suche stand eine spezielle Suchmaske zur Verfügung, die auch eine Option zur Navigation in der Klassenhierarchie bot. Allerdings war in diesem System keine Möglichkeit zum automatischen logischen Schließen enthalten mit Ausnahme der Vererbung der Eigenschaften innerhalb der Klassenhierarchie, also von Eigenschaften allgemeinerer Objekte zu spezielleren. Ein Beispiel wäre die Vererbung der Eigenschaften, die für die Klasse aller Miniaturen gelten, auf die Klasse der Schiffsdarstellungen. Diese Modellierungstechnik wird hier in veränderter Form wieder aufgenommen. Es geht nach wie vor um die formale Modellierung der visuellen Erscheinung, der Karte als Bild – nicht um Materialeigenschaften, Herstellungsprozesse und auch nicht um ihre Einbindung in den gesellschaftlichen Diskurs. Dies alles ist zweifellos sinnvoll und wichtig, muss aber künftigen Erweiterungen vorbehal28 Andrea Hofmann, Vergleich und 3D-Darstellung von alten Landkarten durch Bildregistrierung, Technischer Bericht, Erlangen 2005. 29 Focus Behaim-Globus. Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums, 2 Bde, hg. von Gerhard Bott und Johannes Willers, Nürnberg 1992. 30 Görz/Holst [Anm. 23].

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ten bleiben. Wird ein Gegenstandsbereich mittels einer Hierarchie von Konzepten und Eigenschaften modelliert, wozu noch weitere Einschränkungen und Regeln treten können, spricht man von einem Konzeptmodell oder auch von einer ›formalen Ontologie‹.

Abb. 3: Konzepthierarchie für den Behaim-Globus.

Genauer gesagt, definiert eine formale Ontologie das terminologische System für einen Gegenstandsbereich 31 und ist normalerweise an einschlägigen Theorien, 31 Natalya Noy, Ontologies, in: Handbook for Language Engineers, hg. von Ali Farghaly, Stanford, CA 2003, S. 181–211.

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durch die dieser erschlossen wird, orientiert. Im Idealfall stützt sie sich auf den Begründungszusammenhang der jeweiligen Theorien und benutzt die diesen Theorien zugrundeliegenden Abstraktionsverfahren. 32 Sofern es sich um axiomatische Theorien handelt, wird die formale Ontologie auch die axiomatische Basis repräsentieren; ob und in welchem Umfang dies im konkreten Fall möglich ist, hängt von der Ausdruckskraft der gewählten Wissensrepräsentationssprache ab. Formale Ontologien, die einen bestimmten Gegenstandsbereich modellieren, heißen auch ›Domänen-Ontologien‹. Zur Repräsentation des Konzeptmodells und der damit erstellten Objektbeschreibungen werden in unserem Fall formale Sprachen aus der Familie der Beschreibungslogiken 33 gewählt. Diese sind entscheidbare Teilsprachen der Logik, für die effiziente Inferenzalgorithmen bereit stehen, die vollständige und korrekte Schlüsse aus komplexen, logisch zusammengesetzten Anfragen garantieren. 34 Die konzeptionelle Modellierung eines Gegenstandsbereichs erfolgt mit relativ einfachen sprachlichen Mitteln; sie ist gleichsam das Gerüst einer Bereichstheorie. Beschreibungslogische Wissensbasen bestehen im Wesentlichen aus zwei Komponenten: • einer intensionalen Komponente (›T-Box‹), welche die Konzepte (Klassen), dargestellt durch einstellige Prädikate, und die Eigenschaften, dargestellt durch zweistellige Relationen, in der – automatisch bestimmten – Anordnung einer Vererbungshierarchie enthält. Die Definitionen von Konzepten und Eigenschaften mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen werden mit Hilfe der bekannten logischen Partikel formuliert sowie weiteren aus Wissensrepräsentationssprachen geläufigen Konstrukten zur Formulierung von Beschränkungen bzgl. Typen, Anzahlen, etc.; • einer extensionalen Komponente (›A-Box‹), die die aktuellen Objektbeschreibungen (Individuen) als Instanzen der Konzepte mit Eigenschaftsausprägungen enthält, welche in vielerlei Beziehungen zueinander stehen können. Die beschreibungslogischen Sprachen bilden eine Familie; je nach Auswahl der konzept- und eigenschaftsbildenden Sprachkonstrukte werden mehr oder weniger 32

Chris Menzel, Ontology Theory, in: Ontologies and Semantic Interoperability, Proc. ECAI-02 Workshop, Band 64, hg. von Jerome Euzenat et al., Lyon 2002, S. 61– 67; Nicola Guarino, Formal Ontology and Information Systems, in: Formal Ontology in Information Systems. Proceedings of FOIS-98, Trento, Italy, 6–8 June 1998, hg. von Nicola Guarino, Amsterdam 1998, S. 3–15. 33 The Description Logic Handbook: Theory, Implementation, and Applications, hg. von Franz Baader et al., Cambridge 2003. 34 F. M. Donini et al., Reasoning in Description Logics, in: Foundations of Knowledge Representation, hg. von G. Brewka, Stanford, CA 1996, S. 191–236.

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ausdrucksstarke Sprachen mit unterschiedlichen Komplexitätseigenschaften gebildet. In formalen Ontologien, die mit diesen Mitteln formuliert werden, wird die – allerdings nicht kontingente, sondern terminologisch kontrollierte – Vernetzung selbst zum Bedeutungsträger; sie legt eine sinn-relationale Semantik fest. Eine deutliche Steigerung der Ausdrucksfähigkeit kann durch Hinzunahme eines Regelformalismus erreicht werden, was jedoch eine Relativierung der Korrektheits- oder Vollständigkeitseigenschaften nach sich zieht. In unserem Fall wurde zunächst die objektorientierte Modellierung des Behaim-Globus in die beschreibungslogische Wissensrepräsentationssprache CLASSIC 35 übertragen. 36 Dieses Konzeptmodell eignet sich nach der bisherigen Erfahrung auf jeden Fall für Ptolemaeuskarten im Allgemeinen, da der Globus ein ebensolches Kartenbild besitzt, aber auch für kreisförmige mittelalterliche Weltkarten, deren Gestaltungselemente auf ihm häufig vertreten sind. Lediglich für Portulankarten 37 wären noch Ergänzungen erforderlich. Obwohl seine Ausdruckskraft ziemlich eingeschränkt ist, wurde CLASSIC gewählt, weil es über eine geeignete Schnittstelle für Erweiterungen verfügt, die im Folgenden für die räumlichen Relationen genutzt wurde, und überdies zu dieser Zeit keine andere konkurrenzfähige stabile Implementation einer beschreibungslogischen Sprache verfügbar war. Dieser Vorteil wurde allerdings mit dem Problem erkauft, dass nicht alle seitens der Modellierung gebotenen Einschränkungen in der notwendigen Schärfe formuliert werden konnten, insbesondere solche, die die Aggregationshierarchie betreffen. Mittlerweile hat sich für die Implementation formaler Ontologien die im Rahmen des ›Semantic Web‹ entwickelte ›Web Ontology Language‹ OWL-DL 38 durchgesetzt, die auf der syntaktischen Basis von XML eine der am weitesten entwickelten Beschreibungslogiken darstellt und für die u. a. mit RACER 39 eine äußerst leistungsfähige Inferenzmaschine verfügbar ist. Darüber hinaus gibt es zur Entwicklung formaler Ontologien komfortable graphische Edi-

35 Ronald J. Brachman et al., Living with CLASSIC: When and How to Use a KLONE-like Language, Kap. 14, in: Principles of Semantic Networks, hg. von J. F. Sowa, San Mateo 1991, S. 401–456. 36 Duane Mari Deang, Geometrical and Logical Modelling of Cartographic Objects, Master thesis in computational engineering, Erlangen 2000. 37 Jonathan T. Lanman, On the Origin of Portolan Charts, Chicago 1987 (Occasional Publications 2). 38 Michael K. Smith/Chris Welty/Deborah L. McGuinness, OWL Web Ontology Language Guide. W3C Recommendation 10 February 2004, Geneva 2004. 39 Volker Haarslev/Ralf Möller, RACER System Description, in: International Joint Conference on Automated Reasoning, IJCAR 2001, June 18–23, Siena, Italy, (Lecture Notes in Computer Science 2083), Berlin, Heidelberg 2001, S. 701–705.

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toren wie z. B. Protégé 40 , so dass die nächste Version des Konzeptmodells nach OWL-DL überführt wird. Nun greift jede Domänen-Ontologie auf Allgemeinbegriffe für Zeit und Raum, Ereignisse, Aktoren, Prozesse und weitere zurück, die für die begriffliche Modellierung aller lebensweltlichen Gegenstandsbereiche von Nutzen sind. Darüber hinaus müssen auch die für derartige Modellierungen benutzten logischmathematischen Grundbegriffe wie Menge, Relation, Zahl, aber auch die Mereologie (Teil-Ganzes-Beziehungen) festgelegt werden, die üblicherweise auf einer Meta-Ebene vorgesehen sind. Zu diesem Zweck wurden formale Referenz-Ontologien entwickelt, mit denen dann Domänen-Ontologien begrifflich zu verknüpfen sind, so dass sich die spezifischen Konzepte als Spezialisierungen von allgemeinen Konzepten ergeben. Aus technischer Sicht liegt die besondere Bedeutung von Referenz-Ontologien darin, dass sie die Grundlage für semantische Interoperabilität bieten, zum Beispiel für die Datenintegration und für übergreifende Recherchen. Für den uns interessierenden Anwendungsbereich erscheint das vom Internationalen Komitee für die Dokumentation des ›International Council of Museums‹ (ICOM-CIDOC) entwickelte objektorientierte ›Conceptual Reference Model‹ (CRM) 41 besonders geeignet. Das CRM wurde unter dem Titel »Information and documentation – A reference ontology for the interchange of cultural heritage information« als ISO-Standard 21127 registriert. 42 Wir haben eine Implementation dieses Standards in OWL-DL erarbeitet, 43 in die die neue Version der Behaim-Domänen-Ontologie unmittelbar eingebettet werden kann.

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Natalya F. Noy et al., Creating Semantic Web Contents with Protégé-2000, in: IEEE Intelligent Systems 16 (2001), H. 2, S. 60–71. 41 Nick Crofts et al., Definition of the CIDOC Conceptual Reference Model. Version 5.0.1 Paris: The International Committee for Documentation of the International Council of Museums (ICOM-CIDOC), March 2009; Regine Stein et al., Das CIDOC Conceptual Reference Model: Eine Hilfe für den Datenaustausch ? Berlin 2005 (Mitteilungen und Berichte aus dem Institut für Museumskunde 31). 42 Weitere detaillierte Informationen sind zu finden unter http://cidoc.ics.forth.gr/; 15.05.2009. 43 Günther Görz/Martin Oischinger/Bernhard Schiemann, An Implementation of the CIDOC Conceptual Reference Model (4.2.4) in OWL-DL, in: Proceedings CIDOC 2008 – The Digital Curation of Cultural Heritage. Athen, Benaki Museum, 15.–18.09.2008, Athen 2008. Implementation erreichbar unter http://www8. informatik. uni-erlangen.de/IMMD8/Services/cidoc-crm/; 15.05.2009.

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6. Räumliches Schließen Gehen wir von einem Konzeptmodell aus, das – wie am Beispiel des BehaimGlobus gezeigt 44 – die relevanten topologischen Unterscheidungen einbringt, so kann die Integration des räumlichen Wissens in und seine Erweiterung auf das qualitative räumliche Schließen in einer logischen Sprache im Sinne der in Abschnitt 3 vorgestellten Formalisierung angegangen werden. Wenn räumliche Relationen auf einer gegebenen Karte untersucht werden sollen, müssen zunächst Punkte und Gebiete instantiiert werden. In kreisförmigen Weltkarten weisen oft nur Großregionen klare Grenzen auf wie die Kontinente Asien, Afrika und Europa und gegebenenfalls die unbewohnte Terra Australis; in wenigen Fällen werden auch die (sieben) Klimazonen ausgezeichnet. Weitere Regionen sind auf historischen Karten zumeist nicht abgegrenzt, so dass man sich durch Einzeichnen von Polygonen behelfen muss. In vielen Fällen werden Rechtecke ausreichen, da viele Bezugsobjekte wie Miniaturen und Beschriftungen damit leicht einzufassen sind, was dann auch die Verarbeitung vereinfacht. Um qualitative räumliche Angaben und Schlussfolgerungen auf Globen korrekt ausführen zu können, ist die Beschränkung auf verebnete Kartendarstellungen, etwa durch Segmente, nur in kleinräumigen Bereichen zureichend und muss durch ein Kugelmodell zumindest ergänzt, wenn nicht sogar ersetzt werden. Geht man von Punktkoordinaten mit Längen- und Breitengradangabe aus, so besteht der Hauptunterschied zu den zweidimensionalen Kartenmodellen ja in der Verwendung zyklischer Koordinaten und der Auszeichnung zweier singulärer Punkte, der Pole. 45 Formal-sprachlich gesehen geht es nunmehr darum, die genannten räumlichen Konzepte und Relationen im Rahmen der Beschreibungslogik darzustellen. Sie bilden einen Bereich bestimmter ›konkreter‹ Objekttypen mit bereits definierten Prädikaten und Relationen und eventuell weiteren Funktionen und verfügen über für diesen Bereich speziell entwickelte effiziente Problemlösungsverfahren, worauf am Beispiel von RCC8 hingewiesen wurde. Daher wird auch von ›konkreten Bereichen‹ gesprochen, die aber konzeptionell nichts anderes sind als Abstrakte Datentypen in der Welt der Programmiersprachen. Es lag daher nahe, anstelle einer nur mit erheblichem Aufwand zu handhabenden Axiomatisierung solcher 44 Im konkreten Fall geht es um die Teühierarchie unter GLOBUS-OBJEKT: GREGION und NG-REGION. 45 Zur algorithmischen Behandlung ebener und kugelförmiger Karten im Rahmen der ›Computational Geometry‹ siehe z. B. George A. Jennings, Modern Geometry with Applications, 3. Aufl. New York etc. 1997; Franco P. Preparata/Michael Ian Shamos (Hrsg.), Computational Geometry. An Introduction, Texts and Monographs in Computer Science, 2. Aufl. New York 1988; zur konkreten Anwendung auf den Behaim-Globus auch Jelinek [Anm. 22].

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Bereiche die Abstrakten Datentypen mit ihren spezifischen Methoden grundsätzlich als Spracherweiterungen von Beschreibungslogiken zu realisieren. 46 Wie bereits erwähnt, war CLASSIC nach unserer Kenntnis die erste Sprache, die mit ihrer sogenannten Test-Schnittstelle eine derartige Erweiterungsmöglichkeit anbot. Neuere Ansätze gehen hierfür etwas anders vor, was jedoch auf die grundsätzliche Modellierungsproblematik keinen Einfluss hat. Den erste Forschungsansatz in diesem Rahmen und seine Anwendung auf städteplanerische Fragestellungen ist der Hamburger Arbeitsgruppe unter Volker Haarslev und Ralf Möller 47 zu verdanken. Die Autoren haben die semantische Definition der genannten topologischen Relationen – hier beschränkt auf Polygone – mittels der Subsumtion von Konzepten interpretiert, d. h. im Rahmen der begrifflichen Vererbungshierarchie behandelt. Dazu werden neue Konzeptkonstruktoren bereitgestellt, und die Subsumtion wurde durch die Inferenzmaschine berechnet. Damit können sowohl Inkonsistenzen als auch implizite Information in räumlichen Konzeptmodellen gefunden werden. Zwar beschränken die gegebenen Möglichkeiten zur Formulierung von Konzeptdefinitionen und die Subsumtionsrelation die Menge der möglichen Relationen zwischen Objekten des Gegenstandsbereichs, andererseits können so aber auch in den Definitionen topologischer Relationen implizite Subsumtionsbeziehungen automatisch festgestellt werden. Die Stärke dieses Ansatzes liegt in seiner Integration der Charakteristika einer formalen Repräsentation des Raums in das Inferenzsystem. Der ›konkrete Bereich‹ des Räumlichen erweitert den abstrakten der beschreibungslogischen Sprache CLASSIC durch strukturierte mathematische Objekte, Polygone und die zugehörigen topologischen Relationen und ermöglicht so den Zugriff auf effiziente Inferenzalgorithmen für konkrete räumliche Gebiete. In unseren Arbeiten haben wir zwar dieselbe Erweiterungs-Schnittstelle von CLASSIC benutzt, sind jedoch konzeptionell einen anderen Weg gegangen. Unter Verwendung der von Jelinek 48 implementierten computergeometrischen Algorithmen wurde ein externer abstrakter Datentyp definiert, der neben der Topologie noch mit Orientierung, Skalierung und Distanz eine weiter reichende Modellierung ermöglicht. 49 Was die Skalierung betrifft, so können Gruppen von 46

Für Details siehe Baader et al., Kap. 6.2. Volker Haarslev/Ralf Möller, SBOX: A Qualitative Spatial Reasoner – Progress Report, in: Proceedings, 11th International Workshop on Qualitative Reasoning, Cortona, Tuscany, Italy, June 3–6, hg. von L. Ironi, Pavia 1997, S. 105–113; dies., Spatioterminological Reasoning: Subsumption Based on Geometrical Inferences, in: Proceedings, DL-97, International Workshop on Description Logics, September 27–29 Gif-surYvette, hg. von R. Brachman et al., Paris 1997, S. 74–78. 48 Jelinek [Anm. 22]. 49 Deang [Anm. 36]. 47

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Objekten ähnlicher Größe festgelegt werden, z. B. Kontinent vs. Inselgruppe, Gebirge vs. Kap, Wald, oder Stadt. Analoges gilt auch für Distanzen. Damit ist es möglich, Anfragen auf der Ebene von topologischen und anderen räumlichen Prädikaten zu formulieren, die extern, d. h. mittels Methoden des konkreten Bereichs entschieden werden. Mit der oben genannten Modellierung des Behaim-Globus können so Fragen der folgenden Art beantwortet werden: 50 • Welche geographischen Regionen sind Teile des Kontinents K1 ohne Randberührung und überlappen teilweise die Landmasse LG1 ? (D. h. NTTP) • Welche geographischen Regionen liegen innerhalb des Kontinents K1 ? • Welche geographischen Regionen liegen südlich der Insel I7 ? • Welche Regionen liegen südlich der Insel I7 und westlich der Insel I3 ? • Welche Regionen liegen zwischen den Inseln I7 und I2 ? • Welche Inseln liegen südlich der Insel I7 ? (Maßstab: selbe Größenklasse) • Was liegt westlich von Afrika? • Welche Städte innerhalb des Kontinents K1 liegen westlich des Waldes W1 ? (Komplexe Anfrage; ebenso die drei folgenden.) • Was sind die östlichen Nachbarn des Meers M4 ? • Welche Inseln liegen zwischen der Insel I11 und der Inselgruppe IG2 und sind nicht Teil der Inselgruppe IG1 ? • Welche Städte innerhalb des Kontinents K3 liegen weniger als 50 Einheiten östlich des Sees SE1 ? Die Anfragen müssen in CLASSIC formuliert werden; durch die direkte Übertragung in das Deutsche erscheinen sie reichlich hölzern. Selbstverständlich braucht bei benannten Objekten der Objekttyp nicht explizit angegeben zu werden, es genügt der Name. Allerdings wurden in dieser experimentellen Version keine Referenzobjekte vorgesehen, so dass Anfragen wie »Welche Städte liegen innerhalb von Inseln?« noch nicht möglich sind – es sei denn, man löst sie in eine Folge von Anfragen, erst nach Inseln, dann nach Städten, auf. Damit wurde die anfangs aufgestellte Behauptung eingelöst, dass eine rationale Rekonstruktion kognitiver Karten in einem epistemologischen Sinn möglich ist, welche die zu einer Organisation räumlichen Wissens notwendigen Elemente umfasst. Mit primär qualitativen Kategorien ist eine Operationalisierung verbunden, mit der Karten aufgebaut und analysiert werden können, wobei über ihnen qualitative Schlussfolgerungen automatisch ausführbar sind. Anhand der Erfah50

Geographische Bezeichnungen sind hier durch kurze Namen ersetzt.

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rungen mit diesen Vorarbeiten kann eine neue und vollständigere Implementierung auf der Grundlage der nächsten Version des Konzeptmodells in OWL-DL, erweitert um einen umfassenden kartographischen ›konkreten Bereich‹, in Angriff genommen werden. Zur benutzerfreundlichen Gestaltung sollte zum einen eine intuitive Gestaltung der Eingabe von Anfragen vorgesehen werden, z. B. durch teilweise instantiierte Masken, sowie eine geeignete Visualisierung zu den propositional formulierten Antworten. Diese neue Version würde sich zur Integration in künftige digitale Editionsprojekte der Kartographiegeschichte anbieten. Die Vernetzung der Objektbeschreibungen unter kognitiven Aspekten kann dynamisch erfolgen. Sind bestimmte Themen als Konzepte in der Hierarchie verankert, können dazu passende Beziehungen festgelegt werden, wobei die Inferenzmaschine die Aufgaben der Konsistenzprüfung und automatischen Klassifikation übernimmt. Dies würde beispielsweise für das Beispiel einer Darstellung der Alexanderreise auf der Ebstorf- oder Hereford-Karte bedeuten, dass nicht eine separate, vom Stellenkatalog getrennte und fest vorgegebene Folge statischer Bilder erstellt werden muss, sondern dass derartige ›Themenreisen‹ anhand der gegebenen Merkmale aus der Datenbasis assoziativ generiert werden können. 7. Ausblick Abschließend seien einige Fernziele genannt, die noch intensiver Grundlagenforschung bedürfen. Hierzu gehört die wichtige Frage nach der Darstellung zeitveränderlicher (diachroner) Konzepte als Basis diachroner Wissensmodelle. Es steht außer Zweifel, dass in dem relativ großen Zeitraum vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit die Deutung vieler der dargestellten Objekte und Sachverhalte einem Wandel unterliegt. Dies betrifft neben der Darstellung geographischer Gegebenheiten auch viele Darstellungen enzyklopädischen und narrativen Charakters. Es ist eine bisher kaum untersuchte Frage, wie sich dies in formalen Sprachen zur Wissensrepräsentation abbilden lässt. Auf jeden Fall wird mit der Darstellung der Konzepte auch eine interne Zeitrepräsentation zu verbinden sein, für die übrigens aus formal-logischer Sicht sehr viele Gemeinsamkeiten mit der hier aufgezeigten Repräsentation des Raums bestehen. Der Einsatz standardisierter formaler Beschreibungsverfahren hat sich bereits innerhalb einzelner Projekte bewährt. Der damit verbundene, zweifellos hohe Aufwand für die Erschließung erbringt aber mit dem Einsatz der logischen Verknüpfungen und des automatischen formalen Schließens einen erheblichen Mehrwert, denn dadurch werden Anfragen an den Datenbestand möglich, die mit traditionellen Erschließungstechniken überhaupt nicht oder zumindest nicht mit

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den üblicherweise verfügbaren Ressourcen sinnvoll bearbeitet werden konnten. Selbstverständlich werden eine systematische logische Erschließung und automatische Inferenzverfahren allein nicht die Lösung aller Forschungsfragen bescheren, aber sie erbringen eine neue Qualität bei der Unterstützung der Interpretation des Datenmaterials. Deduktive Methoden ersetzen nicht die ›ars inveniendi‹, sie können jedoch neue Bezüge aufzeigen und besitzen damit ein hohes Potential zur Induktion innovativer Forschungsfragen. Viele ungelöste Fragen verbinden sich mit der weltweiten Vernetzung umfangreicher Wissensbestände und insbesondere der Zusammenfassung zu semantischen Einheiten sowie der Erstellung neuer vernetzter Dokumente und Kollektionen mit externen und internen Referenzen. Bei der Herstellung komplexer Relationen zwischen Objekten sind formal-logische Beschreibungsverfahren in der Anwendung mit generischen Referenzontologien zweifelsohne ein wichtiges Hilfsmittel, aber sie werden nur dann auf breite Akzeptanz in der Wissenschaftsgemeinde stoßen, wenn sie in leistungsfähige Arbeitsumgebungen integriert sind. Eine unabdingbare Funktion solcher Arbeitsumgebungen ist die Unterstützung der Wissenschaftskommunikation unter Einbezug autoritativer Quellen und vor allem Assistenz bei neuen Formen des Publikationswesens. 51 Dies verleiht Hartmut Kuglers Aufforderung, Karten zu ›lesen‹, eine neue Dimension bei der Erzeugung von Geschichten und Geschichte. Danksagung Für hilfreiche Kommentare und Hinweise ist der Verfasser Bernhard Schiemann und Martin Scholz zu Dank verpflichtet.

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Siehe beispielsweise das Projekt WissKI: http://www.wiss-ki.eu; 15.05.2009.

Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador? Ein Versuch in wissenschaftlichem Wunschdenken von Andreas Haug, Würzburg I Wissenschaft als Wunschbefriedigung, wissenschaftliches Denken als eine Form von Wunschdenken: das ist nichts Neues; man spricht in letzter Zeit nur unbefangener davon. Besonders Erforscherinnen und Erforscher jenes Zeitalters, das auch in der Musikgeschichte, in der es am wenigsten ein mittleres war, den Namen »Mittelalter« trägt, geben heutzutage ungeniert zu, die Befriedigung von Wünschen zu betreiben. Keck bekennen postmoderne Mediävisten, am Geschäft des ›Mediävalismus‹ mit der ›Mittelaltersehnsucht‹ beteiligt zu sein. So erklärt der Historiker Valentin Groebner in seinem Buch Das Mittelalter hört nicht auf : »Geschichte ist eine Wunschmaschine«, und: »Übers Mittelalter zu reden und schreiben heißt Wünsche zu verhandeln.« 1 Bekannt geworden ist der »Wunsch mit den Toten zu sprechen«, den Stephen Greenblatt als eine Antriebskraft geschichtlichen Erkennens eingestanden hat. 2 Ebenso ohnmächtig wie dieser Wunsch ist ein Begehren, von dem erneut Valentin Groebner behauptete, es bilde ein »Grundmotiv historischen Arbeitens«, nämlich »das Begehren nach der verlorenen Stimme«. 3 Zu diesem Wunsch haben Musikhistoriker ein besonders intensives Verhältnis. Denn kaum etwas ist derart radikal vergangen wie vergangene Musik, und doch verlangt gerade sie nach wiederhergestellter oder vorgestellter Gegenwart, 1

Valentin Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008, S. 9 und 11. 2 »It began with the desire to speak with the dead«: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkely u. a. 1988, S. 1. 3 In seinem ungedruckten Beitrag zu einem öffentlichen Streitgespräch mit dem Verfasser über die Frage: »Was lässt sich an mittelalterlicher Musik rekonstruieren?« im Rahmen der Tagung ›Verhandlungen mit der (Musik-)Geschichte: Ein internationales Symposium zum 75. Geburtstag der Schola Cantorum Basiliensis‹, Basel 27.–29. November 2008.

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soll sie wissenschaftlich adäquat, nämlich nicht nur nach historischen, sondern auch nach ästhetischen Kriterien beurteilt werden. Auch Musik der Vergangenheit wird ihrer klanglichen Beschaffenheit und Wirkung nach erst im Präsens einer Realisation verständlich, sei es real erklingend, sei es klingend vorgestellt. Wenn historische Musik erklingt, vertreten lebendige Stimmen heutiger Musikerinnen und Musiker die verlorenen Stimmen von Toten. Daher kommt es, dass sich Erforscherinnen und Erforscher vergangener Musik leicht der Imagination ihres Forschungsgegenstands verdächtig machen. Und Erforscher der Musik eines Mittelalters, das ohnedies schon als erfundene Epoche gilt, als Erfinder von Ideen hinzustellen, die über die Wissenschaftler zuverlässiger Auskunft geben als über irgendetwas Mittelalterliches, ist für versierte Konstruktivisten ein Kinderspiel. Dabei gibt es am Begehren nach der verlorenen Stimme eigentlich weder ästhetisch noch historisch etwas auszusetzen. Es ist weniger verfänglich als der Wunsch nach historischem Sinn (der sich in trügerischer Konstruktion erfüllt) oder der Wunsch, Vergangenes wiederherzustellen (dessen Erfüllung Trugbilder zeitigt). Ästhetisch legitimiert der Wunsch nach der leibhaftigen Stimme sich als eine Manifestation jenes Verlangens nach ›Präsenzeffekten‹, das unlängst Hans Ulrich Gumbrecht gegen ein einseitig auf Sinneffekte konzentriertes Interpretieren verteidigt hat, 4 historisch als jenes »Begehren nach der Stimme«, von dem Paul Zumthor einst behauptet hat, dass es den mittelalterlichen Texten selber innewohne, die als »Werke der Stimme« nach dem »Resonanzraum einer Stimme« verlangten und die in der »Schrift im Exil« seien. 5 Zumthors Begriff der »Vokalität« zielt auf die Stimme nicht als Trägerin der Sprache, sondern als »Ausübung einer physischen Kraft«, auf das menschliche Vermögen, einen Laut hervorzubringen, der »nicht unmittelbar mit Sinn verbunden« ist, sondern dem Sinn »nur den Ort bereitet, wo er sich aussprechen wird«. 6 II Zu den konstitutiv vokalen Texten des Mittelalters zählen seine Lieder. Sie waren »Werke der Stimme«, waren, so auch der fast einhellige literaturwissenschaftliche Konsens, zum Singen bestimmt. 7 Ein bloßes Lesen, leise oder laut, galt als un4 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt 2004. 5 Paul Zumthor, Einführung in die mündliche Dichtung, Berlin 1990, S. 144. 6 Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994, S. 13. 7 Eine Minderheitenmeinung vertritt Thomas Cramer, Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998.

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vollständiger oder stellvertretender Modus ihrer Performanz. Allenfalls als Randerscheinung oder Grenzfall einer Aufführung von Liedern erscheint um 1400 an einer Stelle bei Eustache Deschamps, auf die Karl Bertau hingewiesen hat, ein Vortrag ›ohne Stimme‹ (sanz voix) im Sinne eines bloßen Aufsagens der Verse. 8 Was indes den Zugang zu jener genuinen Vokalität der Lieder vielfach aufs elementarste und zugleich unerbittlichste verhindert, ist die Tilgung der letzten Spur der Stimme, der Untergang der Melodien. Sie gingen massenhaft verloren, als die Lieder auf dem Weg ins Buch sich von der Stimme lösten, sich aus dem »Resonanzraum einer Stimme« ins stumme »Exil der Schrift« verabschiedeten. Bei den höfischen Liedern scheint das durch die sozio-kulturelle Kluft bedingt zu sein, die den Kontext ihrer Produktion und primären Rezeption von dem der schriftlichen Kodifizierung der Lieder trennt. 9 Nun sind die Melodien nicht die Stimmen. Die historische Notation einstimmiger mittelalterlicher Lieder beglaubigt in der Regel lediglich die Tonstufen oder Tonabstände sowie die Zuordnung der Töne zu den Silben, mitunter mit Hinweisen auf eine Dehnung einzelner Töne; nicht die Fluktuationen von Tonintensität und Tempo, und nichts von dem, was eine Stimme von einer anderen unterscheidet. Die Bandbreite des Ungefähren und Kontingenten ist beim Singen schmäler als beim Sprechen; 10 doch gibt es sie, und keine Notation hat sie erfasst. Wurde ganz auf Notation verzichtet oder gingen notierte Quellen verloren, dann lassen sich nicht einmal die durch Notation fixierbaren melodischen Parameter der vokalen Performanz rekonstruieren. Und so bleibt nicht nur beim Lied des deutschen, italienischen und portugiesischen Mittelalters unser Wunsch nach Melodien unerfüllt. Auch die Trobador-Lieder bleiben zu 90 Prozent stumm, da nur zu 250 Texten auch Melodien überliefert sind. Keines der Lieder des ›ältesten Trobador‹, Wilhelms von Aquitanien, befindet sich darunter. Und wo historisch verbürgte, philologisch gesicherte Melodien fehlen, da greift das »Begehren nach der Stimme« ins Ungewisse und wäre nur durch arbiträren oder fiktiven Ersatz zu befriedigen.

8 Als entgegengesetzter Grenzfall wird ein Singen sanz la bouche ouvrir erwähnt (ohne den Mund zu öffnen, also summend, ohne Textaussprache): Karl Bertau, Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs, Göttingen 1964, S. 12. Vgl. Eustache Deschamp, L’Art de Dictier, hg. von Deborah M. Sinnreich-Levi, East Lansing 1994, S. 64. 9 Dazu mehr im Abschnitt ›Lied, Stimme, Gesellschaft‹ meines Beitrags Musikalische Lyrik im Mittelalter, in: Musikalische Lyrik, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2004, S. 59–129, besonders S. 63–68. 10 Siehe Hans Georg Gadamer, Stimme und Sprache, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Band 8, Tübingen 1993, S. 258–270, hier S. 259.

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Doch gibt es einen viel und gern beschrittenen Weg, in dieser scheinbar aussichtslosen Lage verloren geglaubter Melodien doch noch habhaft zu werden. Das Zauberwort lautet ›Kontrafaktur‹: Vermögen wir uns und andere davon zu überzeugen, ein Lied habe einem anderen als formale und melodische Vorlage gedient, dann bringt uns die Notation des einen Liedes in den Besitz der Melodie des anderen. Nur selten ist das allerdings ein philologisch sicherer Besitz. Auf diesem Wege glaubte schon Hans Spanke in seiner Untersuchung ›Zur Formenkunst des ältesten Troubadours‹ von 1934 Lieder Wilhelms von Aquitanien zum Klingen bringen zu können. 11 Davon sind drei Lieder Wilhelms gleicher Form betroffen, 12 von denen Spanke schreibt, »wenn wir das Bedürfnis fühlten«, sie »uns musikalisch hörbar zu machen, könnten wir ihnen unbedenklich die zu seinen Lebzeiten niedergeschriebene Melodie« des lateinischen liturgischen Liedes ›In laudes innocentium‹ unterlegen. 13 Eine weitere Gruppe dreier formgleicher Lieder 14 hielt Spanke für Kontrafakturen des lateinischen Liedes ›Promat chorus hodie‹ 15 und wollte nur einen »einzigen Einwurf, den die Skepsis gegen unsere Auffassung machen könnte«, gelten lassen, nämlich »dass es sich um einen Zufall bei der formlichen Gleichheit handeln könne«; freilich, wie er fand, ein »Einwurf, der durch die Originalität und Einmaligkeit des Schemas leicht widerlegt« werde. 16 Unter Musikhistorikern fanden diese Überlegungen, die zwar ›rechnerisch‹ hinsichtlich der Zahl der Verse und der Silben aufgehen, bei denen aber die melodische Beschaffenheit der angeblichen Vorlagen außer Betracht blieb, soweit ich sehe, keine nennenswerte Resonanz. 11 Studi medievali 7 (1934), S. 72–84. Wiederabdrucke in: Hans Spanke, Studien zur lateinischen und romanischen Lyrik des Mittelalters, hg. von Ulrich Mölk, Hildesheim u. a. 1983, S. 266–278 (zit.), sowie in: Der Provenzalische Minnesang, hg. von Rudolf Baehr, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 6), S. 161–174. 12 Die Lieder IV, V und VII in der Edition von Alfred Jeanroy, Les chansons de Guillaume IX, duc d’Aquitaine, 2. Aufl. Paris 1927, denen die Form 8a 8a 8a 4b 8a 4b gemeinsam ist. 13 Spanke [Anm. 11], S. 272. Das fragliche Lied ›In laudes innocentium‹ hatte schon Friedrich Gennrich in seinem Grundriß einer Formenlehre des mittelalterlichen Liedes, Halle 1932, S. 24 (mit einer willkürlichen Rhythmisierung seiner hymnenhaften Melodie) veröffentlicht, ohne auf seine formale Übereinstimmung mit Wilhelms Liedern einzugehen. Es steht zu Beginn einer Sammlung von 16 Liedern, die um 1100 an einem unbekannten Ort in Aquitanien angelegt wurde und sich auf fol. 40–47 v der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale, lat. 1139 aus der Abtei Saint-Martial erhalten hat. Die vier Doppelblätter bilden eine ergänzende (falsch eingebundene) Lage zu einer umfangreicheren Zusammenstellung lateinischer liturgischer Gesänge auf fol. 32–118 v der Handschrift. Siehe dazu Sarah Fuller, Aquitanian Polyphony of the Eleventh and Twelfth Centuries, Ph. D. University of California, Berkeley 1969, Band I, S. 36–40. 14 Die Lieder I, II und III in Jeanroys Edition [Anm. 12] mit der Form 11a 11a 14a. 15 Paris BN lat. 1139, fol. 51 v. 16 Spanke [Anm. 11], S. 270.

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Auf gleichem Wege wie zu seiner Zeit Hans Spanke macht heute der Romanist Joachim Schulze die zu Lesestoff verstummten Lieder der Sizilianer und Toskaner wieder hörbar und bekämpft damit die von einigen seiner italienischen Fachkollegen erfolgreich verbreitete Doktrin von jenem ›divorzio tra musica e poesia‹, zu dem es in der italienischen Lieddichtung des Mittelalters gekommen sei, weil eine Bindung der Texte an gesungenen Vortrag mit dem dichterischen Anspruch italienischer ›Kunstlyrik‹ unvereinbar gewesen sei. 17 Der Drang, mit einer Forschungsmeinung aufzuräumen, bei der doch die Beweislast trüge, wer sie vertritt, nicht wer ihr widerspricht, mag dabei ein noch stärkerer Antrieb gewesen sein als der schiere Wunsch nach Melodien. Jedenfalls hat uns auch diese Suche nach formaler und melodischer Übereinstimmung zwischen Liedern verschiedener Corpora, über die Grenzen von Ländern und Sprachen hinweg, neben wertvollen und überzeugenden Funden auch Beispiele wissenschaftlichen Wunschdenkens beschert. Auch an Spankes Wilhelm-Kontrafakten (denen, wie gesagt, und meiner Meinung nach zurecht, seitens der musikhistorischen Forschung und bezeichnenderweise auch seitens der historischen Musikpraxis keine Beachtung mehr zuteil wird) hält Schulze fest; er verortet die weltlichen Lieder des Grafen im literarischen Diskurs als ›karnevalisierende‹ Parodien ihrer angeblichen klerikalen Gegenbilder und melodischen Ebenbilder. 18 Auch in der Germanistik hat das Aufspüren von Kontrafakten eine lange Tradition, galt es doch, für die in den drei Haupthandschriften ohne Notation tradierten Lieder mittelhochdeutscher Sprache, mit einer vielsagenden Formulierung Friedrich Gennrichs, »den Mangel an Überlieferung durch Findigkeit etwas auszugleichen«. 19 Dass man dabei manch krummen Weg der Argumentation nicht scheute, gab Anlass zu Polemik gegen eine so »forcierte Kontrafakturjagd«. 20 Die Jagd nach Kontrafakturen eröffnet wissenschaftlichem Wunsch17 Joachim Schulze, Sizilianische Kontrafakturen. Versuch zu der Frage der Einheit von Musik und Dichtung in der sizilianischen und sikulo-toskanischen Lyrik des 13. Jahrhunderts, Tübingen 1989, und ders., Ballata und Ballata-Musik zur Zeit des Dolce Stil Nuovo, Tübingen 2001. Im einzelnen zu diskutieren, welche der von Schulze vorgeschlagenen Kontrafakturen gemäß den von Ursula Aarburg eingeführten Kriterien als »sicher«, »wahrscheinlich« oder »möglich« gelten dürfen, ist dies nicht der Ort. Vgl. Ursula Aarburg, Melodien zum frühen deutschen Minnesang. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, hg. von Hans Fromm, Darmstadt 1961 (Wege der Forschung 15), S. 378–423. 18 Joachim Schulze, Cantari e mustrari alligranza. Zur Frage der idealen oder leibhaftigen Aufführung der frühen italienischen Lyrik, in: Studi musicali 31 (2002), S. 3–16. 19 Friedrich Gennrich, Mittelhochdeutsche Liedkunst, Darmstadt 1954, S. XXII. 20 So Ronald J. Taylor gegen Gennrich in: Zeitschrift für deutsches Altertum 87 (1956), S. 143. Methodisch nach wie vor grundlegend, nicht allein bezüglich deutscher Kontrafakte, ist der oben [Anm. 17] genannte Beitrag Ursula Aarburgs.

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denken offenbar ein vorzügliches Betätigungsfeld. Wer da nicht mit leeren Händen heimkommen möchte, darf philologisch nicht kleinlich sein und muss sich auf die Kunst verstehen, Vermutungen durch andere Vermutungen zu stützen. Ich höre jetzt auf, mit Steinen zu werfen, und setze mich selbst ins Glashaus. Was mich auf die Jagd nach einer Kontrafaktur gehen lässt, ist der Wunsch, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie ›Farai un vers de dreyt nien‹, das bekannteste und rätselhafteste der Lieder Wilhelms von Aquitanien, einst geklungen haben könnte; der Wunsch, es nicht immer nur aufgesagt zu bekommen, als wäre es ein Gedicht, das unter einen bürgerlichen Begriff von Lyrik fiele; der Wunsch nach einer 900 Jahre alten Melodie, auf deren Bahn sich einst eine Stimme bewegte, und auf der sich auch heute wieder eine Stimme bewegen könnte, damit sie dem dunklen Sinn des Liedes »einen Ort bereitet, an dem er sich ausspricht«. Da ich die gesuchte Melodie nicht »unbedenklich« erbeuten, sondern meine »Findigkeit« kritisch zügeln will, sollen mir die »Einmaligkeit und Originalität des Schemas« nicht als Argument genügen, und an die »formliche Gleichheit« von Liedern gelobe ich strengere Anforderungen zu stellen als meine Vorgänger. III Innerhalb der aquitanischen Überlieferung des 12. Jahrhunderts ist das von Spanke aufgespürte ›Innocentes‹-Lied nicht das einzige, dessen textliche Form sich mit der von Wilhelms ›Lied über rein gar nichts‹ deckt. Die gleiche Verbindung von Versen wechselnder Länge findet sich auch in einem erotischen Lied, das Spanke, obwohl er es kannte, als formal-melodische Vorlage (oder Nachbildung) des okzitanischen Liedes nicht in Betracht zog, 21 und das erstmals Peter Dronke befriedigend ediert und ausführlich besprochen hat: ›De ramis cadunt folia‹. 22 Abbildung 1 zeigt die einzige erhaltene Aufzeichnung dieses Liedes innerhalb einer Sammlung liturgischer Musik, in die eine Anzahl profaner lateinischer Lieder eingeschlossen ist, 23 Abbildung 2 eine Wiedergabe des aus der 21 Es ist aufgeführt in Hans Spanke, St.-Martial-Studien. Ein Beitrag zur frühromanischen Metrik, in: Hans Spanke, Studien zur lateinischen und romanischen Lyrik des Mittelalters, hg. von Ulrich Mölk, Hildesheim u. a. 1983, S. 30, und in Gennrichs Grundriß [Anm. 13] ist es auf der gleichen Seite (S. 24) mitgeteilt wie ›In laudes innocentium‹. 22 Peter Dronke, Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric, 2. Aufl. Oxford 1968, Band I, S. 288–290. 23 Es handelt sich um eine von Sarah Fuller als Versarius C-III bezeichnete, circa 1120–1130 durchgängig von einem einzigen Schreiber angefertigte Zusammenstellung von 17 lateinischen Liedern ohne Gattungsrubriken (sowie zwei Kyrie-Gesängen), die uns auf fol. 33–44 v der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale, lat. 3719 erhalten ist. Darin

Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador ?

Abb. 1: ›De ramis cadunt folia‹, Paris BN lat. 3719, f. 42.

Abb. 2: ›De ramis cadunt folia‹.

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mittelalterlichen Notation ablesbaren Tonverlaufes in moderner Notenschrift. Wenn ich den Transfer von der historischen Notation, die nur die Tonhöhen anzeigt, hinsichtlich der Tondauern neutral ist und einige Zeichen aufweist, deren genaue Bedeutung unklar ist, in eine moderne nicht kommentiere, möchte ich ihn dadurch nicht verharmlosen, auch wenn der Schritt von der originalen in eine moderne Notation mit geringeren Verlusten behaftet ist als der Schritt von der verlorenen Klanggestalt des Liedes in seine uns erhaltene mittelalterliche Zeichengestalt. Vom Text des Liedes abgelöst betrachtet, also sozusagen ›mit geschlossenem Mund‹ gesungen, ohne Bezug zu Zahl und Form der Verse, stellt sich die Melodie, wie die vertikale Anordnung in Abbildung 3 verdeutlichen soll, als eine Folge von zehn gleichlangen und analog geformten Tongruppen dar. Es sind Gruppen von jeweils vier Tönen, deren letzter in sieben der Gruppen durch eine Tonverdoppelung oder Tonerweiterung verlängert ist. 24 Das konnte einen doppelten Effekt haben: Durch das längere Verweilen, das ›HänAbb. 3 genbleiben‹ auf den ›Überhängen‹ dieser Töne werden sie hervorgehoben, und die damit verbundene Verzögerung kann als ein Absetzen am Ende der Gruppen gehört werden. Drei der Gruppen enden auf dem g, der Tonstufe, auf der das Lied beginnt und endet, und die in tonartlicher sind 5 Lieder weltlichen Inhalts enthalten: ›De terre gremio‹ (fol. 36), ›Ex ungue primo tenerem‹ (fol. 37 v), ›Ecce letantur omnia‹ (fol. 40), ›Nisi fallor nil repertum‹ (fol. 41) und ›De ramis cadunt folia‹ (fol. 42). Beschreibung und Inventar bei Fuller [Anm. 13], Band I, S. 40–45 sowie Band II, Appendix II, S. 388–390. Die weltlichen Lieder sind verzeichnet, teils herausgegeben und teils besprochen bei Dronke [Anm. 22], Band II, S. 571f. und S. 378–386, sowie Band I, S. 288–294. 24 Die ›Überhänge‹ sind in der aquitanischen Notation der Handschrift durch Zeichen verschiedener Form angezeigt, deren genaue Bedeutung einer Untersuchung bedürfte.

Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador ?

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Hinsicht als sein Grundton gelten darf. Nur in diesen drei Gruppen ist der letzte Ton nicht durch einen Überhang verlängert. Kraft der konklusiven, einschnittbildenden Wirkung seines Eintretens gliedert der Grundton die Folge der zehn analogen Tongruppen in drei Abschnitte: Gruppe 1–4, Gruppe 5–7 und Gruppe 8–10.

Abb. 4

Die durch Überhänge hervorgehobenen Tonstufen an den Gruppenenden bilden fallende Folgen, die jeweils durch den Grundton abgeschlossen werden. Das wird durch Abbildung 4 verdeutlicht. In den beiden Wiederholungen des ersten Abstiegs ist der Weg zum Grundton durch Auslassen je einer Zwischenstufe abgekürzt (statt c-h-a-g hört man einmal c-h-g und einmal c-a-g): ein Moment zeitlicher Straffung. Beim zweiten Abstieg bleiben die hervorgehobenen Endtöne der melodischen Gesten zwar die gleichen, doch weitet sich der Tonumfang in Gruppe 5 zum Spitzenton: ein Moment melodischer Expansion und Klimaxbildung. Und im dritten Abstieg, der wieder flacher verläuft, kehren lauter schon vernommene Gruppen aus dem ersten Abstieg gleich oder ähnlich wieder (Gruppe 8 gleicht Gruppe 1, Gruppe 9 ist gleich 3, Gruppe 10 gleich 4): ein Moment der Rundung. Straffung, Ausweitung und Abflachung, Abrundung sind die bestimmenden Momente der melodischen Form des Liedes. Hinsichtlich seiner melodischen Syntax fällt der Wechsel zwischen abgeschlossenen und offenen Tongruppen ins Gewicht: Gruppen, die auf dem Grundton enden, wirken relativ abgeschlossen, alle anderen relativ offen. Mittelalterliche Autoren sprechen von einem ›apertum‹-›clausum‹-Effekt. Er begründet eine hypotaktische Relation zwischen melodischen Membra. Da geschlossene Abschnitte paradigmatisch auf offene folgen, das Geöffnete als dem Beschließenden vorausgehend gedacht wird, sprechen andere Autoren auch, unter Verwendung zweier aus Texten der Logik vertrauter Begriffe, von ›antecedens‹-›consequens‹-Relatio-

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nen. 25 Auch dies ist in Abbildung 4 verdeutlicht: Die sich zum Grundton senkenden Folgen von Tongruppen bilden Folgen offen-vorgängiger und geschlossennachfolgender Membra. Dadurch wirkt der auf den Grundton zusteuernde Tonverlauf sozusagen ›formlogisch‹ in seiner Richtung festgelegt: ein Moment formaler Stringenz, das durch einen weiteren Effekt verstärkt wird, nämlich durch den Wechsel zwischen quasi femininen Endungen mit sich senkendem Überhang (allen offenen Endungen auf wechselnden Tonstufen) und quasi maskulinen auf einem Einzelton (stets der geschlossenen Endung auf dem g). Folgt die Gruppe mit der maskulinen auf Gruppen mit femininer Endung, stellt sich die finale Wirkung eines melodischen ›tronco‹-Schlusses ein. Der Tonverlauf weist ein prägnantes Betonungsprofil auf. Betont wirken die geradzahligen Positionen: die vierte Position der offenen Gruppen infolge der Dehnung, die sie erfährt, die zweite Position in allen Gruppen infolge des melodischen Anstiegs am Beginn. Lediglich die sechste Gruppe setzt auf dem Höhepunkt der Melodie vom Spitzenton aus fallend ein. Das regelmäßige Alternieren zwischen unakzentuierten (ungeraden) und akzentuierten (geraden) Positionen hat einen auftaktigen, steigenden, sozusagen ›jambischen‹ Tonfall der Melodie zur Folge. IV Soweit wurde die Melodie in textlosem Zustand analysiert. Gesungen wurde sie auf die lateinischen Verse von ›De ramis cadunt folia‹, zu denen sie in der Handschrift aufgezeichnet ist. Dieser Text lautet nach Peter Dronkes 26 Edition mit einer (an der Vorstellung einer Interlinearversion orientierten) deutschen Übersetzung: I

De ramis cadunt folia, nam viror totus periit. Iam calor liquit omnia et abiit; nam signa celi ultima sol peciit.

Die Blätter fallen von den Zweigen, denn das ganze Grün ist abgestorben. Schon hat die Wärme alles verlassen und ist weggegangen; denn das äußerste der Sternzeichen hat die Sonne aufgesucht.

25 Zu diesen Termini bei Johannes de Grocheo und Johannes de Garlandia Fritz Reckow, Das Organum, in: Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen, hg. von Wulf Arlt u. a., Bern u. a. 1973, S. 462–463. 26 Dronke [Anm. 22], Band I, S. 288–290.

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II

Iam nocet frigus teneris et avis bruma leditur; et filomena ceteris conqueritur, quod illis ignis eteris adimitur.

Schon schadet Frost allem Zarten, und der Vogel wird von der Kälte verletzt; und die Nachtigall den anderen (Vögeln) klagt, dass ihnen das Feuer des Himmels genommen wird.

III

Nec limpha caret alveus, nec prata virent erbida; sol nostra fugit aureus confinia. Est inde dies niveus, nox frigida.

Weder fehlt dem Flussbett das Wasser, noch grünen die grasreichen Wiesen; die goldene Sonne ist entflohen aus unseren Gegenden. Und dann ist da verschneiter Tag, eiskalte Nacht.

IV

Modo frigescit quiquid est, sed solus ego caleo; immo sic mihi cordis est quod ardeo: hic ignis tamen virgo est qua langeo.

Nun friert alles, was da ist, aber mir allein wird warm; ich mag es sogar, dass ich brenne: ist dieses Feuer doch das Mädchen, nach dem ich mich sehne.

V

Nutritur ignis osculo et leni tactu virginis: in suo lucet oculo lux luminis; nec est in toto seculo plus numinis.

Genährt wird das Feuer vom Kuss und von der weichen Berührung des Mädchens: in seinem Auge leuchtet das Licht des Lichts; und nichts in aller Welt ist göttlicher als das.

VI

Ignis grecus extinguitur cum vino iam accerimo; sed iste non extinguitur miserrimo; immo fomento alitur uberimo.

Griechisches Feuer lässt sich löschen schon mit sauerstem Wein; doch dieses (Feuer) lässt sich (selbst) im traurigsten Liebenden nicht löschen; es wird sogar genährt von ergiebigstem Brennstoff.

Die Verse reimen sich nach dem Muster ab ab ab und bilden dadurch Paare teils ungleicher, teils gleicher Silbenzahl: 8+8, 8+4, 8+4. Alle Verse sind auf der drittletzten Silbe betont, also als proparoxytonisch zu bezeichnen, nach der von Dag Norberg 27 eingeführten Konvention abgekürzt: pp. Die vier langen Verse (8pp) erstrecken sich über jeweils zwei Tongruppen der Melodie, die beiden kurzen 27 Dag Norberg, Introduction à l’étude de la versification latine médiévale, Stockholm 1958. Englische Ausgabe: An Introduction to the Study of Medieval Latin Versification, hg. von Jan Ziolkowski, Washington 2004.

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(4pp) über eine Gruppe. Dabei kommt es zu einer permanenten Diskrepanz zwischen Unterteilung des Tonverlaufs in Vierergruppen und der Unterteilung der Verse, denn die melodische Zäsur zwischen den strukturell analogen oder identischen Tongruppen durchschneidet fast immer ein Wort: De ramis ca–dunt folia, nam viror to–tus periit, iam calor li–quit omnia. Nur bei drei der 24 langen Verse verläuft eine Wortgrenze in der Zeilenmitte. Die bei weitem häufigste Unterteilung ist 1+2+2+3 (oder, mit Angabe der Endbetonungen der Segmente 1+2p+2p+ 3pp):

I

1

2p

2p

3pp

De nam Iam

ramis viror calor

cadunt totus liquit

nam

signa

celi

folia, periit. omnia abiit; ultima peciit.

et sol

II

III

IV

Iam

nocet

frigus

et et

avis filo-

bruma mena

quod

illis

ignis

Nec nec sol

limpha prata nostra

caret virent fugit

Est

inde

dies

Mosed im-

do frisolus mo sic

gescit ego mihi

hic

ignis

tamen

teneris leditur; ceteris con- queritur, eteris ad- imitur.

alveus, erbida; aureus con- finia. niveus, nox frigida.

quiquid est, caleo; cordis est quod ardeo: virgo est qua langeo.

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V

VI

Nuet in

tritur leni suo

ignis tactu lucet

nec

est in

toto

Icum sed

gnis grevino iste

cus exiam acnon ex-

im-

mo fo-

mento

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osculo virginis: oculo lux luminis; seculo plus numinis.

miu-

tinguitur cerimo; tinguitur serrimo; alitur berimo.

Das 4+4 der Melodie und das 1+2+2+3 des Textes können nirgendwo zur Deckung kommen. Wo sich am Ende der Tongruppen die Stimme senken möchte, drängt das zerteilte Wort zum Weitersingen. Erst am Versende treffen sich Text und Melodie zu gemeinsamen Pausen. Das hat eine permanente klangliche Gegenstrebigkeit in der Tektonik des Liedes zur Folge. Auch auf der Ebene der Betonung kommt es zu einem Widerstreit zwischen den textlichen und den melodischen Gegebenheiten: Die als letzte Silbe eines Wortes an sich unbetonte Endsilbe der Verse und die als Anfangssilbe eines zweisilbigen Worte stets betonte vierte Silbe des Verses fallen auf melodisch analoge Positionen und werden melodisch gleich stark hervorgehoben. Das ist besonders deutlich, wo eine erste und eine zweite Vershälfte melodisch identisch sind (wie erste Hälfte von Vers 2 und die zweite von Vers 5). Auch wenn es eine Übertreibung wäre, zu behaupten, die Melodie vertrage sich nicht mit dem Text, mit dem sie überliefert ist, sind die aufgedeckten strukturellen Widersprüche merkwürdig genug, um eine Erklärung zu fordern. V Eine solche Erklärung könnte nun eben sein, dass diese Melodie nicht als Vertonung der lateinischen Verse von ›De ramis cadunt folia‹ entstanden ist, sondern zusammen mit den okzitanischen Versen des Liedes ›Farai un vers de dreyt nien‹ Wilhelms von Aquitanien. Wilhelms Text nach der Edition von Dietmar Rieger, mit einer der Verseinteilung möglichst konformen Übersetzung, die derjenigen Riegers weitestgehend folgt: 28 28

16–19.

Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I: Lieder der Trobadors, Stuttgart 1980, S.

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I

Farai un vers de dreyt nien: non er de mi ni d’autra gen, non er d’amor ni de joven, ni de ren au, qu’enans fo trobatz en durmen sobre chevau. Ich werde ein Lied machen über rein gar nichts: es wird nicht über mich sein, noch über andere Leute, es wird nicht über Liebe sein, noch über Jugend, noch über etwas anderes, denn gedichtet wurde es im Schlaf auf dem Pferd.

II

No sai en qual hora.m fuy natz; no sui alegres ni iratz, no suy estrayns ni sui privatz, ni no.n puesc au, qu’enaissi fuy de nueitz fadatz sobr’un pueg au. Ich weiß nicht, zu welcher Stunde ich geboren wurde; ich bin nicht fröhlich noch traurig, ich bin nicht fremd, noch bin ich von hier, und ich kann nicht anders, denn so wurde ich des Nachts vom Schicksal begabt auf einem hohen Berg.

III

No sai quora.m suy endurmitz, ni quora.m velh, s’om no m’o ditz. Per pauc no m’es lo cor partitz d’un dol corau; e no m’o pretz una soritz, per sanh Marsau! Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin, noch wann ich wache, wenn man es mir nicht sagt. Es fehlte wenig und mir wäre das Herz gebrochen wegen eines vom Herzen kommenden Schmerzes; und ich schätze das nicht ein wie eine Maus, beim heiligen Martial!

IV

Malautz suy e tremi murir; e ren no.n sai mas quan n’aug dir. Metge querrai al mieu albir,

Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador ?

e no sai cau; bos metges er si.m pot guerir, mas non, si amau. Ich bin krank und zittere vor dem Sterben; und ich weiß gar nichts davon, als was man mir darüber sagt. Ich werde einen Arzt aufsuchen nach meinem Gutdünken, und ich weiß nicht welchen; es ist ein guter Arzt, wenn er mich heilen kann, aber nicht, wenn ich noch kränker werde.

V

Amigu’ai ieu, no sai qui s’es: qu’anc non la vi, si m’ajut fes; ni.m fes que.m plassa ni que.m pes, ni no m’en cau: qu’anc non ac Norman ni Frances dins mon ostau. Ich habe eine Geliebte, ich weiß nicht, wer sie ist: denn niemals sah ich sie, bei meiner Treu; und sie tat mir nichts, was mir gefallen könnte, noch was mich bekümmern möchte: denn niemals gab es einen Normannen noch einen Franzosen in meinem Haus.

VI

Anc non la vi et am la fort; anc no n’aic dreyt ni no.m fes tort: quan non la vey, be m’en deport; no.m pretz un jau: qu’ ie.n sai gensor et bellazor, e que mais vau. Niemals sah ich sie und liebe sie stark; niemals bekam ich von ihr Recht noch tat sie mir Unrecht: denn sehe ich sie nicht, finde ich wohl Spaß daran; ich schätze es nicht ein wie einen Hahn: denn ich weiß eine lieblichere, und schönere, und die mehr wert ist.

VII

Fag ai lo vers, no say de cuy; e trametrai lo a selhuy que lo.m trametra per autruy lay vers Anjau, que.m tramezes del sieu estuy la contraclau.

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Ich habe das Lied gemacht, ich weiß nicht über wen; und übermitteln werde ich es dem, der es mir einem anderen übermitteln wird, dorthin gegen Anjou, damit der mir übermitteln wird für seine Hülle den Nachschlüssel.

In Abbildung 5 ist die erste Strophe von ›Farai un vers de dreyt nien‹ versuchsweise mit der Melodie von ›De ramis cadunt folia‹ verbunden. Wilhelms Lied hat nicht nur insofern die gleiche textliche Form wie das lateinische, als beide Lieder, wie man leicht erkennt, die gleiche Anordnung achtsilbiger und viersilbiger Verse aufweisen. Vor allem stimmt der Text des okzitanischen Liedes strukturell auch mit der M e l o d i e des lateinischen Liedes überein, und zwar verblüffenderweise in höherem Maße als dessen eigener Text. Wilhelms Verse weisen nämlich fast durchgängig eine Wortgrenze in der Mitte der langen Verse auf. Sie ist (entgegen der Praxis aller Editionen) im Abdruck des Textes durch Zeilenteilung markiert. Nur in 6 von 28 Fällen fehlt der Einschnitt. Dem 4+4 der Melodie entspricht das 4+4 des Textes.

Abb. 5

Doch nicht nur diese Wortgrenze teilt die Verse in der Mitte. Auch die Einheiten von Satzbau und Sinn verteilen sich häufig auf die beiden Hälften des Verses. Sie decken sich mit den das Lied eröffnenden weder-noch-Konstruktionen und erlauben – auf die Melodie von ›De ramis cadunt folia‹ – einen Vortrag von großer

Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador ?

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gestischer Prägnanz: non er de mi – ni d’autra gen, / non er d’amor – ni de joven, / ni de ren au. Ebenso gibt die Mittelzäsur dem Singenden Gelegenheit zu effektvollen Kunstpausen vor der überraschenden oder paradoxalen Fortsetzung eines Gedankens: Farai un vers ... de dreyt nien, e no m’o pretz ... una soritz (III / 5), Amigu’ ai ieu ... no sai qui s’es (V / 1), anc non la vi ... et am la fort (VI / 1), Fag ai lo vers ... no say de cuy (VII / 1). Dass die Melodie mit den Versen des okzitanischen Liedes der Konstruktion nach ›glatter‹ übereinstimmt als mit den lateinischen von ›De ramis cadunt folia‹, würde durch die Annahme erklärbar, sie sei primär zum gesungenen Vortrag von Wilhelms Dichtung entstanden und erst nachträglich als poetische Formvorlage und als Vortragsform des lateinischen Liebesliedes verwendet worden. Diese Annahme würde auch erklären, weshalb die Position der letzten Silbe der langen Verse melodisch hervorgehoben ist, obwohl sie auf die sprachlich grundsätzlich unbetonte Endsilbe eines lateinischen Wortes fällt, und zwar genauso stark hervorgehoben wie die Position der vierten Silbe in diesen Versen, die durchgängig auf die betonte Anfangssilbe zweisilbiger Wörter fällt. In der melodischen Hervorhebung hätte sich sozusagen ein klanglicher Abdruck der sprachlichen Betonung innerhalb des okzitanischen Verses erhalten, zu dem die Melodie ursprünglich formuliert worden wäre: die oxytonischen Versausgänge von ›Farai un vers de dreyt nien‹. Die lateinischen Verse gingen einher mit einer romanisch sprechenden Melodie. VI Doch darf von einer Gleichheit der Versformen gesprochen werden, wenn die Reimmuster voneinander abweichen ? Bei Wilhelm reimen sich ja jeweils die langen und die kurzen, im lateinischen Lied unabhängig von der Verslänge jeweils die ungeradzahligen und die geradzahligen Verse. Aus dieser Beobachtung ließe sich vielleicht sogar ein Argument zugunsten unserer Vermutung gewinnen. Im lateinischen Lied fallen nämlich die Reimstellen mit melodischen Einschnittstellen auf dem Grundton g zusammen. Das würde verständlich, wenn man erstens annimmt, diese Melodie sei für den Verfasser des lateinischen Liedes das Bekannte und Gegebene gewesen, und zweitens, er habe sich beim Abfassen seines Textes an ihr orientiert, seinen Text nach ihrem Bau geformt. 29 29 Dass die Reime in Wilhelms Lied nicht mit den melodischen Kadenzen zusammenfallen, verbaler und melodischer Gleichklang sich bei ihm also nicht decken, spricht nicht unbedingt gegen eine primäre Zugehörigkeit der Melodie zu seinem Text: Eine derartige Verschränkung der verbalen mit den melodischen Klangbezügen ist in den wenigen mit Notation überlieferten Liedern der frühesten Trobadors keine Seltenheit.

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Eine weitere Beobachtung könnte die Annahme stützen, der lateinische Text sei auf der Basis der vorhandenen Melodie geformt worden: Seine syntaktischen und semantischen Einheiten enden stets auf den melodischen Kadenzen. Das mag die folgende, ein wenig buchhalterisch anmutende Konkordanz melodischer und thematischer Einheiten deutlich machen: Melodische Einheit 1 = Verspaar 1 /2

Melodische Einheit 2 = Verspaar 3 /4

Melodische Einheit 3 = Verspaar 5 /6

I Winterbild: Kahle Bäume

Temperatur: Kälte

Entzug der Wärmequelle: Ferne der Sonne

II Winterbild: Negativer Affekt: Frost, Frieren der Vögel Klage der Nachtigall III Winterbild: Ferne des Sommers

IV Gegensatz: Äußere Kälte – Innere Wärme Auftritt des ICH

Entzug der Wärmequelle: Temperatur: Kälte, Schnee. Ferne der Sonne Entzug der Lichtquelle: Dunkelheit

Positiver Affekt: Freude des ICH

V Erotische Wärmequelle: Erotische Lichtquelle: Küsse und Körper Augen des Mädchens des Mädchens VI Löschbar: das ›griechische‹ Feuer

Entzug der Wärmequelle: Ferne der Sonne

Unlöschbar: das erotische Feuer

Erotische Wärmequelle: Das Mädchen

Bilanz: Unvergleichlichkeit der erotischen Erfahrung

Unerschöpflich: der Brennstoff des erotischen Feuers

Verständlich würde ein solcher Textbefund, wenn man sich vorstellen möchte, der Verfasser habe das der Worte Wilhelms entleerte melodische Behältnis mit seinen eigenen Worten abschnittsweise, in melodischen Etappen, von Kadenz zu Kadenz, sozusagen neu gefüllt, den sprachlichen Umfang gedanklicher Einheiten nach dem Umfang vorgegebener klanglicher Einheiten bemessend. Freilich wäre es auch möglich, dass nicht die melodischen Gegebenheiten, sondern die sprachliche Struktur der ersten Strophe für alle folgenden als Formmodell diente.

Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador ?

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VII Meine schrittweise entwickelte Vermutung ließe sich in folgendem Szenario zusammenfassen: Als Antwort auf die Frage im Titel meines Vortrags sei die Vermutung aufgestellt, in der Notation eines lateinischen weltlichen Liedes aus enger Nachbarschaft zu Wilhelms Hof habe sich die Melodie seines ›Farai un vers de dreyt nien‹ erhalten. 30 Der angenommene Transfer der (textlichen und melodischen) Klangform verliefe dann entgegen der sonst meist eingenommenen Perspektive nicht von einem lateinischen liturgischen klerikalen zu einem romanischen erotischen ritterlichen Lied, sondern vom Romanischen zum Lateinischen, vom Hof ins Kloster, vom dichtenden Grafen und Herzog zum dichtenden Kleriker, und der vermutete Zusammenhang würde nicht ein weltliches mit einem kirchlichen Lied verbinden, sondern zwei, freilich in jeder Hinsicht grundverschiedene, weltliche Lieder. Durch ihre nachträgliche Verbindung mit einem erhaltenen lateinischen Text und ihre Notation in Verbindung mit diesem Text wäre die sonst verlorene weltliche Melodie auf klerikales Pergament gelangt und uns so erhalten geblieben. Der klerikale (vermutlich klösterliche) Dichter von ›De ramis cadunt folia‹ hätte das (vermutlich mündlich) zirkulierende Lied des Grafen (vermutlich vom Hören) gekannt und hätte dessen eingängige und einprägsame Melodie seinen eigenen Versen zugrunde gelegt. Als eine zum Umfang der melodischen Langzeilen passende lateinische Versform hätte er die in seiner Welt alltägliche Form des proparoxytonischen Achtsilbers gewählt, die mit Abstand frequenteste, mit dem Namen des Ambrosius verbundene Versform kirchlicher Hymnen, und die melodischen Kurzzeilen als Hälften dieses Verses behandelt. Sei es, um für seine Zeit ›modern‹ tönende Verse zu gewinnen, sei es, um den Tonfall seiner Verse dem Betonungsprofil der Melodie anzugleichen, hätte er ein Alternieren unbetonter und betonter Silben angestrebt. VIII ›De ramis cadunt folia‹ eine Kontrafaktur zu ›Farai un vers de dreyt nien‹, dessen in keinem Liederbuch notierte Melodie sie für uns konserviert: Vater dieses Gedankens war ein Wunsch. Das sollte uns misstrauisch machen, und zweifelnde Fragen sind erlaubt. Ich stelle sie am besten abschließend noch selbst: 1. Die festgestellte »permanente Diskrepanz« zwischen melodischer und textlicher Konstruktion in ›De ramis‹: Ließe sie sich nicht als weniger problematisch 30 Darüber, ob die anderen Lieder Wilhelms gleicher Form, also auch das textlich gleich beginnende ›Farai un vers, pos mi sonelh‹ ebenfalls auf diese Melodie gesungen worden sind, möchte ich nicht spekulieren.

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beurteilen, als ich es zugunsten meiner Argumentation getan habe? Könnte man die melodischen Überhänge auf der vierten Silbe der Verse nicht als melodische Übergänge zur fünften Silbe hören, nicht als ein unterbrechendes, sondern als ein verbindendes Moment? Dann verliefe die melodische Zäsur nicht nach der vierten Silbe, inmitten eines Wortes, sondern nach der fünften Silbe, wo sie mit Wortgrenzen zusammenfiele. Bei dieser melodischen Artikulation der Verse würden diese in zwei Abschnitte ungleicher Länge unterteilt: 5p + 3pp (De ramis cádunt – folia, / nam viror tótus – periit). Auch zwischen diesen Abschnitten ergäbe sich eine syntaxbildende apertum-clausum-Relation. Dass sich diese Artikulationseinheiten nicht mit den analog gebauten oder gleichen Viertongruppen decken, in die der Tonverlauf in seiner textlosen Gestalt sich gliedert: Könnte das nicht als intendiertes Durchbrechen des sonst ein wenig monotonen Gangs der Melodie gedeutet werden, als pointierte ›Gegenlesung‹ des Tonverlaufs durch seinen Text? 2. Selbst wenn man daran festhält, dass das 4+4 der Melodie und das 1+2+2+3 des Verses eine »permanente klangliche Gegenstrebigkeit in der Tektonik des Liedes« zur Folge habe: Könnte man diese nicht als Merkmal des um 1100 auftretenden neuen Liedkonzeptes interpretieren? Als Interaktion zwischen einer eigenständigen, individuellen und eindeutig artikulierten melodischen Konstruktion und einer ebenso eigenständigen, individuellen und eindeutig artikulierten Versstruktur? Als eine Art ›Polyphonie‹ zwischen der melodischen und der verbalen Klangschicht des Liedes? Das habe ich an anderer Stelle selbst versucht. 31 3. Der festgestellte »Widerstreit« zwischen sprachlicher und melodischer Betonung auf den Endsilben des Verse, dadurch hervorgerufen, dass die prinzipiell unbetonte Endsilbe eines dreisilbigen Wortes am Versende melodisch genauso stark hervorgehoben wird wie die prinzipiell betonte Silbe eines zweisilbigen Wortes im Versinneren: Muss er als »klanglicher Abdruck« einer romanischen Endbetonung betrachtet werden und als ein Indiz darauf, dass die Melodie ursprünglich mit oxytonisch endenden okzitanischen Versen verbunden war? Wäre dieser Widerstreit nicht auch durch die von dem Latinisten Giovanni Orlandi aufgestellte These hinreichend behoben, der zufolge im Mittelalter auf französischem und okzitanischem Sprachgebiet unter dem Eindruck des Romanischen proparoxytonische Wörter oyxtonisch ausgesprochen worden sind? 32 Dann hätte man auch in ›De ramis‹ die dreisilbigen lateinischen Wörter am Versende entgegen der 31

Musikalische Lyrik im Mittelalter [Anm. 9], S. 102. Dazu auch: Gunilla Björkvall und Andreas Haug, Altes Lied – Neues Lied: Thesen zur Transformation des lateinischen Liedes um 1100, in: Poesía latina medieval (siglos V–XV), hg. von Manuel C. Díaz y Díaz und José M. Díaz de Bustamente, Florenz 2005, S. 539–551. 32 Giovanni Orlandi, L’influsso del volgare sull’accento latino nella poesia ritmica medievale, in: Filologia mediolatina 13 (2006), S. 91–102.

Kennen wir die Melodie zu einem Lied des ersten Trobador ?

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antiken Akzentnorm auf der letzten Silbe betont: foliá (oder, mit Haupt- und Nebenakzent, fòliá) statt fólia (oder fólià), periít (oder pèriít) statt périit (oder périìt), omniá (oder òmniá) statt ómnia (oder ómnià), also nicht anders als nién, jovén, durmén in ›Farai un vers‹.

Die Himmelsstraße in Otfrids ›Evangelienbuch‹ von Dieter Kartschoke, Berlin

Engel sind ›Boten‹. 1 Im Alten und Neuen Testament stellen sie, als Gesandte Gottes, die direkte Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits her. Als immaterielle Geistwesen sind sie gestaltlos. Wenn sie den Menschen erscheinen, offenbaren sie sich als Licht und Stimme. Solche Angelophanien ereignen sich vor allem in Träumen und Visionen. Oder sie nehmen menschliche Gestalt an, dann bewegen sie sich in Zeit und Raum. Wenn Engel zwischen Himmel und Erde verkehren, kommen sie ›von oben herab‹ und kehren nach Erledigung ihres Auftrags ›nach oben‹ zurück. 2 Das ist auch der Weg des Heils. Der Logos steigt auf die Erde herab, nimmt in Jesus leibliche Gestalt an und kehrt nach Vollendung des Erlösungswerks als Sohn Gottes in den Himmel zurück. Die Herabkunft des Logos vollzieht sich in der Botschaft des Engels Gabriel an Maria (Lc 1,26f.), die Himmelfahrt in Form einer Entrückung: der Auferstandene wird emporgehoben (elevatus est Act 1,9), in den Himmel getragen (ferebatur in caelum Lc 24,51) und in ihn aufgenommen (assumptus est in caelum Mc 16,19, vgl. Act 1,2). Der Weg zwischen Himmel und Erde, Erde und Himmel bleibt verborgen. Der menschliche Blick reicht nur bis zu den Wolken (et nubes suscepit eum ab oculis eorum Act 1,9), jener Sichtgrenze, die an einschlägigen Schriftstellen immer wieder genannt wird und die sich in der christlichen Kunst als ikonographischer Topos verfestigt hat. Manchmal aber reicht der Blick auch darüber hinaus. In der Genesis wird erzählt, wie Jakob, der Sohn Isaaks und Enkel Abrahams, im Schlaf eine göttliche Verheißung empfängt. Ich zitiere im Interesse an der traditionellen Wortwahl die Übersetzung Luthers: Vnd jm trewmet / Vnd sihe / eine Leiter stund auff erden / die rüret mit der spitzen an den Himel / Vnd sihe / die Engel Gottes stiegen dran auff vnd nider / VND der 1 Ich verweise hier nur auf den großen Sammelartikel im Reallexikon für Antike und Christentum, dessen vierter Teil der christlichen Auffassung gewidmet ist: RAC 5 (1962), Sp. 109–120. 2 Vgl. dazu ›Aufwärts – abwärts‹, in: RAC 1 (1950), Sp. 954–957.

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HERR stund oben drauff / vnd sprach / Jch bin der HERR / Abrahams deines vaters Gott / vnd Jsaacs Gott / Das Land da du auff ligest / will ich dir / vnd deinem Samen geben. (Gen 28,12f.) 3

Im Traum Jakobs ›steigen‹ Engel die Leiter (Treppe) ›auf und nieder‹ (ascendentes et descendentes). Sie fungieren nicht als Boten, sondern markieren in der ständigen Bewegung des Ab- und Aufstiegs den Weg des Worts, das Gott selbst spricht. In der christlich-allegorischen Deutung weist die alttestamentliche ›Himmelsleiter‹ voraus auf Maria 4 – nicht auf den Weg, den der Engel der Verkündigung nimmt, wie man erwarten könnte, denn von diesem Weg ist nicht die Rede. Im Lukasevangelium, das allein die Verkündigung erzählt, wird Gabriel von Gott ausgesandt (missus est angelus Gabriel a Deo Lc 1,26) – und ist auch schon da. Er tritt ein und spricht zu Maria (Et ingressus angelus ad eam dixit Lc 1,28). Immer wenn die Heilige Schrift schweigt, wird die fromme Phantasie in Gang gesetzt, um die Lücken auszufüllen. So kam es auch dazu, dass der Engel Gabriel fliegen lernte. 5 Das war möglich, weil im Alten und Neuen Testament geflügelte Engel erwähnt werden, 6 auch wenn an nur wenigen Stellen davon die Rede ist, dass sie tatsächlich fliegen. 7 Für Otfrid von Weißenburg waren das geläufige Vorstellungen. Im ›Evangelienbuch‹ ist entsprechend den ausgewählten Schriftstellen wiederholt von Engeln die Rede. Ein Engel erscheint den Sternkundigen im Schlaf (I, 17,73) und verbietet 3 D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Textredaktion Friedrich Kur, München 1972. – Dass man heute das visionäre Bild mit der Anschauung eines mesopotamischen Stufenturms erklärt und lieber von ›Treppe‹ spricht, tut nichts zur Sache. Vgl. Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe deutsch hg. von Alfons Deisler und Anton Vögtle in Verbindung mit Johannes M. Nützel, Freiburg im Breisgau 1985 u. ö. z. St. 4 Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert Kirschbaum SJ in Zusammenarbeit mit Günter Bandmann [u. a.], Bd. 1–8, Roma, Freiburg, Basel, Wien 1974 [im Folgenden LCI], hier Bd. II, Sp. 283f. 5 Gunnar Berefelt, A Study on the Winged Angel. The Origin of a Motif, Stockholm 1968. – Der erste Beleg für die bildliche Darstellung des fliegenden Verkündigungsengels findet sich in einem Mosaik aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts in S. Maria Maggiore zu Rom. Vgl. LCI I [Anm. 4], Sp. 628f. 6 Die Cherubim auf der Bundeslade (Ex 25,20; 37,9; III Rg 6,27; 8,7; II Par 5,8) oder die Seraphim in der Vision des Jesaja (Is 6,2). 7 Is 6,6 Et volavit ad me unus de seraphim; Apo 14,6 Et vidi alterum angelum volantem per medium caeli. – Hinzu kam die Anschauung geflügelter Wesen (Genien, Victoria etc.) in der antiken Mythologie und Kunst, deren Einfluss auf die christliche Bilderwelt überall zu greifen ist.

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ihnen, von dem neugeborenen Kind noch einmal zu Herodes zurückzukehren. Ein Engel spricht zu Joseph (I, 19,3) und befiehlt ihm, mit Maria und dem Kind nach Ägypten zu fliehen. Engel treten mitten ins Leben der Menschen. Plötzlich steht Gabriel am Altar des Priesters Zacharias (I, 4,21f.). Unvermittelt erscheint der Engel den Hirten auf dem Feld (I, 12,3f.) und nach ihm ist da die Menge der himmlischen Heerscharen (I, 12,21f.). Ein Engel wälzt den Stein vom Grab des Herrn (V, 4,25f.) und erschreckt mit seinem strahlenden Anblick die Frauen (V, 4,31–34). Wenn von der jeweiligen Herabkunft die Rede ist, so heißt es lakonisch, der Engel kommt ir himile (I, 5,3), fon himile (I, 4,63; I, 12,30), fon himile obana (II, 1,12), fon himilriches hohi (I, 4,64; V, 4,25) oder, mit Betonung der Bewegungsrichtung, fon himilriche herasun (V, 20,5). Entsprechend führt die Rückkehr zi himile (I, 5,71; I, 12,33) oder noch darüber hinaus Ubar hohi himilo (V, 18,9). Das sind nicht nur stilistische, sondern auch semantische Varianten, denn die Rede vom himil ist mehrdeutig, je nachdem ob die kosmische Überwelt oder das spirituelle Jenseits gemeint sind. Allerdings wird in der geistlichen Hermeneutik das eine vom andern nie völlig getrennt. Das heißt für die hier verfolgte ikonologische Problematik: auch die Dominanz der spirituellen Auffassung des Himmels löscht die Vorstellung von dessen physischer Gestalt und Erscheinung nicht aus. Der ›konkrete‹ Weg vom Himmel zur Erde und zurück von der Erde zum Himmel interessiert in den Schriften des Neuen Testaments nicht. Umso mehr beschäftigt er den Bibeldichter. Das gilt vor allem für zwei Szenen: die Verkündigung an Maria (Lc 1,26–38) und die Himmelfahrt Christi (Mc 16,19; Lc 24,50f.; Act 1,9–11). Otfrid widmet ihnen jeweils ein eigenes Kapitel (I, 5 MISSUS EST GABRIHEL ANGELUS und V, 17 IGITUR QUI CONVENERANT INTERROGABANT EUM), die er beide breit ausgestaltet und ausdrücklich aufeinander bezieht. 8 Das hat in der Forschung die gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Zu nennen sind die Arbeiten von Wolfgang Haubrichs, Margot Schmidt, Ulrich Ernst, Gisela Vollmann-Profe und Karin Wilcke, auf die ich mich im Folgenden beziehe. 9 8 Otfrids Evangelienbuch, hg. und erklärt von Oskar Erdmann, Halle a. S. 1882 (Germanistische Handbibliothek V), hier S. 356 zu I, 5,5–6 und S. 474 zu V, 17. – Ich zitiere den althochdeutschen Text nach: Otfrids Evangelienbuch, hg. von Oskar Erdmann, Sechste Auflage besorgt von Ludwig Wolf, Tübingen 1973 (ATB 49). 9 Wolfgang Haubrichs, Otfrids Verkündigungsszene, in: ZfdA 97 (1968), S. 176–189. – Margot Schmidt, Otfrid I 5,56 Gidúat er imo frémidi thaz hoha hímilrichi. Zu Otfrids Verkündigungsszene, in: PBB 94 (1972), S. 26–51. – Ulrich Ernst, Poesie als Kerygma. Christi Geburt im ›Evangelienbuch‹ Otfrids von Weißenburg, in: PBB 95 (1973),

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Das Verkündigungskapitel des ›Evangelienbuchs‹ ist in vieler Hinsicht auffällig. Es setzt ein mit der biblischen Zeitangabe in mense autem sexto (Lc 1,26), die variiert und umständlich paraphrasiert wird: Ward after thiu irscritan sar, so moht es sin, ein halb jar, manodo after rime thria stunta zwene. (I, 5,1f.) ›Danach war etwa ein halbes Jahr vergangen, nach Zahl der Monate dreimal zwei.‹

Nach dieser pedantischen Überleitung schlägt Otfrid einen völlig neuen Ton an: Tho quam boto fona gote, engil ir himile, braht er therera worolti diuri arunti. Floug er sunnun pad, sterrono straza, wega wolkono zi theru itis frono; Zi ediles frouun, selbun sancta Mariun. (I, 5,3–7) ›Da kam ein Bote von Gott, ein Engel aus dem Himmel, der brachte uns Menschen (dieser Welt) eine gute Botschaft. Er flog über die Sonnenbahn, die Sternenstraße, die Wolkenwege zu der heiligen Frau, der edlen Herrin, zu Sancta Maria selbst.‹

Die dreimalige Variation der Bahn des Engels – sunnun pad / sterrono straza / wega wolkono – betont den Wegcharakter (pad, straza, wega). Die Genitivattribute (sunnun, sterrono, wolkono) sind objektiv zu verstehen als Charakterisierung der Teilstrecken durch die entsprechenden Sphären. Das machen die stark verkürzten Verse nicht ganz deutlich, aber wenn der Engel die ›Bahn der Sonne‹, die ›Straße der Sterne‹ und die ›Wege der Wolken‹ (verstanden als subjektive Genitive) entlang geflogen wäre, hätte er die Erde nie erreicht. Dass Otfrid diese Verse so verstanden hat, wird im fünften Buch deutlich, wo er Verkündigung und Himmelfahrt im Bild der Himmelsstraße aufeinander bezieht (s. u.). Der Stilwechsel ist unüberhörbar. Die Variationen (boto/ engil, fona gote/ ir himile, pad / straza / wega, itis/ frouua / Maria), der verknappte Versbau, der einmal gänzlich fehlende Endreim (pad / straza) und die Stabreime (sterrono straza, wega wolkono) haben die Editoren und Interpreten seit je irritiert und fasziniert. Zwar konnten sie solche Erscheinungen vereinzelt auch an anderen Stellen des ›Evangelienbuchs‹ beobachten, aber deren Häufung in wenigen Versen bedurfte der Erklärung. Man hat von »altepischem Stil« 10 gesprochen, der gegen die Intentionen S. 126–162, hier S. 141f. – Gisela Vollmann-Profe, Kommentar zu Otfrids Evangelienbuch. Teil I: Widmungen. Buch I, 1–11, Bonn 1976, S. 191–211. – Karin Wilcke, Christi Himmelfahrt: Ihre Darstellung in der europäischen Literatur von der Spätantike bis zum ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1991 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 159–184. 10 Gustav Ehrisman, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Erster Teil: Die althochdeutsche Literatur, München 1932, S. 198.

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Otfrids hier noch einmal durchbreche. Man hat auch die gegenteilige These vertreten, dass es sich um bewusste Rückgriffe Otfrids handele, denen (wenn nicht für ihn selbst, so doch im Rückblick des Literaturhistorikers) eine geschichtssymbolische Bedeutung zukomme: Hier »lösen alte und neue Form einander zeichenhaft ab: der Engelflug vom Himmel zur Erde verrät noch die alte Art (3–7), die Botschaft des Engels aber ringt sich mühsam und entschlossen zum neuen Verfahren durch (21–26). Was in der Zeit geschah, konnte noch im germanischen Stil dargestellt werden; was aber die Überwindung der Zeit verkündete, sucht den neuen Stil. Im Abflug des Engels zu Maria spüren wir noch etwas von der Wucht des germanischen Verses (3f. Tho quam bóto fòna góte, éngìl ir hímilè), im Rückflug zum Himmel ist es ein leichtes Schweben geworden (71 Éngil flóug zi hímilè), das keine Widerstände mehr kennt.« 11 Das ist eine Mystifikation, über die man nicht mehr ernsthaft wird diskutieren wollen. Nicht zu bestreiten aber ist die hörbar stärkere Traditionsbindung der Verse, für die auch andere Indizien sprechen. In der Lexik ist es die Verwendung des Wortes itis, das auch in der übrigen volkssprachigen Dichtung der Karolingerzeit nur noch selten begegnet. Im ›Heliand‹ wird neben Maria auch Elisabeth, die Mutter des Täufers, idis genannt. 12 Im ersten ›Merseburger Zauberspruch‹ werden idisi aufgerufen, 13 um dem Lösungszauber Kraft zu verleihen. 14 Aber nicht die zitierten Verse allein sind auffällig, das ganze Verkündigungskapitel weist Besonderheiten auf, die schwer zu erklären sind. Dazu gehören Abweichungen vom biblischen Wortlaut, die Otfrid sich sonst nicht gestattet. So fehlt die Paraphrase der lateinischen Worte in civitatem Galileae, cui nomen erat Nazareth – freilich im Einklang mit der durchweg zu beobachtenden Reduktion

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Henning Brinkmann, Verwandlung und Dauer. Otfrids Endreimdichtung und ihr geschichtlicher Zusammenhang, in: Wirkendes Wort 2 (1951 /52), S. 1–15. Zitiert nach dem Wiederabdruck in: Die Genese der europäischen Endreimdichtung, hg. von Ulrich Ernst und Peter-Erich Neuser, Darmstadt 1977 (WdF 444), S. 66–88, hier S. 67. 12 Heliand und Genesis, hg. von Otto Behaghel, 9. Aufl. bearb. von Burkhard Taeger, Tübingen 1984 (ATB 4), V. 79 uuas iru gialdrod idis (Elisabeth) und V. 261 idis enstio fol (Maria). 13 Althochdeutsches Lesebuch. Zusammengestellt und mit Wörterbuch versehen von Wilhelm Braune. Fortgeführt von Karl Helm, 15. Aufl. bearb. von Ernst A. Ebbinghaus, Tübingen 1969, XXXI, 1,1. 14 Wenn es stimmt, dass Otfrid »mit der Charakterisierung Marias als itis frono das mit der Verkündigung verbundene Erlösungsversprechen Gottes« andeuten und Maria »als verheißene Gottesmutter« kennzeichnen wollte (so Schmidt [Anm. 9], S. 45f.), läge eine Interpretatio christiana der traditionellen Dichtersprache vor.

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der biblischen Namen. 15 Auch der Name Joseph, der mehrfach an anderen Stellen genannt wird (I, 11,25; 19,1; 21,3; 22,11), ist hier weggelassen wie übrigens auch schon der Name Gabriel im Eingang des Kapitels, wo auch die lateinische Formulierung missus est angelus Gabrihel a Deo freier als sonst wiedergegeben wird: Tho quam boto fona gote, engil ir himile (I, 5,3). In der Regel bleibt Otfrid sehr viel näher beim Wortlaut der Vulgata. Der Engel Gabriel spricht zu Zacharias: missus sum (Lc 1,19), bei Otfrid: Sant er mich (I, 4,63). Jesus spricht: non sum missus (Mt 15,24), bei Otfrid: ich ni bin gisentit hera (III, 10,23) usw. 16 Zu den Eigentümlichkeiten des Verkündigungskapitels gehört schließlich auch die Häufung apokrypher Motive. 17 Ich erinnere nur an die folgenden Verse: thie fordoron bi barne warun chuninga alle. Giang er in thia palinza, fand sia drurenta, mit salteru in henti, then sang si unz in enti; Wahero duacho werk wirkento Diurero garno, thaz deda siu io gerno. (I, 5,8–12) ›Ihre Vorfahren waren ausnahmslos Könige. Er (der Engel) betrat den Palast und traf sie in Gedanken versunken an, den Psalter in Händen, den sie vollständig durchlas, schöne Stoffe aus kostbaren Garnen webend, wie es ihre Gewohnheit war.‹

Apokryph ist die königliche Abkunft Marias 18 , ist das Bild der webenden Jungfrau 19 und auch das Nebeneinander von Buch und Spindel. 20 In der exegetischen Literatur finden sich einschlägige Stellen, auf die Otfrid sich beziehen konnte. 21 Schließlich hat man apokryphen Einfluss auch für die ›Trauer‹ Marias erwogen. Aber die Semantik von druren an dieser Stelle ist umstritten. Ist hier wirklich der 15 Die Arbeit von Joseph Herber, Die Biblischen Eigennamen im Althochdeutschen, besonders bei Otfrid von Weissenburg, in: Archiv für elsäss. Kirchengeschichte 4 (1929), S. 115–136, behandelt die Akzentuierung und trägt zu der hier angesprochenen Frage nichts bei. 16 Vgl. die Belegliste in: Otfrids Evangelienbuch, hg. von Paul Piper. II. Theil: Glossar und Abriss der Grammatik, Freiburg i. B. 1887, S. 400f. 17 F. P. Pickering, Christlicher Erzählstoff bei Otfrid und im Heliand, in: ZfdA 85 (1954 /55), S. 262–292. – Achim Masser, Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1969. 18 Erdmann [Anm. 8], S. 356. – Masser [Anm. 17]; S. 107f. 19 Vgl. Protoevangelium des Jakobus, in: Edgar Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 4. Aufl. Durchgesehener Nachdruck der 3. Auflage hg. von Wilhelm Schneemelcher. I. Band: Evangelien, Tübingen 1968, S. 277– 290, hier S. 284. 20 Im Kindheitsevangelium des Pseudo-Matthäus ist die Rede davon, dass Maria abwechselnd betete und spann. 21 Die einschlägigen Textstellen zitiert Anton E. Schönbach, Otfridstudien II, in: ZfdA 38 (1894), S. 336–361, hier S. 337.

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Affekt (Trauer) gemeint bzw. sein Ausdruck in der Körperhaltung (niedergeschlagene Augen, gesenkter Kopf)? 22 Aber sollte Maria in diesem Augenblick ›trauern‹? Die kontroversen Deutungsangebote der jüngeren Forschung 23 erledigen sich, wenn man bei Oscar Erdmanns Glossierung ›ernst, nachdenklich sein‹ bleibt, die durch den Wortlaut des Lukasevangeliums turbata est […] et cogitabat (Lc 1,29) abgesichert ist. Wie sind diese Auffälligkeiten zu erklären? Grundsätzlich ist denkbar, dass das Verkündigungskapitel einer frühen Entstehungsphase angehört und deshalb noch die formale, stilistische und konzeptionelle Unsicherheit des Dichters aufweist. 24 Das schließt die Möglichkeit ein, dass Otfrid ältere Gedichte aus der Sphäre der oral poetry hat anklingen lassen. 25 Solche Reminiszenzen sind in andern Fällen zweifelsfrei nachweisbar. 26 Der stabende Langvers Thar ist lip ana tod, lioht ana finstri (I, 18,9) begegnet auch im ›Muspilli‹, der endreimende Vers thaz er uns firdanen giwerdo ginadon (I, 7,28) ist identisch mit einem Vers des althochdeutschen ›Petruslieds‹. Anklänge an den zweiten ›Merseburger Zauberspruch‹ (2,5b = I, 27,31b) und an das ›Hildebrandslied‹ (9b = II, 4,26b) sind weniger deutlich, kommen aber durchaus auch in Frage. Wie immer der jeweilige Zusammenhang zu denken ist, so spricht doch viel dafür, dass Otfrid die Verse über den Weg des Verkündigungsengels einem – sei es mündlich verbreiteten oder auch schon aufgezeichneten – Stabreimgedicht entlehnt hat. Für diese These wäre auch ein Indiz in Anspruch zu nehmen, das vielleicht schon der Rezeption, in jedem Fall aber noch der Zeit und Umgebung Otfrids zuzurechnen ist. In der Heidelberger Handschrift (P), die in Weißenburg geschrieben wurde, sind die beiden Zeilen Tho quam boto fona gote, engil ir himile, / braht er therera worolti diuri arunti neumiert, also mit Rezitationszeichen versehen. Das kann doch nur heißen, dass die so ausgezeichneten Verse oder das ganze Kapitel dem gesonderten Vortrag empfohlen wurden. 27 Ist dem Schreiber oder Benutzer der Handschrift, von dem die Neumen stammen, aufgefallen, dass 22 Die Herausgeber glossieren druren mit ›traurig sein‹ (Piper [Anm. 16]), ›in ernster, nachdenklicher Stimmung‹ (Erdmann [Anm. 8]); ›ernst, nachdenklich sein‹ (Otfrids Evangelienbuch, hg. von Oskar Erdmann, Halle a. S. 1882 (Sammlung germanistischer Hilfsmittel I); ›den Blick gesenkt halten‹ (Erdmann/Wolff [Anm. 8]). 23 Vgl. den Forschungsbericht bei Vollmann-Profe [Anm. 9], S. 197–199. 24 Brinkmann [Anm. 11], S. 67f. – Anders Erdmann [Anm. 8], S. LVII. – Ehrismann [Anm. 10], S. 198. – Vollmann-Profe [Anm. 9], S. 194f. 25 Dazu: Johann Kelle, Otfrids von Weissenburg Evangelienbuch. Text und Einleitung, Regensburg 1856, S. 58f. 26 Ebd., Einleitung S.58. – Erdmann [Anm. 8], S. LXXII. 27 Dieter Kartschoke, Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfrid von Weißenburg, München 1975, S. 331–336.

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hier ein bekanntes Vortragsstück anklingt und hat er etwa gar dessen Rezitationston notiert? Wenn das der Fall war und die Verse über den Engelflug nicht von Otfrid stammen, dann verschieben sich die folgenden Überlegungen zu Herkunft und Legitimation des Bildes der Himmelsstraße, aber die Frage nach ihnen stellt sich nicht grundlegend anders. Für die karolingische Bibeldichtung wie für die Theologie der Zeit überhaupt galt das ungeschriebene Gesetz, dass alle Aussagen und Formulierungen abgesichert sein mussten. Weder als Erzähler noch als Exeget spricht Otfrid in eigener Verantwortung, sondern er folgt bis ins kleinste Detail dem Wortlaut der Vulgata und kirchlichen Autoritäten wie Schriftkommentaren, Predigten, aber auch außerkanonischen Texten, die durch Alter und Tradition autorisiert waren. Seine Leistung besteht in Auswahl, Kombination und Paraphrase des gesicherten Materials. Trotzdem ist seine beständige Sorge, er könnte sich bedenklicher Irrtümer schuldig machen. Deshalb betet er mit den Worten des Psalmisten (Ps 50,17), Gott möge ihm den Mund öffnen, seine Zunge lösen (I, 2,1f.) und darüber wachen, dass er keine Fehler mache und seine Worte um der schönen Rede willen nicht fehlgreifen: Thaz ich, druhtin, thanna in theru sagu ni firspirne, noh in demo wahen thiu wort ni missifahen. (I, 2,15f.)

Mehrfach wiederholt er diese Bitte (I, 2,27f.; 2,30), die nicht als bloß topisch abzutun ist. Solche Inständigkeit ist vielmehr der authentische Ausdruck dafür, dass Otfrid sich bewusst ist, wie problematisch eine poetische Paraphrase des Offenbarungsworts ist und wie groß das Wagnis, auf das er sich mit dem literarischen Schönheitsanspruch seines ›Evangelienbuchs‹ 28 eingelassen hat. Umso dringlicher stellt sich die Frage, woher er das so eindrucksvolle wie scheinbar ungesicherte Bild des Engelsfluges auf dem Weg durch die Sphären der Sonne, der Sterne und der Wolken bezogen hat und wodurch es legitimiert war. Wolfgang Haubrichs hat im Kontext seiner Überlegungen zur »Stellung Otfrids innerhalb der Entwicklung der mariologischen Anschauungen« 29 auf einen nach-augustinischen, afrikanischen ›Sermo in natali Domini‹ verwiesen, der vom Flug (volatu rapido) des Verkündigungsengels durch den Sternenhimmel (secat axem astriferum) und die Wolken (nubesque profundas) spricht. Das ist sehr be-

28 Dieter Kartschoke, Elfenbein und Nachtigall. Über die Schönheit der Literatur im Mittelalter, in: Der schöne Schein der Kunst und seine Schatten, hg. von Hans Richard Brittnacher und Fabian Störmer, Bielefeld 2000, S. 41–56. 29 Haubrichs [Anm. 9], S. 176.

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deutsam für den allgemeinen Traditionszusammenhang, in dem Otfrid noch steht, auch wenn man der Einschätzung nicht zu folgen vermag, »daß mit dem Sermo ›Thalamos marie‹ eine unmittelbare Quelle für Otfrids Verkündigungsszene gefunden ist«. 30 Jedenfalls ist von einem wie immer benannten ›Weg‹ durch die Sphären dort nicht die Rede. 31 Ich möchte deshalb versuchen, den glücklichen Nachweis der spätantiken Vorstellung vom ›fliegenden‹ Verkündigungsengel durch einige Überlegungen zur Herkunft des Bilds von der ›Himmelsstraße‹ zu ergänzen, um den Traditionszusammenhang der in Frage stehenden Verse des ›Evangelienbuchs‹ weiter einzugrenzen. Zu diesem Zweck will ich Otfrids Darstellung des Abstiegs (descensus) als Flug des Verkündigungsengels mit seiner Behandlung des reziproken Vorgangs, des Aufstiegs (ascensus) der Himmelfahrt, vergleichen, deren Ikonographie ihrerseits tief reichende Wurzeln hat und auf »antike Ascensionsdarstellungen« 32 zurückgeht. Der Engel Gabriel, der im ›Evangelienbuch‹ so pompös die Himmelssphären durchquert und bei Maria landet, fliegt nach Erledigung seines Auftrags ohne große Umstände in den Himmel zurück: Engil floug zi himile zi selb druhtine (I, 5,71). Im Lukasevangelium heißt es nur: Et discessit ab illa angelus (Lc 1,38). Vergleichbar umstandslos kehren die himmlischen Heerscharen nach dem Gloria auf die Geburt Jesu von den Hirten in den Himmel zurück: Thie engila zi himile flugun singente (I, 12,33 nach Lc 2,15. discesserunt ab eis angeli in caelum). An beiden Stellen wird der ›Weg‹ des ascensus nicht beschrieben. Das geschieht erst im Fall der Himmelfahrt Christi im XVII. Kapitel des fünften Buchs und zuvor schon im Einleitungskapitel INVOCATIO SCRIPTORIS AD DEUM, das auch eine knappe Übersicht über den Inhalt der fünf Bücher enthält. Zum fünften Buch heißt es: Joh wio er fuar ouch thanna ubar himila alle, ubar sunnun lioht, joh allan thesan woroltthiot. (I, 2,13f.)

Das stimmt wörtlich mit den Versen aus der Weissagung des Simeon überein (I, 15,35f. nach Eph 4,10 qui ascendit super omnes caelos). Hinter der Erweiterung ubar 30

Ebd., S. 180. Hier auch Quellenangaben und Hinweise auf die Forschungslitera-

tur. 31 Der vollständige Wortlaut des einen Satzes, der für die vorliegenden Überlegungen Aufschluss gibt, lautet: Moxque volatu rapido secat axem astriferum, nubesque profundas celer adiit, perculsitque lumine noctem (ebd., S. 179). – Unnachvollziehbar ist mir die Erwägung von Haubrichs, Otfrid könne die Alliterationen des lateinischen Textes bewusst nachgeahmt haben (Ebd., S. 180). 32 Wolfgang Haubrichs, Ordo als Form. Strukturstudien zur Zahlenkomposition bei Otfrid von Weißenburg und in karolingischer Literatur, Tübingen 1969 (Hermaea N.F. 27), S. 258.

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sunnun lioht ahnt man die antike Vorstellung des Kosmos 33 als einer geozentrischen Scheiben- oder Kugelform. Die Erde wird überwölbt von den Sphären der Planeten, der Sonne, des Mondes und der Fixsterne. Die Stationen des Aufstiegs werden an dieser Stelle nicht in der logischen Folge Erde, Sonne, Himmel genannt, weil es hier noch nicht um die Darstellung des ascensus, sondern erst nur um das Faktum der ascensio geht. Ganz anders sieht die stark erweiternde Darstellung der Himmelfahrt Christi im fünften Buch aus. Die Apostelgeschichte berichtet nur knapp von dem Ereignis: et cum haec dixisset, elevatus est; et nubes suscepit eum ab oculis eorum (Act 1,9). Otfrid hat den Wortlaut der Vulgata auf nicht weniger als achtundzwanzig Verse ausgedehnt (V, 17, 13–40). Verkündigung und Himmelfahrt werden als besonders gewichtige Vorgänge durch die Amplifikationen gleichermaßen herausgehoben, und sie werden theologisch sinnfällig zueinander in Beziehung gesetzt. Das geschieht im Bild des ›Weges‹: Ther nist in alawari ther er thia straza fuari, ther er io thaz gidati, then selbon weg gidrati; Er fuar ouh sama herasun, want er ist thiarnun sun, nist man in alawari ther er so hera quami. (V, 17,17ff.) ›Wahrlich, es gibt keinen, der je zuvor diese Straße gezogen wäre, der je zuvor das getan und diesen Weg betreten hätte; er ist auch so herabgekommen, denn er ist der Sohn der Jungfrau; wahrlich, es gibt keinen, der je zuvor so hergekommen wäre.‹

Der ›Weg‹ der Himmelfahrt ist der ›Weg‹ des Verkündigungsengels. Aber wie verschieden ist die Darstellung. Dort die rasante Bewegung über die Stufen von Himmel, Sonne, Sternen und Wolken zur Erde, hier die nur behauptete Schnelligkeit eines triumphal ornamentierten Aufstiegs: Thia sunnun joh den manon so ubarfuar er gahon (V, 17,25). Dort altepische Wucht, hier bedeutungsschwere Gelehrsamkeit. Zwischen die Stufen des Aufstiegs – Luft, Sonne, Mond, Sterne – drängen sich theologische und gelehrte Erläuterungen und verzögern die Bewegung. Die Rede ist von den Tierkreiszeichen, vom Siebengestirn (den Pleiaden), vom großen und kleinen Wagen, vom Drachen, vom langsam kreisenden Saturn und vom unbeweglichen Polarstern (V, 17,273–2). Kein Mensch sei imstande, alle Himmelslichter aufzuzählen, die er hinter sich ließ. Auf alle setzte er seinen Fuß: Quedan man iz wola muaz: alle drat er se untar fuaz! (V, 17,36) Das ist konkret als physische Aufstiegsbewegung gedacht, auch wenn darin die symbolische Bedeutung des antiken Siegergestus noch fortleben mag. 33

Wilcke [Anm. 9], S. 165.

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Abb. 1: Die Frauen am Grab und Himmelfahrt (um 400, München, Bayerisches Nationalmuseum).

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Abb. 2: Mariae Verkündigung (um 550, Ravenna, Erzbischöfliches Museum).

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Danach kehrt Otfrid zum biblischen Bericht (Act 1,9f.) zurück. Die Jünger blicken dem entrückten Herrn nach mit hanton oba then ougon, thaz baz sie mohtin scowon (V, 17,38). Es gibt viele Darstellungen dieses ›Augenblicks‹ in Buchmalerei und Elfenbeinschnitzerei, die genau diese Haltung der zurückbleibenden Jünger zeigen. Integraler Bestandteil der Himmelfahrt-Ikonographie sind vor allem aber die Wolken als Grenze der Sichtbarkeit: et nubes suscepit eum ab oculis eorum (Act 1,9). Auch an sie hat Otfrid gedacht und sie aus der Perspektive der Jünger anschaulich gemacht, wenn er sagt: Si irluagatun nan kumo zi jungist filu rumo; Thar wolkono obanentig ist, thar sahun sie nan nahist. (V, 17,39f.) ›Schließlich sahen sie ihn in der großen Entfernung nicht mehr, am oberen Rand der Wolken sahen sie ihn zuletzt.‹

Das scheint nicht ganz logisch zu sein, denn Sichtgrenze ist in den vielen (aber freilich jüngeren) bildlichen Darstellung nicht das ›obere Ende‹, der ›obere Rand‹ oder ›Saum‹, sondern der ›untere Rand‹ der die Gestalt des zum Himmel auffahrenden Heilands verhüllenden Wolken. 34 Zieht man bildliche Darstellungen der Himmelfahrt zum Vergleich heran (vgl. Abb. 1), findet man mehr als einmal den Aufstieg über die Wolken so dargestellt, wie offenbar auch Otfrid die Szene gesehen hat. Freilich darf man sich nicht durch jene Kunsthistoriker irre machen lassen, die in dieser Bildkonstellation immer statt der Wolke einen Berg sehen. Den ascensus hat Otfrid wörtlich verstanden als ›Aufstieg‹. Er hat die passivischen Ausdrücke der Entrückung ferebatur in caelum, assumptus est, elevatus est ins Aktiv umgesetzt: Christus yrhuab sich, er fuar zum Himmel auf (so in V, 17,13f.). Auch das ist nicht etwa eine eigenmächtig vorgenommene »Akzentverschiebung« zugunsten der »einzigartigen Omnipotenz Christi« 35 , sondern die korrekte Wiedergabe der Worte aus dem Credo ascendit ad caelos (im ›Weißenburger Katechismus‹ übersetzt mit stehic in himile). In Bilddarstellungen ist die Figur des in den Himmel hinauf ›schreitenden‹ Christus sehr geläufig. Dieser Vorstellung entsprechend hat Otfrid das neutrale faran (V, 17,15) mehrfach mit dem konkreten dretan (V, 17,18, 22,36) variiert. Und damit sind wir wieder beim ›Weg‹ im ganz konkreten Verständnis. Von allen spirituellen Deutungen 36 sehe ich ab, da sie zu der hier verfolgten Frage nichts beitragen. 34 Otfrids Formulierung ist auch unter philologischen Gesichtspunkten verdächtig, denn eigentlich erfordert das Genitivattribut wolkono statt dem Adjektiv obanentig ein Substantiv wie obanenti oder obanentigi. Vgl. Erdmann [Anm. 8], S. 474 zur Stelle. 35 Wilcke [Anm. 9], 176. 36 Dazu vgl. Reinildis Hartmann, Allegorisches Wörterbuch zu Otfrieds von Weißenburg Evangeliendichtung, München 1975 (Münstersche Mittelalter-Schriften 26), s. v. pad (S. 329f.), straza (S. 419) und weg (S. 472-475).

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Die Füße des Gehenden bedürfen eines festen Grundes, eines Wegs (I, 4,46; 12,12), sei es auch des wunderbar sich verfestigenden Wassers (III, 8,28; V, 14,2 und 17) – oder eben der ›metaphysischen‹ Himmelsstraße. Warum gilt das nicht auch für den geflügelten Himmelsboten? Warum fliegt der Engel Gabriel eine Bahn, die variierend als ›Sonnenpfad‹, ›Sternenstraße‹ und ›Wolkenweg‹ abgesteckt wird? Hätte nicht auch er seine Füße auf sie setzen und vom Himmel zur Erde herabschreiten können, so wie Christus in den Himmel hinaufsteigt? Offensichtlich vermischen sich hier unterschiedliche Bildvorstellungen. Ursprünglich war der Engel Gabriel flügellos, ein wandelnder Bote. 37 Nachdem er Flügel bekommen hat, fliegt er natürlich zur Erde, auf der er dann wieder zu Fuß geht. Sein ›Eintreten‹ bei Maria, der ingressus, wird in bildlichen Darstellungen in der Regel dadurch betont, dass durch die Fußstellung die Gehbewegung signalisiert wird (vgl. Abb. 2). Kunsthistoriker sprechen von einer »Bewegungsfigur par excellence« 38 . Die neutestamentliche Erzählung von der Himmelfahrt Christi steht im Kontext alter Phantasien von Himmelsreisen, die in der Antike weit verbreitet waren. 39 Karin Wilcke hat in ihrer großen und verdienstvollen Darstellung der Himmelfahrt in der spätantiken und mittelalterlichen Literatur diesen Aspekt ausgeklammert, obwohl ihre eigene Begründung dafür das Gegenteil nahe gelegt hätte. 40 Sie spricht von »Übertragungen ikonographischer Formeln von antiken Himmelsaufstiegen zur Himmelfahrt Christi«, besteht aber auf einem »qualitativen Unterschied«, der jeden Vergleich verbiete. 41 Das ist theologisch so korrekt wie literaturhistorisch falsch. So verweist sie auf der Suche nach den Quellen für Otfrids Darstellung der Himmelfahrt zwar auf das ›Carmen paschale‹ des Caelius Sedulius, übersieht aber die deutlicheren Reminiszenzen an die ›Consolatio Philosophiae‹ des Boethius. Im ›Carmen paschale‹ 42 , einem lateinischen Bibelgedicht aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, heißt es:

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Vgl. ›Gabriel‹ in: LCI II [Anm. 4], Sp. 74–77. Heinz-Georg Held, Engel. Geschichte eines Bildmotivs, Köln 1995, S. 147. 39 Vgl. u. a. Josef Kroll, Die Himmelfahrt der Seele in der Antike, Köln 1931. 40 Wilcke [Anm. 9], S. 19f.: »Bei der Himmelreise, die sowohl als körperlicher Vorgang wie auch als Reise der Seele verstanden werden kann, konzentriert sich das Interesse auf die zurückzulegende Wegstrecke mit ihren Stationen und Gefahren […].« 41 Ebd., S. 21. 42 Caelii Sedulii Carmen paschale recensuit et commentario critico instruxit Johannes Huemer. Pragae, Vindobonae, Lipsiae 1885 (CSEL 10). 38

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Illi autem laetis cernentes uultibus altas Ire super nubes Dominum tractusque coruscos Vestigiis calcare suis uenerantur adorant: Sidereas uias alacri sub corde reportant, Quas cunctos doceant […] (V. 429–433) ›Als aber die Jünger mit heiterer Miene sehen, wie der Herr über die hohen Wolken schreitet und mit seinen Füßen die schimmernden Bahnen betritt, fallen sie auf die Knie und beten; in frohen Herzen bergen sie die Sternenwege, um allen Menschen davon zu künden […].‹

Otfrid könnte diese Verse sehr wohl gekannt haben. Zwar hat er Sedulius nicht in die Reihe seiner lateinischen Referenzautoren (Juvencus, Prudentius, Arator) aufgenommen. Aber in der Weißenburger Bibliothek befand sich nachweislich ein Exemplar des ›Carmen paschale‹, und die exponierte Stellung der Verse am Schluss des Gedichts 43 machte sie auffällig genug. Dass er sich direkt auf sie bezieht, lässt sich dem Wortlaut aber nur schwer entnehmen. Allenfalls könnten die ›Sternenwege‹ (Sidereas vias) ein Indiz dafür sein. Im ›Opus paschale‹, der Prosaversion des Hexameterepos, enthält der gleiche Passus einige Zusätze, denen Otfrids Formulierungen im Himmelfahrtskapitel nahe stehen: Laetissimi ergo discipuli Dominum supra nubes excelsum coruscos siderum tractus propriis deuicto mundo calcare uestigiis uenerantur supplices et adorant, redituque gratissimo famulatas eius gressibus aerei tramitis plagas, quas oculis uiderant, reuoluunt cordibus et reportant cunctas monituri gentes, ut credant. 44 ›Die Jünger freuen sich sehr, dass der Herr, über die Wolken erhoben, nach dem Sieg über die Welt die schimmernden Bahnen der Sterne mit eigenen Füßen betritt, verehren ihn demütig und beten ihn an, und bewegen nach der seligsten Heimkehr [sc. des Herrn] die Räume des Himmelswegs, über die er siegreich hinweg geschritten ist und die sie mit eigenen Augen gesehen hatten, in ihren Herzen und erzählen sie als künftige Lehrer allen Völkern, damit sie glauben.‹

Dem Sieg über die irdische Welt (deuicto mundo), dem siegreichen Überschreiten der himmlischen Räume (famulatae eius gressibus aerei tramitis plagae) und speziell dem Weg durch die Lüfte (aereus trames), entsprechen im ›Evangelienbuch‹ Formulierungen wie Firliaz er thia erda (V, 17,21), Thia sunnun joh then manon so ubarfuar er gahon (V, 17,25), die straza (V, 17,17) und der weg (V, 17,18) in lufte filu scono (V, 17,16). 43 Es folgen nur noch fünf Verse über die Zeugen dieses Ereignisses und aller Taten des Heilands. Nur weniges haben sie aufzeichnen können, alles in Heiligen Büchern zu überliefern überstiege die Möglichkeiten der ganzen Welt. 44 Sedulius [Anm. 42], S. 303.

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Noch frappanter sind die Anklänge des ›Evangelienbuchs‹ an die ›Consolatio Philosophiae‹ 45 des Boethius (aus dem Jahr 524), auf die Anton E. Schönbach hingewiesen hat. 46 Man darf annehmen, dass Otfrid die ›Consolatio Philosophiae‹ gekannt hat, denn sie war weit verbreitet und wurde intensiv rezipiert. 47 Im ersten Gedicht des vierten Buches (daktylische Tetrameter und iambische Dimeter) verweist Philosophia den Gefangenen auf die Flügel des Geistes, die ihn über die schnöde Welt hinausheben und in die wahre Heimat tragen können: Sunt etenim pinnae volucres mihi, Quae celsa conscendant poli. Quas sibi cum velox mens induit, Terras perosa despicit, Aeris immensi superat globum Nubesque postergum videt, Quique agili motu calet aetheris, Transcendit ignis verticem, Donec in astriferas surgat domos Phoeboque coniungat vias Aut comitetur iter gelidi senis Miles corusci sideris Vel, quocumque micans nox pingitur, Recurrat astri circulum. (IV,I,1–14) ›Flüchtige Schwingen sind mir zu eigen, / Sie tragen dich zum höchsten Pol; / Wenn hurtig der Geist sich mit ihnen umgürtet, / Läßt er verachtend die Erde hier, / Dringt durch der Lüfte unmessbare Zonen, / Bis er die Wolken rücklings sieht, / Steigt dann auf durch den Scheitel des Feuers, / Der durch den Schwung des Äthers glüht [Sternschnuppen], / Steigt schließlich auf zu den Sternenhäusern / Und gesellt sich des Phöbus [der Sonne] Bahn / Oder begleitet den Greis, den kalten [Saturn], / Des funkelnden Gestirns Soldat, / Was immer schmückt die leuchtenden Nächte, / Durchwandelt er im Sternenkreis.‹ 48

Hier ist es der stufenweise Aufstieg durch die Sphären und Sternenbilder, der für das ›Evangelienbuch‹ vorbildlich gewesen sein könnte. Selbstverständlich war auch das nicht die direkte Vorlage Otfrids, denn hier handelt es sich um eine Himmelreise der Seele und nicht um die Himmelfahrt des auferstandenen Christus. Aber 45

Anicii Manlii Severini Boethii Philosophiae Consolatio, hg. von Ludwig Bieler, Turnhout 1957 (CCSL 94). 46 A. E. Schönbach, Otfridstudien II, in: ZfdA 39 (1895), S. 57–124, hier S.121. 47 Dazu Christine Hehle, Boethius in St.Gallen. Die Bearbeitung der ›Consolatio Philosophiae‹ durch Notker Teutonicus zwischen Tradition und Innovation, Tübingen 2002 (MTU 122), hier besonders S. 38–58. 48 Übersetzung von Olof Gigon in: Boethius. Trost der Philosophie lateinischdeutsch, Zürich 1949, hier zitiert nach der Neuausgabe (dtv bibliothek Literatur – Philosophie – Wissenschaft 6116), München 1981, S. 167.

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Otfrid hätte in der ›Consolatio Philosophiae‹ noch mehr Anregungen für seine amplifizierende Darstellung des kosmischen Weges finden können als in den wenigen Versen des Sedulius wie der erweiternden Prosaversion. Für viele Details muss er andere Quellen – wenn nicht überhaupt eine noch unentdeckte einheitliche Vorlage – gehabt haben. 49 Dieser Frage wäre in größerem Rahmen nachzugehen. Anders verhält es sich mit dem Bild der ›Himmelsstraße‹, das Gregor der Große im zweiten Buch seiner ›Dialogi‹ (entstanden 594) entwirft, in dem er die Legende des Heiligen Benediktus von Nursia erzählt. 50 Im XXXVII. Kapitel berichtet er in aller Kürze vom Hinscheiden Benedikts, das begleitet wird von der gleichen Vision zweier Confratres an verschiedenen Orten: Qua scilicet duobus de eo fratribus, uni in cella commoranti, alteri autem longius posito, relevatio unius atque indissimilis visionis apparuit. Viderunt namque quia strata palliis atque innumeris corusca lampadibus via recta orientis tramite ab ejus cella in coelum usque tendebatur. Cui venerando habitu vir desuper clarus assistens, cujus esset via quam cernerent, inquisivit. Ille autem se nescire professi sunt. Quibus ipse ait: Haec est via dilectus Domino coelum Benedictus ascendit. 51 ›An demselben Tage hatten zwei seiner Brüder, der eine in seiner Zelle, der eine in weiter Entfernung, die gleiche Erscheinung. Sie sahen nämlich, wie eine mit Tüchern belegte und von unzähligen Lampen beleuchtete Straße genau in östlicher Richtung von seiner Zelle zum Himmel empor führte. Oben stand ein leuchtender Mann in ehrwürdiger Haltung und fragte sie, wessen Weg das sei. Sie antworteten darauf, das wüssten sie nicht. Da sprach er zu ihnen: Dies ist der Weg, auf dem Benedikt, der vom Herrn Geliebte, zum Himmel emporstieg.‹ 52

Die ›Straße‹ (strata), die geradewegs (via recta) auf einem nach Osten gerichteten Pfad (orientis tramite) bis zum Himmel sich erstreckt (in coelum usque tendebatur), ist hier allerdings der unumkehrbare Weg der Einzelseele und nicht Himmelsstraße, auf der das göttliche Heil in beiden Richtungen verkehrt. Deshalb ist die konkrete Bildvorstellung trotz der Wortwahl stärker an der ›Himmelsleiter‹ aus der Genesis orientiert als an der kosmischen ›Himmelsstraße‹. Indiz dafür ist die an ihrem oberen Ende erscheinende Gestalt Gottes bzw. eines ›leuchtenden Mannes‹ (vir desuper clarus), dessen Frage nach dem ›Weg‹ nicht auf dessen physische 49

Schönbach [Anm. 45], S. 121. MPL 66, Sp. 126–204. – Ich danke Heidrun Stein-Kecks, Erlangen, für den Hinweis und ergänze meine Darstellung um diesen Beleg, auch wenn er einer andern ikonologischen Tradition als der hier verhandelten angehört. 51 Ebd., Sp. 202. 52 Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Großen vier Bücher Dialoge. Aus dem Lateinischen übersetzt von Prälat Joseph Funk, Domkapitular in Augsburg, München 1933 (Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Bd. III), S. 50–105, hier S. 103. 50

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Beschaffenheit, sondern auf dessen moralische Bedeutung zielt. Deshalb erscheint in mittelalterlichen Illustrationen der Benediktus-Legende 53 statt der ›Straße‹ 54 häufig eine ›Leiter‹ 55 . Begünstigt wurde diese (vielleicht auch typologisch gedachte) Verschiebung dadurch, dass die ›Leiter‹ ein integraler Bestandteil der benediktinischen Ikonographie war, in deren Kontext ihr »eine doppelte Bedeutung« zukam: »zunächst symbolisiert sie die eigentliche sogenannte Leiter der Demut, zum anderen aber die Regel […], über die die Mönche in den Himmel gelangen können«. 56 In diesem Sinn dienen sowohl die ›Tugendleiter‹ wie die benediktinische ›Himmelsstraße‹ der Sichtbarmachung des Wegs zum ewigen Leben, der schmal ist und den nur wenige finden (Mt 7,14). Das Motiv der ›Himmelsleiter‹ ist in der Patristik auch sonst bekannt. Bekannt und auch in lateinischer Sprache weit verbreitet war das Werk des Johannes Klimakus ›Klimax tou paradeisou‹ aus der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts mit ihren dreißig Stufen der Laster und Tugenden. In dieser Tradition wird aus dem konkreten Bild der Himmelsstraße ein moralisches Symbol und schließlich eine bildlose Chiffre wie etwa in der bekannten Erbauungsschrift des Stephan von Landskron: das buoch genannt die hymel strasz. 57 Wie steht es mit der Markierung dieses Weges in umgekehrter Richtung? Meines Wissens fehlen alle Nachweise für die Tradition einschlägiger Bildvorstellungen. Diese Lücke kann auch ich nicht schließen, sondern nur sichtbar machen. Ich kehre also vom ascensus noch einmal zum descensus zurück. Mit der Himmelfahrt endet der Verkehr zwischen Diesseits und Jenseits noch nicht. Auch die Parusie, das Erscheinen Christi am Ende der Tage, vollzieht sich 53

Am bekanntesten und weitesten verbreitet in den lateinischen und volkssprachigen Fassungen der ›Legenda aurea‹. Ich verzichte auf das Zitat von Varianten und verweise nur ganz allgemein auf die Übersetzung des lateinischen Wortlauts von Richard Benz, Heidelberg 1917. 54 Jan Karel Seppe in: P. Batselier [u. a.], Benedictus. Eine Kulturgeschichte des Abendlandes, Genf o. J. [1980], Abb. Nr. 89, S. 124; Nr. 105, S. 137. 55 Ebd., Abb. Nr. 50, S. 80. – Es versteht sich von selbst, dass das überreiche ikonographische Material für eine umfassende Darstellung des Themas überhaupt erst gesichtet und ausgewertet werden müsste. Ich verzichte deshalb auf alle bibliographischen Nachweise. 56 Ebd., S. 83. – Im VII. Kapitel der Legende erklärt Benedikt »die unterschiedlichen Abstufungen der Demut, die er mit einer zwölfsprossigen Leiter vergleicht, über die die Mönche bis hinauf zu Gott steigen können« (ebd.). 57 Stephan von Landskron, Die Hymelstrasz. Mit einer Einleitung und vergleichenden Betrachtungen zum Sprachgebrauch in den Frühdrucken (Augsburg 1484, 1501 und 1510) von Gerardus Johannes Jaspers, Amsterdam 1979 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des später Mittelalters und der Frühen Neuzeit XIII).

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als Descensus. Im vierten Teil des ›Evangelienbuchs‹ heißt es, die Menschen werden sehen, wie Christus zum Gericht aus den Wolken herabsteigt: So sehent se mit githuinge queman thara zi thinge Fon wolkonon herasun then selben mennisgen sun. (IV, 7,39f.)

Das ist die Paraphrase einer stehenden neutestamentlichen Formulierung: Et videbunt Filium hominis venientem in nubibus caeli (Mt 24,30; 26,64; Mc 13,26; Lc 21,27). Man könnte schon hier eine entscheidende Differenz darin erkennen, dass Otfrid nicht wie die Vulgata in nubibus sagt, also ›in Wolken‹, ›verhüllt von Wolken‹, sondern fon wolkonon herasun, ›von den Wolken herab‹. Hier muss ich noch einmal etwas weiter ausholen. Das fünfte Buch der Evangeliendichtung handelt in großer Ausführlichkeit von den letzten Dingen. Das Erscheinen Christi wird jedoch nicht breiter ausgemalt: Quimit ther selbo gotes sun fon himilriche herasun (V, 20,5). Von einem ›Weg‹ ist nicht die Rede. Das ist vielleicht auch anders nicht mehr denkbar, denn am Ende der Tage werden Himmel und Erde zusammenfallen, Sonne und Mond werden sich verfinstern und die Sterne werden zur Erde stürzen (IV, 7,35f.). Auch eine Himmelsstraße wird es dann nicht mehr geben. Aber in der Zeit des noch nicht vollendeten Heils kann der Abstieg Christi und der Engel immer neu gedacht und als Weg durch die Sphären imaginiert werden. Dafür finden sich Beispiele in der Ikonographie, von denen abschließend die Rede sein soll. Es gibt einen Bildtypus, der im vierten und fünften Jahrhundert in Rom entstand, schnell Verbreitung fand und gewandelt und umgedeutet sich über einige Jahrhunderte im ikonographischen Repertoire stadtrömischer Kirchenausstattungen gehalten hat. Es handelt sich im Urteil der Forschung dabei um eine »der interessantesten Szenen der altchristlichen Ikonographie« 58 und um eine der umstrittensten 59 . »Kaum ein Thema der frühchristlichen Kunst ist so heftig und kontrovers diskutiert worden wie die Deutung der Bildkomposition der Traditio legis.« 60 In der hier in Betracht gezogenen Version offenbart sich Christus den Aposteln Petrus und Paulus als das Gesetz, das er aus dem Himmel herabschreitend in seiner Linken hält. Das ist ein nicht historisch, sondern symbolisch zu verstehender Vorgang, der zwischen Auferstehung und Himmelfahrt angesiedelt, 61 58 M. Sotomayor, Über die Herkunft der »Traditio legis«, in: Röm. Quartalsschrift 56 (1961), S. 215–230, hier S. 215. 59 Franz Nikolasch, Zur Deutung der »Dominus-legem-dat«-Szene, in: Röm. Quartalsschrift 64 (1969), S. 35–73, hier S. 35. 60 Rotraut Wisskirchen, Das Mosaikprogramm von S. Prassede in Rom. Ikonographie und Ikonologie, Münster 1990 (Jahrbuch für Antike und Christentum 17), S. 32. 61 Walter Nikolaus Schumacher, »Dominus legem dat«, in: Röm. Quartalsschrift 54 (1959), S. 1–39.

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zugleich aber mit vielen eschatologischen Motiven angereichert ist. »In soteriologischer Gesamtschau werden Auferstehung, Erscheinung und Wiederkehr Christi zum Gericht in dem einen Bild des ›Dominus legem dat‹ zusammengezogen.« 62

Abb. 3: Traditio legis (zwischen 526 und 530, Rom, SS. Cosma e Damiano).

Ich sehe hier ab von der kontroversen Forschungslage und beschränke mich auf das Motiv des Weges, das zwar nicht zu den integralen Bestandteilen der Ikonographie gehört, aber in einigen Repräsentanten der Bildkomposition auffällig in Erscheinung tritt. Der sich offenbarende Christus steht zumeist auf einem Hügel (Paradiesberg, Berg Sion) oder auf der Sphärenkugel. »Auf manchen Darstellungen sind hinter Christus Wolken angedeutet«, die »im eschatologischen Verständnis ein Sinnbild der Parusie des Herrn bilden, der auf den Wolken des Himmels wiederkommen wird« 63 : ecce venit cum nubibus (Apoc 1,7). In einigen monumentalen Apsismosaiken bilden die Wolken nicht nur den Hintergrund der Christusfigur 64 , sondern sie formieren sich zu einem Weg, zu einer Himmelsstraße. 62

Ebd., S. 22. Nikolasch [Anm. 59], S. 39f. 64 So Wisskirchen [Anm. 60], S. 30: »Vor einem in abgestuften Rottönen schimmernden Wolkenhintergrund erscheint Christus […].« In der Diskussion wies mich Heidrun Stein-Kecks, Erlangen, auf das ›gläserne Meer‹ hin, mare vitreum simile cristallo (Apo 4,6) bzw. mare vitreum mixtum igne (Apo 15,2), das in der Apokalypse als Vergleich 63

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Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist das Apsismosaik der Basilica dei SS Cosma et Damiano (vgl. Abb. 3). Christus steigt vom Himmel herab. 65 In der Linken hält er das Gesetz in Gestalt eines Rotulus, zu beiden Seiten stehen die Apostel Petrus und Paulus, ihnen zur Seite die Patronatsheiligen Cosmas und Damian und ganz außen der Hl. Theodor und der (im 17. Jahrhundert restaurierte) Papst Felix IV. Der Jordan begrenzt die Szene nach unten und scheidet Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits. Christus kommt nicht in nubibus caeli, also nicht verhüllt von einer Wolke, sondern auf einem Weg, der mit kleinen Wölkchen wie eine römische Straße mit Steinplatten gepflastert ist. Dieser Wolkenweg, der durch einen tiefblauen Himmel führt, verjüngt sich perspektivisch nach oben, so dass die stehende Christusfigur in Bewegung gerät und die gesamte Komposition eine eindrucksvolle Dynamik erhält. Das ist eine jüngere Abwandlung der Bildkomposition, die offensichtlich so suggestiv gewirkt hat, dass sie vielfach wiederholt und nachgeahmt wurde. Beispiele dafür findet man noch heute in verschiedenen Kirchen Roms. Eine etwa vierhundert Jahre jüngere, sich sehr eng an das Vorbild anschließende, sie gleichsam wiederholende Darstellung findet sich in Santa Prassede. 66 Die Ikonographie dieser Darstellung in SS. Cosma und Damiano gehört der gleichen Zeit und dem gleichen regionalen Kontext an, da auch der Verkündigungsengel noch im Flug dargestellt werden konnte. Das bekannteste, wohl sogar einzige Beispiel dafür findet sich auf einem Mosaik am Triumphbogen von Santa Maria Maggiore aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts (vgl. Abb. 4). Auch hier

für den immateriellen Boden dient, der sich vor dem Thron im Himmel erstreckt und auf dem die Sieger über das Tier stehen. Mir scheint das Bild der Wolken näher zu liegen, aber ich kann die schwierige Frage nicht entscheiden. Wie auch immer, Wolken oder Meer – es bleibt der Eindruck der Formation als einer Straße. 65 In allen einschlägigen Bildbänden und Spezialabhandlungen finden sich Abbildungen des Mosaiks, z. B. Guglielmo Matthiae, Mosaici Medioevali delle chiese di Roma. I/II, Roma 1967. – Walter Oakeshott, The Mosaics of Rome from the third to the fourteenth centuries with 33 colour plates and 244 monochrome plates, London 1967. – J. Wilpert/W. N. Schumacher, Die römischen Mosaiken der kirchlichen Bauten vom IV. bis XIII. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 1976. – Wisskirchen [Anm. 60]. – Rotraut Wisskirchen/Franz Schlechter, Die Mosaiken der Kirche Santa Prassede in Rom, Mainz 1992 (Zaberns Bildbände zur Archäologie 5). 66 Dass hier die die perspektivische Verengung der Himmelsstraße nach oben von SS. Cosma e Damiano aufgegeben wurde zugunsten eines stärker flächig wirkenden Hintergrunds, ist kein Argument gegen meine Deutung (so Heidrun Stein-Kecks in der Diskussion), sondern eher ihre Bestätigung. Es handelt sich hier nicht nur um unterschiedliche – antike versus mittelalterliche – Darstellungskonventionen, sondern um einen sich abzeichnenden Bruch mit der ikonographischen Tradition. Auch in der Literatur ist die Himmelsstraße nach Otfrid kein Thema mehr.

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Abb. 4: Verkündigung (um 434, Rom, S. Maria Maggiore).

ist die Interpretation nicht ganz einfach. 67 Eindeutig ist die Darstellung Marias nach apokryphen Vorgaben als Herrscherin, thronend mit Perlendiadem, Spindel und Garnkorb und die dazu gehörige Palastarchitektur. Schwierig ist die Erklärung der drei stehenden Engel als »Thronassistenten« 68 . Ungewöhnlich ist die Taube, die in den folgenden Jahrhunderten auf Verkündigungs-Darstellungen nicht mehr erscheint und erst im Spätmittelalter dem ikonographischen Programm wieder eingefügt wird. Ganz ohne Parallelen in den frühen Jahrhunderten christlicher Kunst ist der im Anflug befindliche Engel der Verkündigung. Man hat deshalb überlegt, ob der »fliegende Engel die virtus altissimi (Lk 1,35) od[er] den Logos selbst darstellen soll«. 69 Der Unterschied ist nicht allzu groß, denn der Engelsbote wird ja doch verstanden als Medium und seine Herabkunft als Weg des Logos. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass der Verkündigungsengel im freien Flug über Jahrhunderte hin nicht zur Ikonographie der annuntiatio gehört. Das gilt wohlgemerkt für die Darstellung, nicht für die Vorstellung. Seitdem Flügel zum stehenden Attribut der Engelfiguren gehören, versteht es sich von selbst, dass 67 Dazu zuletzt Gerhard Steigerwald, Neue Aspekte zum Verständnis der Mosaiken des Triumphbogens von S. Maria Maggiore in Rom, in: Röm. Quartalsschrift 102 (2007), S. 161–203 mit Angaben der einschlägigen Literatur. 68 LCI [Anm. 4], IV, Sp. 424. 69 Ebd.

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sie auch fliegen können. In den Verkündigungsdarstellungen wird der Flug durch die Stellung der Flügel und die bewegten Gewandfalten aber nur angedeutet, immer ist der Engel schon gelandet, tritt bei Maria ein, steht vor ihr, fällt auf die Knie und grüßt sie. Darstellungen, die ihn im Anflug zeigen, erscheinen meines Wissens überhaupt erst wieder im 15. Jahrhundert und dann immer häufiger im 16. Jahrhundert und später. Das sind ikonographische Besonderheiten, die sich auch in Otfrids Darstellung der Verkündigung finden. Die vom Wortlaut der Vulgata abweichenden Formulierungen, wonach der Engel vom Himmel herabgeflogen (I, 5,5) und fliegend in den Himmel zurückgekehrt (I, 5,71) sei, und die höchst ungewöhnliche Bezeichnung seiner Flugbahn als Himmelsstraße – sunnun pad, sterrono straza, wega wolkono – scheinen in einer Tradition zu stehen, über deren Geltungsbereich und Verbreitung zu wenig bekannt ist, als dass es sinnvoll wäre, weiter reichende Schlüsse auf deren Vermittlung an den Weißenburger poeta theologus zu ziehen. Keinesfalls soll hier ein direkter Zusammenhang zwischen den stadtrömischen Mosaiken und dem ›Evangelienbuch‹ suggeriert werden. Auch der innertextuelle Verweis der gelehrten Darstellung der Himmelfahrt auf den – nachdrücklich so genannten – ›Weg‹ durch die Sphären hilft nicht weiter. Zwar hat Otfrid nach eigener Auskunft nicht kontinuierlich gearbeitet, 70 aber nichts deutet darauf hin, dass er den weg (V, 17,18) und die straza (V, 17,17) der Himmelfahrt im fünften Buch auf die Flugbahn des Verkündigungsengels im ersten Buch übertragen haben könnte. Zu unterschiedlich sind die einander entsprechenden Verspartien und zu unwahrscheinlich wäre die Annahme, Otfrid hätte sich vom Ende seiner Dichtung her im Nachtrag zum ersten Buch noch einmal der alten und von ihm programmatisch abgelehnten Mittel der traditionellen oral poetry bedient. Wenn aber die altertümlichen Verse über den Engelflug schon vorgeprägt waren und nicht von Otfrid stammen, ist die Frage, wie ein – nicht zwingend anzunehmender, aber als möglich zu erwägender – Laiensänger an die Vorstellung einer Himmelsstraße gekommen sein könnte. Hier ist einmal mehr an den kostbaren Bericht zu erinnern, den der ehrwürdige Beda 71 von der Entstehungsweise volkssprachiger christlicher Dichtung gegeben hat. Nachdem der Laie Caedmon 70 Ad Liutbertum Z. 29–35. Danach hat Otfrid zunächst die Teile am Anfang und Schluss des Gedichts und erst zuletzt den Mittelteil verfasst. Über die genaue Abfolge der Entstehung der Rahmenteile lässt sich daraus natürlich nichts ablesen. 71 Hier zitiert nach: Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des englischen Volkes. Lateinisch und Deutsch. Nach der Edition von B. Colgrave und R. A. B. Mynors ins Deutsche übers., mit Einleitung, Index und Glossar hg. von Günter Spitzbart, Darmstadt 1982 (Texte zur Forschung 34).

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ins Kloster Whitby aufgenommen worden war, hat man dem des Lateins Unkundigen seriem sacrae historiae, den Inhalt der Heiligen Schrift, vermittelt. Das heißt, man hat ihm einzelne Stellen vorübersetzt und wohl auch erklärt. Und Caedmon verfertigte audiendo – rememorando – ruminando die schönsten Gedichte über Stoffe des Alten und Neuen Testaments, darunter auch de incarnatione dominica. Wenn also die zur Debatte stehenden Verse schon vor Otfrids ›Evangelienbuch‹ entstanden sind, rücken sie um eine unbekannte Zeitspanne näher an die hypostasierte spätantik-christliche Bildtradition. Damit würde die Wahrscheinlichkeit noch größer, dass Otfrid auch in dieser Hinsicht der späte Zeuge einer Überlieferung ist, die nach ihm abreißt, so wie sein ›Evangelienbuch‹ als ganzes noch unmittelbar im Traditionszusammenhang der lateinischen Bibelepen des vierten bis sechsten Jahrhunderts steht, während der Neuanfang volkssprachiger Bibeldichtung im elften und zwölften Jahrhundert neue Wege geht.

Schichten des Bewußtseins im ›Otnit‹ von Dietmar Peschel, Erlangen

Von räumlichen Vorstellungen und räumlichen Denkfiguren des Mittelalters verstehe ich so gut wie nichts. Von Projektionen und Reflexionen aus der Ferne der mittelalterlichen Literatur und in die Ferne der mittelalterlichen Literatur versuche ich, etwas zu verstehen. Die vorwiegend mündlich überlieferte und in dieser Art der Überlieferung ständig reproduzierte Dichtung scheint mir besonders leicht Mutationen zu bergen, in denen, wie am unikalen Fossil im Sediment, eine individuelle Gestaltung einer Textur zu finden ist. Ich meine hier nicht die eher erwünschte, wenn auch vielleicht nicht immer bewußte und absichtsvolle Variante, die sich den individuellen Vorträgen, den eigenen Vortragserfahrungen und bewährten Gewohnheiten eines Rezitators verdankt, sondern eher die Variation, die dem unbeabsichtigten oder unkontrollierten Versehen eines Auf- oder Abschreibers gleicht, die in ihrer Unbewußtheit allerdings keineswegs unsinnig sein muß, ja, wahrscheinlich in den meisten Fällen auch nicht unsinnig ist, wenngleich in ihrer individuellen Ursache uns späteren Rezipienten oft nicht leicht oder gar nicht durchschaubar. Gerade die Undurchschaubarkeit weist auf einen individuellen Produzenten, indem sie sich nicht ohne weiteres in ein bekanntes Muster passen läßt. Weshalb wir diese Leistungen eines speziellen Gehirns Fehlleistungen nennen. Der Unterschied zwischen der sinnvollen Vortragsvariante und der sinnvollen Fehlleistung ist zuweilen kaum zu sehen. 1 Ich zeige das am Beispiel einer 1 Aus einer tendenziell positivistisch linguistischen Sicht ist es leicht, isolierte Versprecher als Fehlleistungen zu sezieren und zu katalogisieren. Aus ihrer puren gesammelten Menge als Einzelerscheinungen ergibt sich freilich keine (oder eher kaum eine) semantische Bedeutung des jeweiligen Phänomens. Vgl. die sonst verdienstvolle und überaus vergnügliche Sammlung mit kleiner Versprecher-Theorie von Helen Leuninger, Reden ist Schweigen, Silber ist Gold. Gesammelte Versprecher, München 1996, hier besonders ab Kapitel: Nonsinnswörter oder Gibt es Freudsche Versprecher?, S. 95ff. Daß bei der ungeheueren Datenmenge, die wir beim Sprechen in unvorstellbar kurzer Zeit organisieren, die Fehler gegenüber dem Regelapparat verschwindend wenige und damit nur natürlich seien, ist mir keine Erklärung in ihrem Kommunikationszusammenhang. Die Behauptung, daß das Bemerken und Verstehenwollen von Versprechern nur möchtegernvoyeuristische (!) Selbstdarstellung sei (S. 98), bleibt gratis. Der gag, daß mit Menschen,

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Stelle aus der Wolf Dietrich-Version D in der Handschrift b (elsässisch, um 1420). 2 Ich versuche, den unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang zu erzählen, denn ohne Zusammenhang ist überhaupt kein Detail als Leistung oder Fehlleistung zu verstehen. Ein griechischer Königssohn Wolf Dietrich auf Abenteuerund Irrfahrt trifft in einem heidnischen Königreich auf eine wunderschöne Prinzessin, die er höchst anziehend findet und die ihn mit allen Künsten verleiten möchte, mit ihr ins Bett zu gehen. Der Ritter aus der Fremde ist von den drängenden Avancen erschreckt und versucht, sich das Mädchen mit Verweis auf ihre verschiedene Religionszugehörigkeit vom Leibe zu halten. Die schöne Verführerin bietet dem teils hingezognen, teils abgestoßnen jungen Mann eine Lösung des Problems an: 1156

»So glovbe an min got Machemet, der lengert dir din leben. ein ganzes himelrich mag er dir wol geben. dar vs schinet die sunne vnd weget der wint.

die an Freudsche Versprecher (übrigens eine volkstümlich alberne Terminologie, nach dem Muster der Darwinschen Finken) glauben, noch ein ernstes Hühnchen zu rupfen sei (S. 100), ebenso. Ich lese keine Überlegung zur Phylogenese von Sprache, nämlich daß die Gattung Mensch Sprache zur Kommunikation entwickelt hat, die Organisation auf Verstandenwerden hin, auf den Hörer hin, zum System gehören muß. Das heißt, jede sprachliche Hirnaktivität ist zuerst einmal auf ihre mögliche Hörerwirkung zu befragen. Nicht ohne Grund bitten wir auch bei angeblich unbeabsichtigten Remplern den andern um Verzeihung. Ich bestreite nicht, daß es technische Fehler auch in der Hirnarbeit geben kann. Aber schon der Leuningersche Ansatz einer »Sprachäußerungsabsicht« vor aller Organisation von sprachlichen Elementen (vgl. das Modell S. 109) schließt das, was Freud das Unbewußte nennt, ein. Und damit Sprachhandlungen, die noch von andern als den unbewußten und bewußten Organisations- und Kontrollregeln bestimmt werden (sinnlich-körperlichen, psychischen, äußerlichen). Ich lese fast keine Überlegung (außer zur constructio apo koinu S. 91), daß die linguistischen Versprechermechanismen in unserer Alltags- wie in unserer Literatursprache allgegenwärtig sind, in jederlei sprachlicher Kreativität, in hapax legomena, in Witz, in Lüge, in Ironie, in allen Arten sprachlich dargestellter psychischer Befindlichkeiten, in Poesie überhaupt (Extrembeispiel: Unsinnsdichtung, Dadaismus). Ich lese keine Überlegung zur Sprachgeschichte und daß möglicherweise allgemein und fest werdende (modische) Versprecher oder versprecherähnliche Strukturen zur Sprachveränderung beitragen. So wie Frau Leuninger vorschlägt: »So gesehen darf man eigentlich von Freudschen Versprechern nicht mehr reden« (S. 99), weil sie sich alle als regelhafte Verstolperungen im Regelsystem bestimmen lassen, könnte ich vorschlagen, von Versprechern überhaupt nicht mehr zu reden, weil sie sich alle nicht aus einer Äußerungsabsicht ausschließen lassen – und sich die Verstolperungsregeln zur Verkleidung zunutzemachen. Wir sollten also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und von Fall zu Fall im Kontext interpretieren. Das war schon immer eine Aufgabe der Literaturwissenschaft. Und Freud hat nie was anderes getan. 2 Vgl. Dietmar Peschel, Sonderbare Feinzeichnungen! Kann man diese Frau heiraten? Eine Unheldin in der Wolf Dietrich-Version D, in: Heldinnen. 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Johannes Keller und Florian Kragl, Wien 2010, S. 139–164.

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sol ieman gewaltig werden, daz duont ovch vnser kint.« Des antwirt ir vil balde der tegen vnuerzeit: »waz ich erbeit mit v´ ch gewinne, daz wer mir leit. ich will an den gelovben, der mich erarnet hat. ich getruwe siner genoden, min werde etwen rat.« »So glaube an meinen Gott Machemet, der verlängert dir das Leben. Er kann dir gut ein ganzes Himmelreich geben, aus dem scheint die Sonne und weht der Wind, und wenn jemand gewaltig werden soll, dann werden das unsere Kinder!« Darauf antwortete ihr der furchtlose Degen prompt: »Was ich an Anstrengung und Mühen mit euch bekommen sollte, das wäre mir leid! Ich will an den glauben, der mich erworben hat – ich vertraue seiner Gnade, daß mir dereinst geholfen werde!« 3

Das Wort, das ich hier betrachten möchte, ist das Wort erbeit in 1157, 2; es steht im Text, weil Walter Kofler in seiner Ausgabe der Version D die b genannte Handschrift zugrunde legt. Der Vers ist aus der Strophe an Ort und Stelle nicht ganz leicht zu verstehen. Wolf Dietrich scheint davon zu reden, daß alles, was ihm jetzt bevorsteht, aufwendig und mühselig für ihn sein werde. Seine Rede steht mir im Widerspruch zur angeblichen Furchtlosigkeit des tegen unverzeit. Das Wort erbeit bezeichnet die Befürchtungen des furchtlosen Christenritters, daß das zügellose Heidenmädchen ihn vergewaltigen könnte, was die mit einem Striptease auch tatsächlich sogleich versucht, was den Ritter in größte Mühsal bringt, denn sein Körper zeigt ihm, daß er erliegen möchte, während sein Bewußtsein voll Abwehr ist, so daß nur ein Faustschlag gegen die Verführerin und ein Stoßgebet gegen die Heilige Jungfrau Ruhe schaffen können. Wir haben also das in mittelalterlicher Literatur nicht seltene Muster, daß Figurenrede und Rede und Wissen des Autors vermengt werden – wenn wir nicht zufrieden sind, das Wort erbeit als Ausdruck der gegenwärtigen Befürchtung eines bevorstehenden Zukünftigen und damit als Ausdruck für eine Reaktion des Unbewußten Wolf Dietrichs zu akzeptieren. Diese letzte Möglichkeit mag man als ziemlich umständlich, wenn nicht gar verdreht sehen, obwohl genau das wieder Merkmale einer lectio difficilior wären gegenüber allen weniger komplexen Interpretationen. Eine Komplexität, die auch wieder zu verstehen wäre angesichts der Ungeheuerlichkeit, die in der Erzählung gleich nach der Befürchtung folgen wird, nämlich daß der Anblick der nackten schönen Heidin dem überwältigten Christenmann zu einer Erektion verhilft, die 3 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe: Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm. 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, hg. von Walter Kofler, Stuttgart 2001. Die editorischen Typenvariationen lasse ich weg. Die Übersetzung ist meine.

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in ihrer Formulierung nicht einmal der Herausgeber als solche akzeptieren möchte (do wart Wolf dietrich so tifelichen ston, 1159), und die wir mangels ausreichender Forschung zum Tabuwortschatz mittelhochdeutscher Literatur auch nur schwer in dieser Bedeutung beweisen können. Es gilt ja manchen schon das Aufspüren sprachlicher Darstellung mittelalterlicher Unbewußtheiten als unzulässig, weil angeblich anachronistisch. Während die zitierte Handschrift b Wolf Dietrich nur die unmittelbaren Folgen hier in der Szene erkennen lassen will, lösen die Handschriften a (elsässisch, um 1420, also wie b) und d (ebenfalls elsässisch, datiert 1476), die dieselbe Version D enthalten, alle Probleme durch Austausch der Buchstaben i und t in erbeit durch ein n, und wir haben eine Anknüpfung an die Phantasie der Heidenprinzessin von gemeinsamen Kindern mit Wolf Dietrich aus der vorhergehenden Strophe. Sie: sol ieman gewaltig werden, daz duont ovch vnser kint. Er: waz ich erben mit v´ch gewinne, daz wer mir leit. (Jeder Erbe, den ich mit euch bekäme, wäre mir leid. 1156, 4; 1157, 2) Man bedenke, daß der Wolf Dietrich-Stoff, in welcher Version auch immer, je mit dem Otnit-Stoff zusammen überliefert ist; daß Otnit sich im Heidenland eine exogame Frau holt; daß er zwar mit ihr keine Kinder haben wird, daß aber später Wolf Dietrich eben diese Otnit-Witwe heiraten wird, um mit ihr das Geschlecht bis zu Dietrich von Bern hinunter zu begründen. Es geht also nicht plump um eine Religionsdifferenz an sich, wie ja in der gesamten Gattung der Brauterwerbungsgeschichten nicht. In eine Stammbaumabhängigkeit lassen sich die genannten Handschriften nicht bringen. So müssen also die beiden Lesarten ihr Recht haben – die erbeit-Variante mit ihrem Bezug auf die ganze Szene (das Problem der Kinder und Erben kann man in der Wortbedeutung enthalten denken), die erben-Variante mit der Geschmeidigkeit, mit der sie sich an die vorhergehende Strophe fügt; aber pure Geschmeidigkeit wird man in der Literatur nicht einfach für originäre Richtigkeit nehmen. Ein handschriftliches i plus t (das t ohne Oberlänge) läßt sich ebenso leicht in n verlesen wie umgekehrt. Mit einer Pseudoerklärung »verlesen« sind wir Interpreten nicht zufriedenzustellen. Wir wollen wissen, was kommt jeweils dabei heraus, auch um den Preis, daß wir keine gültige Version und keine Chronologie bestimmen können. Das dargestellte Beispiel ist eine einfache Möglichkeit von Fehlleistung, ja, eher eigentlich von Varianten; sicher von Fehlleistung würde ich reden, wenn ich wüßte: die erben-Variante ist die ältere, die erbeit-Variante die Abschrift. Und nicht einmal da könnten wir sicher sein. Ich zeige das einmal an einem Gedankenspiel: Der Otnit-Wolf Dietrich-Doppelroman ist in einer eigenen Version im Ambraser Heldenbuch überliefert (A, 1504–1515 / 16), derselbe

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Otnit – nur der Otnit, nicht der Wolf Dietrich – zusätzlich in der Windhager Handschrift (W, erste Hälfte 14. Jahrhundert). Kämen die eben interpretierten Strophen in der AW-Überlieferung vor, dann stünde, wie ich inzwischen die beiden Handschriften kenne, die erbeit-Variante in der jüngeren (A), die erbenVariante in der älteren (W); in der Edition von Amelung / Jänicke stünde die erben-Variante im Text, die erbeit-Variante (als Verlesung) von Hans Ried im Apparat. Unsere Arbeit an einer Neuedition der AW-Version als A-Text hat uns aber gezeigt, daß Hans Ried gegenüber W zuallermeist der Vorzug zu geben ist; sein Text ist bei irritierenden Stellen fast immer lectio difficilior und fast nie unenträtselbar. Mit diesem Wissen möchte ich jetzt einige Fehlleistungen vorstellen, das heißt Varianten aus dem Otnit-Text von Hans Ried (die wir in unserer Neuedition nicht immer in den Text aufgenommen haben), um zu zeigen, wie sie – auch wenn wir sie als Fehlleistungen in den Apparat verweisen – im Zusammenhang als Leistungen zu verstehen sind. Ich betrachte nur solche Abweichungen (von W oder Amelung / Jänicke oder unserer eigenen Konjektur), die inhaltlich von einigem Gewicht sind, also nicht als Schreibgewohnheitsvarianten abzutun sind; mir ist bewußt, daß über die jeweilige Gewichtigkeit diskutiert werden könnte. Gleich zu Anfang der Otnit-Erzählung scheinbar eine Winzigkeit; der junge König denkt ans Heiraten und sucht eine Frau, deren Geschlecht nicht zu seinen Untertanen zählt: 8 Da sprach der künig edele ›nu ratet mir, mage unde man, als ichs in meinem lande aller teuriste han, wo ich ein frawen vinde, die mir genossame sei, daz ich von irem geschlechte der schame beleibe frei.‹ 4 8 Und dann sprach der edle König: »Nun ratet, Verwandte und Lehnsleute, die ihr mir die Allerteuersten aus meinem Land seid, wo ich eine adelige Dame finde, die mir eine passende Gefährtin ist, aus einem Geschlecht, für das ich mich auch nicht im geringsten schämen muß.«

Wie in den für den Heiratsfeudalismus üblichen Brautwerbergeschichten, von ›König Rother‹ bis ›Nibelungenlied‹, kann die Braut gar nicht von weit genug herkommen, um jeden Endogamieverdacht auszuschließen, natürlich auch, um die Herrschaftsallianzen möglichst weit zu spannen. Die Königstochter, zu der Otnits nächster Verwandter, sein Oheim Ylias von Reußen, ihm raten wird, ist 4 Ich zitiere den Text und die Übersetzung nach der Edition Otnit und Wolf Dietrich A, die Stephan Jolie, Victor Millet und ich zur Zeit erarbeiten.

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die einzige Tochter eines heidnischen Mohrenkönigs. Von ihrer Eroberung wird ein guter Teil des Romans handeln. Aus dem Zusammenhang muß erschlossen werden: lieber Heidin und aus dem Orient als zu nah verwandt und nicht ebenbürtig, das heißt ebenmächtig. Das Bedürfnis, auch den kleinsten Gedanken an ein inzestverdächtiges Verhältnis auszuschließen, ist so stark, daß es durch eben den ausdrücklichen Gedanken daran bewehrt wird: Der Vater der erwählten Braut wartet sehnlich auf den Tod seiner Frau, um seine Tochter zur Frau nehmen zu können. Das Inzestmotiv in der fremden Kultur ist mir als Hinweis auf die eigene Inzestangst deshalb so deutlich, weil es erzähllogisch fragwürdig ist – der Autor läßt in dieser europäischen Erzählphantasie den Heiden nicht auf den Einfall kommen, die Ehefrau aus dem Weg zu räumen, um an die Tochter zu gelangen. Merkwürdig bleibt, daß die scheußlichen Absichten des Heidenvaters nichts zur Beschämung des abendländischen unerwünschten Bewerbers beitragen, diesen vielmehr erst recht motivieren, die Heidenprinzessin nicht nur zu erobern, sondern zugleich zu befreien. Das inzestuöse Begehren liegt nur bei den Männern. Unter einem psychologischen Aspekt muß man sagen: So wie die Erzählung hier gebaut ist, liegt ein beschämendes inzestuöses Begehren auch in Otnit, das durch die Braut aus der Ferne kontrolliert werden soll. Daß dies keine Projektion unserer oder gar meiner psychischen Unheimlichkeiten in den alten Text ist, sieht man an einer kleinen Fehlleistung: Hans Ried schreibt nicht daz ich v o n irem geschlechte der schame beleibe frei (8,4), sondern daz ich v o r irem geschlechte der schame beleibe frei (... aus einem Geschlecht, vor dem ich mich auch nicht im geringsten schämen muß). Ich sage nochmals: Trotz exotischer Kulisserie ist der inszenatorische Blick rein germano- oder euro- oder christo- oder römisch-zentristisch; das bestätigt sich daran, daß der Heidenkönig ein Mohr ist, von der Königstochter aber nirgendwo – weder im Otnit, noch im folgenden Wolf Dietrich – gesagt wird, daß sie nicht weißhäutig wäre. Die erwählte Braut hat kein eigenes Begehren, keinen festen eigenen Glauben, keine eigene Hautfarbe. Wir denken, daß wir an dieser Stelle konjizieren sollten, denn noch sind wir am Beginn der Beratung durch die Vasallen; die folgende Strophe 9 heißt: 9 Da sassens an dem rate wol in fünf tagen und kunden für die warhait dem künige nicht gesagen, wo si ein frawen funden, die er mit eren möchte nemen, also daz si sich irs rates hernach nicht dorften schämen. 9 Da setzten sie sich zur Beratung wohl an fünf Tagen und wußten dann wahrlich nicht dem König zu sagen, wo sie eine adelige Dame fänden, die er mit Ehre und Anstand nehmen könnte, so daß sie sich für ihren Rat später nicht zu schämen brauchten.

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Daß unser eignes, philologisches Unbewußtes stets mitarbeitet, ist an unsern eignen Fehlleistungen zu sehen. Während die Edition von Amelung / Jänicke, die tendenziell der Handschrift W folgt, alle Abweichungen bei Hans Ried penibel verzeichnet, fehlt im Apparat zu Strophe 8 der Hinweis auf Vers 4. 5 Am Ende der Beratung, als keiner der Lehnsmannen einen brauchbaren Vorschlag hat, weiß König Ylias von Reußen die beste aller möglichen Bräute, aber gleichzeitig auch, daß sie nicht zu haben ist, weil noch jeder Werber bisher den Kopf verloren hat. Diese Frau will Otnit als Königin. Darauf bedauert der König von Reußen, daß er von ihr berichtet hat: 17 Da sprach der künig von Rewssen ›nu sei es got geklagt, daz ich dir dise märe hewte han gesagt, die nach deinem tode dir auferstanden sint. ich widerriet es gerne: du bist meiner swester kindt.‹ 17 Darauf sprach der König von Reußen: »Nun sei es Gott geklagt, daß ich dir diese Geschichten heute gesagt habe, die dir zum Tode sich hier erhoben haben. Ich würde dir gerne abraten, du bist meiner Schwester Kind!«

Die Formel du bist meiner swester kindt, mit der er Otnit seiner Unterstützung mit Rat und Tat versichert, wird Ylias wenig später wiederholen, als Otnit sich von einem Brauteroberungskriegszug ins Heidenland nicht abbringen lassen wird: du bist meiner swester kind. / von rechte sol ich wagen bei dir leib und mein leben – Ylias, der Mutterbruder, bekennt sich zu seinem Rechtsverhältnis gegenüber dem Schwestersohn: »Du bist meiner Schwester Kind! Und deswegen werde ich nach Recht und Pflicht bei dir Leib und mein Leben wagen« (28, 2f.). Über die Bedeutung des Mutterbruders, besonders in deutschsprachigen mittelalterlichen Texten, mit der eignen Verwandtschaftsbezeichnung œheim, brauche ich hier nichts weiter zu sagen; sie ist mittelalterlichen Autoren selbstverständlich. Um so merkwürdiger ist die Fehlleistung in Strophe 17, 4, und wir müssen uns fragen, wie sie dem Schreiber unterlaufen konnte. An der ersten Stelle, an der in Ylias’ Rede die Formel du bist meiner swester kindt steht, enthält sie nämlich eine Konjektur. Die vermutlich keiner in Frage stellen wird. 6 Deren mit ihr verworfenes Element wir aber doch einmal in ihrer Wirkung durchrechnen wollen. Ich wiederhole, um die Intensität deutlich zu machen, die Strophe 17 ohne Eingriff: 5 Ortnit und die Wolfdietriche nach Müllenhoffs Vorarbeiten hg. von Arthur Amelung und Oskar Jänicke [= Deutsches Heldenbuch, dritter Teil 1871], Dublin/Zürich (Weidmann) 1968 [unveränderter Nachdruck der 1. Auflage]. Die Edition folgt, wie meistens, der Handschrift W, die hat von ir. 6 Die Handschrift W hat: Dv pist meiner swester chint.

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17 Da sprach der künig von Rewssen ›nu sei es got geklagt, daz ich dir dise märe hewte han gesagt, die nach deinem tode dir auferstanden sint. ich widerriet es gerne: die ist meiner swester kindt.‹

Was hat das Unbewußte Hans Rieds oder seiner Vorlage, die wir nicht kennen und die sicher nicht W gewesen ist, hier geleistet? Wenn wir ausschließen, daß im Moment der Niederschrift gerade Hans Rieds Nichte den Oheim besucht hat (ich weiß nichts über Rieds Verwandtschaftsverhältnisse), dann ist hier mehr geleistet als nur ein Verschreiber von »du bist« zu »die ist«; die Abweichung ist zwar nur i plus e gegen b und seine Position, aber sie ist doch grammatisch so gewichtig, daß sie mit einer Verschluderung nicht zu erklären ist. Es muß die Vorlage oder Hans Ried ein Verwandtschaftsszenario im Kopf bewegt haben, und zwar das inzestuöse, von dem Ylias bis zu dieser Strophe noch nicht gesprochen hat; bisher hat er nur berichtet, daß das Mädchen unübertrefflich schön ist und jeder Bewerber geköpft wird. In der Riedschen Formulierung ist Ylias der Oheim der begehrten Braut. Die namenlose Ehefrau des Heidenkönigs ist seine Schwester. Dann hat er also zwei Schwestern, die eine ist Otnits Mutter, die andere die seiner künftigen Königin, die beiden sind Geschwisterkinder, Cousin und Cousine. Bis hier war aber vom Inzestbegehren des Heidenvaters und seiner Frau noch keine Rede. Bis hier könnte sich im Kopf auch folgende Konstellation bewegen: Der Rewsse, Reuße, Russe Ylias hat eine Schwester, die dem Heiden Nachorel eine Tochter und dem namenlosen, vermutlich gestorbenen König von Lamparten und vermeintlichen Vater Otnits einen Sohn geboren hat – dann wären Otnit und die Heidenprinzessin Geschwister, die vermeintlich exogamste Ehe wäre intimste Verwandtschaft, ein Motiv, das wir in Hartmans ›Gregorius‹ etwa lesen können. Die weitere Erzählung wird den Knoten etwas auflösen, es gibt eine eigene Mutter für die orientalische Prinzessin. Und die ist wie ihre Tochter eine Heidin (dazu habe ich später auch noch eine Fehlleistung im Text). Was also passiert im handschriftlichen Text? Ylias warnt Otnit vor der besten möglichen Beziehung, weil sie nur unter größter Gefahr zu erreichen wäre, wobei der Vater der Umworbenen nicht nur diese nicht hergeben will, was die häufigere Variante des Motivs ist, sondern die Tochter für sich selbst reserviert hat, was in der häufigeren Variante nur nicht ausgesprochen wird. Die Inzestuosität des Motivs ist dem Autor oder Schreiber im Kopf, vielleicht färbt das verbrecherische Begehren des Vaters auf die Tochter ab – weiß man, wie diese Heiden so sind?! Die Phantasie von der Beziehung als einer nicht nur gefährlichen, sondern auch gschlamperten fließt dem Schreiber der Warnung des Oheims in die Feder. Alle Beteiligten verstehen, was wirklich gemeint ist: Ylias wiederholt die Adresse an seinen Schwestersohn später richtig, Otnit überhört die Fehlleistung, Hans Ried übersieht sie, Handschrift W

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hat sie nicht, wir Neueditoren konjizieren sie. Aber sie bleibt ein Zeichen in diesem Text, in dem Inzestuöses an vielen Stellen gegenwärtig ist, auch wo keinerlei Notwendigkeit zu einem Eingriff ansteht. Oder, wenn wir schon nicht von Inzest reden wollen: in diesem Text, in dem verwandtschaftliche und sexuelle Beziehungen alles andere als gradlinig und eindeutig sind. 7 Ich nenne hier zur Verdeutlichung nur die emphatische Ernennung des Oheims Ylias zum Vater Otnits, als Ylias Otnit fragt, wem er für die bevorstehenden Unternehmungen Rat und Ehre anvertrauen wolle: 55 Da sprach der Lamparte ›ich bin deiner swester kindt. seit daz die fürsten alle in unserm gewalte sint, ich wil dich ze vater kiesen: du bist der vater mein. die leute und auch mich selben emphilhe ich auf die trewe dein.‹ 55 Darauf sprach der Lamparte: »Ich bin deiner Schwester Kind. Da all die Fürsten unter unserer Herrschaft sind, will ich dich zum Vater wählen: Du bist mein Vater! Die Leute und auch mich selber empfehle ich deiner Treue.«

Das mag ursprünglich nicht mehr heißen als: Wenn der Vater tot ist, ist der Oheim der nächste Verwandte, der an seine Stelle tritt, es heißt aber auch nicht weniger, als daß die Phantasie, daß Otnit das Kind von Geschwistern sein könnte, nicht weit ist – eine monströse Vorstellung? Nun, nicht monströser als die erzählte Geschichte, daß der wie der Mann seiner Mutter zeugungsunfähige Otnit die Frucht einer Vergewaltigung seiner Mutter durch einen Nichtmenschen aus dem Elfenreich, den Zwergenkönig Alberich, ist. Wohlgemerkt, dem Text entsprechend: Ylias wird nicht zum Vater, gleich Ersatzvater, ernannt, weil er der Mutterbruder ist, sondern weil er der einzige ist, der nicht als Abhängiger unter Otnits Herrschaft steht. Wir könnten sagen, weil er als König unter dem Herrschaftsaspekt exogam ist, kann er scheinbar unverdächtig an die unter dem Herrschaftsaspekt endogame Position des Vaters berufen werden, der souveräne König Otnit begibt sich in die Position dessen, der gegenüber dem Vater nichts zu sagen hat, des Infanten (ich erinnere an die schon besagte Zeugungsunfähigkeit Otnits, die sich am Ende des Otnitromans erweisen wird).

7 Vgl. Uta Störmer-Caysa, Ortnits Mutter, die Drachen und der Zwerg, in: ZfdA 128 (1999), S. 282–308; und: Dietmar Peschel, Dreifacher Salto ödipale: König Ortnit und seine Väter, in: D. P., Beziehungsknoten. Sieben Essays über Kindschaft und Liebschaft und Herrschaft in mittelalterlicher Literatur, Erlangen, Jena 2007, S. 158–194.

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Zu fast jeder der wichtigen Beziehungen Otnits habe ich noch mindestens eine interesssante Fehlleistung oder Textvariante – so weit wir mit der Rekonstruktion des Texts bisher gekommen sind: Zum Oheim, zur Mutter und zum Zwergenvater. Meines bisherigen Argumentationszusammenhangs wegen schaue ich zuerst auf die entfernteste Stelle. Um die Strophe 225 befinden wir uns bereits auf dem Kriegszug nach der Prinzessin, kurz vor dem Einlaufen in einen syrischen Hafen, als Otnit mit großem Jammer bemerkt, daß er vergessen hat, seinen Zwergenvater mitzunehmen, der ihm Hilfe mit all seinen Künsten zugesagt hatte. Der Heerführer Ylias von Reußen weiß von diesem leiblichen Vater noch nichts. Er reagiert mit Zorn auf den Jammeranfall seines Neffen: 225 Mit zorne sprach der haiden ›du hast doch alle die, die dir da helfen solten, die hast auch bei dir hie. ze sturme und auch ze streite hast du wol bewart in liechten stahelringen dreissigtausent gar geschart.‹ 225 Mit Zorn sprach der alte Heide: »Du hast doch alle die, die dir da helfen sollten, die hast du doch alle hier bei dir! Für Sturm und Streit hast du, wohl gerüstet mit leuchtenden Stahlringen, dreißigtausend, als bestens geordnetes Heer.«

Das Wort, um das es geht, ist das Wort haiden im Riedschen Text, das auch W schon hat. In anderer Überlieferung steht sehr passend Riuze 8 , wie Amelung auch in seine Edition gesetzt hat. Wir haben nach reiflicher Überlegung, wie meine Übersetzung zeigt, das Wort als Metapher verstanden, als eine Art respektvoller Kriegerbezeichnung, sagen wir, wie »alter Schwede«. Wie aber, wenn es wörtlich zu nehmen wäre! Die Reußen als Heiden vorgestellt ist kein Problem. Es könnte ein Vorlagenrest sein, der auf eine nicht nur diskutierte, sondern gar anzunehmende Herkunft des Stoffs aus Slavien weist. Die Verheiratung einer Schwester mit einem Heidenkönig erschiene in einem andern Licht. 9 Die andere Schwester könnte eine getaufte Heidin sein, so wie ja auch Otnits geraubte Braut 8

Vgl. Amelung/Jänicke im Apparat zu 225. Auch das ungeheuerliche Wüten Ylias’ nach der Schlacht im Orient, das sich gegen verwundete Feinde und verwundete eigene Christenkrieger gleichermaßen richtet, erschiene in einem andern Licht. Dieses Licht kann man schon in Strophe 27, 4–28, 1 beim Ratsbeschluß zur Brautwerbungsfahrt glimmen sehen: Dort heißt es nur im editorisch bereinigten Text: ›mit frölichem muot‹ sprach der künig Otneit / ›sollen wir die haiden tödten, die nindert cristen sint.‹ (»Mit fröhlichem Mute«, sprach der König Otnit, »werden wir die Heiden töten, die ja doch keine Christen sind.«) Bei Ried steht die indert cristen sint (die allemal Christen oder christlich sind). Otnit kriegt das vergessene n in den Mund gelegt! Anschließend, in derselben Strophe 28, 2ff., schwört ihm Ylias als seinem Schwestersohn seine Ergebenheit. 9

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alsbald durch die Taufe verchristet wird, so daß sie im folgenden Wolf DietrichRoman gar kein Problem für den Otnitnachfolger sein wird – im Gegensatz zu der heidnischen Verführerin, die sich nicht nottaufen lassen will für das Sexabenteuer des Helden. Eine Winzigkeit im Zusammenhang mit Alberich, dem Zwergenvater Otnits. Otnit hatte ihn mit Hilfe eines Rings gefunden, den er von seiner Mutter bekommen hatte, als er zur Überbrückung der Zeit bis zum Kriegszug bei günstigem Wind noch eine Abentewr suchen wollte. Der Ring hatte ihn zu dem wie ein schlafendes Kind daliegenden, ihm noch ganz unbekannten Alberich geführt. Im Laufe des allmählichen, teils tändelnden, teils gewaltsamen Kennenlernens der beiden kommt Otnit der Ring abhanden und fällt Alberich in die Hände. Kaum hat Otnit den Ring nicht mehr, kann er Alberich nicht mehr sehen: 142 Da sprach der Lamparte ›sag an, wo bist du hin?‹ mit zorne sprach der claine ›nun enruoch, wo ich bin! du hast von deiner hende ein vingerlein gegeben, daz du nicht überwindest, und solt du lenger leben. 143 Da du mich erste vienge und dich mein auge sach von disem selben staine das gelück dir geschach. ich müesse dir immer dienen, hestu daz vingerlein. nu hebe dich, war du wellest – das wirt nimmer dein.‹ 142 Und dann sprach der Lamparte: »Sag an, wo bist du hin?« Mit Zorn sprach der Kleine: »Was kümmert’s dich, wo ich bin? Du hast einen Ring von deiner Hand hergegeben, darüber kommst du nicht hinweg, und wenn du noch so lange leben solltest! 143 Als du mich zum ersten Mal fingst und mein Auge dich sah, geschah dir dieses Glück durch eben diesen Stein. Ich müßte dir für immer dienstbar sein, hättest du den Fingerring. Nun heb dich fort, wohin du willst, er wird nimmer dein.«

Die Winzigkeit, um die es geht, sind die Pronomina im ersten Abvers von Strophe 143: dich und mein bei Ried. In der Handschrift W und entsprechend in der Edition bei Amelung heißt es 143,1 vnd mich dein aug, was in einer oberflächlichen Erzähllogik das Richtige scheint, denn wie wir hier erfahren, macht der Ring Alberich sichtbar für den Ringträger. Es ist das aber nur, was Otnit aus der Situation jetzt verstehen kann. In der Tiefe der Geschichte und nach der Biologik ist der Vater dem Sohn schon immer vorausgegangen. »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!« Alberich wird Otnit noch erzählen, daß er seine Mutter geschwängert habe, um ihr zu einem Sohn zu verhelfen, damit sie bei den Diadochenkämpfen um den verwaisten Königsthron nicht verstoßen würde. Alberich muß, auch wenn davon nichts erzählt wird, den Ring Otnits Mutter gegeben

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haben. Alberich hat für seinen Sohn schon lange eigenhändig eine wunderbare Rüstung und Waffen vorbereitet. Alberich wird im Mastkorb auf Otnits Kriegsschiff vor Syrien sitzen, als der jammert, daß er seinen wichtigsten Helfer vergessen hat. Wir denken, die irritierende Riedsche Formulierung gehört in den Text, sie ist die psychologisch klügere und die poetischere Variante; wir werden sie mit einem Kommentar begleiten. In den selben Zusammenhang der Vater-Sohn-Auseinandersetzung und -Zusammenfindung gehört die folgende Stelle, ein Musterbeispiel für die Struktur eines ödipalen Verhältnisses und damit Grundlage eines inneren Konflikts. Alberich erzählt seinem Sohn die angeblich fürsorglichen Gründe dafür, daß er die Königin vergewaltigt und Otnit gezeugt habe, und beschließt die Strophe 173 mit einer hanebüchenen Aufforderung: 173 Da stuont ich vor dem bette und hort was si do sprach. davon ward ich ir gewaltig, daz si mich nicht ensach. wie sere si sich werete, so ward si doch mein weib. nu minn mich also clainen für zwaier künige leib. 173 Damals stand ich vor ihrem Bett und hörte, was sie in dem Moment sprach. Ich konnte sie überwältigen, weil sie mich nicht sah. Zwar hat sie sich schmerzhaft gewehrt, aber mein Weib wurde sie doch! Minn mich und liebe mich, so klein wie ich bin, für die Verkörperung zweier Könige!

In dem ungewöhnlichen und unmöglichen Imperativ nu minn(e) mich sind mehrere Bedeutungen von minnen enthalten: »lieben, achten, ehren, aufmerksam sein«, wie es einem König, Vater, Gott gebührt; »Zuneigung, Liebe«, wie sie eine Beziehung zwischen Eltern und Kindern bestimmen; »sexuelles Begehren«, wie es zu einem Liebespaar gehört und in diesem Roman auch als Färbung der Beziehung Otnits zu seiner Mutter erzählt wird. Mehrdeutig ist die Rede von der Verkörperung zweier Könige trotz Zwergenwuchs: Zum einen hypertrophes Selbst-, Potenz- und Machtbewußtsein des unterschätzten Zwergs, wie 128, 4 wie vil du hast der lande – : dann dein drei! (Wie viele Länder du auch hast – : wie drei von deiner Sorte!) und 174, 1–2 Ich traw mer bezwingen dann du und alles dein heer. / sich getar kain künig gesetzen wider dich ze weer (Ich trau mir zu, mehr zu bezwingen, als du und all deine Heeresmacht, obwohl kein König wagt, sich dir zur Wehr zu setzen!); zum anderen Anspielung auf die doppelte Vaterschaft aus impotentem Erbvater und biologischem Vater. Auch das für kann man in zweierlei Weise verstehen: »Liebe mich als die Verkörperung zweier Könige« oder »Liebe mich für die doppelte königliche Abkunft, die ich dir geschenkt habe«. Der ganze

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Vers könnte auch als Teil von Alberichs Vergewaltigungsbericht gemeint sein, als direkte Rede an die Königin und ihre protzende Widergabe für den Sohn. 10 Zuletzt will ich noch einige Stellen besprechen, die Otnits Verhältnis zu seiner Mutter betreffen. Es ist dieses Verhältnis ganz besonders intim, so intim, daß es zuweilen geradezu inzestuös wirkt, wie schon Uta Störmer-Caysa geschrieben hat und wie ich es auch lese. 11 Mag sein, daß die Intimität nichts anderes anzeigt, als daß die Mutter außer ihrem Sohn keinen Verwandten in der Fremde, in die sie geheiratet hatte, besitzt. Als Otnit zu der Aventiure vor dem Kriegszug aufbrechen will, 76 Da sprach die fraw in züchten ›du bist mein liebes kint, seit alle meine mage an dich gedigen sint und auch an meinen bruoder, deinen oheim Ylias, den künig von wilden Reussen, der dir ie getrewe was.‹ 76 Darauf sprach die Dame mit feiner Art: »Du bist mein liebes Kind, seit es dahin gediehen ist, daß meine einzigen Verwandten du und noch mein Bruder seid, dein Oheim Ylias, der König von wilden Reußen, der dir seit je getreu war.« 12

Mag sein, daß sie deshalb den jetzt herrschenden jungen König, ihren Sohn, vater und herre, mann unde kindelein (72, 2) nennt. Sie gibt ihm den Zauberring, den Vaterfindering, mit der Mahnung, ihn unter keinen Umständen aus der Hand zu geben, was Otnit hoch und heilig verspricht; natürlich ist der Ring die Verbindung zwischen Mutter und Alberich, an der Oberfläche; darunter ist auch die Verbindung von Mutter und Sohn (er wird am Ende noch eine verwirrende Rolle zwischen Otnit und Frau und Mutter spielen 13 ). In der strophischen Abfolge der Aventiureaufbruchsszene geht die Geschichte so: Nachdem die Mutter Otnit und ihren Bruder als ihre einzige Verwandtschaft beschworen hat, antwortet der Sohn: 77 ›Bring mir meine ringe‹ also sprach der helt bald, ›ich muos nach abentewr reiten in den walt. 10 Die Handschrift W (und nach ihr Amelung) hat nim statt Rieds mynn – eine für W typische weniger verfängliche Lesart (womit durchaus nicht behauptet werden soll, daß W immer Verfängliches eskamotiert; es kann die Vorlage von Ried, wenn schon nicht Ried selbst, auch das Pikante herausgearbeitet haben); die sechs Schäfte in W lassen sich auch als min lesen, sind in dieser Form im Zusammenhang aber kaum anders als in der Bedeutung ›nimm‹ zu verstehen. In Amelungs Apparat fehlt die Riedsche Lesung. 11 Vgl. Anmerkung 7. 12 Hier, 76, 4, folgt Amelung Ried – der Bezug von Ylias’ Treue auf Otnit steht nicht in W, dort fehlt dir. 13 Vgl. Anmerkung 7.

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mir ist, mein muoter, so ringe, mir gelinget villeichte wol. der biderbe an allen dingen sein hail versuochen sol.‹ 78 Da sprach sein liebe muoter ›du wilt in sorgen leben. und suochest du abentewr, ich wil dir mein stewr geben, daz du mir immermere muost dester holder sein. wenn du nu von mir reitest, so gib ich dir das vingerlein.‹ 77 »Bringt mir meine Kettenrüstung«, sprach der kühne Held, »ich muß auf Abentewr reiten in den Wald. Mir ist, meine Mutter, so leicht-gering, es wird mir schwerlich mißlingen. Der Wackere soll an allem, was er hofft, sein Heil versuchen!« 78 Darauf sprach seine liebe Mutter: »Du willst und wirst dein Leben in Sorge und Gefahr bringen, du suchst Abentewr, ich will dir meine Aussteuer geben, daß du mir in alle Zukunft nur desto mehr deine Huld entgegenbringen mußt. Wenn du denn von mir wegreitest, so gebe ich dir diesen Fingerring.«

Im Anvers 77, 3 hat AMELUNG nach der Handschrift W mir ist mîn muot sô ringe, bei Ried steht Muter, mit großem M (muoter noch neunmal in Str. 70 bis 85). Unser Prinzip, Rieds Schreibung ernstzunehmen, führt zu mehreren Bedeutungsmöglichkeiten. Die hier im Text stehende ist neuhochdeutsch einigermaßen plausibel. Sie hat den Nachteil, daß das vorangestellte Pronomen in der Anrede keine Parallele in ›Otnit‹ und ›Wolf Dietrich‹ hat (wie es aussieht, auch in keinem andern Riedschen Text), mittelhochdeutsch wäre sie ohnehin nicht. Wenn ich mein muoter (die Kommas stehen nicht in der Handschrift) nicht als Anrede verstehe, heißt die Stelle: Meine Mutter bedeutet mir so wenig, oder: meine Mutter belastet mich so wenig, oder: behindert mich so wenig – ich werde leicht Erfolg haben! Sie wäre eine Abwehr der Sorge und der Liebe der Mutter, ihrer beschworenen Einsamkeit. Die Verse 77, 3 und 4 könnten im Vortrag als ein aside gesprochen werden. Sie wären eine vorweggenommene Abwehr der Ringverbindung, die die Mutter gleich in der nächsten Strophe herstellt. Als Alberich seinem Sohn den Ring abgeluchst hat und der den Vater nicht mehr sehen kann, will Otnit zornig davonreiten, Ring hin oder her. Der unsichtbare Alberich verhöhnt ihn: 150 ›Wem wilt du nu lassen dein liebes vingerlein? oder wer sol dir hulde gewinnen umb die muoter dein? du magsts ungerne verliesen: der stain ist also guot. wie mich die slege erbarment, die dir dein muoter tuot!‹ 150 »Wem willst du nun deinen geliebten Fingerring überlassen? Oder wer sollte dir die Huld bei deiner Mutter wiedergewinnen?

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Du kannst ihn nicht verlieren wollen – der Stein ist dermaßen gut! Ach, was barmen mich die Schläge, die dir deine Mutter antun wird!«

In Vers 150, 3 kann sich das Riedsche enklitische s an du magsts auf den Ring beziehen (es, das vingerlein), oder auch unmittelbar zurück auf die Mutter, die Interpunktion steht nicht in der Handschrift, die hat nur Reimpunkte: »Du kannst sie nicht verlieren wollen!« Alberich durchschaut seinen Sohn und sein Verhältnis zur Mutter, er durchschaut, daß der zornige Aufbruch, den Otnit gerade inszeniert, nur zu einem Teil ernstgemeint ist. Verspottet hatte Alberich den Sohn schon kurz vorher, bevor er noch seinen Ring wieder ergattert hat, als Otnit den Ring kaum zeigen, geschweige denn vom Finger geben will: 137 Es gab mirs mein muoter, der han ichs versworen. ich fürcht, ob ich dirs gäbe, ich het ir hulde verloren.‹ ›awe‹ sprach der claine, ›warzuo sol dir dein grosser leib und auch dein mannes sterke, und fürchtest du ein weib? 138 Das du so sere fürchtest eines weibes gerten schlag! ich wän dein leib von wunden da nimmer genesen mag.‹ ›si hat in guoter weile nie mit gerten mich geschlagen. mir ist aber so lieb mein muoter, daz ich ir geren wil vertragen. 137

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Es war meine Mutter, die hat ihn mir gegeben, der hab ich einen Schwur geleistet. Ich fürchte, wenn ich ihn dir gäbe, ich hätte ihre Huld verloren.« »Oh weh«, sprach der Kleine, »was taugt dir dein mächtiger Körper und auch deine Manneskraft, wenn du ein Weib fürchtest? Daß du so wehleidig fürchtest den Gertenhieb eines Weibes! Ich glaube fast, dein verwundeter Leib kann das nimmer überleben!« »Sie hat über so lange Zeit nie mit Gerten mich geschlagen. Aber mir ist meine Mutter so lieb, daß ich ihr gern verzeihen will.

Im Abvers 138, 4 heißt es bei Ried ich ir geren. Das kann das bedeuten, was unsere Übersetzung wiedergibt, denn unser Adverb ›gern‹ gehört zum ›Begehren‹. Es kann aber auch heißen: Ich will ihr Begehren aushalten – die Position des mittelhochdeutschen aber muß nicht zu einem so eindeutig adversativen Verständnis führen. Die Fassung der Handschrift W scheint hier vereindeutigen zu wollen, sie läßt das Pronomen ir weg, obwohl mir der Satz dadurch etwas ungrammatischer zu werden scheint. Wir haben uns hier für die weniger verfängliche Bedeutung entschieden. Worauf es mir ankommt, ist, zu zeigen, wie die Stellen, die ich Fehlleistungen genannt habe, eine erotische Atmosphäre im Text unterstützen, nicht schaffen, denn sie ist unmißverständlich angelegt und erzählt, sondern befördern, so als hätte der Aufschreiber oder Abschreiber oder Autor sie für den ganzen Roman präzise im Kopf und gegenwärtig. Vorgestellt habe ich nur die Stellen, die uns bisher aufgefallen sind, ich weiß nicht, wieviele der Gesamtroman noch enthalten wird.

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Zum Schluß möchte ich noch einmal das Editionsprinzip, das uns nach immer genauerer Lektüre des Riedschen Texts erwachsen ist, benennen: Wir versuchen, uns so weit von unserer berufslebenlang erarbeiteten Vorstellung von mittelalterlichem Schreiben und Erzählen zu befreien, daß wir uns trauen, möglichst ohne Konjekturen möglichst rücksichtslos Hans Ried und seiner Vorlage zu ihrem Recht zu verhelfen.

Maß und Zahl der Meisterkunst Über die Vorherrschaft der Form in der ›Cronica Vngarorum‹ Heinrichs von Mügeln von Karl Stackmann, Göttingen

Die Formulierung meines Themas stammt aus Ihrer Dissertation, lieber Herr Kugler. Dort ist ›Maß und Zahl der Meisterkunst‹ die Überschrift eines Abschnitts in dem zentralen Kapitel ›Meisterliedstrukturen und handwerkliche Arbeitsweise.‹ 1 Ihr Material nötigte Sie zu der Annahme, daß ein Arbeiten nach Maß und Zahl, analog zur handwerklichen Arbeitsweise, die Machart der von ihnen untersuchten Texte bestimmt hat und daß diese Einsicht in unser Urteil darüber eingehen muß. Mügelns ›Cronica‹ stellt mich vor eine ähnliche Ausgangslage. Bei seiner Arbeit an diesem Werk spielt die Einhaltung vieler in einem Gesamtplan niedergelegter Proportionen eine wesentliche Rolle. Das brachte mich auf den Gedanken, meinen Beitrag zu diesem Festkolloquium mit einer Erinnerung an Ihre Göttinger Anfänge zu beginnen. Ich denke gern an unsere gemeinsame Zeit zurück, auch wenn sie in die von Unruhen an der Universität durchzogenen frühen 70er Jahre fällt. Der verbindende Begriff ist ›Meisterkunst‹. Man kann ihn auf Mügelns Kunst anwenden, freilich in einem etwas andern Sinne, als Sie es im Blick auf Ihren Helden Ambrosius Metzger und seine Nachdichtung von Ovids Metamorphosen getan haben. 2 Mügeln agiert nicht in einem handwerklichen Milieu, sein Œuvre ist vor einem gelehrt-höfischen Hintergrund zu sehen. Aber seine Sangspruchdichtung, auf die sich sein Nachruhm vor allem gründet, ist der von Frieder Schanze 3 näher bestimmten ›meisterlichen‹ Spielart dieser Kunst zuzurechnen, und die wiederum ist Vorstufe des städtischen Meistergesangs. Ich bleibe also mit meiner Anleihe bei Ihnen auf verwandtem Terrain. 1

Hartmut Kugler, Handwerk und Meistergesang, Göttingen 1977 (Palästra 265); spez. S. 115–121. 2 Ambrosius Metzger, Metamorphosis Ovidii in Meisterthöne gebracht, hg. von Hartmut Kugler, Berlin 1981 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 31). 3 Frieder Schanze, Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, 2 Bde., München 1983 u. 1984 (MTU 82/83).

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I Die ›Cronica‹ beruht auf der deutschen Ungarnchronik Mügelns. 4 Man muß dies ältere Werk heranziehen, wenn man sich ein zutreffendes Bild von der ›Cronica‹ machen will. Ich fasse die wichtigsten Daten zusammen. Mügeln hat seine hystorien der Hewnen – so nennt er sie im Prolog – um 1360 herum für Herzog Rudolf IV. von Österreich 5 abgefaßt. Die Darstellung setzt mit der Sündflut ein und führt in 73 Kapiteln über Noah, seine Söhne, seinen Urenkel Nimrod und dessen Söhne Hunor und Magor durch die Wechselfälle der hunnischen und der magyarischen Geschichte bis zur Sizilienfahrt König Karl Roberts im Jahre 1333. 6 Als Vorlage diente Mügeln zwar nicht, wie man früher annahm, die berühmte Budapester Bilderchronik, aber, folgt man Helmut Ludwig 7 , eine zu erschließende nahe Verwandte dieser Handschrift. Mügeln hat diese Quelle in seiner Verdeutschung überarbeitet, vor allem auch gekürzt, im ganzen aber verständnisvoll wiedergegeben. Das sagt Ludwig mit einer deutlichen Spitze gegen Sándor Domanovszky, der Mügeln in einem Aufsatz vom Jahre 1907 schwere Mißverständnisse und Fehler vorgeworfen hatte. Die ›Historien‹ sind in neun Handschriften überliefert. Die beiden ältesten befinden sich in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Eugen Travnik hat den Text 1938 auf Grundlage der ersten dieser Handschriften ediert. 8 Die Edition ist in gewisser Hinsicht sehr modern zu nennen. Der Historiker Travnik hält sich mit einer für damalige Verhältnisse (jedenfalls aus der Sicht des Philologen gesehen) geradezu befremdlichen Treue an die Überlieferung. Selbst bloße Verschreibungen werden nicht im Text, sondern in einem – übrigens ziemlich umständlich angelegten – Anmerkungsapparat richtiggestellt Das macht die Lektüre zu einem einigermaßen mühseligen Geschäft. Die sonstige Überlieferung hat Travnik nur fallweise herangezogen. Von ihrem Zustand bekommt man durch die Ausgabe nur ein verschwommenes Bild; von dem vorauszusetzenden Autortext kann man sich keine zureichende Vorstellung machen. Travnik beschreibt die Lage folgendermaßen: Textus […] satis corruptus multisque mendis et vitiis inquinatus nostrae memoriae traditus est ita tamen, ut non omnia errata ad librarios, sed nonnulla ad ipsum interpretem referenda sint 4

Zu beiden Chroniken vgl. 2VL 3, Sp. 818f. Lex. MA 7, Sp. 1079 (Nr. 10). 6 Lex. MA 5, Sp. 987f. (Nr. 23). 7 Heinrichs von Mügeln Ungarnchronik, Diss. Berlin 1938; spez. S. 26–37. 8 Chronicon Henrici de Mügeln Germanice conscriptum, ed. Eugenius Travnik, in: Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum, Bd. 2, Budapest 1938, S. 89–223; im folgenden zitiert unter der Sigle H mit Seitenund Zeilenzahl. 5

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(S. 100). Über eine einzelne Sorte von Fehlern kann man sich anhand der Ausgabe recht gut unterrichten: Die Namen sind durch Fehllesungen und Mißverständnisse in ungewöhnlichem Maße entstellt. Ärgerlich oft bleibt man im unklaren darüber, in welchem Land, an welchem Ort sich ein Ereignis abspielt oder mit welchen Personen man es eigentlich zu tun hat. Der historische Bericht nimmt daher nicht ganz selten romanhafte Züge an. Schuld daran ist die für Mügeln und seine Abschreiber fremde Namenswelt. So viel über die ›Historien‹, nun zur ›Cronica‹. Sie ist König Ludwig I. 9 , dem Großen, gewidmet, man kennt sie nur aus einer einzigen Handschrift. Mit andern lateinischen Texten zusammen ist sie in dem Sammelband 3352 der Österreichischen Nationalbibliothek überliefert. Den Namen des Verfassers nennt sie nicht. Der Inhalt entspricht demjenigen der ›Historien‹, bricht aber mit dem Beginn der Streitigkeiten zwischen den Königen Salomon 10 und Geza II. 11 etwa beim Jahre 1071 ab. Wir haben es augenscheinlich mit einem Fragment zu tun. – Für einige genauere Angaben zur Überlieferung ziehe ich eine briefliche Auskunft Gisela Kornrumpfs heran. 12 Danach ist der Text gegen Ende des 14. oder zu Beginn des 15. Jahrhunderts niedergeschrieben worden. Er füllt genau drei Quaternionen. Die ›Cronica‹ endet mitten in der dritten Strophe einer im Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter abgefaßten Passage. Man wird daraus schließen dürfen, daß der fragmentarische Zustand auf einem Verlust weiterer Lagen beruht und nicht etwa, wie auch vermutet worden ist, darauf, daß Mügeln, aus welchem Grund auch immer, die Arbeit vorzeitig abgebrochen hat. 13 Wir lesen die ›Cronica‹ heute in der Ausgabe Domanovszkys aus dem Jahre 1938 14 . Sie ist wie Travniks Ausgabe der ›Historien‹ ein nahezu diplomatischer Abdruck. Nicht einmal das Fehlen je eines Verses in den Abschnitten 13 und 46 ist angemerkt. 15 Der Text bedürfte einer Überprüfung und vor allem einer Kommentierung. Dem stellen sich freilich beträchtliche Schwierigkeiten in den Weg. Denn metrische Notwendigkeiten, auch der Hang zum Blümen führen zu irritierenden Unklarheiten und Dunkelheiten des Wortlauts. 9

Lex. MA 5, Sp. 2190f. (Nr. 21). Lex. MA 7, Sp. 1315 (Nr. 2). 11 Lex. MA 4, Sp. 1434f. 12 Sie ihrerseits verwertet auch Auskünfte von Frau Dr. Eva Irblich. 13 So Jörg Hennig, Chronologie der Werke Heinrichs von Mügeln, Hamburg 1972 (Hamburger Philol. Studien 27), S. 193f. 14 Chronicon Rhythmicum Henrici de Mügeln, ed. Alexander Domanovszky, in: Scriptores [Anm. 8], Bd. 2, Budapest 1938, S. 227–272; im folgenden zitiert unter der Sigle Cr mit Abschnitt-Nr. oder Spalten- und Zeilenzahl. 15 Die Verse wurden von dem Schreiber ausgelassen, ihr Fehlen beruht also nicht auf einem Versehen des Herausgebers. 10

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Die Verfasserfrage wurde 1869 durch eine glänzende Observation von Wilmanns gelöst. 16 Er wußte aus der älteren Ausgabe von Engel, 17 daß der Verfasser eine Reihe von Strophenformen aus der deutschen Dichtung des 13. und 14. Jahrhunderts benutzt hat. Ansatzpunkt für seine Überlegungen war die Beobachtung einer Merkwürdigkeit. In der ›Cronica‹ sind die ersten drei dieser insgesamt zwölf deutschen Töne dem namentlich nicht genannten auctor zugeschrieben. Bei den übrigen erfährt man jeweils, wer der Urheber ist. Wilmanns schließt aus der Sonderbehandlung der ersten Töne, daß sie tatsächlich dem Verfasser der ›Cronica‹ gehören. Es sind drei Töne Heinrichs von Mügeln: Grüner Ton, Hofton, Langer Ton. Roethe präzisierte dies Ergebnis durch eine Untersuchung über das Verhältnis der ›Cronica‹ zu Mügelns ›Historien‹. 18 Er stellte die enge Zusammengehörigkeit beider Texte fest. Von Beweiskraft sind insbesondere gemeinsame Abweichungen von den sonstigen ungarischen Chroniken. Dafür ein paar Beispiele: Dietrich von Bern rät seinem Lehnsherren Etzel zu einem Zug nach W e s t e n . Dort gebe es großen Ruhm zu erringen. Etzel macht sich auf und zieht durch Bayern und Schwaben rheinabwärts über Straßburg nach Gallien. In den ›Historien‹ rät Dietrich zu einem Zug nach O s t e n , ebenso berichtet die ›Cronica‹. 19 Das ist angesichts der tatsächlichen Verhältnisse unsinnig. Der Schwiegersohn König Theoderichs, der Burgunderkönig Sigismund, heißt in ›Historien‹ und ›Cronica‹ Gysgamundus. 20 Bei der Schilderung von Ungarnzügen Heinrichs I. ist unter anderm von der Iller die Rede. In der ungarischen Chronistik wird sie als flumen Illirici geführt. ›Historien‹ und ›Cronica‹ haben stattdessen Vlreichspach (›Historien‹) oder Vlrichspach (›Cronica‹). 21 Dies ist ein Auszug aus Roethes umfangreicherem Material. Weiteres findet man bei Travnik und Domanovszky in den Anmerkungen zu ihren Ausgaben. Daraus erwähne ich nur einen einzigen weiteren Fall: ›Historien‹ und ›Cronica‹ datieren den Zug der Hunnen von Skythien nach Pannonien auf das Jahr 1028 22 , also in die beginnende Salierzeit. Das ist absurd. 16

Wilhelm Wilmanns, Ein lateinisches Gedicht Heinrichs von Müglin, in: ZfdA 14 (1863), S. 155–162. 17 Monumenta Ungrica, ed. Joh. Christianus Engel, Wien 1809, S. 1–54. 18 Gustav Roethe, Heinrichs von Mügeln ungarische Reimchronik, in: ZdfA 30 (1886), S. 345–350. 19 H 116, 10f. – Cr 239 a, 13. 20 H 116, 15. – Cr 239 a, 20. 21 H 134, 13 – Cr 249 b, 17. 22 H 109, 22f. – Cr 236 b, 29.

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Die sonstige Chronistik verlegt das Ereignis in das Jahr 328 oder 378, und damit ist man bei Zeitvorstellungen, die zur hunnischen Geschichte passen. Travnik erklärt den Mißgriff mit einem Lesefehler Mügelns. Er habe ein CCC seiner Quelle fälschlich als M aufgefaßt. 23 II Zunächst soll über die Form der ›Cronica‹ gesprochen werden. Hält man sich an den Eindruck, den die Handschrift vermittelt, dann muß man annehmen, man habe es mit 49 in einer einfachen Reihe hintereinandergestellten Abschnitten zu tun, deren jeder von einer eigenen Rubrik eingeleitet wird. – ›Abschnitt‹ ist für das Gemeinte kein sehr glücklicher Begriff. Ich verwende ihn nur, weil mir die Rubriken keinen geeigneten Terminus an die Hand geben. – Die Abschnitte treten in drei verschiedenen Formen auf: in Prosa, in rhythmischen Versen, in Strophen. Ich stelle zunächst jede Art für sich vor und gehe erst danach auf ihr Zusammenspiel in der ›Cronica‹ ein. Es kommen vier P r o s a - A b s c h n i t t e vor (Cr 1. 12. 23. 43). Beim dritten und vierten handelt es sich, wie schon Wilmanns anmerkte, um rhythmische Prosa. Der zweite ist als prosa simplex angekündigt und zeigt dementsprechend keine rhythmischen Klauseln. Der erste enthält die Widmung an König Ludwig. Er ist im wesentlichen mit dessen Herrschertiteln ausgefüllt und wird deswegen am ehesten ebenfalls mit prosa simplex einzustufen sein. Die Rubrik zu dem ersten Prosa-Abschnitt ist von einem gewissen überlieferungsgeschichtlichen Interesse und soll deswegen erwähnt werden. Sie lautet nach einer Gebetsformel (Sancti spiritus assit nobis gratia): Primus sexternus de chronica Vngarorum et de gestis eorundem. Das klingt wie ein bibliothekarischer Vermerk. Er wird aus der Vorlage übernommen sein. Zu dem Fragment aus der Wiener Handschrift paßt er jedenfalls nicht, denn das besteht aus Quaternionen. Die Rubriken führen die r h y t h m i s c h e n A b s c h n i t t e gewöhnlich, aber nicht regelmäßig als genus ritmicum ein. Ihre Gesamtzahl beläuft sich auf 33. Drei davon sind von den übrigen durch besondere formale Eigenschaften abgehoben und werden deshalb gesondert behandelt. Die übrigen dreißig kommen in neun verschiedenen Formen vor. Unterscheidend ist einerseits die Silbenzahl (Sieben- oder Achtsilbler), andererseits die Reimstellung: Rührender Reim (Cr 2. 13. 24. 44), Kreuzreim (Cr 3. 5. 14. 16. 26. 30), Paarreim (Cr 4. 6. 15. 17. 28. 32. 46. 48), Schweifreim (Cr 8. 19. 36), umschließender Reim (Cr 11. 22. 42). In 23 H 110, Anm. 1, die Bemerkung Travniks. – Vgl. auch Domanovszky, H 236, Anm. 6.

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sechs Fällen (Cr 9. 10. 20. 21. 38. 40) sind durch Reimbindung drei- oder vierversige Gruppen gebildet worden. ›Gruppe‹ ist ein Notname für Einheiten unterhalb der ›Abschnitt‹-Ebene. Die Rubriken helfen auch hier bei der Benennung nicht weiter. Sie bieten nur ein paar Mal den Begriff combinatio als Bezeichnung, wie es scheint, für ›Reim‹. Da sich die ›Gruppen‹ vor allem durch die Reimstellung unterscheiden, erlaube ich mir, im folgenden statt ›Gruppe‹ unser Fremdwort ›Kombination‹ zu verwenden. Im ganzen geben die Rubriken für die Benennung der verschiedenen Formen, die in den Abschnitten auftreten, wenig her. 24 Einigermaßen konsequent verfahren sie nur bei der Angabe, ob es sich beim genus ritmicum um Sieben- oder Achtsilbler oder eine Mischung von beiden handelt. Eine ausführliche Angabe findet sich nur zu den drei gesondert zu behandelnden Abschnitten und auch nur bei deren erstem Auftreten. Die Rubrik lautet in dem hier interessierenden Teil: Aliud genus ritmicum metrale habens concorrentiam combinationis in tricesima septima et octava sillaba (Cr 7). Der zugrunde liegende Text hat die Form in rhythmischen Versen nachgebildeter sapphischer Strophen. Die Strophe endet mit der 37. und 38. Silbe, d. h. der Kadenz des Adoneus. Je zwei Adoneen reimen in Mügelns Fassung der Strophe miteinander. Das dürfte mit concorrentia combinationis in tricesima septima et octava sillaba gemeint sein, es wird so etwas wie ›Zusammenprall (im Reim) einer combinatio mit der andern‹ bedeuten. Eine künftige Ausgabe sollte auf die Rubrik Rücksicht nehmen und das Druckbild, wie es schon in der Ausgabe Engels geschehen ist, demjenigen einer sapphischen Strophe anpassen. Je zwei dieser Strophen sollten wegen der Reimbindung enger zusammengerückt werden. Die s t r o p h i s c h e n A b s c h n i t t e werden in den Rubriken mit in nota mensurata angekündigt, was wohl ›in einem Ton mit eigenem Maß‹ heißen soll. Insgesamt sind 12 Abschnitte mit lateinischen Versen in Strophenformen der volkssprachigen deutschen Dichtung vorhanden. Den Anfang machen die drei Töne auctoris, also Heinrichs von Mügeln. Es folgen: der Goldene Ton Frauenlobs, die Paratweise Regenbogens, die Titurelstrophe Wolframs, die Hoftöne Mülichs und des Ungelehrten, der Hofton Boppes, der Neidhart zu Unrecht zugeschriebene Schwarze Dorn, der Hofton des Kanzlers, der Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter. 25 24

In einem Fall, bei den vier Abschnitten mit rührendem Reim (Cr 2. 13. 24. 44), ist mit in termino equivoco auf diese Besonderheit aufmerksam gemacht. Zu den beiden ersten vermerkt die Rubrik außerdem in ritmo spondaico [sic!], was wohl, in unserer Terminologie ausgedrückt, besagen soll, daß es sich um zweisilbige Takte handelt. Da bei den beiden übrigen (Cr 24. 44) das sonst übliche genus ritmicum erscheint, kann es nur um eine Ergänzung dieser Bestimmung gehen, nicht etwa um eine gänzlich andere.

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Bemerkenswert ist die Art der Aufzeichnung in der Handschrift. Im Unterschied zu den stichisch angeordneten Versen der rhythmischen Abschnitte sind diejenigen der strophischen Abschnitte fortlaufend geschrieben wie die Verse der Lied- und Sangspruchstrophen in den deutschen Handschriften der Zeit. Der Schreiber war also wohl mit diesem Usus vertraut, wenn er nicht dies Strophenbild aus seiner Vorlage übernahm. Das erscheint mir als durchaus erwägenswert, ja, ich halte es für denkbar, daß schon Mügelns Original so aussah. – Mit dem Unterschied der Aufzeichnung begründe ich, weshalb ich mit ›strophische Abschnitte‹ nur die Strophen in deutschen Tönen bezeichne, obwohl die meisten Abschnitte im genus ritmicum aus strophenähnlich organisierten combinationes, im Falle des genus ritmicum metrale sogar aus Strophen bestehen. Soviel über die in der ›Cronica‹ vorkommenden Formen. Nun ist über ihre Rolle in dem Bauplan zu reden, der dem Fragment zugrunde liegt. Ich setzte wieder bei Wilmanns ein und verfolge die von ihm gewiesene Spur weiter. Auf ihn geht die Beobachtung zurück, daß man vier Teile unterscheiden kann, deren vierter unvollständig ist. Der erste Teil besteht aus elf Abschnitten mit je eigener Form. Er beginnt mit einem Prosa-Abschnitt, auf ihn folgen fünf rhythmische Abschnitte, darauf der Abschnitt im genus ritmicum metrale, und dann noch einmal vier rhythmische Abschnitte. Dieser Aufbau wiederholt sich im zweiten Teil, nur daß die Abschnittslängen von denen des ersten Teils abweichen. 25

Zu den Sangspruchtönen ist heranzuziehen: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Katalog der Töne, bearbeitet von Johannes Rettelbach, Tübingen 2009 (RSM Bd. 2,1). In der folgenden Aufstellung erscheint vor der Angabe des jeweiligen Tons die Nummer des betreffenden Abschnitts in der Ausgabe Domanovszkys, dahinter in Klammern die Nummer in dem jeweiligen Teil der ›Cronica‹. Hinter dem Namen von Autor und Ton steht, durch einen Doppelpunkt abgetrennt, die Seitenzahl im RSM: 25 (III, 3) Mügeln, Hofton: S. 84. 27 (III, 5) Mügeln, Langer Ton: S. 85. 29 (III, 7) Mügeln, Grüner Ton: S. 84. 31 (III, 9) Frauenlob, Goldener Ton: S. 55f. 33 (III, 11) Regenbogen, Paratweise: S. 221. 35 (III, 13) Wolfram, Titurelstrophe. 37 (III, 15) Mülich, Hofton: S. 191. 39 (III, 17) Der Ungelehrte, Hofton: S. 278. 41 (III, 19) Boppe, Hofton: S. 21. 45 (IV, 3) Ps. Neidhart, Schwarzer Dorn. 47 (IV, 5) Kanzler, Hofton I: S. 102. 49 (IV, 7) Reinmar von Zweter, Frau-Ehren-Ton: S. 226. Ich habe Johannes Rettelbach dafür zu danken, daß er mir durch die Überlassung von Kopien der betreffenden Seiten den Nachweis der Fundstellen schon während der Arbeit an meinem Manuskript ermöglichte.

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Der gemeinsame Grundriß der Teile I und II ist im Teil III erweitert. Hinter jedem der neun Abschnitte 2–10 ist ein strophischer Abschnitt eingeschoben. Durch das Hinzutreten dieser neun strophischen Abschnitte erhöht sich die Gesamtzahl der Abschnitte auf 20. Auch der vierte Teil beginnt nach der Prosa mit einem Wechsel von einem rhythmischen Abschnitt zu einem strophischen. Es scheint also, als werde die Form des dritten Teils wiederholt. Jedoch steht hier der rhythmische Abschnitt, den man nach dem Grundriß der Teile I und II an sechster Stelle erwartet, schon an der dritten. Da es im Text keinen Bruch gibt, kann es sich nicht um einen Fehler handeln. Vielmehr muß man damit rechnen, daß sich hier eine abermalige Abwandlung des im Teil I gegebenen Grundrisses ankündigt. 26 Offenbar sah der Bauplan die Repetition und Variation einer begrenzten Zahl von Bauelementen vor. Das geschah nach Regeln, die sich mit Hilfe von Kardinalund Ordinalzahlen beschreiben lassen. Mit andern Worten: Mügeln arbeitet bei der ›Cronica‹ mit Mitteln der Zahlenkomposition. 27 Erstaunlich ist das nicht. Denn man kennt seit langem den Einfluß zahlenkompositorischen Praktiken auf die Anlage von zwei andern Großgedichten, von ›Tum‹ und ›Der meide kranz‹. 28 Das legt es nahe, grundsätzlich nach der Bedeutung der Zahlenkomposition für die ›Cronica‹ zu fragen. In der Tat gibt es über das bereits Festgestellte hinaus Indizien für ihre Wirksamkeit. Ich hebe einige Schlüsselzahlen heraus: 1: Jeder Teil hat je einen Prosa-Absatz und je einen Absatz im genus ritmicum metrale. 26

Schematisch läßt sich der Aufbau so darstellen: I: P R1 R2 R3 R4 R5 RM R6 R7 R8 R9 II: P R1 R2 R3 R4 R5 RM R6 R7 R8 R9 III: P R1/S1 R2/S2 R3/S3 R4/S4 R5/S5 RM/S6 R6/S7 R7/S8 R8/S9 R9. IV: P R1/S10 R6/S11 R3/S12 Erklärung der Siglen: P – Prosa. R – Genus rhythmicum; die verschiedenen Formen sind durch die Ziffern 1 bis 9 ausgedrückt. RM – Genus rhythmicum metrale. S – Strophische Abschnitte; sie sind durchgezählt. 27 Ernst Hellgardt hat das Nötige über »Möglichkeiten und Grenzen einfacher zahlenkompositorischen Formen« gesagt. Es gibt sie, aber man muß sich vor ihrer Überschätzung hüten. Die »Beziehungen der Gliederungszahlen zum Inhalt« sind gewöhnlich »von recht pauschaler Art«. Letztlich beruhen sie ganz einfach auf der »universalen Zahlhaftigkeit aller Form« und auf dem »Wissen darum, welches man im Mittelalter als besonders intensiv ansehen darf«; s. E. H., Zum Problem symbolbestimmter und formalästhetischer Zahlenkomposition in mittelalterlicher Literatur, München 1973 (MTU 45), S. 262–268, spez. S. 263. 28 Vgl. dazu Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln, Heidelberg 1958, S. 43f., 71–75. – Michael Stolz, ›Tum‹-Studien, Tübingen u. Basel, 1996, S. 78–91.

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2: Es erscheinen stollenartige Kombinationen aus 2 × 2 (Cr 3. 5. 14. 16. 26. 30), 2x3 (Cr 8. 9. 19. 20. 36. 38) und 2 × 4 (Cr 10. 21. 40) Versen. – Je zwei sapphische Strophen sind durch Kornreime aneinander gebunden. 3: Drei Grundformen: Prosa – genus ritmicum – (deutsche) Strophenschemata. – Je drei Abschnitte im genus ritmicum sind in den drei vollständig erhaltenen Teilen aus Siebensilblern (Cr 2. 4. 5. 13. 15. 16. 24. 28. 30), Achtsilblern (Cr 3. 6. 10. 14. 17. 21. 26. 32. 40) sowie aus einer Kombination von Sieben- und Achtsilblern (Cr 8. 9. 11. 19. 20. 22. 36. 38. 42) gebildet. – Jeder strophische Abschnitt besteht aus drei Strophen des jeweiligen Tons. 4: Vier Abschnitte hinter Cr 7.18. 5: Fünf Abschnitte vor Cr 7.18. 9: Den neun Abschnitten im genus ritmicum entsprechen in Teil III neun Strophen in deutschen Tönen. 11: Der siebte Abschnitt im Teil I besteht aus sieben Doppelstrophen, sein Pendant im Teil II aus vier Doppelstrophen. Das sind zusammen elf Doppelstrophen. Sie korrespondieren der Zahl nach mit den elf Abschnitten der Teile I und II. 72: Vier Abschnitte zu je 72 Versen stehen am Ende von Teil II. Sie markieren den Abschluß des zweimaligen Durchgangs durch die Grundform, die von Teil III an variiert wird. – Die Vorliebe Mügelns für diese Zahl zeigt sich darin, daß sie noch vier weitere Male vorkommt (Cr 8. 32. 38. 46), dort aber ohne akzentsetzende Funktion. 29 Mit dieser Aufstellung beende ich die Behandlung der Formfragen. Dabei sind viele Einzelheiten zur Sprache gekommen. Sie haben ihr Eigengewicht, sind in meinem Zusammenhang aber vor allem von Interesse, weil sie in ihrer Gesamtheit bezeugen, welch einen außerordentlichen Formzwang sich Mügeln bei der Abfassung der ›Cronica‹ auferlegte. III Wie verträgt sich dieser Zwang mit den Aufgaben eines Geschichtschreibers? Auf den ersten Blick scheint das eine müßige Frage. Denn Mügeln hat den linearen 29 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch daran, daß der ›Tum‹ aus 72 Strophen besteht. Stolz [Anm. 28] verweist auf eine Bemerkung Helmut Ludwigs in einem Privatdruck aus dem Jahre 1966, wonach Mügeln die Zahl 72 »auch als Strukturprinzip seiner deutschen Ungarnchronik« verwendet hat, »die in 72 Kapitel unterteilt ist« (S. 89). Travniks Ausgabe zählt 73 Kapitel. Auf 72 kommt man nur, wenn man das einleitende Kapitel mit der Vorrede nicht mitzählt. Das ist nicht undenkbar, müßte aber unter Beiziehung der gesamten Überlieferung geprüft werden.

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Ablauf der Geschehnisse, wie er ihn in seiner deutschen Version der Ungarngeschichte vorfand, getreulich wiedergegeben. Der Stoff ließ sich also durchaus in dies Formkorsett zwingen. Trotzdem tut man sich schwer damit, die ›Cronica‹ als ein Stück Geschichtschreibung anzuerkennen. Man kann sie sich nicht gut in einer Reihe mit historischen Epen wie Lukans ›Pharsalia‹, der ›Alexandreis‹ Walthers von Châtillon, dem ›Ligurinus‹ des Gunther von Pairis und andern derartigen Dichtungen denken. Der Hexameter ist nun einmal das für historische Stoffe am besten geeignete Versmaß. Denn es ermöglicht dem Verfasser, sein Thema in der nötigen Ruhe und Breite abzuhandeln. Mügeln dagegen bevorzugt fast ausnahmslos Kurzverse und wechselt obendrein beständig das Metrum. Mit der Ähnlichkeit zwischen ›Cronica‹ und ›Historien‹ ist es denn auch, sieht man von den großen Linien ab, nicht weit her. Bei näherer Betrachtung zeigt sich ein erheblicher Abstand der lateinischen Chronik von ihrer deutschen Vorlage. Dazu ein erstes Beispiel, es soll zeigen, daß bei der Wiedergabe der deutschen Erzählung im Lateinischen das Faktische stark ausgedünnt worden ist. Die ›Historien‹ berichten über Ereignisse in der Regierungszeit Kaiser Heinrichs III. 30 Er läßt sich durch die Klagen der zu ihm geflüchteten Ungarn zum militärischen Eingreifen gegen König Aba 31 bewegen, sammelt ein Heer, zieht durch Böhmen nach Österreich und tut so, als wolle er sich nicht weiter um Ungarn kümmern. Aba läßt durch eine Gesandtschaft die Auslieferung der Flüchtlinge fordern. Der Kaiser weigert sich und bricht nach Ungarn auf. Ein Hochwasser der Raab behindert ihn. Deshalb zieht er flußaufwärts und gelangt schließlich über eine Furt ans andere Ufer. Bei der Stadt Raab kommt es zur Schlacht. Ein Teil der Ungarn, Anhänger des Gegenkönigs Peter 32 , desertiert, der Kaiser siegt. Das ist auf ungefähr zwanzig Prosazeilen berichtet (H 158). – Nun die Wiedergabe in der ›Cronica‹. Der Kaiser sammelt auf Bitten der Flüchtlinge ein Heer und marschiert gegen Ungarn. Dort stellt er König Aba zum Kampf. Nach der Desertion von Anhängern König Peters aus Abas Heer fällt Heinrich der Sieg zu. Die Darstellung füllt vierundzwanzig kurze Verse. 33 Das ist an Volumen erheblich weniger als die Episode in den ›Historien‹ einnimmt. Mügeln sieht von den vielen Einzelheiten der Vorlage ab. Nur die Eckpunkte sind herausgehoben: Feldzug auf Bitten der Flüchtlinge, Schlacht, Sieg.

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Lex. MA 4, Sp. 2039–2041. Die ›Historien‹ nennen Heinrich keyser, die ›Cronica‹ nennt ihn cesar. Dem folgend spreche ich von ›Kaiser Heinrich‹, obwohl die Kaiserkrönung erst über zwei Jahre nach dem Ungarnsieg vom Juni 1044 stattfand. 31 Lex. MA 1, Sp. 7. 32 Lex. MA 6, Sp. 1931 (Nr. 14). 33 Cr 261 a, 17ff.

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Mit der Notwendigkeit von Kürzungen allein sind diese Veränderungen nicht erklärt. Vielmehr ist mit dem Wechsel der Sprache und der Durchsetzung eines rigiden Formzwangs ein Wechsel der Zielsetzung einhergegangen. Die Vergangenheit interessiert nicht mehr um ihrer selbst willen. Sie liefert nur mehr Anlässe zur Entfaltung von stilistischer und versifikatorischer Brillanz. Mügeln putzt seinen Stoff heraus, so gut er kann. So wird die kriegerische Episode aus der Geschichte Heinrichs III. durch die Beigabe von klischeehaften Begleitumständen poetisch zugerichtet. Das geschieht mit allerlei rhetorischen Mitteln. Namentlich Zwillingsformeln und Epitheta ornantia spielen eine große Rolle: Die Kriegerscharen sind fortissime et sevissime, der Zusammenprall der Heere in der Schlacht ist terribilis, der Lärm perhorribilis. Den Deutschen wird feritas horrendaque austeritas zugeschrieben, die edax vis der Ungarn desperat et subivit. Auch mit einem Neologismus wartet Mügeln auf: Die ungarischen Schützlinge des Kaisers äußern precamina, wobei es sich um weiter nichts handelt als ein dem Reimwort gravamina zuliebe aufgeplustertes preces. – Der Verszwang wird merkbar, wenn der Kaiser als cesar figuriert, wo zwei Silben für den Titel zur Verfügung stehen, als rex dagegen, wo nur eine übrig ist. Ähnliches wie beim Sieg Kaiser Heinrichs über König Aba läßt sich bei andern Schlachtschilderungen beobachten: beim (sagenhaften) Sieg Arpads 34 über Svatopluk 35 (Cr 18); bei der Vernichtung eines ungarischen Heeres durch den Landgrafen von Thüringen (Cr 20); bei der Niederwerfung Herzog Cupans durch König Stefan 36 (Cr 28) und der Bessi (Petschenegen) durch die Ungarn bei Weißenburg (Cr 48). Da erklingt das Klirren der Schwerter hoch hinauf in die Himmelsburg (Cr 18), da schlingt der gähnende Rachen des Todes die Kämpfer herunter (Cr 18), da versinken die Tapferen in einem Meer von Blut (Cr 20); da springt ein nicht enden wollendes Feuer von den Helmen, da beginnen die Berge im Scheine der goldverzierten Schilde zu leuchten (Cr 28). Das sind Zeugnisse eines nur um rhetorischen Glanz, nicht um Sachtreue bemühten Umgangs mit dem Stoff. Solche Praktiken der Amplifikation beherrschen weithin das Feld. Auf andere Weise als in den Schlachtschilderungen wirken sie sich beispielsweise in den drei Strophen im Hofton des Kanzlers aus (C 47). Zunächst wird über das Ende eines heidnischen Aufschneiders (gentilis sophista) erzählt, der sein Opfer, eine junge Frau, zu Pferde verschleppen will. Herzog Ladislaus stellt ihn und bringt ihn unter Mitwirkung der Entführten zur Strecke. Dies der Inhalt der ersten Hälfte, die andere ist mit pompös ausgestalteten Reflexionen 34 35 36

Lex. MA 1, Sp. 1022. Lex. MA 8, Sp. 341. Lex. MA 8, Sp. 112f.

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ausgefüllt, sie betreffen Gottes Strafe für Gewalttäter (tyranni) und sein gerechtes Gericht, bei dem jeder mit dem Maß gemessen wird, mit dem er gemessen hat. Hier amplifiziert Mügeln, indem er in die Rolle des moralisierenden Sangspruchdichters schlüpft. Wieder eine andere Art der Amplifikation zeigt sich bei der Schilderung Skythiens. Die ›Historien‹ beschreiben das Land mit allen möglichen Einzelheiten, es hat zwei große Flüsse, Don und Togora, der Fluß Togora fließt durch viele verschiedene Landschaften, bis er endlich in Hircania in die Westersee mündet, dort scheint die Sonne von Mai bis August, dort findet man Kristall, dort leben Greifen und Jagdfalken (H 109). Die ›Cronica‹ übergeht auch hier die Details und schwelgt stattdessen in superlativischen Gemeinplätzen über Fruchtbarkeit und Reichtum des Landes, auch über die zahlreichen von den Hunnen errichteten Bauwerke. Sie läßt an den beiden Flüssen Elefanten, Rhinozerosse, Greifen und ypodomi [?] leben, dazu totum bestialium genus atque brutalium (Cr 6). Es wäre zu einseitig, wollte man den Stilwechsel von den ›Historien‹ zur ›Cronica‹ nur unter den Gesichtspunkt der Amplifikation sehen. Das mag bei dem bisher Erörterten schon mit angeklungen sein, soll aber doch noch ausdrücklich hervorgehoben werden. Ich gebe einige Beispiele, die von verschiedenen Seiten her Einblick in die manierierte, nicht selten auf Dunkelheit drängende Sprache der ›Cronica‹ gewähren. 1. Archaismen, Neologismen – [Attila läßt die hohe Geistlichkeit von Ravenna] fi d i b u s [Saiten/Stricke] horidissimis [erdrosseln] (Cr 242,27). – [In Schanden von ihren Feinden verjagte Ungarn müssen bei ihren Landsleuten] mendicare h o s t i a t i m [wie Fremde betteln gehen] (Cr 249 b, 27). – communi f a m i n e [mit allgemeiner Zustimmung werden heidnische Ungarn als ignobiles eingestuft] (Cr 250 b, 13). – [rex Petrus] sepultus est facesiis absque Martis e t h e s i i s [König Peter ist beigesetzt worden von Fackeln geleitet und fern von den Stürmen des Krieges] (Cr 265 b, 29). 37 – – – –

2. Ungewöhnliche Reime Tymo : limo [Thymian : Schlamm] (Cr 245 b, 21). amen : gramen [Amen : Gras] (Cr 245 b, 33). genitrix : alitrix [Mutter : Ernährerin] (Cr 246 a, 16f.). adorabat : baiulabat [betete an : trug schwer] (Cr 257 b, 19).

37 Die deutsche Paraphrase ist unsicher. Sie setzt voraus, daß facesiae als hybride Weiterbildung von faces erklärt werden kann.

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3. Rührende Reime Zu welch bizarren Gebilden sich Mügelns Kunst versteigen kann, das zeigen am besten die Abschnitte mit durchgängig rührendem Reim. Eine Kostprobe bieten einige Verse aus dem Anfang des Abschnitts über Krönung und Ende König Belas I. (1160–63). Postquam Andream letum Clausit, Bela se letum Reddit et ob profectus Ad Albam est profectus Innummeris cum equis, Ordinibus ut equis Assumeret coronas. Cur deus sic coronas Ingratum velud mundum, Forte punire mundum Tu vis cum rege malo, Ut navem rupto malo. (Cr 267 a,36 – 268 a,8)

Deutsch: ›Nachdem der Tod Andreas ein Ende gesetzt hatte, wurde Bela wieder fröhlich, und um [erstrebter] Erfolge willen begab er sich nach Weißenburg mit unzähligen Pferden, damit er nach den gerechten Ordnungen die Kronen empfinge. Warum, o Gott, krönst du derart den Widerling und auch den Anständigen? Vielleicht willst du die Welt mit einem schlechten König strafen wie ein Schiff mit einem gebrochenen Mast.‹ 4. Stark geblümte Passagen An einzelnen Stellen treten Redeblumen in starker Häufung auf, so gleich im Anfang der ›Cronica‹. Der einleitende Abschnitt mit der Widmung an König Ludwig und die Prologe quellen über davon. Schon der erste Satz des ersten Prosa-Abschnitts zeigt das: De culmine dignitatis huius seculi iuvenili rationis vomere noster gliscit animus quasdam veritatis historias perarare (Cr 233,4). Auf Deutsch läßt sich das kaum angemessen wiedergeben, ich kann nur eine Annäherung versuchen: ›Mein Geist brennt darauf, vom erhabenen Höhepunkt dieses Zeitalters [d. h. von der Zeit König Ludwigs] aus mit jugendfrischem Verstandespflug einige der Wahrheit zugehörige Geschehnisse der Vergangenheit durchzupflügen.‹ Im Folgenden erscheint Ludwig als mons christianitatis und als Mast des Kirchenschiffs mit dem Segel des Glaubens. Da gebraucht Mügeln dieselbe hyperbolische Bildlichkeit wie in dem in deutschen Sangspruchstrophen abgefaßten Herrscherlob auf Karl IV. 38 Er greift im zweiten Prolog noch einmal darauf zurück, in dem 38 Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, hg. von Karl Stackmann, 1. Abteilung, 3 Bde., Berlin 1959 (DTM 50–52), Str. 18–23.

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er Ludwig ganz ähnlich wie Karl IV. in seinem deutschen Gedicht mit Judas Maccabäus, Jonatas und Noe vergleicht. 39 Eine weitere Episode, deren Ausmalung an den Geblümten Stil von Lobstrophen der deutschen Sangspruchdichtung gemahnt, ist der Tod Emerichs, des Sohnes, den König Stefan als Nachfolger ausersehen hat, und der anschließende Zusammenbruch Stefans: Cum edax fati virus hunc sanctum sic infecit, regni turbatur gyrus et gaudiis defecit plebs cum parentibus, nam occidit columpna sacre religionis et regnum in erumpna attonitum colonis stetit et gentibus. Vi tota destitutus et sanitatis flore et artubus inermis iacebat delibutus rex sanctus pre dolore, reflexus velud vermis, timens pericula ecclesie futura, ne in reticula dilaberetur dura et hostis spicula. 40

Auch hier vermag eine Paraphrase nur einen ungefähren Eindruck von dem Original zu geben: ›Als das gefräßige Gift des Schicksals diesen Heiligen […] befiel, geriet im Umkreis des Reiches alles in Verwirrung und dem Volk wie den Oberen ging die Freude aus, denn es kam zu Fall die Säule der heiligen Kirche, und das erschütterte Staatswesen stand für seine Einwohner wie für die [umwohnenden] Völker in Bedrängnis. Seiner ganzen Kraft beraubt und der Blüte seiner Gesundheit, auch seiner Glieder nicht mehr mächtig, lag der gesalbte König vor Schmerz gekrümmt wie ein Wurm, herannahende Gefahren für die Kirche befürchtend, [nämlich] daß sie den Netzen und Pfeilen des Feindes anheim fiele.‹ Blicken wir zurück. Was hat sich über die ›Vorherrschaft der Form‹ in der ›Cronica‹ ergeben? Am augenfälligsten zeigt sie sich in dem beständigen Wechsel der 39 Diese Übereinstimmung beseitigt für Roethe [Anm. 18], S. 350 »den letzten zweifel« an der Autorschaft Mügelns bei der ›Cronica‹. 40 Cr 258, 11–17; Frauenlobs Goldener Ton.

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Metra und der Reimschemata 41 sowie in dem starken Einfluß, den die Suche nach zahlenkompositorischen Effekten auf den Gesamtplan gehabt hat. Es ist aber nicht zu übersehen, daß im Zusammenhang damit und parallel dazu eine Verlagerung ins Formale auch auf stilistischem Gebiet stattfindet: An die Stelle der Berichtsprosa der ›Historien‹ tritt das stark auf sprachartistische Experimente fixierte Latein der ›Cronica‹. 42 IV Zum Schluß bleibt die Frage, welchen Platz man der ›Cronica‹ in der Geschichte unserer Literatur anweisen soll. Daß ich sie nicht bei den Geschichtsepen ansiedeln möchte, habe ich bereits gesagt. Gibt es eine andere Möglichkeit, sie in einen Gattungszusammenhang einzubringen? Mit einem gewissen Zögern nenne ich das Prosimetrum. Darauf bringt mich Bernhard Pabst 43 : Dieser große Kenner der Gattung hat bei einem andern lateinischen Gedicht Mügelns, bei seinen ›Artes liberales‹ 44 , erwogen, ob man es in die »Traditionsreihe der philosophischdidaktisch-allegorischen Prosimetren« einstellen kann, meint freilich selbst, davon ließe sich nur »in einem sehr eingeschränkten Sinne« sprechen. 41 Hundert Jahre nach Mügeln hat es noch einmal den Versuch eines Formenwechsels in einer Reimchronik gegeben. In Christian Wierstraets Chronik der Belagerung von Neuß im Jahre 1476 sind die Abschnitte »partienweise unterschiedlich gebaut und variieren auf kunstvolle Weise sowohl in ihrer Länge […] als auch in der Anzahl und Stellung der Reime.« So Frieder Schanze, der auch die Ähnlichkeit mit Mügelns ›Cronica‹ bemerkt hat (2VL 10, 1055–1058). 42 Hier ist noch einmal auf Roethes Abhandlung [Anm. 18] zurückzukommen. Auch er war auf den großen stilistischen Unterschied zwischen ›Historien‹ und ›Cronica‹ aufmerksam, wertet ihn aber ganz anders. Bei ihm liest man: Mügeln »fühlt sich als dichter berechtigt zu dichterischer freiheit. […] er erlaubt sich fortzulassen, was in sein gedicht nicht zu passen schien: mit gutem tact scheidet er langweilige trockene aufzählungen einige male aus; er hätte darin noch viel weiter gehen sollen. dagegen erstrebt er an geeigneten stellen epische breite, namentlich bei schilderungen von schlachten, raubzügen, landschaften. es fehlt ihm dabei nicht an schwung; nur ist eine gewisse armut des wortschatzes fühlbar, und es wimmelt von typischen wendungen«. Es folgen Hinweise auf entsprechende Fundstellen, darunter manche, die auch ich gebraucht habe. Roethes Schlußfolgerung: Die »eigenheiten der verse« erweisen »ein kräftig entwickeltes stilgefühl« (S. 347f.). – Er hat das geschrieben, bevor Eduard Norden sein Verdikt über das Mittelalter sprach, »da alles Krause und Bizarre des Stils für schön galt« (Die antike Kunstprosa, 2 Bde., 5. Aufl., Darmstadt 1958, Bd. 2, S. 756; vgl. auch S. 688 und S. 753). Wir heute müssen daher genauer hinschauen und differenzierter urteilen. 43 Prosimetrum, 2 Bde., Köln 1994 (Ordo 4, 1 u. 2; durchl. Seitenzählung), S. 571–574. 44 Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, mit Beiträgen von Michael Stolz hg. von Karl Stackmann, Berlin 2003, (DTM 84), S. 22–36.

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Dazu eine kurze Erklärung: Mügeln behandelt fünfzehn Artes nach einem streng einheitlichen, dreigliedrigen Schema. Die Beschreibung beginnt bei jeder von ihnen mit einem Abschnitt in Prosa, gefolgt von einem Abschnitt in rhythmischen Versen und einem weiteren in – teilweise leoninischen – Hexametern. Die rhythmischen Verse bilden die jüngere Eckenstrophe nach. Auch hier hat Mügeln also eine deutsche Strophenform im Rahmen eines lateinischen Textes benutzt. – Jeder Abschnitt beschreibt für sich, aber inhaltlich weitgehend übereinstimmend mit den andern, die Zuständigkeit und die Wirkungsweise der jeweiligen Kunst. Darin, daß es »keinerlei Aufgabenverteilung« zwischen den Abschnitten gibt, vielmehr »jeder […] die Gesamtaussage« enthält, sieht Pabst einen grundsätzlichen Unterschied zu den sonstigen von ihm untersuchten Prosimetren. Dieser Einwand gilt nicht für die ›Cronica‹, die bei Pabst gar nicht vorkommt. Das veranlaßt mich zu überlegen, ob sie nicht als Prosimetrum anzusehen ist. Um mir eine Meinung zu bilden, ziehe ich einen von Pabst behandelten Text zum Vergleich heran, den Mügeln sogar gekannt haben könnte. Das ist die ›Chronica aulae regiae‹, ›Königsaaler Chronik‹, des Petrus von Zittau. 45 Sie entstand zu Anfang des 14. Jahrhunderts in Böhmen und wurde um 1350 auszugsweise in die ›Chronica Pragensis‹ übernommen, war also um die Jahrhundertmitte in Prag bekannt, und zu eben dieser Zeit können wir Mügeln dort vermuten. Pabst hat die prosimetrische Gestalt der ›Königsaaler Chronik‹ eingehend untersucht. Ich referiere die wesentlichen Ergebnisse. Petrus schreibt eine »gehobene Reimprosa« (S. 963). Eingeschoben sind »363 metrische Partien« mit mehr als zweitausendfünfhundert Versen. Zur Hauptsache bestehen sie aus »zweisilbig leoninisch gereimten Hexametern«. Nur ganz vereinzelt trifft man auf »andere daktylische Maße, wie elegische Distichen oder einige einzelne Pentameter« (S. 964f.). Schon hier zeigt sich ein Unterschied zu Mügeln. Dessen ›Cronica‹ wird gerade durch den regelmäßigen Wechsel zwischen verschiedenen Versarten und Reimkombinationen charakterisiert. Obendrein spielt die Prosa nur eine sehr bescheidene Rolle. Bei Petrus bestimmt sie dagegen eindeutig das Bild, die metrischen Partien erscheinen als Zutaten. Der Unterschied wird verschärft durch die mit der Prosa kontrastierenden Funktionen der metrischen Abschnitte. Pabst unterscheidet in der ›Königsaaler Chronik‹ eine Vielzahl von solchen Funktionen. Ich will sie nicht sämtlich aufzählen; es wird genügen, wenn ich die beiden von ihm aufgestellten ›Klassen‹ skizziere. In die erste fallen metrische Partien, die zwar in den Darstellungszusammenhang einbezogen sind, aber irgendwie vom Gang der Erzählung abweichen und ein einzelnes Moment hervorheben. Das kann die wörtliche Rede einer 45

Pabst [Anm. 43], S. 961–978. Vgl. auch 2VL 11, Sp. 1200–1205.

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auftretenden Person sein, aber auch der Endpunkt oder das Resultat einer Handlungsfolge. In die zweite Klasse gehören »Wertungen und Kommentare« des Autors (S. 966–970). Weder das eine noch das andere findet sich in Mügelns ›Cronica‹ wieder. Alle Verspartien sind gleichmäßig in die Geschichtsdarstellung einbezogen, keiner kommt den anderen oder der Prosa gegenüber eine irgendwie herausgehobene Aufgabe zu. So gesehen, bleibt es in der Frage, ob die ›Cronica‹ als Prosimetrum anzusehen sei, bestenfalls bei einem non liquet. Mügeln mag vom historischen Prosimetrum Anregungen empfangen haben oder auch nicht. Das läßt sich weder beweisen noch ausschließen. Letzten Endes gilt für die ›Cronica‹ dasselbe, was Pabst zu den ›Artes liberales‹ sagt. Mügeln sucht nicht den Anschluß an die Gattung des Prosimetrums, er will nur »seine Versiertheit in allen drei Schreibweisen« – Prosa, rhythmische, metrische Verse – »dem Leser klar vor Augen […] führen« (S. 574). Auch in der ›Cronica‹ gebraucht er drei Schreibweisen, nur sind es hier Prosa, silbenzählende und strophisch gebundene rhythmische Verse. Hilft uns Pabst mit diesem Urteil wirklich weiter? Die Tatsache, daß ein Künstler das Bedürfnis hat, seine ›Versiertheit‹ nachzuweisen, ist doch alles andere als überraschend. Überraschend wäre nur das Gegenteil. Was Pabsts Feststellung dennoch zu einem tauglichen Charakteristikum macht, ist der Erfindungsreichtum, mit dem Mügeln immer neue Möglichkeiten schafft, seine Versiertheit – er selbst hätte wohl gesagt: seine meisterschaft – unter Beweis zu stellen. In seiner Sangspruchdichtung, dem Kernstück seines Werkes, ruft er den waren meister als den einzig würdigen Hofpoeten aus. Als ich diesen Begriff vor fünfzig Jahren zum Schlüsselwort für das Verständnis seiner Dichtung machte, war das auf die volkssprachliche Gattung bezogen. Heute würde ich im Blick auf das Gesamtwerk einen umfassenderen Begriff wählen und davon sprechen, daß er sich als eine Art poeta doctus präsentieren will; gemeint: als jemand, der sich auf Grund seiner Könnerschaft in beiden Literaturen, der lateinischen wie der deutschen, mit Autorität zu Wort melden kann. Der Festigung dieses Rufes dient alles, was er geschaffen hat. Dazu bemüht er sich überall um den Anschluß an die lateinische Bildung seiner Zeit, dazu bricht er in vieler Hinsicht mit dem Herkömmlichen oder sucht es doch zu übertreffen. Das gilt für den an allen möglichen Stellen hervortretenden stilistischen Manierismus, das gilt vor allem für die Neuerungen, die seine Sangspruchdichtung von derjenigen seiner Zeitgenossen oder Vorgänger unterscheiden. Er schafft Großformen strophischer Gedichte, wie sie es vor ihm nicht gab: eine kosmologisch-theologische Summe, ein Bibelbuchsummarium, ein Summarium zu den Freien Künsten, eines zur Astronomie. Auf dem Gebiet der religiösen Dichtung ersetzt er den Leich durch vielstrophige Hymnen. Auch außerhalb der Sangspruchdichtung agiert er als poeta doctus. In der Reimpaardichtung

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›Der meide kranz‹ setzt er sich mit einem Meisterwerk des Alanus ab Insulis auseinander, er hat damit geradezu einen ›Anti-Anti-Claudianus‹ geschaffen. 46 Mit der Valerius-Maximus-Übersetzung erobert er einen der wichtigen lateinischen Bildungstexte für die Volkssprache. Die ›Cronica‹, dies auf die Spitze formaler Meisterschaft getriebene Virtuosenstück, reiht sich hier nahtlos ein. Eine andere Eigentümlichkeit von Mügelns Werk, auch sie ein Ausweis seiner besonderen Versiertheit, ist seine Neigung zum Opus geminum. So möchte ich mit einem von Pabst verwendeten Terminus den Sachverhalt bezeichnen, daß Mügeln mehrmals dieselben Stoffe in verschiedener Gestalt behandelt hat: in Prosa und in Versen, in deutscher und lateinischer Sprache. Mit dieser Definition weite ich den Begriff Opus geminum erheblich aus. Pabst verwendet ihn nur, wenn ein Autor »zwei – im Grunde selbständige – Werke über ein und dasselbe Thema, das eine in prosaischer, das andere in metrischer Form, verfaßt und diese zu einem Doppelwerk kombiniert« (S. 13). 47 Ich erlaube mir diese Abweichung, weil sie mir ermöglicht, die untereinander sehr verschiedenen Einzelfälle im Werk Mügelns unter ein Stichwort zu bringen. Dazu gehört die ›Cronica‹ mit ihrer deutschen Vorlage, dazu gehören die ›Artes liberales‹, zu denen es ein deutsches Pendant gibt 48 , ebenso das Bibelbuchsummarium, das außer in einer deutschen strophischen auch in einer lateinischen prosaischen Version existiert. 49 Schließlich könnte man wohl auch die Traumton-Strophen mit Exempeln nach Valerius Maximus hierher stellen. Sie sind wahrscheinlich im Zusammenhang mit der ProsaÜbersetzung der ›Memorabilia‹ entstanden. 50 Nimmt man alles, was für Mügelns Œuvre charakteristisch ist, zusammen, dann erweist es sich schnell, daß man sich ihm als Literarhistoriker am ehesten nähern kann, wenn man die Bemühung um einen eigenen Autortyp als Antriebskraft hinter seinem gesamten Werk akzeptiert und in ihren verschiedenen Äußerungsformen verfolgt. Eines der Mittel, deren er sich bei seinen Neuerungen bedient, ist das Komponieren nach den Regeln von Maß und Zahl, dies metonymisch verstanden für die Dominanz der Form in allen ihren Erscheinungsweisen. Es bestimmt nicht nur die Anlage der ›Cronica‹, sondern auch diejenige von ›Tum‹ und ›Der meide Kranz‹. Bei diesen beiden Werken würde ich aber nicht 46

Vgl. dazu Karl Stackmann, ›Der meide kranz‹, in: ZfdA 135 (2006), S. 217–239, spez. S. 233. 47 Pabst seinerseits beruft sich auf Ernst Walter, Opus geminum, Diss. Erlangen 1973. 48 Kleinere Dichtungen [Anm. 38], Buch 7. 49 Kleinere Dichtungen [Anm. 38], Buch 5. – Kleinere Dichtungen [Anm. 44], S. 38–46. 50 Vgl. dazu Karl Stackmann, Exempel nach Valerius Maximus im Traumton Heinrichs von Mügeln, in: PBB 116 (1994), S. 334–359.

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von einem Vorherrschen der Form sprechen. Denn die Form bleibt dem Gehalt dienstbar, insbesondere wird die zahlenkompositorische Machart an der Textoberfläche nicht bemerkbar, sie steuert das Ganze nur sozusagen aus dem Verborgenen. Die heilsgeschichtliche und mariologische Bilderwelt des ›Tum‹ entwickelt sich, als folge sie nur ihren eigenen Gesetzen, und bei der allegorischen Handlung von ›Der meide kranz‹ verhält es sich nicht anders. In der ›Cronica‹ dagegen ist es die Unterbrechung einer auf gleichmäßigen Fortgang angewiesenen Geschichtsdarstellung durch ständigen Formenwechsel und die Hinlenkung des Interesses auf stilistische Attraktionen, was den Eindruck bestimmt. Das Arbeiten unter dem Primat der Form droht, zum Selbstzweck zu werden. Es ist dabei, die Grenzen einer sinnvollen Anwendung in den Wortkünsten zu überschreiten. 51

51 Erst nach Abschluß meines Manuskripts ist mir eine Arbeit bekanntgeworden, die es erlaubt, Mügelns deutsche Ungarnchronik in einen größeren Zusammenhang zu stellen: Tünde Radek, Das Ungarnbild in der deutschsprachigen Historiographie des Mittelalters. Frankfurt a. M. 2008 (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft 12). Ich habe Frau Radek dafür zu danken, daß sie mir ein Exemplar der Arbeit zugänglich machte.

Die Meerfahrt des Hl. Cuthbert Anmerkungen zum Transfer eines Bildmotivs von Heidrun Stein-Kecks, Erlangen

Neun Jahre lang segelte der Hl. Cuthbert mit seinen Gefährten über das Meer, hoch oben auf dem Wellenkamm hielt er das Boot im Gleichgewicht und trotzte der Gefahr, ins steil nach beiden Seiten abfallende Wellental zu stürzen – jedenfalls diente das Bild der Seefahrt des angelsächsischen Heiligen so viele Jahre lang als Logo des Erlanger Graduiertenkollegs »Kulturtransfer im europäischen Mittelalter«, mit Hartmut Kugler als Sprecher, und suggerierte, wie es einem Logo geziemt, die Identifizierung des Kollegs mit dem gewählten Bild (Abb. 1). Müßig, über die Passgenauigkeit zu sinnieren, aber lohnend, am Ende das Bild selber einmal in den Blick zu nehmen und seinen ursprünglichen Kontext, aus dem es herausgelöst und unter nicht unwesentlichen Veränderungen in einen anderen, neuen Zusammenhang des Kollegs übertragen wurde, zu rekonstruieren.

Abb. 1: Logo des Erlanger Graduiertenkollegs ›Kulturtransfer im europäischen Mittelalter‹.

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Abb. 2: Die Seereise des Hl. Cuthbert und seiner Gefährten, Miniatur aus einer mittelalterlichen Abschrift der Cuthbert-Vita des Beda Venerabilis (Ende 12. Jh.), London, British Library, Yates Thompson MS 26 (MS 39943), fol. 26 r.

Die Miniatur, auf der das Logo basiert, ist Teil einer umfangreichen Bilderfolge in der gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Durham entstandenen Abschrift der von Beda Venerabilis (um 673–735) verfassten Prosa-Vita des Hl. Cuthbert von

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Lindisfarne (um 635–687), aufbewahrt in London, British Library, Yates Thompson MS 26 (MS 39943), fol. 26 r (Abb. 2). 1 Sie gehört zum Text des 11. Kapitels, in dem es vordergründig um ein Speisungswunder des Hl. Cuthbert geht, das zugleich aber als ein Exemplum für seine Gabe der Vorhersehung dient: Cuthbert saß aufgrund eines Sturms mit zwei Begleitern im Land der Pikten fest. Ohne Vorräte – die Reise sollte nur kurz dauern, weshalb sie keine Verpflegung mitgenommen hatten – litten sie Hunger und froren; es waren die Tage nach Weihnachten. An Epiphanias ermunterte Cuthbert seine beiden Gefährten, nicht länger untätig abzuwarten, sondern Gott mit Gebeten um Rettung zu bestürmen: Er, der einst die Wasser des Roten Meeres geteilt und sein Volk in wunderbarer Weise in der Wüste genährt habe, werde sich auch ihrer in ihrer Bedrängnis erbarmen. An einem Festtag wie diesem, den Gott mit so vielen wunderbaren Zeichen seiner Macht und Herrlichkeit erhellte, würde er nicht zulassen, dass es ein weiterer Fastentag für sie sein würde, wenn sie nur nicht im Glauben wankten, dessen war sich Cuthbert gewiss. »Lasst uns umhergehen, ich bitte Euch, und herausfinden, welches Festmahl er geruht, für uns zu bereiten, damit wir sein Fest mit Freuden begehen.« 2 Mit diesen Worten führte Cuthbert die Gefährten an die Küste, wo er seine nächtlichen Gebete zu verrichten pflegte, und tatsächlich fanden sie dort drei Fleischstücke eines Delphins, wie von Menschenhand tranchiert und für die Küche zugerichtet! Nicht genug des Wunders, bewahrheitete sich auch noch die Vorhersage Cuthberts, dass die Dreizahl der Stücke auf das Ende des Sturms nach drei Tagen und auf ihre wohlbehaltene Heimkehr verweise. 1 Zu den illustrierten Viten siehe Malcom Baker, Medieval Illustrations of Bede’s ›Life of St. Cuthbert‹, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 41 (1978), S. 16–49; zur Londoner Handschrift siehe besonders Dominic Marner, St Cuthbert: His Life and Cult in Medieval Durham, London 2000; der Beda-Text in: Two ›Lives‹ of Saint Cuthbert. A Life by an Anonymous Monk of Lindisfarne and Bede’s Prose Life. Text, Translation and Notes by Bertram Colgrave, Cambridge 1940, reprint New York 1969. Vgl. Beda Venerabilis, Cuthberti Vita. Life of Cuthbert. Translated by James Francis Webb, Lives of the Saints, Harmondsworth 1965, S. 69–129. Dazu Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 266– 284, sowie ders., Opus deliberatum ac perfectum. Why Did the Venerable Bede Write a Second Prose Life of St Cuthbert?, in: St Cuthbert. His Cult and Community to AD 1200, Woodbridge 1989, S. 95–102, wieder abgedruckt in: Mittelalterliche Studien, Heidelberg 2005, S. 79–85; John C. Eby, Bringing the vita to life. Bede’s symbolic structure of the life of St. Cuthbert, in: American Benedictine Revue 48 (1997), S. 316–338. Zur Handschrift siehe den im Netz verfügbaren Catalogue of Illuminated Manuscripts der British Library, http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/record.asp? MSID=6441&CollID=58&NStart=26, zuletzt besucht am 15.7.2009. 2 Precorque eamus alicubi quaerentes, quid nobis epularum in gaudium suae festiuitatis prestare dignetur. Colgrave [Anm. 1], S. 194, das 11. Kapitel mit englischer Übersetzung ebd. S. 192–195.

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Abb. 3: Das Speisungswunder am Strand, Miniatur (Ende 12. Jh.), London, British Library, Yates Thompson MS 26 (MS 39943), fol. 26 v.

Das wunderbare Ereignis wurde, so Beda, von einem der beiden Brüder authentisch überliefert, dessen Zeugnis dadurch noch zusätzlich an Glaubwürdigkeit gewann, dass eben dieser Begleiter Cuthberts später Priester geworden war. 3 Gleich zwei ganzseitige Miniaturen sind diesem 11. Kapitel von Bedas Cuthbert-Vita in der Londoner Handschrift beigegeben. Der dreigeteilte Delphin, den die drei Hungernden am Strand finden, ist Thema der einen Miniatur (fol. 26 v, 3

Die Überlieferung derselben Episode in der Vita anonyma, V.A. II,4, nennt auch den Namen des Bruders: Tydi, und begründet ebenso die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses mit seinem späteren Priestertum; siehe Colgrave [Anm. 1], Text S. 84 und Anmerkung S. 347. Es wird auch noch eine Präzisierung des Ortes des Geschehens im Land der Pikten gegeben: Niuduera regio / the region of the Niduari, ebd. S. 82f. Ausgangspunkt der Reise war Melrose Abbey.

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Abb. 3), die andere (fol. 26 r, Abb. 2) zeigt die Seereise, die im Text nur als Information beiläufig genannt ist: ad terram Pictorum qui Niduari uocantur, navigando peruenit, als Folie für die Erzählung der Rettung durch Speise aus dem Meer und durch Besänftigung des Sturmes für eine glückliche Heimkehr aber notwendig ist. Dennoch verzichten alle anderen Illustrationsfolgen auf die Darstellung der Seefahrt, einzig diese Londoner Handschrift inseriert sie in einem eigenen Bild. Es zeigt das helle hölzerne Boot, die Breite des hochrechteckigen Formats durchmessend, und doch gerade groß genug, um die drei Reisenden aufzunehmen: Cuthbert in seiner Kutte, die Kapuze halb über das tonsurierte Haupt gezogen, in der Mitte beim Mast, dicht hinter ihm im Heck der eine der jungen, blond gelockten Gefährten, der andere vor dem geblähten Segel. Alle drei sind bis zum Rumpf von den Planken überschnitten, man sieht also nicht, ob sie stehen oder sitzen – ohnehin wäre für beides nicht ausreichend Platz im Boot. Nur der vorderste lehnt sich stehend bis zum Bug vor und der Saum der kurzen Tunika mit Manteltuch, die beide Gefährten als Laien von einfachem Stand kennzeichnet, wird sichtbar. Er greift in seiner ganzen Haltung die Bewegungsrichtung des Bootes auf, angezeigt im Segel ebenso wie in den Gesten und Blicken aller drei seitlich gewendeten Figuren, zieht sich mit einer Hand am Steven hoch und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger der erhobenen Hand nach vorne. Zugleich wendet er den Kopf zu den Gefährten um, als ob er »Land in Sicht« verkündete. Noch treibt das Boot aber mitten auf dem Meer, das sich wie ein Berg vom unteren Bildrand auftürmt und an beiden Seiten hochsteigt, nur vom goldenen Rahmenband zurückgehalten. Eine Folge von Wellen verläuft wie Höhenlinien, aber die weißen Linien zeigen, mal glatt, mal gekräuselt, die Gischt über den von Grau bis zum tiefen Blau verdunkelten Wassermassen an. In der Mitte des Bildes schlagen sie gefährlich hoch über die Planken und scheinen selbst den Hl. Cuthbert zu bedrohen. Die beiden Bewegungsrichtungen, vertikal nach oben und horizontal nach rechts, werden durch andere Bildelemente zur Ruhe gebracht. Da sind zum einen die Bildgegenstände wie der Mast, der die Mittelachse über dem bewegten Wellenkamm in einer festen Senkrechten aufnimmt und mit dem bekrönenden Kreuz am Rahmen ›verankert‹, und das Boot, das den geblähten Segeln zum Trotz passgenau im Format festsitzt. Die Zentrierung der Komposition um eine Mittelachse des Wellenscheitels und des Masten wird durch die Verteilung der Farben unterstrichen: Grau und Blaugrau von Wasser und Mönchskutte bestimmen die Mitte, flankiert vom hellen Grün und Rot der Gewänder der Gefährten zu beiden Seiten der Achse. Eine besondere Bedeutung kommt aber dem Rahmen selbst zu, der sich als goldener, von schwarzen Linien eingefasster Streifen um die Szene legt, und vor allem einem zweiten ›Binnenrahmen‹, der innerhalb des Bildes liegt. An den Sei-

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ten eine Spur breiter als oben, zieht er sich als ein rotes Band um ein goldenes Binnenfeld, davon wieder von einer schwarzen Linie abgesetzt. In regelmäßiger, aber doch frei erscheinender Verteilung sind abwechselnd goldene Punkte und kleine sternenartige Muster eingestreut. Alle Bildelemente überschneiden dieses Band genauso wie das goldene Binnenfeld, es gehört demnach wie dieses zum Bildgrund bzw. zur Flächenfüllung des Bildfeldes innerhalb des umlaufenden Streifenrahmens, nicht zum außen umlaufenden Rahmen. Blättert man die übrigen Miniaturen der Handschrift durch, wird diese Bildund Rahmengestaltung sofort als Konstante erkennbar, die nur in der Farbe zwischen Rot und Blau variiert. Gedacht als ein umlaufender Binnenrahmen um das zentrale goldene Feld, wird das rote oder blaue Band am unteren Bildrand meist vollständig verdeckt von Wasser, Wiese, also vom Standort der Figuren, ebenso an den Seiten durch Architekturen, Berge und die Figuren selbst. Wenn möglich, wird es aber tatsächlich an allen vier Seiten sichtbar. So z. B. in der Eingangsminiatur (Abb. 4), die Bischof Cuthbert stehend in ganzer Figur zeigt sowie den Autor der Vita, Beda, auf Knien Cuthberts Fuß küssend. Der Bischof durchmisst die volle Bildhöhe, er reicht mit Füßen, Kopf und ausgestreckten Händen ins umlaufende rote Rahmenband und füllt das hier mit weißer Linie abgesetzte goldene Feld mit seinem in liturgische Gewandung gekleideten Körper aus. Die kauernde Gestalt Bedas liegt über dem roten Band, überschneidet seitlich sogar noch den äußeren goldenen Rahmenstreifen, der ihm gleichwohl als fester Boden dient – als käme er von außerhalb des Bildes, aus einer anderen Realität als der im Bild dargestellte Bischof. Die auffällige, ausnahmslos wiederholte Gestaltung der Binnenrahmung der Bildfläche fordert zu einer genaueren Betrachtung auf. Eine abgegrenzte Bildfläche in farblich unterschiedene, rechteckige Felder zu teilen, ist eine der im Hochmittelalter gebräuchlichen Möglichkeiten einer ungegenständlichen Füllung des Bildfeldes, die zugleich in Bezug zum Bildgeschehen treten kann. 4 Einzelne Figuren oder Gruppen werden durch solche Felder wie zufällig umgeben und dabei hervorgehoben oder abgesetzt von anderen; Bildarchitekturen, besonders Arkaden, können damit farblich ausgefüllt werden. Das Geschehen und die Figurenkomposition erhält dadurch eine leicht verständliche Gliederung, die Bildfläche gewinnt eine Bedeutung als Bildgrund, der die Figuren und Bildgegenstände nicht nur umgibt, sondern gewissermaßen ›hinterlegt‹. Der Flächencharakter der Felder gewinnt durch die farbliche Differenzierung und den Bezug zu den Bildgegenständen eine quasi räumliche Dimension für das Bild. In den Minia4 Miriam Schild Bunim, Space in medieval painting and the forerunners of perspective, New York 1940 repr. 1970, bes. S. 87–104.

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Abb. 4: Der Autor Beda, in Ehrerbietung dem heiligen Bischof Cuthbert den Fuß küssend, Eingangsminiatur der Handschrift London, British Library, Yates Thompson MS 26 (MS 39943), f. 1 v.

turen der Cuthbert-Vita ist es nur ein zentrales Feld, golden, das von einem farbigen Band umrahmt wird. Dieses Band legt sich innen an den eigentlichen Bilderrahmen an; der Bilderrahmen wird gebildet von einem schmalen goldenen Streifen, der von dünnen schwarzen (in anderen Miniaturen weißen) Linien konturiert wird, die gleichzeitig auch das Binnenfeld und das farbige Band umgrenzen. Die Assoziation an ein Passepartout wird geweckt, fälschlich, denn das Bildgeschehen

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legt sich über das Farbband, das innen im Bild liegt, eben nicht wie ein Passepartout außerhalb, nicht zwischen Bild und Rahmen. 5 Das Band ist immer umlaufend gedacht, auch wenn es nicht durchgängig sichtbar ist. Die rahmende Wirkung drängt sich auf, obwohl es oft teilweise den Blicken entzogen ist. Diese Art der Binnenrahmung ist seit dem späten 11. Jahrhundert bekannt und besonders häufig im weiteren 12. bis 13. Jahrhundert sowohl in der Buchmalerei als auch in der Wandmalerei vielfach anzutreffen. Ein Schwerpunkt innerhalb der später dann weiten Verbreitung lässt sich zunächst in der Buchmalerei nordfranzösischer und englischer, oft auch rhein- und maasländischer Provenienz ausmachen. 6 Beliebt ist v. a. die Farbkombination Blau und Grün, also ein blauer Rahmen um ein grünes Feld, seltener umgekehrt. In einer Salzburger Handschrift aus den 1160er Jahren, dem Antiphonar von St. Peter (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. ser. nov. 2700, um 1160 / vor 1167), tritt dieses Bildsystem absolut dominant hervor, weil der Blau-Grün-Kontrast die einzige Farbigkeit in den reinen Federzeichnungen darstellt (Abb. 5). 7 Die Wirkung ist ähnlich wie in der Londoner Handschrift, das ›gefühlte‹ Passepartout in Grün wird nach Bedarf vom Bildgeschehen überschnitten und dient seinerseits zusammen mit dem blauen Mittelfeld als eine abstrakte Folie einer angedeuteten Raumprojektion, vor der die Szene spielt. Die mit schwarzer und roter Tinte gezogenen Linien, die die farblosen Figuren und Gegenstände umreißen, schneiden die Form aus dem Blau-Grün des Bildgrundes gewissermaßen bis auf das Pergament selbst aus, die Farbfolie dabei auflösend. 5 Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, hg. von Josef Engelmann, Wien 1992, S. 27f. zum Passepartout: »zwischen dem Außen und dem Innen, zwischen der äußeren und der inneren Randung, dem Umrahmenden und dem Eingerahmten, der Gestalt und dem Hintergrund, der Form und dem Inhalt, dem Signifikanten und dem Signifikat, und so weiter in allen zweiseitigen Gegensätzen […]« [Hervorhebungen im Original]; vgl. S. 41 (Parergon), »zwischen dem Eingerahmten und dem Einrahmenden des Rahmens« in Bezug auf den Titel. Vgl. Heidrun Stein-Kecks, Bilder im Rahmen der Architektur – ein Exkurs zum grünen Rahmen um den blauen Bildgrund, in: Rahmenfragen. Zur Geschichte und Theorie des Rahmens, hg. von Hans Körner und Karl Möseneder, Berlin 2010, S. 21–39, bes. S. 21. 6 George Henderson, Studies in English Manuscript Illumination, in: ders., Studies in English Bible Illustration, London 1985 (Selected studies in the history of art), Bd. 2, S. 73–202, bes. Kap. 3, The Lambeth Apocalypse, and Related Mss., S. 181–196; Ursula Nilgen, Les ›Scriptoria‹ du nord de la France et l’Angleterre au XIIème siècle, in: L’art du haut moyen âge dans le Nord-Ouest de la France. Actes du colloque de St Riquier 22–24 Septembre 1987, hg. von Dominique Poulain und Michel Perrin, Greifswald 1993, S. 213–238. 7 Otto Demus, Das Antiphonar von St. Peter. Kunstgeschichtliche Analyse, in: Das Antiphonar von St. Peter. Vollständige Faksimile-Ausgabe. Kommentarband, Graz 1974, S. 191–304, bes. S. 198.

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Abb. 5: Blau-Grün-Kontrast im Antiphonar von St. Peter, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. ser. nov. 2700 (um 1160 /vor 1167).

Ähnlich dominant und absolut konsequent über alle Bildformate hinweg wird das System in den Wandmalereien der Doppelkapelle in Schwarzrheindorf angewendet. 8 Die Unterkirche dieses höchst anspruchsvollen Zentralbaus zeichnet sich durch vieleckige, rundbogige und sphärisch gekrümmte Bildfelder aus, die die komplexe Architektur als Bildträger zur Verfügung stellt. Das einheitliche 8 Für eine Übersicht über die Literatur siehe Heidrun Stein-Kecks, Schwarzrheindorf, Doppelkapelle St. Maria und Clemens, in: Romanik, hg. von Susanne Wittekind, München 2009 (Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland 2), Nr. 86, S. 308f. und S. 283f.

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Rahmen- und Binnenrahmensystem, das streng an der Architektur ausgerichtet ist, bindet die architektonischen Abschnitte zusammen und transformiert die unterschiedlichen Bildformate zu stimmig erscheinenden Bildflächen. Gerade auch durch dieses Gestaltungselement wird die Kongruenz von Bildprogramm und Architekturbedeutung – beide materialisieren die Vision der Himmlischen Kirche nach Ezechiel bzw. nach der Apokalypse des Johannes – plausibel für den Betrachter sichtbar gemacht. Gelegentlich bricht das grüne Band aus seiner abstrakten Form und seiner rahmenden Funktion aus und mischt sich ins gegenständliche Bildgeschehen selber ein: So bildet es den Berg Tabor der Verklärung Christi oder den Golgathahügel der Kreuzigung (Abb. 6). Es hat also offenbar auch eine inhaltliche Bedeutung, die vermutlich im ›normalen‹ Zustand, als Rahmenband, latent vorhanden ist.

Abb. 6: Das grüne Rahmenband bildet den Berg Tabor der Verklärung Christi und den Golgathahügel der Kreuzigung, Wandmalereien der Unterkirche in der Doppelkapelle St. Maria und Clemens, Schwarzrheindorf.

In den Miniaturen der Cuthbert-Vita bleibt die gerade Form des Rahmenbandes zwar stets unverändert, dennoch wird eine gegenständliche Assoziation erreicht,

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u. a. indem die Farbfläche mit einem Muster belegt ist. Auch der Goldgrund verändert seinen immateriellen Charakter durch eine eingeritzte Musterung in Richtung einer Gegenständlichkeit. Die mal an Sternchen, mal an Blümchen gemahnenden goldenen Tupfen auf dem Blau bzw. Rot um den Goldgrund transformieren den flächigen Bildgrund hinter dem Bildgeschehen zu einem ›konkret gedachten‹ Raum um das Geschehen; die plane Fläche vertikal hinter den Figuren und Gegenständen mutiert zu einem sich horizontal in die Tiefe erstreckend gedachten Raum unter den Figuren, das Rahmenband zugleich zu einem Horizont um eine Standfläche, jedenfalls als ein Ort, an dem Bildfiguren Halt finden und das, insbesondere bei den verzogenen Formaten der Gewölbemalerei, für das Bildgeschehen ein (durchaus nicht auf den unteren Rand beschränktes) ›Unten‹ definiert. Die Verknüpfung bzw. Durchdringung von Raum und Fläche in der Malerei ist für moderne, an exakt berechnete Raumprojektion gewöhnte Augen unbefriedigend und schwer lesbar; letztlich wird nur ein räumlich defizitäres Flächenmuster wahrgenommen. Die komplizierte und mehrdeutige Durchdringung räumlicher und flächiger Elemente stellt aber ein spezifisches, überaus durchdachtes Gestaltungsmuster der (hoch-)mittelalterlichen Malerei dar, das letztlich eine Voraussetzung für die »Verräumlichung« der Malerei an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert darstellt. 9 Die Vorstellung von Räumlichkeit in der planen Darstellung zu bewältigen, wird im frühen 12. Jahrhundert selbst als ein Problem erkannt und beschrieben. Es taucht besonders dort auf, wo komplexe Gedankengebäude in sprachlichen Bildern veranschaulicht werden und den Schrifttexten ein materielles Schaubild beigegeben werden soll – das hinter den Möglichkeiten der Sprache bzw. Schrift zurückbleibt, weil adäquate Muster zur Bewältigung der Schwierigkeiten räumlicher Darstellung in der Fläche mit den Mitteln gegenständlicher Bilder fehlen. Dabei ist weniger eine Körperhaftigkeit des Bildraumes selbst gemeint, als vielmehr die Komplexität räumlicher Zuordnung von dinglichen Abbildungen und deren Projektion in der Fläche. Als wohl berühmtestes Beispiel ist die Exegese der Arche Noah durch Hugo von St. Viktor (gest. 1141) und deren Visualisierung zu 9 Vgl. dazu grundlegend, wenngleich nicht unumstritten, Hans Sedlmayr, Über eine mittelalterliche Art des Abbildens, in: ders., Epochen und Werke, Wien 1959, Studienausgabe 1977, Bd. 1, S. 140–154, zuerst erschienen in: Critica d’arte VI (1936), S. 261–269. Vgl. den ebenso fundamentalen Beitrag von Erwin Panofsky, Perspektive als symbolische Form, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924–1925, Leipzig und Berlin 1927 (und Wiederabdrucke), S. 258–330, bes. S. 111; dazu auch Hartmut Kugler, Perspektive als symbolische Form in der mittelalterlichen Dichtung: Panofsky und die germanistische Mediävistik, in: Erwin Panofsky: Beiträge des Symposions, Hamburg 1992, hg. von Bruno Reudenbach, Berlin 1994 (Schriften des Warburg-Archivs im Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg 3), S. 201–211.

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nennen. 10 Hugo und nach ihm ebenso der schottische Prämonstratenser Adam in seiner Auslegung und Verbildlichung der Stiftshütte, 11 entstanden um 1180/81, bedauert ausdrücklich, dass sich der dreidimensionale Körper des dreigeschossigen Gebildes, mit dem die Arche (bzw. die Stiftshütte) als universales zeit-räumliches Weltmodell sprachlich visualisiert wird, in der Fläche einer visuell erfassbaren bildlichen Darstellung nicht wiedergeben lässt. 12 Er behilft sich mit einem Diagramm. 13 Die Grundform ist ein Quadrat bzw. Viereck, dem zunächst ein größe10 Hugo von St. Viktor, De archa Noe, hg. von Patrice Sicard, CCCM 161, Turnhout 1994; dazu Patrice Sicard, Diagrammes médiévaux et Exégèse visuelle. Le ›libellus de formatione arche‹ de Hugues de Saint-Victor, Paris/Turnhout 1993 (Bibliotheca Victorina IV); Sicard datiert zwei Redaktionen 1128 /29 bzw. 1135. Vgl. auch ders., L’urbanisme de la Cité de Dieu: constructions et architectures dans la pensée théologique du XII e siècle, in: L’abbé Suger, le manifeste gothique de Saint-Denis et la pensée victorine. Colloque organisé à la Fondation Singer-Polignac le mardi 21 novembre 2000, Actes édités par Dominique Poirel, Brepols 2001, S. 109–139; zuletzt kritisch und selbst umstritten Conrad Rudolph, »First, I Find the Center Point«. Reading the Text of Hugh of Saint Victor’s ›The Mystic Ark‹, Philadelphia 2004 (Transactions of the American Philosophical Society 94 /4), mit Diskussion der umfangreichen Literatur. Ein kurzer Auszug findet sich übersetzt und eingeleitet von Arwed Arnulf, Hugo von St. Viktor – Entwurf und Erklärung einer allegorischen Darstellung der Arche, in: Kunstliteratur in Antike und Mittelalter. Eine kommentierte Anthologie, Darmstadt 2008, S. 156–160; zuvor bereits ders., Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert, München/Berlin 2004, S. 394–401; Arnulfs Benennung der Zeichnungen ebenso wie der Texte als »Architekturbeschreibungen« ist zu widersprechen, es sind unbestritten diagrammatische Visualisierungen der Exegese der Arche bzw. des Tabernakels (Adam Scotus). 11 Adam Scotus, De tripartito tabernaculo, Migne PL 198, 609B–796B. Der Text wird immer im Zusammenhang mit der Visualisierung von Exegesen biblischer Architekturen genannt, seit Friedrich Ohly, Die Probleme der mittelalterlichen Bedeutungsforschung und das Taubenbild des Hugo de Folieto, in: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968), S. 162–201, und an anderen Stellen auf ihn aufmerksam gemacht hat. Vgl. dagegen Arnulf 2004 [Anm. 10], S. 398–401, hier S. 395; siehe insbesondere Jean Wirth, L’image à l’époque romane, Paris 1999, bes. S. 183–191; Attilio Pracchi, ›In plano depingere‹: Adam Scotus e il disegno di architettura nel XII secolo, in: Il disegno di architettura 25 /26 (2002), S. 3–10. 12 Die Darstellung des im Mittelpunkt der Zeichenfläche bzw. der Arche aufgerichteten quadratischen Pfeilers beschreibt Hugo von St. Viktor [Sicard 1994, Anm. 10] als vierseitige Projektion in der Fläche. Er beschreibt, wie plano ad planum inuicem compingantur, ut columpna erecta uideatur (S. 124) und bedauert die notwendige Reduktion der tatsächlichen Höhe des Pfeilers in der Flächenprojektion: Sed hoc in plano representari non potuit (S. 125). Zum Problembewusstsein bei der Darstellung dreidimensionaler Körper in der Fläche, insbesondere bei illustrierten Euklid-Ausgaben, siehe John E. Murdoch, Album of Science. Antiquity and the Middle Ages, New York 1984, S. 114 und 124f, Nr. 117 und 118, S. 128–131, Nr. 120–122 und passim. 13 Vgl. Kathrin Müller, Visuelle Weltaneignung: astronomische und kosmologische Diagramme in Handschriften des Mittelalters, Göttingen 2008 (Historische Semantik 11).

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res um einen gemeinsamen Mittelpunkt umschrieben wird, in dem ein vierseitiger Pfeiler aufgerichtet gedacht – und nach vier Seiten hin liegend dargestellt ist. Das Kreuz, das sich durch dieses flächige Aufklappen des eigentlich im Raum aufragenden Pfeilerkörpers ergibt, teilt die Flächen in Gevierte. Weitere Flächen legen sich um dieses Zentrum, jeweils Zwischenräume ausbildend, die spatia 14 genannt werden, »Räume«, an anderer Stelle »Balken«, trabes; der Funktion eines Diagramms entsprechend sind die geometrischen Gebilde und damit auch die rahmenartigen Zwischenräume, Streifen oder Balken, mit einer konkret gegenständlichen Bedeutung belegt und zusätzlich zur geometrischen Ordnung in sinnhaltiger Farbigkeit differenziert. Blau und Grün, die den in der Fläche aufgespaltenen Pfeiler – das ist Christus – differenzieren, stehen dabei für dessen göttliche und menschliche Natur. Purpur bezeichnet Gnade und Liebe, darüber hinaus das Königtum Christi, das Blut der Passion und die Verdammnis der Sünder, Gelb das mosaische, Grün das Naturgesetz, ebenso die Vegetation und die Erde. Neben der Farbe ist auch die Breite und Ausdehnung der säumenden Farbstreifen signifikant. Zurück zum Binnenrahmen und zum Hl. Cuthbert auf hoher See. Ohne eine formale Ähnlichkeit zu behaupten – was sich angesichts der widersprüchlichen Rekonstruktionen der nicht überlieferten (oder nie ausgeführten) Zeichnungen zu den Texten Hugos bzw. Adams ohnehin verbietet – folgt aus den Texten, dass der gefelderte und zweifarbig rahmenähnlich erscheinende Bildgrund Teil der Aussage des Bildes ist und eine nicht offensichtliche, aber intelligible Raumvorstellung eröffnet. Dieser Bildgrund, der prinzipiell keinen mimetischen, gegenständlichen Charakter aufweist, wird in seinen zeichenhaften Formen und Farben ergänzt und teilweise besetzt durch konkrete Bildgegenstände. Verfolgt man das Bildfeld-Rahmensystem in einem weiteren Kontext, trifft man auf Darstellungen der Welt, die sich eines vergleichbaren Darstellungsmodus bedienen, wenn es um die Ränder der Erde geht. Karl Clausberg hat den weit gespannten Zusammenhang aufgezeigt, ohne selbst auf die Rahmenform einzugehen, er hat dafür umso erhellender eine Bild- und Raumkonzeption von Weltkarten, Weltdarstellungen und -visionen erklärt. 15 Selbst die von Clausberg abgebildete Darstellung von Alexanders Greifenflug in der Weltchronik des Rudolf von Ems (Los Angeles, Getty Museum, Ms 33, 88. MP. 70, f. 221 r, 14. Jh.) bedient sich eines bildimmanenten, d. h. 14

Arnulf [Anm. 10] übersetzte zuerst als »Saum« (2004, S. 295) dann (2008, S. 157) als »Rahmen«; vgl. Wirth [Anm. 10], S. 183–191. 15 Karl Clausberg, Scheibe, Rad, Zifferblatt. Grenzübergänge zwischen Weltkarten und Weltbildern, in: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Kolloquium 1988, hg. von Hartmut Kugler in Zusammenarbeit mit Eckhard Michael, Weinheim 1991, S. 260–313.

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zum Bildfeld und zum Bildgeschehen gehörenden, gemusterten Rahmenstreifens – Clausberg spricht von dem »sich selbst einrahmenden Himmelblau« 16 – den Alexander mit Hilfe der Greifen nach oben durchbricht; dieser Rahmenstreifen setzt das Weltmeer rings um die Erde, die aus der Perspektive des hoch erhobenen Alexander als kleine Erdscholle erscheint und auch dem Betrachter in dieser Weise gezeigt wird, als Rahmen um den Himmel fort, der die Bildfläche oberhalb der am unteren Rand ausgebreiteten Erde mitsamt dem Weltmeer einnimmt; der Rahmen setzt erst dort an, wo der Himmel beginnt, und suggeriert im Oben der Bildfläche und im Umlaufen des Rahmens eine quasi räumliche Dimension. Frappierend ist auch die Darstellung von Hildegards Vision des Empyreum im ›Liber Scivias‹ 17 : Die Vision selbst wird in einem ornamental verzierten Bilderrahmen sichtbar gemacht, der von den Flammen des Empyreum und den Planeten nach oben durchbrochen wird (Abb. 7). Das Bildfeld innerhalb des quasi gegenständlichen Rahmens ist nun in der aus der Cuthbert-Vita bekannten Weise als ein Binnenfeld mit farblich abgesetztem, mit Streumuster belegtem Rahmenband gestaltet – offenbar das adäquate System, die unfassbare Vision des Kosmos überhaupt in einem materiellen Bild zu verankern, das die visionäre Raumdimension fassen, ›erden‹ kann. Cuthberts Meerfahrt (Abb. 2) und auch die anderen Szenen seiner Vita verlassen den bekannten irdischen Raum nicht. Dieser Raum wird aber mit einem Bildmuster visualisiert, das selbst visionäre und kosmische Räume in der Bildfläche darstellbar macht. Den handelnden Figuren wird mit Hilfe eines farbig abgesetzten Binnenrahmens um ein inneres Bildfeld ein Ort gegeben, der in der Fläche begrenzt, aber durch das rahmende Umlaufen in seiner Dimensionalität prinzipiell offen ist. Der hoch aufragende Wellenberg in der Szene von Cuthberts Meerfahrt, der seitlich vom Rahmen zurückweicht und dafür um so gewaltiger in die Höhe schießt – diesen Eindruck vermittelt die Betrachtung der Fläche des Bildes –, aber sich weit auszudehnen scheint – wenn man sich auf die Raumsuggestion einlässt –, versetzt das Schiffchen auf seinem Gipfel mitten in ein riesiges Meer, das sich ringsum ausbreitet. Dass es sicher an ein Ufer gelangt, das garantiert die beschriebene Bildkomposition und eben die Einbettung in einen vom Rahmen begrenzten Raum. Dass dieses Bild – auch ohne das Rahmensystem, das in der Stilisierung einfach weggelassen wurde – als Logo des Kollegs funktionierte, verdankt es nicht zuletzt der Weltkarten-Expertise seines Sprechers. 16

Ebd., S. 261. Ebd., S. 302–306. Lieselotte Saurma-Jeltsch, Die Miniaturen im »Liber scivias« der Hildegard von Bingen. Die Wucht der Vision und die Ordnung der Bilder, Wiesbaden 1998, S. 16, Abb. 5. 17

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Abb. 7: Vision des Empyreum, Hildegard von Bingen, ›Liber Scivias‹ (Saurma-Jeltsch [Anm. 17], Abb. 5).

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Namen- und Ortsregister * *

Aachen 196 Abenberg 183–185, 190, 192 Adalbertus Samaritanus, ›Praecepta dictaminum‹ 144, 146, 149f., 157 Adam, Wolfgang 95 Afrika 348, 350, 364 Alanus ab Insulis 448 Albert, Propst in Ebstorf 196 Albornoz, Claudio Sánchez 244 Albrecht, ›Jüngerer Titurel‹ 180, 190 Alexander der Große 347, 350, 367 Alexander III., Papst 291 ›Aliscans‹ 288f. Alyscamps 281, 289 Álvarus 249 Ambraser Heldenbuch 46, 418 Amelung, Arthur 419, 421, 424, 425 Andreas Capellanus, ›De amore‹ 147f., 158 Apulien 47 Aquileia 178 Arentzen, Jörg-Geerd 195, 305, 314–316, 318 Aristoteles, ›Rhetorik‹ 145 Arles 281f., 289, 291 Arnaut Daniel 163, 166 Asien 182, 189, 348, 350, 364 Assmann, Jan 242 Auerbach, Erich 123f., 163 Augsburg 226

Aurelius Augustinus 199, 255, 258 – ›Confessiones‹ 328 Bachtin, Michail 14 Baltikum 350 Barabási, Albert-László 321 Beaucaire 288 Beda Venerabilis 199, 413 – Vita Cuthberti 452 Behaim, Martin 350 Behaim-Globus 350, 357, 359, 362, 364, 366 Beheim, Michel 114–118 Bein, Thomas 91f. Benevent 46 Bernardus, Magister – ›Rationes dictandi prosaice‹ 158 – ›Summa dictaminum‹ 147, 158 Bernhard von Clairvaux 183 Bertau, Karl 69, 293, 337, 371 Bianco, Andrea 349f. Biblia sacra – ›Apokalypse‹, Johannes- 194f., 208, 300, 310 – ›Apostelgeschichte‹ 400 – ›Daniel‹ 214 – ›Ezechiel‹ 199 – ›Genesis‹ 391 – ›Isaias‹ 313–316 – ›Jona‹ 274f. – Lukasevangelium 392, 399

* Aus dem namenreichen Beitrag zur Literaturgeschichte Nürnbergs im Mittelalter (S. 225–238) wurden nur die bedeutendsten Verfassernamen aufgenommen.

468

Namen- und Ortsregister

– Markusevangelium 275 – Psalmen 313, 317 – ›Sapientia‹ 312f. Blades, Mark 351 Blakemore, M. J. 349 Boethius, ›Consolatio Philosophiae‹ 404, 406 Bonath, Gesa 189f. Boncompagno – ›Rhetorica antiqua‹ 143, 147, 159 – ›Rota Veneris‹ 138, 147 Borchardt, Rudolf 163 Bozen 293 Braunschweig 219 Brentano, Clemens 241 Bridel, Jean-Louis-Philippe 122 Brief des Presbyters Johannes 185 Brindisi 206 Brixen 46 ›Buch von Bern‹ 40f., 58 Budapester Bilderchronik 432 Burchard von Worms 323 Byzanz 347 Caedmon 413f. Castro, Américo 244 Catlos, Brian A. 252 Celtis, Konrad 237 Champagne 294 ›La Chanson de Guillaume‹ 288 ›Le Charroi de Nîmes‹ 288f. China 357 Chrétien de Troyes 22 – ›Conte du Graal‹ 133f., 177, 284, 341 – ›Yvain‹ 72, 123–125 ›Chronica Pragensis‹ 446 Cicero 255 – ›De inventione‹ 145f. – ›De oratore‹ 145 – ›Topica‹ 145 Cilli 178

Cîteaux 185 Clausberg, Karl 463f. Codex Manesse 98 Córdoba 247–249 Cramer, Thomas 127 Curtius, Ernst Robert 63, 144–147 Dante 163 Darius 196 de Boor, Helmut 148 de Moor, Margriet, ›De verdronkene‹ 278 ›De ramis cadunt folia‹ 374–381, 385–387 ›Decretum Gratiani‹ 323, 333, 334 Deschamps, Eustache 371 Dietmar von Eist 74–76 ›Dietrichs Flucht‹ 40 Dietz, Friedrich 163 Drau 178, 182 ›Dresdner Heldenbuch‹ 58 Domanovszky, Sándor 432–434 Dominicus Gundisalves 253 Downs, Roger 351–353 Dronke, Peter 374, 378 Dumas, Alexandre 241 Dürer, Albrecht 238, 264 – ›Tagebuch der Reise in die Niederlande‹ 265–268, 273–277, 279 Ebrach 185, 189 Ebstorf 196 Ebstorfer Weltkarte 179f., 193–196, 198, 201, 212–215, 220, 222, 297, 300f., 303–307, 310, 328f., 347, 349, 367 ›Eckenlied‹ 40, 58 Eike von Repgow, ›Sachsenspiegel‹ 326f. Engelhard von Langheim 143, 159 Erdmann, Oscar 397 Ernst, Ulrich 393 Eschenbach 184, 192 Eulogius 249f. Europa 348, 364

Namen- und Ortsregister

Fanjul, Serafín 245 Ficino, Marsiglio 140 Flandern 292f., 295 Folz, Hans 234, 236 Ford, Richard 241 Foucault, Michel 42f., 58, 197, 202, 206, 213, 223 Fra Mauro-Karte 198, 208 Franchriche 292 Frauenlob 118 Friaul 178 Friedrich I. Barbarossa 291 Friedrich II. 291 Fuchs, Stephan 36 Füssli, Johann Konrad 122 Gautier, Théophile 241 Gedrut / Geltar 102 Gennrich, Friedrich 373 Gerhard von Cremona 253 Gerona 281 Gervasius von Tilbury, ›Otia imperialia‹ 306 Gesner, Conrad, ›Fischbuch‹ 263–265 Gier, Helmut 226 Gog und Magog 202, 220f., 315 Gottfried von Bouillon 190 Gottfried von Neifen 103 Gottfried von Straßburg, ›Tristan‹ 65–69, 79, 81, 141, 152, 343 Gouguenheim, Sylvain 245, 260 Goytisolo, Juan 245 Granada 239, 241 Green, Dennis H. 284 Greenblatt, Stephen 369 Gregor der Große, ›Dialogi‹ 407 Groebner, Valentin 369 Grubmüller, Klaus 23, 33, 36 Guiot de Provins 285f. Gumbrecht, Hans Ulrich 370 Gunther von Pairis, ›Ligurinus‹ 440 Gurk 186–188

469

Hadloub, Johannes 80–82, 97 Hahn, Ingrid 23 Hajdina 178 Harley, J. B. 349 Harms, Wolfgang 131f. Hartmann von Aue – ›Erec‹ 126f., 130 – ›Iwein‹ 13f., 69–74, 81, 125f., 130 Hasse, Dag Nikolaus 245 Hassenstein, Bohuslaus von 140 Haubrichs, Wolfgang 393, 398 Haug, Walter 22 Heiliges Land 206, 210, 212f. Heilsbronn 183–186, 189, 192 Heine, Heinrich 241 Heinrich V. 188 Heinrich VI. 291 Heinrich von Mügeln – ›Artes liberales‹ 446, 448 – ›Cronica Vngarorum‹ 431–449 – ›Der meide kranz‹ 438 – ›Tum‹ 438, 449 – ›Ungarnchronik‹ (›Historien‹) 432–435, 440, 442 Heinrich von Rugge 138 ›Heliand‹ 395 Hemma von Gurk 187 Henricus Francigena, ›Aurea gemma‹ 157 Herder, Johann Gottfried 241 Herefordkarte 198, 201–203, 212–215, 221f., 297, 300f., 303f., 318, 367 Hermannus Alemannus 253 Hieronymus 146, 199, 317 – ›De ortu amicitiae‹ 141 Hildebrandslied 397 Hildegard von Bingen, ›Liber Scivias‹ 464 Hiltbolt von Schwangau 138 Hölderlin, Friedrich, ›Pathmos‹ 278 Honorius Augustodunensis, ›Imago mundi‹ 348 Hübner, Gert 125

470

Namen- und Ortsregister

Hugo, Victor 241 Hugo von Bologna, ›Rationes dictandi prosaice‹ 157 Hugo von Honau 142, 158 Hugo von Montfort 97 Hugo von St. Viktor 461f. Ibn Abdun 252 ›In laudes innocentium‹ 372 Indien 179f., 182, 190 ›Indulgentiae Romae‹ 306 Innozenz II. 183, 185 Irving, Washington 241 Isidor von Sevilla 199, 219, 258 ›Etymologiae 323f., 326f., 330 Jandl, Ernst 122 Janich, Peter 192 Janota, Johannes 89, 226 Jans Enikel, ›Fürstenbuch‹ 187 Jaufre Rudel 141, 162, 169 Jauß, Hans Robert 61 Jerusalem, himmlisches und irdisches 47, 122, 179, 193–223, 230, 297, 300–318, 347f. Johannes Klimakus 408 Julius Paulus 323, 330 ›Jüngere Judith‹ 134 ›Jüngerer Titurel‹ 135f. Justinian, ›Institutiones‹ 323 Kaiser, Gert 130 Kaiserchronik 281 Karl der Große 281 Karnein, Alfred 85–87, 148 Katalanischer Atlas 357 Kaukasus 202, 220f. Kitchin, Rob 351 Kline, Naomi 347 Knapp, Fritz Peter 226 Koberger, Anton 238 Kofler, Walter 417

Köln 196 ›König Rother‹ 141, 151 Konrad von Abenberg, Erzbischof von Salzburg 183, 185, 188, 191 Konrad von Megenberg, ›Buch der Natur‹ 263, 265 Konrad von Würzburg 110–112 – ›Engelhard‹ 62 – ›Partonopier‹ 141 – ›Trojanerkrieg‹ 62, 138, 141 Konstantinopel 196, 239 ›Kudrun‹ 141 Kugler, Hartmut 13f., 121, 194, 306, 312, 347, 349, 352, 357 Kuhn, Hugo 86 Kürenberger 150 Lacan, Jacques 161 Lachmann, Karl 188 Lambert von Saint-Omer, ›Liber floridus‹ 209 ›Laudes Deus sexus omnis‹ 318 Leardo, Giovanni 208 Leopold II. 188 Lévi-Strauss, Claude 161 Lieb, Ludger 93f. Lienert, Elisabeth 36 Ljubljana 178 Lofmark, Carl 284–286 ›Lohengrin‹ 191 Lombardei 46 Londoner Psalterkarte 121, 201f., 213– 215, 221f., 297, 300, 303f., 318, 329 Lothringen 292f. Lotman, Jurij M. 17, 34 Luder, Peter 139 Ludwig, Helmut 432 Luhmann, Niklas 162 Lukan, ›Pharsalia‹ 440 Lüneburg 196 Luther, Martin 263

Namen- und Ortsregister

MacEachren, Alan 351 Marcus von Toledo 254 März, Christoph 104f. Matthaeus Parisiensis 217 Matthäus von Vendôme, ›Ars versificatoria‹ 64, 70 Meinloh von Sevelingen 138, 141, 148–151, 162, 167 Mergell, Bodo 161 Merseburger Zaubersprüche 395, 397 Mertens, Volker 127 Messina 47 ›Meßkircher Stammtafel‹ 332 Metzger, Ambrosius, ›Metamorphosis Ovidii‹ 431 Michael Scotus 253 Michener, James 243 Miller, Konrad 222 ›Moniage Guillaume‹ 288 Monte Gargano (Heuweberg) 46 Morimond 185, 189 Müller, Jan-Dirk 90, 155 Münkler, Marina 222 Münzer, Hieronymus 230, 232, 239f., 350 Murcia 246f. von Murr, Christoph Gottlieb 265 Muskatblut 113 ›Muspilli‹ 397 ›Les Narbonnais‹ 288 Neidhart 97, 103 – werltsüeze-Lieder 104–109, 118 Nibelungenlied 138, 141, 151–156 Nîmes 288 Norberg, Dag 379 Nowgorod (Holmgard) 46 Nünning, Ansgar 15 Nünning, Vera 15 Nürnberg 225 Orange 288

471

Orient, Okzident 45, 179, 182, 190, 217, 339, 345, 349, 420, 424 Orlandi, Giovanni 388 Orosius 214 ›Oswald‹ 151 Oswald von Wolkenstein 97 Otakar II. von Steyer 188 Otakar IV. von Steyer 188 Otfrid von Weißenburg, ›Evangelienbuch‹ 392, 414 ›Otnit‹ 39, 418–429 Otto von Freising 185 Otto der Strenge, Herzog von Braunschweig-Lüneburg 196 Ovid 162 – ›Heroides‹ 137, 142, 146 Oxford-Karte 199 Pabst, Bernhard 445–448 Paradies s. Sachregister Peter Rühmkorf 171 Petrus von Prezze 143 Petrus von Zittau, ›Chronica aulae regiae‹ / Königsaaler Chronik‹ 446f. Petruslied 397 Pirckheimer, Johann 139, 237 Pirckheimer, Willibald 140, 237 Platon 61 ›Prise d’Orange‹ 288 Propp, Vladimir 27 Prosalancelot, dt. 124, 128, 130–132 Prosalancelot, frz. 129, 132 Provence 281–283, 285–291, 293, 295f. Provins 285f. Ptolemaios, ›Almagest‹ 253 Ptuj 178, 182 Quintilian, ›Institutio‹ 145 Ranulf Higden, ›Polychronicon‹ 204, 206f. Ranulf von Glanvill 257

472

Namen- und Ortsregister

Raynouard, F. J. M. 163 Reinmar 82 Reinmar von Zweter 186 Renaut de Beaujeu, ›Bel Inconnu‹ 20 ›Rhetorica ad Herennium‹ 145 Rhône 288 Ried, Hans 419, 422, 428ff.; s. auch Ambraser Heldenbuch Rieger, Dietmar 381 Rodrigo Jiménez de Rada, ›Historia Arabum‹ 259f. Roethe, Gustav 434 Rohitscher Berg, Rogaška gora 178, 187 Rolandslied 282 Röll, Walter 190 Rom 46, 206, 219, 230, 300, 306, 409 Rosenplüt, Hans 234–236 Ruberg, Uwe 219, 304, 314f. Rupprich, Hans 268 Rußland 46 Rüst, Hanns 208 Sachs, Hans 234, 238 Santiago de Compostela 230 Säulen des Herkules 206, 304 Schanze, Frieder 431 Schedel, Hartmann 228, 237 – ›Weltchronik‹ 231, 238 Schiewer, Hans-Jochen 23 Schlegel, August Wilhelm 163, 241 Schmidt, Margot 393 Schmitt, Hans-Christoph 243 Schneider, Karin 189 Scholz, Manfred Günter 127 Schönbach, Anton E. 406 Schott, Peter 139 Schröder, Werner 21 Schulze, Joachim 373 Sedulius – ›Carmen paschale‹ 317, 404f. – ›Opus paschale‹ 405 Seelbach, Sabine 19f.

Seelbach, Ulrich 19f. Senlis 293 Sevilla 180 Shakespeare, William, ›The Taming of the Shrew‹ 138f. Sizilien 47 Soest 291 Solinus 284 Spanien s. Sachregister Spanke, Hans 372–374 Stea, David 351–353 Steiermark 178, 183, 185, 187f., 192 Stephan von Landskron 408 Stilla von Abenberg 184 Störmer-Caysa, Uta 427 Stricker, ›Karl‹ 62, 282, 285 Symmachus 144, 146 Tannhäuser 186, 189 Terra Australis 364 Tervooren, Helmut 226 Thannhausen 186 Theben 196 Thomas, Apostel 196 Thomas von Aquin 13 Thomas von Bretagne, ›Tristan‹ 152, 170 Thomasin von Zerklaere 133 Toledo 251–254, 287 Toskana 46 Trachsler, Ernst 126–128 Travnik, Eugen 432–435 Trient 46, 55 Tyrus 47 Uhland, Ludwig 241 Ulrich von dem Türlin, ›Willehalm‹ 289f. Ulrich von Etzenbach, ›Rennewart‹ 141 Ulrich von Liechtenstein, ›Frauendienst‹ 97 Ulrich von Türheim, ›Rennewart‹ 289f. Ulrich von Zatzikhoven, ›Lanzelet‹ 21

Namen- und Ortsregister

Ungarn s. Sachregister Ungruh, Christine 306 Urban II. 258 Vergil, ›Eklogae‹ 64 Verona 46 Vogt, Friedrich 148 Vollmann-Profe, Gisela 393 Wachinger, Burghart 87f., 93 Walsperger, Andreas 208 Walther von Châtillon, ›Alexandreis‹ 440 Walther von der Vogelweide 169f. – Lindenlied 76–79, 82 Weckherlin, Georg Rudolf 140 Wehrli, Max 33 Weinrich, Harald 100 Wenzel, Horst 141 Wickram, Georg, ›Metamorphosen‹ 270 Wierstraet, Christian 445

473

›Wigoleis vom Rade‹ 25 Wilcke, Karin 393, 404 Wilhelm IX. von Aquitanien 168, 371f., 374, 381–387 Williams-Krapp, Werner 226 Wilmanns, Wilhelm 434f., 437 Wirnt von Gravenberg, ›Wigalois‹ 13, 37 ›Wolf Dietrich‹ 40f.; A 420, 428; D 416–418 Wolfram von Abenberg 183 Wolfram von Eschenbach – ›Parzival‹ 23–25, 35, 131, 135, 138, 141, 175, 282–287, 335–345 – ›Titurel‹ 339 – ›Willehalm‹ 178, 189f., 285, 287, 289–295, 342f. Wolter-von dem Knesebeck, Harald 305 Würzburg 183, 226 Zumthor, Paul 61, 370

Sachregister

Achsensymmetrie der Raum-Zeit-Konzeption (Ebstorfer Weltkarte) 316, 318 Allegorisierung von Natur, im Minnelied 104, 108 Anthropomorphisierung von Natur, im ›Tristan‹ 67–69; im Minnelied 114 Arabisierung, Islamisierung der Christen in Spanien 248, 251 Ästhetisierung und Allegorisierung von Reisen, bei A. Dürer 273 Baumgarten, im ›Iwein‹ 70–74 Baummodell 321–324, 331, 333 Bildfeld-Rahmen-System bei Raumdarstellung 463 Brautwerbung 43, 142, 151, 153, 418, 421, 424 Christentum und Islam in Spanien 242–261 Contemptus mundi, im Lied 111–119 crux comissa 215 Diagramm-Darstellung von Raum, bei Hugo v. St. Viktor 462 Diesseits, Jenseits, im Minnelied 107; Diesseits-Jenseits-Räume bei Otfrid 391–414; s. auch Jenseitsreise Doppelweg 25 Dreidimensionalität 192; von Raum in der Fläche 462–464 Dreiteilung 294

Enzyklopädie 121, 198, 210, 214, 219, 223, 322, 348f., 367 Epistemologie 326 Etymologie 330 Eurozentrismus, Christozentrismus 420 Exil der Schrift 369 Farben-Allegorisierung 463 Fernliebe, als Modus paradoxer RaumSemantisierung 161–171; als (brief-) literarische Konstante 137–159 Fernruhm und Fernliebe, im Nibelungenlied 152–156 Fiktionalisierung der Topographie, in Mügelns Ungarnchronik 433 Genealogie 24, 35, 40f., 50f., 56, 321– 345, 419–422, 426f. Geographie 200, 326, 340, 348f., 367 Geometrisierung von Raum 208, 321, 463 ›geopoetische‹ Karte in Wolframs ›Willehalm‹ 293, 295 ›Geopolitik‹, literarische 292 Georeferenzierung 348 Geschichtsschreibung unter Formzwang, bei Heinrich von Mügeln 440 Heilsgeschichte und Schöpfungsgeschichte, in der ma. Kartographie 297–318 Heterochronie, im ›Otnit‹ 58 Heterotopie 39, 42f., 57f.

Sachregister

Himmelfahrt Christi, bei Otfrid 399f., 403f. Himmelfahrt-Ikonographie 403 Himmelsreisen, antike 404 ›Himmelsstraße‹ (Weg des Engels), bei Otfrid 391–414 historische Alterität von Raumverhältnissen (H. v. Mügeln) 434 Hof und Kloster 369 hortus conclusus 19, 70 Ikonographie 338, 349 Imperialisierung von Handlungsräumen, bei Wolfram von Eschenbach 290ff. Inzest 50, 55, 57f., 420–423, 427 Irrweg, im Artusroman 128 Jenseitsreise 31; s. auch Diesseits, Jenseits Karten, kognitive 347, 352f. Kartographie 195, 198, 214; digitalisierte 367 Kreuzzüge 195, 199, 254–258 Kulturtransfer (christlich-arabischjüdisch), zur Kyot-Figur bei Wolfram von Eschenbach 283–287 Landschaft 31; anderweltliche, im ›Otnit‹ 49; erotische, bukolische 64ff.; niederländische, in Dürers Reisebericht 276 literarische Geographie bei Wolfram von Eschenbach 281–296 Literatur in der Stadt (Nürnberg als literarischer Raum) 225–238 locus amoenus 61–83; l. a. und ›Natureingang‹ 94; locus amoenus-Topos, im ›Otnit‹ 48f. Maiestas Domini (Ebstorfer Weltkarte) 307, 314 Makrokosmos, Mikrokosmos 194, 326f.,

475

343, 345; Ebstorfer Weltkarte 312 mappae mundi 193, 329, 341 Märtyrer in Spanien 247–250 Meerfahrt des Hl. Cuthbert 451–465 Mereologie 354, 363 Mozaraber 247 Mythisierung von Raum, im Artusroman 131 Natur, im ›Tristan‹ 65–69; in der Lyrik des Spätmittelalters 85–119 Natur-/Kulturräume, im ›Otnit‹ 51; metonymisch, metaphorisch, im Minnelied 74–83 Natureingang 90, 92, 101–106, 109, 112, 118, 168, 171 Ökumenekarte 193, 195f., 202, 204, 223 Orbis terrarum 297–318, 326, 336, 341 Paradies 179f., 182, 196, 199, 202f., 214f., 221, 304, 310f., 332; im ›Iwein‹ 70–74; im ›Tristan‹ 68 ›patriotische Heilige‹, in Spanien 249ff. Perspektive als ›symbolische Form‹ 461 Portulankarten 347, 349, 356f. Projektion, heilsgeschichtliche (Ebstorfer Weltkarte) 297–318; im Raum des Bewußtseins 415 Provence, als Konflikt-Raum zwischen Christenheit und Islam, geopolitische Aspekte in Wolframs ›Willehalm‹ 287; als literarischer Raum (bei Wolfram von Eschenbach) 281–296 Ptolemaeuskarten 347, 357, 362 Rahmen 455–458, 460, 463f. Räume, äußere und innere 18, 21, 26, 33f., 191f.; im Minnelied 91; vertikale und horizontale 341f., 345; gestörte 16, 35; magische 13, 21, 24; imaginäre und reale, im Minnelied 78, 82;

476

Sachregister

reale und symbolische (gedachte) 195; symbolische 180, 183; R. des Bewußtseins 415–430 Raumgeometrie, bei Wolfram von Eschenbach 296 Raumgestaltung in Text und Bild (Meerfahrt des Hl. Cuthbert) 456ff.; R. und Meisterschaft (H. v. Mügeln als poeta doctus) 447 Raumkonzepte, strukturalistische 17 Räumlichkeit; Dreidimensionalität von Raum in der Fläche 461–463 Raumprojektion, moderne 461 Raumsemantik, im Artusroman 121–136; im Minnelied 162; Meeresküste als Schwelle zwischen Heil und Unheil, bei Dürer 278 Raumstruktur und Raumsemantik (Lotman) 17 Raumsymbolik 122 Raumtopik, im Minnelied 92–95 Raumwahrnehmung, bei Albrecht Dürer 273 Raum-Zeit-Gestalt unter ›Formzwang‹, in H.s v. Mügeln Ungarnchronik 431–449 Raum-Zeit-Verschränkung, im Lied 168 Realgeographie, im ›Otnit‹ 46 Reflexion von realen Räumen 43; Spiegelung 222f.; Spiegelung von Räumen 191f.; Natur als ›Spiegel‹ des Ich, im Lied 114, 118; R. von Innenund Außenräumen, im Lied 108; Links-rechts-Dimension 135f.; im Raum des Bewußtseins 415 regionale Literaturgeschichte (Nürnberg im Mittelalter) 225–238 Reise- und Pilgerberichte (aus dem Nürnberger Raum) 230 Reisen und Kulturtransfer (Nürnberg und Spanien) 239–241 Resonanz-Raum der Stimme 369

Rezeption griechischer Antike durch die Araber, in Spanien 245 rhetorische Amplificatio von Landschaft, bei Heinrich von Mügeln 442 Richtungssymbolik 123–136 Spanien als kultureller Kontakt- und Konfliktraum 239–261 ›spatial turn‹ 351 Stadtchronistik (Nürnberg im Mittelalter) 230f. Stemma 323–326, 333–335, 339, 341, 418 T-O-Schema 198f., 214, 297, 348 Text-Bild-Bezug in der mittelalterlichen Kartographie 303 Topik, historische 83, 144–147 Topographie, heroische, im ›Otnit‹ 42, 47 Topologie 354f. ›toponomastische Erotik‹ 171 Transfer, von Liedmelodien vom Romanischen zum Lateinischen 369 Transgression 18, 26, 34; ascensus, descensus 405; T. der Dichtersprache 171; räumlich, zeitlich 197 translatio imperii 214 ›Übersetzerschule von Toledo‹ 253f. umbilicus terrae, u. mundi 199, 305 Ungarnbild in Mügelns ›Cronica Ungarorum‹ 431–449 Utopie 42, 162 Vera icon 305–307 Verknüpfung von Raum und Fläche im mittelalterlichen Bild 461 Verräumlichung, von Zeit 161; narrative V. 198; V. der Malerei im Spätmittelalter 461 Verwandtschaft s. Genealogie Virtualität von Räumen 350

Sachregister

Visualisierung von Raumvorstellungen (irdischer, kosmischer, visionärer Räume) 451–465 Weg-Semantik (links, rechts) 123–136 ›Wurzel Jesse‹ 310, 331 zahlenkompositorische Praxis, bei Heinrich von Mügeln 438

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Zentrum, Peripherie 196, 198, 214, 222f., 339; Ebstorfer Weltkarte 318; für die epische Landschaft der Provence im Mittelalter 282 Zirkularität 345 Zweidimensionalität von Raum 364 Zyklizität in der Natur 114