Projektion & Reflexion: Das Medium Film in Kunst und Literatur / Le cinéma dans l'art et la littérature 9783839441114

Movies and films in the mirror of literature and the arts - treated inter-disciplinarily and inter-medially.

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German Pages 244 Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Film – Kunst – Literatur: Intermediale Entfaltungen
Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts
Vom Stummfilm zur Virtuellen Realität: Kinematographische Totalitätsansprüche in Mynonas Graue Magie und Aldous Huxleys Brave New World
Vom Kinogedicht zur Filmlyrik Claire Goll & Co zwischen Kintoppschelte und »Illuminations«
Le flip-book poétique ou l’écriture sous influence de Jérôme Game
L’espace-temps des émotions dans le cinéma et le théâtre scandinave: Strindberg, Trier, Bergman, Fosse, Lygre : une lecture topologique
Herausforderung Film: Peter Weiss zwischen den Künsten
Samuel Beckett et l’œil de la caméra, (d’)après Dziga Vertov
Vom Riss: Eine kunsttheoretische Methode, ihre filmische (Re-)Produktion und ihr literarisches Bedenken
Peindre l’arrêt sur image
Im-Mobile Kadragen zwischen Lebenswelt und Kunst. Oder: zwei kinematografische Figuren von Chantal Akerman
Über die Taktilität im Digitalen: Jean-Luc Godard nach Marshall McLuhan
Beiträgerinnen und Beiträger
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Projektion & Reflexion: Das Medium Film in Kunst und Literatur / Le cinéma dans l'art et la littérature
 9783839441114

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Sabine Haupt • Oliver Ruf (Hg.)

PROJEKTION & REFLEXION Das Medium Film in Kunst und Literatur Le cinéma dans l’art et la littérature

Mediale Produktionen und gestalterische Diskurse bilden ein vehement zu beforschendes ästhetisches Dispositiv: Medien nehmen nicht nur wahr, son­ dern werden selbst wahrgenommen und wahrnehmbar(er) – insbesondere durch die Grundkonstellationen ihrer oft technischen Artefakte und der die­ sen voran gehenden Entwürfe, mithin vor der Folie des dabei entstehenden Designs. Die Reihe MEDIEN- UND GESTALTUNGSÄSTHETIK versammelt dazu sowohl theoretische Arbeiten als auch historische Rekapitulationen und pro­ gnostizierende Essays. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Oliver Ruf.

Sabine Haupt • Oliver Ruf (Hg.)

PROJEKTION & REFLEXION Das Medium Film in Kunst und Literatur Le cinéma dans l’art et la littérature

Medien- und Gestaltungsästhetik 6 Hrsg. v. Prof. Dr. Oliver Ruf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Natalie Herrmann, Theresa Annika Kiefer, Lena Sauerborn, Elisa Siedler, Meyrem Yücel Designkonzeption: Andreas Sieß Gestaltung & Satz: Kiron Patka Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN Print: 978-3-8376-4111-0 ISBN PDF: 978-3-8394-4111-4 https://doi.org/10.14361/9783839441114 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Diese Publikation wurde gefördert durch die Université Fribourg (Rektorat, Forschungsfonds, Philosophische Fakultät).

Inhaltsverzeichnis

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Sabine Haupt • Oliver Ruf

Vorwort Film – Kunst – Literatur: Intermediale Entfaltungen

Fabian Lampart

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts

Karin Janker

Vom Stummfilm zur Virtuellen Realität Kinematographische Totalitätsansprüche in Mynonas Graue Magie und Aldous Huxleys Brave New World

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Sabine Haupt

83

Nadja Cohen





Vom Kinogedicht zur Filmlyrik Claire Goll & Co zwischen Kintoppschelte und »Illuminations«

Le flip-book poétique ou l’écriture sous influence de Jérôme Game

97



Sylvain Briens

L’espace-temps des émotions dans le cinéma et le théâtre scandinave Strindberg, Trier, Bergman, Fosse, Lygre : une lecture topologique

119

Arnd Beise

137

Thomas Hunkeler

151

Oliver Ruf

183

Jacques Aumont









Herausforderung Film Peter Weiss zwischen den Künsten

Samuel Beckett et l’œil de la caméra, (d’)après Dziga Vertov

Vom Riss Eine kunsttheoretische Methode, ihre filmische (Re-)Produktion und ihr literarisches Bedenken

Peindre l’arrêt sur image



199

Eva Kuhn

Im-Mobile Kadragen zwischen Lebenswelt und Kunst Oder: zwei kinematografische Figuren von Chantal Akerman

219





239



Simon Vagts

Über die Taktilität im Digitalen Jean-Luc Godard nach Marshall McLuhan

Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort Film – Kunst – Literatur: Intermediale Entfaltungen

Im Zentrum der intermedialen Thematik des vorliegenden Bandes steht nicht die ja schon vielfach, etwa im Hinblick auf Literaturverfilmungen untersuch­ te Frage nach den Erscheinungsformen von Kunst und Literatur im Medium des Films,1 sondern umgekehrt: Film und Kino als Thema, Motiv oder me­ diale bzw. narrative Technik in Kunst und Literatur. Zwar existieren auch zu diesem Aspekt des Themas bereits einschlägige Publikationen, insbesondere zu film-analogen Erzählweisen der Moderne wie Montage, Cut-Up, Camera-­ Eye-Technik etc., oder zur Crossover-Ästhetik als zentraler Kategorie der zeit­ genössischen Kunst, aber auch zu bestimmten Kino-affinen Themen und Motiven in Kunst und Literatur.2 Im Fokus dieses Bandes stehen dagegen vielmehr medientheoretische, medienhistorische und mediengestalterische Fragen nach dem intermedialen Potenzial des Kinos, etwa diejenige, inwie­ fern der Film bzw. das Kino in den anderen Künsten als mediale Herausfor­ derung erfahren wird? Die Kunst der Avantgarden ist in diesem Kontexten vermehrt auf ihre Tendenzen zur Entgrenzung im Sinne einer Aufhebung und Selbstüberschrei­

1 

Siehe dazu u. a. etwa Volker Wehdeking (Hg.): Medienkonstellationen. Literatur und Film im Kontext von Moderne und Postmoderne. Marburg: Tectum, 2008. 2  Siehe dazu u. a. etwa Sandra Poppe u. Sascha Seiler (Hg.): Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Berlin: Erich Schmidt, 2008.

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tung der einzelnen Künste (auf Nicht-Kunst sowie auf andere Medien) hin untersucht worden – auf Tendenzen also, die für die neo-avantgardistische und zeitgenössische, so genannte ›post-mediale‹ Kunst konstitutiv gewor­ den ist.3 Auch vor diesem Hintergrund möchte der Band den Film als ›tech­ nisch reproduzierbares‹4 Medium, das derartige Entgrenzungstendenzen in den Künsten grundlegend herausgefordert und verstärkt hat, in den Mittel­ punkt stellen. Dabei soll es allerdings nicht allein darum gehen, die von Walter Benjamin beschriebene Veränderung der künstlerischen Produktion und Re­ zeption im Film und durch den Film in Bezug auf die Reproduzierbarkeit der Künste sowie die Mobilisierung der Massen zu untersuchen. Auch das anhal­ tende, über mehrere Epochen andauernde mediale und ästhetische bzw. dis­ kursive Ringen um ›lebendige‹ Kunst, Plastizität und bewegte Bilder, zu dem es auch in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine ganze Rei­ he von Literarisierungen und Poetisierungen gibt, rückt dazu in den Fokus. Für die Literatur besonders relevant erweist sich hier im Übrigen die medi­ ale Konkurrenz zwischen ›Zeigen‹ und ›Vorstellen‹, mithin zwischen visuel­ ler Mimesis und Phantasie, sowie die im Grunde theoretisch kaum zu fassen­ de, doch überaus verbreitete poetologische Kategorie der ›Anschaulichkeit‹.5 Obwohl Film und Kino mehrere Jahrzehnte gebraucht haben, um sich als Kunstform bzw. als Kunst-Institution durchzusetzen und zu etablieren, d.h. im Kanon der Künste als gleichwertig anerkannt zu werden,6 hat der Film mit seinen neuen medialen und darstellerischen Möglichkeiten bereits früh auf Kunst und Literatur gewirkt. Hierbei spielt der im Zeichen der Medienkon­ kurrenz stehende Impuls der ästhetischen und ideologischen Abgrenzung eine ebenso große Rolle wie der Versuch, filmische Verfahren auf die Kunst und/oder die Literatur zu übertragen.7 Solche ästhetischen Transfers gesche­ 3 

Siehe dazu u. a. etwa Henk Oosterling, Henk (2003): »Sens(a)ble Intermediality and Interesse. Towards an Ontology of the In-Between«. In: Intermedialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques. »Naître« (no. 1/ 2003), S. 29–46. 4  Siehe dazu Walter Benjamins Aufsatz: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen ­Reproduzierbarkeit von 1936 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1963). 5  Siehe dazu die Geschichte des Begriffs von Aristoteles bis hin zu den phänomeno­ logischen Ansätzen bei Franz Brentano und Edmund Husserl. Vgl. auch Gyburg Radke-­ Uhlmann u. Arbogast Schmitt (Hg.): Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte. Berlin u. Boston: De Gruyter, 2011. 6  Vgl. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Mit einem Nachwort v. Karl Prümm u. zeitge­ nössischen Rezensionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002. 7  Siehe dazu u. a. etwa Roger Lüdeke u. Erika Greber (Hg.): Intermedium Literatur. ­Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft. Göttingen: Wallstein, 2004.

VORWORT

hen sowohl als medieninterne Analogie bzw. Metapher (etwa in einem ›filmi­ schen Erzählen‹,8 bei dem zwar filmanaloge Techniken zur Anwendung kom­ men, ein konventioneller Erzählrahmen aber beibehalten wird), wie auch als direkte Übernahme bestimmter technischer Prinzipien, z. B. in der seriellen Malerei der Moderne oder den diversen narrativen und bildnerischen Ver­ fahren der Montage.9 Im Fokus des Bandes stehen solche intermedialen Schnittstellen zwischen Kunst und Film auf der einen sowie zwischen Literatur und Film auf der ande­ ren Seite. Dabei liegt das Ziel einerseits in der Erkundung des intermedialen und kulturgeschichtlichen Feldes, das solche Begegnungen, Überschneidun­ gen und Verschiebungen überhaupt erst ermöglicht. Das heißt, gefragt wird, unter welchen kulturellen, sozial- und technikgeschichtlichen Prämissen der Film für die anderen Künste zum Modell wird. Zum anderen zielt der Band auf die Erkenntnis grundlegender und übertragbarer Mechanismen ästheti­ scher, technischer und kulturhistorischer Natur, die diese intermedialen Pro­ zesse der ›Aneignung‹ charakterisieren, strukturieren und steuern. Hier geht es also darum, den für die Kunst der Moderne konstitutiven Prozess einer zu­ nehmenden ›Vernetzung‹ der Künste untereinander sowie auch die permanen­ te Um- und Neudefinition zwischen Hoch- und Populärkunst bzw. Kunst und Nicht-Kunst anhand konkreter Fallstudien weiter zu erforschen und damit an ähnlich gelagerte Projekte der letzten Jahre anzuknüpfen,10 hier allerdings mit einem spezifischen Fokus auf bestimmte Schnittstellen. Wesentlich für die­ se Fragestellung ist daher der konkrete Vergleich zwischen den intermedialen Paaren ›Film/Kunst‹ bzw. ›Film/Literatur‹ sowie der interdisziplinäre Dialog zwischen Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft sowie Film- und Medien­ wissenschaft respektive Mediendesign über ihre jeweiligen Erkenntnisse und Erfahrungen mit intermedialen Fragestellungen aus dem Gebiet des Films. Um einen Sprach- und Kulturgrenzen überschreitenden Einblick in diese Thematik zu erhalten, soll schließlich dieser Dialog erweitert und daher so­ wohl deutsch- als auch französischsprachige Beiträge versammelt werden – ein Umstand, der auch dem bilingualen Umfeld dieser Publikation geschul­

8 

Siehe dazu u. a. etwa Stephan Brössel: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin u. Boston: de Gruyter, 2014. 9  Siehe dazu u. a. etwa Daniel Winkler, Martina Stemberger u. Ingo Pohn-Lauggas (Hg.): Serialität und Moderne. Feuilleton, Stummfilm, Avantgarde. Bielefeld: transcript, 2018. 10  Siehe dazu u. a. etwa Ruth Reiche et al. (Hg.): Transformationen in den Künsten. Grenzen und Entgrenzung in bildender Kunst, Film, Theater, Musik. Bielefeld: transcript, 2011.

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SABINE HAUPT • OLIVER RUF

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det ist: Die meisten Beiträge basieren denn auch auf Vorträgen, die auf einer zweisprachigen (deutsch-französischen) Tagung gehalten und diskutiert wur­ den, die am 06. und 07. Oktober 2016 an der Universität Fribourg (CH) statt­ fand und die gemeinsam mit den KunsthistorikerInnen Julia Gelshorn und ­Victor Stoichita organisiert wurde. Beiden gilt hierfür unser aufrichtiger Dank. Gleichermaßen danken wir dem Rektorat und dem Forschungsfonds der Uni­ versität Fribourg sowie dem ›Fonds d’action facultaire (FAF)‹ der Philosophi­ schen Fakultät der Universität Fribourg, die durch eine entsprechende För­ derung die Drucklegung des Bandes ermöglicht haben. Unser Tagungsband soll kunsttheoretische und intermediale Perspektiven sowie konkrete künstlerische oder literarische Verfahren diskutieren, die auf die Beschäftigung mit Kino und Film zurückgehen, wobei die Reflexion be­ stimmter kulturhistorischer und technikgeschichtlicher Entwicklungen und Konstellationen im Vordergrund steht. Zum einen geht es also um die inter­ disziplinäre Beleuchtung einer bisher nur in Ansätzen erforschten Schnitt­ stelle zwischen Filmwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunstgeschich­ te, zum anderen um den Dialog unterschiedlicher Kulturen und Sprachen. Der Film als sowohl bildlich-räumliche wie auch als narrativ-zeitliche Kunst initiiert dabei – so die übergeordnete These – im Zeitalter von (Post-)Moder­ ne und technischer Reproduzierbarkeit von Kunstwerken kategoriale Schwel­ len-Überschreitungen,11 die von den ›älteren‹ Künsten sowohl reflektiert wie auch integriert werden und zu bemerkenswerten medialen Neuorientierun­ gen führen.

Fribourg (CH) und Furtwangen im Schwarzwald, im Sommer 2018 Sabine Haupt und Oliver Ruf

11 

Siehe dazu u. a. auch Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986.

Fabian Lampart

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts 1 Konstellationen Bezüge auf Kino und Film in lyrischen Texten sind vielfältig. In The Faber Book of Movie Verse werden lyrische Thematisierungen ganz verschiedenarti­ ger Schwerpunkte der Filmgeschichte vorgeführt: der Stummfilm, Hollywood, das Star-System oder die Position »Behind the Camera« sind ebenso Katego­ rien wie Kinos und das Kinogehen als Institutionen. Auf der anderen Seite werden auch »Films and Genres« und »Movies as Metaphor« angeführt.1 Es finden sich also sowohl Thematisierungen von Elementen des Kinos oder der Filmindustrie als auch formale Annäherungen von Film und Lyrik. Gibt es in diesen sehr verschiedenartigen Feldern der intermedialen Beziehungen zwi­ schen Lyrik und Film etwas, das man als übergreifende gemeinsame Charak­ teristik bezeichnen kann? In der Lyrik verdichten sich in konzentrierter Weise klanglich-lautliche und rhythmische Qualitäten der Sprache. Sie ist, um die aktuelle Definition von Rüdiger Zymner einzuführen, »diejenige Gattung, die Sprache als Medi­ um [...] demonstriert bzw. demonstrativ sichtbar macht, die mithin den Ei­ gensinn von Sprache vorzeigt, […] deren generisches Charakteristikum dar­ in besteht, ein Display sprachlicher Medialität zu sein«.2 Sowohl narrative als auch dramatische Texte haben demnach mehr Gemeinsamkeiten und Berüh­

1 

Philip French, Ken Wlaschin (Hg.): The Faber Book of Movie Verse. London u. Boston: Faber and Faber, 1994. 2  Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn: Mentis, 2009, S. 96–97.

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rungspunkte mit dem Film: Die Präsentation einer Erzählung sowie die Art und Weise ihrer szenisch-dramatischen Darbietung scheinen sie eher als die Lyrik zum produktiven Austausch mit dem Film zu prädestinieren. In Film­ geschichte und Filmtheorie wurde diese Nähe zum narrativem und – weni­ ger – zum dramatischem Modus schon früh reflektiert.3 In der Konfronta­tion von Lyrik und Film hingegen treffen zwei mediale Systeme aufeinander, die zunächst von Differenzen gekennzeichnet sind. Gibt es aber auch verdeck­ te Affinitäten? Eine dieser Schnittstellen könnte darin liegen, dass Filme nicht aus­ schließlich Geschichten erzählen, sondern natürlich auch eine visuelle Dimen­ sion haben, die sogar oftmals signifikanter ist als die dialogisch dominierte Er­ zählung. Bildlichkeit und Visualität gehören zu den zentralen Eigenschaften der Lyrik – wobei Bilder in der Lyrik natürlich nicht mittels eines technischen Mediums gezeigt, sondern mit der Hilfe von sprachlichen Zeichen simuliert werden. Bildliches Sprechen, das Spiel mit Ähnlichkeiten, Analogien und Dif­ ferenzen zwischen sprachlich evozierten Bildern oder Bildkomplexen hat in der Lyrik einen besonderen Stellenwert. Mit Blick auf das Verhältnis von Lyrik und Film kann man festhalten, dass sich sowohl mediale Differenzen, die bis zur Medienkonkurrenz gehen, ausmachen lassen, wie auch Berührungspunk­ te, die in den mit je eigenen medialen Mitteln erzeugten Effekten bestehen.4 Die folgenden Überlegungen sind im Feld der intermedialen Beziehun­ gen angesiedelt.5 Es geht also darum, Bezügen auf das Medium Film in der Lyrik nachzugehen, die mit den spezifischen Mitteln der Lyrik stattfinden.

3 

Vgl. James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Dt. Fassung hg. v. Hans-Michael Bock. Überarb. u. erw. Neu­ ausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009, S. 48–56. Zur Privilegierung des narrati­ ven Modus: Joachim Paech: Literatur und Film. 2. Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1997, S. 122–150. 4  Vgl. dazu: Jan Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeit­alter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 13–29 und S. 40–49 sowie Sandra Poppe: »Lyrik und Film«. In: ­Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler, 2016, S. 236–242. 5  Ich orientiere mich an Irina Rajewskys Systematik; vgl. Irina O. Rajewsky: Inter­media­ lität. Tübingen u. Basel: Francke, 2002, S. 16–19. Intermediale Bezüge sind demnach das »Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent.« (S. 19)

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts

Mein Vorschlag ist es, das Verhältnis von Lyrik und Film in der Lyrik des 20. Jahrhunderts in zumindest drei dominanten Konstellationen zu fassen, die ich versuchsweise mit folgenden Begriffen benenne: • • •

Medienkonkurrenzen Konsolidierung medialer Differenzen Produktive Bezüge zwischen den Medien

Auch wenn diese Konstellationen sich überschneiden und wahrscheinlich nicht historischen Phasen entsprechen, scheint es mir plausibel, dass sie in bestimmten historischen Kontexten, deren zeitliche Ränder unscharf sind, dominant auftreten.6 Für die Zeit, in der die Hochphase der modernen Ly­ rik auf das neue Medium Film trifft – also etwa von um 1900 bis nach 1930 – gehe ich von einer dominanten Konstellation der Medienkonkurrenz aus, die in den lyrischen Texten entsprechend reflektiert wird. Dagegen sind nach der (avantgardistischen) Moderne – eine Phase, die etwa Mitte der 1930er Jahren, in der deutschsprachigen Literatur in den Jah­ ren nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzt – Versuche prägend, Poetiken der Moderne variierend fortzuführen oder neu auszurichten. Bei deutschsprachi­ gen Lyrikerinnen und Lyrikern scheint in dieser Zeit das Interesse am Film eher gering. Die Medien nähern sich im Bereich der Nachkriegsmoderne erst wieder sukzessive an – dominant ist zunächst ein Nebeneinander und eine damit verbundene Konsolidierung der Differenzen; es gibt Bezüge, aber ins­ gesamt ist man gerade in der deutschsprachigen Lyrik der Nachkriegsmo­ derne (bis etwa 1960) in besonderer Weise mit dem Problem der Sprache beschäftigt.7 Die dritte Konstellation, die der produktiven Bezüge, ist nach meiner Ein­ schätzung seit den 1960er Jahren (und vermutlich bis heute) dominant. Seit­ dem sind vielfältige produktive Wechselwirkungen zwischen Film und Lyrik zu beobachten – die ich an einem prominenten italienischen Fall wenigstens skizzenhaft untersuchen möchte. Diese Konstellationen sind natürlich an Einzelfällen zu untersuchen und zu differenzieren, was in der Forschung auch schon in vielerlei Hinsicht ge­

6 

Meine Vorschläge für Periodisierungen orientieren sich locker an den im Handbuch Lyrik vorgeschlagenen und dort auch in all ihrer Relativität diskutierten ­Markierungen und Zäsuren. Vgl. Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler, 2016, S. 439–482, bes. S. 439 sowie S. 458–459. 7 Röhnert: Springende Gedanken, S. 137–140.

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schehen ist. Ausdrücklich zu nennen ist die grundlegende Studie von Jan Röh­ nert,8 in deren Fahrwasser ich mich meist bewege. Konsens dürfte darüber bestehen, dass in allen drei benannten Konstellationen die Differenzen zwi­ schen Film und Literatur auf verschiedene Weise diagnostiziert, affirmiert oder produktiv gemacht werden.

2 Vorüberlegungen Mit Blick auf intermediale Beziehungen im Bereich Lyrik und Film ist die Fra­ ge grundlegend, inwieweit Verfahrensweisen verschiedener Medien über of­ fenkundige Analogiebeziehungen beschrieben und analytisch gefasst werden können. Röhnerts ausführlich begründeter Prämisse, dass »aufgrund der Un­ vereinbarkeit beider Medien […] immer nur von filmanalogen Verfahrenswei­ sen und filmäquivalenten Effekten in Gedichten die Rede sein kann«,9 schließe ich mich an. Eines der wichtigsten Konzepte, das in verschiedenen medialen Zusammenhängen gebräuchlich ist, ist die Montage. Gerade aufgrund ihrer medialen Unbestimmtheit bietet sie sich für die Erfassung von analogisie­ renden Verfahrensweisen an. In all ihren Verwendungen scheint der Monta­ ge das Kombinieren und Zusammenfügen von ursprünglich oft ohnehin me­ dial differenten Elementen, Segmenten und Sequenzen gemeinsam zu sein.10 In der Filmtheorie wurde die Montage früh zum wichtigsten Prinzip erhoben – wobei bereits hier ganz unterschiedliche Verwendungsweisen erkennbar sind: Griffith’ Parallelmontage bezieht sich auf die Kombination verschiede­ ner Handlungsstränge, wogegen Eisensteins oder Pudowkins Montagebegriff viel stärker auf die Fragmentierung einzelner Bilder abzielt, was dann eine unkonventionelle Neukombination erlaubt.11 Das Verständnis von Montage

8 Ebd. 9  Ebd., S. 63. 10 

Vgl. Georg Jäger: »Montage«. In: Harald Fricke u. a. (Hg.): Reallexikon der ­deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin, New York, de Gruyter, 2000, S. 631–633; Eckart Voigts-Virchow: »Montage/Collage«. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. 4. Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 2008, S. 514–515. 11 Paech: Literatur und Film, S. 45–63; Monaco: Film verstehen, S. 232–242. Für die Mon­ tagetheorie Eisensteins und Pudowkins beziehe ich mich auf Sergei M. Eisenstein: »Mon­ tage der Attraktionen« und Wsewolod I. Pudowkin: »Über die Montage«; beide Aufsätze

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts

als avantgardistisches Verfahren auch jenseits der Filmkunst hat wohl auch in diesen Überlegungen einen Ursprung. Der Montagebegriff berührt sich mit einem zweiten, für die Erfassung von Analogien zwischen Lyrik und Film wichtigen Konzept, dem des Bildes, das mit sprachlichen Mitteln erzeugt wird und in den Poetiken der moder­ nen Lyrik immer wieder als überraschende Metapher konzeptualisiert wird. Am prominentesten geschieht das vielleicht bei Mandelstam, der in seinem Gespräch über Dante die Metapher als Teilaspekt der Komposition, die Leucht­ kraft seiner Vergleiche als eine bildliche Vorwegnahme der Erkenntnisfähig­ keit der modernen Naturwissenschaften versteht.12 Röhnert weist darauf hin, dass die bei Mandelstam so deutlich benannte Bewegung von Dantes Meta­ phern ein weiterer Berührungspunkt zwischen Lyrik und Film sein könnte.13 Montage und Bild sind Konzepte, mit denen vergleichbare Dimensionen und Schnittflächen zwischen den verschiedenen Medien zumindest einge­ grenzt werden können. Die folgenden Skizzen orientieren sich zudem an Röhnerts Typologie in­ termedialer Bezüge zwischen Film und Lyrik. Röhnert unterscheidet zwi­ schen »Kinogedicht«, »filmischem Gedicht« und »Film-Gedicht«. Unter »Ki­ nogedicht« versteht Röhnert »lyrische Texte [...], die sich thematisch explizit mit dem Kino und dessen Inhalten auseinandersetzen, ohne das Medium Film dabei formal und strukturell in ihren Diskurs einzubeziehen.«14 Es han­ delt sich um Texte, in denen Inhalte, Bilder oder Diskurse, die mit dem Kino oder einem bestimmten Film in Verbindung stehen, mit den Mitteln der Ly­ rik – Sprache, Klang, Rhythmus – thematisiert werden, ohne dass damit ir­ gendeine formale Qualität kinematographischer Ästhetik in die Sprache des Gedichts übersetzt würde. Das »filmische Gedicht« hingegen leistet nach Röhnert genau diese Über­ tragung: es weise »in Struktur, Ausdrucksweise und poetischem Duktus deut­ liche Äquivalenzen zum Medium Film auf[...] – auch wenn das Kino und des­ sen Inhalte dabei thematisch keine Rolle spielen und nicht eigens darauf Bezug

in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. 4. Aufl. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 58–69 (Eisenstein) und S. 74–96 (Pudowkin). 12  Osip Mandelstam: »Gespräch über Dante«. In: Ders.: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II. 1925–1935. 2. Aufl. Übers. aus dem Russischen und hg. von Ralph Dutli. Frank­ furt a. M.: S. Fischer 2004, S. 113–175; hier bes. S. 120 und S. 135. 13 Röhnert: Springende Gedanken, S. 77. 14  Ebd., S. 61.

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genommen wird.«15 Im »Filmgedicht« schließlich »konvergiert die Struktur fil­ mischer Gedichte mit den Inhalten der Kino-Gedichte. Das heißt, auf der the­ matischen Ebene verarbeiten Film-Gedichte Inhalte des Films, während sie gleichzeitig durch ihre Form und Schreibweise metaphorisch an Techniken und Verfahren des Mediums anzuknüpfen versuchen.«16 Auf dieser Grundlage möchte ich nun einen kleinen und sehr vorläufigen Rundgang durch die Beziehungsgeschichte von Lyrik und Film beginnen, der, wie gesagt, in erster Linie das Ziel verfolgt, die drei genannten Konstellatio­ nen – Medienkonkurrenzen, Konsolidierung medialer Differenzen und pro­ duktive Bezüge zwischen den Medien – zu illustrieren.

3 Medienkonkurrenzen Die Nähe zwischen der Disparatheit der Großstadterfahrung und filmischer Wahrnehmung wurde oft diskutiert.17 Mit Blick auf die Thematisierung der Großstadt in der Literatur kann man festhalten, dass hier filmische Verfah­ rensweisen der Montage verschiedenster und widersprüchlicher Wahrneh­ mungen und Bilder anhand der Darstellung von Bewegung ansatzweise vor­ weggenommen wurden. Umgekehrt greift auch die Reflexion von filmischen Wahrnehmungen in der Lyrik, die in den ersten Jahrzehnten der Kinogeschichte entsteht, auf den Topos der Großstadt zurück, die nicht zuletzt durch die Verfügbarkeit moder­ ner Medien charakterisiert ist. Ein Beispiel dafür ist Jakob van Hoddis Ge­ dicht »Kinematograph«. Es ist (in beiden Fassungen) der vorletzte Text des kleinen Zyklus Varieté.18 Die Kino-Erfahrung wird in eine Reihe gestellt mit Darbietungen menschlicher Darsteller – wie der des Athleten, der Tänzerin oder des lebenden Bildes. Das letzte Gedicht des Zyklus, »Draußen«, greift die Erfahrung nach dem Verlassen des Varietés auf.

15 

Ebd., S. 62. Ebd., S. 68. 17 Paech: Literatur und Film, S. 124–126. 18  Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hg. von Regina Nörtemann. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 10–15 und S. 16–20 (Sturm-Fassung). 16 

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts Schluß: Kinematograph Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma, Ein lautlos tobendes Familiendrama Mit Lebemännern dann und Maskenbällen. Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege, Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf. Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf Die Älplerin auf mächtig steilem Wege. Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder, Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe Beleben Kühe und Kartoffelfelder. Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht – Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluß nach Licht – Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.19

Das Gedicht ist gut geeignet, die mediale Konkurrenz von Film und Lyrik zu illustrieren, weil hier nicht nur die »moderne, disparate Lebenswirklichkeit« eingefangen ist, sondern auch das »Kino-Erlebnis« mit einer »expressionis­ tisch-modernen Ästhetik« enggeführt wird.20 In den ersten drei Strophen wird eine logisch unzusammenhängende Stummfilmvorführung thematisiert – im Schnelldurchlauf wird Indien neben den Alpen, ein Revolverfilm neben den Landschaftsszenerien aus einem Bergfilm vorgeführt. Der Text bedient sich bekannter expressionistischer Verfahrensweisen. Der Reihungsstil wird ein­ gesetzt, um einzelne Bilder und Bildsequenzen zu verfremden. Dies geschieht hier freilich, indem die ästhetische Verfahrensweise der Reihung des nicht kausal Zusammengehörigen gleichzeitig als ein mimetisch-realistisches Abbild des Kinoerlebnisses präsentiert wird. Was in der frühen expressionistischen Lyrik, etwa in van Hoddis’ »Weltende«, ein sarkastisch-witziger Effekt ist, das wird in der Schlussstrophe von »Kinematograph« als Resultat oberflächlicher Vergnügungen beklagt. Erfahrungen der Entfremdung vom Menschlichen, die etwa in Gottfried Benns Morgue-Gedichten reflektiert werden, werden in

19  20 

Van Hoddis: Dichtungen und Briefe, S. 14 (Sturm-Fassung: S. 19–20). Alle Zitate: Röhnert: Springende Gedanken, S. 126.

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»Kinematograph« als eine durch die Vorführungsweise des neuen Mediums Kino generierte Entfremdung vorgeführt, als Folge eines kritisch betrachte­ ten Vergnügungsbetriebs. Genau hier liegt das Element der medialen Konkurrenz: Die Verfahren des Mediums Kino werden nicht nur thematisiert und beschrieben, vielmehr dient ihre Imitation im Medium des Gedichts der kritischen Reflexion eben­ dieser Verfahren. Das wird auch durch Integration der Zuschauerstimmen unterstrichen, die sich nach der Vorführung »geil und gähnend«, also stimu­ liert und zugleich ermüdet von der kinematographischen Reizüberflutung, ins Freie schieben. Die Präsentation dieser Reflexion des Filmischen in tra­ ditionell jambischen Strophen mit vier Versen verstärkt diesen Eindruck der konkurrierenden Engführung der beiden Medien: Verfahrensweisen des Ki­ nos werden sprachlich imitiert, dadurch aber auch in ihrer Problematik reflek­ tiert. Film und Lyrik sind aufeinander bezogen, aber in der Lyrik wird noch ganz explizit vorgeführt, dass sie die Darbietungsweisen des Kinos nicht nur nachahmt, sondern sie in der Imitation kritisch durchleuchten und damit so­ gar überbieten kann. Fortführen lassen sich diese Beobachtungen an Claire Golls Sammlung Lyrische Films,21 die in Sabine Haupts Beitrag22 ausführlich besprochen wird. Auch bei Claire Goll wird der Kontext des Varietés und des Kurzfilms aufge­ griffen. In Golls Texten, z. B. in »Pathé-Woche«, wird aber nicht nur explizit auf die Vorführsituation Bezug genommen, indem die Inhalte der Filme (die den ganzen Globus umspannen) »in eine[r] Art Parallemontage«23 mit der Zu­ schauersituation synchronisiert werden. Es brennt, es brennt in Chikago, Riesenbrand in New-York: Aus dem 29. Stockwerk des Liberty Tower Springen die Tippmamsells. (Das Publikum hält begeistert den Atem an.) Honolulu: Grüne violette Aeroplane, Luftspiele Ueber der Weltausstellung. Ein tätowierter Neger tanzt Shimmy

21 

Claire Goll: Lyrische Films. Basel u. Leipzig: Rhein-Verlag, 1922. Vgl.: Sabine Haupt: »Vom Kinogedicht zur Filmlyrik. Claire Goll & Co zwischen Kintopp­schelte und ›Illuminations‹«, im vorliegenden Band. 23 Röhnert: Springende Gedanken, S. 130. 22 

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts Von einem Propeller zum andern. (Neben mir träumt eine, Filmstar zu werden. Hinter mir küssen sich zwei, Sehnsucht arbeitet mit 3000 Volt.) Weiter, weiter! Berlin – Potsdamerplatz.
 Potsdamerplatz . . . (Rendez-vous mit dem ersten Geliebten: Immer noch riech ich sein Bouquet, Höre seine Stimme durchs Telefon. Und dann am Anhalter Bahnhof Nach seiner Abfahrt Man weint im Waschraum – Erster Strauß und erster Geliebter welken nie.) […] Ohio: Ein Neger wird gelyncht! Berlin: Ein Dichter wird gelyncht! Abenteurerfilm In 10 Episoden: 1. Die verpfändete Leiche. Fünf Minuten Pause mit Selters und Zuckerstangen. […] Im Kino In fünf Kontinenten zugleich Ist meine Heimat.24

Goll arbeitet neben der mimetischen Abbildung auch an einer formalen Re­ flexion der Kino-Erfahrung. Kino-Wahrnehmungen werden, wie Sandra Rich­ ter feststellt, in einer frühen Version der écriture automatique »simultan und ungefiltert« aufgeschrieben.25 Erreicht wird damit nicht nur eine Reflexion filmischer Inhalte, sondern auch die Transposition filmischer Darstellungs­ mittel in das Medium der Lyrik. Goll setzt dem Film ein Konzept entgegen, das die ästhetischen Qualitäten des frühen Stummfilms – die schnelle Kom­ bination und Abfolge von Bildern – adaptiert und durch eine besondere Va­ riante filmischen Schreibens in der Lyrik zu überbieten sucht. Sandra Rich­ 24 Goll: Lyrische Films, S. 10–13. 25 

Sandra Richter: »Lyrik im Ausgang der Stummfilmzeit. Claire Golls ›Lyrische Films‹.« In: Wolf Gerhard Schmidt u. Thorsten Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin u. New York: de Gruyter, 2009, S. 67–86, hier S. 77.

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ter spricht in diesem Zusammenhang von »monomedialer Intermedialität«,26 also einer speziellen Variante intermedialer Bezüge.27 Der lyrische Text adap­ tiert Verfahrensweisen des Films, um diesen zu reflektieren und seinem eige­ nen Repertoire zu assimilieren. Solche Medienkonkurrenzen scheinen mir für die erste Phase der Ausein­ andersetzung des Kinos mit der Lyrik charakteristisch. Verfolgt man die Theo­ riegeschichte des Films, dann sind auch die Diskussionen in den ersten Jahr­ zehnten – also seit 1895 – von Vergleichen mit anderen Medien und Künsten geprägt – meist mit der Literatur, aber auch mit dem bereits existierenden Bildmedium der Fotografie.28 Die Intentionen solcher Vergleiche sind ver­ schieden gelagert: Zum einen kann es darum gehen, den Film ästhetisch aufoder abzuwerten, zum anderen um eine Erweiterung der ästhetischen Spiel­ räume des Films – oder der anderen besprochenen Medien. Sehr deutlich ist dies bei Hugo Münsterberg, einem der frühen Theoreti­ ker des Films. Er vergleicht den Film sowohl mit dem Theater als auch mit der Literatur. Dabei argumentiert er im Sinne der Medienkonkurrenz, um die Ei­ genschaften des Stummfilms zu konkretisieren. Münsterberg, der in Amerika lehrte, lieferte in seiner 1916 erschienenen Studie A Photoplay, die erst seit den 1960er Jahren wieder eingehend rezipiert wurde und heute unter dem deut­ schen Titel Das Lichtspiel vorliegt,29 eine der ersten geschlossenen Filmtheo­ rien. Sein zentrales Argument ist anti-mimetisch: »Das Lichtspiel erzählt uns die Geschichte vom Menschen, indem es die Formen der Außenwelt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität überwindet und das Geschehen den Formen der Innenwelt, nämlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie und Emotion an­ passt.«30 Ein literarisches Vorbild für solche Abweichungen zwischen Außen­ welt und Innenwelt findet er interessanterweise in der Lyrik. Sie liefert nach

26 

Richter: »Lyrik im Ausgang der Stummfilmzeit«, S. 84.

27 Rajewsky: Intermedialität, S. 19. 28 

Vgl. Franz-Josef Albersmeier: »Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Texte zur Theorie des Films, S. 3–29, bes. 8–9 und Helmut H. Diederichs: »Zur Entwicklung der formästheti­ schen Theorie des Films.« In: Ders.: (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische ­Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 9–27, hier S. 15. 29  Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino: Hg. u. übers. v. Jörg Schweinitz. Wien: Synema 1996; hier zitiert nach Hugo Münsterberg: »Die Mittel des Lichtspiels (1916)«. In: Diederichs: Geschichte der Filmtheorie, S. 301–311. 30  Münsterberg: »Mittel des Lichtspiels«, S. 302.

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Münsterberg durch ihre stilisierte und rhythmisierte Sprache das Instrumen­ tarium dieser Abweichungsästhetik. In den 1920er Jahren argumentierten Walter Benjamin und vor allem Sieg­ fried Kracauer ähnlich, allerdings mit Verweis auf die Fotografie – die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine kontinuierliche ästhetische Herausforderung für Sprachmedien darstellte, was schon an den langen Debatten der Realisten abzulesen ist.31 In der Fotografie sah man bereits viele Qualitäten des Films angelegt – besonders das, was Kracauer die »formgebende Tendenz«32 nennt, also das Vermögen, einen bestimmten Ausschnitt aus der Realität bis zu ei­ nem gewissen Grad ästhetisch zu gestalten. Kracauer geht in seiner Theorie des Films davon aus, dass die »Grundeigen­ schaften [des Films] mit denen der Fotografie identisch« sind.33 Denn sowohl Filme, die der »realistische[n] Tendenz«, als auch solche, die der »formgeben­ de[n] Tendenz« zuzuordnen sind – für Kracauer waren die ersten Vertreter der beiden Richtungen Lumière und Méliès – können »vertraute Anblicke in ungewohnte Formen« verwandeln und »Bilder oder Bildkompositionen ent­ wickeln, die von der herkömmlichen Vorstellung dieser Realität abweichen«.34 Es ist die Dekontextualisierung des Gewohnten, das zugleich in einen neuen Zusammenhang gestellt wird und so neue Beziehungen zwischen den Reali­ tätsbestandteilen entwirft, die Kino und Lyrik gerade in der Phase der avant­ gardistischen Moderne miteinander verbinden könnte.35 Allerdings bleibt zu konstatieren, dass lyrische Texte im Zeichen der Medienkonkurrenz diese Verfahrensweisen einsetzen, um die Qualitäten des Films mit sprachlich-ly­ rischen Mitteln kritisch zu reflektieren oder zu problematisieren. Trotz aller – in der ästhetischen Theorie durchaus benannten Schnittmengen zwischen den Medien – werden Lyrik und Film eher als konkurrierende Medien verstanden.

31  Vgl. Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Stuttgart: Reclam, 1985, S. 161–183. 32  Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Hg. von Karsten Witte. 8. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 63–64. 33  Ebd., S. 55. 34  Ebd., S. 80. 35  All das hat Jörg Röhnert ausführlich rekonstruiert. Vgl. Röhnert: Springende ­Gedanken, S. 49–59.

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4 Konsolidierung medialer Differenzen 26

Eine Konsolidierung der medialen Konkurrenzen ist in der Phase nach der avantgardistischen Moderne zu beobachten, die etwa Mitte der 1930er Jahre einsetzt, auch wenn sie, was die deutschsprachige Literatur betrifft, häufig mit dem markanten Datum 1945 verbunden wurde. Gerade im deutschsprachigen Bereich ist diese Phase der »Neomoderne«36 oder »Nachkriegsmoderne«37 von langwierigen und schwierigen Wiederannäherungen an die Traditionen der lyrischen Moderne geprägt, ein Prozess, der sich durch die gesamten 1950er Jahre zieht und wesentlich auch die Auseinandersetzung mit den beiden über­ lebenden Repräsentanten der Moderne, Brecht und Benn, einschließt. Obwohl das Kino schon in den 1920er Jahren Teil der populären Kultur ist, scheinen in der deutschsprachigen Lyrik der folgenden Jahrzehnte Bezü­ ge darauf nicht allzu häufig. Das mag nicht allzu sehr überraschen bei den ›na­ turmagischen‹ Lyrikern und ihren Nachfolgern, die für die Lyrik der 1950er Jahre bis zu einem gewissen Grad prägend sind. Trotz aller durchaus selbst­ kritischen Infragestellung der eigenen Naturzeichensprache bleiben sie doch tendenziell eher traditionalistischen Lyrikkonzepten verpflichtet, wenn auch verpackt in einem Programm der Antimoderne ohne gänzliche Verweigerung der Moderne.38 Mehr erstaunt die relative Abwesenheit filmischer Bezüge bei Benn und Brecht, die auf je eigene Weise die Traditionen der avantgardisti­ schen Moderne fortführten oder fortzuführen beanspruchten. Obwohl Benn zumindest in seiner frühen Phase einer der expressionisti­ schen Modernisierer unter den deutschsprachigen Lyriker war und sich seit den 1948 erschienen Statischen Gedichten eine Rückkehr zum montagehaften Parlando-Stil seiner expressionistischen Großstadtgedichte beobachten lässt, finden sich bei ihm keine filmischen Reflexionen. Allenfalls lassen sich, wie das Röhnert andeutet, Parallelen zwischen seinem sprachlichen Montage-Be­ griff und filmischen Montagekonzepten feststellen – allerdings ohne dass man von Reflexionen des Films in der Lyrik sprechen könnte.39 Wenn man den äs­ thetizistischen Kern von Benns Lyrikkonzepten in Betracht zieht, in denen

36 

Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik, S. 439. Ebd., S. 460–462. 38  Vgl. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen ­Lyrik 1945–1960. Berlin u. Boston: de Gruyter 2013. 39 Röhnert: Springende Gedanken, S. 131–134. 37 

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ästhetische Autonomie, Multiperspektivismus samt ethisch-politischem Re­ lativismus beherrschende Konzepte sind, ist dieses weitgehende Desinteres­ se gegenüber dem wohl letztlich als zu populär empfundenen Medium Film vielleicht verständlich.40 Brecht hingegen, der in den 1920er Jahren auch ein Avantgardist der Me­ dientheorie war, beschäftigt sich bereits früh mit dem Kino – im fragmenta­ rischen »10. Psalm« spricht er von den »Leinwandbuden«,41 – später finden sich, wie Röhnert resümiert, in der Hauptsache »Kinogedichte aus dem Geist des Marxismus«,42 also Texte mit agitatorischer Ausrichtung, in denen eine Reflexion des Films oder, wie in den Hollywood-Elegien, der Filmindustrie und ihres sozialen und soziopsychologischen Umfelds stattfindet. Eine Ausnah­ me ist der Text »Ein Film des Komikers Chaplin«, in dem eine Slapstickszene ohne jede ideologische Kommentierung nacherzählt wird.43 Ein Film des Komikers Chaplin (1944) In ein Bistro des Boulevard Saint Michel Kam an einem regnerischen Herbstabend ein junger Maler Trank vier, fünf jener grünen Schnäpse und berichtete Den gelangweilten Billardspielern von einem erschütternden Wiedersehn Mit einer einstmaligen Geliebten, einem zarten Wesen Nunmehr Gattin eines wohlhabenden Fleischhauers. »Schnell, meine Herren«, rief er beschwörend, »bitte, die Kreide Die Sie benutzen für Ihre Queues!« Und knieend am Boden Suchte er, zitternder Hand, ihr Bildnis zu zeichnen Sie, die Geliebte entschwundener Tage, verzweifelt Auswischend, was er gezeichnet, von neuen beginnend Wiederum stockend, andere Züge Mischend und murmelnd: »Gestern noch wußt ich sie«. Über ihn stolperten fluchende Gäste, erbost der Wirt Nahm ihn am Kragen und warf ihn hinaus, doch rastlos am Fußsteig Kopfschüttelnd jagte er nach mit der Kreide den Zerfließenden Zügen.44

40 Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 106–118. 41  Bertolt Brecht: Die Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000. S. 16. Vgl. Röhnert: Springende Gedanken, S. 134. 42 Röhnert: Springende Gedanken, S. 135. 43  Ebd., S. 136–137. 44  Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 15: Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940–1956. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei u. Klaus-Detlef Müller. Berlin u. Weimar: Aufbau sowie Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 115.

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Dieses Kinogedicht mag man als Ausweis der Faszination Chaplins für Brecht sehen. Es geht um eine Auseinandersetzung mit dem Kurzfilm The Face on the Bar Room Floor aus dem Jahr 1914,45 vor allem mit dessen entscheidender letzter Sequenz. Der Film wird im Text nachgebildet und nacherzählt – wobei Brecht sich bemüht, mit den Mitteln seiner freien Verse in unregelmäßigen Rhythmen – Versgrenzen und Enjambements – »die Dynamik der Stumm­ filmkomik nachzuzeichnen«46 und schließlich sogar das Verschwimmen der Erinnerung an die verflossene Liebe in der Schlusswendung von den »zerflie­ ßende[n] Zügen« thematisiert. Es scheint hier weniger um eine Konkurrenz der Medien zu gehen, als um ein Nebeneinander: Der Stummfilm wird zum Anlass für ein Gedicht, das diesen so gut und effektiv wie möglich zu imitie­ ren versucht. Mit den Mitteln der Sprache, die dem aufs Szenische und Pan­ tomimische beschränkten Stummfilm nicht zur Verfügung steht, werden die Wirkungen des anderen Mediums nicht nur imitiert, sondern auch ergänzt. Ein weiteres Gedicht, an dem man dieses Nebeneinander von Lyrik und filmischem Medium besonders gut erkennen kann, ist Paul Celans »Play­ time«, das zumindest eine Anspielung auf Jacques Tatis ambitioniertesten Film enthält: Playtime: die Fenster, auch sie, lesen dir alles Geheime heraus aus den Wirbeln und spiegelns ins gallertäugige Drüben, doch auch hier, wo du die Farbe verfehlst, schert ein Mensch aus, entstummt, wo die Zahl dich zu äffen versucht, ballt sich Atem, dir zu, gestärkt hält die Stunde inne bei dir, du sprichst, du stehst, den vergleichnisten Boten aufs härteste über an Stimme an Stoff.47

45 

The Face on the Bar Room Floor. Regie: Charlie Chaplin, USA 1914.

46 Röhnert: Springende Gedanken, S. 137. 47  Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. u. kom­ mentiert v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 334.

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Celan hat diesen Text erkennbar mit Bezug auf Tatis Film Playtime geschrie­ ben.48 Im Film wird Tatis bekannte Figur Monsieur Hulot in eine ultramo­ derne und für ihre Bewohner hochgradig dysfunktionale Großstadt versetzt. Diese besteht fast ausschließlich aus gläsernen Fassaden, Türen, Wänden, in denen sich nur gelegentlich Monumente des alten Paris spiegeln – das in der Glasstadt physisch unerreichbar bleibt. Der Film stellt die Entfremdung des einzelnen in der modernen Stadt in visueller Mehrstimmigkeit auf meist mehreren Bildebenen dar, die in bis ins Details durchkomponierten, beweg­ ten Großbildern enggeführt werden. Gewürdigt wurde diese Ästhetik von Playtime erst nach der Restaurierung vor etwa zehn Jahren. Celan muss zu denjenigen gehört haben, die den Film schon nach seiner Erstaufführung auf­ merksam rezipiert haben – und das offenbar mit einem besonderen Blick für Tatis Hulot, der in dieser technisierten Welt einer gläsern-funktionalistischen Moderne ein Element des Menschlichen, Lebendigen und Unvorhersehbaren darstellt und, wie schon in den früheren Filmen, zuverlässig für Unordnung sorgt. Genau damit wird eine Atmosphäre der Menschlichkeit aufgebaut, die über die mit geometrischer Exaktheit gezogenen Grenzen der funktionalisti­ schen Moderne hinausweist. Betrachtet man das Gedicht mit diesem Vorwissen, dann scheinen Celan in erster Linie solche Motive zu interessieren: Im Mittelpunkt seines Textes steht der einzelne, dessen Inneres nur mittelbar zugänglich ist, und der über das Wort – »entstummt« – und die »Stimme« eine Dimension des Mensch­ lichen eröffnen kann. Besonders der letzte Abschnitt des Gedichts ist be­ herrscht von Chiffren der Begegnung, die einen körperlich konnotierten As­ pekt hat – »ballt sich Atem, dir zu« – und durch die Lebendigkeit der Stimme Distanzen überwindet. Celan zeigt in seinem Gedicht beträchtliche Sensibilität für die visuelle Di­ mension des Films; so zitiert er die in Playtime allgegenwärtigen Fenster. Aber die Art des Zitats zeigt auch, dass er bestenfalls ein Kino-Gedicht schreibt, eine lyrische Variation aus Anlass von Tatis Film, in der er auf einige Aspekte des Films Bezug nimmt, diese dann aber im Medium des Gedichts transformiert. Für Celan ist der Film ein Anspielungsraum, der Chiffren liefert, die dann in seine komplexe und schwer zu rekonstruierende Poetik des Gesprächs und der Begegnung in der Sprache übersetzt werden, wie sie u. a. im Meridian entwi­

48 

Playtime. Regie: Jacques Tati, Frankreich 1967.

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ckelt wird.49 In Tatis Filmästhetik spielen Dialoge und Gespräche eine unter­ geordnete Rolle. Er privilegierte Geräusche und Wortfetzen, wogegen dialo­ gische Partien nur zur Illustration des ohnehin pantomimisch Dargestellten dienen. In Celans »Playtime« zeigt spätestens der Vorgang des Spiegelns ins »gallertäugige Drüben« – also ins Organische, Belebte –, dass der Film nur An­ regung ist. Als Medium ist er für Celan eher sekundär und unterscheidet sich im Status wahrscheinlich nicht von anderen Bezugstexten und Bezugsmedi­ en. Insofern ist gerade Celans »Playtime«-Gedicht ein Beispiel für die Konso­ lidierung medialer Differenzen zwischen Film und Lyrik.

5 Produktive Bezüge zwischen den Medien Nach und neben der Medienkonkurrenz und der Konsolidierung medialer Dif­ ferenz ist auch eine Konstellation der produktiven Bezüge denkbar, die ver­ mutlich bis heute andauert und am ehesten Ausgangspunkt für neue Unter­ suchungen werden könnte. Sicherlich sind die Texte Rolf Dieter Brinkmanns hier zentral, zumindest für die deutschsprachige Literatur. Durch Brinkmanns Integration der Popu­ lärkultur in die Lyrik werden neue Möglichkeiten produktiver Bezüge zwi­ schen den Medien eröffnet. Die Piloten ist nach Röhnert Brinkmanns »eigent­ liches Kinobuch«.50 Man könnte dieser Fährte folgen und von dort aus bis zu aktuellen Beispielen gehen, etwa Marcel Beyers »Rotorblätter« in Graphit, wo eine raffinierte sprachlich-klanglich-bildliche Collage aus Elementen von Fran­ cis Ford Coppolas Apokalypse Now vollzogen wird.51 Stattdessen soll hier zum Schluss ein Beispiel präsentiert werden, das schon in seiner Entstehungskonstellation die Spielräume erkennen lässt, die produktive Bezüge zwischen Lyrik und Film ermöglichen, wenn sich beide Medien aufeinander einlassen: Die Sammlung Filó des italienischen Lyrikers Andrea Zanzotto.52 Filò. Per il Casanova di Fellini – schon der Untertitel lässt erkennen, wo diese produktiven Bezüge liegen. Denn der erste Teil der Samm­

49 Lampart: Nachkriegsmoderne, S. 339–352. 50 Röhnert: Springende Gedanken, S. 325. 51 

Marcel Beyer: Graphit. Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014, S. 148–150. Zitiert nach: Andrea Zanzotto: »Filò«. In: Ders.: Le Poesie e Prose Scelte. Hg. v. Stefano Dal Bianco u. Gian Mario Villalta. Mailand: Arnoldo Mondadori, 1999, S. 461–545.

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lung, das »Recitativo Veneziano«, entstand in der Tat auf Anfrage Fellinis. Nachdem sein Casanova-Film53 auf Englisch abgedreht war, bereitete er die ita­ lienische Synchronisation vor. Für die Eröffnungsszene, in der in einem fikti­ ven öffentlichen Ritual in Venedig der riesige Kopf der Göttin Luna – eine Art Muttergottheit der Lagune – aus der Tiefe des Canal Grande gezogen wird, suchte Fellini einen Text, der den als religiös und volkstümlich intendierten Charakter seines erfundenen Rituals aufgreifen sollte, außerdem Bezüge zur Region Veneto und damit sprachlich zum venezianischen Dialekt. Nicht zu­ letzt deshalb wurde Zanzotto gefragt, der in seiner Lyrik immer wieder mit dem Dialekt experimentiert. Für das Ritual war nach Fellini folgendes erforderlich: »un’accesa forza psichica scandita in formule verbali o mimetiche«; das Erscheinen des Frau­ enkopfes sollte begleitet sein von »orazioni propiziatorie, implorazioni itera­ tive, fonie seducenti, litanie evocatrici e anche irriverenze, sfide, insulti, pro­ vocazioni, sberleffi […].« Es gehe ihm darum, den gesamten Ritus in diesen Zusammenhang einzuhüllen, »in questa specie di ragnatela sonora, sacra e popolare«.54 Das Ergebnis dieser Anfrage ist die erste Szene von Fellinis Casanova. Fil­ misches Bild und Lyrik werden kombiniert, im Film findet die Lyrik zu ihrer performativen Dimension. Zugleich aber schrieb Zanzotto das »Recitativo ita­ liano« als einen lyrischen Text. Lyrik entsteht mit Bezug auf den Film – aber gleichwohl genuin als Lyrik, die allerdings die Dimension des gesprochenen Gebets in ihren Duktus integriert. Beispielhaft sei hier nur die erste Versgrup­ pe angeführt, zunächst im Original, dann in der italienischen Übertragung: rèitiai s’ainatei vebèlei Vera figura, vera natura, slansada in ragi come’n’aurora che tutti quanti ti ne inamora: to fia xé ’l vento, siroco e bora che svegia sgrisoli de vita eterna, signora d’oro che ne governa aàh Venessia aàh Regina aàh Venùsia

53 

Il Casanova di Federico Fellini. Regie: Federico Fellini, Italien 1976.

54 Zanzotto: Filò, S. 466. (»eine brennende psychische Kraft in sprachlichen oder

sprachmimetischen Formeln«; »versöhnenden Gebeten, sich dauernd wiederholendem Flehen, verführerischen Klängen, evozierenden Litaneien und auch von Respektlosig­ keiten, provokativen Aufforderungen, Beleidigungen, Grimassen […]«; »in diese Art von klangvollem, sakral-volkstümlichen Spinnennetz«. Übers. F.L.)

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a rèitia sanatrice tessitrice | Vera figura, vera natura, | slanciata in raggi come un’aurora | che tutti quanti ci innamori: | tuo fiato è il ven­ to, scirocco o bora | che desta brividi di vita eterna, | signora d’oro che ci governa || aàh Venezia    | aàh Regina    | aàh Venùsia55

Bereits an der ersten Versgruppe dieses »Recitativo«, in dem die Anbetung der erfundenen mütterlichen venezianischen Stadtgottheit sprachlich insze­ niert wird, ist die in die Faktur des Gedichts integrierte performative Dimen­ sion des Anrufs erkennbar. Dies ist die eine Variante der produktiven Bezü­ ge zwischen Lyrik und Film, die an Zanzottos Filò untersucht werden könnte.

Aus: Il Casanova di Federico Fellini (1976)

Der Zyklus Filò umfasst aber noch auch noch den eigentlichen Text »Filò«: Ein Langgedicht, das Reflexionen über das Kino und die für Fellini geschriebe­ nen Gedichte enthält. ›Filò‹ ist ein Wort aus dem Dialekt des Veneto, das die Nachtwache der Bauern bezeichnet – aber auch ein unendliches, eher sinn­ freies Vor-sich-hin-Reden. Wie alle Texte in Filò ist auch dieser in Zanzottos an den Dialekt des Veneto angelehnten Mischsprache verfasst. Beispielhaft sei auch hier der Beginn angeführt, zunächst im Original, dann in der italie­ nischen Übertragung: 55  Ebd., S. 470. (»an rèitia die Retterin die Weberin | Wahre Figur, wahre Natur | strahlenschlank wie die Morgenröte | die du uns alle verliebt machst: | dein Atem ist der Wind, Scirocco oder Bora | der Schauer ewigen Lebens erweckt, | Frau aus Gold die uns beherrscht || aàh Venedig    | aàh Königin    | aàh Venedig«. Übers. F.L.)

Filmische Reflexionen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts No dighe gnént del cine – vorìe parlar del cine – al me strassina ’l cine – me fa spavento ’l cine – parché ’l zharvèl al ne inpignis de bòcoi de color velenà squasi senpre, parchè ’l ne sl´zha spes i pra e i bòsch de le nostre àneme debole – là sote e dentro, dó inte ’l bas – co la plastica del só celuloide che gnént l’è bon de inciucar-dó, gnént de paidir. Non dico niente del cinema – | vorrei parlare del cinema – | mi trasci­ na via il cinema – | mi fa spavento il cinema – | perché il cervello ci ri­ empie di bolle e boccioli | di colore avvelenato quasi sempre, | perché spesso ci lorda | i prati e i boschi delle nostre anime deboli | – là sotto e dentro, giù dentro il profondo – | con la plastica della sua celluloide | che niente è capace di inghiottire, né digerire.56

Der Text ist im Gegensatz zu den einem Libretto ähnlichen Gesängen des »Re­ citativo italiano« ein echtes Film-Gedicht. Er enthält lange Reflexionen über das Kino, seine Faszination, aber auch seine negativen Seiten. Auf diese Wei­ se wird der Horizont der produktiven Auseinandersetzung erweitert zu einer Reflexion über das Kino und seine Ästhetik. In der Sammlung Filò, die sowohl Gedichte für einen Film enthält, die ly­ rische Texte sui generis darstellen, aber auch ein veritables Film-Gedicht, ist eine Dimension der produktiven Verschränkung von Medien zu beobachten, in der weder von Konkurrenz noch von unvermitteltem Nebeneinander, son­ dern von verschiedenartigen produktiven Beziehungen die Rede sein kann. Diese Sammlung mag hier stellvertretend die produktive Verschränkung an­ deuten, die die Beziehung von Film und Lyrik bis heute prägt.

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Ebd., S. 512–513. (»Ich sage nichts vom Kino – | ich möchte über das Kino reden – | das Kino reißt mich fort – | mich erschreckt das Kino – | weil es unser Gehirn mit Bla­ sen und Bläschen | von fast immer giftiger Farbe anfüllt, | weil es oft die Wiesen und Wälder | unserer schwachen Seelen befleckt | – da unten und im Innern, unten im In­ nern die Tiefe – | mit dem Plastik seines Zelluloids | das nichts schlucken noch verdau­ en kann.« Übers. F.L.)

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6 Ausblick 34

Wenn, wie hier vorgeschlagen, Medienkonkurrenzen eher in der avantgardis­ tischen Phase der Beziehungsgeschichte zwischen Lyrik und Film vorherr­ schend sind, die Konsolidierung medialer Differenzen hingegen zwischen 1930 und 1960 und produktive Beziehungen seit den 1960er Jahren, dann ist die Annahme naheliegend, dass die konkurrierende Auseinandersetzung ver­ schiedener Medien auch mit deren Konjunkturen verbunden ist. Der Film war als neues Medium in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine He­ rausforderung für manchen Lyriker, während das Verhältnis seitdem in ein mehr oder weniger vermitteltes Nebeneinander und schließlich sogar in viel­ fältige Varianten produktiver Wechselbeziehungen übergeht. Auffällig an der hier skizzenhaft angedeuteten Beziehungsgeschichte von Film und Lyrik ist auch, dass Medienkonkurrenzen offenbar zu einer intensi­ veren Auseinandersetzung mit den spezifisch medialen Mitteln und Darstel­ lungsstrategien des jeweils anderen Mediums führen – und auf diese Weise wiederum zu einer Erweiterung der spezifischen Mittel und Verfahren der Einzelmedien. Die Alternative zur damit verbundenen Ästhetik der Überbie­ tung ist die Konsolidierung dieser medialen Differenzierung. Am Beispiel von Zanzottos Filò wird eine weitere Affinität von Film und Lyrik sichtbar: Lyrische Texte tendieren aufgrund ihrer klanglich-rhythmi­ schen Grundlage zur Aufführung, zur performativen Aktualisierung. Diese performative Dimension ist nun wiederum etwas, was vom Film in beson­ derer Weise ermöglicht und vielleicht geradezu herausgefordert wird. Denkt man an die Rückkehr des Performativen in der Lyrik, die seit den 1980er Jah­ ren zu beobachten ist, dann ist auch in dieser Hinsicht die produktive Zusam­ menarbeit von Fellini und Zanzotto ein Fingerzeig für die aktuellen Beziehun­ gen zwischen Lyrik und Film.

Karin Janker

Vom Stummfilm zur Virtuellen Realität Kinematographische Totalitätsansprüche in Mynonas Graue Magie und Aldous Huxleys Brave New World

Weniger Gesamtkunstwerk als vielmehr »Totalmedium«1 inspirierte das Kino in den ersten Jahrzehnten seiner Geschichte Autoren, sich mit den von ihm ausgehenden ästhetischen und ontologischen Provokationen auseinander­ zusetzen.2 Eine der zentralen Zuschreibungen, die das Kino dabei erfährt, ist jene eines Totalitätsanspruchs im Sinne einer totalen Reproduktion der Re­ alität: Kino könne eines Tages Leben täuschend echt reproduzieren und da­ mit von der Realität ununterscheidbar werden. Retrospektiv scheint diese Prophezeiung vor allem auf André Bazins Essay Le Mythe du Cinéma total zu­ rückzugehen, der dem Medium dieses radikal realistische Telos unterstellt.3 Allerdings ist dieser Text zwar der prominenteste, aber keineswegs der erste, der vom ›Totalen Kino‹ spricht. Bereits 1944, also zwei Jahre vor Bazin, legt

1 

Diesen Begriff beziehe ich aus Karin Peters: Der gespenstische Souverän. Opfer und Autor­schaft im 20. Jahrhundert. München: Fink 2013, S. 306, wobei er in Peters Analyse aber keine zentrale Rolle spielt, da sich diese auf andere Aspekte konzentriert. 2  Dies belegen diverse Anthologien mit Kino-Texten aus dieser Zeit, z. B.: Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte Texte zum Verhältnis von Literatur und Film. München: dtv 1978; Marg­ rit Tröhler / Jörg Schweinitz (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen! Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino. Eine historische Anthologie 1906–1929. Berlin: Alexander 2016. Außerdem beschäftigt sich damit meine im Erscheinen begriffene Dis­ sertation Der Traum vom Totalen Kino. Literarische Visionen der Kinematographie, 2017 ein­ gereicht an der LMU München, aus der dieser Aufsatz thematisch und inhaltlich schöpft. 3  Vgl. André Bazin: »Le Mythe du Cinéma total«. In: Ders.: Qu’est-ce que le Cinéma? Band I: Ontologie et Langage. Paris: Éditions du Cerf 1958, S. 21–26.

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René Barjavel in seiner Schrift Cinéma total dar, dass das Kino nach perfek­ ter Reproduktion der Realität strebe.4 Die Idee einer Vollendung des Realis­ mus im Film ist allerdings noch älter als Ricciotto Canudos L’Usine aux images (1927), wo das Kino zuerst als »représentation totale d’âme et de corps« be­ zeichnet wird;5 die Wurzeln dieses Narrativs liegen in der Literatur. Der fol­ gende Beitrag will auf dieser These aufbauend darlegen, wie literarische Werke das Kino als Totalmedium imaginieren und dadurch zugleich den Realitäts­ eindruck des Kinos problematisieren, der sich als Herausforderung für das ei­ gene Schreiben präsentiert. Exemplarisch wird dies an zwei Kino-Romanen gezeigt, die jeweils eine kritische Reflexion des eigenen, literarischen, sowie des filmischen Poten­zials im Bezug auf die Frage nach totaler Repräsentation anstellen: In Salomo Fried­ laender/Mynonas Graue Magie (1922) und Aldous Huxleys Brave New World (1932) kristallisieren sich die Totalitätsansprüche, die dem Kino zugeschrie­ ben werden, als hellsichtige Reflexionen einer neuen Ästhetik und Aisthetik. Totalität ist hier, wie der französische Philosoph Christian Godin erklärt, eine ästhetisch-ontologische Kategorie, die sich im Realitätseindruck des Rezipien­ ten spiegelt: »L’illusion de réalité [...] est une illusion de totalité. Elle est le pro­ duit d’une synecdoque à la fois sensible et intellective : un fragment du tout vaut pour le tout lui-même.«6 Godins Beobachtung macht indes klar, dass die Zuschreibung eines Totalitätsanspruchs an das Kino als metonymisches Me­ dium stets paradox und durch eine ihm inhärente Differenz geprägt ist. Die Problematisierung dieser Differenz ist zentrales Thema der beiden Romane, die im Folgenden betrachtet werden sollen.

4 

Vgl. René Barjavel: Cinéma total. Essai sur les formes futures du Cinéma. Paris: Éditions Denoël 1944. 5  Godin zufolge war Canudo der erste Autor, der das Kino mit dem Attribut der Totali­ tät in Verbindung brachte, vgl. Christian Godin: La Totalité. Band IV. La totalité réalisée. Les arts et la littérature. Seyssel: Éditions Champ Vallon 1997, S. 520. 6  Ebd., S. 528.

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1 Friedlaender/Mynonas7 Graue Magie – entgrenzter Film In Graue Magie zeigt sich F/M als medientheoretisch versierter Autor, der sich mit literarischen Mitteln dem Konkurrenzmedium Film nähert, dieses aber keineswegs denunziert, sondern seine Möglichkeiten narrativ austestet. Da­ bei scheint in Mynonas literarischer Vision der Kinematographie das Narra­ tiv des Totalen Kinos nicht nur auf, es markiert den Fluchtpunkt des Romans: Dieser mündet in eine literarische Präfiguration eines totalkinematographi­ schen Dioramas, dessen Totalität zudem eine biopolitische Dimension be­ sitzt. In Graue Magie wird deutlich, inwieweit einem politischen Regime das Kino als Propaganda- und Disziplinierungsinstrument dienlich sein kann.8 F/Ms Roman zeigt nicht nur auf, welche revolutionäre Bedeutung dem Film im Bezug auf die menschliche Wahrnehmung zukommt, sondern auch, wie weit die gegenseitige Durchdringung von Film und Leben gehen kann. Dabei lässt sich in Graue Magie die Erfahrung einer Entgrenzung von Realität und Film auf den nur wenige Jahre zurückliegenden Ersten Weltkrieg zurückfüh­ ren, in dem Friedlaender zwar nicht gekämpft hat, der als erster totaler Krieg der Geschichte aber dennoch seinen Roman prägt.9 Graue Magie ist ein »Filmroman, der ausgehend von Science-Fiction-Mo­ tiven auch das Verhältnis von Realität und Illusion reflektiert«.10 Auch Fried­ rich Kittler betont, dass F/M »wie kein zweiter Schriftsteller seiner Zeit aus

7  Diese Schreibweise des Autorennamens mit Schrägstrich zwischen bürgerlichem Na­ men und Pseudonym folgt wie die Abkürzung F/M dem Vorschlag seines Herausgebers Hartmut Geerken. Das Anagramm von »anonym« scheidet den Schriftsteller vom Philo­ sophen, wobei Mynonas Schreiben an Friedlaenders Philosophie durchaus anschlussfähig ist und sich der Dialog zwischen beiden vor allem im Hinblick auf die Reflexion des Medi­ ums Film als fruchtbar erweist. 8  Der Roman erscheint elf Jahre bevor Friedlaender selbst vor den Nationalsozialisten ins französische Exil fliehen muss, wo ihm die Publikation seiner schriftstellerischen und philosophischen Werke so gut wie unmöglich wird, vgl. Lisbeth Exner: Fasching als Logik. Über Salomo Friedlaender/Mynona. München: belleville 1996, S. 397. 9  Bereits Carl Schmitt weist darauf hin, dass sich der Begriff des »totalen Krieges« in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet habe und um 1920 zum beherrschen­ den Schlagwort geworden sei, vgl. Carl Schmitt: »Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat«. In: Ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar, Genf, Versailles. 1923–1939. Berlin: Duncker & Humblot 1988, S. 235–239, hier S. 235. 10 Exner: Fasching als Logik, S. 376.

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Mediengeschichte wieder Geschichten« macht.11 Besonders ersichtlich wird dies anhand der Darstellung der Filmstadt Berlin, in der die Handlung situ­ iert ist und die die Handlung ihrerseits strukturiert. Der Chronotopos Groß­ stadt wird in Graue Magie durch die visuellen und formalästhetischen Mög­ lichkeiten des Films durchquert, unterhöhlt, verkehrt und aus den Angeln gehoben: Hier hat es das Kino auf die Totalerschließung des Raumes ebenso wie auf die totale Affizierung des Betrachters abgesehen. Der Roman beginnt mit einer Orts- und Zeitangabe: »Richard Bosemann ging nach Mitternacht durch den Grunewald.«12 Dieser erste Satz steckt den Rahmen einer zunächst realistischen Handlung ab, die sich auf die Topogra­ phie einer konkreten Stadt, nämlich Berlin, bezieht. Der Realitätseindruck, der dafür sorgt, dass der Text »konkreter auf aktuelles Zeitgeschehen beziehbar« wirkt,13 wird allerdings im weiteren Verlauf des Romans von den filmästhe­ tischen Reflexionen zunehmend zerlegt. Das Kino dekonstruiert den Raum und setzt ihm eine montierte Raumzeit entgegen, die den Orientierungsver­ lust des Zuschauers zur Folge hat und in nächster Konsequenz zum Ineinan­ derlaufen von Immersion und Infiltration und zur Ununterscheidbarkeit von physischer und virtueller Realität führt. Bei seinem Spaziergang durch den nächtlichen Grunewald findet Richard Bosemann eine ohnmächtige Frau, Agnes, die nur mit einer blau-schwarzen Schärpe bekleidet ist. Es handelt sich um die Geliebte des Erfinders Ernest Sucram, der im Dienst des Filmun­ ternehmers Morvitius steht. Soweit das Stammpersonal des Romans; wobei die Zusammenarbeit zwischen dem Erfinder Sucram, einem Anhänger des um 1900 in Philosophenkreisen recht populären Neukantianismus, und dem brutalen Machtmenschen Morvitius im Fokus steht.14 Letzterer geht für sei­ ne Morvitius Film-G.m.b.H. buchstäblich über Leichen. Mit Hilfe der magi­ schen Schärpe, die Agnes in der Eingangsszene um den Leib trägt, kann sich

11  Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 93. 12  Salomo/Maynona Friedlaender: Graue Magie. Ein Berliner Nachschlüsselroman. In: Ders.: Gesammelte Schriften, XIV. Hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel. Herrsching: Waitawhile 2013, S. 65. 13  Olaf Meier: Im Labyrinth der Moderne. Die Auseinandersetzung des Romans der Weimarer Republik mit der problematischen Moderne. Frankfurt a. M.: Verlag neue Wissenschaft 2001, S. 173. 14  Das Anagramm »Sucram« verweist auf Friedlaenders philosophisches Vorbild, den Neukantianer Ernst Marcus, dem der Roman gewidmet ist. Vgl. Detlef Thiel: »Die Hyper­ amerikanisierung Europas«. In: F/M: Graue Magie, S. 9–59, hier S. 12.

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Morvitius nicht nur unsichtbar machen, sondern auch ohne Zeitverlust durch den Raum reisen. Das Textil vollbringt Dinge, die sonst nur filmische Mon­ tage möglich macht: Es lässt Morvitius verschwinden und an einem ande­ ren Ort wieder auftauchen; außerdem dematerialisiert die Schärpe Körper, sodass Überblendungseffekte entstehen. So lässt eine handgreifliche Aus­ einandersetzung Morvitius im Wortsinne zerfetzt zurück, weil die Schärpe, durch den Kampf löchrig geworden, ihn nur noch unvollständig verschwin­ den lässt. Doch nicht nur der Körper, auch die Großstadt, die F/M in Graue Magie entwirft, wird zunehmend vom Kino zersetzt: Morvitius’ Kameraleu­ te bevölkern Berlin und verwandeln Menschen – auch gegen deren Willen – in Filmdarsteller. Sie filmen alles und jeden, so lange bis Schein und Sein tat­ sächlich ununterscheidbar zu werden drohen. Friedlaender, der selbst eifriger Kinogänger war, sah im neuen Medium einen Resonanzraum der modernen Existenzweise: »Der Mensch ist bloß scheinlebendig, eine natürlichere Kinofigur«.15 F/M gelingt es, das Kino für seine Philosophie der Polaritäten, die sich letztlich zugunsten einer höheren Existenzweise auflösen, produktiv zu machen. Norbert Bolz nennt ihn einen Vertreter jener »philosophischen Extremisten« zwischen den beiden Krie­ gen, die es sich zur Aufgabe gemacht hätten, die dissoziierenden Auswirkun­ gen der Moderne zu untersuchen.16 Die Dissoziation dringt durch die Kriegs­ metaphorik in Graue Magie ein, wobei die Zerrüttung der Wahrnehmung mit der Kinoerfahrung verknüpft wird: Krieg und Kino, Politik und Ästhetik wer­ den zu interagierenden Metaphernfeldern. Als panoptisches Medium realisiert das Kino bei F/M »das Phantasma der ›Massenbezwingung‹ durch Massenmedien«.17 Sabine Haupt erkennt in die­ sem Panoptismus eine Fluchtlinie, die Graue Magie mit Villiers’ L’Ève future verbinde; wie sie treffend schreibt, erzählen beide Romane »die kinematogra­ phische Herstellung einer totalen, ja totalitären Wirklichkeitssimulation«.18 Allerdings ist jener »gigantische Umwandlungsprozess«, dem die Natur zum 15  F/M an Alfred Kubin am 12. November 1915, zit. n. Thiel: »Die Hyperamerikanisie­ rung Europas«, S. 40. 16  Vgl. Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München: Fink 1989, S. 10. 17  Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München: Hanser 2007, S. 249. 18  Sabine Haupt: »Schöpfung, Magie, Kunst und Technik: Zur Herstellung menschli­ cher Simulacren in und mittels Literatur«. In: Victor I. Stoichita (Hg.): Das Double. Wies­ baden: Harrassowitz 2006, S. 165–194, S. 175.

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Opfer falle, vor allem in Villiers’ Roman zu beobachten.19 In Graue Magie hin­ gegen ließe sich eher von einer Entgrenzung des Filmischen sprechen. Morvi­ tius’ Vision der totalen Wirklichkeitssimulation realisiert sich in einem Pro­ zess der Diffusion: Das ›Totale Kino‹ dringt in jede Ritze des menschlichen Alltags, bis die Realität nicht mehr als solche zu distinguieren ist. Wenn die Berliner bei den von Morvitius inszenierten »Privatorgien« be­ reits »den Schein von der Wahrheit und Wirklichkeit nicht mehr unterschei­ den« können, dann erreicht diese »Kunst der Vorspiegelung, der Verwand­ lung des Seins in den täuschendsten Schein« ihre Vollendung am Ende des Ro­mans beim Fest der grauen Magie.20 Hier kulminiert Mynonas Roman in einer Präfiguration des ›Totalen Kinos‹, die gleichzeitig den Totalitätsanspruch von Morvitius’ Kino in einen politischen Kontext rückt, der symptomatisch für die Zeit ist, in der Graue Magie verfasst wurde. Beim diesem Fest ist Berlin beflaggt »wie bei einem militärischen Siege«, an allen »Hauptstraßen flattern Fahnen«, was »auf die Ausländer demonstrativ wirken« soll.21 Tatsächlich sind Vertreter aus aller Welt Zeugen, als Sucram sein Werk, ein »atemberaubendes Wunder«, präsentiert: Er hat die Erde kopiert. 22 Am nächtlichen Himmel erscheint eine »Miniaturgegen­erde«, der Erde »wie aus dem Gesicht geschnitten«: Kontinente, Ozeane, Metropolen können die Festbesucher »unschwer herauserkennen«.23 Zwischen dem realen Erdboden und seinem verkleinerten »Spiegelbilde« verlaufen »lange silberne, gezahn­ te Schienenstränge«, auf denen gleitet nun »mit sausender Geschwindigkeit [...] ein goldglänzender Eisenbahnzug aus dem himmlischen Erdstern zum Rondell hernieder«.24 Hier wird deutlich, wie stark F/Ms Idee einer Vernunft­ magie mit der kinematographischen Vorstellungswelt verbunden ist: Wenn auch Sucrams Vernunftmagie den Anspruch erhebt, über Morvitius’ Film­ tricks hinauszugehen, so bleibt doch der Text metaphorisch im Register des Filmischen. In der Miniaturgegenerde und dem Zug, der das Publikum zu ihr bringt, vereinen sich die beiden Gründungsmythen des Kinos: Die Szenerie spielt sowohl auf Lumières Arrivée d’un train an wie auch auf dessen ›Pendant‹

19 

Ebd., S. 176. Zur weiteren Auseinandersetzung mit L’Ève future siehe meine ­Dissertation Der Traum vom Totalen Kino. 20 F/M: Graue Magie, S. 210. 21  Ebd., S. 330. 22  Ebd., S. 332. 23  Ebd., S. 332. 24  Ebd., S. 331f.

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Méliès Le Voyage dans La Lune.25 Damit bringt F/M die phantastisch-magische Tradition des Zaubertrick-Filmemachers Méliès mit der realistisch-dokumen­ tarischen Tradition der Lumières zusammen – und verknüpft so zwei diver­ gierende Stränge der Kinogeschichte. Nach diesem Triumph gleitet der Zug vollbesetzt, »lautlos, wie er gekommen war, [...] wieder aufwärts«.26 Der Pla­ net öffnet sich und empfängt die Rezipienten »gleich einer Blumenknospe«.27 Die künstliche Erde wird zum Immersionsraum, »die Errichtung eines ›tota­ len Medienraums‹« scheint gelungen.28 Morvitius hat es allerdings weniger auf die Perfektionierung der künstle­ rischen Darbietung abgesehen als auf Macht, Politik, »Erdherrschaft«.29 Ob­ wohl Sucram und Morvitius beide als Filmemacher zu betrachten sind, klafft hier der größte Unterschied zwischen ihnen: Sie stehen für zwei Seiten des Mediums, die künstlerisch-visionäre einerseits und die industriell-materiel­ le andererseits. Beide Seiten gehören – hier kommt die »polaristische Strate­ gie«30 in Friedlaenders Denken zum Tragen – zusammen, sie heben sich nicht auf, sondern bringen erst gemeinsam das Potenzial des Kinos hervor. Morviti­ us ist »ein fanatischer Macht- und Geldmensch«, der »die Menschen nach sei­ nem Willen zu lenken«31 versteht. Seine Macht ist die Macht der Inszenierung und des Spektakels. Das Kino ist sein »Kommandomedium«, denn die »Macht über die Massenmedien zielt immer auf totale Formen der Herrschaft«.32 Ein Teil von Morvitius’ Machtstrategie ist es deshalb, überall zugleich zu sein. Nicht nur dank der Tarnkappenfunktion der Schärpe, sondern auch durch sein Filmunternehmen gibt es kaum noch etwas, bei dem er »nicht die Hand im Spiel hätt[e]«.33 Überall in Berlin stehen seine Operateure und kur­ beln. In der Folge will das Filmunternehmen sogar noch die Phantasmen der

25 

Vgl. Tobias Wilke: Medien der Unmittelbarkeit. Dingkonzepte und Wahrnehmungs­ techniken 1918–1939. München: Fink 2010, S. 86. 26  Ebd., S. 334. 27  Ebd., S. 334. 28  Niels Werber: »Medien der Immersion. Mynonas ›Graue Magie‹. Literatur und Medien­theorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. In: Ralph Kray / Kai Luehrs-Kaiser (Hg.): Geschlossene Formen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 47–60, S. 59. 29 F/M: Graue Magie, S. 253. 30  Thiel: »Die Hyperamerikanisierung Europas«, S. 36. 31 F/M: Graue Magie, S.111 und 119. 32 Werber: Die Geopolitik der Literatur, S. 251. 33 F/M: Graue Magie, S. 74.

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Literatur übertrumpfen – ein Hinweis darauf, dass hier Literatur und Film ge­ geneinander in Stellung gebracht werden: 42

Der Wells mit seinem ›Unsichtbaren‹ ist nichts gegen die neue Erfin­ dung Doktor Sucrams, die bestimmt ist, aus dem Film ins Leben zu tre­ ten. Bald wird man Film nicht mehr von Leben unterscheiden können. Wir werden aus Menschen lebendige Filmfiguren machen, die wir nach Belieben töten und beleben.34

Morvitius will das ›Totale Kino‹. Graue Magie zeigt, dass dieses Unterfangen mit einem biopolitischen Totalitarismus einhergeht. »Die gezielte Auflösung der Grenzen zwischen ›here and there, near and far, fact and fiction‹ in der Virtualität immersiver Simulationen, die Bosemann erleben muß«,35 ist der Kern von Morvitius’ Projekt. In dieser Phänomenologie der Entgrenzung äh­ nelt sein Kino dem totalen Krieg, eine Assoziation, die bereits in Graue ­Magie aufscheint und bei Virilio wiederkehrt: »La guerre c’est du cinéma et le cinéma c’est la guerre«.36 Obwohl Friedlaender selbst Pazifist war und nicht im Ersten Weltkrieg kämpfte, hat der erste totale Krieg der Weltgeschichte ihn tief getroffen und sein Schreiben geprägt. Bereits seine 1916 verfasste Groteske Krieg, sagte der Irrsinnige, Krieg ist unmöglich – ist ewig unmöglich denkt kinematographische Wahrnehmung und Kriegserfahrung zusammen. Dort schreibt F/M über den Pazifisten Hastenpiep: »Im übrigen, sollte man meinen, müßte doch der An­ blick eines Schlachtfeldes, ja schon eines gemalten, losgehender Kanonen, Ver­ wundeter und Gefallener von der heilsamsten Wirkung sein«,37 weshalb ein »kinematographischer Projektionsapparat«38 zum Einsatz kommt, um »jedem beliebigen Menschen wenigstens auf Minutendauer den Blick – wie soll ich sagen – einzu ..... massieren, den ich permanent am Leibe habe«.39 Das »Waf­ fensystem Filmkamera« wird hier auf den Menschen angesetzt.40

34 

Ebd., S. 123.

35 Werber: Die Geopolitik der Literatur, S. 252. 36  Paul Virilio: Guerre et Cinéma I. Logistique de la Perception. Paris: Éditions de l’Étoile 1984, S. 35 (Herv. im Orig.). 37  F/M: »Krieg, sagte der Irrsinnige, Krieg ist unmöglich – ist ewig unmöglich« (1916). In: Ders.: Grotesken I. Gesammelte Schriften, VII. Herrsching: Waitawhile 2008, S. 276–288, hier S. 276. 38  Ebd., S. 283. 39  Ebd., S. 284. 40 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 195.

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In Graue Magie macht sich Morvitius diese Wirkung des Kinos zunutze – aber nicht, um Pazifisten zu erziehen, sondern um seinen Krieg mit kine­ matographischen Mitteln gegen die Berliner Bevölkerung zu führen. Es geht ihm dabei nicht um ein ›Einimpfen‹ der Kriegserfahrung, er forciert das Über­ greifen des Krieges auf die Sphäre des täglichen Lebens und damit das ›Tota­ le Kino‹, in Analogie zum totalen Krieg. Krieg und Kino werden in Graue Magie zu Mitteln der Verunsicherung der Bevölkerung und der Durchsetzung von Macht. Wenn Thomas Elsaesser und Malte Hagener Zuversicht und Ver­ trauen in Film und Medien erst ab dem Zweiten Weltkrieg gebrochen sehen, setzen sie diesen Bruch also zu spät an, denn bereits bei F/M zeigt sich die­ ses Vertrauen grundlegend erschüttert.41 In der Art und Weise, wie Morvi­ tius das ›Totale Kino‹ zu realisieren versucht, ähnelt sein Projekt dem, was Ludendorff wenige Jahre später in seinem Propaganda-Pamphlet über den Totalen Krieg schreibt: Wie der Weltkrieg erfasst auch Morvitius’ Filmgesell­ schaft »unmittelbar Leben und Seele jedes einzelnen Mitgliedes der kriegfüh­ renden Völker«.42 So trägt sein Kinoprojekt bereits Züge des Totalitären, das wenige Jahre später politische Realität werden sollte. Wie in Ludendorffs Der totale Krieg ist in Graue Magie das Kino »vollständig entgrenzt« und basiert auf der »versuchte[n] Herstellung totaler Kontrolle«43 mittels Massenmedi­ en und Propa­ganda. Morvitius’ Filmexperimente gehen, je länger sie dauern, auf Kosten der Berliner: Dort ist bald niemand mehr seines »ungekurbelten Daseins sicher«44 – und letzten Endes seines Daseins überhaupt. »Seine Kur­ bler sind allgegenwärtig«,45 wobei die Allgegenwart der Kameras Vorausset­ zung und Symptom der Entgrenzung zugleich ist. Der Krieg, den Morvitius gegen die Bevölkerung führt, hat eine ebensolche »geisterhafte Front«, wie Walter ­Benjamin sie für den totalen Krieg beschreibt.46

41  Vgl. Thomas Elsaesser / Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Juni­ us 2007, S. 40f. 42  Erich Ludendorff: Der totale Krieg. München: Ludendorffs Verlag 1937, S. 5. F/M lässt Ludendorff in Graue Magie verklausuliert als »Leutnant Ludenstadt« auftreten und davon träumen, »die janze Erdkiste in der Hand« zu haben (S. 345). 43  Peter Imbusch: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert. Wiesbaden: VS 2005, S. 526 und 529. 44 F/M: Graue Magie, S. 109. 45  Ebd., S. 154. 46  Walter Benjamin: »Die Waffen von Morgen. Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphenylaminchlorasin und Dichloäthylsulfid«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, IV/1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 473–476, hier S. 473.

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Indem sie die Grenze zur Fiktion streift, bleibt die zerstörerische Kraft des Films allerdings zumindest teilweise ambivalent. So erklärt Morvitius dem Berliner Polizeipräsidenten, dass es für ihn »kinderleicht« wäre, ›[...] solche Verbrechen, während ich nur zu filmen schiene, in der Tat zu begehen. Jener Herr Richard Bosemann zum Beispiel hat wirklich ge­ glaubt, ich ließe jungen Mädchen die Haut abschinden und zu Tapete ver­ arbeiten!!! Jedenfalls kann der Film gar nicht illusionistisch genug sein. Manchmal engagier’ ich Menschen, die sich verpflichten müssen, auf Jah­ re aus Europa zu verschwinden.‹47

Was ist hier Schein, was Realität? Täuscht Morvitius den Polizeipräsidenten oder täuscht er sein Publikum? Klar ist jedenfalls, dass Morvitius’ Filme Ein­ fluss auf die Realität nehmen – egal, ob er Menschen umbringt oder sie nur ins Exil schickt, während umgekehrt seine Filme so realistisch wirken, dass man sie für Realität halten könnte. Morvitius betreibt ein Trickkino, das die Grenzen der Illusion durchsichtig werden lässt. Darin erweist er sich als eine frühe Inkarnation jener Diktatoren des 20. Jahrhunderts, die Virilio später als »dictateurs thamaturges« bezeichnet, wenn er daran erinnert, dass Hit­ ler oder Mussolini »ne gouvernaient déjà plus, mais qu’eux aussi mettaient en scène«.48 Morvitius scheint bei seinem Griff nach der Weltherrschaft zu anti­ zipieren, was Virilio später zitiert: Hitler, qui observe attentivement les foules qui se pressent pour célébrer les messes noires du cinéma, déclare un jour en 1938 : « Les masses ont besoin d’illusion, il leur faut des illusions ailleurs qu’au théâtre et au cinéma, pour ce qui est du sérieux de la vie, elles en ont leur compte ». Le « lebensraum » nazi sera [...] une extension des dimensions de l’écran-cinéma à celles du continent européen [...]. Hitler ne profane que le réalisme quotidien.49

Auch der Filmunternehmer will den Massen Illusionen außerhalb des Kinos und des Theaters bieten – und opfert dafür den alltäglichen Realismus. Er ar­ beitet in zwei Richtungen auf die Unterminierung des Status der Realität hin: Auf der einen Seite erschafft er mit Sucrams Unterstützung ein realistisches 3-D-Tastkino, das von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden ist, auf der anderen wirkt seine magische Schärpe im Wortsinne zerfetzend auf die Realität. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität wird von zwei Seiten her

47 F/M: Graue Magie, S. 322. 48 Virilio: Guerre et Cinéma, S. 98 (Herv. im Orig.). 49 

Ebd., S. 99 (Herv. im Orig).

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angegriffen. Das Kino ist hier nicht nur ein wirkmächtiges Macht- und Pro­ pagandainstrument, sondern erfasst und beeinträchtigt den Alltag der Ber­ liner mit einer ähnlichen Totalität wie der entgrenzte Krieg, der darauf abzielt, »die letzten verbliebenen Unterschiede zwischen Fiktion und Wirklichkeit, also alles das, woran man seit unvordenklichen Zeiten sogenannte Kunst­ werke von sogenannter Empirie unterschied, im Namen des totalen Krie­ ges oder der totalen Simulation einzuebnen«.50 So steht das ›Totale Kino‹ bei Mynona der Realität nicht nur als deren Reproduktion gegenüber; die Dyna­ mik der Infiltration bedroht epistemologisch und existenziell den Status der wirklichen Dinge. Der Roman hinterfragt damit den Realitätsbegriff, der als Gegenbegriff zur technischen Simulation im Zentrum des Narrativs des ›To­ talen Kinos‹ und gleichzeitig unter kritischer Beobachtung durch die Küns­ te der Moderne steht.51 F/M lehnt in der Tradition Kants den Impuls, »[d]ie Grenzen zwischen Film und Realität, Privat und Öffentlich, Tod und Leben zu sprengen« zwar grundsätzlich ab;52 da er seine Literatur ebenso wie seine Philosophie aber als ständiges Spiel mit Differenzen und Verkehrungen betreibt, entwirft er das ›Totale Kino‹, um es am Ende nicht abzuschaffen, sondern schöpferisch zu de­ konstruieren. Graue Magie geht es somit weniger darum, eine Hierarchie zwi­ schen Wort- und Filmkunst zu festigen, vielmehr offenbart der Roman ein Interesse an dem neuen Medium, das weder in einer Denunziation des illu­ sionistischen Totalmediums noch in naive Film-Mimesis mündet. Die Lite­ ratur hält in ihrer Reflexion des Kinos dem imaginierten Film hier selbstbe­ wusst ihre eigenen Möglichkeiten entgegen. Dieses Selbstbewusstsein dem Konkurrenzmedium gegenüber wird durch den aufkommenden Tonfilm al­ lerdings erschüttert, wie der folgende Abschnitt zeigt.

50  Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve 2002, S. 281f. 51  Vgl. Susanne Knaller: Die Realität der Kunst. Programme und Theorien zu Literatur, Kunst und Fotografie seit 1700. Paderborn: Fink 2015, S. 12. 52  Thiel: »Hyperamerikanisierung Amerikas«, S. 51.

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2 Aldous Huxleys Brave New World (1932) – Kino totaler Präsenz Huxleys anti-utopischer Kino-Roman nimmt auf ein einschneidendes Ereignis der Kinogeschichte Bezug: die Premiere des ersten Tonfilms in Spielfilmquali­ tät. Der Roman entsteht, kurz nachdem Huxley The Jazz Singer 1929 in einem Pariser Kino gesehen und seinem Ärger über diese Innovation in dem Essay Silence is Golden Luft gemacht hat.53 Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, Brave New World nur als Zeugnis einer Abwehrreaktion zu lesen. Vielmehr schreibt der Roman ausgehend von Huxleys Medienkritik das Narrativ des ›Totalen Kinos‹ fort und fügt ihm nicht nur entscheidende Differenzierungen hin­ zu, sondern legt auch die ihm inhärenten Bruchstellen und Abgründe offen. Der beginnende Siegeszug der talkies lässt Ende der 1920er Jahre die Dis­ kussion um die immer noch junge Kunstform Film aufflammen. Virginia Woolf bringt in ihrer Kritik am Tonfilm auf den Punkt, was viele Literaten je­ ner Zeit umtreibt: »For a strange thing has happened — while all the other arts were born naked, this, the youngest, has been born fully-clothed. It can say everything before it has anything to say.«54 Dass der Tonfilm in Sachen Mimesis allen bisherigen Künsten überlegen war, ließ sich nicht abstreiten. Die zentrale Frage, die Woolf formuliert, lautet allerdings: Wozu? Was hat uns der Film zu sagen? Das latente Argument ist ein platonisches: Die bloße Kopie der Wirklichkeit ist demnach nicht nur überflüssig, sondern sogar ge­ fährlich: »naturalism, realism [...] are supposed to be the mind’s morphine«.55 Kittlers Diagnose, dass der Tonfilm aus der Perspektive vieler Schriftsteller einer »Katastrophe« gleichkam, erscheint deshalb zutreffend.56 Auch Huxley drückte seine Abscheu aus gegen ein Kino, in dem die Bilder nicht nur laufen,

53  The Jazz Singer (Regie: Alan Crosland, USA 1927) war der erste Spielfilm, der als talkie vermarktet wurde. Huxley hat ihn zwei Jahre nach seinem Erscheinen gesehen – und harsch kritisiert, vgl. David Leon Higdon: Wandering into Brave New World. Amsterdam: Rodopi 2013, S. 131. 54  Virginia Woolf: »The Cinema«. In: Dies: Collected Essays, II. London: Hogarth Press 1966, S. 268–272, hier S. 272. 55  Marian Hobson: The Object of Art. The Theory of Illusion in Eighteenth-Century France. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1982, S. 4. 56 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 254.

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sondern auch sprechen können: »I find nowadays that I simply don’t want to be up-to-date.«57 Von seinem Misstrauen gegenüber einer allzu realistischen Filmkunst zeugt auch sein bekanntester Roman. Zwar wird Brave New World bislang kaum als Kino-Roman rezipiert,58 eine entsprechende Lektüre erweist sich allerdings als äußerst fruchtbar, da sie Huxleys »World State« als totalitäres Kino-­Spektakel begreifbar macht. Nicht nur spielen die »Feelies« als Steige­ rungsform von Movies und Talkies eine zentrale Rolle für Propaganda und die Wahrung des sozialen Friedens; auch die biopolitische Disziplinierung sowie die Retortenreproduktion des Menschen sind inspiriert von Photound Filmtechnik. Die Droge Soma, die regelmäßig Urlaub vom Alltag erlaubt, stellt schließlich den Status der Wirklichkeit selbst in Frage und entspricht damit Woolfs Vision von »a different reality from that which we perceive in daily life«.59 Obwohl Huxley später selbst Drehbücher in Hollywood schrieb,60 ist er vor allem in frühen Jahren ein scharfer Kritiker der amerikanischen Film­ industrie. Insbesondere prägt ein Ausflug nach Hollywood seinen Blick: Auf seiner Weltreise 1925/26 besucht er Los Angeles und die Filmstudios. In Jesting Pilate (1926), seinem Bericht über die monatelange Schiffsreise, beschreibt er unter dem Titel »America« seine Eindrücke als Beobachter eines Filmdrehs: But within the movie studio there shone no sun, only the lamps, whose intense and greenish-yellow radiance gives to living men and women the appearance of jaundiced corpses. In a corner of the huge barn-like struc­ ture they were preparing to ›shoot‹. The camera stood ready, the corpselights were in full glare.61

Die Filmproduktion verwandelt Menschen in Leichen – bereits aus diesen Zeilen spricht jene düstere Faszination für die unheimliche Atmosphäre der

57  Aldous Huxley: »Silence is Golden«. In: Ders.: Complete Essays, II. Chicago: Ivan R. Dee 2000, S. 19–24, hier S. 19. 58  Eine Ausnahme bildet die Monographie von Laura Frost, die Brave New World ein Kapitel widmet, in dem auf kinematographische Aspekte eingegangen wird, siehe dies.: The Problem With Pleasure. Modernism And Its Discontents. New York: Columbia Univ. Press 2013. 59  Woolf: »The Cinema«, S. 269. 60  Vgl. James Fisher: »›Everyone Belongs to Everyone Else‹: The Influence of Brave New World on Cinema«. In: David Garrett Izzo / Kim Kirkpatrick (Hg.): Huxley’s Brave New World. Essays. Jefferson: McFarland 2008, S. 172–182, hier S. 172. 61  Aldous Huxley: Jesting Pilate. London: Chatto & Windus 1969, S. 261.

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Filmwelt, die auch Brave New World prägt. In der Filmszene, der Huxley in Hollywood beiwohnt, spielt eine Schauspielerin eine Augenzeugin, die einen Mord beobachtet.62 In einer Verschränkung der Blickachsen wird Huxley hier zum Voyeur einer Voyeurin. Er nimmt eine Position ein, die analog zu jener der Kamera ist. Allerdings schildert er – anders als die Kamera, die die fiktio­ nale Szene abbildet – auch die Umgebung und das, was außerhalb der Einstel­ lung stattfindet. Ja, die Ereignisse, die dem späteren Filmzuschauer verbor­ gen bleiben, scheinen ihn mehr zu faszinieren als die eigentliche Handlung. Offensichtlich genießt er das Gefühl, den LeserInnen seine eigene, von der Kamera unabhängige Perspektive zu schildern und darin dem Publikum des fertigen Films überlegen zu sein. Film beruht für Huxley auf einer Ästhetik des Als-ob; Emotionen im Film werden seiner Darstellung zufolge ebenso künstlich hergestellt wie die Wun­ der und Naturkatastrophen, die auf der Leinwand real scheinen mögen, in Wirklichkeit aber in der Badewanne erzeugt wurden: »In one room they were concocting miracles and natural cataclysms — typhoons in bathtubs and min­ iature earthquakes, the Deluge, the Dividing of the Red Sea, the Great War in terms of toy tanks and Chinese fire-crackers, ghosts and the Next World.«63 Huxley steht skeptisch, aber fasziniert vor der Illusionsmaschine Film. Brave New World erzählt von einer zukünftigen Gesellschaft, in der diese Ästhetik mit einem Anspruch totalitärer Herrschaft gilt. Menschen werden in Reagenzgläsern reproduziert und je nach Kastenzugehörigkeit unterschiedlich biochemisch und psychologisch determiniert. Allen gemeinsam ist die Unfä­ higkeit, ihre eigene Lage bzw. die Gesellschaftsordnung zu hinterfragen. Sie sind wie Filmfiguren, die ihre Dialoge aufsagen, ohne zu wissen, dass diese ih­ nen vom Regisseur diktiert wurden. Die Axiome des W ­ orld State lauten etwa »When the individual feels, the community reels« oder »Ending is better than mending«.64 Oberste Ziele sind Stabilität und sozialer Frieden, beide werden durch eine in den Überfluss gesteigerte Reproduktion erreicht. Voraussetzun­ gen dafür, dass diese Reproduktionsmaschine in Gang bleibt, sind die syste­ matische Konditionierung und das Überangebot an Zerstreuung und Unter­ haltung. Die Droge Soma ermöglicht, als Tabletten eingenommen, »a holiday

62 

Vgl. ebd., S. 262. Ebd., S. 263. 64  Aldous Huxley: Brave New World. London: Vintage/Random House 2004, S. 81 und 44. 63 

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from reality«,65 die multisensuellen Feelies haben das herkömmliche Kino ab­ gelöst und gestatten ihren Rezipienten ebenfalls ein Abtauchen in eine virtu­ elle Nicht-Wirklichkeit. Im London des Jahres 632 A.F. (»After Ford«) konzentriert sich die Narra­ tion auf drei Figuren, die zu den oberen Kasten gehören: Der Protagonist Ber­ nard Marx besitzt zwar die intellektuellen Fähigkeiten eines Angehörigen der Alpha-Plus-Kaste, nicht aber die entsprechende körperliche Statur. Marx ist ein Außenseiter und entzieht sich den sozialen Aktivitäten der Gesellschaft, was ihn in Konflikt mit der Obrigkeit bringt. Ähnlich ergeht es Helmholtz Watson, Feely-Autor und Künstler, mit seiner Situation und den reglemen­ tierten Möglichkeiten seines Schaffens aber unzufrieden. Die dritte zentrale Figur ist Lenina Crowne, Mitarbeiterin in der Embryo-Station, die dem ver­ ordneten promiskuitiven Lebensstil folgt und eine Affäre mit Marx beginnt. Von ihrem gemeinsamen Ausflug in ein Reservat, in dem vor-zivilisatorische Menschensiedlungen zu besichtigen sind, bringen die beiden einen jungen Mann, John, und seine Mutter Linda mit nach London. Die beiden »Wilden« stellen Fremdkörper in der Gesellschaft dar: John, »the Savage«, war noch nie in einem Feely, hat noch nie Soma konsumiert und wurde sogar auf natürli­ chem Wege geboren. Er gehört nicht zu den »civilized men and women«.66 Die Einführung dieser Differenz in die Gesellschaft des World State setzt Chaos und revolutionäres Potenzial frei; am Ende allerdings hat John keine Chan­ ce, sich gegen die freiwillige, weil unbewusst konditionierte Unterwerfung der Menschen durchzusetzen: »All conditioning aims at that: making people like their unescapable social destiny.«67 Der Roman endet mit Johns Suizid – al­ lerdings nicht ganz: Ein Feely-Filmer zeichnet ihn zuvor auf und hält ihn da­ mit für immer in leiblicher Präsenz am Leben. Entscheidender als die einzelnen Stränge der »rudimentäre[n] Hand­ lung«68 sind die Unterdrückungs- und Determinierungsmechanismen, die der Roman imaginiert und ausagiert. Das Kino, hier zum Feely gesteigert, ist einer davon. In seinem 1946 geschriebenen Vorwort zu Brave New World nennt Huxley als Voraussetzung einer totalitären Diktatur, diese müsse ihren

65 

Ebd., S. 46. Ebd., S. 177. 67  Ebd., S. 12. 68  Theodor W. Adorno: »Aldous Huxley und die Utopie«. In: Ders.: Kulturkritik und ­Gesellschaft I. Gesammelte Schriften, X.I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 97–122, hier S. 98. 66 

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Untertanen die Freiheit gewähren, »to daydream under the influence of dope and movies and the radio, it will help to reconcile his subjects to the servitude which is their fate«.69 Brave New World erzählt, wie eine solche Gesellschaft aussehen würde, und setzt damit manche Gedanken fort, die sich bereits bei Mynona angedeutet haben: Während Graue Magie mit der drohenden »Welt­ friedenskatastrophe«70 endet, ist der Weltfrieden in Brave New World längst Realität.71 Wie Mynona verleiht auch Huxley dem ›Totalen Kino‹ eine biopo­ litische Dimension, die anders als in Graue Magie aber nicht im Zusammen­ hang mit Krieg, sondern mit dem sich als ebenso destruktiv erweisenden Ver­ sprechen ewigen Friedens steht. Huxley steigert in Brave New World jenes Potenzial, das er im Tonfilm er­ kannte, ins Phantasmagorische. So gilt für seine Präfiguration des ›Totalen Ki­ nos‹: »He was depicting a world that already largely existed in the 1920s and 1930s, only exaggerated and distorted by the satiric lens«.72 Statt ins Moviegehen die Menschen nun ins Feely-Theater, wo sie die Handlung nicht nur se­ hend und hörend, sondern auch tastend, riechend und schmeckend miterle­ ben. Feelies sind als Massenvergnügungsmedien konstitutiv für den World State, und gleichzeitig emblematisch für Huxleys Position dem Kino gegen­ über. Die Bewohner des World State besuchen die Vorstellungen, die in gro­ ßen Filmpalästen stattfinden, wann immer ihnen nach Zerstreuung ist. Zu­ dem dienen die Feelies der Disziplinierung der Gesellschaft. Sie suggerieren die Realpräsenz des Dargestellten; Dargestelltes und Darstellendes werden un­ ter dem »doppelten Blick des Rezipienten« synonym.73 Feelies bedeuten die »Nicht-Zeichenhaftigkeit« des Zeichens.74 Gleichzeitig dienen sie aber auch dazu, die Menschen mit seichter Un­ terhaltung bei Laune zu halten. Damit kommen sie dem ziemlich nahe, was Huxley im Kino seiner Zeit sieht. Zwar diskutierte er 1926 noch mit Charlie

69 

Huxley: »Foreword«. In: Ders.: Brave New World, S. XXIX-XXXVIII, hier S. XXXVII.

70 F/M: Graue Magie, S. 352. 71 

Nicht zufällig gehörte Brave New World zu Friedlaenders liebsten Lektüren, wie er in seinen Tagebüchern festhielt. Für den Hinweis auf diese bislang nicht veröffentlichte Ta­ gebuchnotiz danke ich Hartmut Geerken. 72 Higdon: Wandering into Brave New World, S. 25. 73  Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München: Beck 2006, S. 90. 74  Vinzenz Hediger: »Illusion und Indexikalität«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), S. 101–110, hier S. 105.

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Chaplin »the way of cinematographic salvation«,75 allerdings wird spätestens in seinem Essay The Outlook for American Culture klar, dass Huxley dem Kino und anderen Vergnügungsstätten einen entscheidenden Beitrag zur Verfla­ chung der Gesellschaft sowie die Verwässerung von Hoch- und Populärkul­ tur vorwirft.76 Das Kino ist aus Huxleys Sicht »the latest and most frightful creation-saving device«, jedenfalls keine Kunst.77 Huxley schwört vor allem dem Tonfilm ab, weil dieser zu realistisch sei: »So I simply avoid most of the manifestations of that miscalled ›life‹, which my contemporaries seem to be so unaccountably anxious to ›see‹«.78 Der hier diskreditierten Wiedergabe von Leben nähern sich die Feelies noch weiter an. Im Zuge einer anti-utopischen Übersteigerung filmischer Ästhetik werden den Rezipienten in Brave New World auf sämtlichen Sinneskanälen lebensähnli­ che Substitute präsentiert. Die Feelies bilden dabei eine jener multisensu­ ellen »Medienverbundschaltungen«,79 die Kittler zufolge schon die Erfinder von Phonograph und Kinematograph herbeisehnten. Mit dem ersten Tonfilm drohte das »l’art pour l’art [...] des Stummfilms«,80 unter dem man dem Film eine Daseinsberechtigung zugestanden hatte, zu erodieren. In Huxleys Fee­ lies kann von Kunst nun tatsächlich keine Rede mehr sein, es geht um bloße Unterhaltung durch die Attraktion der realpräsentischen Darstellung. Feelies sind »pictures that you could hear and feel and smell, as well as see«.81 Die Protagonisten werden dort Zeugen, wie »every hair« eines repro­ duzierten Bärenfells fühlbar wird. John erlebt seine Feely-Premiere zusam­ men mit Lenina. Nach einer Art Vorspiel aus Düften und synthetischer Mu­ sik, »a trio for hyper-violin, super-cello and oboe-surrogate« unterstützt durch »the scent organ [...] playing a delightfully refreshing Herbal Capriccio«,82 be­ ginnt die Vorstellung:

75 Huxley: Jesting Pilate, S. 266. Auch Chaplin stand dem Tonfilm zunächst skeptisch

gegenüber und behauptete: »I shall never speak in a film. I hate the talkies and will not produce talking films.« Eine Position, die er später revidieren sollte. Chaplin wird hier ­zitiert nach Frost: The Problem With Pleasure, S. 133. 76  Vgl. Aldous Huxley: »The Outlook for American Culture«. In: Harper’s Monthly Magazine, 1. August 1927, S. 265–272, hier S. 267. 77  Huxley: »Silence is Golden«, S. 20. 78  Ebd., S. 20. 79 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 252. 80  Ebd., S. 254. 81 Huxley: Brave New World, S. 110. 82  Ebd., S. 145.

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Karin Janker ›Take hold of those metal knobs on the arms of your chair,‹ whispered Lenina. ›Otherwise you won’t get any of the feely effects.‹ The Savage did as he was told. Those fiery letters, meanwhile, had disappeared; there were ten seconds of complete darkness; then suddenly, dazzling and incom­ parably more solid-looking than they would have seemed in actual flesh and blood, far more real than reality, there stood the stereoscopic images, locked in other another’s arms, of a gigantic Negro and a golden-haired young brachycephalic Beta-Plus female.83

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Der Erzähler nimmt hier die Perspektive des unerfahrenen Zuschauers ein, der zum ersten Mal ein Feely erlebt; also jene, aus der Huxley in Silence is Golden seine eigene Tonfilm-Premiere schildert. Trotz der überwältigenden Sinn­ lichkeit wohnt den »feely effects« eine prekäre Flüchtigkeit inne, die verlangt, dass der Rezipient sich dem Dispositiv körperlich ausliefert: John muss sich selbst in Hautkontakt mit dem Apparat bringen und in dieser Stellung ver­ harren. Der Rezipient wird stillgestellt, damit die Figuren im Feely zum Le­ ben erwachen. Das belebte Bild verlangt die Stillstellung des Betrachters, wie Mitchell es beschreibt: »The paintings’ desire, in short, is to change places with the beholder, to transfix or paralyze the beholder, turning him or her into an image for the gaze of the picture in what might be called ›the Medusa effect‹.«84 Auch bei Huxley steht der Betrachter in einem prekären Verhältnis zur Phantas­magorie. In Silence is Golden heißt es: »At the cinema [...] there is no escape.«85 Huxley schildert die Rezeptionssituation als Unfreiheit, von der aber gleichzeitig eine Faszination ausgeht: »The jazz-players were forced upon me; I regarded them with a fascinated horror.«86 Das Feely macht das Dargestellte anwesend, verlangt dafür aber auch vom Rezipienten seine körperliche, stillgestellte Anwesenheit. Entsprechend wird Johns Rezeptionserfahrung geschildert: »The Savage started. That sensation on his lips! He lifted a hand to his mouth; the titillation ceased; let his hand fall back on the metal knob; it began again.«87 Das Feely repräsentiert die zentra­ le Maxime des World State: Der Mensch in der schönen neuen Welt hat stets präsent zu sein. Die Rezeptionssituation im Feely ist eine Erfahrung der Un­ mittelbarkeit, aber um den Preis der gleichzeitigen Unhintergehbarkeit dieser 83 

Ebd., S. 146. Mitchell: »What Do Pictures Want?« In: Ders.: The Lives and Loves of Images. Chicago: Univ. of Chicago Press 2005, S. 28–56, hier: S. 36. 85  Huxley: »Silence is Golden«, S. 21. 86  Ebd., S. 21. 87 Huxley: Brave New World, S. 146. 84 

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ästhetischen Erfahrung. Das Wahrgenommene entzieht sich der Realitätsprü­ fung, das Kitzeln verschwindet auf Johns Lippe, als er die Hand hebt, um da­ nach zu tasten. Diese Unmöglichkeit der Realitätsprüfung ist für Jean-Louis Baudry zentrales Element des kinematographischen Dispositivs, das er von Platons Höhlengleichnis ableitet: Es ist also ihre motorische Lähmung, die Unmöglichkeit, von dort, wo sie sind, wegzugehen, die für sie die Realitätsprüfung unmöglich macht, die ihren Irrtum beschönigt und sie tatsächlich dazu bringt, das Stellvertre­ tende für real zu halten, vielleicht dessen Vorstellung, dessen Projektion auf den Bildschirm, den die vor ihnen liegende Wand der Höhle darbie­ tet und von dem sie den Blick nicht lösen und sich nicht abwenden kön­ nen. Sie sind an die Projektionsfläche gebunden, gefesselt, angekettet – eine Beziehung, eine Verlängerung zwischen ihr und ihnen, die mit ihrer Unfähigkeit zusammenhängt, sich von ihr fortzubewegen.88

Diese Disziplinierung durch den Zwang zu körperlicher Präsenz greift in B ­ rave New World nicht nur im Feely, sondern auch bei Freizeitaktivitäten wie dem »Obstacle Golf« oder den regelmäßigen Treffen des »Solidarity Service«. Wer hier fehlt, gefährdet nicht nur seinen Ruf, sondern wird durch seine Abwe­ senheit, und sei sie nur in Gedanken, zum subversiven Element. »Was and will make me ill«, rezitiert Lenina und bringt damit das Diktum des Jetzt im totalitären Dispositiv des World State auf den Punkt.89 Wie im Film geht es um die Gegenwärtigkeit des »être-là de la chose«.90 Doch der Huxleyschen Anti-Utopie wohnt auch ein satirisches Element inne: Und so wird das Erlebnis im Feely-Theater sogleich konterkariert durch die plumpe Banalität des Dargestellten: The plot of the film was extremely simple. A few minutes after the Ooh’s and Aah’s (a duet having been sung and a little love made on that famous bearskin, every hair of which — the Assistant Predestinator was p­ erfectly right — could be separately and distinctly felt), the Negro had a helicop­ ter accident, fell on his head.91

88 

Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Reali­ tätseindrucks«. In: Claus Pias et. al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 2004, S. 381–404, hier S. 387, Hervorhebung im Original. 89 Huxley: Brave New World, S. 90. 90  Roland Barthes: »Rhétorique de l’image«. In: Ders.: L’obvie et l’obtus. Essais critiques III. Paris: Éditions du Seuil 1982, S. 25–42, hier S. 36. 91 Huxley: Brave New World, S. 146.

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Das Feely Three Weeks in a Helicopter ist kaum mehr als Pornographie, aller­ dings scheint hier sogar der Sex Nebensache, die eigentliche Attraktion ist das Bärenfell, von dem bereits zuvor mehrmals die Rede war, weil »every hair« ein­ zeln reproduziert und zu spüren sei. Im Feely dringt der Rezipient tatsäch­ lich »tief ins Gewebe der Gegebenheit ein«.92 Die Simulation selbst besitzt den Charakter einer Attraktion. Das Interesse des Rezipienten richtet sich nicht auf die eigentliche Handlung oder die Liebesszene, sondern auf die mimeti­ sche Qualität des Films. Das Feely übermittelt keine Bedeutung außerhalb sei­ ner selbst: »They mean themselves, they mean a lot of agreeable sensations to the audience.«93 So offenbare Brave New World, schreibt Adorno, »das We­ sen des Films als bloßer Verdopplung und Verstärkung dessen, was ohnehin ist; seine eklatante Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit sogar in der zum Infan­ tilismus verhaltenen Freizeit; die Unvereinbarkeit des Verdopplungsrealismus und des Anspruchs, Bild zu sein.«94 Allerdings erfasst diese Lesart das Ver­ hältnis des Romans zum Kino nicht ganz. Denn das Feely hat ein gespensti­ sches Nachleben: Then the bearskin made a final appearance and, amid a blare of sexo­ phones, the last stereoscopic kiss faded into darkness, the last electric titillation died on the lips like a dying moth that quivers, quivers ever more feebly, ever more faintly, and at last is quite, quite still. But for Leni­ na the moth did not completely die. Even after the lights had gone up, while they were shuffling slowly along with the crowd towards the lifts, its ghost still fluttered against her lips, still traced fine shuddering roads of anxiety and pleasure across her skin.95

Huxley nutzt die Feelies nicht nur zur Denunziation des Kinos, sondern ver­ sucht durchaus, dessen Wirkung auf den Rezipienten nachzuspüren: »Despite the broad satire of the feelies’ idiocy, Huxley dwells on their popularity, their allure, and their efficient mobilization of the body.«96 Brave New World führt also nicht die reine Überflüssigkeit des Films vor Augen, wie Adorno schreibt, sondern ergründet seine Wirkung auf den Körper. Auch Virginia Woolf schil­ 92 

Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 136–169, hier S. 158. 93 Huxley: Brave New World, S. 194. 94  Adorno: »Aldous Huxley und die Utopie«, S. 114f. 95 Huxley: Brave New World, S. 147. 96  Frost, Laura: »The Pleasures of Dystopia«. In: John Greenberg / Nathan Waddell (Hg.): Brave New World: Contexts ans Legacies. London: Springer 2016, S. 69–88, S. 74.

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dert die Überforderung des Rezipienten im Kino als somatisch-sinnliche Er­ fahrung: »The eye licks it all up instantaneously, and the brain, agreeably tit­ illated, settle down to watch things happening without beseeching itself to think... Eye and brain are torn ruthlessly as they try vainly to work in cou­ ples«.97 Die Fähigkeit zu reflektieren scheint im Kino abhanden gekommen, überrannt vom Sturm der Stimuli auf den Wahrnehmungsapparat. In Brave New World wird das Gefühl, von der Unmittelbarkeit des realis­ tischen Filmbildes überwältigt zu werden, mit der fixierenden Wirkung des Films auf den Rezipienten enggeführt. Die daraus resultierende kognitive und emotionale Unfreiheit bildet den Kern jenes Totalitätsanspruchs, den Huxley dem Kino zuschreibt. Er erkennt »cinema as a bodily apparatus that is also inevitably a political instrument«, wie Frost schreibt: »While many of his contemporaries found the talkies excessive or confusing, Huxley expands on those reactions to explore the social and political implications of sound film.«98 Damit zeigt sich, dass das Feely-Theater mehr ist als ein Nebenschau­ platz der Handlung von Brave New World; vielmehr bilden die Reflexionen über den Totalitätsanspruch von Kino und Film den Ausgangs- und Flucht­ punkt von Huxleys Roman. Hier nun treffen sich Brave New World und Graue Magie: Beide Texte beleuch­ ten und hinterfragen die Ästhetik des Konkurrenzmediums Film, indem sie sein Potenzial in der literarischen Imagination zum ›Totalen Kino‹ überstei­ gern. Während dieser Totalitätsanspruch bei Mynona in eine Engführung von Kino- und Kriegsmetaphorik führt, agiert Huxley ihn im Übergreifen des Kinos auf den Körper des Rezipienten aus. Gerade diese anti-utopischen Zuschreibungen an das Medium Film machen beide Romane angesichts des heutigen Diskurses über Virtuelle Realität höchst aktuell. Ihre Lektüre zeigt, dass die Angst davor, dass der Rezipient die Fähigkeit zwischen Schein und Sein zu unterscheiden, verlieren könnte, keineswegs neu oder an technische Innovationen der Kinoentwicklung gebunden ist, sondern immer schon zum (literarischen) Kino-Diskurs gehörte. Denn nach wie vor gilt das Kino, nun unter dem Label »VR«, als potentes Illusionsmedium, das den Weltbezug des Rezipienten auf gefährliche Weise prekär zu machen droht; und nach wie vor steht dahinter ein ikonoklastisches Narrativ. 97 

Woolf: »The Cinema«, S. 269. Frost: »Huxley’s Feelies. The Cinema of Sensation in Brave New World«. In: Twentieth Century Literature 52.4 (2006), S. 443–473, hier S. 463.

98 

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Vom Kinogedicht zur Filmlyrik Claire Goll & Co zwischen Kintoppschelte und »Illuminations«

Der Titel meines Beitrags suggeriert eine literaturhistorische bzw. poetolo­ gisch-ästhetische Entwicklung zwischen zwei Polen, die es in dieser dicho­ tomen Stringenz nicht gibt.1 Freilich sieht es im Rückblick auf über hundert Jahre Film- und Kinogeschichte so aus, als habe sich das Literatenmilieu ganz

1  Man kann zwar davon ausgehen, dass es so etwas wie eine allmähliche Professiona­ lisierung der AutorInnen im Umgang mit dem neuen Medium des Films gibt. Das zeigt u. a. die von Kurt Pinthus herausgegebene Anthologie Kinobuch (1913), in der Texte von bekannten AutorInnen wie Max Brod, Alfred Ehrenstein, Walter Hasenclever oder Else Lasker-Schüler präsentiert werden, die einen neuen literarischen Zugang zum Kino su­ chen. Es geht dabei vor allem um die Etablierung des Drehbuchs als neue literarische Form. Pinthus’ Publikation steht in Zusammenhang mit der 1912 erfolgten Gründung ei­ ner Kooperationsgemeinschaft zwischen der größten deutschen Filmproduktionsgesell­ schaft und dem Verband Deutscher Bühnenschriftsteller. Vgl. Bernhard Zeller (Hg.): Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm. München u. Stuttgart: Klett, 1976, S. 124. Christoph Kleinschmied beschreibt eine Entwicklung »von einer kritisch-ironischen hin zu einer ästhetisch-affirmativen [Einstellung]. Voraussetzung für diesen Umschwung ist vor allem eine Unterscheidung zwischen Programm und Material bzw. zwischen In­ halt und technischen Möglichkeiten. Während die Autoren sich in den frühen Gedichten über den gezeigten Schund erregen, erkennen sie das künstlerische Potential des Films und adaptieren dessen Gesetzmäßigkeit.« (Christoph Kleinschmied: Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus. Bielefeld: transcript, 2012, S. 242f.) Diese Entwicklung verläuft jedoch keineswegs so eindeutig und so schnell wie Kleinschmied suggeriert. Er übersieht erstens die noch weit bis in die 30er Jahre hi­ neinreichende negative Haltung sehr vieler Autoren (z. B. Thomas Mann oder Hermann ­Hesse) und zweitens die bereits in gewissen symbolistischen oder futuristisch-avantgar­ distischen Schreibweisen angelegten proto-cinematographischen Tendenzen.

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allmählich an die Konkurrenz des neuen Mediums gewöhnt, indem es den bewegten Bildern und populären Lichtspielhäusern zunächst mit Skepsis be­ gegnete, sich dann aber peu à peu mit der neuen Konkurrenz abgefunden, schließlich auch künstlerisch auseinandergesetzt habe bis hin zur Entwicklung film-analoger poetischer und narrativer Verfahren. Das zumindest wäre der mediengeschichtliche Eindruck, der entsteht, wenn man, wie in vielen Studi­ en zu diesem Thema, eine historische Weitwinkelperspektive anlegt. Zoomt man sich aber etwas näher an die konkreten literatur- und kunsthistorischen Konstellationen heran, verschwimmt das soeben skizzierte Bild, wird diffus, uneinheitlich bis widersprüchlich, gerade auch hinsichtlich der chronologi­ schen Abläufe und intermedialen bzw. interkulturellen Zusammenhänge. Von einer ›Entwicklung‹ im engeren Sinne zu sprechen, scheint nur auf den ers­ ten Blick plausibel, bei näherer Betrachtung rückt unweigerlich auch das Un­ gleichzeitige des Gleichzeitigen ins Bild. Zwar gab es, gerade bei den älteren, etablierten und tonangebenden Au­ toren um 1900, wie Thomas Mann, Herrmann Hesse, Hugo von Hofmanns­ thal, Maxim Gorki oder Paul Valéry, teilweise auch bei jüngeren wie Philippe Soupault,2 bis weit in die Dreißiger Jahre hinein starke, meist zivilisationskri­ tisch bzw. kulturpessimistisch motivierte Vorbehalte gegen das Kino. Zum an­ deren entstanden – in etwa zeitgleich mit der Erfindung des Films – bereits im 19. Jahrhundert vereinzelt Texte, die gewissermaßen proto-cinematogra­ phisch film-analoge Schreibweisen vorwegnahmen. Um diese komplexe und widersprüchliche intermediale Situation um 1900 ein wenig zu illustrieren, seien zunächst einige einschlägige Beispiele aus der zeitgenössischen Lyrik zitiert, die für die Bandbreite der unterschiedlichen ästhetischen Einstellungen stehen: Da wäre zum einen das Sonett Der selige Kintopp des heute (zu Recht…) vergessenen Sebastian Scharnagl alias Hein­ rich Bachmair aus dem Jahr 1913.3 In anderen zeitgenössischen, expressio­ nistischen oder neusachlichen Gedichten von Jakob von Hoddis, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky oder René Schickele kommt die klassische ›Kintopp-Schelte‹ differenzierter bzw. ambivalenter zum Ausdruck. Scharnagls plakativer Lyrik

2  Vgl. hierzu: Nadja Cohen: »Les poètes et le cinéma autour de 1920. Deux attitudes op­ posées face au nouveau medium (Soupault et Aragon)«. In: Textimage. Revue d’étude du dialogue texte-image. Le Conférencier no. 4: Cinéma & Poésie, réflexions, Dez. 2014, S. 1–13. 3  Solche wertvollen, da quasi idealtypischen Beispiele entnehme ich der verdienstvollen Anthologie von Andreas Kramer und Jan Volker Röhnert: Die endlose Ausdehnung von Zelluloid. Eine Anthologie. 100 Jahre Film und Kino im Gedicht. Dresden: Edition Azur, 2009.

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ist Ambivalenz und Ironie jedoch fremd, was – und das macht das Vorgehen unter methodischen Aspekten interessant – einen relativ unverstellten Ein­ blick in den ideologischen Kern seiner Ablehnung erlaubt. Das Jahr 1913 ist ja ohnehin in vielerlei Hinsicht ein Jahr des ideologischen und ästhetischen Umbruchs, in dem eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren beginnen, sich mit moderner Technik auseinandersetzen. Das gilt nicht nur für das Kino, sondern auch für zahlreiche andere Bereiche, insbesondere das Verkehrswe­ sen. Automobil und Aviation sind – neben dem Kino – die bevorzugten Ge­ genstände der neuen Technik-Lyrik vor dem Ersten Weltkrieg.4 Scharnagl bemüht den in Anbindung an antike Diskurse5 bekannten, im Kontext der ›Kintopp-Schelte‹ besonders beliebten Topos des illusionistischen Schattens und verwendet dabei die ebenfalls stereotype Klassifizierung des Kinos als medialen ›Schund‹: »Wir starren unentwegt hin auf die Leinwand, / wo blasse Schatten ineinander schweben / erheben gar nicht den geringsten Einwand / betreffs des Schundprogramms, das sie hier geben.« Im finalen Ter­ zett wird die Leinwand »mit den magren Schattenhunden« schließlich als eine Art barmherzige Illusion, als »heiliger Betrug«6 qualifiziert. Die hier verwendete Schattenmetaphorik als Topos des Uneigentlichen ist bekannt aus verschiedenen mythologischen, ästhetischen und epistemologi­ schen Zusammenhängen. Sie reicht von diversen antiken Hades-Darstellun­ gen oder Platons berühmtem ›Höhlengleichnis‹, mit dem Sokrates die Schein­ haftigkeit der empirischen Wirklichkeit illustriert, über mittelalterliche und frühneuzeitliche Höllendarstellungen bis hin zur spät-idealistischen Ästhe­ tik des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts.7 So verwendet etwa

4 

Vgl. das kulturgeschichtliche Porträt von Florian Illies: 1913: Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2012, sowie die beiden Monographien von Felix ­Philipp Ingold: Der große Bruch, Russland im Epochenjahr 1913: Kultur, Gesellschaft, Politik. ­Berlin: Matthes & Seitz, 2013; und: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909–1927. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. 5  Vgl. vor allem das berühmte ›Höhlengleichnis‹ aus Platons Politeía. 6  Kramer / Röhnert (Hg.): Die endlose Ausdehnung von Zelluloid (wie Anm. 3), S. 14. 7  Vgl. hierzu meine Aufsätze: »Rotdunkel. Vom Ektoplasma zur Aura. Fotografie und Okkultismus bei Thomas Mann und Walter Benjamin«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 4 (2001), S. 540–570; »L’image fantôme. Prolegomena zur Geschichte eines Motivs zwischen Literatur, Fotografie und Film«. In: Peter Wiesinger (Hg.): Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Bd. 10: Medien und Literatur. Bern et al.: Lang, 2003, S. 367– 373; »Reflets mortels. Un motif au carrefour des arts et des médias: Hoffmann, Poe, Mau­ passant, Brioussov, Pirandello, Benjamin«. In: Pierre André Bloch u. Peter ­Schnyder

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der Genfer Ästhetik-Professor und Karikaturist Rodolphe Töpffer den Schat­ ten-Topos in den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei seiner Kritik an der in seinen Augen unkreativen und daher unkünstlerischen Fotografie,8 und noch Thomas Manns berühmte Davoser Kintopp-Szene aus seinem Ro­ man Der Zauberberg von 1924 operiert mit der traditionellen Metaphorik der betrügerischen Schatten: Wenn aber das letzte Flimmerbild einer Szenenfolge wegzuckte, im Saale das Licht aufging und das Feld der Visionen als leere Tafel vor der Men­ ge stand, so konnte es nicht einmal Beifall geben. Niemand war da, dem man durch Applaus hätte danken, den man für seine Kunstleistung hätte hervorrufen können. Die Schauspieler, die sich zum Spiele, das man ge­ nossen, zusammengefunden, waren längst in alle Winde zerstoben; nur die Schattenbilder ihrer Produktion hatte man gesehen, Millionen Bilder und kürzeste Fixierungen, in die man ihr Handeln aufnehmend zerlegt hatte, um es beliebig oft, zu rasch blinzelndem Ablauf, dem Element der Zeit zurückzugeben. Das Schweigen der Menge nach der Illusion hatte et­ was Nervloses und Widerwärtiges. Die Hände lagen ohnmächtig vor dem Nichts. Man rieb sich die Augen, stierte vor sich hin, schämte sich der Helligkeit und verlangte zurück ins Dunkel, um wieder zu schauen, um Dinge, die ihre Zeit gehabt, in frische Zeit verpflanzt und aufgeschminkt mit Musik, sich wieder begeben zu sehen.9

Die um 1920 höchst populäre und von zahlreichen Literaten und Künstlern ge­ teilte Kritik an Film und Kino10 bezieht sich in der Regel auf zwei Punkte: Zum

(Hg.): Miroirs – Reflets. Esthétiques de la duplicité. Strasbourg: Presses universitaire de Strasbourg, 2003, S. 35–53; »Jettatori und Medusen. Von bösen Blicken, tödlichen Pin­ seln und gefräßigen Kameras. Eine intermediale Motivgeschichte«. In: Urs Meyer, Ro­ berto Simanowski u. Christoph Zeller (Hg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen: Wallstein 2006, S. 152–184; »La sombra en la literatura moderna. Un pequeño panorama«. In: Victor I. Stoichita (Hg.): Para una historia cultural de la sombra. Madrid: Musée Thyssen-Bornemisza, 2010, S. 59–102; »Pygmalions Erben. Spätro­ mantische Kunst- und Medientheorie«. In: Sabina Becker u. Barbara Korte (Hg.): Visuelle Evidenz. Fotografie im Reflex von Literatur und Film. Berlin u. New York: de Gruyter 2011, S. 39–53; »Harrys Bilderkabinett. Hermann Hesse im Kontext der so genannten Kino-­ Debatte«. In: Henriette Herwig u. Florian Trabert (Hg.): Der Grenzgänger Hermann Hesse. Neue Perspektiven der Forschung. Freiburg i. Br., Berlin u. Wien: Rombach 2013, S. 123–137. 8  Rodolphe Töpffer: »Über die Daguerreotypie« [1841]. In: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I: 1839–1912. München: Schirmer/Mosel, 1999, S. 70–77. 9  Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1982. S. 335. 10  Der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim berichtete 1932 über diesen kino-skeptischen bis total ablehnenden Kontext, in dem 1920 in der Weimarer Nationalversammlung das sogenannte ›Lichtspielgesetz‹ verabschiedet wurde. Vgl. Rudolf Arnheim: Film als Kunst [1932]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 14–19.

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einen formuliert sie einen Einspruch gegen eine allzu exakt-unmittelbare, da­ her ethisch und psychologisch als gefährlich eingestufte Mimesis. Indem die bewegten Bilder eine starke, besonders den affektiv-sinnlichen Bereich stimu­ lierende Wirklichkeitsillusion bewirken, die aufgrund ihrer emotionalen Ve­ hemenz eine kritisch distanzierte, reflektierte, autonome oder subjektiv-kre­ ative Rezeption verhindere, werde gewissermaßen die epistemologische Basis ästhetischer Kommunikation untergraben und die klare ontologische Schei­ dung von Sein und Schein in Frage gestellt. Man befürchtet, die Zuschauer seien angesichts der Kraft der Bilder nicht mehr in der Lage, diese als medial bzw. fiktional zu erkennen. Zwar gibt es seit Anbeginn der Kunst ein stetes Aufbegehren gegen ihre medialen Schranken: von den antiken Mimesis-Uto­ pien des Zeuxis von Herakleia, dessen berühmtes Traubengemälde stellver­ tretend für den schon die antike Kunst beherrschenden Wunsch nach einer möglichst lebendigen Abbildung, ja Übersteigerung der Wirklichkeit steht, bis zur Avantgarde-Forderung nach einer vollständigen Autonomie, ja Entsubli­ mierung und Kunst, d.h. deren endgültige Befreiung aus den Zwängen des ›Prodesse et delectare‹. In der Kunstphilosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird die intentionale Verwischung der Grenzen von Kunst und Leben, Simulation und Wirklichkeit, dann aber zu einem zentralen äs­ thetischen Anliegen. Entsprechende Vorstellungen kursieren sowohl in der symbolistisch-ästhetizistischen Poetik einer postromantischen Umwertung der Rangfolge von Natur und Kunst, etwa in Oscar Wildes Essay The Decay of Lying (1889), dessen zentraler Gedanke im berühmten Diktum vom Leben, das die Kunst imitiere, seinen Ausdruck findet, wie auch im futuristisch-vita­ listischen Kontext, der, vor allem in Filippo Tommaso Marinettis Manifesten, eine möglichst direkte, dem körperlich biologischen Lebensprinzip entnom­ mene Kunst propagiert. Erstaunlicherweise wird die mediale Analogie des Ki­ nos zu solchen Bestrebungen im frühen 20. Jahrhundert jedoch meist noch übersehen. Stattdessen dominiert ein am klassizistisch bildungsbürgerlichen Modell orientierte Literaturtheorie den ästhetischen Diskurs: Der bürgerli­ che Rezipient soll sich bilden und erbauen, allenfalls zerstreuen, aber keines­ wegs berauschen oder gar die Grenzen zwischen Kunst und Leben leugnen. Der zweite Kritikpunkt kommt aus der – ideologisch gesehen – entgegen­ gesetzten Richtung. Hier lautet der Verdacht etwa folgendermaßen: Die im Kino gezeigten Inhalte seien trivialer ›Schund‹, mediales ›Opium fürs Volk‹, industrielle Dutzendware zur Verdummung der Massen und zur Ablenkung von den realen politischen und sozialen Problemen. Die bildungsbürgerliche und die marxistische Variante der Kintopp-Schelte treffen sich nicht nur im

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Bereich des Didaktischen, beide gehen auch von einem klar umrissenen, rea­ listischen Mimesisbegriff aus. Die vielfältigen aus unterschiedlichen ideolo­ gischen Richtungen stammenden Gründe für die Ablehnung des Kinos sind seit der einschlägigen Anthologie von Anton Kaes11 in den letzten dreißig Jahren vielfach untersucht und unter Stichwörtern wie ›Medienkonkurrenz‹, ›bürgerliche Ästhetik‹, ›Antimodernismus‹ u.ä. theoretisch bedacht und dis­ kutiert worden.12 Ebenso bekannt und vielfach untersucht sind kunsttheoretische Zusam­ menhänge, die die Kunst des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts explizit und programmatisch in einen intermedialen Zusammenhang stel­ len. Das gilt sowohl für die Ästhetik des Fin de Siècle, die – unter anderem im neuromantischen Begriff des ›Gesamtkunstwerks‹ – das Ideal einer totalen, d.h. alle Lebens- und Daseinsbereiche umspannenden Kunst favorisiert,13 wie auch für die Konzeption einer sogenannten ›synthetischen‹ Kunst im Kon­ text der klassischen Avantgardebewegungen, bis hin zu literaturwissenschaft­ lichen Konzepten einer »wechselseitigen Erhellung der Künste«,14 um die be­ rühmte komparatistische Formel Oskar Walzels zu zitieren. Bereits hier wird – gewissermaßen im Vorfeld der späteren Medienkomparatistik bzw. der so­ genannten ›interart-studies‹ – der Versuch unternommen, eine produktive

11  Vgl. Anton Kaes: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909 – 1929. Tübingen: Niemeyer, 1984. 12  Die einschlägigen anti-materialistischen und anti-positivistischen, technik-feind­ lichen Diskurse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – z. B. in den Polemiken ge­ gen Daguerreotypie und Fotografie bei Rodolphe Töpffer, Charles Baudelaire oder John ­Ruskin – , d.h. die ganze Reihe an Misstrauensbekundungen gegenüber Elektrifizierung, Foto­grafie, Telegraphie, Grammophon, Telefon, mündet schließlich mit Aufkommen des Stummfilms in der erwähnten ›Kino-Debatte‹. In seinem medienhistorischen Essay Das digitale Evangelium hat Hans Magnus Enzensberger die Protagonisten und Antagonisten dieser Debatte in ›Apokalyptiker‹ und ›Medienpropheten‹ eingeteilt und damit ironisch auf den apodiktischen und sakralsprachlichen Duktus ihrer Statements verwiesen. Vgl.: Hans Magnus Enzensberger: »Das digitale Evangelium«. In: Ders.: Nomaden im Regal. Essays. Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2002. S. 106–129, hier: S. 109. 13  Vgl. Reto Sorg u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Totalität und Zerfall im Kunstwerk der Moderne. München: Wilhelm Fink, 2006; sowie das Kapitel: ›Themen und Motive‹. In: ­Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart: Kröner, 2008, S. 138–158. 14  Oskar F. Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin: Reuther & Richard, 1917.

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und kreative gegenseitige Beeinflussung, Durchdringung, ja Hybridisierung der Künste15 zu beschreiben und ästhetisch zu formalisieren. Auf die Fragestellung des vorliegenden Sammelbands bezogen hieße das: Welches sind nun – neben den genannten Abgrenzungsstrategien – die pro­ duktiven Aneignungsmomente in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts? Wo lassen sich Autoren und Autorinnen für ihr eigenes literarisches Schaf­ fen von dem neuen Medium inspirieren? Schon recht gut untersucht ist der Einfluss von Fotografie und Film auf die erzählende und dramatische Lite­ ratur der Zeit. Dabei wurden – oftmals im Kontext einer Analyse der realis­ tischen und naturalistischen Poetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts – so­ wohl ästhetische Analogien wie auch der oftmals genetische Zusammenhang bestimmter narrativer Verfahren mit einem radikal objektivistischen Mime­ sis-Verständnis von Fotografie und Film plausibel gemacht.16 Als zentrales mediengeschichtliches Stichwort wäre hier vor allem der mit dem berühmten Bonmot des ›Pencil of Nature‹ benannte Topos einer absolut naturgetreuen Abbildungskunst zu nennen, mit dem der Fotografiepionier und Schriftstel­ ler Henry Fox Talbot im 19. Jahrhundert die Präzision der fotografischen Mi­ mesis verklärte.17 Das von Talbot propagierte objektivistische Pathos wird von zahlreichen Autoren des Realismus und Naturalismus aufgegriffen und sowohl theoretisch-konzeptuell wie auch praktisch und ästhetisch weiterentwickelt. Zugleich beliefern neue optische Verfahren aber auch gewisse Themen und Motive der spätromantischen Phantastik und des frühen Science-Fiction-Ro­ mans den Diskurs und seine Narrative mit plausiblen technischen Details.18 Diese proto-cinematographischen Erzähltechniken lassen sich zwar stel­ lenweise bis in die Mikrostruktur der Texte nachverfolgen, im Realismus zum Beispiel bei der Montage simultaner Handlungen, etwa in Gustave Flauberts

15 

Zu den verschiedenen Begrifflichkeiten vgl. Sabine Haupt: »Der Topos des ›Dritten‹ zwischen Diskursen und Realitäten«. In: Dies. (Hg.): Tertium Datur! Formen und Facetten interkultureller Hybridität. Formes et facettes d’hybridité interculturelle. Wien u. Berlin: Lit, 2014, S. 7–21. 16  Vgl. hier vor allem die Studien und Sammelbände von Harro Segeberg: Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München: Wilhelm Fink, 1996; ders.: Die Perfektionierung des Scheins. Das Kino der Weimarer Repu­blik im Kontext der Künste. München: Wilhelm Fink, 2000; ders.: Literatur im Medien­zeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003. 17  Vgl. Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature (1844–1846). 18  Vgl. meine in Anmerkung 7 aufgeführten Aufsätze zum Thema.

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Roman Madame Bovary (1857), oder bei der Gestaltung eines panoramahaf­ ten Landschaftsüberblicks wie beispielsweise zu Beginn von Paul Heyses No­ velle L’Arrabbiata (1854), aber auch bei der Fokussierung von Gegenständen und anderen Raumdarstellungen, die eine spezielle visuelle Perspektivierung erfordern. In den Werken der spätromantischen Phantastik und der frühen Science-Fiction dienen, wie beispielsweise in Guy de Maupassants Novelle Le Horla (1887), oftmals proto- oder para-cinematographische Verfahren der er­ zählerischen Evokation oder Plausibilisierung übernatürlicher Erscheinungen. Hinzu kommen, insbesondere für die Literatur des Naturalismus und frühen Expressionismus neue Erfahrungen mit einer dissoziativen und sequenzier­ ten Wahrnehmung, die gewisse stilistische Experimente wie den legendären ›Sekundenstil‹ stimulieren. Auch im Theater und in den Romanen der klassi­ schen Moderne, bei Thomas Mann, Franz Kafka, Robert Musil, ­Bertolt Brecht, James ­Joyce, ­Samuel Beckett oder André Gide, spielen neue intermediale, kino-­affine Konzepte eine Rolle. Insgesamt aber sieht es wohl so aus, als be­ ziehe sich die Affinität von Prosa und Drama zum Medium »Film« im frühen 20. Jahrhundert hauptsächlich auf thematische und motivische und weniger auf sprachlich-strukturelle Aspekte.19 Sehr viel weniger untersucht wurde bisher der Zusammenhang zwischen Kino und Lyrik bzw. die Entwicklung filmanaloger Schreibweisen in der avant­ gardistischen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. Dies betrifft vor allem den deutschsprachigen Kontext, da es in der Romanistik, vor allem mit Studien zu Apollinaire und anderen kino-affinen Dichtern des frühen 20. Jahrhunderts, durchaus eine Reihe von Studien gibt.20 Diese mangelnde Einbeziehung der Lyrik in die Analyse intermedialer Korrespondenzen liegt vor allem wohl an den Quellen selbst. Deutschsprachige Lyriker mit einer eindeutig positiven, ja enthusiastischen Kino-Auffassung, wie das bei Apollinaire der Fall ist, sind im frühen 20. Jahrhundert äußerst selten. Mir sind – abgesehen von einigen Hymnen an Stummfilmstars wie Asta Nielsen und Charlie ­Chaplin aus der

19 

Auch die Dramen von Yvan Goll gehören eher in diese zweite Kategorie. Vgl. Eric Robertson u. Robert Vilain (Hg.): Yvan Goll – Claire Goll. Texts and Contexts. Amsterdam u. Atlanta: Rodopi, 1997; darin vor allem Andreas Kramer: »›Basis aller neuen kommenden Kunst ist das Kino‹. Yvan Goll und das Medium Film«, S. 83–96. 20  Ich verweise hier auf die entsprechenden Arbeiten von Nadja Cohen, vor allem auf Les Poètes modernes et le cinéma (1910–1930). Paris: Classiques Garnier, 2013; sowie »Ara­ gon et les débuts du cinéma«. In: Annales de la société des amis de Louis Aragon et Elsa Triolet 8 (2006), S. 125–137.

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Feder deutscher Dichter – nur drei Fälle bekannt: George Grosz, sowie Yvan und Claire Goll. Als Maler und Mitbegründer der Berliner Dadaisten-Szene und – nach dem Ersten Weltkrieg – Erfinder und Protagonist der sogenannten ›Neuen Sachlichkeit‹ stand George Grosz dem neuen Medium sehr aufgeschlossen gegenüber. Dass sich diese Aufgeschlossenheit durchaus nicht nur auf sozia­ le Äußerlichkeiten des neuen Mediums bezieht, sondern den medialen und ästhetischen Kern der cinematographischen Mimesis betrifft, zeigt das Ge­ dicht Kaffeehaus, in dem Grosz sich auch mit formalen Besonderheiten des Films befasst: […] Ich bin wie ein Kind in tausend Lunaparks / Und wie Bandstreifen, Film / Dreht sich rot und gelb, / Und Tische verändern Farbe und Form / Und wandeln spazieren – / Zwischen den dicken Schenkeln der Frauen und weißen Blusen. / Einer kurbelt fortwährend. / Mein Tisch ist ein ova­ les Stück Marmor, / Kreise werden Eier – […] Ich bin eine Maschine, an der der Manometer entzwei ist – ! / Und alle Walzen spielen im Kreis – / Siehe: wir sind allzumal Neurastheniker!21

Grosz beschreibt hier die ungeordneten, simultanen optischen Eindrücke, die auf den (womöglich angetrunkenen…) Kaffeehausbesucher einstürmen. Der Betrachter mutiert zum Kamera-Objektiv, zum willen- und bewusstlo­ sen ›Pencil of nature‹, zur registrierenden Maschine ohne »Manometer«, also ohne Druckmessgerät. Das heißt: die äußeren Eindrücke gelangen ungefiltert und unkontrolliert ins Bewusstsein. Eine Formulierung wie »Einer kurbelt fortwährend« deutet auf die Totalität der evozierten Wirklichkeitssimulation hin. Spätestens seit Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater kennt die Literaturgeschichte die Metapher des göttlichen Maschinisten, der die Welt als Strippenzieher und Marionettenspieler beherrscht. Georges Grosz’ unermüdlicher Kameramann oder Filmprojizierer ist eine moderne Variante des bereits in Antike und Barock verbreiteten Topos des ›Theatrum mundi‹, der Welt als Illusion, Spiel und Theater. Bei Grosz geht es aber nicht nur um die große illusionistische Wirklichkeitsmaschinerie, sondern auch um den Wahrnehmungsprozess selbst. Man kann die Tätigkeit des Kurbelns näm­ lich in beide mediale Richtungen lesen und deuten: Zum einen verweist die Kurbel auf den Mechanismus des Bild-Empfängers, der analog zur Kurbelka­ mera, die bis ca. 1920 in Gebrauch war, das Bild wahrnimmt und aufzeichnet;

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Kramer / Röhnert (Hg.): Die endlose Ausdehnung von Zelluloid (wie Anm. 3), S. 31.

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zum anderen deutet die Kurbel aber auch auf den Sender, d.h. auf die Kurbel des Filmvorführers, der den Rollfilm auf Zelluloidbasis, wie man ihn seit Ende den 1880er Jahren kannte, per Hand in Bewegung setzte. Bemerkenswert an diesem Text ist aber wohl weniger das Motiv des Ma­ schinenmenschen bzw. der Topos des Welttheaters, in dem die Realität zu ei­ ner gigantischen Simulation mutiert, als vielmehr dessen erstaunliche neue Bewertung und ästhetische Umsetzung. Obwohl Grosz mit seinem Engage­ ment für soziale Fragen und als Anhänger des Kommunismus politisch und ideologisch weit von der antihumanen Maschinenschwärmerei des italieni­ schen Futurismus entfernt ist, teilt er doch Filippo Tommaso Marinettis dezi­ dierte Begrüßung der modernen Technik und dessen programmatische Forde­ rung nach einer »Parole in libertà«,22 d.h. nach einer Befreiung der Sprache aus allzu engen grammatikalischen und lexikalischen Mustern. Befreiung und Be­ schleunigung der Sprache – bis hin zu dem Versuch, Sukzessives durch Simul­ tanes zu ersetzen oder Strukturiertes durch Anarchisches – bedeuten nicht zuletzt, insbesondere im avantgardistischen Drama und in der Lyrik, eine ra­ dikale Absage an die Regeln der klassizistischen bzw. neoklassischen Poetik. Der geschärfte Wahrnehmungsmodus und die hohe Sensibilität des moder­ nen ›Neurasthenikers‹, wie sie die Ästhetik des Fin de Siècle, der Dekadenz und der Avantgarde hervorbringen, sind ein Modus der Moderne, der sich der Reizüberflutung der Großstadt willentlich ungeschützt ausliefert, weil er ihr ästhetisch und kognitiv gewachsen ist. Grosz’ Gedicht, sein fragmentarisch-assoziativer, metrisch und rhyth­ misch ungebundener Stil sowie die Montage gleichwertiger, das heißt nichthie­rarchisch strukturierter Elemente der Wahrnehmung zeigen zudem eine hohe Affinität zur Ästhetik des Stummfilms. Es ist zwar davon auszugehen, dass die genannten Charakteristika vor allem auf dem stilistischen Repertoi­ re der avantgardistischen Moderne beruhen; Fragment, Montage und Simul­

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Vgl. Marinettis gleichnamige Gedichtsammlung von 1912 sowie Passagen seines fu­ turistischen Manifests von 1909. In seinen legendären Manifesten erklärt M ­ arinetti nicht nur dem romantischen Mond den Tod (vgl. den Titel des zweiten futuristischen Mani­ fests: Uccidiamo il Chiaro di Luna!), er attackiert auch grammatikalische und literarische Formen. In seinem sogenannten Manifesto tecnico von 1912, der einzigen Schrift, in der konkrete poetischen Anweisungen zu diesem Ziel gegeben werden, nennt Marinetti eine Reihe von mehr oder weniger einleuchtenden Verfahren zur, so der Titel eines weite­ ren Manifest von 1913, Distruzione della sintassi, d.h. zur Beseitigung von in seinen Augen überflüssigen syntaktischen bzw. genauer: grammatikalischen Komponenten wie Adjekti­ ven, Adverbien oder konjugierte Verben. Die Sprache wird ›befreit‹: »Parole in libertà«.

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taneität sind ja zentrale Elemente der dadaistischen und kubistischen Col­ lage. Der positive Bezug zu Kino und Film stammt bei Grosz aber noch aus einem weiteren, politisch motivierten Kontext: Das Kino mit seinem trivialen ›Schundprogramm‹, seinen melodramatischen Stoffen aus der Welt der Arbei­ ter und Kleinbürger wird von Grosz durchaus auch als begrüßenswerte, neue proletarische Kunst wahrgenommen und ideologisch verortet. Etwas anders gelagert ist der Fall der Lyrikerin und Romanautorin C ­ laire Goll, die sich zwar nicht ganz so häufig zu Kino und Film geäußert hat wie ihr Mann Yvan, dafür aber Gedichte geschrieben hat, die im deutschsprachigen Raum zu den ersten gehören, vielleicht sogar tatsächlich die ersten sind, die sich einer film-analogen Ästhetik bedienen, genauer: diese allererst entwer­ fen. Bei der Kino-Begeisterung von Claire und Yvan Goll spielt nun – neben dem Einfluss der Berliner und Zürcher Dadaisten – ganz entscheidend auch der große Einfluss der französischen Literatur eine Rolle. Beide waren dem französischen Sprachraum schon früh eng verbunden, Yvan Goll allein schon durch seine lothringische Herkunft, Claire Studer-Goll spätestens seit ihrem Aufenthalt in der Schweiz, zunächst in Genf, später in Zürich, wo sie Yvan Goll, Hans Arp, Tristan Tzara und Hugo Ball begegnete und sich im Kreis der Pazifisten um Romain Rolland engagierte. Beide, sowohl Yvan wie auch Claire Goll, lebten sodann ab November 1919 in Paris und hatten dort intensive Kon­ takte zur französischen Literaturszene. Seit 1918 schrieb insbesondere Yvan Goll zahlreiche Beiträge für deutsche Zeitungen, in denen er der deutschen Leserschaft die neueste französische Literatur präsentierte und als Avantgar­ de-Modell empfahl. Claire Golls im Vergleich zu Yvan radikalere und konse­ quentere Ästhetik der kleinen Form und der Montage heterogener Elemente mag auch mit ihrer Tätigkeit als Journalistin für Modezeitschriften in Zusam­ menhang stehen. Das Layout dieser meist recht großzügig bemessenen For­ mate führte zu einer Präsentationsform, bei der die verschiedensten Inhalte gleichwertig nebeneinander abgedruckt wurden. Hinzu kommt ihre Faszina­ tion für den italienischen Futurismus: Auch Claire Goll ergeht sich in einer geradezu hymnischen Verklärung der technischen Moderne. Besonders deut­ lich wird dies in ihrem Gedicht Zwanzigstes Jahrhundert, das den Auftakt zu ihrem Gedicht-Band Lyrische Films von 1922 bildet. Hier ist die Anspielung an Marinettis berühmten Aufruf ›Tod dem Mondschein!‹ aus dem zweiten futu­ ristischen Manifest überdeutlich: […] Wir brauchen die neue Landschaft der Stadt, / Den Tanz der Turbi­ nen, / Den öligen Atem der Maschine. / Benzmotoren und Radium al­ lein schützen / Gegen Übelkeit vor dem Leben. / Eine Lichtreklame er­

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Sabine Haupt schüttert mehr / Als der Mond, / Ein Pianola im Vorstadtcafé / Löst tiefer meine Verzweiflung, / Als alle Nachtigallen. / Die Hochbahn berauscht mehr / Als ein gotischer Dom. […].23

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Der programmatisch ideologische Aspekt dieser manifestartigen Lyrik ist un­ verkennbar. Hier geht es um eine radikale Umpolung poetischer Wertigkeiten: Monde und Nachtigallen werden als Sinnbilder erzromantischer Gefühlstim­ mungen entmachtet und durch die Wahrzeichen der technischen Moderne ersetzt. Während Yvan Golls früher Gedichtband trotz seines Titel Films von 1914 kaum das Thema ›Kino‹ streift und schon gar keine ästhetische Annähe­ rung an das neue visuelle Medium präsentiert, geht Claire Goll in ihrer nur wenige Jahre danach entstandenen Lyrik einen entscheidenden Schritt wei­ ter. So zeigen einige Gedichte aus der erwähnten Sammlung Lyrische Films so­ wohl einen explizit thematisch-motivischen wie auch einen dezidiert ästhe­ tisch-formalen Bezug zum Kino, und das in einer Radikalität, die um 1920 im deutschen Sprachraum Ihresgleichen sucht. Ein besonders frappierendes Bei­ spiel hierfür ist ihr langes, 156 Verse umfassendes Gedicht Pathé-Woche. Hier steht das Kino, dessen Macht in anderen Gedichten der Autorin gerne auch als »kurbelnde Schicksalsgöttin«24 beschworen wird, ganz im Zentrum einer überaus rasanten Inszenierung technischer und medialer Modernität. Nicht zufällig ist das Gedicht dem französischen Kubisten und Avantgardefilmer Fernand Léger und seiner Frau Jeanne gewidmet, mit denen die Golls be­ freundet waren. Fernand Léger realisierte zwei Jahre später seinen legendären Avantgardefilm Ballet mécanique nach einer Musik des amerikanischen Kom­ ponisten George Antheil. Claire Goll nahm regen Anteil an der Entstehung dieses Werks, das heute als Meilenstein des experimentellen und intermedi­ alen Avantgardefilms gewertet wird. Léger war nicht der einzige befreundete Filmemacher, mit dessen Werken sich das Ehepaar Goll auseinandersetzte. 1918 assistierten die Golls auch dem deutsch-schwedischen Experimentalfil­ mer Viking Eggeling bei den Vorarbeiten zu dessen abstrakten Kunstfilmen.25 Von Fernand Léger gibt es einen Artikel, der 1925 übersetzt und in dem be­ rühmten, von Carl Einstein und Paul Westheim herausgegebenen Avantgarde-­

23 

Claire Goll: Lyrische Films. Gedichte von Claire Goll [1922]. Erfurt: Kraus Reprint, 1973, S. 7. Vgl. Anm. 22. 24  Ebd., S. 8. 25  Vgl. die Mémoiren von Claire Goll: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse unserer Zeit [1976]. München: Droemer Knaur, 1995.

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Almanach Europa publiziert wurde. Die darin postulierte Ästhetik ist wegwei­ send auch für die kino-affine Lyrik von Claire Goll. Es heißt dort: Der Krieg überstürzt das Entstehen einer neuen Welt – die fest, klar und genau ist. – Die Linie, die Ziffer, die Sekunde, der Millimeter, die Präzi­ sion: das sind unsere Forderungen. Es gibt keine Landschaft mehr, kein Stilleben, kein Gesicht. Es gibt das Bild, den Gegenstand, das Gegen­ stand-Bild, den Bild-Gegenstand, den nützlich, unnützen, schönen Ge­ genstand. […] Ist dieses moderne Sehen Voraussetzung, so organisiert sich alles, das plastische Leben wird eine Wirklichkeit, ohne pittoreske Romantik, – schön. Alles ist gleich, ruhig, voller Rhythmus.26

Im selben Almanach findet sich ein zweiter Artikel von Fernand Léger, in dem dieser die Drehbücher seiner Kollegen abschätzig als ›Filmromane‹ be­ titelt und den – meistens aus der Literatur kommenden – Drehbuchautoren vorwirft, die spezifischen Gesetze und ästhetischen Möglichkeiten des neu­ en visuellen Mediums zu verkennen. Sein Hauptvorwurf an die zeitgenös­ sische Filmproduktion ist das in seinen Augen unsinnige Primat von Hand­ lung und Geschichte: »Sie bringen das wunderbare ›bewegte Bild‹ einer mehr oder minder belanglosen Geschichte zum Opfer, die jedenfalls besser in ei­ nem Buche am Platz wäre. […] Just da, wo die phantastischen Möglichkeiten bildhafter Lyrik gegeben sind, adoptieren und verfilmen sie ›im Handumdre­ hen‹ berühmte Romane.«27 Genau diese ästhetischen Prinzipien einer Kunst, die sich dem »neue[n], objektivierte[n] und realistische[n] Leben«28 verschreibt, insbesondere mit ihren Grundsätzen der »Dingschönheit«29 und der Enthierarchisierung der Wahrnehmung, getreu Légers Devise: »alles ist gleich«,30 finden sich auch in Claire Golls Langgedicht Pathé-Woche, einem Ensemble von 156 fortlaufen­ den, reim- und strophenlosen, ›freien‹ Versen, die auch inhaltlich einer raumund zeitlosen, äußerst sprunghaften Assoziationskette folgen. Stellenweise könnte man – mit Umberto Eco – bei Golls Gedicht von einer Ästhetik der Liste, einer »Rhetorik der Aufzählung«31 oder mit dem Pariser Filmhistoriker

26 

Fernand Léger: »Sehr aktuell sein«. In: Carl Einstein u. Paul Westheim (Hg.): Europa Almanach 1925. Reprint. Leipzig: Kiepenheuer, 1993, S. 13–16, hier: S. 13. 27  Ders.: »Conférence über die Schau-Bühne«. In: Ebd., S. 119–132, hier: S. 127. 28  Ebd., S. 14. 29  Ebd., S. 130. 30 Ebd. 31  Umberto Eco: Die unendliche Liste. München: Hanser, 2009, S. 132ff.

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Francis Ramirez von einer »esthétique du cortège« oder des »défilé«32 spre­ chen. Subjektlose Wahrnehmungsfragmente, rasch aufeinander folgende vi­ suelle und auditive Eindrücke, Zitatmontagen, elliptische Hauptsätze, iso­ lierte Substantive, Appelle, Interjektionen, Auslassungszeichen in der Mitte des Verses, Enjambements, wechselnde Perspektiven und Sprecherinstan­ zen, mehrdeutige bis unklare zeitliche und räumliche Verhältnisse, schlagar­ tig wechselnde Schauplätze und Situationen und ähnlich Heterogenes mehr imitieren den »atemlosen Rhythmus«, den die Autorin in einer Glosse von 1920 auch dem »wahren Film«,33 nämlich dem von ihr so bewunderten ame­ rikanischen Kino, bescheinigt. Titel und Widmung machen ganz explizit, dass es sich hier um den dezi­ dierten Versuch handelt, ästhetische Merkmale des Mediums ›Film‹ in die Ly­ rik zu übertragen. Cinematographische Kategorien wie: Bewegung, Montage, Tempo, bzw. schneller oder langsamer Rhythmus bei der Abfolge der Einstel­ lungen und Einstellungsgrößen, also beim Wechsel von ›close-ups‹ (bzw. Nahund Großaufnahmen) und ›long shots‹ (bzw. totalen und halbtotalen Einstel­ lungen) werden hier auf die Sprache, genauer: auf semantisch-metaphorische sowie rhythmisch-syntaktische Elemente übertragen. Aufgrund ihrer besonderen formalen Offenheit eignet sich gerade die mo­ derne Lyrik – noch mehr als Prosa und Drama – für einen solchen Transfer. Ihre nicht-narrativen, nicht-linearen und durch zahlreiche ›experimentelle‹ Transgressionen seit dem Spätsymbolismus ohnehin schon weitgehend auf­ gelösten Strukturmuster machen aus der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts die ideale Gattung für intermediale Anverwandlungen. Die für die avantgar­ distischen Strömungen typischen poetologisch-ideologischen Prinzipien, wie 1. ›Materialität‹ statt ›Wesen‹ und ›Substanz‹, 2. Außenperspektive und ›Ob­ jektivität‹ statt Psychologie, ›Einfühlung‹, Introspektion oder Subjektivität, 3. Sprachexperiment und freier Vers statt feste Metrik und Strophenform, so­ wie 4. Fragment, Montage und Dissoziation statt Kohärenz und Chronolo­ gie, beanspruchen von Anbeginn, also bereits im Dadaismus und Futurismus, intermediale Gültigkeit; sie gelten für die Literatur genauso wie für Musik, Kunst oder Tanz. Die Anwendung dieses intermedialen Fokus’ auf das neue Medium Film in der experimentellen Lyrik von George Grosz und C ­ laire Goll 32 

Francis Ramirez: »Apollinaire et le désir de cinéma«. In: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 47/1 (1995), S. 371–389, hier: S. 377. 33  Claire Goll: »Amerikanisches Kino« [1920]. In: Kaes (Hg.): Kino-Debatte (wie Anm. 11), S. 146–148, hier: S. 146.

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ist also nur die konsequente Umsetzung einer zeitgenössisch avantgardisti­ schen Ästhetik. Dabei ›instrumentalisiert‹ Claire Goll die Analogie zum Medium Kino bzw. Film, um eine neue lyrische Sprache zu entwickeln. Denn in dem »Filmge­ dicht« von Claire Goll, um die Terminologie von Jan Röhnert34 zu verwen­ den, geht es nicht nur um eine möglichst exakte Wiedergabe des Kino-Erleb­ nisses, sondern auch um eine Radikalisierung des poetischen Ausdrucks und seines formalen Repertoires. Inhalt und Form stehen – im Gegensatz etwa zu dem zitierten Kino-Sonett von Sebastian Scharnagl – in klarer funktiona­ ler Entsprechung. Claire Golls Gedicht Pathé-Woche wäre also zum einen als Filmgedicht par excellence zu werten, das heißt als ein Gedicht, das auch in der Form so na­ turalistisch-mimetisch wie möglich den Stationen einer typischen Wochen­ schau der 1920er Jahre folgt: In schnellen Schnitten und gerafften Szenen geht die Reise von Sizilien nach Ägypten, von dort an die großen afrikani­ schen Seen und wieder zurück nach Spanien, dann weiter in die Türkei, nach Chikago, New York, Honolulu und Los Angeles, zuletzt nach Asien und an die norwegischen Fjorde. Totale Einstellungen wechseln in harten Schnitten mit Großaufnahmen. Syntaktische Parallelismen sorgen für Tempo. Präsidenten, Stierkämpfer, amerikanische und japanische Filmstars tauchen unvermittelt auf und werden schon nach wenigen Stichwörtern von neuen, sensationellen Fragmenten abgelöst. Alle Bilder und Sequenzen, ob Impressionen aus der Wüste, der Opiumhöhle oder der Stierkampf-Arena, Bilder der Weltausstel­ lung, Zirkusdarbietungen oder Brandkatastrophen und Kriegsszenen, stehen ungeordnet und gleichwertig nebeneinander, es gibt weder eine ersichtliche Dramaturgie noch irgendwelche Schwerpunkte, Gegensätze werden eingeeb­ net, alle Phänomene erscheinen als Bestandteile eines einzigen, ebenso gi­ gantischen wie chaotischen Schauspiels. Das einzige erkennbare Prinzip der parataktisch elliptischen Abfolge ist die Geschwindigkeit, die durch das leit­ motivische »Weiter, weiter!« unterstrichen und zusätzlich beschleunigt wird. Doch das evozierte Kinoerlebnis beschränkt sich nicht auf das Geschehen auf der Leinwand: Zwischen den einzelnen Reise-Szenen werden die Leser immer

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»Filmgedichte« seien, so Röhnert in seiner Typologie, Gedichte, »die nicht nur den Film auf der Inhaltsebene anhand von Kinotiteln, Stars usw. thematisieren, sondern die auch formal filmadäquivalente oder -analoge Strukturen erkennen lassen.« Jan Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Cendrars, Ashbery, Brinkmann. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 68.

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wieder aus dem Bilderfluss herausgerissen und durch Parenthesen in die Ge­ genwart eines Kinosaals versetzt: sie nehmen die anderen Zuschauer wahr, folgen, als wären sie selbst im Modus des Betrachtens, den abschweifenden Gedanken des lyrischen Ichs oder konsumieren in der Pause Süßigkeiten. Was hier jedoch neben dieser bemerkenswert naturalistischen Wiederga­ be eines Kinobesuchs zudem entsteht, ist ein im deutschen Sprachraum noch ungewöhnlicher lyrischer Ton, dessen Besonderheit in der Verbindung von ex­ perimentell sprachspielerischen Formen à la Hugo Ball oder Kurt Schwitters mit einem neusachlichen, dezidiert realistischen Setting besteht, die über zeit­ genössische Innovationen wie den expressionistischen Reihungs- oder Simul­ tanstil hinaus geht. Womöglich ließe sich dieser Text mit dem Versuch verglei­ chen, flüchtige Gedanken und visuelle Eindrücke in einem stichwortartigen Verlaufsprotokoll zu stenografieren. Das rasante Tempo der Bilderfolge und der dadurch entstehende Eindruck einer Simultaneität des Dargestellten be­ wirken einen Eindruck von Totalität, welche aber – anders als im symbolisti­ schen und neuromantischen Kontext – nicht als synästhetische Evokation, als fließender Übergang oder Metamorphose erscheint, sondern als harte, kon­trastive, unvermittelte und ungeordnete Gleichheit aller Realitätsebenen. Im Kinospektakel bzw. in der sprachlich simulierten Wochenschau wird Un­ gleiches gleich gemacht, ›Wesen‹ und ›Substanz‹ getilgt und auf eine einzige (faszinierende …) Oberfläche reduziert. Auch die simulierte Welt des Kinos und die reale des Kinosaals werden dabei in direkter sprachlicher Montage als gleichzeitige und gleichwertige erfahrbar, lediglich die Klammern um die Einschübe aus dem Kinosaal verweisen noch auf eine ontologische Differenz. Pathé-Woche Jeanne und Fernand Léger in Freundschaft In Sizilien eine ganze Stadt Hängt wie ein Balkon ins Meer. Sonne, gelber Dolch der Eifersucht, Apachen zeichnen die Gesichter der Liebesmädchen, Sirokko bellt, Wüste im Maul, Aegypten ist gestorben, Die Tempel der Sonnengottheit geplündert, Nur die Säulen drohen noch, Rasend drehen sie sich um sich selbst. Wieder schäumt Sirokko durchs Kino: In Afrika, An den ›Großen Seen‹ stampfen die Wilden Zur mbi’la, Klapper und Bambuspfeife

Vom Kinogedicht zur Filmlyrik Im schwarzen Burnus der Trauer Um ihren Toten. Muscheln und Schneckenschalen klirren, Die Nägelschere rasselt, Bronzen stehen die Leiber im Zenith. Kleine Schwarze säugen an Kamelstuten, Zwergpapageien kreischen bunt . . . (Hinter mir flüstert ein Mädchen: »Entflieh mit mir nach Afrika!«) In Spanien Sonne, roter Granatapfel. Hinter dem Gebüsch der Fächer Glühen die Frauen Für El Gallito. El Gallito, der große Matador Hat sich für eine Million verpflichtet, Im Film zu sterben, Heiß brennt sein Purpur: Hut, Toreador, mehr Blut! (Unten im Orchester kreischt Carmen auf.) (Kleine Ladenmädchen weinen, El Gallito starb.) Und nun ist man in der Türkei, Rasende Derwische tanten… Einmal: Kind… Panoptikum, Sah ich einen Derwisch; Ich trug ein Waschkleid, Meine roten Locken… Sind Flammen geworden. Es brennt, es brennt in Chicago, Riesenbrand in New york [sic]; Aus dem 29. Stockwerk des Liberty Tower Springen die Tippmamsells. (Das Publikum hält begeistert den Atem an) Honolulu: Grüne violette Aeroplane, Luftspiele Ueber der Weltausstellung. Ein tätowierter Neger tanzt Shimmy Von einem Propeller zum andern. (Neben mir träumt eine, Filmstar zu werden. Hinter mir küssen sich zwei, Sehnsucht arbeitet mit 3000 Volt) Weiter, weiter! Berlin – Potsdamerplatz. Potsdamerplatz . . . (Rendez-vous mit dem ersten Geliebten:

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Sabine Haupt Immer noch riech ich sein Bouquet, Höre seine Stimme durchs Telefon. Und dann am Anhalter Bahnhof Nach seiner Abfahrt Man weint im Waschraum – Erster Strauß und erster Geliebter welken nie.) Während das Orchester Phi-Phi35 spielt, Streut Karneval eine Million Rosen Ueber Kaliforniens Hauptstadt, Schießt einer Granaten in den Mond, Springt Douglas Fairbanks, der Kinoheld, Springt Doug, der Jaguar von Los Angeles, Mit dem Pferd aus dem Expreß, Klettert eine Kirche hinauf, Springt von den Gipfeln der Wolkenkratzer Drei Männern ins Genick . . . (Alle Frauen im Zuschauerraum Wollen ihm gehören) Und in jedem Kino ruhlos wandelt Der Schatten des Präsidenten über die Leinwand. Liebesdrama in fünf Akten: In Tokio das letzte lebende Liebespaar, Sessue Hayakawa Wickle in deinen Lotoskimono Die Blume Tsuru. Blautaft ihr Haar, Die Augenbrauen aus Tusche, Und darunter zwei schräge schwarze Blitze. Teemädchen Tsuru, du weißt nur die Liebe, Groß ist die Frau, die nichts weiß Von der Erde als Liebe! Pfauen und Kirschbäume wandeln Hinter euch her, Elfenbeintempel öffnen sich: Tanz der weißen Elefanten Im fünften Akt. Buddha lächelt über ihr Glück, Buddha lächelt über das Leid, Wenn die kleinen Chinesenmänner Seit tausend Jahren auf den Beinen sitzen Und sticken und sticken und sticken: Bunte Gärten für fremde Frauen, Und zur Nacht Opium, Opium, Vergessen dies vorletzte Dasein! Unter Bäumen, an denen Nachtigallen wachsen,

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Phi-Phi ist eine 1918 uraufgeführte französische Operette.

Vom Kinogedicht zur Filmlyrik Macht Li-Hung Hara-Kiri. Aber fünf Minuten später sind wir in Norwegen. Fjorde wachsen um die Weltarena, Die Menschen sind alle blond vor Erwartung; Denn um zwölf am Sterntrapez Die Brüder Fratelli im Zirkus Meridiano. Hauptattraktion: Gott erscheint als Clown. Der Tank Nummer 220 fährt Durch die Krater des Mars. Meg springt mit dem Pferd Vom Nordpol zum Südpol Durch den glühenden Aequatorreifen. Die Prairieponies äugen erstaunt, Die Rennen in Grunewald stehen still. Aus allen Wiesen wächst Reklame: Kriegsfestspiele! Rote Fahnen, rotes Wigwam, Indianerspiele der großen Knaben. Die Kostüme sind von der Firma Krupp. In den Black Hills am teufelssee brennt die Siouxstadt. Im Turban aus Otternhaut Tanzt der Dakotahäuptling den Kriegstanz: ›Kwa ha hi-a Kwa nu Kwa nu de ne ho Kwa nu de Kwa nu de he no.‹ Er hat die Sonne rot auf die Stirn gemalt All seine Pferde tragen eingebrannt Den Abendstern. Adlerknochen und Bärenklauen rasseln, Die Mondmutter scheint Auf die Rocky Mountains, Ohio: Ein Neger wird gelyncht! Berlin: Ein Dichter wird gelyncht! Abenteuerfilm In 10 Episoden: 1. Die verpfändete Leiche Fünf Minuten Pause mit Selters und Zuckerstangen

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Dann: ›Charlot-Marquis‹36 Ueber zwanzig Kilometer Leinwand Im steifen Hut und Engelsflügeln Wandelt St. Charlot, Der Geliebte der Welt Und bringt ihr das Lachen, Das internationale, Das erlösende Lachen Im Kino In fünf Kontinenten zugleich Ist meine Heimat.

Die letzten Verse bringen das Dargestellte auf den Punkt: Golls Gedicht ist kei­ ne Kintopp-Schelte, ganz im Gegenteil: Das Kino erfährt hier geradezu mes­ sianistische Weihen, die aus heutiger Sicht womöglich verständlicher werden, wenn man sich daran erinnert, dass dieser Enthusiasmus – analog zum futu­ ristisch-neusachlichen Technikkult – im Kontext einer ›entzauberten‹37 Mo­ derne, gewissermaßen zur Ersatzreligion wird. Bemerkenswert an Golls Ki­ no-Gedicht ist also, neben der stilistischen Radikalität, die – im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Gedichten der Zeit – atypische Abwesenheit kul­ turpessimistischer Klagen über eine im Kino stattfindende Entwertung der Wirklichkeit. Goll sieht die mediale Zerstreuung des Unmittelbaren und Par­ tikularen durchaus, analysiert und ironisiert auch die Entwirklichung der Bil­ der im Zeichen einer aufkommenden »Société du spectacle«, um das medi­ enkritische Diktum von Guy Debord zu gebrauchen. Doch im Gegensatz zu Autoren wie Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal ratifiziert Claire Goll diese Entwicklung ganz ausdrücklich, ähnlich wie ein Jahrzehnt später (wenn auch aus anderen Gründen…) Bertolt Brecht. Das in ihrem Gedicht nicht nur intentionale, sondern regelrecht inszenier­ te Fehlen ästhetischer oder gedanklicher Brücken zwischen den einzelnen Ele­ menten, das erwähnte unverbundene, geradezu beliebige Nebeneinander von Schauplätzen und Begebenheiten, denen kein analytischer Blick, kein analy­

36  Gemeint ist die amerikanische Stummfilmkomödie Cruel, Cruel Love aus dem Jahr 1914 von George Nichols mit Charlie Chaplin. 37  In seinem berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf (1917) beklagt Max Weber die allgemeine Bereitschaft zu einer Form von modernem, ideologischem Götzendienst, der – so Weber – eine Konsequenz der Entzauberung durch Aufklärung und Säkularisierung ist.

Vom Kinogedicht zur Filmlyrik

tisches Denken begegnet, sondern allenfalls einige sarkastische Bemerkun­ gen der Pazifistin Claire Goll über die Kriegsspiele der Männer, mündet am Ende jedoch in eine Art Sinnbild oder ›Denkbild‹ im Sinne Walter Benjamins. Im Bild des lachenden Charlie Chaplin, der ersten Ikone der Filmgeschichte, erfüllt das Kino, nachdem es zuvor die Absurditäten des Welttheaters aufge­ listet hat, nun seine andere, »erlösende« Funktion. Wenn es nun aber in den Gedichten von George Grosz und Claire Goll nicht nur um eine mimetisch adäquate Beschreibung des Kinoerlebnisses geht, sondern auch – und vermutlich: vor allem! – um literarische Innovatio­ nen, um einen neuen lyrischen Positivismus, eine Lyrik der Dinge und Phä­ nomene, bei der die Kinoerfahrung gewissermaßen als Auslöser fungiert, als Trigger der ästhetischen Grenzüberschreitung, dann muss es zuvor schon, d.h. im historischen Vorfeld der konkreten Kinoerfahrung, rein literarische Ent­ wicklungen gegeben haben, die gewissermaßen das Terrain bereiteten für die ästhetische Anverwandlung des cinematographischen Schocks. Harro Segeberg und eine Reihe anderer Medienwissenschaftler haben des Öfteren auf die quasi proto-cinematographischen Erzählweisen des realisti­ schen und naturalistischen Romans hingewiesen.38 Auch im französischen Sprachraum zirkulieren ähnliche Analysen und Hypothesen, man denke bei­ spielsweise an Jacques Rancières Konzept des »cinématographisme littérai­ re«,39 das er unter anderem in seinem Essay Mouchette et les paradoxes de la langue des images entwickelt: Le cinéma ne vient pas contre le théâtre, il vient après la littérature. Cela ne veut pas simplement dire qu’il porte à l’écran des histoires tirées des livres, mais qu’il vient après la révolution littéraire, après le bouleverse­ ment des rapports entrer signifier et montrer qui, sous le nom de littéra­ ture, est arrivé à l’art de raconter des histoires. […] Elle [la littérature] a inventé elle-même un certain cinématographisme.40

Rancière geht also soweit, das Kino als mediale Fortsetzung einer genuin lite­ raturgeschichtlichen Entwicklung zu betrachten. Das cinematographisch neu­ trale bzw. subjektlose ›Zeigen‹ (›montrer‹) sei bereits in diversen literarischen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorgeprägt gewesen. ­R ancière benennt drei literarische Stilmittel dieser proto-cinématographischen Revo­

38 

Vgl. Anmerkung 16. Jacques Rancière: Les écarts du cinéma. Paris: La fabrique éditions, 2011, S. 54. 40  Ebd, S. 49f. 39 

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lution. Zum einen nennt er die stumme, unkommentierte Präsenz der Dinge, die Abwesenheit klarer denotativer und semantischer Bezüge, ein Befund, der sich ideengeschichtlich mit dem schon in der Lyrik des Fin de Siècle zentralen Sprach- bzw. Repräsentationszweifel41 in Zusammenhang bringen lässt. Ein zweites, von Rancière genanntes Merkmal dieses proto-cinematographischen ›Zeigens‹ wäre die prinzipielle phänomenologische Gleichheit aller dargestell­ ten Dinge, ihre absolute Äußerlichkeit, ein drittes die neuen narrativen Ver­ fahren zur Sequenzierung der Zeit. Rancière zufolge erscheinen sowohl Er­ zählzeit wie erzählte Zeit in avancierten Texten des 19. Jahrhunderts nicht mehr als mehr oder weniger lineares, bisweilen gerafftes oder gedehntes Kon­ tinuum, sondern als Montage aus anachronistischen Sprüngen und diskon­ tinuierlichen Schnitten. Darstellung und Geschehen werden in Sequenzen zerlegt und montiert. Rancière rekurriert dabei auf Friedrich Schlegels Frag­ menttheorie, was m. E. als erstaunlich entlegene Referenz anmutet, wenn man als Franzose auch Mallarmé oder Rimbaud als näherliegende Modelle hätte zi­ tieren können. Doch vermutlich hat auch Rancière bei seiner These einer pro­ to-cinematographischen Schreibweise – analog zu den genannten deutschen Medientheoretikern – eher die Prosa als die Lyrik im Auge. Dass es sich lohnt, bei Phänomenen der Intermedialität gerade auch die Lyrik zu konsultieren, zeigt sich, sobald man sich mit experimentellen Tex­ ten der Zeit befasst und dabei auch die komparatistische Perspektive wählt. Die Auseinandersetzung mit Kino und Film erfolgte bei Yvan und Claire Goll nämlich, wie gesagt, in enger Verbindung mit der französischen Literatur, ins­ besondere der Pariser Avantgarde. Beide lesen und verehren die Gedichte von Pierre Albert-Birot und Apollinaire, dessen zweite große Gedichtsammlung Calligrammes von 1918 zahlreiche Gedichte enthält, in denen kinematographi­ sche Schreibweisen erprobt werden, etwa, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, wenn in Les Fenêtres das Geschehen mit einem simplen »­voilà« vergegenwärtigt und in die unmittelbare visuelle Imagination des Lesers be­ fördet wird: »[…] Tu soulèveras le rideau / Et maintenant voilà que s’ouvre la fenêtre […]«.42 Dieses »maintenant, voilà« fungiert hier wie ein temporaler Schalter: Das Geschehen wird augenblicklich präsent, real und lebendig. Auch teilen die Golls Apollinaires poetisches Programm, das dieser im N ­ ovember 41 

Vgl. hierzu den ideengeschichtlichen Überblick in: Haupt / Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle (wie Anm. 13), bes. S. 138f. 42  Guillaume Apollinaire: Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916). ­Paris: Flammarion, 2013, S. 54.

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1917 in seinem legendären Vortrag L’Esprit nouveau et les poètes erläutert hat­ te, ein Programm, in dem das Kino als höchste aller künstlerischen Synthe­ sen gefeiert wird.43 Doch die Golls verehren nicht nur die Pariser Avantgarde,44 sie kennen auch die Lyrik des Spätsymbolismus, insbesondere die neuartigen Prosa-Ge­ dichte Arthur Rimbauds und Stéphane Mallarmés. In seiner Monographie L’avant-garde au cinéma hat der Schweizer Filmhistoriker François Albéra die­ ses Phänomen der komplexen Wechselwirkung zwischen Literatur und Film bzw. zwischen Literaten und Filmemachern um 1900 unter dem Stichwort: »l’épistème du cinéma« verortet und analysiert. Das Kino sei, Albéra zufolge, gewissermaßen die mediale Konkretisierung bzw. der idealtypische Ausdruck eines neuen, allgemeinen ästhetischen Paradigmas: »[…] ce nouveau para­ digme de pensée et de représentation qui innerve tout l’espace de la commu­ nication et de l’expression et dont le cinématographe n’est point le tout mais la concrétisation la plus achevée, qui l’éclaire de ce fait mieux que quiconque.«45 Wie diese mediale und ästhetische »wechselseitige Erhellung der Künste« im Einzelfall um 1900 funktionierte, in welchem Maße sich Autorinnen und Autoren vom frühen Kino oder gewissen proto-cinematographischen Tech­ niken oder Erfahrungen (wie etwa der neuartige Blick aus dem Zugfenster, bei dem die vorbeiziehende Landschaft wie eine Art Film erscheint…) inspi­ rieren ließen oder dieses – beispielsweise in den im 19. Jahrhundert beson­

43 

Vgl. auch folgende Äußerungen Apollinaires in einem Interview mit der Avantgar­ disten-Zeitschrift SIC vom August/September/Oktober 1916: »mais il est aujourd’hui un art d’où peut naître une sorte de sentiment épique par l’amour du lyrisme du poète et la vérité dramatique des situations, c’est le cinématographe. L’épopée véritable étant cel­ le que l’on récitait au peuple et rien n’est plus près du peuple que le cinéma […] Le poè­ te épique s’exprimera au moyen du cinéma, et dans une belle épopée où se rejoindront tous les arts, le musicien jouera aussi son rôle pour accompagner les phrases lyriques du récitant.« (Apollinaire: »Les Tendances nouvelles. Interview«. In: Œuvres en prose com­ plètes. Hg. v. Pierre Caizergues u. Michel Décaudin. Bd. 2. Paris: Gallimard, Pléiade, 1991, S. 986. Vgl. auch einen Artikel von Wladimir Majakowski und Dziga Vertov vom ­Januar 1918. Dort heißt es, die Kraft des Kino sei »formidable puisqu’il renverse toutes les lois naturelles. Il ignore l’espace, le temps, bouleverse la pesanteur, la balistique, la biologie, etc. Son œil est plus patient, plus perçant, plus précis. Il appartient alors au créateur, au poète de se servir de cette puissance et de cette richesse jusqu’alors négligées, car un nou­ veau serviteur est à la disposition de son imagination.« (SIC, Nr. 25, Jan. 1918, zit. nach François Albéra: L’Avant-garde au cinéma. Paris: Armand Colin, 2005, S. 62). 44  Vgl. meine Skizze zur internationalen Pariser Avantgarde-Szene um 1900 in: Haupt/ Würffel (Hg.): Fin de Siècle-Handbuch (wie Anm. 13), S. 159–163. 45 Albéra: L’Avant-garde au cinéma (wie Anm. 43), S. 48.

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ders zahlreichen Erzählungen über die (phantastische) Verlebendigung des statischen Bildes46 – imaginär antizipierten, kann hier nicht geklärt werden. Höchstwahrscheinlich ist beides zutreffend. Francis Ramirez spricht in die­ sem Zusammenhang »convergence«,47 Nadja Cohen von »confluence«.48 – Wie auch immer man das komplexe, intermediale Phänomen bezeichnen mag, un­ bestritten ist gewiss seine bipolare Kausalität. Besonders frappierend sind in diesem Zusammenhang gewisse Texte ­Arthur Rimbauds aus den 1870er Jahren, die also gut zwei Jahrzehnte vor der eigentlichen Erfindung des Kinos durch die Brüder Lumière im Jahr 1895 entstanden, aus denen ich zum Abschluss meiner Überlegungen noch zwei Passagen vorstellen möchte. Es handelt sich dabei um Prosagedichte seiner Sammlung Les Illuminations aus den Jahren 1872 bis 1875, die auch als Beispie­ le für jene von Rancière erwähnte proto-cinematographische Revolution ge­ lesen werden können. Angesichts des Titels könnte man sogar darüber spekulieren, inwieweit Rimbauds ›Erleuchtungen‹ im Kontext einer ›Kino-Episteme‹ womöglich nicht nur im Sinne eines geniehaft-spirituellen Gedankenblitzes, sondern durchaus auch als Anspielung an gewisse proto-cinematographische Techniken zu ver­ stehen sind. Immerhin wurde die Chronofotografie bereits im Jahr 1872 er­ funden.49 Als aufmerksamer Zeitgenosse ahnte Rimbaud womöglich, dass die Bilder tatsächlich demnächst das Laufen lernen würden und welch zen­trale, sowohl technische wie auch ästhetische und symbolische Rolle das Licht da­ bei spielen würde.50 Der erste Auszug stammt aus dem Gedicht: Promontoire, zu deutsch: ›Fels­ vorsprung‹, von dem aus man einen panorama-artigen Ausblick auf die Land­ schaft hat – auch hier, wie in dem Film-Gedicht von Claire Goll, in Form rasch vorüberziehender, also sprachlich defilierender Bilder:

46 

Vgl. Haupt: »Pygmalions Erben« (wie Anm. 7).

47 Ramirez: Apollinaire et le désir de cinéma (wie Anm. 32), S. 379. 48 Cohen: Les Poètes modernes et le cinéma (1910–1930) (wie Anm. 20), S. 399. 49 

Vgl. die Serienfotografien eines galoppierenden Pferdes von Eadweard Muybridge aus dem Jahr 1872. 50  In seiner Monographie über die filmgeschichtliche Bedeutung des Lichts, L’attrait de la lumière, betont Jacques Aumont die lange ideengeschichtliche »coagulation métaphy­ sique, en Occident, autour de la métaphore de la lumière solaire comme lumière divine, à laquelle le cinéma n’a pas échappé.« (Jacques Aumont: L’attrait de la lumière. Crisnée: Édi­ tions Yellow Now, 2010, S. 24f.)

Vom Kinogedicht zur Filmlyrik […] d’immenses vues de la défense des côtes modernes ; des dunes illus­ trées de chaudes fleurs et de bacchanales ; de grands canaux de Carthage et des Embankments d’une Venise louche, de molles éruptions d’Etnas et des crevasses de fleurs et d’eaux des glaciers, des lavoirs entourés de peupliers d’Allemagne ; des talus de parcs singuliers penchant des têtes d’Arbre du Japon, et les façades circulaires des « Royal » ou du « Grand » de Scarbro’ ou de Brooklyn ; et les railways flanquent , creusent, sur­ plombent les dispositions dans cet Hôtel, choisies dans l’histoire des plus élégantes et des plus colossales constructions de l’Italie, de l’Amérique et de l’Asie […]51

Was von diesem Felsvorsprung aus zu sehen ist, ist eine Mischung aus Sicht­ barem und Unsichtbarem, aus Wahrnehmungen, Erinnerungen und Phanta­ sien, die aufgezählt und – analog zu Golls Pathé-Woche – bar jeder historischen oder deiktischen Struktur als gleichwertige Phänomene präsentiert werden. Ein weiteres m. E. noch erstaunlicheres Beispiel, mit dem ich meine Aus­ führungen schließe, sind die halb erinnerten, halb geträumten Sequenzen des Prosagedichts Enfance, aus dessen zweitem Teil ich eine Passage zitiere, die sich – in ihrer parataktisch impressionistischen Linearität – einerseits liest wie ein Traumprotokoll des späten 19. Jahrhunderts,52 andererseits aber be­ reits Schreibweisen antizipiert, wie wir sie typischerweise aus der Prosa der Filmdichterin Marguerite Duras kennen: […] C’est elle, la petite morte, derrière les rosiers — La jeune maman tré­ passée descend le perron — La calèche du cousin crie sur le sable — Le petit frère — (il est aux Indes !) — là, devant le couchant, sur le pré d’œil­ lets — les vieux qu’on a enterrés tout droits dans le rempart aux giroflées. L’essaim des feuilles d’or entoure la maison du général. Ils sont dans le midi — On suit la route rouge pour arriver à l’auberge vide. Le château est à vendre ; les persiennes sont détachées. — Le curé aura emporté le clef de l’église. — Autour du parc, les loges des gardes son inhabitées… Les palissades sont si hautes qu’on ne voit que les cimes bruissantes. D’ail­ leurs il n’y a rien à voir là dedans. […]53

51  Arthur Rimbaud: Une Saison en enfer. Illuminations et autres textes (1873–1875). Paris: Les Classique de Poche, 1998, S. 140. 52  Vgl. unter anderen Alfred Maurys 1861 erstmals erschienene Studie Le sommeil et les rêves, für die er eigene und fremde Traumtagebücher und Traumprotokolle verwendete. 53 Rimbaud: Une Saison en enfer (wie Anm. 51), S. 92f.

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Le flip-book poétique ou l’écriture sous influence de Jérôme Game 1 Introduction : poésie et cinéma Les récits littéraires d’expériences spectatorielles sont presque aussi vieux que le cinéma lui-même. Par leur faculté d’évocation, de révélation et de cristalli­ sation d’autres souvenirs et fantasmes, les récits de films sont notamment un élément récurrent dans les autobiographies du XXe siècle (parfois sous forme traumatique comme lorsque Nathalie Sarraute évoque sa terreur enfantine à la vue des gants de peau humaine fabriqués et utilisés par Fantômas pour ser­ vir ses noirs desseins). Le siècle passé ayant vu le cinéma supplanter en grande partie la littéra­ ture dans la culture commune1, ces souvenirs spectatoriels foisonnent a fortiori dans la littérature contemporaine, où le cinéma constitue un véritable répertoire d’images et de situations narratives, peut-être comme dernier re­

1  Comme l’explique Fabien Gris : « Désormais, dans la fabrique littéraire contempo­ raine […] la littérature et le cinéma sont deux facettes d’un même imaginaire, mises en parallèle. L’écrivain se représente le monde par le biais de filtres non seulement litté­ raires, mais également cinématographiques », dans sa thèse de doctorat : Images et imaginaires cinématographiques dans le récit français (de la fin des années 1970 à nos jours), Univer­ sité Jean Monnet-Saint-Etienne, 2012, p.11. En ligne : https://halshs.archives-ouvertes.fr/ tel-00940135/document.

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fuge du romanesque2, constituant ce que nous pourrions nommer à la suite de Jacques Migozzi « une mythologie actualisée et laïcisée  ». 3 Dans les fictions ou autofictions contemporaines, le souvenir de cinéma peut à la fois et selon les cas assumer une triple fonction : celle d’être un mar­ queur générationnel, comme on le voit par exemple chez Annie Ernaux dans Les Années où une notation du type « on va voir À bout de souffle » suffit à dé­ peindre un état d’esprit. Le souvenir de cinéma peut encore être une com­ posante de l’intime, les grandes fictions populaires jouant un rôle quasi-psy­ chanalytique4 dans une œuvre comme Le Cinéma des familles de Pierre Alferi. Enfin, le souvenir de cinéma peut porter la trace et devenir l’expression d’une cinéphilie maniaque et ludique, comme chez Tanguy Viel, dont le roman Cinéma présente un narrateur compulsif qui juge le monde autour de lui à l’aune de son film fétiche, revisionné à l’envi, Sleuth de Joseph L. Mankiewicz. Les formes littéraires narratives présentant d’évidentes affinités avec le ci­ néma (qui est lui-même, dans son immense majorité, un art narratif), la ques­ tion du souvenir de cinéma y est couramment étudiée. De telles synthèses sont plus rares s’agissant de la poésie5. Il nous semble voir à cela une double raison. Tout d’abord, on associe plus spontanément cette dernière à la pein­ ture. La poésie, en vertu de sa nature visuelle, rejoindrait en effet la peinture, du côté des arts de l’espace, quand le cinéma, entendu comme art narratif et comme flux d’images, serait du côté des arts du temps. Cette bipartition ne saurait toutefois être retenue. D’une part, parce que précisément le cinéma brouille cette distinction, participant à la fois des arts de l’espace et de ceux du temps. D’autre part, parce que la poésie s’inscrit également dans la durée et qu’elle possède une composante narrative, même si le modèle mallarméen, érigé en vulgate critique par Roman Jakobson, tend à l’occulter. Outre cette supposée incompatibilité ontologique entre la poésie et le ré­ cit filmique, c’est aussi leur statut respectif qui a pu sembler les opposer : la poésie ayant été placée au sommet de la hiérarchie des genres, comment s’ac­ 2 

À ce sujet, voir par exemple Le Roman français aujourd’hui. Transformations, perceptions, mythologies, dir. par Bruno Blanckeman et Jean-Christophe Millois, Paris, Prétexte édi­ teur, 2004. 3  Jacques Migozzi, Boulevards du populaire, Presses universitaires de Limoges, 2005, p. 18. 4  Voir Thierry Kuntzel, « Le travail du film 2 », in : Communications, n° 23 : « Psychanaly­ se et cinema », 1975, p. 136–189. 5  Voir tout de même Christophe Wall-Romana, Cinepoetry : Imaginary Cinemas in French Poetry, New York, Fordham University Press, 2013.

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commode-t-elle d’un art longtemps déconsidéré et ravalé au rang de divertis­ sement futile, même si ce n’est évidemment plus le cas aujourd’hui ou plus dans la même mesure ? La poésie prête pourtant une grande attention au ci­ néma depuis ses origines6 et, se prêtant aux expérimentations les plus pous­ sées, elle a pu jouer le rôle de laboratoire formel, en raison de sa grande plas­ ticité et de sa position marginale dans le circuit économique de la littérature. Elle est aussi affaire d’« images », l’ambiguïté du terme autorisant, depuis les années 1920, toutes sortes de glissements sémiotiques expliquant que de nom­ breux poètes aient vu dans le cinéma naissant un territoire à conquérir (avec ou, le plus souvent, sans succès). Ayant déjà étudié les origines du phénomène dans de précédents travaux et ne pouvant dans le cadre restreint de cet article proposer un panorama com­ plet du souvenir du cinéma dans la poésie française, je me propose ici d’étu­ dier un exemple contemporain qui me semble particulièrement significatif d’une écriture poétique « sous influence » du cinéma : celle de Jérôme Game dans son recueil Flip-Book7.

2 Le projet du « flip-book » poétique de Jérôme Game Jérôme Game est à la fois chercheur et poète ; la circulation entre le discours critique et l’œuvre poétique s’effectue chez lui très souplement. En tant que chercheur, d’abord, il ne cesse en effet de questionner ce qu’il appelle les « po­ rous boundaries »  8 de la littérature, les phénomènes de « débords »  9 et de « reflux » de la poésie. En tant que poète, ensuite, son écriture se fait à par­ tir d’une extériorité, notamment dans le cas qui nous intéresse, celle du ciné­ ma qui lui permet d’écrire « sous influence », selon une métaphore, calquée 6 

Voir Nadja Cohen, Les Poètes modernes et le cinéma (1910–1930), Paris, Garnier, 2013, ainsi que le livre de Wall-Romana cité plus haut. 7  Jérôme Game, Flip-Book, livre + CD de lecture, Bordeaux, L’Attente/ Le Triangle, 2007, non paginé. Les citations qui suivront tout au long de cet article ne comporteront donc pas de numéro de page. 8  Porous boundaries : Texts and Images in Twentieth-Century French Culture, sous la dir. de Jérôme Game, Oxford, Peter Lang, 2007. 9  Jérôme Game, « In & out, ou comment sortir du livre pour mieux y retourner — et réciproquement », Littérature 2010/4 (n°160 ), p. 44–53.

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Jérôme Game, Flip-Book, livre + CD de lecture, Bordeaux, L’Attente/ Le Triangle, 2007 © Jérôme Game et les Editions de l’Attente

sur l’anglais, qu’il affectionne et par laquelle il rend aussi hommage au film de Cassavetes, A woman under the influence. Plus qu’un élément thématique, le cinéma informe en profondeur la poésie de Game, lui permettant de jouer avec la syntaxe, que le modèle spécifiquement filmique du plan séquence lui permet de mettre à l’épreuve, comme il l’explique dans un entretien à Thomas Baumgartner : « le cinéma de plan séquence a quelque chose à m’apprendre à propos de la phrase  ». 10 Avant d’entrer dans le recueil, prêtons d’abord attention aux seuils du texte, et tout d’abord à son titre : Flip-book. Le terme fait référence à ces pe­

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2011.

Thomas Baumgartner, « L’Atelier du son », France Culture, émission du 16 ­décembre

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tits livrets d’images assemblées dont le défilement sous le pouce doit donner au lecteur une impression de mouvement. Mais la nature de ces images diffère ici, comme l’affirme l’auteur, qui semble inaugurer une forme d’invention géné­ rique, le flip-book poétique : « Les images de mon flip-book seront des textes […]. C’est un méta-film. Chaque image/texte est un photogramme ».  11 Game nous rappelle ainsi que le cinéma est un dispositif et qu’il en va de même de sa poésie qu’il qualifie de « poésie matérialiste qui assume son côté disposi­ tal ». Le paradigme du « flip-book », préféré ici à celui du « film » ou du « ciné­ ma », adopté par certains poètes dès les années 1920 dans leurs « ciné-poèmes » (Benjamin Fondane par exemple) pointe aussi d’emblée une tension à l’œuvre dans tout le recueil de Game entre hiatus (une succession d’images distinctes) et fluidité (l’impression de mouvement due à la persistance rétinienne). Le modèle concurrent du cinéma reste toutefois dominant comme le montre, toujours au niveau du péritexte, le clap iconique du cinéma présenté en cou­ verture et le générique de fin établi par l’auteur, qui répertorie « par ordre d’ap­ parition à l’écran » les seize films qui auront été évoqués dans le petit volume. Le recueil est entièrement composé de descriptions de séquences de films, des années 1970 aux années 2000, au sein desquelles une place importante est accordée au cinéma américain indépendant (John Cassavetes, Jim Jarmusch, Abel Ferrara, Larry Clark, Gus Van Sant et David Lynch). L’on y trouve aus­ si quelques films européens (de Michael Haneke, Philippe Garrel, Philippe ­Grandrieux ou Claire Denis), un sud-américain, le Mexicain Carlos Reygadas, et un asiatique, le Hong-kongais Wong Kar Wai. La présence d’une telle liste dispense le lecteur du travail de reconnaissance, qui aurait pu offrir à ce der­ nier une forme de gratification, mais elle entend surtout abolir la discrimina­ tion entre les happy few, cinéphiles avertis, et les autres, et plus encore peutêtre, dispenser le lecteur de la tâche fastidieuse du déchiffrement de poèmes à clés. Elle permet enfin à l’auteur de mettre en œuvre une poétique de la liste valant en tant que telle et non comme un simple index, ce geste étant poussé à ses extrêmes conséquences dans son recueil plus tardif, La Fille du Far West qui n’est qu’un long générique. Établie « par ordre d’apparition à l’écran »12, la liste permet à l’auteur d’assumer l’ordre aléatoire de ces visions sans les hiérarchiser. Détournée du souci de la reconnaissance, l’attention du lecteur se porte sur la manière dont les films vus ont suscité chez J. Game une forme de ger­

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mination, de prolongement poétique ou de « sudation »13 pour reprendre une métaphore de l’auteur. En effet, qu’est-ce qui relie tous ces films ? C’est la trace qu’ils ont laissée dans l’esprit du poète, poreux à ces visions, qui s’en est im­ bibé, s’en est nourri, les a faites siennes.

3 Une collection de visions évanescentes Dans ce recueil non paginé, les poèmes sont dépourvus de titres et les évo­ cations de films se succèdent, simplement séparées par un saut de page. Une même vision peut d’ailleurs mêler indistinctement plusieurs films différents, comme c’est le cas dans la séquence initiale qui enchaîne sans coutures The Killing of a Chinese Bookie, Blue Velvet et Mulholland Drive, le montage des trois films étant facilité par l’unité de lieu : Hollywood, qui suscite ici la fascina­ tion du poète. À Los Angeles j’ai vu comment Ben Gazzara sort en tux à huit heures le matin le point aveugle après la nuit, s’encadre dans la porte. […] J’ai vu le sourire de Ben se tient droit backstage, ouvre la porte, se colle dans le cadre, sourit, sourit tout le temps, met une clope à sa bouche en coin, les yeux en coin. Ben sourit à son œillet rouge vif, son tux, son bow, son ja­ bot est blanc, son mur est noir. Il reste là, la caméra est là, reste, il fait beau, le soleil étincelle déjà.

La caméra flotte sur le Strip devant la voiture face à Ben plein cadre. Le soleil rentre par la gauche en haut. La lumière liseré écharde le noir plein cadre. Il fait beau. Il attend. Il va aller tuer le bookmaker chinois ce soir, bleuté, plus tard. Je vois pas les nains de jardin, j’entends le bruit de la pelouse à ras de jar­ din. La voiture glisse, le break, dans Suburbia. L’arroseur tourne. J’vois pas arriver la musique, Blue Velvet me rentre dans la tête. La machine L.A. tourne à plein. J’vois pas L.A., j’vois Cinémascope en noir perlé les deux blondes.14

Le terme de « visions » s’impose à plusieurs égards. Il permet d’abord de rendre compte du statut indécis de telles images. Du moins, à l’ouverture du recueil, ce statut n’est-il pas encore clairement établi : « À Los Angeles j’ai vu… » pour­

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rait amorcer l’évocation d’un souvenir personnel, impression renforcée par le complément de lieu initial et éventuellement par notre savoir biographique sur l’auteur qui a effectivement vécu à Los Angeles. Pour la description d’une séquence de film, on aurait peut-être pu attendre un présent (« je vois ») ren­ dant la simultanéité de l’écriture et de l’expérience spectatorielle, voire l’omis­ sion pure et simple du sujet et du verbe de vision (« Ben sort en tux »). Ces variantes apparaîtront plus tard. Peut-être l’auteur entend-il par ce passé com­ posé initial montrer que ce souvenir s’est lové dans sa mémoire et agrégé à d’autres, de statuts différents. Le statut de récit de film de cette vision n’ap­ paraît qu’à la mention de l’acteur fétiche de Cassavetes, Ben Gazzara (« À Los Angeles j’ai vu comment Ben Gazzara sort en tux à huit heures le matin »), dont il est évidemment infiniment plus probable que le poète l’ait vu à l’écran que croisé dans la rue, ce que confirment les éléments paratextuels évoqués plus haut qui dessinent un horizon d’attente, ainsi que le lexique cinémato­ graphique disséminé dans les poèmes (« cadre », « caméra » etc.). Le terme de « vision » s’impose ensuite parce que le texte initial use abon­ damment du verbe « voir » dont il dérive. La répétition du segment « j’ai vu » amorce les deux premiers paragraphes (« À Los Angeles j’ai vu comment Ben Gazzara sort en tux à huit heures le matin » puis « J’ai vu le sourire de Ben se tient droit backstage »), avant que le présent ne succède au passé compo­ sé (« Je vois pas les nains de jardin »), semblant marquer l’évolution du statut d’une telle vision et sa progressive présentification, comme si l’évocation poé­ tique du film avait fini par faire surgir les images comme sous les yeux du locu­ teur. La répétition insistante « Je vois, je ne vois plus que ça » dans le passage consacré au corps des actrices de Mulholland Drive traduit la violente pulsion scopique du spectateur happé par le film. L’évanescence des visions et leur circulation d’un film à l’autre s’expliquent d’autant mieux que la fable des différents films est souvent évacuée au profit d’évocations de mouvements, de lumière et de sensations décrites avec préci­ sion et laconisme : « le soleil rentre par la gauche en haut. La première lumière liserée écharde le noir plein cadre », « l’eau claire les fait voir ». Attentif aux tex­ tures, aux couleurs, à toute la dimension sensible de l’image, Jérôme Game dépeint ainsi Gerry, héros du film éponyme de Gus Van Sant, comme le fe­ rait un behavioriste : « son visage rose gercé sur l’appuie-tête crème en cuir  ». 15

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Id.

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Les descriptions confinent parfois à l’abstraction dans une évocation de plan comme celle-ci : « Les deux taches noires Gerry et son ami avancent len­ tement dans le bleu noir. Sont ralenties. Irisent. Se figent ».  16 De la même ma­ nière, un autre héros de Gus Van Sant dans Elephant, dont la célèbre silhouette dégingandée au T-shirt jaune, filmée de dos par un long travelling dans un cou­ loir de lycée, est restée mythique, est dépeint par le poète avec le même déta­ chement apparent que celui du cinéaste : « l’adolescent jaune a la peau rose, il boit du lait sa peau douce est blonde17 ». La syntaxe élémentaire et le style pa­ ratactique qui nous placent du côté du minimalisme sont ici contrebalancés par l’usage abondant des qualificatifs (« jaune », « rose », « douce », « blonde ») qui traduit a contrario une attention aiguë pour les couleurs et les textures, composantes sensibles de l’image. On pourrait dès lors estimer que Game se place du côté du figural, c’està-dire d’une conception du cinéma comme présence et non comme représen­ tation. Dans la lignée de Nicole Brenez18, Philippe Dubois19 isole la notion de figural comme tout ce qui, dans une image, demeure, une fois qu’on en a enle­ vé le figuratif (c’est-à-dire le motif référentiel) et le figuré (sa part rhétorique). Moins radical, le poète ne dissocie pas aussi radicalement le figural de la nar­ ration20 car pour lui les images de cinéma sont toujours grosses de récit, ar­ ticulent le mythos à l’opsis, mais il préfère au spectaculaire les moments d’im­ minence : « Quelque chose va avoir lieu, Quelque chose va se passer21 » écrit-il ainsi dans le passage consacré au film de Reygadas. Il ne se focalise pas sur les climax mais sur ce qui les précède (« Il va tuer le bookmaker »), ce qui les suit (« Gerry est perdu dans le désert […] son ami est mort »), ou sur les moments de temps mort dont la violence est absente en surface, mais souvent présente de manière latente. Cette poétique de l’imminence mise en place par Jérôme Game n’est pas sans rappeler le bel éloge de la photogénie que proposait Jean Epstein en 1921 dans son essai intitulé Bonjour cinéma :

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Id. Id. 18  Nicole Brenez, De la figure en général et du corps en particulier. L’invention figurative au cinéma, Bruxelles, De Boek, 1998, p. 32. 19  Pierre Dubois, « La question du figural », in : Cinéma. Art(s) plastique(s), sous la direc­ tion de Pierre Taminiaux et Claude Murcia, Paris, L’Harmattan, 2004, p. 51–76. 20  Voir Jérôme Game, « Images sans organes / récit sans télos : Carlos Reygadas et Gus Van Sant », in : Images des corps / Corps des images au cinéma, sous la direction de Jérôme Game, Lyon, ENS éditions, 2010. 21  Flip-Book 17 

LE FLIP-BOOK POÉTIQUE Le visage qui appareille vers le rire est d’une beauté plus belle que le rire. […] J’aime la bouche qui va parler et se tait encore, […] le recul avant le saut, et le saut avant le butoir, le devenir, l’hésitation, le ressort bandé, le prélude, et, mieux, le piano qu’on accorde avant l’ouverture. La photogé­ nie […] n’admet pas l’état . 22

Partant de la sensation pour en remonter le cours suivant un modèle de bottom-up cognition, Jérôme Game accorde aussi une grande attention au corps et aux mouvements des acteurs, tenus dans le cadre ou le débordant .23 Ainsi le poème consacré à Ghost dog, s’articule-t-il autour du paradoxe visuel : « Forest est lourd, il est léger24 » qui traduit une fascination pour l’étrange souplesse du corps massif de Forest Whitaker dans le film de Jim Jarmusch. L’importance conférée aux atmosphères, aux lumières et aux mouvements des corps est l’une des constantes du recueil. C’est une certaine vision du cinéma qui s’y lit mais c’est aussi une façon pour le poète d’assurer le passage d’un film à l’autre et la cohésion de l’ensemble. C’est à ces procédés de suturation que nous nous proposons de réfléchir dans un dernier mouvement consacré à la fabrique littéraire du du flip-book et au questionnement de l’étiquette gé­ nérique choisie par le poète.

4 Du flip-book poétique au cinéma de papier : du hiatus à la fluidité Un premier élément de suturation du mashup que constitue Flip-Book est d’ordre culturel et linguistique. Il est lié à la présence insistante de Hollywood dans une partie du recueil ou, pour le dire avec les mots de l’auteur, au fait que 22 

Jean Epstein, Bonjour cinéma [La Sirène, 1921], fac simile de l’édition originale, ­Paris, Maeght éditeur, 1993, p. 93. Ce passage fait l’objet d’un commentaire de Jacques ­R ancière dans le prologue de La Fable cinématographique, Paris, Seuil (La Librairie du xxe siècle), p. 7–15. 23  Voir le bel article très informé que consacre à cette question Marie Martin, « L’écri­ ture et la projection 2 : le petit cinéma portatif de Jérôme Game », in : Le Cinéma de la littérature, sous la direction de Jean Cléder et Frank Wagner, Nantes, édition Cécile ­Defaut, 2016. 24  Flip-Book

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« la machine L.A tourne à plein ». 25 En effet, si les films sélectionnés par l’au­ teur se situent en marge de Hollywood entendu comme système de produc­ tion filmique standardisé, la ville n’en constitue pas moins un puissant pôle d’attraction, comme cela est thématisé dans un film comme Mulholland Drive qui surgit ici au milieu de The Killing of a Chinese Bookie, à la faveur d’un re­ montage personnel des séquences de film. Cette coloration américaine qui teinte une partie du recueil passe aussi par certains anglicismes liés au projet poétique d’écriture « sous influence » de Jérôme Game. Selon l’expression imagée de l’auteur, « l’anglais masse mon français »26, de même que le modèle esthétique du cinéma, et plus particuliè­ rement du plan-séquence, l’amène, comme on le verra plus tard, à assouplir sa syntaxe. On trouve quelques anglicismes grammaticaux (« j’ai vu comment ») mais surtout des emprunts lexicaux (« son tux, son bow »), clairement utilisés pour des raisons rythmiques, comme ici avec l’accumulation de monosyllabes. Plus loin, la valeur poétique du mot anglais est clairement affichée par la jux­ taposition du terme et de sa traduction (« le driver, son chauffeur »), qui met en regard les deux langues, comme ensuite, sur un mode plus complexe, dans la phrase : « un verre coule un drink coule dans mon verre27 », les emprunts à la langue étrangère assurant non seulement une fonction musicale mais confé­ rant aussi un évident effet de couleur locale au récit de film. La souplesse et la fluidité recherchées expliquent également thématique­ ment le goût du poète pour l’élément liquide, présent dans le recueil sous dif­ férentes formes, notamment dans les piscines des quartiers huppés de Los Angeles : Ben progresse en apnée souple sur les toits des villas de Bel Air […]. Les reflets bleus phosphorescents de la piscine éclairée dansent derrière lui. Ben dans l’entrefilet sans palmes et sans tuba nage dans l’image.28

De l’hypallage à la métalepse, il n’y a qu’un pas lorsque le plongeon de Ben Gaz­ zara permet ainsi à ce dernier de traverser l’écran pour « nage[r] dans l’image », accomplissant la réunion du lecteur et des figures filmiques qui peuplent le ci­ néma de Jérôme Game. De la même façon, dans Beau travail de Claire D ­ enis,

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Id. Entretien avec l’auteur. 27  Flip-Book 28  Id.

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« les légionnaires […] se propulsent comme des têtards sous l’eau peu profonde […] en progressant à travers tout l’écran liquide ».29 93

Enfin, la cohésion du recueil est surtout assurée par des procédés stylistiques aux effets convergents : répétitions lexicales, phénomènes de suturation syn­ taxiques, et recours à certaines figures de style qui œuvrent par différents bi­ ais à une unification de l’ensemble, donnant un aspect de fondu ou de nappé à sa poésie. Sur le plan lexical tout d’abord, l’auteur recourt à de nombreuses répéti­ tions et, significativement, il en va ainsi de l’adjectif « souple » repris avec in­ sistance, sans doute parce qu’il offre une des clés du programme esthétique de l’auteur. Jérôme Game recherche en effet les enchaînements fluides et sans heurts, en un mot la souplesse. Qu’on en juge par ce passage consacré à The Killing of a Chinese Bookie : Les danseuses se rhabillent à six dans une voiture souple en cuir noir à la conduite souple. Une baleine démarre à l’embrayage souple […] Ben pro­ gresse en apnée souple sur les toits des villas de Bel Air.30

Appliqué comme un filtre sur les éléments les plus divers (une voiture, un type de conduite, un embrayage, une façon de plonger), l’adjectif « souple » concourt à ces effets d’unification voulus par le poète qui se traduisent éga­ lement par un tropisme marqué pour les synesthésies. À cet effet, l’auteur se montre friand de zeugmes et d’hypallages assurant le transfert d’une qualité d’un objet à l’autre. Ainsi, dans Ghost Dog, « le vert pâle des vitesses le rap em­ portent Forest31 », tandis que dans Elephant, « le son […] est blanc  ».32 Poussée à son terme, la synesthésie accomplit parfois la présentification de la scène et assure l’immersion du spectateur. L’évocation d’une scène de Mulholland Drive se clôt ainsi par une implication de tous les sens du lecteur : « ça sent le chaud, la nuit est tiède, l’air est encore tout noir perlé des villas alentour  ». 33 Syntaxiquement, la recherche de souplesse et de nappé dans Flip-Book passe par un travail singulier sur la phrase, qui œuvre tout à la fois à la liaison et à la déliaison des images mais davantage, nous semble-t-il, à une recherche

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Id. Id. 31  Id. 32  Id. 33  Id.

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de fluidité qu’à une poétique du heurt. Ainsi pourraient s’expliquer certains tours agrammaticaux typiques de l’auteur, marqués par l’omission du pronom relatif : « J’ai vu le sourire de Ben se tient droit backstage » ou encore « la lu­ mière aveugle Gerry voit une voiture noire au loin ». 34 On pourrait avoir l’im­ pression que deux phrases sont entrées en collision. Le poète renouerait-il ici avec le bégaiement qui caractérisait sa diction de jeune performer ? L’audition du CD de lecture qui accompagne ce recueil nous semble toutefois démentir cette impression. Jérôme Game y offre au contraire une lecture suave de son texte et le modèle du plan-séquence qu’il revendique pour ce recueil serait en contradiction avec une poétique du montage nerveux. Cette lecture fluide et les effets de sens convergents évoqués plus haut tendent à nous faire plutôt penser que l’omission du relatif vise au contraire à fondre les phrases l’une dans l’autre, comme si l’écriture travaillait à s’assou­ plir mais aussi à rattraper le rythme des images de cinéma. Dès lors, le titre du recueil, « flip-book », pourrait être conçu non comme un modèle esthétique, puisque l’auteur nous semble plutôt poursuivre une poétique du flux, mais comme une forme de lucidité face à l’impossibilité de l’écrit linéaire à rivaliser avec le modèle de simultanéité offert par un plan de cinéma.

5 Conclusion Si le film remémoré35 est devenu un motif récurrent dans les fictions contem­ poraines, comme nous l’avons souligné en ouverture, l’exemple de Jérôme Game et de son écriture « sous influence » nous semble avoir montré la fé­ condité d’un tel procédé en poésie et la singularité des formes que ce dernier peut prendre. Le cinéma n’est ici pas seulement un univers de référence par­ tagé avec le lecteur mais se présente comme un déclencheur d’écriture, appe­ lant l’invention d’un style adéquat mis au défi par le plan-séquence. Si, par certains aspects, cette écriture essentiellement narrative et descrip­ tive peut sembler incarner une forme de minimalisme typique de l’époque,

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Id. La formule fait écho au bel essai de Victor Burgin, The Remembered Film, Londres, Reaktion books, 2004, qui a contribué à nourrir cette réflexion sur les modalités du sou­ venir de cinéma en littérature, terrain qui mériterait qu’on lui consacre une étude à part entière.

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on a vu que le travail de suturation thématique, lexicale et syntaxique contri­ bue en fait à conférer au recueil une forme de poésie atmosphérique, permet­ tant de tenir ensemble les différentes séquences du volume, voire de créer une poétique du flux dont le modèle esthétique serait plus celui du cinéma que du flip-book. En cela, quoique son écriture soit singulière et différe totalement dans ses choix esthétiques de celle d’un Jan Baetens, par exemple dans sa novelli­ sation en vers de Vivre sa vie36, Jérôme Game est un cas emblématique d’une tendance de la poésie française contemporaine à mobiliser le cinéma pour ali­ menter des questionnements théoriques parallèles sur l’intermédialité, la po­ rosité des frontières entre les arts, et l’intégration en poésie des images du monde. Le geste n’a évidemment plus la même portée subversive que dans les années 1920, lorsque Philippe Soupault ou Louis Aragon faisaient entrer en poésie les récits de divers westerns, film burlesques ou policiers, mais il nous semble que d’un siècle à l’autre, le souvenir de cinéma en poésie conti­ nue d’être sinon un ferment de révolte, du moins d’un des possibles instru­ ments de sa rénovation.37

36  Jan Baetens, Vivre sa vie, une novellisation en vers du film de Jean-Luc Godard, Bruxelles, Les Impressions nouvelles, 2005. 37  Voir Nadja Cohen, « La novellisation poétique, différenciation ou émulation ? Les cas de Jan Baetens et de Jérôme Game », Sens Public, 25 février 2018, http://sens-public.org/ IMG/pdf/SP1302-docx-md.pdf.

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L’espace-temps des émotions dans le cinéma et le théâtre scandinave Strindberg, Trier, Bergman, Fosse, Lygre : une lecture topologique « Pour moi le théâtre est le moyen de comprendre à travers et par les émotions. » Jon Fosse

Le théâtre scandinave contemporain, porté par quelques grandes voix telles que celles des Norvégiens Jon Fosse et Arne Lygre, ou encore celles des ­Suédois Lars Norén et Jonas Hassem Khemiri, connait aujourd’hui, et depuis une di­ zaine d’années, une diffusion internationale qui, de fait, le place dans le sil­ lage de dramaturges aussi célèbres que Henrik Ibsen ou August Strindberg. La question de la filiation entre les maîtres qui ont permis à la littérature nor­ dique de trouver sa place sur la scène internationale de la fin du XIXe siècle et une nouvelle génération de dramaturges dont les œuvres sont représentées dans de nombreux pays apparaît comme incontournable. Cherchant à cerner ce qui caractérise à la fois ce nouveau théâtre scan­ dinave et celui qui lui préexiste tout en lui servant de modèle, certains cri­ tiques ont dit avec humour que les pièces se résumaient parfois, dans les deux cas, à la mise en scène d’une femme et de deux hommes autour d’un cana­ pé. Confrontations, déchirements et aliénation structurent une dramaturgie qu’il serait trop réducteur de lire seulement comme un thème avec variation sur l’amour, la haine et la jalousie au sein du couple. Bien sûr, la marque po­ sée par Ibsen et Strindberg sur la vie culturelle scandinave est indélébile, mais certaines dimensions de la production contemporaine invitent à chercher des points d’ancrage et des sources d’inspiration dans d’autres formes d’expres­

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sion artistique. La forme théâtrale de la miniature, les répétitions constantes, la mobilisation de l’absurde, le laconisme du langage, et, de manière plus gé­ nérale, l’immense méfiance de ces dramaturges vis-à-vis des mots, imposent une lecture visuelle davantage centrée sur la performance et sur l’image que sur le texte. C’est pourquoi il semble essentiel de se demander si la filiation avec le théâtre d’Ibsen et de Strindberg, plutôt que par une relation d’inter­ textualité directe, ne passe pas aussi et peut-être surtout par le medium de l’émotion comme régie dramatique. En effet, le théâtre nordique contemporain peut être lu comme une forme d’expression post-moderne1 et post-dramatique2 explorant un sujet dont l’identi­ té est instable, fluctuante et hétérogène. Ses formes scéniques se construisent autour d’une succession de situations qui ne sont pas nécessairement reliées entre elles par une intrigue. L’accent est mis sur les réactions des personnages face à des événements précis. La structure spatiale et temporelle de l’action est dès lors elle-même instable. Il n’est plus possible de placer les personnages dans un espace-temps euclidien. Jusqu’ici dans l’histoire du théâtre nordique, les personnages avaient un passé et un présent, et des éléments indiquaient ce que l’avenir leur réservait. En d’autres termes, ils étaient représentés dans un espace stable déterminé par leur origine. Dans le théâtre contemporain, cependant, il leur incombe de construire un territoire et se l’approprier : ils évoluent dans un espace et un temps que j’appellerai sensibles, c’est-à-dire dis­ continus, complexes, fragmentaires et « saisis par l’imagination »3 pour re­ prendre l’expression de Gaston Bachelard dans La Poétique de l’espace. Ils re­ lèvent d’une expérience avant tout subjective, d’une expérience perceptive, corporelle et sensorielle. Marie-Claire Ropars-Wuilleumier explique cette rup­ ture euclidienne par la puissance de l’écriture : « Classer, d’un côté, les espaces dans l’écriture qui s’en rend maître ; casser, de l’autre côté, l’espace du simple fait qu’on écrit »4. Ici, la géographie euclidienne ne permet plus de cartogra­ phier les actions des personnages. Il faut recourir à la géométrie et à la topolo­

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Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris, Les Éditions de minuit, 1979. Hans-Thies Lehmann, Le Théâtre postdramatique, Paris, L’Arche, 2002 (original alle­ mand : Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Verlag der Autoren, Frankfurt a. M.1999). 3  Gaston Bachelard, La Poétique de l’espace, Paris, PUF, 2007, p. 17. 4  Marie-Claire Ropars-Wuilleumier, Ecrire l’espace, Presses Universitaires de Vincennes, 2002, p. 28. 2 

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gie : l’axe spatial et l’axe temporel ne se croisent plus, l’enveloppe spatio-tem­ porelle apparaît comme déchirée5. Quelles sont les conséquences de cette déchirure spatio-temporelle sur les personnages ? Il me semble qu’un nouvel espace-temps se construit non pas autour d’éléments géographiques stables mais autour de la subjectivité des personnages, de leurs affects et de leurs émotions dont le pouvoir de transfor­ mation s’exerce pleinement sur les formes de représentation des espaces, se­ lon les termes de Merleau-Ponty, leur corps « habite l’espace et le temps »6. Car c’est justement dans ce nouvel espace-temps, que j’appellerai un espace-temps des émotions, que le théâtre nordique trouve sa cohérence et sa force drama­ turgique : la seule consistance des personnages se trouve dans l’expérience émotionnelle. Il est intéressant de remarquer que lorsque le dramaturge Jon Fosse explique sa dette à l’égard d’Ibsen, il souligne : « To me theater is a way to understand through and by emotions. It’s a reflection that comes besides the nationality and language. Besides the languages, there are a lot of stimu­ li. »7. La mise en scène des émotions et des réactions affectives des person­ nages détermine non seulement ce qu’ils font mais aussi ce qu’ils sont. Tout d’abord, je propose d’analyser la production du Songe (Ett drömspel, 1901) de Strindberg donnée au Théâtre de la ville de Stockholm en 2012 à l’occasion du centenaire de la mort de l’auteur, dans la mesure où elle offre un témoin privilégié de ces mécanismes d’exploration de l’espace-temps des émotions dans le théâtre scandinave du XXe siècle. Dans cette mise en scène, Mattias Anderson revisite en effet ce qui a été identifié par la critique comme

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Je mobilise ici la notion d’enveloppe spatio-temporelle développée par le géographe Claude Raffestin dans sa réflexion sur la territorialité. Elle renvoie à la corrélation entre temps et espace dans la construction du territoire, « l’environnement étant ici l’enveloppe spatio-temporelle constituée non seulement par un ensemble de propriétés spatiales, mais aussi temporelles, permettant d’inter-relier des comportements dans leur manière de se dérouler dans un contexte d’espace et de temps ». (Jean-Bernard Racine et Claude Raffestin, « L’espace et la société dans la géographie sociale francophone. Pour une ap­ proche critique du quotidien », in : Jean Paelinck et Alain Sallez (dir.), Espace et localisation. La redécouverte de l’espace dans la pensée scientifique de langue française. Paris, Econo­ mica 1983, p. 304–330. 6  Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris, Gallimard, 2005 (1945), p.174. 7 « Pour moi, le théâtre est le moyen de comprendre à travers et par les émotions. C’est une réflexion qui va au-delà de la nationalité et de la langue. Au-delà du langage, il y a beaucoup de stimuli. » (http://www.revistascena.ro/en/interview/jon-fosse-ibsen-greathater-and-i-admire-him) Traduction française : S.B.

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une abdication de la fonction référentielle du théâtre de Strindberg. Dans un second temps, je ferai une lecture du travail de Bergman et Lars von Trier sur les émotions au cinéma, ouvrant de nouvelles perspectives sur la possi­ bilité de recréer par l’image un référentiel spatio-temporel. Enfin, j’aborderai la question de l’expérimentation mise en œuvre par Jon Fosse et Arne Lygre sur les formes de l’espace et de la territorialité dans le théâtre post-moderne et post-dramatique sous l’angle de la géométrie topologique qui permettra de faire émerger la manière dont cette démarche dramaturgique rend possible la mise en scène de ce manque de référence au temps et à l’espace.

1 Les émotions et le déchirement de l’enveloppe spatio-temporelle. Le Songe de Strindberg au Théâtre de la ville de Stockholm en 2012 En juin 2012, à l’occasion du centenaire de la mort de Strindberg, le Théâtre de la ville de Stockholm (Stockholms stadsteater) présente Le Songe. La pièce fait le récit de la descente sur terre d’Agnes, fille du dieu Indra, envoyée par son père pour écouter les plaintes des hommes et répondre à cette question : faut-il plaindre les hommes ? À l’automne 2011, le metteur en scène Mattias Andersson demande à un anthropologue de poser cette même question à des habitants de Stockholm, choisis statistiquement, et intègre les réponses au texte présenté sur scène. Le texte ainsi produit se compose alors à 67% de texte tiré de la pièce originale, de 22% de textes issus de l’enquête et de 11% d’ajouts par Mattias Andersson. Dans la mesure où la pièce de Strindberg ne précise ni l’époque, ni le lieu choisis pour le drame, le metteur en scène peut librement déterminer où et quand placer l’action. Dans la mise en scène de Mattias An­ dersson, c’est le temps présent et l’environnement réel des spectateurs : l’ac­ tion se passe en 2012 à Stockholm. Ainsi, les plaintes recueillies émanent des problèmes de la société suédoise contemporaine. Les personnages sont tour à tour des réfugiés (irakiens ou bosniaques), des apatrides, des hommes et femmes sans domicile fixe ou pris en charge par les services sociaux. Le texte de Strindberg est ainsi déterritorialisé par une réflexion sur l’identité de la so­ ciété multi-ethnique suédoise. Chacun raconte son histoire, mais le point com­ mun entre les récits est l’hybridité des origines et des trajectoires. Dans le texte original de Strindberg, Agnes se nourrit de ses expériences : les émotions ressenties dans la rencontre avec l’autre constituent le seul fil

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directeur de la trame dramatique. Dans la production du théâtre de la ville de Stockholm, l’ensemble des témoignages sociologiques vient compléter la construction du personnage principal selon un processus d’altérité dans le­ quel « soi-même » se définit comme un autre8. Ce qui frappe est la multiplici­ té de voix qui s’expriment, créant l’impression que l’identité d’Agnes se forme par une accumulation de fragments. Même si cela est créé par un texte nou­ veau (l’ajout des interviews), le résultat reste fidèle à la volonté de Strindberg de représenter la perte d’homogénéité de l’identité qui caractérise, selon lui, la modernité. Il est intéressant de remarquer que Sartre avait déjà noté cette dimension du théâtre de Strindberg en 1949, avec cette observation que les personnages y sont construits dans leur rapport aux autres, par « ce qu’ils font des autres et ce que les autres font d’eux »9. Dans chaque micro-histoire racontée dans la pièce, Agnes éprouve une émotion différente qui, par touches successives, donne consistance à son per­ sonnage. Elle n’est pas l’égale de ceux qu’elle rencontre, mais prend vie par le biais du partage d’expérience avec les autres. Ce qui est raconté détermine qui elle est, ou plus exactement qui elle devient (ici dans un sens de passage, de transition, de transformation, au sens que Gilles Deleuze donne à ces mouve­ ments, j’y reviendrai). « Je suis à plaindre » déclare-t-elle à plusieurs reprises. En suédois, la formulation est une construction passive permettant de mettre l’accent sur l’objet qui provoque la plainte, « det » : « Det är synd om mig ». Il s’agit bien d’une question de force provoquant une réaction affective : la seule ligne narrative dans son exploration de l’humanité est le récit de ses émotions face à telle ou telle rencontre. Un autre élément essentiel dans la mise en scène de Mattias Andersson est le choix de ne pas localiser l’action dans un espace de vie quotidien mais dans un « espace tiers »10, un entre-deux laissant l’espace pour permettre à une parole minoritaire de s’exprimer. Le jeu de rêve se déroule dans un lieu qui tient tant du garage que de la salle d’attente, évoquant sans doute une ban­

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Je fais référence ici à la formule de Paul Ricœur et au titre de son ouvrage, Soi-même comme un autre, Paris, Seuil, 1990. 9  Jean-Paul-Sartre : « Strindberg notre ‹ créancier › », in : Un théâtre de situations, ­Paris, Gallimard, 1992 (1973), p. 70–73 (article paru en suédois sous le titre « Strindberg, vår ‹ fordringsägare › » dans le Dagens Nyheter le 28 janvier 1949). 10  Homi K. Bhabha, The location of culture. London / New York 1994 ; et : Edward Soja, Thirdspace : Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Cambridge, MA, Blackwell, 1996.

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lieue de Stockholm. Mattias Andersson donne pour indications de scène : une pièce grise sans fenêtre avec pour seule issue une porte. Sur la porte, un trèfle à quatre feuilles11. C’est un huis-clos dans lequel l’espace se définit par ses fron­ tières. Chaque lecture de textes enregistrés dans les entretiens commence par le lieu d’où vient la personne interrogée. Une cartographie de la banlieue de Stockholm se dessine : Västerhaninge, Sätra, etc. Le territoire ainsi construit, fragmentaire et multiple, donne naissance à une hybridité dans laquelle la dif­ férence est le point commun qui crée une certaine forme d’expérience com­ mune de l’espace et du temps. Andersson précise comme indication scénique au début de la pièce : « Des PERSONNES sont assises en silence sur des chaises le long des murs de la pièce. 50–60 individus de tous les âges, sexes, couleurs et formes corporelles »12. Ce qui se fait jour, de scène en scène, c’est la manière dont une territorialité post-moderne se tisse au fil des choix dramaturgiques. Dans quelle mesure le texte original de Strindberg se prête-t-il à cette re­ lecture post-moderne ? Certes le metteur en scène affiche et revendique une volonté de prendre le texte comme une œuvre ouverte et de jouer avec le pu­ blic. Il cherche à créer une interaction, notamment à travers le jeu de l’aparté des personnages. Ainsi la réplique de l’officier est modifiée à partir de l’origi­ nal : « Puis-je vous enlacer, femme » devient ainsi « Puis-je vous enlacer tous » 13. De même, Agnes veut prendre dans ses bras le public et s’adresse à lui comme à ses enfants. À cela s’ajoute le recours à une mise en abyme, le livre de Strind­ berg étant posé sur scène. Il y a donc une tentative de jouer avec la mort de l’auteur14 justement à l’occasion du centenaire de sa réelle disparition. Mais au-de­ là ce jeu post-moderne, il faut souligner qu’avec Le Songe, Strindberg annonce certaines caractéristiques des avant-gardes du XXe siècle. La première repré­ sentation de la pièce en France par Antonin Artaud au Théâtre Alfred Jarry en 1928 témoigne de l’esthétique surréaliste à laquelle invite le texte. La pièce est en effet construite sur un jeu de rêve (le titre suédois Ett drömspel signifie littéralement cela) dans lequel le temps ne suit pas un dé­ 11 

« Ett grått och fönsterlöst rum med en ensam dörr som enda utgång. På dörren en fyr­väppling ». Manuscrit de scène (non publié). 12  « Stilla på sina stolar längs med rummets väggar sitter MÄNNISKORNA. 50–60 mänskliga individer i alla tänkbara variabler av ålder, kön, färg och kroppsform ». Manu­ scrit de scène (non publié). 13  « Får jag omfamna er, fru. » / « Får jag omfamna er alla ! » Manuscrit de scène (non publié). 14  Roland Barthes, « La Mort de l’auteur », in : Le Bruissement de la langue, Essais critiques IV, Paris, Seuil, 1984, p. 63–69.

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roulement linéaire et l’espace n’est pas défini par des frontières fixes. Dans la préface, Strindberg explique son travail : Tout peut arriver. Le temps et l’espace n’existent pas. Sur un fond de réalité insignifiant, l’imagination brode et tisse de nouveaux motifs : un mélange de souvenirs, d’expériences, d’inventions, d’absurdités et d’improvisations.15

La dimension onirique est créée par cet effet de disparition d’un cadre spatio-temporel fixe, ou plus exactement par la déchirure de l’espace spatio-temporel. La seule indication spatio-temporelle est qu’Agnes se trouve dans un en­ droit x à un instant t. Rien n’indique que les événements racontés se pro­ duisent dans un flux temporel continu, ni dans un espace homogène. La rela­ tion entre les différents lieux où Agnes fait l’expérience de la vie terrestre ne semble pas pouvoir être clairement tracée. En termes géométriques, la scène avec l’avocat se passe à un endroit x1 à un instant t1 et celle avec le poète dans un endroit x2 à un instant t2. Mais quelle relation ont x1 avec x2 et t1 avec t2 ? Les relations de voisinage sont ici d’ordre topologique. L’espace to­ pologique permet de dépasser les restrictions liées aux notions de distances. Dans un espace métrique topologique, on peut définir des relations de voisi­ nages dans des ensembles qui, en géométrie euclidienne, ne se touchent pas. C’est peut-être le sens de l’avertissement de Strindberg : « le temps et l’espace n’existent pas ». Dès lors se pose la question de l’impossibilité de la narration. Comment, en effet, faire récit, dès lors que ni l’espace, ni le temps, ne s’agencent de manière à former des ensembles cohérents ? Les différents niveaux d’énonciations (la voix d’Agnes dans sa vie quotidienne, les commentaires des intellectuels, le philosophe, le théologien et le médecin, le dialogue d’Agnes avec le poète po­ sant un regard surélevé sur les événements et enfin les conclusions d’Agnes à son père) ne créent pas une voix narrative homogène. Le seul élément fixe de la dramaturgie se trouve dans la microstructure narrative sur laquelle chaque scène est construite : Agnes réagit à un affect provoqué par un événement qui se produit dans l’interaction avec un personnage. Elle ressent une émotion (joie, colère, peine, compassion, etc.) et évalue cette émotion selon un double système de valeurs et de croyances, à la fois personnel et issu de représenta­

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August Strindberg, Le Songe. Paris, L’Arche, 2006, p. 9.

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tions collectives. Elle produit alors un jugement qui participe à répondre à la question qui anime sa visite sur terre : faut-il plaindre les hommes ? Cette mi­ crostructure narrative se répète, scène après scène. Les émotions sont ici des attitudes16, ressenties par le corps (c’est là sans doute tout le sens de l’incarnation d’Agnes) et permettant l’évaluation et la préparation à l’action (la réponse à la question s’il faut plaindre les hommes). Pour reprendre les termes de la philosophie des émotions, la notion d’attitude permet d’englober la dimension physiologique de l’émotion (comme modifi­ cation corporelle mobilisant les sensations), intentionnelle (l’attitude est ou­ verte sur le monde), conative (l’attitude est une préparation à l’action) et co­ gnitive (l’attitude est une évaluation mobilisant les croyances, les désirs et les valeurs, relevant à la fois de représentations individuelles et de représentations culturelles collectives). Chaque évènement malheureux stimule Agnes qui ré­ agit par, dans et avec son corps (elle ressent physiquement la joie, la colère, la peine, etc.) et corrige sa réaction par une série d’évaluations (les sentiments d’injustice, de frustration, de compassion participent à établir son diagnostic sur la condition humaine). Le Songe est donc une succession d’émotions res­ senties par le corps d’Agnes, évaluées par des croyances relevant d’une logique sociale (la société dans laquelle Agnes a pris corps) et des valeurs héritées de son origine divine. L’initiation humaine d’Agnes se réalise par la répétition des émotions qui lui permettent, chaque fois un peu plus, de prendre chair. Mais Strindberg ne propose pas de solutions pour créer une cohérence entre ces fragments d’expériences séparés par un flux spatial et temporel dis­ continu. Comment concaténer ces fragments ? Comment mettre en place une nouvelle construction topologique définissant de nouvelles relations de voisinage à partir des émotions ? Il me semble qu’une réponse possible à ces questions se trouve dans le travail postérieur des cinéastes sur l’image et sur les visages.

16 

Pour une présentation de la théorie « attitudinale » des émotions, voir Julien A. Deonna et Fabrice Teroni, The Emotions : A Philosophical Introduction, New York, Rout­ ledge, 2012.

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2 L’image-affection et la concaténation de l’enveloppe spatio-temporelle. Dogville de Lars von Trier et Persona de Bergman Lars von Trier construit le film Dogville (2003) selon une narration similaire à celle du Songe. Dogville s’ouvre sur l’arrivée d’une femme, Grace, dans un vil­ lage et se termine sur son départ en compagnie de son père. Entre temps, elle est confrontée à la condition humaine dans toute sa dureté. Le parallélisme avec Le Songe est manifeste. Comme pour Agnes, on ne sait ni d’où vient Grace, ni où elle va. Aucun élément ne vient préciser son passé. La seule chose que l’on sait d’elle est ce qu’elle ressent : Grace éprouve différents registres d’émo­ tions, de la compassion et de la joie en début de film, au désespoir puis à la colère lors du dénouement. Les trois figures masculines principales du film semblent répondre à celles du drame de Strindberg : Check et l’avocat ; l’écrivain Tom et le poète ; le père de Grace et le dieu Indra. Le dénouement est similaire. Grace et Agnes dé­ clenchent un feu purificateur pour sauver les hommes du mal. Mais alors qu’Agnes disparaît en promettant de porter la plainte des hommes auprès des dieux, Grace participe, mitraillette à la main, au massacre des habitants du village par les hommes de main de son père. Les hommes sont-ils telle­ ment à plaindre qu’il faudrait les libérer d’eux-mêmes en les achevant ? La fin du Songe est empreinte d’une atmosphère onirique avec l’éclosion d’un chry­ santhème géant dans le ciel. Dogville peut donc être considéré comme une réécriture du Songe. Le re­ cours à une scène de théâtre équipée de décors minimalistes confère au film une dimension théâtrale. Le spectateur voit de façon omnisciente à travers les murs des maisons et prend la position du voyeur pénétrant dans l’intimi­ té du quotidien de chaque foyer. Cet effet scénique contribue à créer une at­ mosphère onirique et remet en cause la linéarité de l’espace-temps. Par l’al­ ternance entre la scène relevant du théâtre et les effets cinématographiques (lumière, transparence permettant de voir à travers certaines surfaces, voix off, etc.), l’enveloppe de l’espace-temps semble peu à peu se déchirer pour lais­ ser place à un récit onirique sans référentiel stable. Selon un processus ana­ logue au Songe, le fil directeur du récit au-delà de cette déchirure est la succes­ sion d’émotions ressenties par la protagoniste. Mais dans le visage de Grace filmé en permanence par Lars von Trier, le spectateur trouve une fonction continue qui permet à la régie narrative de trouver une certaine homogénéité.

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Gilles Deleuze explique dans L’Image-mouvement ce rapport des affects à l’espace-temps : 106

Quelles que soient leurs implications mutuelles, nous distinguons donc deux états des qualités-puissances, c’est-à-dire des affects : en tant qu’ils sont actualisés dans un état de choses individué et dans les connexions réelles correspondantes (avec tel espace-temps, hic et nunc, tels carac­ tères, tels rôles, tels objets) ; en tant qu’ils sont exprimés pour eux­mêmes, en dehors des coordonnées spatio-temporelles, avec leurs singularités propres idéales et leurs conjonctions virtuelles. La première dimension constitue l’essentiel de l’image­action et des plans moyens ; mais l’autre dimension constitue l’image-affection ou le gros plan. L’affect pur, le pur exprimé de l’état de choses, renvoie en effet à un visage qui l’exprime (ou à plusieurs visages, ou à des équivalents, ou à des propositions). C’est le visage, ou l’équivalent, qui recueille et exprime l’affect comme une entité complexe, et assure les conjonctions virtuelles entre points singuliers de cette entité (le brillant, le tranchant, la terreur, l’attendri...).17

Le fait d’extraire le visage hors des coordonnées spatio-temporelles permet de construire une identité du personnage, fragmentée et fragmentaire, avec pour seul déterminant les attitudes ressenties par son corps et pour seule consis­ tance le corps en lui-même. Ici la dimension spectaculaire du film (visuelle et sonore) permet de rendre lisible la reconstruction topologique de l’enveloppe spatio-temporelle par la concaténation des fragments affectifs et la perma­ nence du mouvement. Deleuze appelle cela l’image-affection dont le gros-plan est l’expression privilégiée18 : Il [un gros plan] peut enfin comporter un espace-temps, en profondeur ou en surface, comme s’il l’avait arraché aux coordonnées dont il s’abs­ trait : il emporte avec soi un fragment de ciel, de paysage ou d’apparte­ ment, un lambeau de vision, avec lequel le visage se compose en puis­ sance ou qualité. C’est comme un court-circuit du proche et du lointain.19

Le visage est affect dans le sens où il est à la fois puissance et qualité. C’est dans la succession de l’infiniment petit des émotions exprimées sur et par le visage de Grace, et non dans les dialogues entre les personnages, que la nar­ ration trouve sa régie et sa cohérence. On trouve un travail équivalent sur les visages chez Ingmar Bergman qui s’inscrit dans le cadre d’une dette qu’aurait Bergman envers le théâtre de

17 

Gilles Deleuze, L’Image-mouvement, Paris, Les Éditions de Minuit, 1983, p. 146.

18 Ibid., p. 125. 19 Ibid., p. 147.

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Strindberg en ce qui concerne la mise en scène des émotions, un paradigme curieusement passé inaperçu dans le champ critique. Dans son film Persona (1966), Bergman trace un lien avec Strindberg, un lien essentiel, qui concerne le domaine des émotions, et plus particulièrement la construction affective du Songe. Le film met en scène une confrontation entre deux personnages, dans laquelle l’une parle et l’autre se tait. Elisabet Vogler (interprétée par Liv Ullmann) est une actrice qui joue Electre dans la tragédie grecque éponyme. Au milieu d’une réplique, elle s’arrête de parler et s’enferme dans le silence. Si l’on regarde avec attention la scène, on peut remarquer l’esquisse d’un sourire sur le visage d’Elisabet à cet instant précis, un sourire qui, une fois que la ca­ méra ne filme plus le visage, se transforme en un rire sonore qui accompagne un dialogue commentant la scène. La proposition de Bergman est que le si­ lence d’Elisabet vibre d’une puissance d’affect. Un éclat de rire qui la réveille, lui fait prendre conscience de quelque chose qui pour l’instant la dépasse et qu’elle ne comprendra que peu à peu, un affect qui s’ignore, qui se réserve, qui est contenu en puissance. Tout commence donc par une émotion qui jaillit avant même qu’on en connaisse la nature ou la cause. Bergman avait prépa­ ré le spectateur à cette idée avec un prologue sans autre fil narratif que celui des corps qui ressentent (on y voit entre autres tour à tour un sexe masculin en érection, un mouton qu’on égorge, des viscères, une main transpercée par un clou, etc.). Le prologue prépare ainsi le spectateur à l’expérience affective du spectacle et le rend réceptif aux émotions véhiculées tout au long du film. Les émotions sont mises en scène comme des réactions physiologiques et comportementales liées à des modifications corporelles (les visages d’Elisabet et Alma vont se superposer pour ne plus former qu’un seul visage hybride) et un état cognitif20 (Elisabet guérit en observant ses propres émotions). Le cas de la scène du double visage dans Persona est un bel exemple de situation af­ fective complexe que l’on peut étudier sous différents angles. On peut, d’une part, s’intéresser à l’aspect ressenti des émotions, mettre l’accent sur l’idée de sensations. L’étude des expressions faciales permet par exemple de déga­ ger les modalités affectives de l’événement. On peut, d’autre part, voir l’émo­

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Elles apparaissent comme un système complexe de croyances et de désir (ce que les philosophes des émotions revendiquent dans la « théorie mixte ») mais aussi comme un système de valeurs qui permet d’évaluer les implications de telle ou telle situation (« théo­ rie du jugement axiologique »). Voir Martha Nussbaum, Upheavals of Thought. Cambridge, Cambridge University Press, 2001.

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tion d’Elisabet-Alma comme une perception de valeur21. L’émotion est ici une attitude ressentie, c’est-à-dire une expérience perceptive, mais aussi un juge­ ment de perception, l’évaluation de la réaction affective mobilisant à son tour un système de valeurs. Deleuze explique dans L’Image-mouvement que les plans fixes sur les vi­ sages conduisent à un effacement du personnage, à une perte de personnali­ té voire d’individuation22. Deleuze revient sur le sujet dans un cours sur le ci­ néma donné en 1982 et prend l’exemple des deux visages superposés d’Alma et Elisabet. À la perte d’individuation succède la perte de communication. Je propose cependant une autre lecture, moins négative de la fonction du visage chez Bergman : il s’agirait selon moi davantage d’une perte de persona au profit d’une affirmation de l’identité affective que d’une perte d’individuation. L’indi­ vidu apparaît sous une autre identité, non plus sociale, mais émotionnelle, et établit une autre forme de communication, non plus verbale, mais par la mé­ diation des émotions. André Bazin écrit à propos de La Passion de Jeanne d’arc de Dreyer que les visages y sont traités comme des paysages. Cette belle ex­ pression de visage-paysage prend tout son sens, non pas comme le suggèrent Bazin et Deleuze, dans une inhumanité du visage, mais au contraire dans sa réappropriation de l’humain. Le visage de Bergman est un paysage des émo­ tions, une fenêtre ouverte sur un morceau de la vie affective. C’est là que Bergman rejoint le Strindberg du Songe : l’identité du per­ sonnage se construit dans un espace-temps déterminé exclusivement par les émotions. La seule structure narrative cohérente est ici le récit des émotions. Dans un entretien avec Olivier Assayas et Stig Björkman, Bergman explique son travail à partir de cette structure : Lorsqu’on est un artiste, qu’on crée des films, il est très important de ne pas être conséquent. Il faut être inconséquent. Si vous êtes conséquent, la beauté vous échappe, elle disparaît de votre œuvre. Au point de vue des émotions, vous devez être cohérent. C’est interdit de ne pas l’être, mais si vous avez confiance en vos propres émotions, si vous croyez en votre ima­ gination créatrice, vous pouvez être complètement inconséquent. Cela ne fait rien. Parce que vous avez le pouvoir de saisir les conséquences de vos émotions. Pour toujours.23 21 

Les expressions faciales sont considérées par William James comme l’une des classes du changement physiologique (William James, « What Is An Emotion ? », in : Mind, 9, 1884, p. 188–205). 22  Deleuze, op. cit., p. 141–142. 23  Olivier Assayas et Stig Björkman, Conversation avec Bergman, Paris, Les Cahiers du cinéma, 2006, p. 104.

L’ESPACE-TEMPS DES ÉMOTIONS

Le silence d’Elisabet et la retraite sur l’île de Fårö provoquent une déchirure de l’enveloppe spatio-temporelle. Elisabet n’est plus définie que par ses émo­ tions captées par la caméra avec précision : elle rit en écoutant une actrice à la radio puis pleure au son de la musique de Bach ; elle reste terrifiée devant une scène d’immolation retransmise à la télévision ; la joie de chantonner avec Alma succède à l’irritation à la lecture de la lettre de son mari. Ce sont autant d’éléments qui forment des phrases-affect, selon le terme de Jean-François ­Lyotard, et donnent au spectateur des clés pour lire non seulement ce qu’Elisa­ bet ressent mais aussi ce qu’elle pense. La phrase-affect inarticulée fonctionne en résonnance avec les règles du discours tout en les défiant : La communication mutique est faite d’inspirations et expirations d’air non discrètes : grognements, halètements, soupirs. Elle s’étend à la face et se répand dans tout le corps qui alors « signale » comme une face. L’es­ sentiel de la face considérée négativement (prise en référence par une phrase articulée actuelle) est que ses lèvres sont muettes. Il faudra ainsi étendre le phônè jusqu’au geste.24

Mais alors que l’enveloppe spatio-temporelle restait discontinue dans le théâtre onirique de Strindberg, Bergman reconstruit une continuité entre chaque émotion ressentie grâce à l’image captant le visage des personnages, grâce au visage-paysage. C’est là toute la force de l’image-affection. Le travail de la caméra permet la concaténation de l’enveloppe spatio-temporelle. Le ré­ sultat est expliqué par Jean-Luc Godard lorsque ce dernier remarque la capa­ cité du cinéaste suédois à faire venir « l’éternité au secours de l’instantané » : A l’instant précis. En effet, Ingmar Bergman est le cinéaste de l’instant. Chacun de ses films naît dans une réflexion des héros sur le moment pré­ sent, approfondit cette réflexion par une sorte d’écartèlement de la du­ rée, un peu à la manière de Proust, mais avec plus de puissance, comme si l’on avait multiplié Proust à la fois par Joyce et Rousseau, et devient fina­ lement une gigantesque et démesurée méditation à partir d’un instantané. Un film d’Ingmar Bergman, c’est, si l’on veut, un vingt-quatrième de se­ conde qui se métamorphose et s’étire pendant une heure et demie. C’est le monde, entre deux battements de paupières, la tristesse entre deux battements de cœur, la joie de vivre entre deux battements de mains.25

24 

Jean-François Lyotard, « La phrase-affect (D’un supplément au Différend) », Misère de la philosophie, Paris, Galilée, 2000, p. 51. 25  Jean-Luc Godard, « Bergmanorama. Ingmar Bergman par Jean-Luc Godard », Pa­ ris, Les Cahiers du Cinéma, no 85, juillet 1958, p.1–5 (https://www.cahiersducinema.com/ BERGMANORAMA-Ingmar-Bergman-par.html).

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Le visage est ici une représentation du temps et de l’espace, et ses émotions, transmises au spectateur par les variations de ses expressions, expriment une modularité du temps. Le zoom du cinéaste sur des éléments infimes de la vie affective, l’étirement et l’écartèlement de la durée (comme si l’on avait multi­ plié Proust à la fois par Joyce et Rousseau) pour faire d’un instant l’objet d’un film participent à cet effort pour retrouver une homogénéité dans l’identité. Le chemin qui relie l’expérimentation de Strindberg au tout début du XXe siècle à sa mise en scène post-moderne de 2012 semble donc passer par le travail de concaténation de l’enveloppe spatio-temporelle et l’exploration des images-af­ fections de Lars von Trier et de Bergman. Par la puissance du spectaculaire ci­ nématographique, le grand récit de l’identité mis à mal par la crise de la mo­ dernité retrouve une forme de lisibilité.

3 La construction topologique de l’espace-temps dans le théâtre de Jon Fosse et d’Arne Lygre Venons-en alors au théâtre nordique contemporain. La production des deux écrivains norvégiens Jon Fosse et Arne Lygre est avant tout destinée à être jouée et représentée : elle est tournée vers la scène et très peu vers le texte, dans la lignée d’un théâtre contemporain nordique performatif qui s’inscrit dans une certaine méfiance vis-à-vis du langage. Si l’on isole le texte de ce théâtre, il peut paraître pauvre, en raison de la concision, de la simplicité des phrases et de son caractère répétitif, par conséquent ce texte ne peut être compris sans prendre en compte la dimension performative qui lui est asso­ ciée. Pris seuls, certains dialogues pourraient rappeler le théâtre de l’absurde de Beckett ou Ionesco. Le propos est sans doute tout autre. Il s’agit d’expri­ mer avec un souci de sobriété certaines dimensions du rapport au monde de l’être humain. Avec des pièces composées de dialogues laconiques, plus souvent rele­ vant de monologues ou de dialogues imaginés par le protagoniste, Fosse et Lygre semblent vouloir signifier que le sens du langage n’est pas fixe, mais est en constante redéfinition. L’absence de ponctuation est un moyen d’expri­ mer cela. Le style est épuré à l’extrême et une grande place est faite à la répé­ tition comme motif stylistique. Les phrases sont reprises, souvent à l’iden­ tique, parfois avec de légères variations, créant l’impression d’une hésitation

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de tous les instants. La prosodie choisie par l’acteur devient dès lors décisive et rend l’émotion exprimée plus importante que le texte écrit. Dans quel espace-temps s’expriment ces émotions ? En général aucun cadre temporel fixe n’est posé. Par exemple dans Maman, moi et les hommes (Mamma og meg og menn, 1998) de Lygre, les mêmes dialogues sont répétés par des personnages différents à différentes époques. Les personnages n’ont pas ni passé ni origine, et le seul référent identitaire est l’expérience d’être ici et maintenant. La carte qui se dessine dans ce théâtre suit le contour de chaque émotion, de chaque ramification affective et produit des ensembles hétéro­ gènes et fragmentaires. Selon Deleuze, « l’espace n’est plus déterminé, il est devenu l’espace quelconque identique à la puissance de l’esprit, à la décision spirituelle toujours renouvelée »26. C’est en ce sens que l’on peut dire que la carte de la scène du théâtre de Lygre et Fosse est deleuzienne. Elle est « ou­ verte, elle est connectable dans toutes ses dimensions, démontable, renver­ sable, susceptible de recevoir constamment des modifications »27. Mais com­ ment s’y repérer, comment s’y orienter ? Voilà peut-être l’un des principaux enjeux de la dramaturgie nordique contemporaine. L’enjeu est topologique. C’est une question de voisinage. Comment tisser des liens de proximité ? De­ leuze et Guattari expliquent que cette cartographie, qu’il oppose à la décalco­ manie, trouve son unité « dans une autre dimension, transformationnelle et subjective »28 sans en préciser les conditions d’émergence ni les propriétés. La topologie permet de prolonger la pensée de Deleuze car par ses propositions axiomatiques, elle modifie le paradigme métrique définissant l’espace. Dans la définition des espaces topologiques, la proximité est définie en effet à par­ tir d’axiomes remplaçant la distance par les notions d’ « ensemble ouvert », de « frontière » et de « points d’adhérence ». Dans un paradigme euclidien, les ca­ ractéristiques spatiales mobilisées dans le théâtre de Lygre et Fosse semblent se refermer sur elles-mêmes. La topologie permet au contraire de penser les limites, l’ouverture et la continuité. La continuité topologique explique qu’à chaque variation infinitésimale de l’état affectif d’un des personnages correspondent des variations infinité­ simales de sa trajectoire, de ce qu’il devient et l’émergence de nouvelles adhé­ rences et de nouvelles limites (Deleuze parle de « nouvelles lignes de fuites », 26 

Gilles Deleuze, L’Image-mouvement, op. cit., p. 165. Gilles Deleuze et Félix Guattari, Mille plateaux, Paris, Les Éditions de Minuit, 1980, p. 20. 28 Ibid., p. 19. 27 

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d’ « agencements », de « brisures »). Cette continuité est la condition de la ré­ gie dramaturgique. On voit ainsi clairement à quel point sans cette continui­ té, sans cette mise en tension topologique, le passage du texte à la mise en scène serait tout simplement impossible. Car elle est la condition sine qua non de l’émergence de nouvelle structures de voisinage qui redonne la possibili­ té d’un récit. La première scène de Je disparais (Jeg forsvinner, 2010) de Lygre est inté­ ressante dans cette perspective. Elle décrit une femme assise sur une chaise, seule dans une pièce : C’est ma maison. C’est ma chance et ma limite. De temps a autres, je réflé­ chis aux expériences que je n’ai pas, du fait que je ne m’éloigne pas beau­ coup de cette propriété. Les paysages que je ne vois pas, les gens que je ne rencontre pas, les pensées que je n’ai pas l’occasion d’affronter. Parfois la conscience aiguë de cette inexpérience me suffoque, d’autres fois j’en suis contente. Qu’ai je à faire du reste du monde ?29

L’espace est apparemment fermé et suscite tour à tour la sensation de sécurité, de peur et de claustrophobie. Il trace les contours d’un territoire intime : « Mon monde, pense-t-elle et elle a conscience de sa place, parfaitement conscience, le corps comme un objet en relation avec le plafond, les murs. L’espace limité. Elle même.30 » À priori, le drame ne pourra sortir de ce territoire. Mais peu à peu, Lygre laisse apparaître des liens avec d’autres lieux et la maison devient un espace ouvert au sens topologique : elle développe des points d’adhérence avec d’autres ensembles, la chambre d’hôpital, l’espace souterrain formé par le tremblement de terre puis le hall de gare ou d’aéroport. Au confinement hété­ rotopique de chaque ensemble répond la possibilité d’une continuité qui per­ met à la trajectoire du personnage de tracer une carte ouverte sur le monde. Dans Jours souterrains (Dager under, 2008), Lygre hiérarchise les espaces entre trois territoires : la pièce souterraine, la pièce en dessus et l’extérieur. La première est isolée phoniquement et visuellement (elle est reliée avec l’autre pièce par un monte-charge trop étroit pour laisser passer un être humain). L’espace extérieur est visible mais inaccessible, ce qui impose aux personnages une confrontation particulière avec l’environnement intérieur.

29 

Arne Lygre, Je disparais, Paris, L’Arche, 2011, p. 3.

30 Ibid.

L’ESPACE-TEMPS DES ÉMOTIONS Femme Nous avons notre relation. Propriétaire Nous avons cette maison. Nous avons cette pièce. Une pièce vide au cœur d’une maison. Femme Tu lui as donné un nom, à cette pièce. La première fois que j’y suis venue. Le propriétaire La chambre des expériences. Celle ci, les autres pièces du souterrain. Femme C’est ça. Le propriétaire Une première expérience de liberté.31

La structure architecturale est définie par des voisinages tour à tour ouverts et fermés : dans la pièce du dessus, on peut observer celle du dessous mais pas l’inverse. Et dans la pièce la plus souterraine, de laquelle le personnage ne peut sortir, une fenêtre ouvre sur immense paysage. Le huis-clos est ici construit par des relations topologiques asymétriques desquelles émanent les rapports de domination et qui déterminent voire conditionnent les inter­ actions affectives. La pièce Je disparais repose sur différents niveaux de narration qui ex­ posent ce que le personnage dit et, par un mécanisme de métacommentaires, ce qu’il pense. Lygre recourt à trois niveaux textuels, distingués par des typo­ graphies distinctes (caractères normaux, en italique et en gras) mais agissant de façon simultanée pour l’intrigue. Dans Jours souterrains, deux niveaux nar­ ratifs sont également mobilisés : moi (en caractère normal), exprimant une narration intérieure, et moi (en caractère gras) tourné vers l’extérieur. Lors­ qu’il s’adresse à lui-même, le locuteur est ainsi silencieux pour l’autre. Cette distinction des niveaux narratifs permet également aux personnages de par­ ler en même temps. Cette structure énonciative complexe crée un espace rhi­ zomatique dans le sens où il est composé d’autant de liens et de forces qu’il y a de voix de narration pour raconter la scène. On peut convoquer ici Deleuze et son idée de rhizome comme modèle de multiplicité, de système ouvert et de réseau : « Le rhizome est un système a-centré, non hiérarchique et non si­

31 

Arne Lygre, Jours souterrains, Paris, L’Arche (manuscrit) 2008, p. 13–14.

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gnifiant, sans Général, sans mémoire organisatrice ou automate central, uni­ quement défini par une circulation d’états. »32 Deleuze, dans son travail avec Felix Guattari, ajoute à cela le concept de plateaux : « nous appelons plateau toute multiplicité connectable avec d’autres tiges souterraines superficielles de manière à former et étendre un rhizome »33. La superposition des narrations dans le théâtre nordique crée autant de pla­ teaux qu’il y a de voix énonciatrices et permet aux rhizomes de se déployer. Deleuze précise que « l’arbre est filiation, mais le rhizome est alliance, unique­ ment d’alliance. L’arbre impose le verbe ‹ être ›, mais le rhizome a pour tis­ su la conjonction ‹ et… et… et… ›. Il y a dans cette conjonction assez de force pour secouer et déraciner le verbe être »34. Les personnages se construisent sur une hétérogénéité, une multiplicité sans point d’origine ni centre. Il s’agit pour eux de devenir et non d’être. La dramaturgie de Jon Fosse trace elle aussi une carte topologique. Elle construit un espace-temps sur deux axiomes : l’espace est ouvert ; il est vide de matière, de couleur, de son. Toute la puissance dramatique vient de la possibi­ lité de saisir des phénomènes existentiels qui jaillissent de cet espace-temps apparemment insignifiant. Dans Je suis le vent (Eg er vinden, 2007), Fosse rend cela explicite : Je regarde lointain silence assez bref et il n’y a rien à voir que la vaste mer Tout est vide Rien que la mer Rien que le ciel Rien que le vide rien que le noir rien que le blanc35

De nouvelles adhérences peuvent alors apparaître, de nouveaux points d’ac­ cumulation, de nouvelles limites. La vie affective des personnages peut se dé­ ployer. Dans le langage de Deleuze, le personnage se fait rhizome. Tel un rhi­ zome avec ses entrées multiples, le personnage n’appartient pas ni un lieu, ni à une structure profonde fixe. Il ne se définit pas dans la verticalité mais 32  33 

Deleuze et Guattari, op. cit., p. 32. Ibid., p. 33. 34  Ibid., p. 36. 35  Jon Fosse, Je suis le vent, Paris, L’Arche, 2010, p. 70.

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dans ses relations de voisinage et sa capacité à se déterritorialiser et à se reterritorialiser. L’un Et il y a tant de silence ici L’autre L’eau qui clapote autour du bateau c’est tout ce qu’on entend L’un Oui oui et nous flottons si légèrement Silence assez bref nous sommes si légers en quelque sorte Silence assez bref le vent est en nous36

L’absence d’invariabilité des distances, de linéarité ou d’origine crée des lignes de fuite (Deleuze explique que les « lignes segmentaires explosent dans une ligne de fuite »37) et exige une déterritorialisation de l’action. Déterritorialisa­ tion et reterritorialisation correspondent à des déformations spatiales par ce que la topologie appelle des transformations continues. L’espace-temps peut se transformer sans que les propriétés intrinsèques des personnages ne soient altérées. Les personnages restent topologiquement équivalents (ou homéo­ morphes). Leur invariant se trouve dans le fait qu’ils se définissent par leurs expériences affectives et leurs relations de voisinages, même si elles-mêmes varient en permanence. L’expérience affective dans la confrontation avec l’autre est l’unique possi­ bilité pour exister. Dans Puis le silence (Så stillhet, 2008) de Lygre, un person­ nage explique que « Sans les autres, nous sommes incapables de nous voir […] Sans les autres nous n’existons pas. » 38 Les forces des affects sont les seuls points d’ancrage, bien que ces der­ niers soient sans cesse redéfinis. Tout se définit par ce qui affecte les person­ nages et aussi par ce qu’ils affectent, par le mouvement dynamique du champ de forces qui les entoure et qu’ils créent. Selon Gilles Deleuze et Felix Guatta­ ri, le concept d’affect repose sur une série de principes régulant l’action et la

36 

Ibid., p. 32–33. Deleuze et Guattari, op. cit., p. 16. 38  Arne Lygre, Puis le silence, Paris, L’Arche (manuscrit) 2008, p. 51. 37 

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réaction des individus en réponse à une force : cette dernière est toujours en rapport avec quelque chose, affectant ou affectée, et n’existe que dans cette relation. Elle est toujours plurielle. Deleuze et Guattari en expliquent l’effet : « un corps sans organes qui ne cesse de défaire l’organisme, de faire passer et circuler des particules asignifiantes, intensités pures, et de s’attribuer les su­ jets auxquels il ne laisse plus qu’un nom comme trace d’une intensité »39. Tout corps est soumis à ces forces instables et n’existe que comme entité affective et intensive, avec ses flux, ses gradients, ses intensités. L’affect est ainsi défi­ ni comme des variations de puissance qui impliquent le passage d’un état à un autre. Lygre témoigne de ces niveaux d’affection : Un Il pleure ? Un autre C’est lui le plus affecté. Un Il y a des degrés dans le chagrin ?40

Les personnages semblent dire : je suis affecté donc je suis. Leur consistance dépend de l’intensité des affects ressentis. Les dialogues ne sont donc qu’une petite partie d’une écriture dans la­ quelle les émotions sont exprimées par une autre grammaire construite sur le corps, ses gestes, ses attitudes, ses réactions… Dans Je suis le vent, les mots sont lourds et le bruit est pesanteur alors que les affects provoqués par l’envi­ ronnement créent la légèreté de l’être. L’Un Désormais je n’ai pas peur Désormais je ne suis pas lourd Je ne suis qu’alourdi et je ne suis pas alourdi Je ne suis plus que mouvement Je suis parti avec le vent Je suis le vent41

39 

Deleuze et Guattari, op. cit., p. 10.

40 Lygre, Puis le silence, op. cit., p. 19. 41 

Jon Fosse, op. cit., p. 71.

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4 Conclusion 117

Selon la poétique de ces pièces de théâtre, la condition humaine est ainsi ex­ clusivement déterminée par une confrontation affective avec les autres, une confrontation dans laquelle les mots n’ont aucune autre fonction que de si­ gnaler dans leur répétition le mouvement continu des forces et des affects. C’est donc une vision relationnelle et dynamique qui permet de saisir l’in­ stabilité de l’identité post-moderne. Dans le théâtre nordique contemporain, comme déjà dans Le Songe, les scènes se répètent souvent avec les mêmes ré­ pliques, créant une impression de circularité. Mais en fait, cette succession de micro-scènes dans lesquelles le personnage ressent un affect confère une structure narrative précise : chaque action est déterritorialisée puis reterritorialisée avec pour seul invariant le corps du personnage qui ressent. Cette struc­ ture topologique rend visible et lisible la déchirure de l’enveloppe spatio-tem­ porelle. Si le théâtre de Strindberg avait déjà exploré cette écriture témoignant de la déchirure de l’enveloppe spatio-temporelle, le cinéma et le théâtre nor­ diques contemporains ont permis de tisser une reconstruction topologique de l’espace-temps et rendent ainsi lisibles ces nouvelles identités rhizomatiques. Ego sentio, ego sum. À la question « Qui suis-je ? », la réponse se trouve donc dans les affects. La spatialité des corps et « l’être au temps » sont redé­ finis par des structures topologiques qui donnent à l’être une continuité. A priori, ce qui relie une scène à l’autre dans la mise en intrigue d’un person­ nage demeure insaisissable. Mais le spectateur doit comprendre qu’à chaque scène un lien topologique se tisse, un lien d’équivalence ou d’homéomorphie. Agnes reste homéomorphe tout au long de sa trajectoire sur terre, Grace aus­ si. Alma et Elisabet sont, sur leur île, topologiquement équivalentes car elles partagent leurs émotions, c’est pour cela qu’elles peuvent superposer leurs vi­ sages et les interchanger. L’espace-temps sensible des émotions ainsi façonné forme une topologie. Peu importe la forme de l’enveloppe, ses propriétés affectives restent inchan­ gées. Dans toutes ces œuvres, la manière dont les personnages interagissent les uns avec les autres ou avec leur environnement, la manière dont ils sont traversés par les affects, sont autant d’invariants inaltérés qui permettent de lire les personnages par déduction, d’une scène à l’autre. Par des processus de transformation continue, il devient alors possible de recomposer un es­ pace-temps sensible dans lequel le rapport entre être, penser, faire et dire est avant tout déterminé par une double action : sentir et ressentir.

Arnd Beise

Herausforderung Film Peter Weiss zwischen den Künsten

1 Peter Weiss, heute hauptsächlich erinnert als einer der seinerzeit »am meis­ ten beredeten deutschen Dramatiker«1 und Romanciers der deutschsprachi­ gen Nachkriegsliteratur, war zunächst einmal Maler. Er habe »als Kind schon und als ganz junger Mensch« die Idee gehabt, er »müßte Maler werden«, er­ zählte Weiss einmal. Nur »nebenbei« habe er auch »geschrieben«.2 Kinoerfahrungen hatte der 1916 Geborene in seiner Kindheit und Jugend offenbar die üblichen, ohne dass irgendetwas davon besonders prägend gewe­ sen wäre. In dem autobiografisch grundierten Roman Fluchtpunkt3 werden als Filmerlebnisse der Kindheit Charlie Chaplins The Kid (1921) und Raoul Walshs Der Dieb von Bagdad (1924),4 als wichtigstes Kinoerlebnis der Jugend Mur­naus Tabu (1931)5 erwähnt. In einer Erzählung aus dem Jahr 1938 verliebt sich der

1 

Theater heute. Zeitschrift für Schauspiel, Oper, Ballett 9 (1968), H. 6, S. 5 (Redaktionsnotiz). 2  Rainer Gerlach u. Matthias Richter (Hg.): Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 260. 3  Peter Weiss: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, Bd. 2, S. 162f. 4  1981 erinnerte Weiss aus der Bremer Zeit noch einen »Moses-Film«, vielleicht ­Cecil DeMills Zehn Gebote (1923), vgl. Peter Weiss: Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Mit dem Verzeichnis der Arbeitsbibliothek von Peter Weiss und Gunilla Palmstierna-Weiss. Hg. v. Jürgen Schutte, Wiebke Amthor u. Jenny Willner. 2., verb. u. erw. Aufl. St. Ingbert: Röhrig, 2012, S. 12299. 5 Weiss: Werke, Bd. 2, S. 163: »immer wieder beschäftigte mich die Schlußszene, in der der Held der entführten Geliebten nachschwimmt ins offene Meer, und immer weiter hinter dem Boot zurückbleibt, bis seine Kräfte erlahmen und er ertrinkt«; vgl. ebd., Bd. 1,

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Held »immer wieder aufs neue« in Katherine Hepburn.6 In einem anderen Text heißt es, das Kino sei »gut«, es könne einen »retten«, denn es mache einen »schnell« vergessen.7 Mit einem Wort: Das Kino erschien Weiss damals als eine erfreuliche »Erfindung«,8 die vor allem eines verheiße: »Zeitvertreib, Zerstreu­ ung und Entspannung«.9 Der anspruchsvollste Film seiner Jugend ist Marcel Carnés größter kommerzieller Erfolg Hafen im Nebel (1938), der ihm allmäh­ lich zum »Symbol für die Untergangsstimmung« der frühen Exiljahre wurde.10

2 Das für ihn gravierendste Kinoerlebnis datiert der Erzähler des Romans Fluchtpunkt (1962) auf das »Frühjahr 1945«.11 Es waren die Wochenschau-Be­ richte über die Vernichtungslager der deutschen Nationalsozialisten, die nach der Kapitulation des Deutschen Reichs in ganz Europa zu sehen waren: Auf der blendend hellen Bildfläche sah ich die Stätten, für die ich be­ stimmt gewesen war, die Gestalten, zu denen ich hätte gehören sollen. Wir saßen in der Geborgenheit eines dunklen Saals und sahen, was bisher unvorstellbar gewesen war, wir sahen es in seinen Ausmaßen, die so un­

S. 273 (Das Duell), wo die Schlussszene des Films ebenfalls erinnert wird. – Anders als Beat Mazenauer (»Staunen und Erschrecken. Peter Weiss’ filmische Ästhetik«. In: Martin Rector u. Jochen Vogt [Hg.]: Peter Weiss Jahrbuch 5. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996, S. 75–94, hier S. 76) annahm, war Weiss’ Mutter nicht an dieser Filmproduktion beteiligt. 6  Peter Weiss: »Cloe. Caspar Walthers nachgelassene Aufzeichnungen« [1938]. In: Her­ mann Hesse u. Peter Weiss: »Verehrter großer Zauberer«. Briefwechsel 1937–1962. Hg. v. Beat Mazenauer u. Volker Michels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 146–211, hier S. 160. 7  Peter Weiss: »Die Landschaften in den Träumen« [1939], schwedische Übersetzung des nachgelassenen Typoskripts in: Ders.: Landskapen i drömmarna. Übers. v. Ulrika Wallen­ström. Hg. v. Sverker R. Ek. Hedemora, Gidlund, 1991, S. 308; auf Deutsch zit. n. Mazenauer: »Staunen und Erschrecken«, S. 76. 8  Weiss: »Cloe«, S. 160. 9  Mazenauer: »Staunen und Erschrecken«, S. 76. 10  Ebd., S. 77. – Bei der Vorbereitung des Buchs über die Kriegsjahre in Schweden – Keimzelle der Ästhetik des Widerstands – erinnerte sich Weiss (oder: wurde von Rucenna Hodann daran erinnert, oder: fand eine Notiz, dass Max Hodann den Film am 28. März 1939 oder 1940 in Norwegen sah?), dass Marcel Carnés Hafen im Nebel kurz vor oder nach Kriegsbeginn in die Kinos kam (vgl. Weiss: Die Notizbücher, S. 4561; die Uraufführung des Films war am 17. Mai 1938). Weiss versah die Notiz mit einem untypischen Ausrufezei­ chen, was auf emotionale Anteilnahme schließen lässt. 11 Weiss: Werke, Bd. 2, S. 245.

Herausforderung Film geheuerlich waren, daß wir sie zu unsern Lebzeiten nie bewältigen wür­ den […], alle Werte waren vernichtet worden. […] Es schien nicht mehr möglich, weiterzuleben, mit diesen unauslöschlichen Bildern vor Augen.12

Der »Realismus« und »die aufrüttelnde, überzeugende Kraft von Wochen­ schaufilmen«13 sind die erste große Herausforderung für den Künstler Peter Weiss, der er sich nach 1945 stellte. »Der Realismus wird immer als eine der ersten gegebenen Funktionen des Films bestehen bleiben«, schrieb Weiss Mitte der 1950er Jahre in einer Ab­ handlung über die Anfänge der Filmkunst: »Doch neben den Schilderungen der äußeren Lebensbedingungen gibt es das weite Feld des Irrationalen, der Vision, der abstrakten Formspiele, des Traums«.14 Dieses Feld fand Weiss in den surrealistischen Filmexperimenten bear­ beitet. Nach 1945 konnte man sie in den schwedischen Kinos sehen. »Gleich nach Kriegsende erlebte ich zum ersten Mal den Surrealismus, und zwar sehr stark«, erinnerte sich Weiss später. »Es war eine wirklich ernsthafte Beschäf­ tigung. […] Buñuels L’âge d’or zum Beispiel, war ein ganz einschneidendes künstlerisches Erlebnis«.15 Die surrealistische Vision, das ist die zweite filmische Herausforderung, der sich der Künstler Peter Weiss stellte. In einer Zeitungsreportage über den deutschen Nachkriegsfilm formulier­ te Weiss 1947 beiläufig die Forderung nach einer Verbindung zwischen doku­ mentarischem Realismus und surrealistischer Vision: Was man brauche, seien die »quälend realistischen, seltsam traumhaften und surrealistischen, erschre­ ckenden, anklagenden und besinnlich stimmenden Visionen«.16 Entsprechend werde ich in diesem Aufsatz im Folgenden den beiden Fra­ gen nachgehen: Wie reagierte Weiss auf die doppelte Herausforderung durch

12 

Ebd., S. 245f. Peter Weiss: »Tysk efterkriegsfilm: Reseintryck från sommaren 1947«. In: Biografbladet (Stockholm) 1947, Nr. 3, S. 185–190; zit. n. der deutschen Übersetzung von Beat ­Mazenauer: »Deutscher Nachkriegsfilm«. In: Michael Hofmann, Martin Rector u. Jochen Vogt (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Band 8. St. Ingbert: Röhrig, 1999, S. 12–16, hier S. 12. 14  Zit. n. Peter Weiss: Avantgarde Film. Aus dem Schwedischen übersetzt und hg. v. Beat Mazenauer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, S. 151. 15  Peter Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss. Bilder, Zeichnungen, Collagen, Filme. Ausst.-Kat. Museum Bochum. Berlin: Frölich & Kaufmann, 1982, S. 38f. 16  Weiss: »Deutscher Nachkriegsfilm«, S. 14. 13 

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den dokumentarischen und den surrealistischen Film? Leistete er irgendwann die 1947 geforderte Synthese? 122

3 Ich beginne mit der Malerei, die bis Ende der 1940er Jahre bei Peter Weiss »das Primäre« war, während die Schriftstellerei »ein Nebenprodukt« blieb;17 auch wenn beides angeblich von Anfang an »ineinander verwoben« war.18 Für seine Malerei war die doppelte Herausforderung durch das Medium Film letztlich der Todesstoß; ein langsam wirkender Stoß allerdings. »Die ge­ samten 50er Jahre waren ein Abnabelungsprozeß von der bildnerischen Ar­ beit«, resümierte Weiss später.19 Zunächst einmal verlor er seine bildnerische Naivität. Der Realismus der Wochenschau und die visionären Provokatio­ nen der Surrealisten machten dem Maler Weiss klar, dass der »unbeschwer­ te, selbstverständliche Traumrealismus« seiner früheren Gemälde weder der einen noch der anderen Forderung genügte.20 Dem Realismuspostulat des Wochenschau-Erlebnisses versuchte Weiss malerisch gar nicht erst nachzukommen. Das wäre vermutlich auch ein aus­ sichtsloses Unterfangen gewesen. Stattdessen versuchte er, auf das Surrealis­ mus-Erlebnis produktiv zu reagieren: Einer »zersplitterte[n] Welt«21 konnte nur noch eine Darstellung gerecht werden, die selber »zerfetzt«, »zersplittert« oder »verschoben« war,22 um einmal die Begrifflichkeit von Weiss zu benutzen. Die Ölmalerei gab er auf. Stattdessen benutzte er überwiegend grafische Tech­ niken. Die Geschlossenheit des Bildes sollte gesprengt, seine Statik überwun­ den werden. Ob Weiss’ »Bilder« tatsächlich »sehr ähnlich« den surrealistischen »Filmbildern« sind, wie er einmal behauptete,23 bleibe dahingestellt. Auffällig

17 

Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss, S. 20. Peter Weiss: Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe. Hg. v. Rainer Gerlach u. Jürgen Schutte. Göttingen: Wallstein, 2006, S. 48. 19  Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss, S. 40. 20 Weiss: Das Kopenhagener Journal, S. 108; vgl. Peter Weiss: Die Situation. Roman. Aus dem Schwedischen v. Wiebke Ankersen. Mit einem Nachwort der Übersetzerin. Frank­ furt a. M.: Suhrkamp, 2000, S. 152f. 21  Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss, S. 41. 22  Ebd., S. 39. 23  Gerlach/Richter (Hg.): Peter Weiss im Gespräch, S. 256. 18 

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Abb. 1 und 2: Federzeichnungen des Autors zu seiner Erzählung Duellen / Das Duell, 1952. © Gunilla Palmstierna-Weiss, Stockholm

ist vor allem, dass Weiss in dieser Phase seine eigene malerische Handschrift verlor. »Man hat bei diesen Bildern […] stets den […] Eindruck, als hätte man ihre Manier schon ähnlich woanders und früher gesehen. In diesen Jahren schien Peter Weiss die Malerei, deren Technik er inzwischen virtuos beherrsch­ te, als Ausdrucksmittel abhanden zu kommen«.24 Die »Zweifel an der Malerei als Medium«25 oder das, was er in dem 1956 geschriebenen Roman Die Situation die »Formforderungen der Zeit« nann­ te,26 wurden allmählich übermächtig. Weiss wandte sich verstärkt der Litera­ tur zu, die nun keineswegs mehr das Nebenprodukt der Malerei war; im Ge­ genteil: Symptomatisch ist, dass Weiss immer mehr dazu überging, eigene und fremde Texte zu illustrieren. Als originäre Ausdrucksform schienen ihm Malerei und Grafik nicht mehr geeignet. »Das Schreiben wurde mir ganz zum

24 

Arnd Beise: Peter Weiss. [2., verb. u. bibliogr. aktualisierte Ausgabe.] Stuttgart: Reclam, 2015, S. 38. 25  Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss, S. 41. 26 Weiss: Die Situation, S. 152.

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Ersatz für das Malen«, erkannte er selbst, »und der Film nahm das Bedürfnis des Bilderschaffens auf«.27 1952 entstanden ein längerer Erzähltext, ein surrealistisches Theaterstück und die beiden ersten Experimentalfilme von Peter Weiss. Die Kataloge seines malerischen und grafischen Werks verzeichnen aus diesem Jahr nur noch vier Filmskizzen, drei Gouachen und eine Zeichnung mit Wasserfarben.28

4 Das Schreiben löste die bildkünstlerische Ausdrucksform ab, weil für Weiss nicht mehr die Darstellung, sondern die Wahrnehmung und deren Reflexion das zentrale Thema war. In dem schwedischsprachigen Prosatext Dokument I aus dem Jahr 1949 (erst 1980 von Weiss unter dem Titel Der Fremde auf Deutsch publiziert) wird der Fremde, der in die Stadt kommt, um irgendwie zu überleben, von einem der Bewohner gefragt, was er denn könne? »Ich kann nur hören und sehen«, ist seine Antwort.29 Damit erklärt sich der Protagonist quasi zu einer Filmkamera, die Bilder und Töne ohne subjektive Filter aufzeichnet. In Dokument I ist dieses filmische Verfahren noch nicht konstitutiv für den gesamten Text. Immerhin zeichnet sich dieser Text dadurch aus, dass sich hier wie in einigen anderen Prosaarbei­ ten »der Realismus und das Traumhafte vermischen«, wie Simone Dubreuilh schon 1958 feststellte,30 was der Forderung nach einer Synthese von Realis­ mus und surrealistischer Vision einigermaßen entsprach. Konsequent durchgeführt ist das Prinzip des filmischen Schreibens in dem sogenannten Mikro-Roman Der Schatten des Körpers des Kutschers aus be­ sagtem Jahr 1952. Analog zu Dziga Vertovs Mann mit der Kamera (1928/29)31 versuchte sich Weiss in dieser Erzählung in einer Schreibweise, die Vertovs

27 Weiss: Das Kopenhagener Journal, S. 49. 28  Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss, S. 279; Per Drougge (Hg.): Peter Weiss.

­Måleri, collage, teckning. 1933–1960. Södertälje: Konsthall, 1976, S. 56. 29 Weiss: Werke, Bd. 1, S. 156. 30  Gerlach/Richter (Hg.): Peter Weiss im Gespräch, S. 23. 31  Vgl. auch den Beitrag von Thomas Hunkeler: Samuel Beckett et l’œil de la caméra, (d’)après Dziga Vertov.

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angeblich objektivem Abfilmen »einer visuellen Welt der Fakten«32 ähnelte. »Einzig direkte Sinneseindrücke sollten sprechen.«33 In seinem Buch Avantgardefilm hielt Weiss fest: [Vertov] arbeitete mit extremen Großaufnahmen und mikroskopischer Fotografie […]. Das Kameraauge sollte eine gesteigerte Empfindung für das Gegenwärtige vermitteln. Jedes Detail aus dem täglichen Le­ ben wurde wahrgenommen und registriert, jede kontinuierliche Hand­ lung verworfen. Der Film sollte nicht unterhalten, er sollte aufwecken und aufrütteln.34

Ähnliches versuchte Weiss in seiner Erzählung narrativ umzusetzen. Die film­ artige Erzähltechnik des Schattens des Körpers des Kutschers ist längst bemerkt worden.35 Dass der Effekt dem von Vertovs Filmexperimenten entsprach, be­ stätigte Siegfried Unseld in seinen brieflichen Reaktionen auf das Manuskript, die der Veröffentlichung 1960 vorausgingen. Zwar sah Unseld die wesentli­ chen Anregungen nicht im Film, sondern in den »Erfahrungen der modernen Graphik«36 und Malerei, wie er sie gerade auf der documenta II in Kassel erlebt hatte, aber er erkannte die Abgründigkeit der Technik des von Weiss adap­ tierten »Kino-Auges«. In der Briefprosa eines 34-jährigen Verlegers der aus­ gehenden 1950er Jahre klingt das so: »ich finde, es ist Ihnen auch gelungen, das Gespenstische, Hintergründige, ja Katastrophale in der Alltagswelt auf­ zuzeigen«.37 – Hier der Anfang des Textes:

32 Weiss: Avantgarde Film, S. 87. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 

Vgl. Christine Ivanovic: »Die Sprache der Bilder. Versuch einer Revision von Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers«. In: Michael Hofmann, Martin Rector u. ­Jochen Vogt (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Band 8. St. Ingbert: Röhrig, 1999, S. 34–67, hier S. 35: »Der Inhalt des Kutschers läßt sich nur als Folge einzelner szenisch gestalteter Bilder erfassen; er bildet keine kontinuierlich ablaufende Geschichte. Diese dynamisierende Darstellungsweise erinnert mehr an den Film, als sie an genuin episch-erzählende Verfahren anknüpft. Dabei werden die einzel­ nen minutiös beschriebenen Szenen in der Mehrheit regelrecht filmisch aufgenommen«; Michael Roloff 1964 (in: Gerlach/Richter (Hg.): Peter Weiss im Gespräch, S. 37) konfrontier­ te Weiss mit dem Eindruck, dass er wohl »die Abfolge von Ereignissen im Text so ähnlich wie die Abfolge von Ereignissen im Film abbilden wollte«. 36  Siegfried Unseld u. Peter Weiss: Der Briefwechsel. Hg. v. Rainer Gerlach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 37. 37  Ebd.; vgl. S. 52.

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Durch die halboffene Tür sehe ich den lehmigen, aufgestampften Weg und die morschen Bretter um den Schweinkofen. […] Außerdem sehe ich noch ein Stück der Hauswand, mit zersprungenem, teilweise abgebröckeltem gelblichen Putz, ein paar Pfähle, mit Querstangen für die Wäscheleinen, und dahinter, bis zum Horizont, feuchte, schwarze Ackererde. Dies sind die Geräusche; das Schmatzen und Grunzen des Schweinerüssels, das Schwappen und Klatschen des Schlammes, das borstige Schmieren des Schweinerückens an den Brettern, das Quietschen und Knarren der Bret­ ter, das Knirschen der Bretter und lockeren Pfosten an der Hauswand, die vereinzelten weichen Pfiffe des Windes an der Ecke der Hauswand und das Dahinstreifen der Windböen über die Ackerfurchen, das Krächzen einer Krähe das von weither kommt und sich bisher noch nicht wieder­ holt hat (sie schrie Harm), das leise Knistern und Knacken im Holz des Häuschens in dem ich sitze, das Tröpfeln der Regenreste von der Dach­ pappe, dumpf und hart wenn ein Tropfen auf einen Stein oder auf die Erde fällt, klirrend wenn ein Tropfen in eine Pfütze fällt, und das Scha­ ben einer Säge, vom Schuppen her. […] Erst jetzt (eben schreit die Krähe noch einmal Harm) empfinde ich die Kälte an meinem entblößten Gesäß. Die Niederschrift meiner Beobachtungen hat mich davon abgehalten, die Hose hinaufzuziehen und zuzuknöpfen; oder das plötzliche Einsetzen meines Beobachtens ließ mich vergessen, die Hose hinaufzuziehen; oder auch war es die herabgezogene Hose, das Frösteln, die Selbstvergessen­ heit die mich hier auf dem Abtritt überkam, die diese besondere Stim­ mung des Beobachtens in die Wege leitete. Ich ziehe jetzt die Hose hi­ nauf, knöpfe sie zu und schließe den Gürtel, ich nehme den hölzernen Deckel, doch ehe ich ihn auf die Sitzöffnung lege blicke ich hinab in den Eimer der bis über den Rand mit der bräunlichen Masse des Kotes und mit braunfleckigen Papieren gefüllt ist […]. Nachdem ich den Deckel auf­ gelegt habe setze ich mich wieder auf den Kasten, den Schreibblock auf den Knieen. Die Innenwand des Abtritts ist mit körniger Teerpappe be­ spannt, jedoch hat die Feuchtigkeit große Beulen in die Pappe getrieben und an einigen Stellen hängt sie mit aufgerissenen Fladen herab; die dün­ nen, schimmlig grauen Latten liegen entblößt darunter. Einige rostige Nä­ gel ragen aus der Wand, ursprünglich vielleicht zum Aufhängen von Klei­ dungsstücken oder irgendwelchen Geräten gedacht, jetzt aber leer und verbogen […]. Ich schiebe den linken Fuß vor, auf das rechte Bein stütze ich den Arm mit der schreibenden Hand, und stoße die Tür etwas weiter auf. Ich sehe jetzt die gesamte Rückwand des Hauses […].38

Die zitierten Ausschnitte der ersten Szene zeigen schon, wie der Film das tra­ ditionelle Erzählen modifiziert: Es wird nicht mehr ein vergangenes Gesche­ hen erzählt, sondern Wahrnehmung und Textproduktion werden im Präsens

38 Weiss: Werke, Bd. 2, S. 9–11.

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parallelisiert; es wird registriert, was man hört und sieht. Es werden »völlig tri­ viale alltägliche Sachen«39 beschrieben – was wäre trivialer und alltäglicher als ein Gang auf die Toilette? –, die stimmungsmäßig, nicht aber bedeutungsmä­ ßig aufgeladen werden. Zum Teil ist die Parallelisierung von Wahrnehmung, Handlung und Produktion lediglich ein kalkulierter Texteffekt: Ob man fak­ tisch gleichzeitig die Hose hinaufziehen und zuknöpfen sowie die Aktion pro­ tokollieren kann, stehe dahin. Was der Prosaist dem Filmemacher voraushat: Er kann Gefühle direkter verbalisieren als der Film sie visualisieren könnte, zum Beispiel die Empfindung von Kälte. Auch die Reflexion (innerer Mono­ log) – in dem zitierten Ausschnitt über die Selbstvergessenheit auf dem Ab­ tritt – ist unmittelbarer in der Prosa erfahrbar, als sie der Film sichtbar ma­ chen könnte. Diese Kommentarfunktion übernahm Weiss aus seiner Malerei: Je fragwürdiger ihm dieses Medium nämlich vorkam, desto mehr wandte er sich einer Art »Metamalerei« zu, wie es Ilmar Labaan einmal nannte, also ei­ ner bildnerischen Darstellung des »Malakt[s]« an sich.40 Der Schatten des Körpers des Kutschers war in den 1960er Jahren ein so auf­ regender Text, weil er die narrativen Innovationen – zum Beispiel von Joyce im Ulysses (wo es auch Inneren Monolog und eine »Kackstuhl«-Szene gibt41) – und die filmischen Innovationen des frühen 20. Jahrhunderts kurzschloss.42 Noch nicht genauer untersucht wurde diese Schreibweise, was den 1956 geschriebenen Roman Die Situation angeht. Das liegt daran, dass der Roman erst im Jahr 2000 aus dem Nachlass publiziert wurde. Es liegt aber auch dar­ an, dass Weiss in ihm einen »verhältnismäßig konventionellen Realismus« be­

39 Weiss: Die Notizbücher, S. 497; der 1956 niedergeschriebene Vorsatz, »triviale alltägli­ che Sachen« zu »beschreiben« galt für »Buch« und »Film« gleichermaßen (ebd.). 40  Ingmar Labaan: »En knakande trappa upp till bilden / Eine knarrende Stiege hin­ auf zum Bild«. In: Gunilla Palmstierna-Weiss u. Jürgen Schutte (Hg.): Peter Weiss. Leben und Werk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 90–109, hier S. 105f.; vgl. Beise: Peter Weiss, S. 38f. 41  James Joyce: Ulysses. Roman. Übers. v. Hans Wollschläger. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp, 1996, S. 92–94. Allerdings verhält sich Bloom auf der Toilette den Intellekt betref­ fend nur rezeptiv (er liest Zeitung; das Ich des Kutschers schreibt dagegen seine Beobach­ tungen nieder). – Weiss kannte Ulysses, vgl. Weiss: Das Kopenhagener Journal, S. 123. 42  Anlässlich einer Analyse von Weiss’ Kurzfilm Frigörelse meinte Martin Rector: »Wer versucht, zu versprachlichen, was er in dem Film […] sieht, merkt bald, dass er schrei­ ben können müsste wie der Verfasser von Der Schatten des Körpers des Kutschers« (»Peter Weiss’ Experimentalfilm Studie IV / Befreiung«. In: Michael Hofmann, Martin Rector u. Jochen Vogt (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Band 10. St. Ingbert: Röhrig, 2001, S. 28–53, hier S. 38f.).

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diente,43 der leicht übersehen lässt, dass er sich aber auch hier eines »ganz of­ fensichtlich auch vom Film inspiriert[en]« narrativen Verfahrens bedient, bei dem ein »vermittelnder Erzähler« zugunsten »einer Aneinanderreihung inne­ rer Monologe« ausgespart wird. Das ist soweit weder originell noch filmisch; doch wird es dies, wenn »die Perspektiven auch innerhalb eines Abschnitts« wechseln, »so daß eine Fließbewegung entsteht, welche die Figuren zumin­ dest an den Rändern ineinandergleiten läßt«, wie Jürgen Gunia formulierte.44 Perfektioniert hatte Weiss dieses Verfahren am Ende der 1950er Jahre, d. h. am Ende des schon erwähnten medialen Abnabelungsprozesses. Die Komposition der 1961 erschienenen Erzählung Abschied von den Eltern, an der Weiss fast zehn Jahre geschrieben hatte, erinnerte den amerikanischen Lite­ raturwissenschaftler Michael Roloff 1964 »in ihrer Dichte an die Schonungs­ losigkeit filmischer Behandlung. Die formale Entsprechung dazu« sei »das völlige Fehlen irgendeiner Kapiteleinteilung«45 und vor allem eine »literari­ sche Überblendtechnik«,46 wie die folgende Szene aus den ersten Seiten der Erzählung zeigt: Wie ein Verzauberter in einem bösen Märchen ging ich auf den Park zu, in den die Allee mündete, und in dem unser Haus noch verborgen lag. Im Teich, am Rand der Allee, schwammen ein paar weiße Schwäne, wie früher […]. Am Gartenweg lag das grüne Hühnerhaus, niedrig und ein­ geschrumpft, und einmal waren wir von der schwindelnden Höhe seiner Dachluke herabgesprungen. […] Eine Frau, die aus dem Haus trat, frag­ te ich, ob sie etwas von den Nachbarn wisse. Sie berichtete, daß von der großen Familie nur noch ein einziger Sohn am Leben sei, Friedrich, er sei ein hervorragender Offizier gewesen, mit den höchsten Orden aus­ gezeichnet. Er wohnte noch in der Stadt, und sie gab mir seine Adresse. Aber ich suchte ihn nicht auf, ich wußte wie er war. Da stand Friederle am Zaun zum Nachbargarten, es war am Tag unseres Einzugs, er hielt die Arme verschränkt und fragte mich herrisch nach meinem Namen. Wirst du hier wohnen, fragte er, und ich nickte […]. Das Haus gehört meinem Vater, sagte Friederle, ihr mietet es nur. […] Friederle zog mich mit sich in die Tiefe des Gartens […]. Da lagen die Felder vor uns, die riesige Ebe­ ne, über der die Sonne kochte […]. Und alles gehörte Friederle […]. Im­ mer weiter zog er mich hinein in sein Reich, bis zum Moor, wo der Boden unter unseren Füßen schwappte und wo wir an den giftigen Stengeln der Sumpfdotterblumen saugten. Ich ging auf der Allee zurück, im weißen

43 Beise: Peter Weiss, S. 194. 44 

Jürgen Gunia: »Peter Weiss: Die Situation. Roman«. In: Deutsche Bücher 31 (2001), H. 2, S. 118. 45  Gerlach/Richter (Hg.): Peter Weiss im Gespräch, S. 37 (Interview mit Michael Roloff). 46 Beise: Peter Weiss, S. 216f.

Herausforderung Film Staub des Fahrdamms, die Kindheit lag Jahrzehnte hinter mir, ich kann sie jetzt mit durchdachten Worten schildern, ich kann sie zergliedern und vor mir ausbreiten, doch als ich sie erlebte, da gab es kein Durchdenken und kein Zergliedern, da gab es keine überblickende Vernunft. Ich ging die Allee hinab, und meine schwarzen Schnürstiefel färbten sich weiß im Staub der Allee, und Friederle ging neben mir, und die weißen Schwäne schwammen im Teich, und in einem Garten tänzelte ein Pfau und öff­ nete seinen schillernden Federfächer, und es war der erste Schultag.47

Man muss genau lesen, um die Wechsel zwischen den drei Zeitebenen – die Erlebnisse der Kindheit, der Besuch in Bremen nach dem Krieg und die JetztZeit des Erzählers – mitzubekommen, da Weiss sich bemühte, die Übergän­ ge zu kaschieren. Auch in Die Ästhetik des Widerstands arbeitete Weiss noch mit dieser Tech­ nik der Überblendung, mittels derer ein »alle Zeiten und Stadien der Mensch­ heitsgeschichte inklusive ihrer Vorzeit umfassende[r] Wahrnehmungsraum« konstituiert wird.48 In diesem ›Wahrnehmungsraum‹ bewegen sich die Figu­ ren zwischen den Jahrhunderten, ohne dass die Leser immer sogleich bemer­ ken, in welchem Jahrhundert sie sich befinden. Ein Beispiel ist der im ersten Band des Romans beschriebene Gang auf den Kastellberg von Denia, den der Ich-Erzähler mit Hodann und Lindbaek unternimmt.49 Die Figuren sprechen nicht über die bevorstehende Demobi­ lisierung der Internationalen Brigaden, sondern über Geschehnisse, die ein paar Jahrtausende früher über die­ se Küste hingegangen waren. Immer lag vor uns das Meer […]. Wir spra­ chen über geimpfte Apfelsinenbäume, die Zitronen erzeugten, und ge­ rieten so allmählich hinein in die Geschichte. […] Von der Balustrade am Vorhof blickten wir über Stadt und Hafen. […] Die Stadt, an deren Rand wir acht Monate lang gewohnt hatten und die wir uns einprägen wollten, wurde nun von flimmerndem Licht umschlossen. Nur eine Reihe heller Glockenschläge durchbrach die Stille. Wir dachten uns das Getriebe am Kai, an den Landestegen, um die Speicher und Werkstätten. Maulesel zo­ gen die zweirädrigen, vollbeladnen Karren herbei, über die Planken eilten die Träger hinauf zu den Schiffen, gebeugt unter den prallen geflochtnen Säcken, den schweren Kisten.50 47 Weiss: Werke, Bd. 2, S. 70–72. 48  Günter Butzer: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Fink, 1998, S. 171. 49  Dieses Beispiel ist etwas ausführlicher auch behandelt bei Beise: Peter Weiss, S. 225f. 50  Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Hg. mit einem editorischen Nach­ wort v. Jürgen Schutte. Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 398–400.

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Als dann von den »Herren der Waffenarsenale in Ionien« die Rede ist,51 wird plötzlich klar, dass sich die Figuren schon einige Zeit geistig im antiken He­ meroskopeion befinden, einer ursprünglich phönizischen Kolonie, die nun – also im vierten Jahrhundert vor Christi Geburt – von den Hellenen beherrscht wurde. Zugleich kommt den Betrachtern die eigene Situation in den Sinn. Es habe sich so wenig geändert: Immer noch gab es genügend Bergwerke in Afrika, in Lateinamerika, in denen die Arbeiter der gleichen Zermürbung ausgesetzt waren wie die geknechteten Iberer beim Klopfen des Silbers und Zinns, und vielen von uns war es kein großes Zeichen von Fortschritt, daß wir nur acht Stun­ den und ohne Fußketten in den Stollen zu liegen hatten, im Vergleich zu den Gefesselten, die dort bis zu vierzehn Stunden verbrachten […], im­ mer noch waren wir in verzweifelter Nähe der Arbeitenden vor zweiein­ halb Jahrtausenden und hofften wie diese auf eine Welt der Befreiung. Da wuchs in den Garnisonen eine Oberklasse auf, die sich von den Bau­ ern die Früchte und das Getreide ernten, den Wein keltern und das Vieh hüten ließ […].52

Wieder befinden wir uns in der antiken Stadt, deren Geschichte erzählt wird. Die »Oberklasse« ist eine antike. Zugleich wird immer wieder die aktuelle Si­ tuation in Spanien 1938 eingeblendet: Schnell war auch die griechische Siedlung unter uns verschwunden, die Karthager bewachten jetzt den Hafen […]. Da brannten die Römer Kar­ thago nieder, da flüchtete Hannibal nach Kreta […]. Welche Kämpfe stan­ den noch bevor, unterm Wechsel der Dynastien. An den Olivenbäumen entlang, mit ihren weit ausladenden, zum Erhängen geeigneten Ästen, gingen wir auf dem Feldweg zur Villa Candida, Aufstände, Revolten ent­ flammten und wurden wieder erstickt. Gegen die Römer rebellierten die Bauern.53

Die Geschichte der Unterdrückten aller Zeiten wird zur zwar nicht erleb­ ten, doch unmittelbar wahrgenommenen Geschichte der Protagonisten des Romans. »Was vor ein paar Jahrtausenden geschah, wird in die Gegenwart gerückt«.54

51  52 

Ebd., S. 400. Ebd., S. 404. 53  Ebd., S. 406–408. 54 Weiss: Die Notizbücher, S. 12884.

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Zugleich mit den schriftstellerischen Experimenten nach 1950 entstand bei Weiss aber auch das Bedürfnis nach einer Form für »etwas was weder im The­ ater noch in der Literatur ausgedrückt werden« könne.55 Das Potential dafür sah Weiss im Medium Film. Sein Ideal war »eine rein filmische Sprache«56 oder cinéma pur, wie solche Ambitionen in Anlehnung an einen Film von Henri ­Chomette aus dem Jahr 1924 damals genannt wurden. Auch in der Filmarbeit schwankte Weiss zwischen den Polen der Vision und der Dokumentation. Seine ersten Filmstudien sind Nahaufnahmen des Alltäglichen: Studie I (1952) zeigt das Erwachen eines Mannes, sein Aufste­ hen, Zähneputzen und den Toilettengang, dazwischen geschnitten ist die vi­ sionäre Erscheinung einer nackten Frau; Studie II (1952) zeigt in zwölf – inte­ ressanterweise zeichnerisch konzipierten – Szenen Körper und Körperteile

Abb. 3: Skizzen zu dem Spielfilm Hägringen, 1958, und zwei Szenenentwürfe zu dem Experimentalfilm Studie II, 1952; aus: Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss, S. 79. © Gunilla Palmstierna-Weiss, Stockholm

55 

Ebd., S. 510.

56 Weiss: Avantgarde Film, S. 7.

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in einem abstrakten ballet mécanique,57 das wirken soll wie hochemotionale »Halluzinationen«.58 Die späteren, eher dokumentarischen Arbeiten stehen in der Nachfolge von Buñuels Las hurdes, tierra sin pan (Terre sans pain, 1932), einem Dokumen­ tarfilm, von dem Weiss behauptete, dass er es schaffe, auf veristische Art die Wirklichkeit so zu steigern, »daß sie den Charakter einer Halluzination, ei­ nes Traums erlangte«.59 Weiss versuchte dies dadurch zu erreichen, dass er sich ganz auf die Bilder oder O-Töne verließ und auf einen Kommentator im Off verzichtete; »der unsichtbare Sprecher muss fortfallen«, notierte er sich.60 Eine Synthese von Weiss’ künstlerischem Filmschaffen – und abermals eine gelungene Verbindung von Realismus und surrealistischer Vision – war der Langfilm Hägringen (1959), den Parker Tyler 1969 zum Kanon der wichtigs­ ten Filme zählte, die den Übergang von der Avantgarde zum Underground be­ zeichnen.61 Es war die Verfilmung der schon genannten Erzählung Dokument I und, insofern dieser Text bereits vom Film beeinflusst war, eine Filmverfil­ mung, die ziemlich nah an »rein filmischem Stil« war, wie Tyler anmerkte.62 Doch letztlich waren Weiss’ Erfahrungen mit der Filmindustrie zu nega­ tiv, um ein konstantes Interesse zu entwickeln: »nur sehr selten gab es diesen einfachen, organischen Prozess, bei dem etwas Haltbares entsteht«, notier­ te er sich 1960, nachdem er sechs experimentelle Kurzfilme, fünf mehr oder weniger dokumentarische Studien und zwei Spielfilme, davon einen kommer­ ziell intendierten, hinter sich hatte. »Der Film war nicht mehr eine persön­ liche Ausdrucksmöglichkeit, sondern eine Möglichkeit, Geld zu verdienen«,

57 

Vgl. ebd., S. 24–26, 36, 99, 132 (zu Fernand Légers gleichnamigen Film aus dem Jahr 1924 und verwandten Streifen); den eigenen Film Studie II bespricht Weiss ebd., S. 141. 58  Ebd., S. 141. – Auch die letzte Experimentalfilmstudie The studio of Dr. Faust / Ateljé­ interiör (1956) ist ein visionärer »Trip durch das Gehirn eines wahnsinnigen Künstlers« (Beise: Peter Weiss, S. 53), angeregt durch die Five Abstract Film Exercises (1943/44) der Brüder James und John Whitney; vgl. Georges Felten: »Faust aufs Auge. Zu Peter Weiss’ filmischem Poem The Studio of Doctor Faust (1956)«. In: Arnd Beise u. Michael Hofmann (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. Bd. 26. St. Ingbert: Röhrig, 2017, S. 33–70 59 Weiss: Avantgarde Film, S. 55. 60 Weiss: Die Notizbücher, S. 496. 61  Parker Tyler: Underground Film. Eine kritische Untersuchung. Aus dem Amerikani­ schen v. Max Looser. Frankfurt a. M.: März, 1970, S. 184f. 62  Ebd., S. 183.

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gestand er sich ein. Also entzog er sich dem »Betrieb […], in dem im allgemei­ nen der Film produziert wird«.63 133

6 Nicht der Film war die bildkünstlerisch reifste Folge der Provokation durch das Medium Film bei Weiss, sondern die Collage. Zwischen 1957 und 1965 entstehen eine Reihe von Collagen, zum Teil deutlich in der Tradition von Max Ernsts Collagenromanen, die Weiss als »Weiterentwicklung vom Film« betrachtete.64 »Jenseits der Malerei« (um mit Max Ernst zu sprechen65) und jenseits des Films entwickelte Weiss eine Collagentechnik, die die einzelnen Elemente als Bildzitate kenntlich ausstellte, um einer von Film- und sonsti­ gen Bildern übersättigten Zeit ein Abbild vorzusetzen, das der fragmentier­

Abb. 4 und 5: Zwei Collagen zum Mikro-Roman Der Schatten des Körpers des Kutschers, 1960. © Gunilla Palmstierna-Weiss, Stockholm

63 Weiss: Das Kopenhagener Journal, S. 49–51. 64 

Gerlach/Richter (Hg.): Peter Weiss im Gespräch, S. 317. Max Ernst: »Jenseits der Malerei«. In: Günter Metken (Hg.): Als die Surrealisten noch Recht hatten. Texte und Dokumente. Stuttgart: Reclam, 1976, S. 326–333.

65 

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ten modernen Wahrnehmung adäquat sei. Diese Collagen hätten einen un­ mittelbaren Wirklichkeitsbezug, behauptete Weiss: 134

es sind doch alle, alle Eindrücke, die ich wahrnehme, Zitate der Wirklich­ keit, ob ich jetzt einen Baum oder einen Menschen in einem Raum dar­ stelle – das sind alles Wirklichkeitsfragmente, ob ich es male oder Hun­ derte von Stücken aus Zeitschriften, aus Xylographien herausschneide. Herausgeschnittene Stücke aus Zeitschriften sind Wirklichkeitsfragmen­ te, die zusammengesetzt werden zu einem Bild, das mein Bild ist. Das ist Sehen. Wenn unzählige Eindrücke ständig auf uns niederprasseln, setzen wir aus ihnen beim Bildermachen ein Bild zusammen. Auch realistische Bilder bestehen aus lauter Erinnerungsfetzen, die wir aus Traumschich­ ten herausschälen können,

So verteidigte Weiss 1979 den ›Realismus‹ seiner um 1960 entstandenen Col­ lagen.66 Interessant ist, dass Weiss hier, anders als in den literarischen Tex­ ten und im Gegensatz zu Max Ernst, die Übergänge der Bildelemente gerade nicht zu kaschieren suchte. Während im literarischen Bereich der syntheti­ sierende Block sein Ideal war,67 strebte Weiss im visuellen Bereich nach einer die Zersplitterung der Wahrnehmung ausstellenden Form.

7 Resümierend sei festgehalten: Die Herausforderung des Mediums Film in Gestalt dokumentarischer Wochenschauen bzw. surrealistischer Filmexperi­ mente der 1920er und 1930er Jahre führte bei Peter Weiss zunächst zu einer Reflexion der eigenen Bildkunst im Medium der Malerei und Zeichnung, län­ gerfristig aber zur fast völligen Aufgabe dieses Ausdrucksmediums. Über eine Phase eigener filmischer Experimente gelangte er zur Collage, die als Synthese von Wahrnehmungsfragmenten Weiss’ einzige bildkünstle­ rische Antwort auf die angeblich zersplitterte Gegenwart der Moderne blieb. Diese Technik hat Weiss übrigens nach 1965 nicht ganz aufgegeben. Er fertig­ te noch 1982 drei Collagen an.

66  67 

Spielmann (Red.): Der Maler Peter Weiss, S. 43. Vgl. Elisabeth Wagner: »Peter Weiss’ bildnerische Wahrnehmung in der Literatur«. In: Yannick Müllender, Jürgen Schutte u. Ulrike Weymann (Hg.): Peter Weiss – Grenzgänger zwischen den Künsten. Bild – Collage – Text – Film. Frankfurt a. M.: Lang, 2007, S. 119–134.

Herausforderung Film

Literarisch waren die einschneidenden Filmerlebnisse kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der Katalysator, der Weiss aus dem Bann neoromantischer und existenzialistischer Konzepte, für die stellvertretend die Namen Hermann Hesse und Stig Dagerman stehen können,68 erlöste. Weiss verdichtete seinen Stil und arbeitete seitdem an gleichermaßen dokumentarisch genauen wie traumhaft visionären Textblöcken, in denen es keine »Weichheiten, Halbhei­ ten, Undeutlichkeiten« mehr geben sollte, um es mit dem Autor zu sagen.69 Ein Rezensent der Erstausgabe von Abschied von den Eltern bezeichnete die Erzählung 1961 denn auch als »erregende[s] literarische[s] Abenteuer (ohne daß Sanftmut und Romantik da hineingepfuscht hätten)«.70 Der Peter Weiss, den man kennt, der Autor des Abschied[s] von den Eltern und der Ästhetik des Widerstands, von Marat/Sade und der Ermittlung, wäre nicht denkbar ohne die geschilderte doppelte Herausforderung durch das Me­ dium Film. Erst in der Auseinandersetzung damit entstand der spezifische li­ terarische Stil der Hauptwerke von Peter Weiss.

68 

Zu den Beziehungen zwischen Weiss und Hesse bzw. Dagerman vgl. Beise: Peter Weiss, S. 308 (Auflistung der Fundstellen im Register). 69 Weiss: Das Kopenhagener Journal, S. 114. 70  Humbert Fink: »Leben in Sprache verwandelt«. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 252, 21./22. Oktober 1961; zit. n. Beise: Peter Weiss, S. 210.

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Samuel Beckett et l’œil de la caméra, (d’)après Dziga Vertov

« La moitié en est un échec, l’autre moitié un succès ». Alan Schneider, le met­ teur en scène américain de Film, le court-métrage cinématographique basé sur un scénario de Samuel Beckett, attribue ce commentaire ambivalent au met­ teur en scène de théâtre Peter Brook, qui avait lui-même mis en scène plu­ sieurs pièces de Beckett. Schneider ajoute qu’il est au fond d’accord avec ce jugement, sans pour autant être sûr qu’ils préfèrent tous les deux la même moitié.1 Un autre spectateur de Film, Gilles Deleuze, s’est montré bien plus enthousiaste. Dans un court essai de 1990, Deleuze rend hommage à ce qui est selon lui « le plus grand film irlandais »2 – sans pour autant expliciter sur quoi se base son jugement admiratif. Mais dans quelle mesure Film est-il un film à proprement parler irlandais ? L’origine nationale de Beckett ne suffit évidemment pas à faire de Film, écrit en 1963 en France, tourné en 1964 aux États-Unis, un film irlandais. Ce qui amène Deleuze à insister sur le caractère irlandais de Film est en fait la pré­ sence d’un deuxième Irlandais dont Beckett cite en ouverture à son scénario original l’adage suivant : esse est percipi (être, c’est être perçu), une formule qui résume la pensée du philosophe George Berkeley dans ses Principes de la

1  Alan Schneider, « On Directing Film », in : Samuel Beckett, Film. Complete scenario / ­Illustrations / Production shots, New York, Grove Press, 1969, p. 90. 2  Gilles Deleuze, « Le plus grand film irlandais. En hommage à Samuel Beckett », in : Hors-série Samuel Beckett, Revue d’esthétique, Éditions Jean Michel Place, 1990, p. 381–382.

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connaissance humaine de 1710. Dans ce traité, Berkeley insiste sur le fait qu’un objet n’a, et ne peut avoir, d’existence que s’il est perçu par un sujet : 138

The table I write on, I say, exists, that is, I see and feel it; and if I were out of my study I should say it existed, meaning thereby that if I was in my study I might perceive it, or that some other spirit actually does perceive it. There was an odour, that is, it was smelled; there was a sound, that is to say, it was heard; a colour or figure, and it was perceived by sight or touch. […] Their esse is percipi, nor is it possible they should have any existence, out of the minds or thinking things which perceive them.3

Le crédo empiriste et sensualiste de Berkeley sera adopté par Beckett en ouver­ ture du projet original de Film. Notons cependant que la formule n’apparaîtra pas explicitement dans la version cinématographique de Film, cette proposi­ tion ayant été retenue par Beckett, comme il l’affirme, « naïvement », « selon ses seules possibilités formelles et dramatiques »4. Mais avant d’analyser Film, il faut savoir dans quelle mesure on est en droit de parler ici d’une œuvre de Beckett. La comparaison entre le scénario origi­ nal rédigé par Beckett et la version cinématographique finale montre en effet des divergences importantes entre ces deux versions, dues essentiellement aux insuffisances techniques d’Alan Schneider, qui n’avait quasiment aucune expérience dans le domaine du cinéma.5 Si aujourd’hui Film est considéré par la critique comme un chef d’œuvre d’art minimaliste et un ouvrage propre­ ment beckettien, c’est dans la mesure où les efforts de Beckett pour réadapter son scénario suite à la suppression de certains passages ratés (qu’on n’avait ni le temps ni l’argent de tourner à nouveau), ont paradoxalement contribué à faire de Film un ouvrage qui semble illustrer à merveille l’esthétique de l’échec de l’auteur. On peut affirmer ainsi que la version cinématographique de Film de 1964 constitue bel et bien une œuvre beckettienne à part entière, à l’instar

3 

George Berkeley, Principles of Human Knowledge, London, Everyman Libarary, 1993, p. 90. 4  Samuel Beckett, Film, in : Samuel Beckett, Comédie et actes divers, Paris, Minuit, 1972, p. 113. Sauf indication contraire, c’est cette version qui nous servira de référence pour l’analyse du scénario. 5  Dans son essai cinématographique Notfilm (Milestone Film & Video, 2015), Ross ­Lipman cite plusieurs lettres de Schneider au producteur de Film, Barney Rosset, dans lesquelles le metteur en scène dit très explicitement à quel point il ne se sent pas à la ­hauteur du défi cinématographique.

SAMUEL BECKETT ET L’ŒIL DE LA CAMÉRA

des mises en scène que l’auteur effectua de ses propres textes dramatiques.6 Pour les besoins de l’analyse, il importe de distinguer le projet initial de 1963, tel qu’il a été publié par l’auteur en 1969 en anglais, puis en 1972 en français, et la version cinématographique de 1964.

1 « Vers 1929 » : Beckett et le cinéma d’avant-garde Je commencerai ma réflexion par un élément apparemment mineur, qui ne fi­ gure pas explicitement dans la version cinématographique de Film, à savoir la mention de l’époque à laquelle l’action de Film est située. Beckett, contraire­ ment à ses habitudes, mentionne dans son scénario une date à la fois précise et indéterminée : « vers 1929 »7. Cette indication, qui corrige la date de 1913 fi­ gurant sur les premiers manuscrits du scénario, est étonnante. Alors que l’on s’attendrait soit à un « en 1929 », soit à un « vers 1930 », Beckett place l’action de Film à la fois en une année et à une période qui correspond entre autres à celle de la fin du film muet. Comme la critique n’a pas manqué de le souligner, bon nombre d’éléments de Film font allusion à la période du film muet : le choix en faveur d’un film en noir et blanc ; le fait que le seul bruit qu’on y entende soit précisément l’injonc­ tion de se taire ; les costumes d’époque des rôles secondaires ; un certain pen­ chant pour le slapstick (notamment dans la scène du chat et du chien et dans la façon de marcher du protagoniste) ; et bien sûr le choix de l’acteur qui in­ carne le rôle principal : Buster Keaton, une des grandes vedettes du film muet des années 20, dans ce qui est d’ailleurs l’un de ses derniers rôles. Si l’inscription de Film à une époque bien déterminée semble être un élé­ ment important de l’œuvre, l’indication précise de l’année 1929 est beaucoup moins évidente à comprendre. Comment expliquer cette date ? On pourrait être tenté de rapprocher Film de Un chien andalou de Luis Buñuel, montré à Pa­

6 

On notera qu’il existe une deuxième version cinématographique de Film tournée en 1979 par David Clark, en couleur, pour le British Film Institute. Cette deuxième version cinématographique, qui du seul point de vue technique est supérieure à celle de 1964, ne nous intéresse guère dans ce contexte dans la mesure où il s’agit d’une version qui n’a été ni supervisée ni même autorisée par l’auteur. 7  Samuel Beckett, Film, p. 115.

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ris pour la première fois le 1er octobre 1929, en ajoutant qu’à cette époque, le jeune Beckett se trouvait depuis à peine un an à Paris où il occupait un poste de lecteur d’anglais à l’École Normale Supérieure. Le rapprochement semble pertinent pour plusieurs raisons. D’abord parce que le titre original du scéna­ rio de Beckett, The Eye, et le gros plan sur l’œil de Buster Keaton au début et à la fin de Film ne sont pas sans rappeler la fameuse scène chez Buñuel où un homme tranche le globe oculaire d’une jeune fille à l’aide d’une lame de rasoir. Ensuite, parce que le scénario du film de Buñuel parut en 1932 dans un numé­ ro spécial de la revue This Quarter, un numéro où figurent aussi des traduc­ tions anglaises de poèmes surréalistes effectuées par Beckett, ce qui témoigne de l’intérêt que le surréalisme suscite alors auprès du jeune Beckett. Cet in­ térêt pour le surréalisme se double chez Beckett d’un intérêt prononcé pour le cinéma et en particulier pour le cinéma d’avant-garde. On sait notamment que dans sa jeunesse, Beckett admira le film russe d’avant-garde et qu’il alla jusqu’à écrire en mars 1936 une lettre à Sergueï Eisenstein pour lui demander de l’accepter comme disciple à l’École de cinéma de Moscou.8 Mais le cinéma russe d’avant-garde fournit encore une autre piste dont la pertinence pour Film a pendant longtemps été négligée par la critique.9 Il s’agit du film L’homme à la caméra de Dziga Vertov, présenté lui aussi au public parisien en juillet 1929. Vertov, de son vrai nom Denis Kaufman, avait créé en 1923 le groupe des Kinoki (les « Ciné-Yeux ») qui se proposait de révolution­ ner le cinéma soviétique pour en faire un instrument au service de la révolu­ tion prolétarienne. Pour Vertov, ce programme consistait d’abord à rechercher une nouvelle vision de la réalité. Le groupe de Vertov refuse violemment le ci­ néma théâtralisé visant à distraire le public, pour lui préférer ce qu’il appelle le Kino-Pravda : le « cinéma-vérité ». Mais le réalisme de Vertov ne se limite pas à documenter la vie de tous les jours. Aux yeux du réalisateur, il s’agit au contraire d’atteindre au moyen du cinéma une vérité supra-individuelle, à tra­ vers notamment une vision qui n’est plus celle d’un individu, mais d’une in­ stance à laquelle Vertov accorde une puissance quasiment surhumaine : l’œil

8 

Lettre de Beckett à Eisenstein du 2 mars 1936, in : The Letters of Samuel Beckett, vol. I. (1929–1940), Cambridge, Cambridge University Press, 2009, p. 317. 9  Nous y avons consacré un premier article en 1999, « Der Blick des Film-Auges: Samuel Becketts Film und die russische Kino-Avantgarde », in : Neue Zürcher Zeitung (NZZ) no 35, 12 février 1999, p. 60. C’est cet article qui est mentionné par Barney Rosset dans un entre­ tien de 2000, repris dans Barney Rosset, Dear Mr. Beckett. The Samuel Beckett File, New York, Opus, 2017, p. 244.

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de la caméra. Le groupe autour de Vertov, appelé dans un deuxième temps ­Kino-Glaz, « ciné-œil », se propose de cette façon de « rendre visible l’invisible, d’éclairer l’obscurité, de mettre à nu ce qui est masqué, de rendre ce qui est joué non joué, de faire du mensonge la vérité »10. L’homme à la caméra que Vertov présente au public en 1929, et que Beckett pourrait théoriquement avoir vu dès sa sortie à Paris, est probablement son chef-d’œuvre. Grâce à sa technique extrêmement osée du montage, qui fait alterner des prises ayant pour sujet la réalité ouvrière d’une grande ville avec des images du caméraman ou de la monteuse en train de travailler ; grâce aus­ si à la construction en abyme qui fait voir à la fois le film et la production du film, Vertov arrive à montrer non seulement ce qui est perçu, mais la percep­ tion elle-même ; non seulement l’objet regardé, mais aussi le sujet regardant. C’est précisément cet aspect qui rapproche Vertov de Beckett. On pourrait même affirmer que le ciné-œil de Vertov trouve son équivalent quasi parfait dans les deux titres que Beckett avait envisagés pour son film : The Eye, titre qui aurait permis un jeu de mots sur « l’œil » et « le moi », et Film qui fut fi­ nalement retenu. Ces deux titres recomposent en tout cas le nom du groupe de Vertov, le Kino-Glaz, traduit à l’époque en anglais comme Film-Eye. Dans le même contexte, on retiendra que les deux films se terminent sur un œil, en surimpression avec l’œil de la caméra chez Vertov, en gros plan chez Beckett. L’indication de l’année 1929 dans le scénario de Beckett peut dans ce sens être lue comme renvoyant à l’inscription de Film dans le sillage du cinéma expéri­ mental de cette période et, plus spécifiquement, comme une allusion au ciné­ ma de Vertov. On y reviendra un peu plus loin.

2 L’œil auquel on n’échappe pas S’il fallait résumer Film en quelques mots, on dirait probablement que c’est l’histoire d’un homme qui s’enfuit d’un regard qui le poursuit, d’abord dans la rue, ensuite dans un escalier, enfin dans une chambre ; d’un homme qui es­ saie de s’abriter des regards que les autres, hommes, animaux et même ob­ jets inanimés, ont le pouvoir de jeter sur lui. À la fin, au moment où il croit

10 

Dziga Vertov, « Naissance du Ciné-Œil » (1924), cité d’après François Niney, L’Épreuve du réel à l’écran, Bruxelles, De Boeck, 2004, p. 64.

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avoir échappé à tous ces regards, l’homme est confronté à son propre regard qu’il ne peut plus éviter : 142

La recherche du non-être par suppression de toute perception étrangère achoppe sur l’insupprimable perception de soi.11

La fuite que Film met en scène est celle d’un personnage qui aspire au nonêtre. Car si être, comme le dit l’évêque Berkeley, c’est être perçu, on peut, se­ lon les lois de la logique, retourner l’axiome et affirmer que non percipi est non esse. Voilà l’activité de notre protagoniste. Quand, à plusieurs reprises, il se tâte le pouls, c’est d’abord pour voir s’il s’approche de son but, s’il est déjà un peu moins vivant. Au retournement de la logique de Berkeley correspond la direction qui est choisie par le protagoniste : celle d’un à rebours. La scène d’ouverture de Film, telle qu’elle avait été écrite initialement par Beckett et qu’elle a pu être partiel­ lement reconstituée par Ross Lipman,12 prévoyait plusieurs personnages dans une rue dont le scénario précise qu’elle est rigoureusement droite et sans inter­ sections ni rues latérales : des ouvriers qui se rendent au travail, des hommes à bicyclette qui transportent chacun une fille assise sur le guidon, un fiacre. Or Beckett insiste sur deux choses dans ce début qui semble si anodin : tous vont dans la même direction, et tous vont par couples. En effet, le protago­ niste est le seul à aller obstinément à contrecourant ; il est aussi le seul dont on ne doit pas voir le visage ; il est enfin le seul à être seul. En plus, il porte un long manteau sombre au col relevé et un chapeau rebattu sur les yeux, tandis que les autres sont en vêtements d’été clairs et légers. On l’aura compris : le contraste doit être flagrant entre le protagoniste qui tente de fuir le percipi et les autres personnages qui, comme l’écrit Beckett, s’adonnent « aux bonheurs du percipere et du percipi »13. Et pourtant : dès qu’il entre dans le champ de vision de l’œil de la caméra, le protagoniste est lui aussi perçu, et par un œil bien plus obsédant que n’im­ porte quel œil humain. L’œil de la caméra est chez Beckett – comme chez Ver­ tov – un œil absolu, ce qui explique aussi pourquoi tous les personnages ex­

11 

Samuel Beckett, Film, p. 113. La scène d’ouverture a dû être supprimée dans sa quasi-totalité au moment du mon­ tage en raison de sa qualité technique insuffisante. Elle est aujourd’hui accessible, telle que Lipman a réussi à la reconstituer à partir des coupures retrouvées de cette séquence, parmi les bonus du DVD de Notfilm. 13  Samuel Beckett, Film, p. 116. 12 

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posés directement à cet œil apparaissent comme choqués, angoissés, pleins d’horreur. Comme le dit Beckett : 143 [Les traits du couple] se figent dans l’expression qui sera celle de la mar­ chande de fleurs dans la scène de l’escalier et de O [i.e. Objet, le protago­ niste] lui-même à la fin du film, expression d’épouvante de qui se voit à ce point perçu.14

C’est d’ailleurs ce même couple qui, un moment plus tôt, vient de produire le seul bruitage du film de Beckett : l’injonction de se taire – un plan qui trouve un écho visuel frappant dans L’Homme à la caméra de Vertov, puisque ce der­ nier présente une affiche d’un couple faisant un geste identique. Devant l’œil absolu de la caméra, le protagoniste est semblable aux autres personnages : il est lui aussi tétanisé par l’œil qui le poursuit.15 Mais comment faut-il comprendre cet œil ? S’agirait-il de l’œil de la conscience, ou plutôt de l’œil de Dieu, comme semble l’indiquer la séquence ultérieure de la chambre où le protagoniste détruira une reproduction d’une divinité mésopotamienne aux yeux grand ouverts, celle du Dieu Abu ?16 Pour l’une ou pour l’autre lec­ ture, Beckett pourrait s’être inspiré d’un long poème épique de Victor Hugo intitulé « La Conscience », qui évoque le personnage de Caïn, poursuivi par un œil énorme qui ne cesse de le regarder fixement : Caïn, ne dormant pas, songeait au pied des monts. Ayant levé la tête, au fond des cieux funèbres, Il vit un œil, tout grand ouvert dans les ténèbres, Et qui le regardait dans l’ombre fixement.17

Caïn prend la fuite, mais l’œil le poursuit où qu’il aille. À la fin, il se fait construire un abri souterrain, qui sera en fait sa propre tombe, et où il des­ cend seul. Voici les derniers vers du poème, qui résonnent magnifiquement avec la fin de Film :

14 

Samuel Beckett, Film, p. 118. On notera que Vertov oppose lui aussi « brutalement la vie comme elle est vue par l’œil armé d’une caméra à la vie comme elle est vue par le regard imparfait de l’œil hu­ main ». Dziga Vertov en 1928, cité d’après Frédérique Devaux, L’Homme à la caméra de ­Dziga Vertov, Crisnée, Éditions Yellow Now, 1990, p. 32. 16  Voir Barney Rosset, Dear Mr. Beckett, p. 254–255. 17  Victor Hugo, « La Conscience », in : Œuvres complètes, Poésie II, éd. Jean Gaudon, ­Paris, Robert Laffont, coll. « Bouquins », 1985, p. 577. 15 

THOMAS HUNKELER On fit donc une fosse, et Caïn dit « C’est bien ! » Puis il descendit seul sous cette voûte sombre. Quand il se fut assis sur sa chaise dans l’ombre Et qu’on eut sur son front fermé le souterrain, L’œil était dans la tombe et regardait Caïn.

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On notera cependant que contrairement à celui imaginé par Victor Hugo, l’œil beckettien apparaît à tous les personnages de Film et pas au seul protagoniste. Cet œil n’est donc pas la conséquence d’une faute individuelle, comme dans le cas de Caïn, mais plutôt celui d’une faute originelle : ce que Beckett appelle par ailleurs, en citant à la fois Cervantès et Schopenhauer, le péché « éternel et originel » de l’homme, « le péché d’être né »18. L’horreur qu’éprouvent dans Film tous ceux qui sont regardés par l’œil est l’horreur de celui qui voit cette vérité sans aucun voile, sans aucune illusion.

3 Défaire la naissance Retournons au résumé de l’action de Film fourni par Beckett. Selon lui, la re­ cherche du non-être par suppression de toute perception étrangère achoppe en effet sur l’insupprimable perception de soi. Or on trouve dans les notes que Beckett a rajoutées au scénario de Film une remarque à la fois précieuse et provocatrice sur la chambre dans laquelle le protagoniste se retire. Résul­ tat d’un débat que l’auteur a eu en juillet 1964 en préparation au tournage en compagnie de l’équipe,19 cette précision est particulièrement intéressante : Il ne peut évidemment pas s’agir de la chambre de O [= protagoniste]. On peut imaginer que c’est la chambre de sa mère hospitalisée où depuis de nombreuses années il n’a plus mis les pieds et doit maintenant s’in­ staller provisoirement, en attendant le retour de la malade, pour s’occu­ per des animaux. Cette question est sans intérêt pour le film et n’a pas à être élucidée.20

18  19 

Samuel Beckett, Proust, trad. par É. Fournier, Paris, Minuit, 1990, p. 79. Ce débat, enregistré à l’insu de Beckett et retranscrit en annexe à Stan E. G ­ ontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts, Bloomington, Indiana Univer­ sity Press, 1985, p. 187–192, est désormais partiellement accessible en version audio sur le DVD de Notfilm. 20  Samuel Beckett, Film, p. 132.

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La chambre de la mère : une telle indication, surtout si elle est donnée en marge et comme en passant, ne peut pas ne pas attirer l’attention du critique. On sait que la chambre de la mère, lieu surdéterminé par excellence du point de vue de la psychanalyse, est aussi l’un des lieux forts de l’imaginaire becket­ tien, par exemple dans l’incipit de Molloy : « Je suis dans la chambre de ma mère »21. Le cheminement du protagoniste de Film, qui le mènera successive­ ment de la rue dans un étroit escalier et de là à la chambre maternelle, peut être lu comme défaisant symboliquement les étapes de la naissance, la logique du à rebours lui faisant accomplir une naissance symbolique à l’envers.22 Au lieu d’être expulsé du ventre de la mère, le protagoniste tente ici de réintégrer la matrice et de défaire ainsi, du moins symboliquement, sa propre naissance. La tentative de (se) défaire régit également la scène dans la chambre pen­ dant laquelle le protagoniste regarde et détruit sept photographies qu’il a ap­ portées dans sa serviette. Ces photos le montrent successivement en tant que bébé, à 4 ans, à 15 ans, à 20 ans, à 21 ans, à 25 ans et à 30 ans, comme le précise une note du scénario.23 Beckett se souvient ici sans doute des « sept âges de l’homme » que Shakespeare évoque dans Comme il vous plaira (acte II, scène 7). Sur chaque photo, exception faite de la dernière, le protagoniste est vu avec un autre être qui le regarde ou qu’il regarde, et ce n’est que sur la dernière image que nous le voyons seul, avec le cache sur son œil gauche – tel qu’il sera mon­ tré à la fin de Film, où nous le voyons pour la première fois de face. Or après avoir examiné les photos l’une après l’autre, le protagoniste les déchire dans l’ordre inverse. La dernière photo, celle sur laquelle il figure en tant que bébé, doit – Beckett le précise24 – être montée sur un carton, de sorte qu’il soit plus difficile de la déchirer. Ceci pour bien mettre en évidence que c’est un pas es­ sentiel qui est ainsi franchi : la naissance est symboliquement défaite. Ici encore, un parallèle avec Dziga Vertov s’impose. Pour aller contre le pen­ chant du spectateur à prendre une attitude de consommateur passif, Vertov, fidèle à l’enseignement des formalistes russes, choisit dans ses films de défa­ miliariser le public en lui dévoilant les possibilités qu’offre l’art cinématogra­

21 

Samuel Beckett, Molloy, Paris, Minuit, 1951 [1994 pour la collection « double »], p. 7. Dans une lettre à Alan Schneider du 13 juin 1964, Beckett insiste explicitement sur la direction que le protagoniste prend, « against the stream » (Maurice Harmon [éd.], No author better served. The Correspondance of Samuel Beckett and Alan Schneider, Cambridge, Harvard University Press, 1998, p. 158). 23  Samuel Beckett, Film, p. 133–134, note 12. 24  Samuel Beckett, Film, p. 125. 22 

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phique. Nous avons déjà mentionné sa technique du montage ; il faut main­ tenant ajouter le procédé de présenter les événements dans un ordre inverse. Dans le film Ciné-Œil, ou la vie prise à l’improviste de 1924, Vertov a recours, dans une section du film intitulée « Le Ciné-Œil fait marcher le temps à l’en­ vers », à la réversion de la bande-image avec un bœuf mis en pièces, qui res­ suscite et ressort de l’abattoir ; dans L’homme à la caméra, il montre une vie à l’envers en se faisant suivre des images d’une tombe, d’un enterrement, d’un mariage, puis d’une naissance. Il n’est pas impossible que Beckett s’en soit sou­ venu lorsqu’il écrivait la scène dans laquelle Buster Keaton déchire les photos de sa vie pour défaire symboliquement sa naissance.

4 Une méditation cinématographique sur le temps Cette séquence nous amène à réfléchir en conclusion sur la temporalité qui ré­ git Film. Il y a d’abord, presque imperceptible mais fondamental, le temps que l’on pourrait appeler objectif : celui du déroulement de la bobine de Film. À ce temps correspond ce qu’on pourrait appeler le temps de la vie : celui de l’his­ toire du protagoniste, de la succession de ses actions, du vieillissement aus­ si. C’est le temps que nous voyons, en raccourci, sur les sept photos quand le protagoniste les examine pour la première fois. Le temps objectif du support technique et le temps de la vie se ressemblent dans la mesure où ils sont tous les deux linéaires, irréversibles et continus. Ils exposent le sujet sans lui per­ mettre d’influencer le cours des choses en quoi que ce soit. Mais le temps de la vie n’est pas le temps vécu. Dans Film, le temps vécu est diamétralement opposé au temps de la vie. J’entends par temps vécu le temps subjectif tel que le protagoniste désire le vivre : ce temps à rebours qui est censé défaire le temps de la vie. Pour le protagoniste, le temps vécu cherche à être la négation du temps de la vie. Il doit donc à la fois s’opposer à sa direc­ tion linéaire et lui ressembler dans la succession inverse de ses éléments – ce sont les photos examinées et déchirées lorsqu’on les voit pour la seconde fois. Mais en tant que négation du temps de la vie, le temps vécu dépend du temps de la vie, et le primat de ce dernier est aussi inévitable qu’ineffaçable. Aussi conséquente que soit l’action de nier le temps de la vie par son contraire, ce primat constitue une différence originaire, qui ne peut être réduite à zéro. En effet, le protagoniste ne devrait-il pas détruire aussi la destruction des pho­ tos qui ne s’inscrit pas seulement dans le temps vécu, mais aussi et en même

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temps dans le temps de la vie ? Et s’il arrivait à détruire aussi la destruction, ne serait-il pas obligé de détruire aussi la destruction de la destruction, et ain­ si de suite ? Le processus est interminable, et c’est le temps de la vie, linéaire, continu, irréversible, qui semble s’installer en maître incontestable en dépit des tentatives pour lui échapper. C’est toutefois oublier un point essentiel. Film est un film. Et un film est par définition ce qui peut être représenté autant de fois qu’on veut. Une fois regardé, on le rembobine, et on le repasse. Dans Film, il y a en effet un dernier type de temporalité qui englobe les deux autres : le temps circulaire. Ce temps n’apparaît pas seulement à un niveau abstrait et médiatique, quand on problé­ matise le caractère proprement cinématographique de Film ; il apparaît aussi dans Film, notamment lors de la scène du chien et du chat que le protagoniste s’efforce de faire sortir de la chambre. L’importance de la note 11 du scéna­ rio, dans laquelle Beckett fournit une suggestion pour l’expulsion du chien et du chat, mérite qu’on s’y attarde. Si le début de l’action y est clairement don­ né, il n’en va pas de même de la fin. En fait, la séquence serait logiquement interminable, et on ne voit pas, une fois le mécanisme mis en marche, ce qui pourrait l’arrêter. Ce qui est particulièrement intéressant dans cette séquence, ce n’est pas tant de savoir pourquoi Buster Keaton réalise soudain comment il peut ter­ miner ce petit intermezzo qui semble sortir tout droit du slapstick des années 1920 ; c’est d’étudier ce qui se passe, tant que cela dure, avec le temps. Durant la minute que dure à peu près la séquence du chien et du chat, le temps en ef­ fet se court-circuite. Il se replie sur lui-même, perdant son caractère linéaire et irréversible. Autant dire : le temps linéaire entre dans une espèce de bande de Moebius qui l’abolit. Car c’est précisément au moment où le protagoniste est entièrement occupé à sortir chat et chien de la chambre, qu’il réussit à ac­ complir ce qu’il ne réussit ni avec la destruction des photos ni lorsqu’il rejoue sa naissance en sens inverse : l’abolition momentanée du temps de la vie et du temps vécu dans le temps de la répétition. Dans ce sens, Film n’évoque ni la victoire de la mort sur la vie ni celle de la vie sur la mort. L’œuvre beckettienne ne raconte ni la naissance ni la mort, et pas non plus l’anti-naissance. Elle raconte avec obstination l’absence du temps, un temps vidé de ses points de repère, éternellement recommencé et jamais fini. Elle évoque l’instant, mais un instant démesuré, sans mesure, ou pire encore avec une mesure qu’on ne connaît pas, qu’on ne possède pas, qu’on ne maîtrise pas. Les instants dont est fait l’univers beckettien ne sont ni sub­ jectifs ni objectifs ; ou plutôt, ils sont à la fois subjectifs et objectifs. Subjec­

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tifs, parce qu’on en souffre ; objectifs, parce qu’ils ne nous appartiennent pas. La condition de l’homme beckettien, on le sait, ce n’est ni l’enfer ni le para­ dis ; c’est le purgatoire tel que l’auteur a pu le découvrir chez Dante, cet en­ droit paradoxal entre vie et mort, entre instant et éternité où il faut attendre que le temps finisse. Film se termine comme il commence : par un œil. Montrer un œil au spec­ tateur, c’est lui renvoyer son regard. Et c’est aussi retourner les rôles pour lui dire : « toi qui croyais voir un objet, c’est un sujet que tu vois ». Mais aussi : « toi qui croyais être un sujet, c’est un objet que tu es ». C’est sans doute ce que voulait montrer Dziga Vertov dans L’homme à la caméra, quand il choisit de faire commencer son film dans un cinéma où les spectateurs viennent s’in­ staller. Pour Vertov, le peuple doit être à la fois sujet et objet, et il doit en tirer une satisfaction. Pour Beckett, bien au contraire, l’être double de l’homme n’est pas source de satisfaction, mais de déchirement. L’œil qui ouvre et clôt Film nous regarde, dans les deux sens du terme. Il nous renvoie notre regard, et il nous renvoie à notre condition. Là où Dziga Vertov montrait la libération de l’homme désormais sujet et objet, Beckett, plus de trente ans plus tard, montre son désarroi face à cette double appartenance qu’il ressent comme un doublebind. Le même motif donne lieu à deux traitements opposés. Pour conclure en un clin d’œil : il est intéressant de noter que l’idée de com­ mencer et de finir son film sur le gros plan d’un œil ne figure pas dans le pro­ jet initial de Beckett. Cette idée ne lui est peut-être venue qu’au moment du tournage à New York, quand il a fait la connaissance du caméraman de Film. Car celui-ci n’était autre que Boris Kaufman, le frère cadet de Denis Kaufman, alias Dziga Vertov.

SAMUEL BECKETT ET L’ŒIL DE LA CAMÉRA

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Abb. 1: Esse est percipi : Samuel Beckett et Richard Seaver, son éditeur chez Grove Press

Abb. 2: Samuel Beckett lors du montage de Film

Abb. 3: Samuel Beckett et Buster Keaton sur les lieux du tournage de Film à New York, en 1964

(Courtesy of Milestone Films and corpus fluxus)

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Vom Riss Eine kunsttheoretische Methode, ihre filmische (Re-)Produktion und ihr literarisches Bedenken »[...] weil es immerzu darum geht zu falten, zu entfalten, wieder zu falten.« Gilles Deleuze, Die Falte

Mit dem Dazwischen-Sein hat sich einerseits die Literaturwissenschaft im Hinblick auf Fragen der Intermedialität umfangreich beschäftigt (zwischen Literatur und Kunst und Film bzw. ›Medien‹);1 andererseits interessiert sich

1 

Siehe dazu, um nur eine Auswahl zu nennen, Urs Meyer, Roberto Simanowski u. Christoph Zeller (Hg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen: Wallstein, 2006; Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. München: Wilhelm Fink, 1999; Joachim Paech (Hg.): Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 1994; Helmut Korte u. Johannes Zahlten (Hg.): Kunst und Künstler im Film. Hameln: CW Nie­ meyer, 1990; Joachim Paech: »Rodin, Rilke und der kinematographische Raum«. In: Kino­ schriften 2 (1990), S. 145–161; Jacques Aumont: »Projektor und Pinsel. Zum Verhältnis von Malerei und Film«. In: montage/av 1.1 (1992), S. 77–89.; ders.: L’Œil interminable. Cinema et Peinture. Paris: Librairie Seguir, 1989; Udo Kultermann: Leben und Kunst. Zur Funktion der Intermedia. Tübingen: Ernst Wasmuth, 1970. Siehe zudem grundsätzlich auch ­Joachim Paech u. Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. Paderborn: Wilhelm Fink, 2008; Werner Wolf: »Intermedialität«. In: ­Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Stuttgart: Metzler, 2004; ­Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen: Franke, 2002; Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin: ­Erich Schmidt, 1998; Thomas Eicher u. Ulf Bleckmann (Hg.): Intermedialität. Vom Bild zum Text. Bielefeld: Ais­ thesis, 1994; Jürgen E. Müller: »Intermedialität und Medienwissenschaft. Thesen zum State of the Art«. In: montage/av 3.2 (1994), S. 119–138; ders.: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster: Nodus, 1996; Karl Prümm: »Intermedialität und Multimedialität. Eine Skizze medienwissenschaftlicher Forschungsfelder«. In: Volker Bohn, Eggo Müller u. Hand Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft.

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sowohl die Medien- wie die Designtheorie noch immer2 für diese Zwischen­ räume und Wechselwirkungen, diese Verhandlungen oder besser auch: diese Faltungen und Entfaltungen, die sich in bestimmten Produktionsbewegun­ gen ergeben.3 Eine Ästhetik, ein Denken und auch eine Arbeit, die sympto­ matisch für derartige Motivationen ist, die absichtlich und sichtbar nicht in der Theorie verharren, sondern den Schritt über die Schwelle wagen: hin zu Praktikabilitäten und das heißt hier: zur ästhetischen Praxis filmisch-medi­ aler Artefakte, soll vor dieser im Folgenden näher auszuführenden theore­ tisch-praktischen Folie im Mittelpunkt der Überlegungen stehen. Gewählt wird dazu ein umgekehrter oder vielmehr: ge- und verknoteter Weg, der das zu behandelnde, übergeordnete Thema gleichsam auf den Kopf stellt respekti­ ve der zeigt, dass die Reflexion eines Mediums in einem anderen nicht derart stringent sein kann, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Es geht dabei mit Deleuze um »Variable[n]« mit wechselbarer Position, die (wo­ rauf noch zurück zu kommen sein wird) verschiedene »Prozeduren des Wah­ ren« betreffen.4 Denn sie durchlaufen hier, vorweg gesagt, das Denken zu ei­ ner Vielzahl von Denk-Integrationen im Spannungsfeld von Objekt, Sehen und Sprechen und dem entsprechenden Wissen als Sichtbarkeit und Sagbar­ keit.5 Innerhalb dieser Differenzen einer Schicht der Objekte und einer Schicht des Wissens zeitigt sich, so die Ausgangsthese, ein »Scharnier und Spalt«,6 der mit den Mitteln von Kunst, Literatur und Medien zu erweisen und ggf. zu

Berlin: edition sigma, 1988, S. 195–200; Aage A. Hansen-Löve: »Intermedialität und Inter­ textualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russi­ schen Moderne«. In: Wolf Schmid u. Wolf-Dieter Stempel (Hg.): ­Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien: Institut der Slawistik der Universität Wien, 1983, S. 291–360; Jud Yalkut: »Understanding Intermedia«. In: Gottfried Schlemmer (Hg.): Avantgardistischer Film 1951–1971, Theorie. München: Hanser, 1973, S. 92–95. 2  Vgl. Jens Schroeter: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medien­ wissenschaftlichen Begriffs«. In: montage/av 2 (1998), S. 129–154. 3  Siehe dazu u. a. auch Thomas Becker (Hg.): Ästhetische Erfahrung der Inter­medialität. Zum Transfer künstlerischer Avantgarden und ›illegitimer‹ Kunst im Zeitalter von Mas­ senkommunikation und Internet. Bielefeld: transcript, 2011; Andy Blättler et al. (Hg.): ­Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoretische Analyse und ästhetische Konzepte. Bielefeld: transcript, 2010. 4  Vgl. Gilles Deleuze: Foucault. Aus dem Franz. v. Hermann Kocyba. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992, S. 78f., 90. 5  Vgl. ebd., S. 73. 6  Ebd., S. 93.

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überbrücken ist: als Falte und Faltung gleichermaßen.7 Zu deren Explikation ist der vorliegende Beitrag in drei Teile gegliedert: Erstens werden einige et­ was längere, aber notwendige medienhistorische Bemerkungen zu machen sein, die u. a. zum frühen französischen und italienischen Dokumentarfilm des 20. Jahrhunderts zurück führen. Zweitens werde ich eine theoretische Idee, die der Kunstwissenschaft entnommen ist, kurz konturieren und mit einer dokumentarfilmischen Mediengestaltungs- und Medienproduktions­ praxis abgleichen, um dann drittens sowohl einen zweiten solchen Kurz-Film im Anschluss mit dem zuvor Gesagten konzeptionell kurz zu schließen, der die Methode der ›Medien-Meta-Reflexion‹,8 um die es hier geht, variiert, der aber zentral von einer stark zu machenden, explizit literarischen Poiesis be­ einflusst wird. Dieser Film spielt im Übrigen im Herzen Frankreichs – zufällig oder aber vielleicht auch: zwangsläufig.

1 Die Wahrheit im Film Die Diskussion über den Wahrheitsgehalt der Bilder und den Realitätsbezug im Besonderen von Dokumentarfilmen begleitet und leitet mithin vor allem die Filmgeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Doch mit welchen Mitteln und Methoden die Filme-Macher diese Darstellung auffassen, ist un­ eindeutig. Gleichwohl lässt sich eine Spur verfolgen, die schnell ein großes Publikum angesprochen hat und die die Kinos ihrer Zeit regelrecht erobert. Dazu ist eine kleine, aber gleichwohl nicht unbedeutende zeitgeschichtliche Note anzuführen, die in aller Kürze erzählt werden soll. Durch die Okkupation Frankreichs ab 1940 und die daraus folgende Vichy-Regierung wurden Doku­ mentarfilmproduktionen grob in zwei Bereiche unterteilt: (1.) Filmproduktio­ nen unter Beobachtung des Regimes und (2.) Produktionen der Widerstands­ bewegung, die die gleichsam ungeschminkte Wahrheit des Krieges darstellten. In diesem Zusammenhang kann erneut auf den Poetischen Realismus hinge­ wiesen werden, der, filmästhetisch, etwa das Ziel verfolgt, reali­tätsnahe und

7 

Siehe dazu Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Aus dem Franz. v. Ulrich Johannes Schneider. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. 8  Siehe dazu u. a. auch Janine Hauthal et al. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Berlin u. New York: de Gruyter, 2007.

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sozialkritische Filme auf die Leinwand (hier: in Frankreich) zu bringen. So wer­ den mit Filmen wie Farrebique, ou Les Quatre Saisons von Georges Rouquier denn auch die Armut, das Leiden und die Unterdrückung durch die Besetzung der Deutschen thematisch. Beschrieben werden kann diese Entwicklung als ein Kino der Befreiung und als documentaire authentique, die darüberhinaus mit einem wichtigen technischen Fortschritt korreliert, indem es nunmehr mög­ lich war, ohne großen Aufwand die Off-Voice durch die Aufzeichnung von Dia­ logen abzulösen. In der Konsequenz entsteht dadurch wiederum ein realis­ tischer Stil, an dem sich damals viele junge Filmregisseure orientiert haben. Diese Bewegung, für die neben dem Poetischen Realismus die Nouvelle Vague Documentaire und Le Groupe des Trente essentiell sind, bereitet dann den Weg für den späteren Neorealismus mit dessen prominenten Vertretern Roberto Rossellini und Federico Fellini in Italien sowie das Cinéma Vérité mit dem Impulsgeber Jean Vigo in Frankreich, denen die Abbildung der Wahrheit seit den Brüdern Lumière eingeschrieben ist und die von dem Bestreben an­ getrieben sind, durch filmische Aufnahmen die so genannte ›Wirklichkeit‹ so nah wie möglich auszudrücken, beispielsweise, indem auf zusätzliche Be­ leuchtung und auf die Betrachtung der Kamera als Dritte Person zu Gunsten von Montage- und Improvisationsmethoden verzichtet wird. Der darin blei­ bende Eindruck einer Wirklichkeitstreue oder Wirklichkeitsverpflichtung des Films ist keine Selbstverständlichkeit. Maxim Gorki kommentiert seinen ers­ ten Kinobesuch 1896 sogar noch mit den Worten: Gestern war ich im Reich der Schatten [...]. Wenn Sie nur wüssten, wie merkwürdig es ist, dort zu sein. Es gibt nicht einen Laut, und keine Far­ ben. Alles dort – die Erde, die Bäume, die Menschen, Wasser und Luft – ist in ein eintöniges Grau getaucht. Auf grauem Himmel graue Son­ nenstrahlen, graue Augen in grauen Gesichtern, auch die Blätter an den Bäumen sind grau, wie Asche. Das ist nicht das Leben, sondern der Schat­ ten des Lebens. Das ist keine Bewegung, sondern der lautlose Schatten der Bewegung.9

Gleichwohl bleibt zu beachten, dass die hier 1896 anlässlich der Krönung des Zaren Nikolay II. in einer russischen Zeitung geäußerte Beschreibung tatsäch­ lich nicht die Darstellung des Realen in der von den Brüdern Auguste und

9 

I.M. Pacatus (d.i. Maxim Gorki): »Flüchtige Notizen«. In: Kintop 4 (1996), S. 13.

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­ ouis Lumière gezeigten Kinobilder betrifft,10 zumal jene ausdrücklich in die­ L ser neuen Technik die große Möglichkeit erkannten, diese wenigstens wieder­ zugeben, hier: Ereignisse des öffentlichen Lebens, gedreht im Freien, Alltags­ szenen wie die Ankunft von Reisenden auf dem Bahnhof Ciotat.11 Schließlich schrieb die zeitgenössische Pariser La Poste nach einer solchen Aufführung in Paris: »[P]lötzlich beginnt sich das Bild zu bewegen, und das Tor einer Fa­ brik öffnet sich und hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen strömen he­ raus [...]. Es ist das Leben selbst, es ist Bewegung, die direkt aus dem Leben kommt.«12 Die Werke der Lumières erzählen mithin keine fiktiven Geschich­ ten, sondern sie verweisen auf ein Geschehen, das an einen bestimmten Ort und an einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet; versucht wird, die Realität nicht zu verändern und diese so nah wie möglich am Gezeigten wiederzuge­ ben. Etwa zur gleichen Zeit hat jedoch Méliès in anderer Weise versucht, Fil­ me zu produzieren, indem er die ›Technik‹ des Films nutzt, um die Realität gewissermaßen zu verändern und damit eine Euphorie der Zuschauer auszu­ lösen: Eine vorgestellte Welt war zum Greifen nah und man konnte ihr mit Erstaunen zuschauen. Méliès Le Voyage dans la lune (1902) ist das bekanntes­ te Werk einer solchen frühen filmischen Illusion und einer der aufwendigs­ ten frühen Filme.13 Wenn es im frühen Kino also einerseits um eine Inszenierung des die Vor­ stellung Übersteigenden geht, ist die Abbildung des Tagesaktuellen im Kino­ matographischen andererseits nicht von der Hand zu weisen – im März 1909 erschien denn auch die erste Wochenschau Faits-Divers der Firma Pathé F ­ rères in Zusammenarbeit mit den Brüdern Lumière, von der diese sagten: »Wir ver­ stehen hierunter Szenen von allgemeinem und internationalem Interesse, de­ nen es gelingt, durch ihre Bedeutung die Massen zu begeistern.«14 Um einen weiteren filmgeschichtlichen Schritt weiter zu gehen, kann schließlich noch einmal darauf hingewiesen werden, dass sich durch die Propagandafilme des Ersten Weltkriegs der so beginnende ›Aktualitätenfilm‹ zum Dokumentarfilm 10  Vgl. Anja-Magali Bitter: Die Inszenierung des Realen. Entwicklung und Perzeption des neueren französischen Dokumentarfilms. Stuttgart: ibidem, 2010, S.18. 11  Siehe dazu u. a. James Monaco: Film Verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2009, S.308f. 12  Zit. nach: Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München: edition text + kritik, 2002, S.56. 13 Vgl. La Voyage dans la lune. Frankreich 1902, 16 min. Regie: Georges Méliès, Dreh­ buch: ders. 14  Zit. nach Bitter: Die Inszenierung des Realen (wie Anm. 10), S. 23.

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entwickelt hat, beispielsweise indem »das Kriegsgeschehen in diesen Filmen zusehends als visueller Beweis für eine Aussage präsentiert« wird, »die impli­ zit getroffen, häufig aber in Form von Zwischentiteln auch explizit sprach­ lich formuliert wird.«15 Der Anlass dieser Darstellungsform dient zum Einen der Beruhigung der Bevölkerung und zum Anderen der Mobilisierung gegen den Feind, indem die Kriegsbilder filmisch unmittelbar wiedergegeben wer­ den. Bis Mitte der 1930er Jahre etablieren sich dann in Frankreich afrikani­ sche Expeditionsfilme und Naturbilder, die ebenfalls zu Propagandazwecken genutzt wurden. Diese Kriegsproduktion macht einen Großteil der ersten Do­ kumentarfilmproduktion in Frankreich aus. Filmemacher wie Léon Poirier oder Paul Castelnau versuchten, dadurch ihrerseits die Kolonialmacht Frank­ reichs darzustellen und Patriotismus mit solchen ›exotischen‹ bzw. ›exotisti­ schen‹ Bildern zu wecken. Insgesamt fällt auf, dass auf einer übergeordneten Ebene in diesen Filmen nach einer Form gesucht wird, nach einer kinematographischen Sprache,16 die sich, was diese Filmgeschichte anbelangt, zwei Optionen verpflichtet sieht, die beide die Kamera als Möglichkeit sehen, das Unsichtbare sichtbar zu ma­ chen, und für die die US-amerikanischen Arbeiten von Robert Flaherty (etwa Nanook of the North von 1922) und die russisch-futuristischen Filme Dziga Ver­ tovs (etwa Der Mann mit der Kamera von 1929) symptomatisch sind.17 Wäh­ rend Flaherty einen linearen Schnitt bevorzugt, um die zeitliche Reihenfolge der Aufnahmen beizubehalten, zieht Vertov die polyphone Montage vor, bei der nicht die chronologische Erzählung im Vordergrund steht, sondern die äs­ thetische Aneinanderreihung von Bildern und aufeinanderfolgenden Einstel­ lungen. In Vertovs Der Mann mit der Kamera wird eine solche Metaisierung der Filmentstehung selbst zum Thema – die Darstellung der Filmfabrikation durch das Kino-Auge: »Le cinéaste est celui qui apprend à voir, vite et exactement; or pour cela, il ne faut pas voir avec son œil, mais avec sa caméra ; il faut faire

15 

Martin Loiperdinger: »Die Erfindung des Dokumentarfilms durch die Filmpropa­ ganda im Ersten Weltkrieg«. In: Kay Hoffmann u. Ursula von Keitz (Hg.): Die Einübung des dokumentarischen Blicks. Fiction Film und Non Fiction Film zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 1895–1945. Marburg: Schüren, 2001, S. 71–79, hier S. 75. 16  Vgl. Bitter: Die Inszenierung des Realen (wie Anm. 10), S. 27. 17  Vgl. Heinz Heller: »Dokumentarfilm«: In: Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam, 2011, S. 150–155, hier S. 152. 


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con- fiance à ce suroeil, et le rendre autonome : libéré du temps et de l’espace, le ›cinoeil‹ nous offrira sa perception radicalement neuve.«18 In Rekurs auf diese, hier nur kurz anzudeutenden internationalen Strö­ mungen erklärt 1930 in Frankreich Jean Vigo: »Die Auseinandersetzung mit dem Realen ist das Prinzip der dokumentarischen Aufnahme«19 – und es be­ ginnt damit die Positionierung der Nouvelle Vague Documentaire mit der Suche nach neuen filmischen Ausdrucksmöglichkeiten mit dem Fluchtpunkt eines sozial engagierten Kinos. Jenes bleibt von seinen technologischen und hand­ werklichen Grenzen abhängig, beispielsweise die Problematik der lippensyn­ chronen Aufzeichnung – die für den Fiktionsfilm übliche Nachsynchronisa­ tion widersprach dem Prinzip des Dokumentarischen und der Authentizität. Die Nachkriegszeit lässt sich letztendlich als die goldene Ära des Dokumen­ tarfilms in ganz Europa bezeichnen.20 Dokumentarfilme waren aufgrund ih­ rer meist genuinen Kürze ökonomisch besser zu realisieren und als regelmä­ ßige Auftragsarbeiten der Regierung auch solide finanzierbar. In Frankreich erschien die Zeitschrift Cahier du Cinema, an der u. a. Claude Chabrol, François Truffaut und Jean-Luc Godard mitwirkten. Es bildeten sich Ciné-Clubs und 1953 wurde die bereits erwähnte Groupe des Trente gegründet, um die Quali­ tät der französischen Dokumentarfilme zu schützen und zu fördern. In deren Manifest vom 20. Dezember 1953 heißt es, der Film sei »un incomparable ins­ trument de culture, un moyen essentiel d’enseignement et de connaissance.«21 In Monsieur et Madame Curie (1953) von Georges Franju werden die gleichna­ migen Protagonisten vorgestellt; allerdings liegt der Fokus nicht auf den er­ reichten Leistungen dieser beiden Wissenschaftler, sondern vielmehr auf de­ ren Persönlichkeit: Monsieur et Madame Curie endet nicht, wie es zu erwarten wäre, mit der Anerkennung ihrer Forschung als vielmehr mit einer Großauf­ nahme auf Marie Curies erschrockenem Gesicht, die gerade von der schlech­ ten, gesundheitlichen Verfassung ihres Mannes erfährt. Die Werke der Groupe des Trente setzen sich also ganz im Geiste des be­ reits konturierten Dispositivs mit sozialen Realitäten auseinander und dies mit Hilfe dreier Kommunikationsstrategien:

18  François Niney: L’epreuve du réel à l’ecrain. Essai sur le principe de réalité documentaire. 2. Aufl. Brüssel: de boeck, 2002, S. 48. 19  Zit. nach Bitter: Die Inszenierung des Realen (wie Anm. 10), S. 32. 20  Siehe dazu insgesamt auch Roger Odin (Hg.): L’Age d’or du documentaire. Paris: ­Editions L’Harmattan, 1998. 21  Zit. nach Bitter: Die Inszenierung des Realen (wie Anm. 10), S. 46.

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(1.) Dokumentarfilme montieren Bilder, die dem Zuschauer das Gefühl übermitteln, dass es sich nicht allein um aneinandergereihte Bilder handelt und können zu diesem Zweck durchaus fiktionale Markierungen beinhal­ ten. Ein solcher Dokumentarfilm löst sich aus Zeit und Raum; er zeigt ein bestimmtes Ereignis in einem bestimmten Moment an einen bestimm­ ten Ort, ohne es mittels Montage zu beeinflussen.



(2.) Dokumentarfilme verleihen den Bildern auf der Tonebene durch Ein­ satz einer Off-Voice einen weiteren Sinn. Diese kommentiert und bestärkt. Magali spricht von einer Stimme, die Gestalt annimmt, ohne dass ihr Spre­ cher zu sehen ist.22



(3.) Dokumentarfilme vermögen neben einer fiktiven Off-Voice auch eine reale Ich-Form in Szene zu setzen: Eine Stimme, hinter der sich der Re­ gisseur selbst verbirgt: ein Cinéma du JE, das Ich-Kino.23 Die Off-Sprech­ stimme des Regisseurs richtet sich nicht nur an den Zuschauer; sie erzählt zudem von jenem selbst.

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Die hier zum Ausdruck kommende Dokumentarfilm-Poetik begleitet natur­ gemäß der technische Fortschritt der Nachkriegszeit, in erster Linie: leichte und leise Handkameras, die wiederum lippensynchrone Tonaufzeichnungen ermöglichen, so auch wiederum im US-amerikanischen Film, der sich im Direct Cinema ebenfalls für den Wahrheitsgehalt filmischer Bilder interessiert. Die Kamera fungiert darin als unsichtbarer und unbemerkter Beobachter, ein Vorgehen, das Bill Nichols als observation-mode klassifiziert.24 Durch die Ge­ genwart der Kamera wird das gefilmte Ereignis nicht verändert. Ziel ist es, die porträtierten Personen die Kamera vergessen zu lassen und auf diese Weise hoffentlich eine im Hintergrund liegende Wahrheit zum Ausdruck zu bringen und erneut dem Anspruch an Authentizität und Realem gerecht zu werden25 – erneut ganz im Sinne des Cinéma Vérité, bei dem etwa Jean-Rouch mit sei­ nen ethnographischen Filmen denselben Fragehorizont an Produktionsfragen berührt hat. Neben der Wahrheit gewinnt jedoch der Begriff der ›Wirklichkeit‹ an Gewicht. Die Wahrheit kann nur wahrhaftig sein, indem sie auch die Wirk­ 22  23 

Vgl. ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 50. 24  Vgl. ebd., S. 51. 25  Vgl. Monaco: Film verstehen (wie Anm. 11), S. 364.

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lichkeit darstellt, und daher bedienen sich diese französischen Filmregisseu­ re gerade nicht dem observation-, sondern dem interactive-mode: Die Kamera handelt als dritte Person und versucht, sowohl dem Portraitierten wie auch dem Zuschauer ihre Anwesenheit nicht zu verschweigen. Die Distanz zwischen Zuschauer und Gezeigten wird gelöst. Dem Zuschauer wird keine Inszenie­ rung vorgespielt. Die Kamera tritt als eigener Bestandteil des Films selbst auf. Ein Beispiel ist Chronique d’un Été von Rouch und Edgar Morin, ein Film, der eine Gruppe junger Franzosen und Ausländer in Paris porträtiert, die über politische Probleme des Jahres 1960 diskutieren; die Person Marcelin wird etwa in der dreizehnten Szene während des Interviews von Jean Rouch ge­ fragt, was es wohl hieße, sie in diesen Film zu involvieren,26 wodurch der Film sich selbst zum Thema macht und eine Reflexion seiner Thematik evoziert, die die Wirklichkeit und dadurch die Auflösung der Inszenierung intendiert. Ge­ sprochen werden kann von der Aufzeichnung »authentische[r] Regungen und Reaktionen auf den Gesichtern der befragten Personen« und einem »wahr­ heitsgemäße[n] Bild der komplexen Psyche moderner Stadtmenschen.«27 In Chronique d’un Été wird ausschließlich mit Groß- und Nahaufnahmen gedreht, so von Marceline, wie sie sich an einen traumatischen Moment ihrer Kindheit erinnert. Ihr Gesichtsausdruck lässt darauf schließen, dass diese Erinnerun­ gen keine angenehmen sind. Der Verzicht auf künstliche Beleuchtung und der ›freie‹ Umgang mit der Kamera unterstützen den Ausdruck der Realität, die diese Filme ins Visier nehmen. Die Spuren der filmischen Inszenierung wer­ den keineswegs verwischt; um »als Ergebnis eines zeitlich befristeten Expe­ riments des Lebens mit der Kamera eine andere Art der Authentizität anzu­ streben« und die von dem »zumeist im Bild erscheinenden Fragesteller Edgar Morin initiierte[n] Geständnisse und Gefühlsregungen als echt erscheinen« zu lassen.28 Die Kamera übernimmt nicht nur die Aufgabe der Aufnahme, sie fungiert überdies als Katalysator. Dadurch kommt es zu Äußerungen der ge­ filmten Personen, die es ohne diese Vorgehensweise mutmaßlich nicht gege­ ben hätte: »[I]ls réagissent à l’influence de la caméra, comme à un catalyseur [...], de la même façon que l’on peut réagir dans la vie à une nouvelle rencontre,

26 Vgl. Chronique d’un été. Frankreich 1961, 85 min. Regie: Jean Rouch u. Edgar Morin. Drehbuch: Jean Rouch u. Edgar Morin. TC: 00:01:44–00:03:20. 27  Manfred Hattendorf: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK, 1999, S.121 28  Ebd., S. 124.

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à cette différence prés que la caméra n’est pas seulement le regard momenta­ né d’un autre mais la puissance de rétention d’un troisième œil anonyme.«29 160

2 Ungeschminkte Wahrheit Im Jahre 1930 begann sich nunmehr auch in Italien mit dem Poetischen Rea­ lismus eine neue Bewegung zu etablieren, die durch ihre gleichermaßen reali­ tätsnahe und sozialkritische Filme den ›wahren Zustand der Gesellschaft‹ dar­ zustellen trachtete. Die entsprechenden Filmemacher sahen darin eine neue Ausdrucksform ihres filmischen Erzählens und publizierten 1943 ein Mani­ fest, in dem sie das konventionelle Erzählkino verabschiedeten; das italieni­ sche Kino sollte schließlich gewissermaßen nicht an den Zuschauern vorbei erzählen, sondern sich explizit kritisch mit der vom Krieg gezeichneten Gesell­ schaft auseinandersetzen – der Film sollte als Spiegel der Gesellschaft dienen: Nicht die Studios, so die Auffassung, können die ›wahre Gesellschaft‹ abbil­ den, sondern gleichsam die Straße, auf der sich das Leben abspielt. Die Kame­ ra hat hierzu keine andere Aufgabe, als die bestehende Realität einzufangen und sie zu präsentieren. Der Neorealismus verzichtet also auf die Konstruk­ tion erfundener Geschichten. Vielmehr liegt der Fokus darauf, die Wirklich­ keit, insbesondere die Alltagswirklichkeit, darzustellen, d.h. das Leben und die Erfahrungen der ›einfachen Menschen‹. Um dies zu erreichen, werden die Auf­ nahmen an Originalschauplätzen gedreht und die Sprache (u. a. der Dialekt) besonders betont. Die ›Filmsprache‹ ändert sich und evoziert eine Filmtheorie, die mehr noch als Expressionismus und Nouvelle Vague das Denken des Films innoviert.30 André Bazin spricht sogar davon, dass daher Italien »das Land mit dem geschultesten Filmverstand«31 sei. Das Centro Sperimentale in Rom war denn auch darum bemüht, die theoretischen Übungen auf die Filmpro­ duktion selbst zu übertragen, um die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Medium und der medialen Praxis nicht voneinander zu trennen.32

29 Niney: L’epreuve du réel à l’ecrain (wie Anm. 18), S. 163. 30  Siehe dazu näher Jörn Glasenapp: Abschied vom Aktionsbild. der italienische Neorealismus und das Kino der Moderne. München: Wilhelm Fink, 2013, S.7. 31  André Bazin: Was ist Film? Hg. v. Robert Fischer. Mit einem Vorwort v. Tom Tykwer u. einer Einleitung v. François Truffaut. Berlin: Alexander, 2004, S. 296. 32  Vgl. ebd.

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Auch innerhalb bzw. ausdrücklich gegen die Kunstvorstellung des italie­ nischen Faschismus konstituiert sich jene neorealistische Ästhetik, die die Kamera unbeirrt auf die Straße stellt, die Filmrollen mit Laiendarstellerin­ nen und -darstellern besetzt und Armut, Leid und Unterdrückung während dem bzw. durch den Zweiten Weltkrieg thematisch werden lässt, um die ungeschminkte Wahrheit zum Vorschein zu bringen. In den Worten von Deleu­ ze: »Das Reale werde nicht mehr repräsentiert oder reproduziert, sondern gemeint.«33 Ein solches, hier zum Ausdruck kommendes Verlangen danach, Wahrheit zu erfahren, hält nach dem Krieg an; an jeder Straßenecke sollte die­ se zu sehen sein:34 allgegenwärtig. Der neorealistische Film übernimmt dazu die Aufgabe, dies auszustellen und aufzuzeigen (durchaus in einem morali­ schen Verständnis),35 letztendlich, um gesellschaftlichen Fortschritt zu bewir­ ken, die Bevölkerung zu vereinen, die eigene Geschichte zu verstehen und die jüngste Vergangenheit zu verarbeiten.36 Daher produzieren italienische Filmregisseure wie Roberto Rossellini Fil­ me wie Paisà, ein Werk, das dieses neorealistische Denken verkörpert und in dem die Befreiung Italiens anhand von fünf Episoden, die jeweils zwanzig Mi­ nuten dauern, gezeigt wird. Der Film spielt im deutsch besetzten Italien kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Er beschreibt den Rückzug der Deut­ schen durch die Alliierten, die von Süd- nach Norditalien einmarschieren. Im Mittelpunkt der filmischen Erzählung stehen die Schicksale der Menschen, die mit der Unterdrückung durch das faschistische Regime und mit sehr viel Armut kämpfen.37 Paisá und weitere italienische Filme dieser Zeit zeichnen sich durch die Rekonstruktion von Tatsachenberichten aus, die einen doku­ mentarischen Wert besitzen.38 Bazin erklärt seinerseits, dass es unmöglich sei, »das Drehbuch davon zu trennen, ohne zugleich den gesellschaftlichen Boden mit herauszureißen, in dem es wurzelt.«39 Für die neorealistischen Fil­

33  Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Aus dem Franz. v. Klaus Englert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996, S.11. 34  Vgl. Carmine Chiellino: »Der neorealistische Film«. In: Text + Kritik 63 (1979), S. 19–31, hier S. 24. 
 35  Vgl. ebd. 36  Vgl. Bazin: Was ist Film? (wie Anm. 31), S. 299. 37 Vgl. Paisà. Italien 1946, 124 min. Regie: Roberto Rosselini, Drehbuch: Roberto ­Rosselini, Federico Fellini. 38  Vgl. Thomas Bremer: »Den Menschen neuschaffen. Kriegserfahrung und Sozial­ problematik im neorealistischen Roman.«. In: Text + Kritik 63 (1979), S. 3–18, hier S. 7. 39 Bazin: Was ist Film? (wie Anm. 31), S. 300.

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me ist es daher üblich, Komparsen willkürlich erst am Ort der Handlung zu­ sammenzusuchen. Die Heldin in Rossellinis Film Paisà wurde beispielswei­ se in der ersten Episode (Sizilien, am Hafen) entdeckt. Die ›Wirklichkeit im Film‹ entsteht durch eine derartige Originalbesetzung der Figuren und des­ halb in der Überzeugung, dass kein anderer eine Figur so realitätsnah darzu­ stellen vermag wie eine Person, die diese Figur verkörpert.40 In Paisà ist die Heldin der ersten Episode daher eine Einheimische, die sich mit der vorge­ führten Szene identifizieren kann. Ihre eigenen Erfahrungen beschreiben die Figur und lassen die Szene nah an der Wirklichkeit spielen. Eine solche Arbeit mit einem nicht professionellen Cast bedeutet eine weitere wichtige Kompo­ nente des Neorealismus, um die Realität im Film darstellen zu können: »Es bedurfte [...] professioneller Laien: Schauspieler die wie ›Medien‹ eher zu se­ hen und sichtbar zu machen wissen als zu agieren [...].«41 Den Filmen wurde auf diese Weise (auch mittels der ›Mischung‹42 von Laien und professionel­ len Schauspielerinnen und Schauspielern) eine neue Form von Realität ein­ geschrieben: Wahrhaftigkeit. Die weiterführende medientechnische Entwicklung zeitigt mit der Erfin­ dung der Tonfilmkamera in diesem Zusammenhang eine Filmproduktion, die sich zum Einen nahe am Drehbuch befindet und zum Anderen gleichwohl den Anteil an Improvisation (als weiteren Faktor wahrhaftiger Filmdarstellung) stärkt, um wiederum näher an die Wirklichkeit zu gelangen. Bazin führt aus, dass erst durch die materiellen Drehbedingungen kurz nach dem Krieg, die Themen der Filme und die Fähigkeiten der italienischen Regisseure diese Im­ provisation zugelassen haben.43 D.h. die konkrete, vorgefundene Situation gibt beim Dreh dem Filmgeschehen seine Richtung und nicht unmittelbar der Re­ gisseur, der damit fast ausschließlich für die Aufnahmetechnik zuständig ist.44 Rossellinis Drehbücher befinden sich beispielsweise daher während der Pro­ duktion in einem ständigen Prozess der Veränderung und passten sich so bei­ spielsweise den SchauspielerInnen, der Landschaft und der Natur an. In Paisà ist diese Vorgehensweise in der Anfangsszene der zweiten Episode (Neapel)45 zu erkennen, die an mehreren Orten gedreht wurde, um durch die im Hin­

40  Vgl. ebd., S. 303. 41 Deleuze: Das Zeit-Bild (wie Anm. 33), S. 34. 42 

Vgl. Bazin: Was ist Film? (wie Anm. 31), S. 304. Vgl. ebd., S. 313. 44  Vgl. ebd., S. 314. 45 Vgl. Paisà (wie Anm. 37), TC: 00:23:00–00:24:08. 43 

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tergrund liegende Landschaft den Film näher an die Wirklichkeit zu bringen. Der italienische Junge Pasquale zeigt in dieser Episode seine Heimat, ein Ar­ mutsviertel am Rande von Rom. Um die Wirklichkeit zu reproduzieren, wur­ de zwangsläufig das Armutsviertel, in dem Pasquale wirklich lebt, abgebildet. Die Kameraführung korreliert mit dem Blick dieser ›wirklichen Abbil­ dung‹, indem »die Kamera ein sehr feinsinniges filmisches Gespür besitzt, wunderbar sensible Antennen, die es ihr ermöglichen, das Nötige in einem Zug zu erfassen.«46 Der Film Il Bandito von Alberto Lattuada beginnt etwa mit einer Plansequenz,47 die diesen Gedankenzug von Bazin unterstreicht. Die Kamera ist auf das Gesicht von Ernesto gerichtet, der als Gefangener aus Deutschland heimgekehrt ist und sich vor seinem zerstörten Haus befindet. Die Kamera folgt seinem Blick und macht einen 360 Grad Schwenk, der nach und nach alles zu Sehende ins Bild rückt. Diese Kameraführung bewirkt, dass sich der Zuschauer in das Geschehen hineinversetzen kann. Zunächst betrach­ tet man den Schauspieler von außen und durch den langsamen Schwenk folgt man seinem Blick und so scheint es, als würde man in die Rolle von ­Ernesto schlüpfen. Der Betrachter erfährt selbst die gezeigte Grausamkeit der Szene. Darüberhinaus variiert die Geschwindigkeit dieses subjektiven Schwenks. Mit einem langen Gleiten beginnt die Kamera, hält vor dem niedergebrann­ ten Haus fast an und betrachtet die Zerstörung, im gleichen Rhythmus wie der Blick des Mannes – so als würde die Kamera unmittelbar von dessen Auf­ merksamkeit gelenkt werden. Die Kameraführung des Neorealismus ähnelt mithin in ihrer Dynamik der Bewegung der Hand, die Gegenstände und Situa­ tionen umreißt und erkundet:48 »Die italienische Kamera bewahrt etwas von der Menschlichkeit [...], sie ist fast eins mit Hand und Auge, verschmilzt nahe­ zu mit dem Menschen und steht im Einklang mit dessen Aufmerksamkeit.«49 Grundsätzlich ist zu sagen, dass hier mehr Aufmerksamkeit der Kamera­ führung gilt als der Montage. Plansequenzen und die unübliche Tiefenschärfe dominieren das italienische Kino der Nachkriegszeit und lassen die Zuschauer ihrerseits näher an die Wirklichkeit heran. Mit Filmen wie Paisà sowie Germania Anno Zero (Deutschland im Jahre Null) von Rossellini oder Ladri di Biciclette (Fahrraddiebe) von Vittorio De Sica, die auf Montage-Effekte verzichten, wird

46 Bazin: Was ist Film? (wie Anm. 31), S. 315. 47 Vgl. Il Bandito. Italien 1946, 87 Min. Regie: Alberto Lattuada, Drehbuch: Alberto

­Lattuada. TC: 00:00:00–00:02:35. 48  Vgl. Bazin: Was ist Film? (wie Anm. 31), S. 315. 49  Chiellino: »Der neorealistische Film«. (wie Anm. 34), S. 25.

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dem italienischen Kino gewissermaßen der Sinn der Wirklichkeit zurückge­ geben,50 mit dem Ziel, die »Montage auf ein Minimum zu reduzieren und die Wirklichkeit in ihrer tatsächlichen Kontinuität auf die Leinwand zu bringen.«51 In La Terra Trema (Die Erde bebt) von Luchino Visconti besteht das Vermögen darin, etwa in der Anfangsszene mittels Schärfentiefe und langandauernder Schwenks das Geschehen in seiner Gesamtheit zu erfassen.52 Hier sind die Fi­ scher am Hafen zu sehen, die ihre Ware an betrügerische Fischhändler wei­ terverkaufen: eine ›unangetastete Realität‹, die »ihre zeitliche und räumliche Kontinuität bewahr[t].«53 Der Zuschauer kann nun selbst die Entscheidung treffen, welche Szene als wichtig empfunden wird oder nicht: Das Ereignis existiert ständig als Ganzes, es reizt uns dauernd insgesamt; wir entscheiden, diesen oder jenen Aspekt zu wählen, eher das eine als das andere auszusuchen, je nach den Erfordernissen des Handelns, des Gefühls oder der Reflexion, aber ein anderer als wir würde vielleicht an­ ders wählen. In jedem Fall sind wir frei, unsere Inszenierung zu machen.54

Das bedeutet auch, dass die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht vom Regis­ seur bzw. von der Montage gelenkt wird, sondern der Zuschauer selbst über den Sinn der Bilder entscheidet. Die Kamera hebt die gezeigten Geschehnis­ se hervor, die durch den Blick des Betrachters einen Sinn erhalten.55 Deleuze stellt fest: »Der Neorealismus erfand [...] einen neuen Bildtypus, für den Bazin die Bezeichnung Tatsachen-Bild vorschlug.«56 Es handelt sich dabei um eine Art neuer Realitätsform, die ein tatsächliches Ereignis darstellt, das in den Szenen und durch die besetzen Figuren wiedergegeben wird.57 In Paisà geht eine Krankenschwester namens Harriet durch die noch von einigen deutschen und faschistischen Gruppen besetzte Stadt, um ihren Verlobten, der eine Wi­ derstandsgruppe anführt, zu finden. Ein Mann, der seine Frau und sein Kind sucht, begleitet sie. Schritt für Schritt folgt die Kamera Harriet auf ihrer ris­ kanten Reise und lässt den Zuschauer an den Schwierigkeiten, denen sie un­ terwegs begegnet, teilnehmen. Während dieser Reise sieht man in den Au­ 50  51 

Vgl. Bazin: Was ist Film? (wie Anm. 31), S. 105. Ebd., S. 106. 52 Vgl. La Terra Trema. Italien 1948, 162 Min. Regie: Luchini Visconti, Drehbuch: ­Luchini Visconti. TC: 00:10:05–00:11:26. 53 Glasenapp: Abschied vom Aktionsbild (wie Anm. 30), S. 13. 54  Ebd., S. 14. 55  Vgl. ebd., S. 15. 56 Deleuze: Das Zeit-Bild (wie Anm. 33), S. 11. 57  Vgl. Bazin: Was ist Film? (wie Anm. 31), S. 319.

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gen der Menschen die Sorgen und Ängste, die die Befreiung Italiens mit sich bringt. Am Ziel angekommen erfährt Harriet, dass ihr Mann bereits tot ist. Gezeigt wird das gesamte Geschehen, die Tatsachen, ohne dass die Kamera die Situation subjektiv betrachtet.58 Das Ergreifende dieser Episode liegt nicht in Harriets Verlust, sondern darin, dass ihr Unglück nur eines unter vielen ande­ ren ist: »Rossellini [...] überlässt es dem Zuschauer, bei dieser Frau zu sein, sie zu verstehen und mit ihr zu leiden.«59 Die gezeigte Wirklichkeit basiert nicht auf den einzelnen Einstellungen, die der Film zu bieten hat, sondern auf den Tatsachen, die sie zu vermitteln versuchen. Diese bleiben jedoch eine Repro­ duktion der Realität, die im Film zu einer eigenen Wirklichkeit werden soll.60 Das ist zunächst und zumindest der filmhistorische Kontext, in dessen Dis­ kurslinie sich jenes intermediale Filmgestaltungsprojekt bewegt, das nach­ folgend in zweifacher Weise untersucht werden wird, und dessen Traditionen darin aufgenommen und aber auch weitergedacht werden. Der zunächst zu betrachtende Kurz-Film trägt den Titel Die üblichen Verdächtigen, stammt von Gennarino Romano und datiert aus dem Jahr 2012.61

3 Praxis A Ich komme damit zur Gestaltungs- und Produktionspraxis der vorliegenden Überlegungen, für die als Erstes dieses exemplarische Projekt erklären wer­ den soll: Dessen Ausgangspunkt besteht darin, einen virulenten sozialen Be­ fund filmisch-dokumentarisch zu behandeln und dies mit den ›Mitteln‹ des Cinéma Vérité und des Neorealismus, das jedoch nicht allein imitierend ko­ piert, sondern Sinn bringend gebrochen und fortgedacht werden soll. Thema des Kurzfilms ist der General-Verdacht gegenüber respektive die Verdächtigung von Immigranten in Deutschland. Der Autor wählt einen autobiographi­ schen Zugang: Er zeigt die Vergangenheit der eigenen Großeltern auf, die in den 1960er Jahren nach Deutschland eingewandert sind und als Gastarbei­ ter dort Arbeit fanden, indem er jene selbst sprechen lässt. Durch diese In­ 58  Vgl. ebd., S. 320. 59 Ebd. 60  61 

Vgl. ebd. https://vimeo.com/89428707, zul. abgeruf. am 04. Juli 2018.

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terviews versucht er, Ereignisse ausfindig zu machen, in denen sie zu dieser Zeit als Gastarbeiter aufgrund ihrer Herkunft verdächtigt wurden. Jedoch be­ stätigen die Großeltern keinesfalls das Klischee des armen, mit Vorurteilen konfrontierten Immigranten, das eigentlich aufgezeigt werden sollte; das Ste­ reotyp, das zwar durchaus echt sein kann, das hier aber Autor und Zuschau­ er eines besseren belehrt, unterstreicht tatsächlich die Authentizität des Ge­ zeigten. Denn die Großeltern erzählen einzig von positiven Erfahrungen, die sie als Gastarbeiter in einem fremden Land erlebt haben. Die authentischen Regungen und Reaktionen in den Gesichtern und Gesten, die Körpersprache und Mimik sowie der direkte Eingriff ins Geschehen, der ohne jegliche Einlei­ tung auskommt, unterlegen den Wahrheitsgehalt der Bilder mit einem Grad an Glaubwürdigkeit, der nicht von der Hand zu weisen ist.

Abb. 1

Die Interviews finden in der gewohnten Umgebung der Großeltern statt,62 wo­ durch der Zuschauer einen Einblick in deren Privatleben gewinnt und sich in der Film-Erzählung wiederfinden kann. Deshalb zeigt die erste Sequenz die all­ täglichen Tätigkeiten, die von den Großeltern zu erledigen sind.63 Sie werden dadurch vorgestellt und treten in den Vordergrund der Dokumentation. Da­ rüber hinaus lässt die Montage der Bilder den Zuschauer vergessen, dass der Film aus einer Anordnung von Einzeleinstellungen besteht. Er gleitet gleich­

62  63 

Vgl. Abb. 1 u. 2. TC: 00:12–00:22.

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sam ungehindert in die Szenen mit hinein. Der Verzicht auf eine Off-Voice, der verhindern soll, dass der Eindruck eines Fiktionsfilms entsteht, und der Verzicht auf eine Nachsynchronisation, was die Originalstimmen der italie­ nischen Muttersprache der Großeltern im Film belässt, bezeugen die Echtheit des aufgezeichneten Materials. Sie dienen der Wahrheitsfindung.

Abb. 2

Mit dieser Film-Bewegung bleibt der Film auf der Ebene eines rekonstruier­ ten Wahrheitskinos, das allerdings alsbald von seiner Anwendung umgewen­ det wird. Die Kamera wechselt vom observation-mode zum interactive-mode und wird zur dritten Person. Die für das Thema kennzeichnende Musik, die bis dahin die Handlungen begleitet hat, fällt aus. Der Autor ist selbst als Re­ gisseur und Kameramann zu sehen, der die Mikrofone der Interviewten zu­ rechtrückt.64 Die bislang gezeigte Inszenierung findet eine Auflösung und das Wirkliche kommt zum Vorschein – so, als ob man einen Blick hinter die Ku­ lissen werfen würde. Während Jean Rouch in Chronique d’un Été seiner In­ terviewpartnerin die Frage stellt, was es wohl hieße, sie in dem Film zu in­ volvieren, führt Die üblichen Verdächtigen die Antwort darauf aus, indem der Blick frei gegeben wird. Dieser Blick verleiht dem Wahrheitsgehalt der Bilder eine neue Wendung. Die Wahrheit kann erst wahrhaftig sein, indem man die Wirklichkeit zeigt bzw. die Illusion der Inszenierung aufdeckt und somit wirkliche Einblicke in eine Wahrheit des Films ermöglicht. Diese Reflexivität ge­

64 

TC: 01:56–01:58.

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Abb. 3

genüber dem Medium Film im Medium Film evoziert eine Irritation. Ist es gewollt oder ist es ein Filmfehler? Die Interviews laufen nach dem Ausfall der Musik und der Auflösung der Inszenierung weiter, jedoch befindet sich der Zuschauer noch immer hinter den Kulissen.65 Die Stimme des Interviewers ist zu hören und die Antworten der Großeltern scheinen nicht wie geplant abzulaufen. Die Großmutter wei­ gert sich, die vorgesagte Aussage aufzusagen.66 Beide Großeltern beharren auf ihren eigenen Antworten und lassen es nicht zu, obwohl dies der Autor bzw. Regisseur verlangt, jene zu verfälschen. Auch anhand der Filmmontage ist zu erkennen, dass sich die Schnitte und die Dynamik der Handlungen nach der Wendung im Dokumentarfilm verändert haben. Die Schnitte sind härter und schneller und die Geschwindigkeit der Interviews nimmt zu. Die Wahr­ heit kommt allmählich näher. Die üblichen Verdächtigen endet nicht, wie es der Titel impliziert, mit der Darstellung von armen, mit Vorurteilen konfrontierten Immigranten. »Es ging uns gut!«,67 ist die Aussage, die der Großvater äußert, während er das Zimmer verlässt. Die Großmutter befördert indes durch ihre Aussage: »Jetzt kann ich

65 

TC: 01:59–02:03. TC: 02:04–02:02:08. Vgl. Abb. 3. 67  TC: 02:52. Vgl. Abb. 4. 66 

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Abb. 4

Abb. 5

auch zum Fernsehen«68 noch einmal die Aufdeckung und Auflösung der Insze­ nierung und die damit verbundene Wirklichkeit, die zum Ausdruck kommt. Kann man die Wahrheit filmisch darstellen und hört die Realität in dem Mo­ ment der Abbildung auf, sie selbst zu sein? Auch wenn die Absicht darin be­ steht, das Reale und die Wirklichkeit wahrhaftig abzubilden, kann die Realität,

68 

TC: 02:56. Vgl. Abb. 5.

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nachdem sie filmisch erfasst worden ist, nicht mehr dieselbe sein, denn ihr We­ sen besteht in dem Moment des Geschehens und nicht in einer Aufzeichnung. Die Frage ist demnach nicht mehr, ob die Wahrheit filmisch darstellbar ist, sondern zielt vielmehr auf die Frage, wie deren Inszenierung abgebildet wer­ den muss, um sie zu entblößen, um sie bloß zu stellen. Meine These ist, dass zu diesem Zweck durch einen solchen Film ein Riss verläuft – eine Überlegung, mit der ich eine kunsttheoretische Idee aufgreife, die Georges Didi-Huberman in Devant l’image geäußert hat.69 Das vierte Kapitel dieses Essays heißt Bild als Riss. Didi-Huberman beschreibt unter dieser Idee das Phänomen, wenn die Materialität eines Gemäldes durch die mimetische Repräsentation reißt – also ein Gewebe, das sich selbst zerreißt. Es geht um Momente, in denen die Materialität eines Gemäldes durch die Figuration, durch mimetische Reprä­ sentation reißt, wenn »die Einheit der Formen, deren ideale Synthese zerstü­ ckelt wird und wenn aus dieser Zerstückelung das Unheimliche einer Materie hervorgeht.«70 In mehreren mittelalterlichen Darstellungen des gekreuzigten Körpers Christi sei die figürliche Mimesis durch eine andere Art der Mimesis durchgerissen, in der die Farbe wie das Blut Christi auf die Seite strömt; man erfahre ein ähnliches Durchreißen der Repräsentation sogar in den Gemälden von Vermeer, wenn man sich z. B. beim Anschauen von Ansicht von Delft wie Proust auf den kleinen pan gelber Farbe fokussiere oder wenn sich die figürli­ che Repräsentation des roten Fadens in Die Spitzenklöpplerin von 1669/1670 bei genauerer Betrachtung in einem chaotischen Aufscheinen von Farbe auflöse. Gleichwohl sich Didi-Huberman demnach auf Beispiele aus dem Mittelal­ ter und der frühen Neuzeit konzentriert, kann seine Idee in Verbindung mit der Materialität des Dokumentarfilms und der hier verhandelten Medienpro­ duktion gebracht werden. Beschreiben lässt sich damit ein Doppelriss: Einmal im Gewebe des Filmprodukts und seiner Diegese, einmal im Gewebe der Film­ anlage und seiner Konzeption. Zu zeigen ist, wie die Materialität und der Pro­ duktionsprozess des Mediums Film auch in dem endgültigen, geschnittenen und aus-produzierten Film zu spüren sind, also wie die Materialität des Films durch die scheinbar stabile/fixierte Form des Filmprodukts reißt und eine Art virtuelles Filmwerk vergegenwärtigt, das hinter der zeigbaren Filmform liegt.

69  Vgl. Georges Didi-Huberman: Vor einem Bild. Aus dem Franz. v. Reinold Werner. München: Carl Hanser, 2000. 70  Ebd., S. 168.

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Abb. 6

Wenn der Zuschauer vor den Film tritt, beobachtet er eine Spannung oder ein Oszillieren zwischen den semantischen Dimensionen der filmischen Reprä­ sentation und den visuellen Dimensionen des Seh- und Zeigbaren, also eine Spannung zwischen verschiedenen Modalitäten der Rezeption. Wir können den Film anschauen, d.h. auf den semantischen Inhalt der Bilder achten. Aber man kann auch die Materialität oder das visuelle Aussehen des produzierten Mediums sehen: die Kamera, die Mikrofone, den implizierten, hörbaren Ka­ meramann respektive den Regisseur, die Hintergrundgeräusche usw. Es gibt in Die üblichen Verdächtigen mithin diese Momente, in denen die semantische Ebene des Films aufgrund des durchzogenen Risses regelrecht unfassbar wird: In diesen Fällen reißen die Materialität und Visualität durch die semantische Repräsentation hindurch.71 Wenn wir einen Film sehen, können wir solche Momente in den seltens­ ten Fällen direkt wahrnehmen. Wir sehen meist nur das Fertige, den fertigen Film. Im Vergleich zu einem Gemälde sind hier die physischen Produktions­ spuren erloschen, durchgestrichen, unsichtbar gemacht. Aber die Risse, die zumindest in diesem Kurzfilm zu sehen sind, sind spürbar. Dessen Sinnlich­ keit und Spürbarkeit sind symptomatisch gerissen. Denn die Kraft, die durch den gezeigten Riss in der Filmentstehung ausgeübt wird, bricht auch durch das Gewebe des fertigen Films hindurch. Sie evoziert gleichsam das Fleisch jenes

71 

Vgl. Abb. 6.

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Abb. 7

virtuellen Filmwerks, das, um im Bild zu bleiben, unter der Haut des endgülti­ gen Films liegt und das den Film aufdringlich umwirbt, als sei es ein Gespenst. Dies führt zu ästhetischen Erfahrungen beim Zuschauer. Die Materialität des Filmprozesses bleibt nicht ›ordentlich‹ und unsichtbar verborgen, sondern sie bricht regelrecht heraus. Der Produktionsraum des Films, der fiktive Raum der Repräsentation und der wirkliche Raum des Zuschauers bluten so zu sa­ gen ineinander. In der ästhetischen Erfahrung des Filmprozesses wird etwas von der Materialität des Filmens selbst in den Körper des Zuschauers trans­ poniert. Die geringfügige Haut, die den Zuschauer sowohl vom Film als auch von dessen Prozess und von der Materialität des Filmens trennt, wird zerris­ sen. Dies ermöglicht es dem Zuschauer, sich geradezu das Fleisch des virtu­ ellen Filmwerks ästhetisch vorzustellen, das darunter liegt. Dieses tritt so­ dann in denjenigen Filmstellen mit Bruchmomenten in Erscheinung, die nicht inszeniert respektive konzipiert worden sind.72 Dieser Verweis nennt die gespensterhafte Wahrheit, die der Zuschauer sonst nur unbewusst oder auf af­ fektiver Ebene spüren würde. Diese Sichtweise eröffnet auch eine neue Perspektive auf das Projekt des Sehenlernens einer vermeintlichen Wahrheit im Film – eine Modalität des Sehens, die die nur scheinbar stabilen Oberflächen und Fassaden der filmischen Realität durchbricht. Diese Art des Sehens ermöglicht es, durch den

72 

Vgl. Abb. 7.

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Film hindurchzuschauen und etwas zu erspähen, das durch diese Risse dringt und deren Oberfläche zu zerstören droht. Das Medium Film oder auch: das Medium Kino reflektiert sich – kunsttheoretisch – im Kino. Neben der Tra­ dition des Cinema Vérité ist solchen Filmen, die den kunsttheoretisch veror­ teten Riss (oder eben: den Doppel-Riss) als reflexives Instrument in sich wie vor sich tragen, in gleicher Weise also der Verweis auf den italienischen Neorea­ lismus inhärent, d.h. auf die Filmgeschichte eines Landes mit dem besagten geschultesten Filmverstand. Die offensichtlichen Bezüge und Bezugnahmen zwischen dem filmhistorischen Diskurs und der vorgestellten filmprodukti­ ven Praxis sind klar ersichtlich. Auch deren Ästhetik stellt die Kamera in den Raum und auf den Boden (und nicht ins Studio). Keine professionellen Schau­ spieler werden engagiert, sondern Laien. Und: Darin soll jene ungeschminkte Wahrheit zum Vorschein gebracht werden, wiederum ganz im Sinne von De­ leuze, das Reale nicht mehr zu repräsentieren oder zu reproduzieren, sondern zu meinen. Ein wichtiger Moment bleibt dazu die Führung der Kamera: Sie folgt etwa einem Blick und macht einen Schwenk, der nach und nach alles zu Zeigende ins Bild rückt. Der Zuschauer folgt dem Blick, der derjenige der Ka­ mera noch immer ist: Wahrheit und Wirklichkeit bedeuten das Ziel.

4 Praxis B Ich komme zum abschließenden Teil des Beitrags und diskutiere darin einen zweiten Kurzfilm, der ebenfalls von Gennarino Romano stammt. Er heißt 50 Rue Rambuteau Paris und ist 2013 entstanden;73 er zeigt explizit nicht das ›schöne‹, touristische Paris und dessen Quartiere, sondern Menschen (und besonders einen Menschen) auf der Straße bzw. einen, der auf der Straße re­ gelrecht gefunden worden ist. Antoine Berard ist ein Dichter des 21. Jahrhunderts, in dessen Leben der Film einen Einblick gewährt. Sein Arbeitsort ist die Rue Rambuteau in Pa­ ris und sein Arbeitswerkzeug ist eine alte Schreibmaschine, auf der er Lite­ ratur für Passanten schreibt.74 50 Rue Rambuteau Paris ist in drei Akte einge­ teilt, die erneut auf verschiedene Wahrheitsinhalte aufmerksam machen: Der

73  74 

https://vimeo.com/89417498, zul. abgeruf. am 04. Juli 2018. Vgl. Abb. 8. Vgl. Abb. 9.

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Abb. 8

Abb. 9

erste Akt verweist auf eine filmisch erzeugte Realität, die mit verschiedenen technischen Hilfsmitteln erreicht werden kann. Der zweite Akt des Films ba­ siert auf der bereits als Stilmitteln in Die üblichen Verdächtigen eingeführten Wendung, die den ersten Akt verabschiedet und die wirkliche Realität ohne Inszenierung aufzeigt. Der dritte Akt hingegen führt wieder in die Inszenie­ rung zurück und beendet den Film. Dem Zuschauer wird zu Beginn kein Bildmaterial zur Orientierung in der filmischen Erzählung angeboten. Nur der Ton verweist auf den Ort, an dem

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Abb. 10

sich die Erzählung abspielt. Die Realität wird hier bereits vom Zuschauer an­ gefordert. Erst die eigenen Gedanken und die eigene Imagination spiegeln die Realität der gezeigten Bilder. Sobald das erste Bild erscheint, bemerkt man, dass die Schärfe noch nicht deutlich definiert ist. Erst mit der Musik beginnt die intendierte Inszenierung. Die Kamera bleibt vorerst ein unsichtbarer und unbemerkter Beobachter. Das Prinzip keiner Off-Voice und keiner Nachsyn­ chronisation bleibt bestehen. Die Einführung der Diegese wird nicht mit ei­ ner ruhigen Kamerabewegung dargestellt, die dem menschlichen Sehen nahe kommen würde, sondern leicht schwankend, um die filmische Illusion aufzu­ lösen. Die Kamera übernimmt eine dokumentarische Aufgabe, die spontane Geschehnisse einfängt und diese vorzeigt. Im Vordergrund steht die Alltags­ realität von Antoine, die nicht auf einem Drehbuch basiert. Alle Szenen ent­ standen im Moment und durch die Entwicklung der Situation am Drehort.75 Die Organisation des Films ist organisch; Improvisation und Planung wer­ den verflochten, etwa wenn in der ersten Szene Passanten auftauchen, die ein Gespräch mit Antoine beginnen.76 Keine andere Person kann eine Figur so rea­litär darstellen, wie eine Person, die sich selbst spielt – eine These, die we­ nigstens hier, als Findungsakt auf der Straße, mitten in deren Leben belegt ist: Ohne künstliche Beleuchtung, mit dem Licht, das am Drehort vorhanden

75  76 

Vgl. Abb. 10. TC: 01:13–01:19.

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ist, und ohne künstliche Kulissen. Die im ersten Akt gezeigten Nahaufnah­ men lösen die Distanz zum Betrachteten. Wenn Antoine in der zweiten Inter­ viewszene seinen Alltag auf der Straße beschreibt,77 glaubt man ihm, gleich­ wohl dieses Porträt nach wie vor wiederum von Romano inszeniert ist. Der Observation-Mode führt den Zuschauer zum Lean-Back, der im besten Fall in­ formative Unterhaltung verspricht.

Abb. 11

Die Wendung, der Riss und der Doppel-Riss kommen zwingend auf uns zu.78 Die Kamera wechselt von ihrer Observation zur Interaktion, erneut fällt die Musik aus und die Montage wird auf ein Minimum reduziert.79 Es folgen har­ te, aufeinanderfolgende Schnitte, die zur Auflösung der Inszenierung führen. Der Riss tut sich auf; die semantische Ebene entgleitet und Materialität und Visualität reißen auch hier durch sie hindurch. Antoines Aussage: »Each time you don’t understand something, you just ask me to repeat in english«80 be­ tont diese Reiß- oder Bruchstelle des Films; sie offenbart seine Gemachtheit. Die Arbeitsschritte hinter der Kamera kommen zum Vorschein. »Wie fühlst du dich vor der laufenden Kamera?«,81 ist die erste Frage, die Antoine im zwei­ ten Akt gestellt wird. Er empfindet das Kameralicht als störend.

77  78 

TC: 01:20–01:25. Vgl. Abb. 11. 79  TC: 02:57. 80  TC: 03:01. 81  TC: 03:14.

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Abb. 12

Abb. 13

Der Hauptteil umfasst vier Interviewszenen, die bewusst nicht kontinuierlich aufgezeigt werden. Darin beschreibt Antoine seine Gedanken ohne weitere Musikuntermalung und nur mit dem Originalton der Straße. Der Schlussteil führt ein ums andere Mal in die Inszenierung des ersten Akts zurück und stellt dadurch die filmische Illusion wieder her. Für einen Augenblick ist sie womög­ lich in Vergessenheit geraten, doch besitzt der Zuschauer nun ein Vorwissen über die filmische Wahrheit, die ihm bewusst werden lässt, dass die Wahr­ heit erst durch die Wirklichkeit der Situation, wie es im zweiten Akt darge­

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stellt wird, abgebildet werden kann. Die Wiedereinführung der Musik und der Untertitel, die beobachtende Kamera und Antoines Aussage, dass er es sehr mag, jemand zu sein, der nicht den Erwartungen der anderen entspricht,82 geben einen Fingerzeig auf das Rollenspiel, das das Risshafte des Films aus­ stellt. Die Vorstellung, wie die Realität Antoines aussehen könnte und wie sie der Film vordergründig dokumentieren will, werden dabei – und damit kom­ me ich zum letzten Punkt, der einen weitere Reflexionsachse kommentiert – in dessen Selbstbetrachtung, seiner Selbstwahrnehmung zentriert. ­Antoine sagt: »Deswegen ist ein Schreiber, so wie ich einer bin, sehr besonders.«83 Auf diegetischer Seite erfahren wir hier das, was in (etwas) anderen Zu­ sammenhängen zunächst von Derrida in seinem zunächst als Vortrag gehal­ tenen Text Freud et la scène de l’écriture,84 von Rodolphe Gasché in seiner Moby Dick-Lektüre mit dem Titel The Scene of Writing85 und schließlich von Rüdiger Campe im Begriff der Schreibszene verarbeitet worden ist.86 Dieser hat metho­ disch die Möglichkeit eröffnet, die heterogenen Beteiligungen am Schreiben als eine nicht selbstevidente Rahmung zu befragen, in der verschiedene Mo­ mente, Auftritte und natürlich auch Realisierungen respektive Ausführungen des Schreibens in eine Beziehung zueinander treten, eine Konstellation bilden, für die Körper und Techniken verfolgt werden: »›Die Schreibszene‹ kann ei­ nen Vorgang bezeichnen, in dem Körper sprachlich signiert werden oder Ge­ rätschaften am Sinn, zu dem sie sich instrumental verhalten, mitwirken – es geht dann um die Arbeit der Zivilisation oder den Effekt von Techniken.«87 Es gehört »zu den Implikationen dieses Begriffs«, dass »das Schreiben als ein mehr oder weniger stabiles Beziehungsgefüge umrissen wird« und dass »die Spuren des skriptualen Ereignisses mit Blick auf die zur Geltung gebrachten Umstände der Produktion jeweils historisch und philologisch im Einzelfall

82 

TC: 06:24–06:39. TC: 06:48–06:51. Vgl. Abb. 12 u. 13. 84  Vgl. Jacques Derrida: »Freud und der Schauplatz der Schrift«. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Aus dem Franz. v. Rodolphe Gasché u. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, S. 302–350. 85  Vgl. Rodolphe Gasché: »The Scene of Writing. A Deferred Outset«. In: Glyph 1 (1977), S. 150–171. 86  Vgl. Rüdiger Campe: »Die Schreibszene, Schreiben«. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener ­Epistemologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 759–772. 87  Ebd., S. 760. 83 

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untersucht werden müssen.«88 Wie die Geneaologie des Schreibens sehr genau zeigt, wird Schreiben wenn auch nicht allein, dann doch immer primär dort zum Thema, wo Widerstände, Haken, Hindernisse: Probleme im Produktions­ prozess so zu sagen auf eine Bühne treten.89 Demzufolge können diese in me­ dientechnischen Umbruchphasen gewissermaßen abgelagert und mit Schreib­ werkzeugen geboren werden,90 »und zwar ohne dass deswegen die Kausalitäten dieser Widerstände und mithin die Kausalitäten des Schreibaktes schon ein­ deutig festgelegt worden wären«, die sich aber »auf allen Ebenen der Schreib­ praxis einstellen« können.91

Abb. 14

Die Rahmung und die Bühne des Schreibens, wie sie Romanos Kurzfilm zeigt,92 reflektieren, so die Abschlussthese, letztendlich die meta-dokumen­ tarische Verflechtung dieses Unternehmens. Wichtig ist für das, was für sol­ che Phänomene schlechthin gilt: dass sie Markierungen benötigen, die auf die

88 

Davide Giuriato: »Maschinen-Schreiben«. In: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als ­Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp, 2012, 305–317, hier S. 305f. 89  Vgl. Martin Stingelin: »›Schreiben‹. Einleitung«. In: Ders. (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenkleksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Wilhelm Fink, 2004, S. 7–21, hier S. 11. 90  Vgl. ders.: »Vom Eigensinn der Schreibwerkzeuge«. In: Johannes Fehr u. Walter Grund (Hg.): Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter. Innsbruck: Haymon, 2003, S. 134–148. 91  Giuriato: »Maschinen-Schreiben« (wie Anm. 88), S. 306. 92  Vgl. Abb. 14.

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Konstruiertheit des eigenen Mediums hinweisen; während üblicherweise auf verschiedenen Ebenen der Produktion, Konzeption, Vermittlung und Rezep­ tion dazu beispielsweise Selbstaussagen der Produzenten, ironische Metatex­ te, Figuren- und Handlungskonzeptionen, Erzählhaltungen oder Reaktionen von Rezipienten zum Tragen kommen, die wiederum in den künstlerischen Prozess eingespeist werden,93 spielt in dem hier anvisierten Film insbeson­ dere dieser Rahmen und die Bühne eine Rolle – und zwar wiederum in ei­ nem doppelten Sinn: Einerseits geht es um den Rahmen und die Rahmung des Schreibens (von Antoine); andererseits geht es um den Rahmen und die Rahmung des Films, der Antoine dokumentiert, um dessen Wahrheit zu zei­ gen. Der währenddessen zur Schau getragene Bruch und Riss des Films führt zu Rahmenbrüchen. Er macht den Rahmen des Films und den Rahmen des Schreibens in diesem durchlässig. Er schafft Rahmen-Risse.

Abb. 15

Anders gesagt: Auch die Aussagen und Handlungen Antoines zum Schreiben bilden eine 4. Wand (im Sinne der Theorie des naturalistischen Theaters Ende des 19. Jahrhunderts)94 innerhalb des Films, auf dessen Oberfläche sich sein Riss und seine Rahmen-Risse auftun. Grundiert wird dieses Muster durch ein

93  Siehe dazu u. a. Patricia Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London u. New York: Routledge, 2001. 94  Siehe dazu u. a. auch Johannes F. Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur ­Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg i. Br.: Rombach, 2000.

Vom Riss

intermediales Konzept, das die Literatur bzw. genauer: den Prozess des lite­ rarischen Schreibens, wie gesagt, als Metadokumentation in den Film instal­ liert und das diegetisch und semantisch die Dokumentarerzählung des Films konstruiert. Es handelt sich um eine literarische Metafiktion innerhalb der Dokumentation, die das Medium Kino im Medium Kino reflektiert. Die lite­ rarische Schreibszene Antoines95 ist die im Film eingeschriebene Soll-Bruch­ stelle, die als weitere Reflexionsinstanz des filmischen Träger-Mediums fun­ giert, die den Riss aufschneidet.

95 

Vgl. Abb. 15.

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Que le cinéma ait, presque dès son invention et en tout cas, dès ses premières années, rencontré la peinture, cela est bien connu. Au demeurant, « la » pein­ ture, pour le cinéma dramatique commençant, c’était un certain état de l’art pictural, figuratif bien sûr, et le plus souvent, fortement narratif. Je rappellerai seulement, symptomatique, la copie littérale du Pollice Verso de Gérôme (1872) dans le Quo Vadis d’Enrico Guazzoni (1913), que devait suivre une longue lita­ nie de « citations » ou d’imitations serviles de peintures plus ou moins célèbres dans tel ou tel film, jusqu’à leur détournement plus ou moins caché, telle L’Origine du monde de Courbet au début de L’Humanité de Bruno Dumont1 (1999). Que le cinéma, plus largement, ait trouvé une inspiration dans tels ou tels moments de l’histoire de l’art pictural, cela est su aussi depuis un certain temps. Dans L’Œil interminable2, écrit voici trente ans, je m’attachais à la fois à relever l’incidence du cadrage pictural sur le cadrage cinématographique, et à revendiquer pour le cinéma des puissances figuratives qui pouvaient à l’époque sembler quelque peu négligées. Un point plus récent sur la question élargit cette connivence entre les deux arts et les deux médiums, en postulant que ce que le cinéma élabore comme pensée de l’image ne peut pas être compris sans la peinture : celle-ci, au fond, serait un des principaux réservoirs – de formes, de problèmes figuratifs – où a puisé celui-là3. C’est la perspective inverse qui intéresse ici : comment la peinture a-t-elle rencontré le cinéma ? Qu’en a-t-elle retenu ? Celui-ci a-t-il joué pour elle un

1 

Le cinéaste a déclaré avoir plutôt pensé à Étant donnés… de Marcel Duchamp, mais une référence n’empêche pas l’autre. 2  Jacques Aumont, L’Œil interminable (1989), édition revue et augmentée, Paris, La ­Différence, 2007. 3  Jacques Aumont, L’Œil interminable (1989) ; voir aussi : Luc Vancheri, Cinéma et ­Peinture. Passages, partages, présences, Paris, Armand Colin, 2007.

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rôle symétrique de réservoir de formes et de problèmes de figuration ? Et si oui, lesquels ? J’ai choisi d’éprouver une hypothèse, dont on mesurera vite le caractère problématique : la peinture aurait, parmi d’autres traits, repris au ci­ néma l’inquiétude du mouvement, et la tentation de l’arrêter. Il me faudra un assez long détour pour exposer cela. Peut-on représenter le temps ? Question brutale, aux termes particulièrement complexes. « Représenter », cela peut prendre bien des formes et avoir bien des statuts divers, même si, en matière d’images, il s’agit presque toujours d’une opération fondée sur la figuration de la réalité. Mais, justement en rai­ son de ce caractère intrinsèquement figuratif, l’idée devient étrange lorsqu’on l’applique au temps. Celui-ci, par essence, ne se figure pas : il s’éprouve, se vit, se constate, se traverse, coule, fuit, tout ce qu’on veut, mais n’a par lui-même aucun aspect sensible. En outre, c’est précisément l’un des points qui écartent décisivement la peinture et le cinéma, dans leur matérialité de médium : ce­ lui-ci produit des images dotées de temps, celle-là, non. L’image peinte tra­ verse le temps identique à elle-même, au vieillissement près de ses compo­ sants chimiques, qui est plus lent qu’une vie humaine. L’image filmique crée un temps propre, avec lequel elle se présente à nous et sans lequel elle n’a au­ cune existence. Peut-on, dès lors, rassembler l’une et l’autre sous une même question de représentation ? Ce n’est pas sûr. L’image peinte rencontre le temps par deux biais (outre son vieillissement propre). D’une part, elle est vue par un specta­ teur selon un certain régime temporel, éminemment variable et chaque fois singulier, mais qui implique toujours un certain nombre de processus psycho­ physiologiques (exploration oculaire, attention visuelle, plaisir sensoriel) et culturels (reconnaissance de motifs, interprétation d’un sujet). D’autre part, elle comporte en elle-même, le plus souvent, une symbolisation du temps (de celui de son référent). L’image filmique, elle, partage une certaine durée avec son spectateur, dont l’activité – perceptive, intellectuelle, affective – est guidée par le flux temporel produit par le film ; quant à la symbolisation du temps, elle y est opérée sur le mode de la réduplication à l’identique4, compliqué par quelques procédures dont le montage est la plus visible.

4 

« Le film ne se contente plus de nous conserver l’objet enrobé dans son instant comme, dans l’ambre, le corps intact des insectes d’une époque révolue […] l’image des choses est aussi celle de leur durée et de leur changement. » André Bazin, « Ontologie de

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On sait les apories de la conceptualisation du temps, au moins depuis la formulation devenue canonique d’Augustin et sa distensio animi, menant à la trichotomie présent / présent du passé / présent du futur5. Une description plus récente, mais désormais classique elle aussi, due à Paul Ricœur, pose la « mise en intrigue » comme ce qui permet de dépasser (ou de contourner) cette aporie du temps et du présent. L’intrigue crée une séquence début / milieu / fin, qui n’a aucune existence dans le réel ; la mise en intrigue consiste à rem­ placer le présent de l’expérience réelle par un présent d’ordre symbolique, qui subsume la tripartition en accentuant tantôt l’un, tantôt l’autre des trois « pré­ sents ». Au passage, l’intrigue évacue aussi des actions « inutiles », « vides » ou « redondantes » en vertu d’une lecture déterminée de la suite des événements – dont il s’agit de dégager un sens, que le présent n’a pas et que les événements n’ont pas dans la réalité6. Or, la mise en intrigue (dont le concept fut inven­ té pour un médium, la littérature, qui n’inscrit pas le temps dans sa chair) est essentielle au cinéma dans la majorité des cas, alors qu’on n’en voit pas vrai­ ment d’équivalent pictural (la composition, c’est autre chose). Dans l’une ou l’autre de ces deux modalités, l’appréhension du temps à par­ tir d’une image n’est pas ce qu’elle est dans la réalité. Appréhender un temps symbolisé, c’est appréhender en même temps un phénomène, et le médium dans lequel il est offert. « Voir » le temps dans une image, c’est éprouver une expérience double, celle de mon temps de spectateur, et celle du temps « de l’image ». Un tel point de vue phénoménologique est limité, mais on ne peut négliger cette part d’expérience dans la réception du temps contenu dans une image ; c’est l’idée plus générale de Richard Wollheim autour du triplet « seeing-in / expressive perception / visual delight »7 : l’image propose une double per­

l’image cinématographique » (1945), in : Qu’est-ce que le cinéma ?, vol. 1, Paris, Éd. du Cerf, 1958, p. 16. 5  Soit, en termes modernes : « L’être alternativement perd et gagne dans le temps ; la conscience s’y réalise ou s’y dissout. Il est donc bien impossible d’éprouver le temps tota­ lement sur le présent, d’enseigner le temps dans une seule intuition immédiate. La durée ne peut pas davantage nous être enseignée directement par notre passé pris en bloc uni­ forme. […] on ne peut faire revivre le passé qu’en l’enchaînant à un thème affectif néces­ sairement présent. Autrement dit, pour avoir l’impression qu’on a duré […] il nous faut replacer nos souvenirs, comme les événements réels, dans un milieu d’espérance ou d’in­ quiétude, dans une ondulation dialectique. » Gaston Bachelard, Dialectique de la durée (1936), Paris, PUF, 2013, p. 32–33. 6  Paul Ricœur a exposé plusieurs fois sa conception de la mise en intrigue, et ultime­ ment dans La Mémoire, l’Histoire, l’Oubli, Paris, Seuil, 2000. 7  Richard Wollheim, Painting as an Art, Londres, Thames & Hudson, 1987, p. 43–44.

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ception, comme surface différenciée et comme figure, liée à une profondeur feinte ; elle peut être vue comme exprimant quelque chose, selon une dialec­ tique entre la projection d’un vouloir et la réception d’un contenu ; elle est un site virtuel de plaisir. Ce que nous voyons, en peinture et aussi en cinéma, nous atteint comme image figurative et comme jouissance visuelle, et cela im­ plique une double temporalité permanente. On se souvient de la phrase provocante de Jean Louis Schefer, « le cinéma est la seule expérience où le temps nous est donné comme une perception8 ». Il faut prendre ce « comme » pour ce qu’il vaut : une image, lui aussi, puisque le temps ne saurait être perçu, seulement éprouvé (ou pensé). Ce que signale cette formule, c’est que le cinéma nous offre une expérience du temps aussi semblable que possible à celle que nous avons en réalité – du moins à l’échelle du plan, car le montage ajoute, au passage continu et incessant du temps fil­ mique, ses marques propres. Il n’est pas interdit de comparer une peinture fi­ gurative à un plan de film, et réciproquement. De nombreux plans d’Antonio­ ni, de Sokourov, d’Eisenstein, de Kurosawa, on a vanté la qualité « picturale », tantôt en raison d’un cadrage marqué (élégant, tranchant, etc.), tantôt en rai­ son d’une composition subtile, tantôt simplement à raison de leur immobili­ té et de leur durée. Mais en sens inverse ? L’histoire de la peinture (occidentale, pour simplifier) a proposé plusieurs solutions pour approcher figurativement la durée. L’hiératisme, la solennité, le lieu voué au cultuel, la reprise à peine variée de prototypes uniques, ont fait des icônes, dans la tradition byzantine puis orthodoxe, des images de l’éter­ nité – quoi que veuille dire au juste cette formule. Dans un tout autre esprit, on retrouve une suggestion de durée abstraite (atemporelle, si je peux risquer l’oxymore) dans des peintures métaphysiques comme celles de Chirico ou de Magritte. Mais il a existé aussi des images de la durée, ou conçues comme telles, que ce soit l’image, destinée à un spectateur contemplatif, d’une action elle même contemplative et durative (dans le répertoire de la mystique chré­ tienne, chez Zurbaran notamment9), ou d’une absence totale d’action, comme éminemment cela est le cas de la « nature morte » (appelée en français clas­

8 

Jean Louis Schefer, L’Homme ordinaire du cinéma, in : Cahiers du cinéma, Paris 1980, 4ème de couverture. 9  Voir sa Crucifixion avec peintre de 1635–40, et le commentaire de Victor Stoichita, ­Visionary Experience in the Golden Age of Spanish Art, London, Reaktion Books, 1995, qui contient plusieurs autres exemples pertinents.

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sique, plus suggestivement peut-être, « vie coye »). De mèches de chandelles à peine éteintes, une fumée émane sans fin, silencieusement ; des bulles de sa­ von n’en finissent pas de ne pas éclater ; des montres sont définitivement ar­ rêtées. Est-ce bien de la durée ? Oui et non. Je puis, au choix, voir cela comme une « vie morte » où rien ne change, ou comme métaphore de l’impensable (un monde sans temps, ou avant ou après le temps). Pour matérialiser la du­ rée, il faut autre chose, par exemple une fable fantastique comme celle du Portrait de Dorian Gray, où le vieillissement de la peinture se met à coïncider, fol­ lement, avec celui de son modèle. C’est en raison du montage que l’image de film peut devenir véritable­ ment une image du temps ; c’est le cœur de toute la proposition de l’« imagetemps » de Deleuze, par laquelle le philosophe a voulu détacher le cinéma des évidences phénoménologiques dans lesquelles il est le plus souvent pris. Si le cinéma donne une image du temps, ou devient le temps en image, ce n’est pas par la continuité du flux et l’analogie parfaite avec le temps de la réalité : ce se­ rait au contraire par un travail complexe, qui implique le montage c’est-à-dire la mémoire, et la possibilité de construire un temps mental qui ne soit pas un flux unidirectionnel. De ce jeu, la peinture ne peut imiter que la surface – par­ fois de manière très saisissante, comme exemplairement dans plusieurs séries de Jacques Monory. Dans sa Voleuse n° 4 (1986) sont juxtaposés des fragments narratifs ostensiblement arrachés à un même monde de fiction, baignés d’une même teinte jaune orangé et suturés par des zones plus indécises, un flou où l’on passe d’un décor à un autre, d’une action à une autre. Monory, qui a beau­ coup peint à partir et autour du cinéma, a évidemment pensé « montage », et voulu rendre dans la surface d’un rectangle (allongé au format cinémascope) l’équivalent d’une suite de plans ou de scènes, et cette partie-là du programme temporel est parfaitement communiquée au spectateur, qui peut sans peine opérer mentalement le lien. Du coup, un sentiment de temps, de durée peut survenir, souligné encore par la maladresse volontaire de la peinture des acci­ dents (des mouvements), avec leur trace dessinée … Dès lors qu’on considère le temps dans son régime normal, celui où « il passe », la peinture peut tenter de le symboliser, dans des limites assez étroites mais suggestivement. L’« arrêt sur image » va au contraire à l’encontre de notre expé­ rience ordinaire : rien, dans le temps normal, n’autorise l’arrêt. Cela n’a même aucun sens, sinon dans des romans de science fiction (ou dans des fictions de la science). Pour penser la possibilité imaginaire d’un arrêt du temps, nous n’avons qu’une approximation, la notion d’instant – qui dérive de celle de pré­

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sent mais en exacerbe encore la difficulté. L’instant est la pointe extrême du présent, il en est la condensation dans l’idée d’un moment infiniment court, menant aux paradoxes de la flèche qui ne vole pas et du coureur au pied léger qui ne rattrape pas la tortue. On sait quelle perplexité a produite cette idée à propos du cinéma, avec les réflexions autour du photogramme, cette image fixe d’où s’engendre le mouvement10 – réitérant à leur manière les paradoxes des Éléates, et relevant de la même réponse : le mouvement ne s’analyse pas, il est un donné, éprouvé et pensé comme tel et qui ne saurait se décomposer qu’au risque de se spatialiser. C’est la réponse bergsonienne, qui l’amena à se méfier du cinéma où il voyait exclusivement le risque de ne donner du mou­ vement que l’image d’un trajet dans l’espace ; c’est de là que partit l’entreprise de L’Image-mouvement où Deleuze cherchait à échapper à toute phénoméno­ logie, au bénéfice d’une conception du mouvement comme « dans les choses » et non dans notre perception. Étrangement, la peinture semble mieux armée pour évoquer (sinon exac­ tement figurer) l’instant – à condition du moins qu’il y ait bien une action à figurer. On connaît la solution longtemps adoptée, celle du « fruchtbarer ­Augenblick », du « moment le plus fécond » de Lessing (parfois dit « instant prégnant »)11. L’instant fécond est celui qui permet au spectateur de dépasser en esprit la scène représentée : « Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können » (« Cela seul est fécond qui laisse un champ libre à l’imagination. Plus nous voyons de choses, plus il faut que nous puissions en imaginer. »). En peinture et sculpture, l’imagination ne reste libre, ainsi, que si l’artiste évite le moment paroxystique, car aucun instant ne stimule moins l’imagination que la représentation du stade ultime de l’affect. « Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden. » (« Au delà [de l’instant paroxystique], il n’y a plus rien, et présenter aux yeux le degré extrême, c’est lier les ailes à l’imagination. »). Ces idées, systématisées par le Laokoon de 1766, avaient été connues en pratique bien avant Lessing, et elles lui ont survécu. Tout peintre qui veut figurer un

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Christian Metz, « À propos de l’impression de réalité au cinéma » (1965), in : Essais sur la signification au cinéma, Paris, Klincksieck, 1968 ; Sylvie Pierre, « Éléments pour une théorie du photogramme », in : Cahiers du cinéma, n° 226–227, Paris 1971, p. 75–83. 11  Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). Je traduis le texte allemand, selon l’édition en ligne : http://gutenberg.spiegel.de/ buch/laokoon-1176/4.

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instant d’une action doit se la poser, comme le montre encore d’abondance et avec humour l’œuvre récent de Mark Tansey. On sait les problèmes qu’entraîne cette notion : •

Aucun événement réel ne peut être représenté ni signifié par un de ses ins­ tants ; c’est l’ensemble des moments qui est signifiant : il y a, à chaque ins­ tant, des éléments significatifs dans telle partie de l’espace où se déroule l’événement, mais les différentes parties ne sont pas atteintes simultané­ ment, ne sont pas significatives en même temps12. (Lessing déplace le pro­ blème : il s’agit non de représenter exactement l’événement mais de faire jouer l’imagination du spectateur).



Inversement, l’instant « prégnant » remplace l’instant – la pointe perma­ nente du temps, son changement incessant et en même temps son acmé – par un moment construit en vue d’un sens, alors que l’instant naturel n’a pas de sens.

Un cliché de l’histoire de la peinture veut qu’elle ait retenu la leçon de l’ins­ tantané photographique, et cherché à capter l’instant quelconque, celui qu’on n’a pas choisi et qui n’est pas « le plus fécond », mais qui a l’avantage d’appar­ tenir vraiment à l’événement et de n’être pas construit plus ou moins habile­ ment. Ce choix du non choix (ou du choix soumis aux contingences de la prise de vue) fut en effet imité par la peinture avec plus ou moins de réussite. Il a l’avantage de reconnaître que « l’instant naturel n’a pas de sens » sinon cette absence même de sens. Un rideau que l’air agite est un événement insigni­ fiant ; le représenter en peinture (Adolph von Menzel, Balkonzimmer, 1845) veut dire au moins deux choses : d’une part, que la peinture peut trouver des moyens d’en suggérer le mouvement léger et imprévisible, d’autre part, que cet événement, s’il ne signifie rien, peut cependant s’adresser à moi sur un autre plan (émotionnel, affectif, de l’ordre du charme ou de la surprise). L’instant quelconque a été au cœur de longues expérimentations et dis­ cussions au 19ème siècle, entre, disons, les chevaux au galop de Géricault (Derby d’Epsom, 1821) et ceux de Frederick Remington à la fin du siècle : si ces der­ niers nous semblent plus vrais, c’est entre autres qu’ils sont passés par les ex­

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Ernst H. Gombrich, « Moment and Movement in Art » (1964), in : The image and the Eye, London, Phaidon, 1982.

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périences de Muybridge sur le galop du cheval, et qu’ils ne nous montrent pas des animaux aux quatre membres étendus comme s’ils flottaient au-dessus du sol. La chronophotographie a joué dans cela un rôle plus immédiat que la cinématographie. Peut-être mue par l’espoir de pallier son incapacité à mimer le mouvement en en exposant la décomposition, la peinture du début du 20ème siècle a beaucoup pensé à ces expérimentateurs : voir, juste avant la guerre, Balla et ses études de mobiles (hirondelles, chien, etc.), Duchamp et son Nu descendant l’escalier (1912) qui plagie ouvertement Muybridge13, ­Boccioni qui « habille » davantage le mouvement décomposé. Mais avec la chronophoto­ graphie, si on ne peut nier qu’il y ait une succession d’instants fixés, et même, d’instants quelconques, ce qui demeure à l’horizon est toujours une trajectoire, prise dans son intégralité : on reste dans la perspective spatialisante que dé­ nonçait Bergson. Si l’on doit en croire Jean-Luc Godard, le cinéma n’aurait inventé qu’une seule chose, le montage. On pourrait en discuter longtemps, mais il semble bien que le montage en cinéma – qui a bien des antécédents en poésie, en littérature et même en peinture, comme l’a suggéré Eisenstein sous le terme de cinématisme14 – n’a de portée qu’à monter des mouvements. Le montage a un aspect atemporel (son aspect « collage », si on veut), mais sa signification profonde, c’est de conjuguer des temporalités. C’est un trait de l’aisthesis et de la semiosis cinématographiques que la peinture a reconnu et tenté d’explorer, nous l’avons vu avec Monory, mais ce qui échappe toujours, c’est ce que Deleuze a nommé la « coupe mobile de la durée ».  15 Le temps de l’image de cinéma n’est pas l’instant, c’est un temps « quelconque » dans la mesure où l’appareil en­ registreur ne choisit pas les instants unitaires enregistrés ; en outre, comme le temps ordinaire, il est évanescent (le temps est ce qui passe, rien d’autre). La « coupe mobile de la durée » désigne ainsi, premièrement, une perception : mon appareil oculaire-cérébral est apte à percevoir le mouvement qua talis,

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Duchamp a placé, un demi-siècle post factum, cette œuvre sous l’aile du cinéma, mais ce faisant, il confond l’analyse du mouvement et sa synthèse, réitérant une erreur sou­ vent dénoncée par Marey. Marcel Duchamp, « À propos of myself » (1964), in : Duchamp du signe. Écrits, Flammarion, 1975, p. 223 ; Michel Frizot, Étienne-Jules Marey, chronophotographe, Nathan-Delpire, 2001, p. 255–256. 14  Voir entre autres le recueil : Sergueï M. Eisenstein, Cinématisme (1980), Dijon, Les Presses du Réel, 2009. 15  Gilles Deleuze, L’Image-mouvement, Paris, Éditions de Minuit, 1983, p. 87.

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quoi que cela veuille dire (on ne le sait toujours pas parfaitement en termes physiologiques) et, deuxièmement, une affectivisation et une intellectualisa­ tion mêlées, qui définissent en termes vécus l’instant comme mixte de sou­ venirs et d’attentes : l’instant m’est appréhensible parce que j’ai vécu ce qui le précède, et il me signifie quelque chose aussi en fonction de ce que j’attends de son développement. À ce point, il apparaît donc que le cinéma est le seul médium capable de rendre l’immobilité, parce qu’il est le seul à rendre la mobilité. La peinture, elle, ne rend ni le mobile ni l’immobile ; elle donne, c’est autre chose, des images immobiles du mobile ou de l’immobile. Il y a donc un chiasme entre les deux : un médium fait pour rendre le mobile et qui peut rendre l’immobile, mais pas arrêter le temps ; un médium fait pour arrêter le temps et qui ne peut rendre ni le mobile, ni l’immobile. Qu’est-ce qui peut se jouer dans ce croisement, pour la peinture ? Je repars des décompositions de mouvement du chronophotographe chez un peintre qui a expressément et systématiquement cherché à dépasser l’aporie à laquelle nous en sommes parvenus, Francis Bacon. Les Deux figures de 1953 (collection particulière) sont ouvertement inspirées – presque copiées – de la planche chronophotographique des Wrestlers de Muybridge (1887), et ces deux figures sont « donc » peintes comme étant en mouvement. On retrouve, déjà signalé dans la toile de Monory, le « truc » du détail informe, barbouillé, rem­ placé par un trait de peinture, qui signifie le mouvement. La pose instable des deux personnages suggère qu’ils ne sont pas immobiles ; par ailleurs, impos­ sible de dire, au seul vu de la peinture, ce qui va se passer et ce qui se joue au juste, Bacon ayant ironiquement joué de l’équivoque entre image de lutte et image de rapport sexuel. S’agit-il alors d’un instantané ? Oui et non : oui, dans la mesure où chaque image de la série chronophotographique est un instanta­ né. Non parce que ces images ne valent que comme moments d’une suite dis­ continue mais ininterrompue. On est une fois de plus au cœur du paradoxe du photogramme, oxymore incarné puisqu’il est, à l’unité, immobile, mais per­ met le mouvement par son enchaînement 24 fois par seconde. En quoi Bacon arrête-t-il le temps ? C’est affaire d’appréciation, non pas un fait avéré : c’est un effet. Un effet destiné à un spectateur qui a l’expérience du cinéma, et sera capable de le retrouver dans cette image. La chose est encore plus nette, peut-être, dans un autre et célèbre motif de Bacon, la bouche ouverte sur un cri. Head VI (1949, Arts Council of Great Britain) est à l’évidence un pastiche du pape de Raphaël, mais on lui a ajou­

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té une bouche ouverte extravagante, qui recevra son explication par exemple dans Study for the Nurse in the Film “Battleship Potemkin” de 1957 (Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut), lequel réfère ouvertement au célèbre cadre de l’« œil crevé » dans le film d’Eisenstein. Maintenant c’est dans le corps que quelque chose se passe : il est source du mouvement. […] Le corps s’efforce précisément, ou attend précisé­ ment de s’échapper. […] Toute la série des spasmes chez Bacon est de ce type […], toujours le corps qui tente de s’échapper par un de ses organes […]. Et le cri, le cri de Bacon, c’est l’opération par laquelle le corps tout en­ tier s’échappe par la bouche.16

Un instant ? Sans doute : le photogramme d’Eisenstein est là pour l’assurer – mais un instant d’un type particulier, puisqu’il n’a pas été calculé mais extrait d’un événement (qui, lui, avait été calculé, mis en scène). On est vraiment à la frontière du pictural et du cinématographique, comme le démontrerait, ail­ leurs, la citation implicite de Bacon par un cinéaste qui aimait citer la peinture, Stanley Kubrick : vers la fin de 2001, A Space Odyssey (1968), les brefs inserts sur le visage du cosmonaute fonçant vers l’inconnu le montrent figé, yeux ou­ verts, bouche béante, pointes d’immobilité dans le mouvement qui renversent les pointes de mouvement rentré ou sorti chez Bacon. Malgré la brièveté du plan, il semble bien que ce soit un arrêt sur image, un gel du flux temporel par un trucage (élémentaire) qui consiste à répéter le même photogramme. Temps suspendu, tellement congru à cette chute dans l’infini, aussi impensable en termes d’espace, de cosmologie, d’ontologie que de temporalité… Mon sujet est un paradoxe, je n’ai cessé de le dire, puisque l’art de l’image fixe ne peut être conçu comme art de l’image arrêtée. Pour arrêter, il faut que quelque chose soit arrêtable : il faut un mouvement. C’est pourquoi les vies « tranquilles » des natures « mortes » ne donneront jamais l’impression d’un arrêt du temps, mais de sa mise entre parenthèses, de son suspens indéfi­ ni (par conséquent, immédiatement métaphysique). Les arrêts du temps en peinture ne sont autres que des arrêts figurés d’une action en cours, rendant potentiel ce qui était actuel. La vieille idée de Lessing est toujours utile, et la peinture, pour figurer l’arrêt du temps, a le plus souvent recours à la produc­ tion ou à la suggestion d’un déséquilibre. Figure semblant sur le point de tom­

16  Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logique de la sensation, Paris, La Différence, s. d. [1981], p. 16–17.

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ber, comme dans l’amusant Derrida Queries De Man de Mark Tansey (1990), où les deux lutteurs au bord du précipice copient sans le dissimuler une gra­ vure assez connue montrant le combat mortel de Sherlock Holmes et Moriar­ ty. Déséquilibre de figures, luttant ou, comme dans la toile de Bacon évoquée tout à l’heure, en train de faire l’amour ; ailleurs, courant ou sautant, faisant du vélo, volant : toujours, il faut une action. Mais l’action, nous le savons, sup­ pose en peinture l’acclimatation d’une idée narrative, d’un récit, d’une histoire. Aussi le cinéma n’a-t-il « inspiré » la peinture qu’assez superficiellement dans sa méditation sur le temps, ses apories et son arrêt. Ce qu’elle en reprend, bien souvent, n’est que l’histoire qu’il raconte, et qu’elle transpose, comme à l’époque de Lessing les peintres transposaient Virgile ou la Bible. C’est pour­ quoi j’ai fait le détour par Bacon, qui a le mérite de suggérer la fiction d’une force qui serait à l’œuvre également (non pas identiquement, bien sûr) dans l’image peinte et l’image filmique. La « pointe de temps » cinématographique a été longtemps informée par une certaine nature technique (dite désormais argentique), grâce à laquelle le mouvement apparent de l’image résultait de l’action conjointe du défilement et du photogramme : des images analogiques, à l’unité, enchaînées selon une cadence précise, séparées par des noirs, et mettant en jeu une propriété mal connue du cerveau humain17. La technique a changé, et le numérique produit le mouvement apparent selon des modalités légèrement autres (et encore moins bien étudiées théoriquement). Pour autant, l’imaginaire de l’image unitaire (du photogramme) reste très vif (entre autres, par le biais de la « capture d’image », devenue un geste courant à la portée de tous), et nous continuons, pour un temps encore, à imaginer l’arrêt sur image comme un grossissement de cette texture fine du corps du film qu’était le photogramme, correspondant, en pro­ jection sur l’écran, au geste du monteur qui arrête la pellicule sur la table pour la couper. Extraire un photogramme, c’est le geste le plus paradoxal qui soit, et le plus filmique qui soit : on a dans cette image immobile un condensé de mobilité potentielle. Il y eut autour de 1970 et de l’article de Roland Barthes sur le « sens obtus »18, de longues discussions pour savoir si le cinéma avait, comme le Roi, un double corps, l’un mouvant, l’autre immobilisé ; je reste pour

17 

Mise en évidence en 1912 par Max Wertheimer, commentée par Hugo Münsterberg dans son The Photoplay : A Psychological Study de 1916, baptisée faute de mieux « effet φ », et toujours énigmatique un siècle plus tard. 18  Roland Barthes, « Le troisième sens » (1970), in : L’Obvie et l’Obtus, Seuil, 1982, p. 43–61.

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ma part d’accord avec la conclusion de Sylvie Pierre à l’époque, « le cinéma n’a qu’un seul corps où le temps est inscrit ».  19 Mais ce sont là des querelles plus verbales qu’autre chose : le temps, nous ne savons décidément pas ce que c’est. Lorsque, en 2010–2011, François Boisrond réalise sa série de toiles à partir du film Passion (Godard, 1982), il extrait du film des pointes de temps en réali­ sant des captures d’image sur ordinateur, qu’il retravaille ensuite pour obtenir un modèle de ses toiles. La relation entre l’œuvre de peinture et l’œuvre de ci­ néma est médiatisée par une technique qui a au temps un rapport plus com­ pliqué que le simple défilement de la pellicule. Le peintre souligne d’autant plus son projet de figer le moment – non sans quelque ambiguïté d’ailleurs, comme le montrent ses études préparatoires, où se lit clairement une inter­ prétation du film selon ses propres références picturales (le dos nu de Myriem Roussel réinvente celui des baigneuses d’Ingres). Il s’agit en effet d’un film particulier, où l’on n’a pas dissimulé qu’il s’agissait de refaire, avec les moyens du cinéma, des mises en scène que certaines toiles avaient opérées avec leurs moyens propres. Le film travaille donc d’emblée à contre-pente, puisqu’il veut, non pas animer des peintures célèbres, mais au contraire les figer : les copiant en cinéma, rendre plus apparente leur absence de mouvement. Mais le ta­ bleau vivant n’est pas une immobilité parfaite ni absolue : à supposer même que les modèles s’astreignent à rester figés, le tremblement de la vie reste per­ ceptible. Le travail du peintre joue savamment avec cette possibilité, et donne des images qui refusent la netteté, se dotant au contraire d’une gamme d’ef­ fets de léger flou, d’un léger principe d’incertitude sur la présence des corps. Voir un arrêt sur image dans une peinture est un imaginaire. L’image peinte est là, immobile comme toute image peinte ; l’arrêt supposé est représenté, c’est-à-dire suggéré (car dans une représentation, on voit toujours différentes choses). Mon énoncé hasardeux signifie au fond que le cinéma (le mouvement cinématographique, continu, quelconque, automate, qui « coupe la durée ») est dans la tête du regardeur, et parfois dans celle du peintre. Il n’y a pas de mi­ racle ni de mystère : la peinture n’a pas affaire directement au mouvement, ni en pensant littérature ou drame, ni en pensant photographie, ni en pensant cinéma. Mais elle peut s’y référer, comme à l’une de ses nombreuses limites.

19 

Sylvie Pierre, « Éléments pour une théorie du photogramme », Cahiers du cinéma, n° 226–227, Paris 1971, p. 75–83, ici : p. 77.

Peindre l’arrêt sur image

Comme tout travail à la limite, celui-ci a le privilège de dire quelque chose du médium : c’est ainsi que la pensée du cinéma peut avoir quelque efficace. Revenant sur la question du mouvement un demi-siècle après Duchamp, Gerhard Richter fait de nouveau descendre un escalier à une femme nue (Ema. Akt auf einer Treppe, 1966, Musée Ludwig, Cologne). Plus question de décom­ poser mécaniquement ce mouvement dont l’on sait, alors, qu’il est un tout, qu’il ne se décrit pas comme un trajet mais comme un changement. Une pein­ ture ne change pas : il lui reste à inventer le moyen d’en donner, non l’illusion, mais l’annonce, le souvenir ou l’évocation. Richter a choisi une pose particu­ lièrement suggestive, donnant à voir une personne concentrée sur sa des­ cente des marches, attentive à ne pas tomber, droite, juste avant qu’un pied quitte une marche pour une autre, les bras élégamment ballants : la photo­ graphie n’aurait pas fait mieux, mais pas autrement20. Ce qu’il ajoute est sub­ til, sans rapport direct avec le mouvement, et cependant décisif : les raies ho­ rizontales qui marquent le nez des marches se prolongent un peu trop, et du côté de la paroi lisse, et de l’autre côté, sur le corps de la femme, qu’elles enva­ hissent légèrement, comme des fantômes pâles. Le corps ne tremble pas, c’est toute la figuration qui s’en charge, et avec elle, doucement, le temps. L’image, vraiment, a voulu se dire arrêtée : ce n’est pas un film, pas même une allusion à un film ; c’est l’importation, en profondeur, de l’idée d’arrêt sur image, avec de tout autres moyens. Lignes horizontales ici ; ailleurs, petits graphismes indiquant le mouve­ ment : c’est dans la marge, dans un état élémentaire, presque minimal de la peinture que l’on décèle, finalement, quelque chose de cinématographique, une « écriture de mouvement », mais figée. Autre chose que l’arrêt sur l’image, mais qui répond à la même finalité : suggérer cet impossible, le temps enfin maîtrisé. Du cinéma ? Pas vraiment, juste son idée.

20 

D’ailleurs, comme nombre de toiles de l’époque, celle-ci est-elle peinte d’après photographie.

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Illustrations 196

Photogramme de Passion (Jean-Luc Godard, 1982)

François Boisrond, La Petite Baigneuse II, 2011 (huile sur toile, 138 x 135 cm)

Dos:32:28:13, 2010 (huile sur toile, 65 x 50 cm)

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Photogramme de Quo Vadis ? (Guazzoni, 1912)

Pollice verso (Jean-Léon Gérôme, 1872, huile sur toile, 96,5 x 149,2 cm)

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Im-Mobile Kadragen zwischen Lebenswelt und Kunst Oder: zwei kinematografische Figuren von Chantal Akerman

Ein Bild in einer Ausstellung – vermeintlich ein Gemälde. Eine Frau in halb­ naher Einstellung sitzt aufrecht und frontal zu uns Betrachtern und Betrach­ terinnen an einem Tisch in einem dunklen Innenraum, ihr Blick ist tief ge­ senkt und ihre Hände unbeschäftigt. Die Frau trägt eine weiße Bluse. Ihr heller Oberkörper spiegelt sich auf der Tischoberfläche, wie auch die große, weiße Suppenschüssel, die auf einem in Weiß gehäkelten Untersetzer steht und wie ein Bild im Bild, ein Stillleben in einem Genrebild erscheint. Solche Stillleben bilden auch die arrangierten Gläser, der weiße Hund aus Porzellan und das goldene Geschirr in dem in Fächer unterteilten Glasschrank im Hin­ tergrund. Daneben Bilder an der Wand und eine mit mattem Glas besetzte Tür, die jeden Blick in die Tiefe abfängt. Die präzise Darstellung der Dinge und die explizite Ausstellung ihrer Materialität und Oberflächenbeschaffenheit er­ innert an die holländische Feinmalerei des 17. Jahrhunderts, in welcher Früch­ te, Fleisch, Gemüse, Haushaltsutensilien und deren kunstvolle Arrangements durch Dienstmädchen und Künstler, wie auch profane Szenen aus dem Alltag von Frauen und von Kindern erstmals für bildwürdig erklärt wurden. Doch auf Brusthöhe der Frauengestalt macht sich ein roter Fleck bemerkbar: Rot auf Weiß, und rote Farbe rinnt von ihrer rechten Hand. Dem Zustand ging offenbar ein Ereignis voraus, dem Stillleben eine Tat. Dieses ausgestellte Bild ist kein Gemälde, es ist ein Film, ein Ausschnitt aus dem zeitlichen Kontinuum des kinematografischen Arrangements mit

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Standbild aus der (letzten) Einstellung von Jeanne Dielmann, A Woman Sitting after Killing

allen daran Beteiligten. Bewegte Lichter der gegenüberliegenden Straße re­ flektieren auf den sichtbaren Oberflächen, auch Straßenlärm ist hörbar. Nun sitzt die Frau nicht so, wie sie in einem Gemälde sitzen würde, vielmehr sitzt sie stumm und reglos da und dieser in der Zeit andauernden Stille will Bedeu­ tung zugemessen werden. Ein Heben und Senken des Brustkorbes hinter der weiß glänzenden Bluse, minimale Bewegungen der vom Blut verfärbten Hän­ de und ein gelegentliches Wogen des müden, sich gegen die Schwerkraft stem­ menden Kopfes wirken dem Stillstand entgegen. Leben wird auf den kleinsten Nenner gebracht zugunsten der Erlebbarkeit der am Körper verstreichenden Zeit. Diese leichten Abweichungen vom Stillstand – Nuancen, kleinste Verän­ derungen, Details – erscheinen groß, hyperrealistisch und wie unter der (Zeit-) Lupe. Jede Regung wird sowohl vom dargestellten Subjekt wie auch von uns Betrachtern und Betrachterinnen registriert. Im Gegensatz zum schlafenden John ­Giorno in Andy Warhols fünfstündigem Film Sleep (1963) ist die hier porträtierte Frau deutlich wach. Ihr Fokus richtet sich nach Innen wie nach Aussen, sie ist ganz bei Sinnen, wie eine Kamera mit eingebautem Mikrofon. Was sich im Zusammenspiel der sitzenden Figur, der extremen Dauer die­ ser Einstellung und der konzentrierten Fokussierung durch die Kamera ein­ stellt, ist der Effekt von Präsenz: »Vergangenheit und Zukunft verzahnen sich in der sinnlichen Gegenwart des Bildes.«1 Insbesondere die von jedem Gegen­ 1 

Margrit Tröhler: »Elixier und Relais des Geistes der Moderne. Zu einigen Topoi im französischen Diskurs zum Kino«. In: Dies. / Jörg Schweinitz (Hg.): Die Zeit des Bildes ist

Im-Mobile Kadragen zwischen Lebenswelt und Kunst

stand losgelöste, aktuelle und in der Zeit der Rezeption gegenwärtige Eigenbe­ wegung des Films trägt zum verstärkten Eindruck (s)einer sinnlichen Gegen­ wart bei.2 Die sinnliche Präsenz erfolgt auf Kosten des Narrativs. Je länger der Blick anhält, je länger das Bild standhält, desto expliziter wird, dass hier keine weiteren Informationen folgen, keine Erklärung, nichts weiter preisgegeben wird. Die roten Flecken bleiben stumm, Anzeichen einer Geschichte, die hier nicht ausformuliert wird.3 Der ›erbarmungslose Blick‹ des Kinos, über den in seiner Frühzeit so viel geschrieben wurde, wird hier gleichsam inszeniert: »Es [das Kino] zeigt, betont, bestätigt, beisst sich hartnäckig und grausam fest.«4 Insistiert wird auf der materiellen Oberfläche, einer durch die Zeit hindurch inständigen Sichtbarkeit. Herausgestellt wird eine semantische ›Stummheit‹. Zudem macht dieses Stillleben, gerade durch seine ›Stille‹, durch seine Unbe­ redtsamkeit auf den Ton und die Geräusche aufmerksam. Das bewegte Bild, das uns hier vorliegt, markiert eine Trennung zwischen Innenraum und Außenraum. Und diese Trennung fällt in eins mit dem, was auf dem Bild beziehungsweise onscreen und dem, was offscreen beziehungs­ weise außerhalb des Bildes geschieht. Durch die in der Dauer fixierte Kadrage und durch die Tapete, die die Opazität der Wände visuell verstärkt, wird die bürgerliche Stube als streng begrenzter und nach außen hin abgeschlossener Innenraum präsentiert. Im Gegensatz zu einer gemalten Version jedoch, deren Rahmung von jener dieser filmischen Version um keine Spur abweicht, wird die gefilmte Szenerie in Bezug auf ein Draußen auf zweierlei Weisen durch­ lässig: Die Geräusche der Straße dringen in die Stille des Stilllebens ein und die bewegten Lichter der Stadt machen die Dinge in der selbst unbeleuchte­ ten Stube erst sichtbar. Dadurch dringt hier der städtische Außenraum in den privaten Innenraum ein, er macht sich offensiv bemerkbar – es droht oder lockt das Draußen, das Leben in seiner ganzen Potenzialität übt gewisserma­ ßen Druck aus auf die Wände und damit auf die Ränder des filmischen Bildes.

angebrochen. Französische Intelllektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino. Eine historische Anthologie 1906–1929. Berlin: Alexander, 2016, S. 559–619, hier 567. 2  Vgl. Christian Metz: »Zum Realitätseindruck des Kinos«. In: Ders.: Semiologie des Films. München: Fink, 1972, S. 20–35. 3  Zu den semantisch nicht entschlüsselbaren Flecken in Vermeers Malerei vgl.: Georges Didi-Huberman: »The Art of Not Describing. Vermeer – the detail and the patch«. In: History of the Human Science 2.2. (1989), S. 135–169. 4  Georgette Leblanc (1919): »Gedanken zum Kino«. In: Tröhler u. a. (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen, S. 188–206, hier: S. 199.

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Bezeichnenderweise etabliert André Bazin seine in der Filmphilosophie über­ aus nachhaltige Unterscheidung zweier Konzeptionen der Kadrierung – cadre und cache – in einem ersten Text, den er dem Verhältnis von Malerei und Film widmet.5 Der traditionelle Rahmen der Malerei (cadre) dient Bazin zu­ folge einer absoluten Trennung zwischen dem lebensweltlichen Raum und dem Raum der Darstellung, des Dargestellten oder aber eines »kontemplati­ ven Raums«, der sich auf das Innere des Bildes hin öffnet. Im Gegensatz dazu konzipiert er die Bildbegrenzung im Kino nicht als raumeinschliessenden oder isolierenden und die Umgebung neutralisierenden Rahmen, sondern als eine bewegliche Maske (cache), die nur einen Teil der Realität freilegen kann. Hin­ ter dieser Abdeckung dehnt und verlängert sich der dargestellte Raum virtu­ ell ins unendlich Offene hinein. Was das Bildfeld des Kinos zeigt, wird nur zeitweilig freigelegt, das Verhältnis von On- und Offscreen ist potenziell va­ riabel. Mit den Begriffen zentripetal und zentrifugal unterscheidet Bazin diese beiden im Bildfeld aktiven Kräfte, wobei im einen Fall der Raum der Darstel­ lung nach Innen, zur Mitte hin, polarisiert und im anderen Fall, im Sinne der Fliehkraft, nach aussen strebt: »Alles, was die [filmische] Leinwand uns zeigt, ist darauf angelegt, sich unbegrenzt ins Universum fortzusetzen.«6 Anhand von Alain Resnais’ Film Van Gogh, in welchem mittels abgefilm­ ten Gemälden aus dem Leben und Wirken des Malers erzählt wird und an­ hand von Henri Clouzots Le Mystère Picasso, in dem Pablo Picasso im Wett­ streit mit der Filmkamera und deren scheinbar unbestechlichem Blick seine Bilder malt, zeigt André Bazin auf, welche »zwei Revolutionen« der Film für die Malerei gebracht hat. Auch wenn sich Bazins Texte auf Filme beziehen, die aus abgefilmten Gemälden bestehen beziehungsweise explizit mit Malerei ver­ fahren, können seine Thesen grundsätzlicher verstanden werden: als Antwort auf die Frage, wie die Existenz und Möglichkeiten des filmischen Mediums die produktions- und rezeptionsästhetischen Voraussetzungen der Malerei ver­ ändert haben. Die Bestimmung der ersten Revolution unternimmt Bazin auf der Grundlage eines Experiments, bei dem eine Kinoleinwand in einen Bil­ derrahmen eingefügt wird. Die Erkenntnis sei, dass der im Bild dargestellte Raum »seine Orientierung und seine Begrenzung [...] verlieren und sich un­ serer Vorstellung als unbegrenzt aufdrängen« würde. Die erste Neuerung, die

5 

André Bazin: »Malerei und Film«. In: Ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander, 2004, S. 224–230. 6  Ebd., S. 225.

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der Film für die Malerei gebracht habe, bestehe in der »Abschaffung des Rah­ mens«, dessen Verschwinden »das Universum des Bildes mit dem Universum überhaupt eins werden lässt.«7 Mit anderen Worten: Das Gemälde wird zu ei­ nem Ausschnitt aus einem umfassenden, größeren Gemälde, dem potenziel­ len Schauspiel, das die Welt für den Maler darstellt. Die zweite Revolution be­ stand Bazin zufolge in der Vermittlung der Erkenntnis, dass ein Gemälde nicht in erster Linie das Produkt der Dauer seiner Schöpfung ist, sondern: »dass die­ se Dauer ein integraler Bestandteil des Werks selbst sein kann.«8 Die Einsicht, die uns Clouzot in seinem Film visuell vermittelt, sei, dass die Malerei im Sin­ ne des Malens auch als Bild in der Zeit existiert, »das seine Dauer, sein Leben und manchmal – wie am Ende des Films – seinen Tod hat.« In dieser Kon­ zeption sind Zwischenstadien nicht untergeordnet, sie sind keine Phasen auf dem Weg zum fertigen Werk, sondern selbst bereits Werk, »dazu bestimmt, sich bis zu dem Augenblick zu verwandeln, wo der Maler beschliesst innezu­ halten.«9 Die erste Neuerung bezieht sich, Bazin zufolge, auf den Raum, die zweite auf die Zeit, wobei letztlich beide Neuerungen an ein und derselben, den Geist der Moderne bestimmenden Konfiguration teilhaben. Diese moderne Konfiguration beruht auf dem sich bis in die heutige Ge­ genwart zuspitzenden spannungsvollen Verhältnis zwischen zwei Faktoren: Die durch die Industrialisierung (und später Digitalisierung) mobilisierte Vor­ stellung der Gleichzeitigkeit der Dinge sowie einer sich in ständiger Ausdeh­ nung und in ständigem Wandel begriffenen großen, weiten Welt und der vor diesem Hintergrund umso drastischer erscheinenden Faktizität der raum-zeit­ lichen Gebundenheit und Ausschnitthaftigkeit der eigenen – natürlichen oder auch medialisiert vermittelten – Wahrnehmung. Das Wissen um die Uner­ messlichkeit und Vielfältigkeit der physischen Welt basiert auf der für die Mo­ derne charakteristischen allgemeinen Beschleunigung, beispielsweise durch Transportmittel wie Eisenbahn und Flugzeug, und der damit verbundenen Erreichbarkeit bislang unbekannter Orte. Es basiert auch auf neuen optischen Instrumenten und den Möglichkeiten der technischen Reproduktion sowie der damit verbundenen kommunikativen Ausbreitung und Verfügbarkeit von fotografischen und filmischen Einsichten in Mikro- und Makrokosmisches oder in bislang unbekannte Bereiche und Gegenden der Welt. 7  André Bazin: »Ein Bergsonianischer Film. Le Mystère Picasso«. In: Ders.: Was ist Film?, S. 231–241, hier: S. 232. 8 Ebd. 9  Ebd., S. 234

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Theorie und Praxis des frühen Films haben den Anteil des Kinos an der Mobilisierung dieser Vorstellungen auf intensive Weise reflektiert. Die von Tom Gunning in Bezug auf die frühe Spielfilmproduktion formulierte Tatsa­ che, dass das Kino in seinen Anfängen nicht durch einen narrativen Impuls bestimmt war, sondern dass die Lust am Zeigen und der Sichtbarmachung der physischen Wirklichkeit im Vordergrund stand, wird durch die Texte zum frühen Kino, die in einer kürzlich von Margrit Tröhler und Jörg Schweinitz herausgegebenen historischen Anthologie erschienen sind, fulminant bestä­ tigt.10 Nicht das Interesse an Kausallogiken und dem damit verbundenen Akt des Erzählens und Erklärens kommt in diesen Texten zum Ausdruck, sondern das Sehen, Zeigen und Sichtbarmachen dessen, was sich im Mikrokosmos ab­ spielt oder sich weit entfernt in Zeit und Raum zuträgt. Im Widerspruch zwi­ schen der Feier der Kamera als Instrument der Erkenntnis und der wieder­ holten Hervorhebung ihrer Rolle bei der Aufdeckung einer »Sinnlosigkeit der Wirklichkeit« (»wir begreifen, dass die Wirklichkeit ohne Sinn ist. Dass alles Rhythmus, Wort, Leben ist«)11 zeigt sich in diesen frühen Texten das kom­ plexe Verhältnis, das das Sehen zum Wissen oder aber das sinnlich Erfahrba­ re zum intellektuell Begreifbaren unterhält. Auch dem Kunsthistoriker Élie Faure (1873–1937) zufolge besteht das re­ volutionäre Potenzial des Kinos in seiner epistemischen Funktion – in seiner Fähigkeit, den menschlichen Horizont sowohl in Hinblick auf den mikro- wie auch den makroskopischen Bereich zu erweitern.12 Mit seiner Fähigkeit, die Welt aus verschiedensten Blickwinkeln zu kadrieren und die Ansichten im schnellen Wechsel zur Wahrnehmung zu bringen, macht der Kinematograph ungewohnte An- und Einblicke möglich und Zusammenhänge sichtbar. Es ist »das molekulare Universum« in seiner Totalität und seinen bislang unge­ ahnten Tiefendimensionen, seinen Rhythmen und Ausformungen, auf die das Kino mit seinem Objektiv und dessen verstellbaren Brennweiten, sowie seinem Aufzeichnungsmechanismus und dessen manipulatorischen Vorrich­ tungen wie Zeitraffer und Zeitlupe zielt. Dem Kino offenbaren sich »tausend und abertausend gestern noch unvermutete Nuancen und physiognomische

10 

Tom Gunning: »Das Kino der Attraktionen«. In: Meteor 4 (1996), S. 25–34; Tröhler u. a. (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen. 11  Blaise Cendrars: »Eine neue Kunst. Das Kino«. In: Tröhler u. a. (Hg.): Die Zeit des ­Bildes ist angebrochen, S. 186–187, hier: S. 186. 12  Vgl. mein Aufsatz: »Élie Faures Cineplastik oder vom Kino und Bilden der Künste«. In: Regards Croisés 5 (2016), S. 50–61.

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Reflexe, tausend und abertausend Zehntel-Werte, um die die Beleuchtungen zunehmen und so, indem sie sie umspielen, die Beweglichkeit der Form mei­ ßeln« und »tausend und abertausend Lichter, die aufleuchten, erlöschen, sich unaufhörlich verändern.«13 Dabei ist entscheidend − und hierin wurzelt nach Faure die philosophi­ sche Tragweite des neuen Mediums −, dass sich dem Kino durch seine eigene materielle Bewegtheit die Welt als eine durch und durch bewegte zeigt. Da­ mit macht es in aller sinnlichen Konkretheit sichtbar, was Naturwissenschaft und Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts verkündet haben: Dass die Welt eine im Entstehen begriffene ist − ein stetiges und komplexes Wer­ den, eine unermüdliche Ausdehnung der Materie. Die revolutionäre Kraft des Kinos läge in der Überwindung der statischen Vorstellungen und der Offen­ barung dieses dynamisierten Raumbegriffs: »Das Kino verleibt dem Raum die Zeit ein. Mehr noch: Die Zeit wird durch den Film zu einer wirklichen Di­ mension des Raumes«, schreibt Faure im Jahre 1920 – zwei Jahre vor dem le­ gendären Auftritt von Albert Einstein an der Pariser ›Société de Philosophie‹, in dessen Anschluss Henri Bergson zu Wort gebeten wurde.14 Weil das Kino im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Theorie durch seinen direkten Ap­ pell an die Sinne und Emotionen nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die breite Gesellschaft erreicht, ist es Élie Faure zufolge in der Lage, ein all­ gemeines Umdenken anzustoßen. Der mechanische Automatismus des Ki­ nos als Vermittler zwischen physischem Universum und Geist hebelt gleich­ sam den durch Gewohnheiten eingeschlichenen Automatismus des Denkens aus, beziehungsweise wirft das traditionelle Denken in vorgefassten Konzep­ ten und Ideen über Bord. Stattdessen setzt es auf ein Erkennen der sichtba­ ren oder dem bloßen Auge unsichtbaren Bewegungen des Lebens und auf die Einsicht in die Veränderlichkeit, sowohl der Dinge wie auch von uns selbst. Das Kino versetzt erstarrte Vorstellungen in Bewegung: »Die Zeit wird uns

13 

Élie Faure: »Mystik des Films«. In: Filmkritik 5 (1969), S. 329–337, hier: S. 332, 334; Ders.: »Le cinéma, langue universelle«. In: Élie Faure: Cinéma. Houilles: Manucius 2010, S. 101–111, hier: S. 105. [Übersetzung E. K.] 14  Ders.: »Von der Cinéplastique«. In: Tröhler u. a. (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen, S. 247–268, hier: 265; Élie Faure war unter anderem Schüler von Henri Bergson; Bergson über Einstein vgl.: Henri Bergson: Dauer und Gleichzeitigkeit. Über Einsteins Rela­ tivitätstheorie. Hamburg: Philo Fine Arts, 2015; von der »Dynamisierung des Raumes« und der »Verräumlichung der Zeit« oder auch vom »Gesetz des zeitbelasteten Raumes und der raumgebundenen Zeit« spricht auch Erwin Panofsky in seinem 1966 überarbeite­ ten Aufsatz »Style and Medium in the Motion Picture« von 1934.

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zur Notwendigkeit. Sie ist immer mehr Teil der von Tag zu Tag dynamische­ ren Vorstellung, die wir uns vom Gegenstand machen.«15 Das selbst bewegte oder aber in der Dauer insistierende Kamera-Auge liefert sozusagen eine ma­ terielle Manifestation, einen sinnlichen Ausdruck oder aber die sinnliche Er­ fahrung der philosophischen Erkenntnis, dass der Raum und seine Objekte / Subjekte nicht mehr unabhängig von der Zeit zu denken sind. Gewisserma­ ßen mit gebündeltem Licht wirft das Kino diese Einsicht auf die Leinwand – »Imperativ Präsens des Verbs verstehen«16 – und stellt als dominantes neu­ es Medium das zeitgenössische Leben und Denken und damit auch die ge­ samte künstlerische Produktion und Rezeption vor neue Voraussetzungen. Als Zeitgenosse des Kinematographen denkt und schreibt auch der Kunst­ historiker Faure indes immer schon unter den Voraussetzungen des Films – zum Beispiel über die Malerei, die ihm zufolge als »die individualistischste al­ ler Künste«17 mit ihren starren Formen das Ausdrucksmittel eines durch das Kino überholten Zeitalters darstellt. Wenn Jean-Luc Godard zu Beginn von Pierrot le Fou (1965) den in der Badewanne liegenden Jean-Paul Belmondo seiner Film-Tochter aus der 1964 erschienenen Taschenbuchausgabe von Élie Faures Histoire de l’Art vorlesen lässt, so mag den Filmemacher vielleicht eben diese Prozessualisierung der Malerei durch Faures Sprache (und die Lautma­ lerei durch Belmondos Stimme) interessiert haben, wie auch die Schilderung ihres in Auflösung oder im Umbruch befindlichen Zustandes: Nach fünfzig Jahren malte Velázquez nie mehr einen klar konturierten Gegenstand. Er streifte mit Luft und Dämmerung um die Gegenstände herum, er ertappte im Schatten und in der Durchsichtigkeit des Grun­ des ein farbiges Flattern, das er zum unsichtbaren Zentrum seiner stil­ len Symphonie machte. Er erfasste in der Welt nur noch rätselhafte Ver­ tauschungen, die Formen und Töne in einem stillen und kontinuierlichen Fortschreiten einander durchdringen ließen [...].18

Gemäß ihrer philosophischen Funktion einer Dynamisierung des Raums und dessen begrifflicher Konzeption ist die Cineplastik – so lautet Faures program­

15 

Faure: »Von der Cinéplastique«, S. 265. Jean Epstein: »Bonjour Cinéma. Eine Sammlung von Traktaten« [1921]. In: Tröhler u. a. (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen, S. 272–342, hier: S. 333. 17  Faure: »Mystik des Films«, S. 331. 18  Zitiert nach Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Bielefeld: transcript, 2006, S. 97. (Urspr. aus Faure: Histoire de l’Art, L’Art Modern, 1919–1921). 16 

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matische Bezeichnung für das Kino als aktiv bildende, aus- und umbildende Kraft (und Kunst) – die Vermittlerin zwischen jenen Künsten, die Flächen und Raum einnehmen und jenen, die sich in der Zeit abspielen. Die Polarität zwi­ schen zeit- und raumgebundenen Künsten ist unter den fluiden Bedingun­ gen der Moderne nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zu R ­ icciotto ­Canudo, der bereits 1911 vom Kino als einer »bildenden Kunst in Bewegung [art plastique en mouvement]« spricht und es mit Bezugnahme auf die gän­ gige Polarisierung von Raum- und Zeitkünsten als »wunderbare Vereinigung der Rhythmen des Raums (bildende Künste) und den Rhythmen der Zeit (Mu­ sik und Poesie)«19 bezeichnet, versteht Faure das Kino nicht als »dialektische Synthese« aller Künste, sondern als differenzielles System, das sich aus dem organisierten Zusammenwirken zwischen den Künsten, also als »Effekt von Intermedialität« ergibt.20 Eine weitere retrospektive Dynamisierung der Malerei unternimmt Élie Faure in seinem Text La Préscience de Tintoret von 1922, in dem er eine ausla­ dende Ekphrasis von Tintorettos Paradies (1579) im Dogenpalast in Venedig mit der These verbindet, dass diese Malerei mittels Linien, Farbnuancen und Kontrasten, Formen und Figur-Grund-Konstellationen eine Mobilisierung des an sich statischen Materials bewirke. Aufgrund dieser Eigenschaft stelle Tinto­ rettos Malerei eine Antizipation oder Vorahnung des Kinos dar. Im malerischen Tourbillon von Tintorettos Paradies seien kaum mehr Gesichter und Personen zu erkennen: »Man sieht nichts als eine weiträumige Gesamtheit [...].«21 Die Konturen seien in Auflösung begriffen, die Körper hätten keine klaren Gren­ zen mehr, weil sie mit den anderen Körpern verschmelzen oder diffundieren und sich in Farben und offene Formen verwandeln. Von kolorierten Volumen, Schaum und Wolken, Schwaden, Wogen ist die Rede. Anhand von Tintorettos 19 

Ricciotto Canudo: »Die Geburt einer sechsten Kunst« (1911). In: Tröhler u. a. (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen, S. 71–86, hier: S. 72. 20  Ebd.; Als einen »Effekt von Intermedialität« hat Volker Pantenburg Godards ­Konzeption des Kinos beschrieben. In Bezug auf die Anfangspassage aus Pierrot le Fou schreibt er − mit Rückgriff auf Gilles Deleuze: »Eine Bedeutungszuweisung kann hier nur im Hin und Her zwischen Bild und Text erfolgen, im Dazwischen, als Effekt von Interme­ dialität [...].« Reda Bensmaïda wiederum führt den für Deleuzes Theorie des Zeit-Bildes zentralen Gedanken der Intermedialität (Disjunktion zwischen Ton und Bild) auf die In­ tuitionen von Élie Faure zurück. Vgl. Reda Bensmaïda: »Cineplastique(s): Gilles D ­ eleuze Lecteur d’Élie Faure«. In: Pierre Taminiaux / Claude Murcia (Hg.): Cinéma/Art(s) plastique(s). Paris: Cerisy/L’Harmattan, 2004, S. 13–29. 21  Elie Faure: »La Préscience de Tintoret« (1922). In: Ders.: Cinema, S. 51–53, hier: S. 51. [Übersetzung E. K.]

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Gemälde zelebriert Faure eine Art rauschhaften Übergang der Figuren in die anonymisierte Masse des ›Dionysischen‹. Zwar gibt es noch ein vereinzeltes Aufbäumen der Individuen, doch nur, um gleich wieder abzusinken, ins Plas­ ma sozusagen, das heißt in diese rohe und alles verbindende Materie, die in Élie Faures Schriften immer wieder − als ein Pol des unablässigen Werdens − eine zentrale Rolle spielt: als (formloser) Stoff, aus dem die beziehungsweise eine (geordnete) Welt aufsteigt.22 Eine völlig anders geartete »Vorahnung des Kinos« erkennt Jacques Au­ mont im Anschluss an Peter Galassi in der Naturskizze zwischen 1780 und 1820 – exemplarisch in zwei Ansichten des Monte Cavo von Pierre-Henri de Valenciennes.23 Die Revolution dieser Malerei bestand darin, dass nicht mehr die Exaktheit der Skizze zählte, sondern der Eindruck der Lebendigkeit und Flüchtigkeit eines erhaschten Augenblicks und räumlichen Ausschnitts aus ei­ ner sich ständig wandelnden Szenerie. In dieser Entwicklung wird der Schlüs­ sel für das Entstehen einer »fotografischen Ideologie der Repräsentation«24 gesehen, die auf der »aktiven Beweglichkeit der visuellen Pyramide« grün­ det, auf einer Konzeption der Welt als »ununterbrochenes Feld potentieller Gemälde«, das von einem selbst bewegten Blick gestreift und gerahmt wird. Die Malerei, die Fotografie und der Film folgen nicht teleologisch aufeinan­ der, vielmehr sind sie unterschiedlich materialisierte Manifestationen des ge­ meinsamen, sich in der Moderne zuspitzenden »Problems [...] der raum-zeit­ lichen Variabilität des Blicks auf das, was unserer Sicht zugänglich ist.«25 Sie sind Manifestationen der unhintergehbaren Relativität von Standpunkten und Per­spektiven.26 Visualisiert für Élie Faure die Cineplastik beziehungsweise Tintorettos Pa­ radies das »molekulare Universum« in seiner expansiven Totalität oder aber »das Ganze« im Sinne von Bergsons »Offenem«, so fokussiert Aumont mit den Konzepten des »variablen« und »gefrässigen Auges«27 die Tatsache, dass

22 

Vgl. ebd.; über den französischen Begriff des »Plastischen« in »Art Plastique [Bilden­ de Kunst]« vgl. Philippe Dubois: »La Question Du Figural«. In: Pierre Taminiaux / Claude Murcia (Hg.): Cinéma/Art(s) plastique(s). Paris: Cerisy/L’Harmattan, 2004, S. 13–29. 23  Vgl. Jacques Aumont: »Projektor und Pinsel. Zum Verhältnis von Malerei und Film«. In: Montage a/v 1/1 (1992), S. 77–89; Peter Galassi: Before Photography. New York: Museum of Modern Art, 1981. 24  Galassi zitiert nach Aumont: »Projektor und Pinsel«, S. 80. 25  Aumont: »Projektor und Pinsel«, S. 87. 26  Ebd., S. 80. 27  Ebd., S. 81.

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ein Blick aufgrund seiner physischen Gebundenheit nicht gleichzeitig überall sein kann, vielmehr in raumzeitlichen Ausschnitten wahrnehmen und fest­ halten muss. Diese Begrenztheit ist die Bedingung beziehungsweise der An­ lass seiner Mobilisierung und ruhelosen Beweglichkeit, die sich sowohl in ei­ ner suggerierten oder realen Eigenbewegung des Blicks zeigt wie auch in der Variabilität der Einstellungsgrößen, das heißt der Distanznahme des blicken­ den Auges zum dargestellten Gegenstand. Die Bewegung des Rahmens und Neurahmens des potenziell unendlichen visuellen Feldes bringt nicht nur im­ mer neue Bilder, sondern auch Lücken zwischen den Bildern mit sich – zeit­ liche und räumliche Lücken, in welche all dasjenige fällt, was an Sichtbarem nicht gerahmt, nicht eingefangen wird. Manifest wird die »Eklipse«28 bezie­ hungsweise der »visuelle Sprung« oder das »Intervall« als Notwendigkeit des variablen Auges im Bereich der Naturskizze durch die serielle Aufzeichnung ein und desselben Motivs, später im Kubismus und in der Montage im Sinne einer Choreografie von verschiedenen Augen-Blicken.29 Vor dem Hintergrund der modernen Mobilisierung der Blicke erscheint die Tatsache als Paradox, dass mit der Institutionalisierung des Kinos und der Normierung des kinematografischen Dispositivs der Zuschauerblick völ­ lig stillgestellt, für die Dauer des Films zur Unbeweglichkeit verurteilt wur­ de. Das Kino selbst steckt einen festen Rahmen ab – es funktioniert im Sin­ ne eines cadres und nicht im Sinne eines caches. Im Gegensatz zum variablen Auge der Kamera, auf dem die filmische Produktion basiert, beruht die Pro­ jektion im Kinosaal und damit die filmische Rezeption zum einen auf einer berechneten und ein für allemal festgelegten Distanz zur Leinwand, zum an­ derem auf einem der Länge des jeweiligen Filmstreifens entsprechenden, un­ unterbrochenen Andauern der Projektion. Der Grund für die disziplinarische Massnahme (der Immobilisierung des Zuschauers) liegt auf der Hand: Mit dem Kinoticket erwerben sich die Kinogänger und Kinogängerinnen die Ga­ rantie ihrer idealen Positionierung, die Garantie auf eine ungebrochene und ununterbrochene »Vorzugsperspektive«30 auf die für sie arrangierten Bild-, Ton- und Bewegungsfolgen. Im vielfachen Gegensatz zur Aufführung des Films im Kinosaal steht seine Ausstellung in dem einst den traditionellen bildenden Künsten, den Raum-

28 

Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 85–86. 30  Ebd. S. 82. 29 

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künsten vorbehaltenen Ausstellungsraum. Das im traditionellen Kinosaal »blo­ ckierte Sehen«31 wird durch die Bewegungsfreiheit der Besucher und Besu­ cherinnen entbunden und der Blick wieder mobilisiert – ähnlich wie zu den Zeiten, als das Kino noch nicht im Kino, sondern in den Schaubuden auf dem Jahrmarkt anzutreffen und das Schlendern von einem Film zum andern eine gängige Praxis war. Die Crux mit dem bewegten Bild im Ausstellungsraum liegt in der verdoppelten Bewegtheit. Sie verursacht die Kollision von zwei verkörperten Eigenzeiten: jener des Besuchers, der Besucherin und jener des ausgestellten Werks. Wo ein Gemälde alle Elemente, aus denen es besteht, gleichzeitig darbietet, entfaltet der Film seine Elemente erst mit und in der Zeit – und während der Film noch läuft, hat ihn der Besucher bereits für ei­ nen anderen Film verlassen. Die Rezeption erfolgt unter diesen Bedingun­ gen im Sinne von Bazins cache. Der dynamisierte Raumbegriff, der für Élie ­Faure und andere Pioniere der Filmtheorie die geistesgeschichtliche Errun­ genschaft des frühen Kinos war – das heißt die gefühlte Einsicht, dass »die Zeit [...] durch den Film zu einer wirklichen Dimension des Raumes«32 gewor­ den ist -, realisieren wir 100 Jahre später noch einmal neu in den vom Film bespielten Räumen der Kunst, auf Biennalen und großen Messen beispiels­ weise, wo zeitgleich verschiedenste Bewegtbilder leuchten und funkeln und um eine für eine bestimmte Dauer anhaltende, ungeteilte Aufmerksamkeit buhlen. Unter diesen Umständen, wird das variable Auge der unter generel­ lem Zeitdruck leidenden Besucher und Besucherinnen – gefräßig, gierig, un­ geduldig – auf eine harte Probe gestellt. Die zunehmende Integration des Films in die Räume und Sammlungen der zeitgenössischen Kunst hat um die Jahrtausendwende einen Höhepunkt erreicht. Der Zusammenhang zwischen der digitalen Revolution und einem partiellen Exodus des Films aus dem traditionellen Lichtspielhaus hinaus ist unbestritten. Symptomatisch dafür sind die in Kunst-Ausstellungen sichtba­ ren Filmprojektoren, die im Zuge der digitalen Umrüstung der Kinos in ih­ rem ursprünglichen Gebrauchszusammenhang obsolet geworden sind. Einst hinter opaken und schalldichten Wänden versteckt, werden sie in den kine­ matografischen Installationen im Museum als Objekte und Bestandteile der Kunstwerke sichtbar ausgestellt und auf diese Weise expliziert als die eigent­ 31 

Raymond Bellour (Bonitzer, Daney, Godard): »Kunst und Kino. Komparatistisch«. Christa Blümlinger im Gespräch mit Raymond Bellour und Gertrud Koch. In: Texte zur Kunst 11/43 (2001), S. 90. 32  Faure: »Von der Cinéplastique«, S. 265.

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lichen Generatoren des analogen filmischen Bildes. Logiken und Mechanis­ men des Kinos werden nicht nur durch die Musealisierung seiner Appara­ te und dem damit verbundenen Topos der Projektion thematisiert, sondern auch durch diverse künstlerische Praxen, welche beispielsweise narrative und ästhetische Verfahrensweisen und Wahrnehmungsformen des Kinos unter­ suchen, nach eigenen Möglichkeiten nachahmen oder aber dekonstruieren. Aspekte der klassischen Filmanalyse wie Mise en Scène, Kadrage, oder Schnitt und Montage werden in künstlerischen Arbeiten in ihrer Wirksamkeit unter­ sucht, Attraktion und Narration, sowie Illusionismus und Spektakel, Dokumen­ tarismus, Mythen und Utopien, die in der Frühzeit des Kinos mit dem damals neuen Medium in Verbindung gebracht wurden. Dominique Paini zufolge hat die zunächst magnetische, dann digitale Reproduktion zu einer neuen Mani­ pulierbarkeit des Films geführt und dem Kino »sein historisches und ästheti­ sches Forschungswerkzeug« verschafft, ganz so, wie es die fotografische Re­ produktion Anfang des 20. Jahrhunderts für die bildende Kunst leistete.33 Die Konjunktur des Foundfootage-Films in den 1990er Jahren bestätigt diese The­ se ebensosehr wie die Tatsache, dass sich Reflexion und Selbstreflexion des Kinos zunehmend auch in den Räumen der bildenden Kunst und der diesen Räumen zugeordneten akademischen Disziplinen abspielen. Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen sehen sich endlich in der Pflicht, sich mit dem Erbe des Kinos und dessen Einfluss auf die bildende Kunst auseinanderzusetzen. Das eingangs beschriebene Bewegtbild ist ein Fragment beziehungsweise ein Bauteil aus zwei verschiedenen Arbeiten der Filmkünstlerin Chantal Aker­ man (1950–2015). In einer Arbeit ist das Filmstück als Teil einer räumlichen Anordnung aufzufinden – als Teil einer Installation, die 2001 für die 49. Bien­ nale von Venedig hergestellt wurde. In siebenfacher digitaler Kopie wird die eingangs beschriebene Einstellung auf sieben Videomonitoren im Loop ge­ zeigt. Quaderförmige Holzkisten dienen als Sockel und heben je einen Moni­ tor auf die Augenhöhe der Ausstellungsbesucher und Besucherinnen. Auf die­ se Weise kommt es zur frontalen Begegnung mit der Szene beziehungsweise mit jener Frau, die im Wohnzimmer sitzt und ›lange weilt‹. A Woman Sitting After Killing lautet der Titel dieser Arbeit. Auf dem Gesicht der Frau und den Binnenkadrierungen der Wand hinter ihr spiegelt sich das flackernde Licht

33 

Dominique Paini: »Film als Bildende Kunst«. In: Winfried Pauleit u. a. /Hg.): Film­ erfahrung und Zuschauer. Berlin: Berz und Fischer, 2014, S. 85–90, hier: S. 85.

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einer wohl vor dem gegenüberliegenden Fenster angebrachten Leuchtrekla­ me. Der Effekt erinnert an den intermittierenden Transport eines projizier­ ten Filmstreifens und es scheint, als würde im Gesicht der Frau die narrative Entwicklung bis zur aktuellen Situation Revue passieren. Den Kontext liefert Chantal Akermans unbestrittenes Meisterwerk aus dem Jahre 1975: Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles. Das im Ausstellungsraum wie­ derverwendete Bewegtbild ist das Finale, die letzte Einstellung dieses für das Kino konzipierten zeitlichen Arrangements. Der Film spielt an drei Tagen und dauert drei Stunden.34 Jeanne Dielman ist die Mutter eines jugendlichen Sohnes und von Beruf Hausfrau. Weil sie verwitwet ist und für ihren Beruf kein Geld erhält, emp­ fängt sie in ihrer Wohnung jeweils am frühen Abend einen Freier. Während des Beischlafs kochen die Kartoffeln für das Abendessen. Die Prostitutionsar­ beit geschieht offscreen, wird unauffällig in die Hausarbeiten integriert. Diese Tätigkeiten werden hingegen oft in ihrer ganzen Länge gezeigt: Geschirr ab­ waschen, Früchte arrangieren, Betten machen, Kaffee zubereiten. Im Zusam­ menspiel mit Licht, Kadrage und Dekor bilden Jeannes Handlungen Stillleben aus und Jeannes Handlung bilden die Handlung des Films. Der Film besteht ausschließlich aus fixen Einstellungen, in deren Rahmen sich Frau Dielman als Figur – sowohl in Person wie auch in abstrakter Form – äußerst bildbe­ wusst bewegt. Mit dem Lichtschalter bestimmt sie über ihre eigene Sicht­ barkeit im Film sowie generell über Hell und Dunkel: Licht an, wenn sie den Raum betritt, Licht aus, wenn sie den Raum verlässt. Durch die Art und Wei­ se, wie Jeanne ihren Haushalt führt, bestimmt sie über die filmische Form. Im Laufe der dritten Stunde werden wir Zeuge, wie Jeannes Rhythmus aus dem Lot gerät und etwas in ihr zu brodeln beginnt. Die Spannung wächst al­ lein aufgrund des Scheiterns der routinierten Abläufe und der damit verbun­ denen Aufhebung des festen zeitlichen Gefüges. Die Folge davon ist die Frei­ setzung von Zeit, das heißt deren Entkoppelung von der Handlung. Die Krise zu Beginn des dritten Tages bewirkt, dass Jeannes Lebenszeit nicht mehr öko­ nomisch verwertet, nicht mehr restlos in reproduktive Arbeit umgesetzt wird. Die Kartoffeln verkochen und der Zeitplan gerät durcheinander, weil Jeanne neue Kartoffeln kaufen muss. Die perfekte Oberfläche, die sich mit Spannung

34 

Vgl. mein Aufsatz: »Alltag als Form des Widerstands. Oder: Vom Haushalt mit den Bildern. Zum Kino von Chantal Akerman«. In: Filmbulletin. Zeitschrift für Film und Kino 58/6 (2016), S. 54–58.

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gehalten hat, droht einzubrechen und die Präsenz einer Leidenschaft, einer abgründigen Tiefe macht sich bemerkbar. Was bedrückt und was bewegt Frau Dielman? Am Ende des dritten Tages betritt die Kamera zum ersten Mal ›die Obszene‹35. Wir wohnen einem betont nüchternen Beischlaf bei und nehmen dabei auch den sexuellen Höhepunkt der Protagonistin zur Kenntnis. In eben­ so sachlich nüchterner Art wird zum Schluss ein Mord verrichtet, danach sitzt Jeanne – der Handlungsstillstand ist bekannt – für sieben lange Minuten am Tisch. Im finalen Stillleben artikuliert sich exemplarisch die Freisetzung der Zeit und der sinnlichen Fülle, die nicht in einer klaren semantischen Bedeu­ tung entschlüsselt werden kann. In ihrer ganzen Ambivalenz und Offenheit beziehungsweise Unbestimmbarkeit qualifiziert die letzte Einstellung den vor­ angegangenen Mord als Akt der Befreiung und Akt der Sinnlosigkeit zugleich. Ein zentraler Grund für den nachhaltigen Erfolg und die Bedeutung dieses Films liegt in der Spannung zwischen einer brillanten Oberflächlichkeit und geradezu offensiven Sichtbarkeit, die durch eine hyperrealistische Aufzeich­ nung alltäglicher Texturen und Details zustande kommt, und einer ebenso of­ fensiven Opazität, die in der vollständigen Abwesenheit einer klassisch nar­ rativen Erklärungslogik liegt. Gerade indem der Film Topoi des klassischen Erzählkinos aufgreift und auf narrativen Elementen insistiert – der klassi­ schen Dreiaktstruktur wie auch dem Mord am Schluss – wird diese Umwer­ tung deutlich. Wir kennen alle Koordinaten von Jeannes Wohnung, die de­ taillierten Abläufe ihres Tages, wir kennen ihre Kleidung, ihre Haltung, ihre Gesten bis ins Kleinste – wir wohnen ihr wortwörtlich bei und gewinnen sie dadurch lieb wie die Figuren einer Serie, mit denen wir viel Zeit verbringen. Diese Informationen können wir den malerischen Tableaus und dem Rhyth­ mus ihrer Abfolge entnehmen, den Untiefen des Bildes gewissermaßen. Wir erhalten jedoch nahezu keine Informationen über die Psychologie der Figur und ihre Geschichte. Durch diese doppelte Eigenschaft von Überschuss und Mangel an Information ist Jeanne Dielman zur Projektionsfläche und zum Ge­ genstand unterschiedlichster Interpretationen geworden. Doch der Versuch, der Oberfläche eine ›Tiefe‹ abzugewinnen und die hintergründige Subjektivi­ tät dieser Hausfrau zu entschlüsseln, muss notwendig scheitern. Denn genau in dieser hermeneutischen Widerständigkeit liegt ihr Erfolg als Anti-Heldin, als erfolgreiche Figur der Fiktion.

35 

Das Obszöne kommt etymologisch von dem, was im Theater in den Off-Raum ver­ lagert wurde (ob-scenae).

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Durch einen vollständigen Verzicht auf das Prinzip des Gegenschusses wird das zentrale Verfahren des Continuity-Editings ausgeschaltet und mit der Konvention gebrochen, dass die Figuren des Films zwischen der filmi­ schen Textur und dem Publikum erklärend vermitteln. An keiner Stelle wird der Figur eine Sichtweise unterstellt. Das Publikum wird nicht via Suture in die Diegese eingewoben, befindet sich nicht im Bild, sondern außen vor: »I can­ not but leave a place for the spectator in his / her difference.«36 In den verän­ derten Rezeptionsbedingungen der Installation A Woman Sitting After Killing wird dieser Effekt von Chantal Akermans Kinofilm durch die konfrontative Begegnung zwischen Publikum und Monitor betont und besonders hervor­ gehoben. Mit der Absage an das klassische Suture-Verfahren hängt auch der Umstand zusammen, dass zwischen den Einstellungen kein Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht. Keine Einstellung begründet die vorangegan­ gene oder ist deren logische Folge. Vielmehr werden die bewegten Bilder im Sinne eines »und« aneinandergereiht.37 Es ist nicht das Kausalprinzip, son­ dern das auf die Mechanik des analogen Kinos referierende Strukturprinzip der Serialität, die Reihe, Reihung, Variation und Wiederholung, die den Film Jeanne Dielman sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht auszeichnet. Die Installation A Woman Sitting After Killing, die in der beschriebenen Weise Zeit erfahrbar macht beziehungsweise Gegenwart erstellt, erinnert im postkinematografischen Zeitalter und in den Räumen der bildenden Kunst an einen Film, der selber Zeit erfahrbar macht und selbstreflexiv strukturel­ le sowie formale Aspekte wie auch materielle Bedingungen des Kinematogra­ fischen ausstellt. Im Gegensatz zur Offenheit der Konstellation im Ausstel­ lungsraum begründet dieser Kinofilm ein rigoroses Zeitregime, das durch die Protagonistin ausagiert und aufrechterhalten wird. Dokumentiert wird dabei dessen allmählicher Zerfall beziehungsweise seine Auflösung und die Freiset­ zung von Zeit als Dauer. Die adäquate Rezeption dieses ›Kammerspiels‹ hat das klassische Kinodispositiv zur notwendigen Bedingung – nur in die ›lan­ ge Weile‹ eingespannt erleben wir das minutiös geregelte ästhetische System.

36 

Chantal Akerman in: »Statements collected by José Vieira Marques. Press-book of Jeanne Dielman for the Festival de Figueira da Foz«. Berlin, July (1975), zitiert nach Ivone Margulies: Nothing Happens. Chantal Akerman’s Hyperrealist Everyday. Durham and Lon­ don: Duke University Press, 1996, S. 59. 37  Was Rosalind Krauss in Bezug auf Sol Lewitts Arbeiten hervorhebt, gilt auch für Jeanne Dielman: »accounts of events composed by a string of almost identical details connected by ›and‹«. Dies.: »LeWitt in Progress«. In: October 6, (1978), S. 46–60.

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Mit dem Ziel, für den zeitgenössischen New Yorker Experimentalfilm die idealen Rezeptionsbedingungen zu schaffen, entwarf Peter Kubelka das einem Expanded Cinema (Gene Youngblood) diametral entgegengesetzte Invisible Cinema, das sich im Kinosaal des Anthology Film Archives materialisierte.38 Der Zweck dieses Saales war, im Sinne der modernistischen Werkautonomie die stärkst mögliche Rahmung des filmischen Werks zu schaffen und jegliche Ab­ lenkung von dem jeweiligen, essenzialistisch gedachten Film (Essen­tial Cinema) zu eliminieren. Im Anthology Film Archive in New lernte die junge Aker­ man zu Beginn der 70er Jahre denn auch das experimentelle Schaffen der dort versammelten Filmemacher und Filmemacherinnen kennen. Insbeson­ dere dank Michael Snows Filmen, die ein formales Prinzip mit Rest-Elemen­ ten der Realität verklammern und den Zuschauer trotz ihres abstrakten Cha­ rakters in einen aufgeladenen Zustand des Suspense versetzen, wird Chantal Akerman in ihrem Vertrauen in die darstellenden Mittel bestärkt, das heißt in die affektive Kraft des stummen Bildes und in die vielfältigen, jenseits ei­ ner erklärenden Funktion liegenden Möglichkeiten des Tons. Anders als die Protagonisten und Protagonistinnen des New Yorker Avantgardefilms hat Chantal Akerman jedoch die strenge filmische Form, die Perfektion von Kom­ position und Rhythmus mit dramaturgischen Absichten und vor allem mit ei­ nem dem Kino seit seinen Anfängen inhärenten gesellschaftspolitischen An­ spruch verbunden. Angeregt durch die Kampagne Lohn für Hausarbeit in England und Ita­ lien begann im Zuge der zweiten Frauenbewegung zu Beginn der 70er Jah­ re eine kontrovers geführte Diskussion um den Charakter von Hausarbeit, jene reproduktive Arbeit, die Frauen über mehr als ein Jahrhundert hinweg im Stillen und Verborgenen selbstverständlich geleistet haben. »Inhalt die­ ser Arbeit ist die Produktion und Reproduktion der gesellschaftlichen Ar­ beitskraft in physischer, emotionaler und sexueller Hinsicht.«39 Barbara Du­ den und Gisela Bock haben in einer grundlegenden Studie gezeigt, dass das Konzept von Hausarbeit im heutigen Sinne, das heißt als eine von Frauen im

38 

Vgl. Volker Pantenburg: »1970 and Beyond. Experimental Cinema and Installation Art«. In: Gertrud Koch u. a. (Hg.): Screen Dynamics. Mapping the Borders of Cinema. Wien: Synema, 2012, S. 78–92. 39  Gisela Bock / Barbara Duden: »Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus«. In: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1977. Berlin: Courage, 1977, S. 118–199., S. 123

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Privatbereich des Hauses zu verrichtende Tätigkeit, ein recht spätes histori­ sches Phänomen ist, das im 17. und 18. Jahrhundert entstand und sich erst im 19. Jahrhundert mit zunehmender Kapitalisierung und Industrialisierung der Gesellschaft breit durchgesetzt hat. Damit bildet die Arbeit der Hausfrau die Basis jener Gesellschaft, die sich im Zeitalter der technischen Reproduk­ tion konsolidiert.40 Das frühe Kino bot für die Frauen die einmalige Gelegen­ heit, sich außer Haus alleine zu vergnügen, das heißt »den Glanz eines Aus­ gangs aus heimischer Unmündigkeit« – »das Lichtspielhaus wird zum Inbegriff der Emanzipation.«41 Das in Jeanne Dielman definierte Bildfeld zeichnet sich – wie eingangs beschrieben – durch seine starke Rahmung aus, die das Gesche­ hen im Bild und die Welt außerhalb des Bildes deutlich separiert. Die Tren­ nung zwischen On- und Offscreen fällt dabei zusammen mit einer Trennung zwischen dem Raum des Privaten und einem öffentlichen Raum – Jeannes Eingeschlossenheit in die Sphäre des Privaten erscheint besiegelt. Doch die allmählich wachsende Befangenheit in den vier Wänden ihrer Wohnung und den vier Rändern der Kadrierung übt einen Druck auf diese Ränder aus und führt in der letzten Einstellung zur beschriebenen Durchlässigkeit der Wän­ de und Ränder – es lockt das Draußen, das Leben in seiner ganzen Fülle, des­ sen kondensierte Erfahrung – wie von Heide Schlüpmann in Bezug auf die Frühzeit des Kinos ausgeführt – nicht auf der Straße, sondern im Kino ge­ sucht und gefunden wurde.42 Dem feministischen Ruf nach Sichtbarkeit beziehungsweise Öffentlichkeit des Privaten zu Beginn der 70er Jahre kam dieser Film mit seinem Inhalt und seiner radikalen Form entgegen. Jeanne Dielman liefert eine spezifisch ästheti­ sche Erfahrung für einen Inhalt, der in jedem Hollywoodfilm weggeschnitten wurde, im Repräsentationssystem des Kinos bislang noch keinen Platz gefun­ den hatte. Nie zuvor in der Geschichte der Kunst ist der Arbeit einer Haus­ frau so viel Aufmerksamkeit zugekommen. Durch die detaillierte, fast (zeit-) lupenartige Aufzeichnung von Jeannes Handgriffen und Haushaltsaktivitä­ ten und durch die rhythmische Wiederholung und allmähliche Verschiebung

40  Vgl. Heike Klippel: Zeit ohne Ende. Essays über Zeit, Frauen und Kino. Frankfurt a. M. u. Basel: Stroemfeld, 2009. 41  Heide Schlüpmann: »Faszinierendes Haus«. In: Pauleit u. a. (Hg.): Filmerfahrung und Zuschauer, S. 12–19, hier: S. 16. Zum hohen Frauenanteil des Kinopublikums vgl. auch: Mirjam Hansen: Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film. Cambridge: Cam­ bridge University Press, 1989. 42 Ebd.

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des Immergleichen mit dem Effekt eines Suspense, hat Jeanne Dielman die »Koordination des Darstellbaren« verändert. Wenn die Politik im eigentlichen Sinne in der Erzeugung von Subjekten besteht, die den Namenlosen eine Stimme verleihen, dann besteht die Politik der Kunst in der Ausarbeitung der sinnlichen Welt der Namenlo­ sen, der Arten des Dies und des Ich, aus denen eigene Welten des politi­ schen Wir hervortreten. Insofern diese Wirkung sich durch den ästheti­ schen Bruch vollzieht, dient sie keinem bestimmten Kalkül.43

Eine solche Namenlose war Jeanne Dielman, ehe sie und ihre Arbeit durch die Zusammenarbeit dreier Frauen – der Regisseurin Chantal Akerman, der Kamerafrau Babette Mangolte und der Schauspielerin Delphine Seyrig – im Jahre 1975 eine konkrete Sichtbarkeit erhielt. Diese im weitesten Sinne epis­ temische Leistung von Jeanne Dielman steht in der langen Tradition eines fil­ mischen Realismus und des insbesondere bei Élie Faure wie auch bei ande­ ren frühen Filmtheoretikern mit dem Kino verbundenen utopischen Topos seines demokratischen Potenzials: »Sie [die neue Kunst] ist demokratisch, sie kommt ohne das Wort aus und sie führt nicht nur zu einer neuen Gesell­ schaft, sondern [...] vorab zu einer neuen ontologischen Ordnung.«44 Dabei heisst demokratisch nicht nur für alle zugänglich, sondern auch, dass der Film alle Dinge gleichwertig behandelt und durch seine »Stummheit« für alle ver­ ständlich ist.45 Akermans Film, der am laufenden Band Genrebilder und Still­ leben produziert, erinnert aber auch daran, dass sowohl der ästhetische Hang zum Detail als auch der Hang zur Repräsentation des anonymen Individuums der technischen Reproduktion weit vorausging und »der Ruhm des Beliebigen« als Merkmal des »ästhetischen Regimes« im Sinne Rancières »zunächst ins Gebiet der Malerei und Literatur fällt, bevor er Fotografie und Film erfasst.«46 Dominique Paini erkannte im Eintritt des Films in die Räume der Kunst grundsätzlich »ein zeitgenössisches Phänomen zeitgenössischer Demokra­ tietendenzen« und »die Manifestation des scheinbaren Triumphs des Indivi­ duums über jeglichen architektonischen und optischen Zwang.«47 Durch die Vervielfältigung des Bildnisses in der Installation A Woman Sitting After Kil-

43  Jacques Rancière: »Die Paradoxa der Politischen Kunst«. In: Ders.: Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen, 2009, S. 63–100, hier: S. 80. 44  Tröhler: »Elixier und Relais des Geistes der Moderne«, S. 587. 45  Vgl. ebd. 46  Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin: b_books, 2006. S. 53. 47  Paini: »Film als Bildende Kunst«, S. 87.

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ling und durch ihre erneute Anonymisierung im Titel wird Jeanne Dielman zugleich als eine von vielen ausgezeichnet – als eine von all jenen Jeannes, die einen vergleichbaren Alltag gelebt, ein vergleichbares Dasein verbindet. Und auch: als eine von all jenen Jeannes, die wir individuell mit der Film­figur assoziiert oder erinnert haben. Alle haben wir sie irgendwie erkannt: diese Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, Schwiegermutter oder Tante mit ihren spezifischen Gesten. Die bestimmte Art, wie sie mit ihrer Hand das Deckbett glättet oder die Flinkheit, mit der sie die Bluse zuknöpft ... Im Gegensatz zum synchronisierten und kollektiven Erlebnis im Kino führt die den Film auffä­ chernde Installation zu eine Asynchronität der Rezeption und stellt damit die Singularität und Privatheit der Erfahrung ins Zentrum. Bezeichnend für diese Verschiebung ist der Fernseher als jenes Möbelstück, das die bis heute anhal­ tende Emigration des Films in den Privatraum und die damit einhergehende Vereinzelung der Filmerfahrung initiierte. Die Installation A Woman Sitting After Killing gibt Anlass, in den elitären Sphären des Ausstellungsraums über je­ nes demokratische Versprechen nachzudenken, die das Kino als »Volkskunst« seit seinen Anfängen begleitet.

Simon Vagts

Über die Taktilität im Digitalen Jean-Luc Godard nach Marshall McLuhan

Das zeitgenössische Kino zeigt ein bemerkenswertes Interesse am Tastsinn. So besitzt etwa der fast gänzlich ertaubte und von einem Tinnitus heimge­ suchte Protagonist in Edgar Wrights Baby Driver1 die Fähigkeit, über die Be­ rührung der Lautsprecherboxen Musik zu hören, und Kristen Stewart fühlt in Oliver Assayas Personal Shopper2 den Geist ihres toten Bruders auf dem Smart­ phone-Display. Wenn ein Psychologe die vom Nachtmahr3 im gleichnamigen Film verfolgte Tina fragt, ob sie das Wesen schon berührt habe und sie mit »Nein« antwortet, ist die Reaktion bezeichnend: »Dann können Sie gar nicht wissen, ob es wirklich existiert.« Etwas mit eigenen Augen zu sehen reicht nicht als Existenzbeweis, nur, was sich anfassen lässt, existiert wirklich. Umgekehrt ist alles, was sich an­ fassen lässt, per se existent. In allen drei Filmen wird das neue Wahrneh­ mungsparadigma, das dem Tastsinn diese höchste Priorität verleiht, als ein aus medialen Umwelten gewachsenes verstanden. Das Smartphone fungiert als Katalysator eines ›Sinneswandels‹, der nicht nur das Verhältnis von Tech­ nik und Nutzer, sondern auch das von Wahrnehmung und Wahrheit neu be­ stimmt. Diese ›bestimmte Tendenz‹, um es mit François Truffaut zu sagen, findet sich also sowohl im Hollywood- als auch im französischen und im deut­ schen Kino. Die drei exemplarischen Filme widmen sich alle, manche auf Ne­

1 

Baby Driver. Regie: Edgar Wright, USA 2017. Personal Shopper. Regie: Olivier Assayas, FR 2016. 3  Der Nachtmahr. Regie: Akiz, D 2015. 2 

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benschauplätzen, andere zentral, den Funktionen des Tastens. Die Themati­ sierung bleibt jedoch auf einer inhaltlichen Ebene und reflektiert nicht deren technische Umsetzung. Diesen Schritt macht indessen Jean-Luc Godard vor ihnen, in seinem vorletzten Langfilm Adieu au langage,4 in dem er – wie ich im letzten Abschnitt zeigen möchte – die Möglichkeiten des 3-D-Kinos de­ konstruiert und so versucht, die neuen Potentiale des Tastsinns gerade nicht den Figuren zu überlassen, sondern sie an das Publikum weiterzugeben. Die Verschiebungen des Sinngefüges wirken sich so auf die misé-en-scène und die technischen Produktionsmittel aus. Godard filmt nicht nur Smart­phoneNutzer oder -Nutzerinnen, er filmt selbst mit Smartphones. Dass ausgerech­ net ein visuelles Medium wie der Film die zentrale Stellung der Taktilität be­ hauptet, mag erstaunlich wirken, hat aber Tradition. Und zwar eine, für die im 20. Jahrhundert unter anderem der kanadische Medientheoretiker Mar­ shall McLuhan verantwortlich zeichnet. Ich werde im Folgenden zeigen, dass McLuhan die wachsende Bedeutung des Taktilen zu Beginn des letzten Jahrhunderts gerade anhand einer Lektü­ re kanonischer Texte der Kunstgeschichte beschreibt, die ein Gefüge der Sin­ ne sichtbar werden lässt, das sich neu konstituiert, um im Anschluss der Fra­ ge nachzugehen, ob und inwiefern Godards Adieu au langage als Zäsur in der jüngsten Kinogeschichte fungiert.

1 McLuhans Kunstgeschichte Am 11. August 1971 veröffentlicht die britische Zeitschrift The Listener einen ausführlichen Brief Marshall McLuhans an den in der Londoner Theatersze­ ne bekannten Autor und Intendanten Jonathan Miller. Hatte McLuhan ihm zuvor noch auf überschwängliche Weise seine Bewunderung kundgetan, geht er nun harsch mit ihm ins Gericht und wirft ihm geistige Beschränktheit vor. Zwischen Freund- und Feindschaft liegt die Publikation eines Buches, dem Miller den zugleich schlichten wie monumentalen Titel Marshall McLuhan (1970) gab. Jener Text zeuge laut McLuhan von vollkommenem Unverständ­ nis seiner Arbeit. Dieses nimmt er zum Anlass, seine grundlegenden Überle­ gungen im Rahmen dieser öffentlichen Debatte erneut zu skizzieren. So fin­

4 

Adieu au langage. Regie: Jean-Luc Godard, FR/CH 2014.

Über die Taktilität im Digitalen

den sich in der Stellungnahme viele zentrale Themen und Denkfiguren, die McLuhan im vorangegangenen Jahrzehnt seit The Gutenberg Galaxy (1962) entwickelt hatte. McLuhan hält sich dabei an die vom Format des Leserbriefs gebotene Prägnanz und konzentriert komplexeste Argumentationen in ein­ gängigen Schlagsätzen. Trotzdem dürfen auch in der grundlegendsten Bestim­ mung seiner Arbeit zwei Namen nicht fehlen: Ernst Gombrich und Adolf von Hildebrand. Der Kunsthistoriker und der Bildhauer, der vor allem durch seine Schrift Das Problem der Form in der Bildenden Kunst von 1893 bekannt ist, wer­ den ausführlich zitiert. Nun macht McLuhan selbst kein Geheimnis um seinen Theorieeklektizismus. Die Stellung der Kunstgeschichte scheint jedoch eine besondere zu sein, greift er doch mehrmals an entscheidenden Stellen auf die großen Autoren der Kunstgeschichte zurück. Neben Gombrich begegnen den Lesern Heinrich Wölfflin und Erwin Panofsky. Es scheint, als zöge er sie alle heran, um einen programmatischen Satz aus seiner frühen Publika­tion The Mechanical Bride (1951) zu fundieren: »Technologie braucht keine Menschen oder Hirn, sondern ›Hände‹.«5 Das durchgehende Projekt McLuhans lässt sich wie folgt umreißen: Voraus geht die Annahme, dass die Innovation und Etablierung technischer Medien zu einer Veränderung der sinnlichen Wahrnehmung führt. Buchdruck, Radio und Fernseher beeinflussen durch das Dispositiv, welches sie den Rezipienten aufoktroyieren, deren Wahrnehmungsapparat und darüber hinaus die Art und Weise, wie Dinge verstanden werden können. Es sind zum einen historische Umbrüche, zum anderen geografische, an denen er meint, die unterschiedli­ chen Beschaffenheiten menschlicher Perzeption ablesen zu können. Anders als populäre Beerbungen dieser Idee wie etwa Neil Postman bleibt McLuhan jedoch nicht bei Feststellungen à la ›durch das Fernsehen verkleinert sich die Aufmerksamkeitsspanne‹ stehen. Vielmehr verknüpft er kulturelle Techni­ ken miteinander, indem er beispielsweise den Buchdruck und die Alphabeti­ sierung als Voraussetzung der Linearperspektive und damit zur Entwicklung des »visuellen« Menschen bezeichnet. Die ausbleibende Alphabetisierung des afrikanischen Kontinents sei demnach Beweis für die stärker »auditiv-taktil« gelagerten Kompetenzen seiner Bewohner.6 Diese zweifellos problematische

5 

Marshall McLuhan: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Amsterdam: Verlag der Kunst, 1996, S. 77. 6  »[Ein] Kind in irgendeinem westlichen Milieu ist von einer abstrakten, expliziten, ­visuellen Technik umgeben, die auf einer uniformen Zeit und einem uniformen, konti­ nuierlichen Raum beruht, von einer Technik, in der einzig eine Abfolge von Wirk-›Ursa­

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Argumentation kann nicht nur als Hinweis auf McLuhans Blindheit gegen­ über kolonialen Regimen gelten, für ihn ist sie ein Pendant zur historischen. Das, was McLuhan interessiert, sind die Muster (»patterns«), die er in media­ len Phänomenen wiederfindet und zu einem Erklärungsmodell transformiert. It’s a mistake to suppose that patterns of culture can simply be invented and imposed on a community. There may be extreme conditions in which something of this sort occurs. But behind the widespread fear about the effect of ads and comic books today, there would seem to be a very su­ perficial theory of social communication. It is a theory which, for exam­ ple, has produced such unfortunate terms and attitudes as ›high-brow‹ and ›low-brow‹. And these terms effectively blind people to the peren­ nial flow of perception and impulse from the few of the many and from the many of the few.7

Die »patterns of culture« werden nach McLuhan über Medien implementiert. Ihre Analyse ist es, die zum Verständnis der Medien führt. Dabei wird – ganz dem so bekannten wie verkürzenden »the medium is the message« folgend – kein Material von der Untersuchung ausgeschlossen. Das rechtfertigt und begründet McLuhans breites Interesse, das von Comics und Werbung über den geliebten James Joyce bis hin zur bildenden Kunst und ihrer Geschichts­ schreibung reicht. Ich widme mich nun Letzterem: McLuhans Interesse an der Kunstge­ schichte und genauer der Frage, welche Funktion diese im Narrativ von The Gutenberg Galaxy (1962) einnimmt. McLuhan Kunstgeschichte wirkt aus Sicht einer tradierten Kunstgeschichte zunächst äußerst kontraintuitiv. Malerei, denn das ist es, was McLuhan hier mit »Kunst« meint, beginnt sich um die Jahrhundertwende aus dem Bereich des Visuellen abzulösen, um in das Reich des Tastens überzugehen. Niemand Geringeres als Paul Cézanne dient ihm als Scharnierfigur: »Die Beziehung der Taktilität zum Visuellen, die für ein richtiges Verständnis des Schicksals des phonetischen Alphabets so wichtig chen‹ gilt und in der sich die Dinge auf unabhängigen Einzelebenen und in regelmäßiger Reihenfolge bewegen und ereignen. Das afrikanische Kind hingegen lebt in der implizi­ ten magischen Welt des zum Mitvollzug zwingenden gesprochenen Wortes.« (­Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Die Entstehung des typographischen Menschen. Ham­ burg: Gingko Press, 2011, S. 23.) Wenig später lautet der Titel eines Unterkapitels Warum nicht-alphabetische Kulturen ohne lange Übung keine Filme oder Fotos ansehen können. (Ebd., S. 47). 7  Marshall McLuhan: »Advertising as a Magical Institution«. In: Ders.: On the Nature of Media. Essays, 1952–1978. Berkeley: Gingko Press, 2016, S. 14–25, hier: S. 20.

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ist, trat erst nach Cézanne scharf hervor.»8 Diese Neubestimmung der Bezie­ hung gilt McLuhan als elektrisches Zeitalter avant la lettre: »Die immer stär­ kere Betonung des Visuellen bei den Griechen entfremdete sie der primiti­ ven Kunst, die das elektronische Zeitalter jetzt neu erfindet, nachdem es das vereinheitlichte Feld elektrischer Simultanität in seine Struktur einbezogen hat.«9 Die historische Umwälzung mündet letztlich in eine Umwertung des Begriffes der Abstraktion: Die wirklich ›abstrakte‹ Kunst ist nämlich die des Realismus und Natu­ ralismus, die auf einer Herauslösung des Sehvermögens aus dem Wech­ selspiel der anderen Sinne beruht. Die sogenannte abstrakte Kunst ist tatsächlich das Ergebnis eines intensiven Sinnen-Wechselspiels, bei dem das Gehör und der Tastsinn unterschiedlich überwiegen. Ich meine, daß der ›Tastsinn‹ nicht so sehr ein gesonderter Sinn ist, als vielmehr gerade im Wechselspiel der Sinne selbst besteht.10

Die Isolierung des »Sehvermögens«, ließe sich mit McLuhan sagen, entspricht nicht mehr dem Wahrnehmungsapparat des von wachsender Urbanisierung und industrieller Revolution umgebenen Menschen. Realismus und Natura­ lismus wären somit nichts als Überbleibsel einer Vorstellung von Malerei, die sich ihre Rezipienten noch als durch Alphabetisierung auf die Trennung der Sinne geeicht vorstellt. Der Tastsinn wird in dieser Argumentation zum Syn­ ästhesieorgan, dem erst die »sogenannte abstrakte« Kunst in aller Tragwei­ te Rechnung trägt. Dies tut sie in leiser Vorahnung des »elektronischen Zeit­ alters«, das nun ansteht. Die Schlussfolgerung ist beispielhaft für das, was ­McLuhan »pattern recognition« nennt. Das elektronische Zeitalter ist eines, in dem die Simultanität das lineare Visuelle verdrängt. Diese Entwicklung schlägt sich ab der Malerei Cézannes in der Kunst nieder und wird im Verlauf des Jahr­ hunderts im Fernsehen, dem taktilen Medium schlechthin in M ­ cLuhans Sin­ ne, seine intensivste Ausformung finden. Bevor ich auf die Möglichkeiten, die uns ein solches Modell zum Verständnis von Godards A ­ dieu au langage und der neu entfachten Vorliebe des Kinos für das Taktile bietet, zu sprechen kom­ me, bleibe ich allerdings noch bei Cézanne und dem, was M ­ cLuhan »Mosaik­ methode« (»mosaic method«) nennt.

8 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 107. 9 

Ebd., S. 83.

10 Ebd.

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Die Begriffe »Mosaik« und »mosaisch« finden sich in mehreren Publikationen McLuhans zwischen 1961 und 1967. Zunächst in einem Artikel, der in The Canadian Architect veröffentlicht wurde. Hier bezeichnet er das Fernsehbild als »two-dimensional mosaic mesh, a simultaneous field of luminous vibration which ends the older dichotomy of sight and sound.«11 Der Bruch mit der Isolierung von auditiven und visuellen Perzepten manifestiert sich im Fern­ sehbild, das die oben angedeutete Entwicklung in der Geschichte der Kunst weiterführt. Die Synchronisierung von Bild und Ton fasst McLuhan in das Mosaische. Das Mosaik reduziert sich somit nicht auf die Zersplitterung eines rein Visuellen, seine Bedeutung reicht darüber hinaus. Die Wahrnehmung des Mosaiks erfordert demnach eine ganz bestimmte Funktion der Sinne, näm­ lich deren Korrespondenz. Es handelt sich beim Mosaik nicht, oder nicht aus­ schließlich, um einen Bild-, sondern auch um einen Wahrnehmungsmodus. Der Fall des Fernsehbilds samt Ton taucht aber nicht aus dem Nichts auf. Schon in The Gutenberg Galaxy (1962) verfolgt McLuhan das Konzept weiter und deutet es auf verschiedene Weise aus. Zum einen wird klar, dass das Mo­ saik keine fernsehspezifische Wahrnehmungsform darstellt. James Joyce wird als »Meister des mittelalterlichen taktilen Mosaiks« betitelt und in eine Rei­ he mit François Rabelais gestellt, der den Lesern mittels der Mosaikmetho­ de »eine echt taktile Tracht Prügel«12 verpasst. Hier wird, und das wird von besonderem Interesse sein, das Mosaik wie selbstverständlich mit dem Tak­ tilen in Verbindung gebracht. Zum anderen wird erkennbar, dass das Mosa­ ik auch selbst als wissenschaftliche Methode angewendet werden kann. De­ ren Umsetzung sieht McLuhan in den Arbeiten seines Lehrers Harold Adam ­Innis, zu denen sein eigenes Werk lediglich eine Fußnote sei.13 Nicht nur die an Selbstaufgabe grenzende Bescheidenheit, mit der er über Innis schreibt, son­ dern auch die Stelle in The Gutenberg Galaxy lässt keinen Zweifel daran, dass ­McLuhan die Mosaikmethode für sich selbst in Anspruch nimmt:

11 

Marshall McLuhan: »Inside the Five Sensensorium«. In: Ders.: On the Nature of ­Media. Essays, 1952–1978. Berkeley: Gingko Press, 2016, S. 50–67, hier: S. 56. 12 McLuhan: Die Gutenberg Galaxis, S. 196. 13  Marshall McLuhan: »Introduction to H.A. Innis, The Bias of Communication (1964)«. In: Ders.: On the Nature of Media. Essays, 1952–1978. Berkeley: Gingko Press, 2016, S. 68–83, hier: S. 73.

Über die Taktilität im Digitalen Wenn er [Innis] die Entwicklung der Dampfpresse mit der Konsolidierung der Landessprachen, dem Aufkommen des Nationalismus und der Re­ volution in gegenseitige Beziehung bringt, dann legt er nicht den Stand­ punkt irgendeines Menschen dar, am wenigsten seinen eigenen. Der Ein­ sicht halber schafft er eine mosaikartige Konfiguration oder Galaxis.14

Mit dem Mosaik verabschiedet sich neben der Dichotomie von Bild und Ton auch die Zentralperspektive, die einen festen Standpunkt einfordert und de­ ren Entstehen McLuhan, ganz in der Manier von Innis, mit der Alphabetisie­ rung in kausalen Zusammenhang bringt. Die Mosaikmethode ist, so ließe sich drastisch sagen, an die Aufgabe des Subjekts gebunden, das sich der Darstel­ lung von Zusammenhängen opfert, die in vorherigen Weltmodellen paradig­ matisch waren. Wer einsehen will, wie sich der Nationalismus formiert, muss ihn mit der Druckpresse zusammen denken. Historische Prozesse lassen sich nicht im Nachvollzug einer Linie verstehen, sie werden nur in der Verbindung zu anderen sichtbar. Die Praxis dieser Methode lässt sich am eindringlichsten in den zwei Büchern, deren Titel auf verhängnisvolle Art zu Punchlines gewor­ den sind, erfahren: War and Peace in the Global Village (1968) und The Medium is the Massage (1967). Beide Titel bilden ein einzigartiges Konvolut an Textund Bildcollagen, in denen McLuhans Ablehnung hierarchischer Strukturen innerhalb seines Materials sich kompromisslos Bahn bricht und Gesellschaft und McLuhans Denken neu lesbar werden. Erste Ansätze dieses Vorhabens zeigen sich bereits im Counterblast-Projekt, das McLuhan in den 1950er-Jah­ ren erstmals aufnahm, 1969 überarbeitete und neu auflegte. Aber auch, wenn beide Texte McLuhans Status als »Hohepriester der Popkultur und Metaphysi­ ker der Medien«15, wie es in einem Playboy-Interview von 1969 heißt, zemen­ tieren, darf in diesem Kontext nicht darauf geschlossen werden, dass die Mo­ saikmethode in der Wissenschaft per se auf Bilder angewiesen ist. Dass sie auch auf rein literarischer Praxis fundiert sein kann, demonstriert die italie­ nische Literaturwissenschaftlerin und Amerikanistin Elena Lamberti in Marshall McLuhan’s Mosaic. Probing the Literary Origins of Media Studies (2012). Da ihrer aufschlussreichen Auseinandersetzung diesbezüglich nichts hinzuzufü­

14 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 283. 15  Zitiert nach: Sven Grampp: Marshall McLuhan. Eine Einführung. Konstanz u.

­München: UVK, 2011, S. 8.

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gen ist, konzentriere ich mich auf Formationen des Mosaischen, die über das Alphabet hinausgehen. Eine dieser Formationen verortet McLuhan, wie bereits angerissen, in der Malmethode »seit« Cézanne. Es ist typisch für McLuhan, dass er nicht etwa von »Cézannes Malmethode« spricht, sondern von der Malmethode als sol­ cher, die mit Cézanne auftritt. Cézanne interessiert ihn nicht als Künstlersub­ jekt, sondern als körperhafte Manifestation eines historischen Einschnitts, als Element eines medialen »environments«, das er beschreibt. McLuhans historisches Narrativ verläuft nicht entlang einzelner Biografien, darin äh­ nelt er Fernand Braudels Ansatz. Das heißt auch, dass Leserinnen und Leser, die detaillierte Bildanalysen und eine eingehende Beschäftigung mit einzel­ nen Künstlerinnen oder Künstlern von McLuhans Kunstgeschichte erwar­ ten, enttäuscht werden. Vielleicht liegt an dieser Stelle auch der Grund für die chronische Nichtbeachtung, die dem Medienwissenschaftler und seinen Äußerungen, mit denen ich mich nun beschäftige, von Seiten der Kunstge­ schichte zuteil geworden ist. In The Gutenberg Galaxy heißt es über die Mal­ methode »seit« Cézanne: Die Mosaikmethode ist nicht nur ›wesentlich einfacher‹ beim Studium des simultanen, das heißt des auditiven Feldes; sondern sie ist die einzig anwendbare Methode. Denn ein ›zweidimensionales‹ Mosaik oder Gemäl­ de stellt jene Kunstform dar, bei der das Visuelle als solches gedämpft ist, damit ein maximales Wechselspiel aller Sinne ermöglicht wird. Solcher­ art war auch die Malmethode ›seit Cézanne‹; die Methode nämlich, so zu malen, als ob man die Gegenstände eher in der Hand hielte als sähe.16

McLuhan kommentiert hier einen Text des ungarisch-US-amerikanischen Nobelpreisträgers für Medizin des Jahres 1961, Georg von Békésy, in dessen Experiments in Hearing (1960) McLuhan auf die Mosaikmethode stößt. Jene Methode nähme, so Békésy, »jedes Problem für sich, ohne sich viel um das Feld zu kümmern, in dem es liegt, und sucht die Beziehungen und Grundsät­ ze festzustellen, die innerhalb des umschriebenen Bereichs gelten.«17 Als Bei­ spiel für diese Methode gilt ihm – und hier liegt die Verbindung zu Cézanne – ein Zeit- und Kulturraum der Kunstgeschichte: »In der Zeit zwischen dem 11. und dem 17. Jahrhundert entwickelten die Araber und die Perser eine hohe Meisterschaft in den darstellenden Künsten … Später, während der Renais­

16 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S.56. 17 

Zitiert nach: McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S.55.

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sance, wurde eine neue Form der Darstellung entwickelt, bei der der Versuch unternommen wurde, dem Bilde eine Einheit und Perspektive zu verleihen und die Atmosphäre darzustellen[.]«18 McLuhan folgt Békésy in dessen Be­ schreibung des Raumparadigmas in der Malerei, und so wird die »Malmetho­ de seit Cézanne« zu einer Art Rückkehr, zur Renaissance der Mosaikmethode. Die »Dämpfung des Visuellen«19 entspricht einer Abkehr vom einheitlichen, per­spektivischen Bild und dessen Atmosphäre, von der Békésy schreibt. Das Zerspringen dieses einheitlichen Bildraums hat zur Folge, dass dieser nicht nur rein visuell wahrgenommen werden kann, sondern im »Wechselspiel der Sinne«, eben »als ob man die Gegenstände eher in der Hand hielte als sähe.«20 Dazu ist mehreres anzumerken: Erstens werden Gemälde zur Zeit von Cézan­ ne genauso angeschaut wie solche aus dem 12. Jahrhundert, nämlich mit den Augen und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sie einheitliche Räume zeigen oder nicht. Zweitens ist die Dämpfung des Visuellen nur eine schein­ bare. Es ist keineswegs zwingend, dass der vermutete Mangel an Details und die Reduzierung auf abstrakte Formen die Komplexität des Dargestellten min­ dern beziehungsweise, dass die visuelle Wahrnehmung weniger beansprucht wird als im Naturalismus oder Realismus. Die Einwände liegen auf der Hand — deren Einordnung in das McLuhansche Schema aber auch, sobald man des­ sen Kontextualisierung genauer in Betracht zieht. Mit und nach Cézanne äußert sich für McLuhan ein »richtiges Verständ­ nis des Schicksals des phonetischen Alphabets«, das das Primat des perspek­ tivischen, kontingenten Raumes mit sich gebracht habe. »Die Beziehung der Taktilität zum Visuellen« werde erkannt, und diese Feststellung untermau­ ert McLuhan mit zwei kanonischen Texten der Kunstgeschichte: »So machte Gombrich die Taktilität zum zentralen Thema seines Werkes Art and Illusion, ähnlich wie es Heinrich Wölfflin in seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen getan hatte.«21 Diese Fokussierung sieht McLuhan in der Photographie, die die »Lostrennung des Visuellen vom Wechselspiel der anderen Sinne«22 letzt­ gültig vollzog, begründet. Als Reaktion auf die neuen Voraussetzungen bild­ gebender Verfahren setzen sie sich für eine Konjunktur des Taktilen ein, die McLuhan am Beginn des 20. Jahrhunderts ansiedelt. Die Art und Weise wie

18 Ebd. 19 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 56. 20 

Ebd., S. 56. Ebd., S. 107. 22 Ebd. 21 

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McLuhan beide, Gombrich und Wölfflin, für sich dienstbar macht, ist exem­ plarisch für die Anwendung der Mosaikmethode. Die Idee, Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe für die Deutung der Malerei seit Cézanne in An­ spruch zu nehmen, scheint aufgrund der Tatsache, dass dieser Text von 1915 lediglich innerhalb der Renaissance und des Barock operiert, äußerst kon­ traintuitiv. Das, was Wölfflin über den Tastsinn sagt, bezieht sich klarerweise auf einen anderen Zeitraum als auf den, in dem McLuhan sich bewegt. Wenn es also heißt, »daß das Auge den Grenzen entlang geführt und auf ein Abtas­ ten der Ränder hingeleitet wird«23 und das »Umreißen einer Figur mit gleich­ mäßig bestimmter Linie [...] noch etwas von körperlichem Greifen an sich [hat]«24, dann ist mitnichten von der modernen Malerei die Rede. Ganz im Gegenteil ließe sich mit wenig Aufwand skizzieren, das die abstrakte Male­ rei für Wölfflin den Anspruch an den Tastsinn vermissen lässt, heißt es doch, dass die »Operation, die das Auge ausführt, [...] der Operation der Hand, die tastend am Körper entlang geht, [gleicht] und die Modellierung, die in der Lichtabstufung das Wirkliche wiederholt, [...] sich ebenso an den Tastsinn [wendet]. Eine malerische Darstellung dagegen in bloßen Flecken [...] diese Analogie aus[schließe].«25 Die Abwendung vom Tastsinn des »linearen Stils«, der in Kunstgeschichtliche Grundbegriffe dem »malerischen« des Barockzeital­ ter entgegengesetzt wird, deutet Wölfflin vielmehr als evolutionären Vorgang: »[Wie] das Kind sich abgewöhnt, alle Dinge auch anzufassen, um sie zu ›be­ greifen‹, so hat die Menschheit sich abgewöhnt, das Bildwerk auf das Tastba­ re hin zu prüfen. Eine entwickeltere Kunst hat gelernt, der bloßen Erschei­ nung sich zu überlassen.«26 Die Verschiebung vom Tast- zum Sehbild, »die kapitalste Umorientierung, die die Kunstgeschichte kennt«,27 fand nach Wölfflin zu einem anderen Zeit­ punkt statt. Die Renaissance sei eben nicht der Zeitpunkt der Isolation des Visuellen, sondern die Vorstufe zur »rein optischen Auffassung der Welt[.]«28 Und das konkretisiert Wölfflin so klar wie nur möglich: »Alles umfassend be­ deutet die Entwicklung vom Linearen zum Malerischen den Fortschritt von

23 

Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. 2. Aufl. München: Hugo ­Bruckmann, 1917, S. 20. 24  Ebd., S. 23. 25  Ebd., S. 23f. 26  Ebd., S. 24. 27 Ebd. 28  Ebd., S. 33.

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einer tastmäßigen Begreifung der Dinge im Raum zu einer Anschauung, die sich dem bloßen Augeneindruck anzuvertrauen gelernt hat, mit anderen Wor­ ten, den Verzicht auf das Handgreifliche zugunsten der bloß optischen Er­ scheinung.«29 Mit Wölfflin lässt sich somit gegen McLuhan argumentieren. Doch wieso wird er dann mehrfach in The Gutenberg Galaxy und auch darü­ ber hinaus erwähnt und in McLuhans Konzept eingebettet? Darauf gibt es zwei Antworten. Zum einen folgt McLuhan damit konsequent der Mosaik­ methode, die nicht auf die Konsistenz übergreifender Narrative angewiesen ist. Mit ihr soll der fixe Standpunkt einzelner Autoren verlassen werden. Sich am theoretischen Repertoire eines Textes zu bedienen bedeutet nicht, des­ sen Standpunkt einzunehmen. Wölfflins theoretisches Repertoire bietet sich McLuhan geradezu offensiv an. Da ist von einer historischen Bedingtheit der Wahrnehmung die Rede,30 von einem sich ändernden »Inhalt der Welt«31 und von einem Sehschema, das »national gebrochen«32 erscheint. Bei all dem han­ delt es sich um Überzeugungen, die McLuhan teilt. Die für ihn wichtigste zi­ tiert er sogar in The Gutenberg Galaxy: »[Die] Wirkung [ist] das Entscheiden­ de, nicht die sinnenhaften Fakten[.]«33 Es lässt sich also durchaus eine Nähe zum Denken Wölfflins feststellen. Zum anderen kann nicht genug betont wer­ den, dass McLuhans Bezugnahme auf Wölfflin sich in diesen zwei Stellen fast gänzlich erschöpft und er vor allem als Stichwortgeber und Weiterleitung zu einer anderen Figur dient, die McLuhan immer wieder fasziniert: Adolf von Hildebrand und seine Publikation Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893), welche »zum ersten Mal die Störung der alltäglichen menschlichen Sin­ neswahrnehmung und die Rolle der Kunst bei deren Beseitigung erklärte.«34 Mit Hildebrands Beobachtungen, die er in seiner theoretischen Arbeit Ende des 19. Jahrhunderts niederschreibt, befände er sich in einem »great cultural current«, wie McLuhan in seinem Aufsatz von 1961 schreibt; einem Strom, in dem neben ihm noch Cézanne und Joseph Conrad mitschwimmen. Das Trio wird so von McLuhan als Partei für Taktilität und gegen den rein bildlichen Eindruck gesetzt.35 Es kann vermutet werden, dass McLuhan dezidiert erst bei

29 

Ebd., S. 247. Ebd., S. 12. 31  Ebd., S. 249. 32  Ebd., S. 254. 33 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 54. 34 Ebd. 35  McLuhan: »Inside the Five Sense Sensorium«, S. 57. 30 

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Wölfflin auf Hildebrand stieß. Dass dessen Bedeutung für McLuhan nicht zu unterschätzen ist, zeigt sich auch daran, dass er auch im Zitat eines anderen Kunsthistorikers erwähnt wird, dem McLuhan sich in The Gutenberg G ­ alaxy (1962) widmet. So heißt es in Ernst Gombrichs zwei Jahre zuvor erschiene­ ner Einleitung zu Art and Illusion: [Hildebrands] Buch [...], welches im Jahre 1893 erschien, hat eine ganze Generation grundlegend beeinflußt. Hildebrand wandte sich gegen die Ideale des wissenschaftlichen Naturalismus unter Berufung auf die Er­ kenntnisse der Wahrnehmungspsychologie: Wenn wir unsere visuellen Vorstellungen zu analysieren suchten, um sie in ihre Urbestandteile zu zerlegen, würden wir entdecken, daß sie aus Sinneseindrücken zusam­ mengesetzt sind, die sowohl von unserem Gesichtssinn als auch von Er­ innerungen an Tasten und Bewegung stammten.36

McLuhan zitiert Gombrich noch sehr viel ausführlicher und endet nicht, be­ vor Gombrich wiederum den Kunsthistoriker Bernard Berenson zitiert: »Der Maler kann seine Aufgabe nur erfüllen, wenn er den Eindrücken auf der Netz­ haut haptische Werte einverleibt.«37 Dass McLuhan beide, Wölfflin und Gombrich, auf ihre Hildebrand-Re­ zeption hin untersucht, ist nicht zufällig und ein latenter Hinweis auf Das Problem der Form in der bildenden Kunst, das in Hinsicht auf meine Fragestel­ lung erhellend ist. Hildebrand verfolgt dabei zwei Gedanken, die uns schon den gesamten Text über begleiten: Das Verhältnis von Tasten und Sehen und dessen kausale Verknüpfung mit der technischen Umwelt, kurzum: Diskur­ se, die für McLuhan höchste Priorität haben. Dabei fällt ersteres für Hilde­ brand selbstverständlich deutlich mehr ins Gewicht. Er ist sich dessen, was McLuhan »media environments« nennen wird, aber bewusst: »[Die] techni­ sche Entwicklung und die Fabrikarbeit der heutigen Zeit [haben] dazu ge­ führt, das Gefühl für die Art des Entstehens überhaupt zu schwächen und das Produkt nur an sich [...] aufzufassen.«38 Gerade deshalb muss der Tast­ sinn re-evaluiert werden. Tasten und Sehen sind für Hildebrand keine grund­

36  Ernst Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. 4. Aufl. Berlin: Phaidon, 2014, S. 13. 37  Zitiert nach: McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 108. Es sei darauf hingewiesen, dass die Übersetzung hier vom Gombrich-Text abweicht und zwar an nicht unwesentli­ cher Stelle: In der originalen Übersetzung ist von »taktil«, nicht von »haptisch« die Rede. 38  Adolf Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. London: Forgotten Books, 2015, S. 11.

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legend verschiedenen Wahrnehmungsmodi, beides betrifft die Funktion des Auges,39 man habe es mit ein und demselben Phänomen zu tun. Diese Auf­ fassung schlägt sich in McLuhans Äußerung zu den Gegenständen der Bilder Cézannes, die man eher in den Händen hält als sie zu sehen, nieder. Diese »Mischformen von Wahrnehmungsweisen«40 sind für McLuhan der Ort des Taktilen, denn der Tastsinn ist nicht »so sehr ein gesonderter Sinn«, er beste­ he »im Wechselspiel der Sinne selbst[.]«41 Dieses Wechselspiel wird für Hil­ debrand vordergründig durch Bewegung evoziert, die räumliche Wahrneh­ mung überhaupt erst ermöglicht. Klar ist, dass auch er den fixen Standpunkt aufgibt, »da wir der Natur nicht nur als Augengeschöpfe und festgebannt [...] gegenüber stehen[.]«42 Es leuchtet ein, dass Hildebrand spätestens hier für McLuhan ein eindeutiger Fürsprecher der Mosaikmethode sein muss. Bevor ich zu Godards Adieu au langage komme, will ich noch je eine Bemerkung zur Mosaik­methode und Hildebrand anbringen. McLuhans Mosaikbegriff ist ein weiter, der sowohl Literatur, Fernsehen, Malerei, wissenschaftliches Arbeiten und ein historisches Modell umfasst. Diese verschiedenen Bedeutungsfelder befinden sich in Abhängigkeit zuei­ nander. Unter Verwendung der Mosaikmethode schreibt McLuhan über die Mosaikmethode und wie sie von anderen Autoren zum Einsatz gebracht wird. Trotz all der diversen Verwendungsbereiche ist dennoch erkennbar, dass es vor allem die Kunst und ihre Geschichte sind, die McLuhan mit dem Mosaik in Verbindung bringt. Gerade die Taktilität, die grundlegend für das mosaische Modell ist, führt ihn immer wieder zu kunsttheoretischen Konzepten. Einige Jahre nach Veröffentlichung von The Gutenberg Galaxy hält McLuhan einen Vortrag in Illinois, der 1967 als Artikel unter dem Titel Environment: The Future of an Erosion in der Zeitschrift Perspecta publiziert wird. McLuhan bringt erneut das Mosaik in Anschlag, und zwar zum ersten Mal in Verbindung mit dem Film, wenn er über die Werke des niederländischen Regisseurs Stan Van­ derbeek schreibt: »[The] world of multi-screen projection is the world of the newspaper where umpteen news stories come at you without any connec­ tion and without connected themes. So, what the new film is doing is strip­ ping off the story line in favor of this mosaic pattern of simultaneous projec­

39  40 

Vgl. ebd., S. 10. Ebd., S. 20. 41 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 85. 42 Hildebrand: Problem der Form in der bildenden Kunst, S. 43.

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tions, which is very much in accordance with electric technology.«43 Neben der »multi-screen projection« ist es zuletzt eine Bemerkung Hildebrands zum ste­ reoskopischen Sehen, die im Folgenden relevant sein wird. Für ihn ist schon das stereoskopische Sehen ein Sehen »von zwei Standpunkten zugleich«,44 so dass das rein Visuelle selbst schon als Mischform von »Gesichtseindruck und Bewegungsvorgang«45 zu verstehen ist. Die einzige Möglichkeit, diese Misch­ form aufzuheben, liegt im Schließen eines Auges, das zur Wahrnehmung ei­ nes »Fernbildes«, wie er es nennt, führt. Wir werden im Folgenden sehen, wie die Arbeit Godards rund hundert Jahre nach der Rehabilitierung des Takti­ len all diese Fäden wieder aufnimmt, welche »media environments« dies be­ dingen und erfordern und welche damit einhergehenden, gesellschaftlichen Umbrüche Voraussetzung waren.

3 Adieu au langage Adieu au langage ist Jean-Luc Godards zweiter 3-D-Film. Etwa ein Jahr vorher drehte er den siebzehnminütigen Les trois Désastres, der als Vorarbeit und Bild­ reservoir für die spätere Arbeit angelegt ist. Anders als die eingangs erwähn­ ten Filme, die als Hinweis auf eine aktuelle Konjunktur oder Neubestimmung des Taktilen dienen, ist Godards Ansatz komplexerer Natur und radikaler. Da­ rum werde ich exemplarisch je eine Szene diskutieren, in der es inhaltlich um das Taktile geht, und eine, in der dieses durch die technische Umsetzung und misé-en-scène evoziert wird, um anschließend zu zeigen, dass diese klassi­ sche Trennung von Form und Inhalt aufgrund des Einsatzes der Mosaikme­ thode bei Godard ausgedient hat. Entscheidend ist dabei aber nicht die Frage, wie nah oder fern Godard den Konzepten McLuhans ist, sondern inwiefern er sie aufgrund des neuen »media environment« erweitern muss. Bei dem re­ volutionärem Medium, das für Godard die Sinne neu ordnet, handelt es sich um das Smartphone. Das Smartphone, mit dem Adieu au langage zum Teil gedreht ist, wird mehrfach auch vor der Kamera inszeniert, gezeigt und benutzt. In einer Sze­ 43 

Marshall McLuhan: »Environment: The Future of an Erosion«. In: Ders.: On the ­Nature of Media. Essays, 1952–1978. Berkeley: Gingko Press, 2016, S. 106–125, hier: S. 20. 44 Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst, S. 20. 45 Ebd.

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ne am Anfang kommt es zu einem kurzen Dialog über den Daumen. Zwischen Büchertischen, geschäftigen Händen und Handydisplays fragt jemand nach der Funktion des Daumens (le pouce) und es scheint, als läge die Antwort im Wort selbst: »Il pousse.« (»Er schiebt«). Darüber hinaus wird auch die Frage nach der Tätigkeit, die »le pouce« zuvor ausgeübt hat, mit nur einer kleinen sprachlichen Abweichung geklärt: »Il poussait«, was sich mit »er wuchs« über­ setzen lässt. Im Gleichklang von Substantiv und Verben scheint das Echo eines Prozesses nachzuhallen. Der Daumen hat sich durch das Smartphone weiter entwickelt und seine neue Funktion gefunden, die, so wird es von Godard na­ hegelegt, auf sprachlicher Ebene längst offensichtlich war, nämlich im Schie­ ben, Wischen und Tippen auf dem Display.46 Neben dem iPhone verwendet Godard eine von Fabrice Aragno konzipier­ te Kameraapparatur, die schon in Les Trois Désastres ins Bild gesetzt wurde und aus zwei Canon 5D Spiegelreflexkameras, die in ein Holzgerüst eingespannt werden, besteht. Die Konstruktion erhöht die Variabilität der Diskrepanz der zwei Linsen zueinander, die bei handelsüblichen 3-D-Kameras nicht über sechs Zentimeter reicht. Godards Einsatz der 3-D-Technik ist per se ein experimen­ teller, der darauf abzielt, die vom 3-D-Kino eingeführten technischen Kon­ ventionen zu unterlaufen. Das wird vor allem an einer Szene deutlich, die der für seine schonungslose Kritik bekannte, US-amerikanische Filmkritiker ­Armond White als »classical, revolutionary, and hilarious«47 bezeichnet. Zu sehen sind eine Frau und ein Mann, die am Ufer des Genfer Sees sitzen, bis von rechts eine dritte Person ins Bild tritt und die Protagonistin gewaltsam zur Seite zerrt. Daraufhin teilt sich das Bild. Allerdings nicht im Sinne eines Splitscreens. Während eine Kamera auf der vorherigen Einstellung verharrt, legt sich eine zweite über sie und überlagert den linearen Verlauf des Films. Diese zweite Einstellung folgt der aus dem Bild Gezerrten und zeigt die gereizte Auseinandersetzung zwischen den zwei Figuren, deren Streit sonst nur aus dem Off zu hören wäre. Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer

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Der Szene wird von Godard selbst ein Theoretiker zur Seite gestellt, dessen Name von einem Smartphonedisplay leuchtet: Jacques Ellul. Am Rande sei erwähnt, dass E ­ llul durchaus in Zusammenhang mit McLuhan gebracht werden kann. Nicht zuletzt, weil ­einer seiner Texte, Propaganda, McLuhan als Ausgangspunkt von Environment: The Future of an Erosion dient. 47  Armond White: Goodbye to Language: Godard Goes 3D. Auf: National Review, dort ­datiert am 30.10.2014, http://www.nationalreview.com/article/391512/goodbye-language-­ godard-goes-3d-armond-white, zul. abgeruf. am 22.11.2017.

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Simon Vagts

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nicht das unscharfe Überlagerungsbild sehen wollen, müssen sie sich entschei­ den, welcher der Einstellungen sie folgen und das linke oder das rechte Auge schließen. In den rund dreißig Sekunden, die die Szene anhält, nimmt Godard eine tektonische Verschiebung vor. Die 3-D-Technik wird nicht zur Erzeugung räumlicher Tiefe, der Suggestion von in den Zuschauerraum fliegenden Ge­ genstände oder ähnlichen Gepflogenheiten genutzt. Mit Hilfe der 3-D-Technik projiziert Godard zwei Standpunkte gleichzeitig und fordert die Zuschauen­ den dazu auf, einen davon einzunehmen und zwar in dem Bewusstsein, dass sie bei ihrer Entscheidung etwas verpassen werden. Dass beide Szenen über die Theorie McLuhan ausgedeutet werden kön­ nen, liegt nahe. Die Anpassung der Sinneswahrnehmung an die technische Umwelt wird in der Inanspruchnahme des Daumens durch das Smartphone figuriert. Die Aufgabe des laut McLuhan in der Renaissance etablierten Stand­ punkts wird im Verlassen des einheitlichen, filmischen Bildraumes und der Spaltung der visuellen Wahrnehmung sichtbar. Der Darstellung von McLu­ hans Mosaikbegriff folgend fragt sich natürlich, ob in Adieu au langage tatsäch­ lich ein neues »media environment« erkennbar wird, und ob es in Analogie zum historischen Einschnitt, den McLuhan vornimmt, seit Adieu au langage so etwas wie einen ›neuen Film‹ gibt. Letzteres lässt sich eindeutig mit nein beantworten. Das 3-D-Kino hat bisher nicht versucht, das in Godards Expe­ rimenten liegende Potential zu aktivieren, was verwundern mag, lässt sich doch ad hoc vorstellen, dass der Splitscreen hier diverse narrative Möglich­ keiten anbietet. Davon abgesehen scheint es, als ebbe die Welle des 3-D-Films schon wieder ab. Vielleicht tut sie das, weil der bisherige Umgang mit seiner Technik stark konventionalisiert und wenig experimentierfreudig ausfällt.48 Ich argumentiere wegen und nicht trotz einer ausgebliebenen Revolution des 3-D-Kinos, die einen wirklichen Umbruch verhindert, für Adieu au langage als Zäsur. Dass Godards Film, anders als die Malerei Cézannes, keine Re­ volution in der Filmgeschichte markiert, liegt ganz im Sinne der medialen Umwelt, der er sich verpflichtet und die ein als organisches Kontinuum ima­ giniertes Geschichtsverständnis unmöglich gemacht hat. Es gibt keine para­ digmatischen Umbrüche und Epochenschwellen mehr. Wenn Godard das ste­ reoskopische Sehen für einen kurzen Moment aufgibt und uns zum Schließen eines Auges zwingt, bringt er ein Dilemma zum Vorschein. Auf der einen Sei­

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An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass die drei zu Beginn genannten Filme ­allesamt zweidimensional sind.

Über die Taktilität im Digitalen

te wird der Film für die Entscheidung der Zuschauenden geöffnet. Sie sind frei, zwischen beiden Standpunkten zu wählen und diese nach Belieben zu wechseln. So wird der Film personalisiert. Auf der anderen Seite verunmög­ licht dieses optische Dispositiv die Wahrnehmung eines umfassenden Gan­ zen. Damit entlarvt Godard die vom Smartphone suggerierte Omnipräsenz von Welt, Information und Gegenwart als Phantasma und lässt die Synchro­ nisierung von Digitalem und Realem an ihre Grenze stoßen. ­ llan In The Mechanical Bride spricht McLuhan zum ersten Mal von Edgar A Poes Ein Sturz in den Malstrom, den er als emblematisch begreift für die Po­ sitionierung des Menschen in einer »Dynamik des Strudels«, welche durch »Strömungs- und Druckkräfte« ausgelöst werden, »die sich durch die mecha­ nischen Einwirkungen von Presse, Radio, Kino und Werbung um uns herum aufgebaut haben.«49 Blickt man auf das zeitgenössische Kino, bekommt man jedoch den Eindruck, dass es inzwischen die Seiten gewechselt hat und heu­ te eher versucht, den Strudel anzuhalten als weiter zu beschleunigen. So ist es nicht mehr die »pattern recognition«, die McLuhan als zentrales Element ausmachte, sondern der anhaltende Versuch des Kinos, uns mit geschlosse­ nen und übergreifenden Narrativen zu befeuern, die als Anker im digitalen Malstrom ausgeworfen werden. Darauf lassen die drei großen Moden des Ki­ nos der letzten Jahre schließen: Die Pre- und Sequelflut, die Wiederaufnahme oder Reinszenierung von bekannten Stoffen in Retro-Manier und vor allem die Errichtung von »Comic-Universen« suggerieren eine Einheit und Konti­ nuität von Erzählung, die uns im Digitalen längst abhanden gekommen ist. Godards Adieu au langage versteht sich als Gegenposition zu diesen Strategi­ en, indem hier die Singularität des digitalen Zeitalters und deren fatale Fol­ gen offen gelegt werden.

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Marshall McLuhan: Die mechanische Braut, S. 7.

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Beiträgerinnen und Beiträger JACQUES AUMONT est

universitaire et critique. Il a exercé principalement à l’université de Paris-3 et à l’E.H.E.S.S., occasionnellement en d’autres lieux (Nijmegen, Lisbonne, Iowa City, Madison, Beaux-Arts de Paris…). Son tra­ vail a porté surtout sur le cinéma comme art d’image, et plus largement, sur les puissances d’image qui s’y manifestent. Il est l’auteur de plus de vingt ou­ vrages, parmi lesquels L’Œil interminable (1989–2007) ; Le Montreur d’ombre (2012) ; Limites de la fiction (2014) ; L’Attrait de l’oubli (2017). ARND BEISE,

Studium der Älteren und Neueren deutschsprachigen Litera­ tur, Europäischen Kunstgeschichte, Philosophie und Grafik & Malerei an der ­Philipps-­Universität Marburg, Promotion 1998, Habilitation 2007. Nach Ver­ tretungen in Magdeburg und Paderborn seit 2011 Professor für Germanisti­ sche Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte an der Universität Frei­ burg (Schweiz). Publikationen zur Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Autor der Monografie Peter Weiss (2. A. 2015), Mitherausgeber des Peter Weiss Jahrbuchs für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert; Vorsitzender der Internationalen Peter Weiss-­ Gesellschaft e.V. SYLVAIN BRIENS est

professeur de littérature et histoire culturelle nordique à Sorbonne Université. Après une carrière d’ingénieur dans l’industrie des télé­ communications et aux Nations Unies, il a enseigné les langues, littératures et civilisation scandinaves à l’Université de Strasbourg puis à l’Université Paris-­

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Sorbonne. Ses recherches portent principalement sur les littératures scandi­ naves modernes et contemporaines. Il a notamment publié : Poétocratie. Les écrivains à l’avant-garde du modèle suédois. Paris, Ithaque, 2016, 386 p. ; Paris, laboratoire de la littérature scandinave moderne. 1880–1905. Paris, L‹Harmattan (collection Histoire de Paris), 2010 ; Lyriska ingenjörer. Tåg och telefon i svensk litteratur. Linköping, LiU-tryck (Tema Kultur och samhälle), 2009 ; Technique et littérature. Train, téléphone et génie littéraire suédois. Suivi d’une anthologie bilingue de la poésie suédoise du train et du téléphone. Paris, L’Harmattan, 2004. NADJA COHEN est

chercheuse post-doctorale à la KU Leuven et a consacré sa thèse aux mutations de la poésie des années 1910 et 1920 en lien avec la mo­ dernité cinématographique. Elle travaille à présent dans une optique plus large sur les rapports entre littérature et cinéma en s’intéressant aux hybridations génériques (cinépoèmes, scénarios non tournés, novellisations), à la figuration de l’écrivain au cinéma (revue Captures, vol. 2, n°1, juin 2017) et à la notion de poésie cinématographique. Elle est l’auteur de Les Poètes modernes et le cinéma : 1910–1930 (2013) ; Fondane et le cinéma (2016) ; et a co-dirigé Petit musée d’histoire littéraire (2015) et Poésie et médias xx–xxie siècle (2012). SABINE HAUPT (geb.

1959 in Gießen) lebt und arbeitet als Literaturwissen­ schaftlerin, Autorin und Journalistin seit 1980 in der französischen Schweiz, sie hat zwei Töchter und unterrichtet als Professorin für Allgemeine und Ver­ gleichende Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg (CH). Neben wissenschaftlichen und essayistischen Arbeiten zur europäischen Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts publiziert sie auch Kulturbeiträge für Presse, Rundfunk und Fernsehen. Zuletzt erschien ihr Roman: Der blaue Faden. Pariser Dunkelziffern. Biel 2018. Vollständiges Publikationsverzeichnis auf ihrer Homepage: http://www.sabinehaupt.ch. THOMAS HUNKELER est professeur de littérature française et de littérature com­

parée à l’Université de Fribourg (Suisse) et président de l’Association suisse de littérature générale et comparée. Spécialiste des avant-gardes européennes et du théâtre moderne et contemporain, il a publié, entre autres, Echos de l’ego dans l’œuvre de Samuel Beckett (L’Harmattan, 1997) ; Place au public. Les spectateurs du théâtre contemporain (MetisPresses, 2008) ; Paradoxes de l’avant-garde européenne. La modernité artistique à l’épreuve de sa nationalisation (Garnier, 2014) et Paris et le nationalisme des avant-gardes (Hermann, 2018).

Beiträgerinnen und Beiträger KARIN JANKER,

geboren 1986 in Regensburg, wurde im Frühjahr 2018 an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer literaturwissenschaftli­ chen Arbeit mit dem Titel Der Traum vom Totalen Kino. Literarische Visionen der Kinematographie in Romanistik promoviert. Betreut wurde die Disserta­ tion von Prof. Dr. Barbara Vinken und Prof. Dr. Stephan Kammer. Inzwischen arbeitet sie als Redakteurin im Ressort Meinung der Süddeutschen Zeitung in München, wo sie sich neben Literatur und Film auch mit politischen Themen beschäftigt. Außerdem lehrt sie Gender Studies sowie Journalistische Praxis an der Universität Eichstätt-Ingolstadt. EVA KUHN forscht und lehrt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leupha­

na Universität Lüneburg (Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft). Studium der Kunstgeschichte, Filmwissenschaften und Philosophie an den Universitäten Basel, Zürich und Berlin. 2008 bis 2017 Assistentin am Lehr­ stuhl für neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel und Mitarbeiterin bei eikones NFS ›Bildkritik‹. 2011/12 Forschungsaufenthalt in Paris mit einem Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds. Promotion mit der Arbeit: ­leben – filmen. Jonas Mekas’ filmisches Lebens-Werk (Publikation in Vorberei­ tung). Das aktuelle Forschungsprojekt untersucht (audio-)visuelle Repräsen­ tationen von reproduktiver Arbeit in der Kunst- und Filmgeschichte. FABIAN LAMPART ist seit 2016 Professor für Neuere deutsche Literatur (19.– 21. Jahrhundert) am Institut für Germanistik der Universität Potsdam und hat zuvor Professuren für Neuere deutsche sowie für Allgemeine und Verglei­ chende Literaturwissenschaft (Mainz, Freiburg, Heidelberg) vertreten. Ar­ beitsschwerpunkte: Lyriktheorie und Lyrikgeschichte; Literatur und Wissen, Raum und Zeit in der Literatur; Literaturgeographie; Intermedialität. Veröf­ fentlichungen (Auswahl): Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni (2002); Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960 (2013). OLIVER RUF (geb. 1978 in Saarbrücken) ist seit 2012 Professor für Design- und

Medienwissenschaft mit den Schwerpunkten Medienästhetik, Designtheo­ rie und Gestaltungskultur an der Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen. Dort leitet er als Studiendekan den Master-of-Arts-Studiengang Design Interaktiver Medien / Interactive Media Design. Zudem hat er Gastpro­ fessuren und -dozenturen für Theorie und Geschichte der Medien und Ge­ staltungen, Ästhetik, Angewandte Kultur-, Literatur- und Kommunikations­

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wissenschaft sowie Journalistik u. a. an der Universität der Künste Berlin und der Zürcher Hochschule der Künste wahrgenommen. Er ist Herausgeber der Schriftenreihen ›Medien- und Gestaltungsästhetik‹ und ›Mikrographi­ en / Mikrokosmen‹. Seit 1997 publiziert er neben Tätigkeiten als Kommuni­ kationsdesigner und Medienpraktiker kritische und publizistische Arbeiten in den deutschsprachigen Feuilletons und ist als Vermittler bzw. Kulturma­ nager tätig. Er erhielt verschiedene Lehrpreise und Auszeichnungen wie den Essay-Preis der Zeitschrift MERKUR oder den Preis des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Jahr der Geisteswissenschaften und wurde in den Deutschen Werkbund berufen. Jüngere Buchpublikationen: Handbuch Designwissenschaft (Hg., i.E.); Handbuch der Kriminalliteratur (Mithg., 2018); Storytelling für Designer (2018); Smartphone-Ästhetik (Hg., 2018); Wie aus Theorie Praxis wird (Mithg., 2016); Kreatives Schreiben. Eine Einführung (2016); Platons Phaidros (Hg., 2015); Die Hand. Eine Medienästhetik (2014); Wischen und Schreiben (2014). SIMON VAGTS ist

als Assistent für Kunsttheorie am Kunsthistorischen Semi­ nar der Universität Basel tätig und war 2014–2017 Mitglied des Graduierten­ kollegs des NFS Bildkritik eikones. In seinem Dissertationsprojekt befasst er sich mit medialen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Bedingungen des Bildes im Werk von Jean-Luc Godard. Er studierte Kunstgeschichte sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Seine For­ schungsgebiete umfassen Medienarchäologie, visuelle Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts, das Verhältnis von Populärkultur und Geistesgeschichte so­ wie aktuelle Diskurse afroamerikanischer Kunst.