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German Pages 210 Year 1995
GOTTFRIED DIETZE
Problematik der Menschenrechte
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 87
Problematik der Menschenrechte Von
Gottfried Dietze
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Dietze, Gottfried: Problematik der Menschenrechte I von Gottfried Dietze. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 87) ISBN 3-428-08421-7 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08421-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Dem Andenken meiner Mutter
Und dann, was wissen wir denn, und wie weit reichen wir denn mit all unserem Witze! Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten. Die Handlungen des Universums zu wissen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkte ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge. Goethe zu Eckermann, 15. Oktober 1825
Vorwort Menschenrechte bewegen und erregen die Menschheit. illre Problematik ist unerschöpflich, sind sie doch von verschiedenen Menschen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aufgefaßt worden. Wohin ihr Drang führen kann, sollte immer wieder gefragt werden. Wer sich mit Menschenrechten befaßt, erfährt immer mehr, wie schwer sie zu fassen sind infolge all ihrer Auffassungen. Immer weniger aber erscheint ihm das unfaßbar. Mein ein halbes Jahrhundert währendes Bemühen um diese Rechte und deren rechtes Maß überzeugte mich, daß Versuche, sie klärend zu fördern, wegen der Einfältigkeit und Vielfalt alles Menschlichen und Weltlichen wohl nie zum Ziele kommen werden. Sorgen sind geblieben um den Menschenrechtskomplex, der immer größer geworden ist und dessen Problematik stetig offensichtlicher wird. Die umfangreiche Literatur zeigt, daß Menschenrechte von vielen Seiten her gesichtet und beurteilt wurden. Das entspricht ganz ihrem Wesen, denn sie betonen jeweils gerade das, was sie dem allumfassenden Menschenrecht den Umständen entsprechend entnehmen. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch weiteren Klärens. Sie soll wachsendes, oft nicht wachsames Begehren maßvoller machen. Zu einer Verklärung von Menschenrechten soll sie nicht führen. Dazu wissen wir noch zu wenig. Wir leben auch heute, wie zur Zeit Kants, in einem Zeitalter der Aufklärung, nicht aber schon in einem aufgeklärten. Es geht ihr lediglich um einen Beitrag zu größerer Klarheit im Dienste der Wahrheit, um die man trotz aller Beschönigungen und Verbrämungen nun einmal nicht herumkommen wird. Sie versucht zum Eigentlichen und Reinen des Menschenrechts vorzudringen, ohne dessen Versuchungen zu erliegen. Die folgenden Essays zeigen, wie ich Menschenrechte aus verschiedenen Anlässen in den letzten zehn Jahren sah. Da es vom Menschenrechtlichen her erforderlich erscheint, mehrere Sichten aufzuzeigen, wurde es unterlassen, sie in ein System zu zwängen. Sie können für sich allein gelesen werden, aber auch hintereinander. Das bringt Wiederholungen mit sich. Aber bei so wichtigen Rechten wie den Menschenrechten dürften Wiederholungen dessen, was einem Autor wichtig erscheint, gerechtfertigt sein. Das Geschriebene wurde von Zweifeln geleitet und begleitet. Es soll Zweifel hervorrufen. Denn unermeßlich und unerbittlich ist die Problematik der Menschenrechte, und immer muß man wagen, zu fragen. 29. Oktober 1995
Gottfried Dietze
Inhalt I. Menschenrecht und Menschenrechte
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II. Irrnis und Wirrnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Nutzung und Ausnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Entpflichtung und Verpflichtung . . . . .. . . . . ... .. . ... . .. . .. . ... . ... ... .... .. . . . . . V. Menschenrechte und Menschenrecht .....
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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
I. Menschenrecht und Menschenrechte Menschenrechte und Menschenrecht sind nicht notwendig identisch, aber die Problematik der Menschenrechte folgt notwendigerweise aus der Problematik des Menschenrechts. Ein Gleichsetzen der Menschenrechte mit dem Menschenrecht erscheint schon von der Sprache her problematisch, hieße es doch die Identität von Plural und Singular behaupten. Unter Menschenrechten kann man nämlich einmal einzelne, nebeneinander stehende Rechte wie Glaubensfreiheit und Pressefreiheit verstehen. Menschenrechte erscheinen dann pluralistisch. Sodann ist es möglich, in ihnen die Summe solcher Rechte zu erblicken, die infolge ihrer Summierung als Einheit Menschenrecht erscheint, also singularistisch. Folgendes Beispiel aus einer Rechtsordnung macht das klar. Formulierungen einzelner Menschenrechte, getrennt für sich gesehen, demonstrieren den pluralistischen Begriff. Man kann nur von Menschenrechten, nicht aber vom Menschenrecht sprechen. Sieht man diese Rechte dagegen zusammen als etwas Zusammenhängendes, gewinnt man den Singularistischen Begriff, wie er in dem Wort "Grundrechtskatalog" oder "Menschenrechtskatalog" (man beachte die Einzahl) zutage tritt. Der pluralistische wie auch der Singularistische Begriff der Menschenrechte bezeichnen hier etwas Konkretes. Man kann versucht sein, innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung dann beide Begriffe gleichzusetzen, also in den formulierten Menschenrechten das Menschenrecht schlechthin zu erblicken und zu der Gleichung "Menschenrechte = Menschenrecht" gelangen. Da aber diese Gleichung lediglich auf den konkreten Rechten einer Rechtsordnung beruht, genügt sie nicht, um der problematischeren Verschiedenheit von Menschenrechten und Menschenrecht auf den Grund zu gehen und die Identität beider zu leugnen. Ein Leugnen dieser Identität erscheint jedoch möglich, wenn bestimmte Menschenrechte von einem eher vagen, unbestimmten und noch immer unbestimmbaren Menschenrecht unterschieden werden. Eine solche Unterscheidung aber drängt sich immer mehr auf angesichts der allgemein wachsenden Betonung von Menschenrechten, sei es durch Erweiterungen von Grundrechtskatalogen oder durch andere Methoden, man denke nur an die Verbreitung mehr oder weniger sensationeller Nachrichten durch die Medien. Immer wieder hört man heute auf die vielfältigste Art von den vielfältigsten Menschenrechten, ob diese nun geachtet oder mißachtet, gebraucht oder mißbraucht oder sonstwie behandelt oder mißhandelt werden. Dieses Neben- und Durcheinander legt den Gedanken nahe, daß bekannte Menschenrechte, ob sie nun pluralistisch oder als Grundrechtskataloge singulari-
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I. Menschenrecht und Menschenrechte
stisch erscheinen, nichts als partikuläre Teilkonkretisierungen eines Menschenrechts sind, das als Quell derselben angesehen werden kann. Dieses aber unterscheidet sich wesentlich von dem bereits beschriebenen Singularistischen Menschenrechtsbegriff im Sinne eines Grundrechtskatalogs, der lediglich die Summe bekannter Menschenrechte darstellt. Es stellt nicht, wie jener, das Menschenrecht als eine solche Summe dar, als etwas bereits Gefundenes, sondern als seinem Umfang nach unbekannten und wohl unbegrenzten und vielleicht unbegrenzbaren, schier unerschöpflichen Born verschiedenster Menschenrechte, die sich als Teilerscheinungen dieses Gesamtbegriffs Menschenrecht entwickelt haben und noch entwickeln. Dieser Gesamtbegriff aber ist ein Abstraktum, aus dem sich konkrete Menschenrechte wie Glaubensfreiheit und Pressefreiheit ableiten lassen, aus dem sie sich herauskristallisiert haben und dies auch weiterhin tun werden. Eine solche Ansicht über das Entstehen spezifischer, einklagbarer Menschenrechte wird unterstützt von der Behauptung Georg Jellineks, daß diese Rechte allmählich aufgrund von Unterdrückungen verschiedenster Art von der öffentlichen Gewalt anerkannt wurden. 1 In diesem Entwicklungsprozeß wurden verschiedene Teile des Menschenrechts aus dessen Born nacheinander herausgegriffen. Man denkt dabei an die Worte Stauffachers im Tell (li, 2): Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last- greift er Hinaus getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ewgen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbstDer alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben Der Güter höchstes dürfen wir verteidgen Gegen Gewalt - . . .
Schillers Ansicht vom Himmel als Hort des Menschenrechts, aus dem Menschenrechte auf die Erde geholt werden können, läßt uns an Worte von Oliver Wendeli Holmes denken. Der meinte, das Menschenrechte schützende Comrnon law sei keine "brooding omnipresence in the sky. " 2 Dabei darf eines nicht überseI Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, 7. Aufl., mit Vorwort von Walter Jellinek, Leipzig 1919,46 ff.
z "The common law is not a brooding omnipresence in the sky, but the articulate voice of some sovereign or quasi sovereign that can be identified; although some decisions with which I have disagreed seem to me to have forgotten the fact. It always is the Iaw of some state . .. " Dissentin Southem Pacific Co. v. Jensen, 244 U.S. 205, 222 (1916). Holmes war hier der Ansicht, es gebe kein Common law für die gesamten Vereinigten Staaten. Vgl. sein The Common Law, Boston 1881. In der 1963 in Cambridge, Mass., erschienenen Auflage
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hen werden: der schwärmerische Dichter spricht offenbar vom Himmel im Sinne des nur Gutes bringenden englischen heaven, der realistische Vertreter der soziologischen Jurisprudenz aus dem nüchternen Neuengland dagegen vom sky. Das aber ist bloß der Himmel der Natur, der alles Mögliche bergen und verbergen kann, Heil und Unheil, Dunkel und Helle, Wohltuendes und Gefährliches, Böses und Gutes und viel anderes mehr, sei es nun wünschenswert oder nicht. Das alles kann er hervorbringen in seiner brooding Allgegenwart, wobei zu beachten ist, daß diesem Brüten auch der Beigeschmack des Nachdenklichen und Launischen anhaftet, des Vorwurfsvollen wie in dem Ausdruck "to brood over one's wrongs"- sich Gedanken darüber zu machen, was man falsch gemacht hat, was schlecht an einem ist. Holmes deutet hier voller Skepsis auf ein zwar irdisches, dennoch aber geheimnisvolles, heimliches Heim Menschenrecht als Quell von Menschenrechten, das diese in unheimlich erscheinender, immerwährender Folge hervorbringen kann. Dabei gibt es weder quantitative noch qualitative Grenzen. Alles geschieht, wie es menschlichem und allzumenschlichem Verlangen und Verfangen entspricht. Qualitativ Relatives aber deutet auf qualitative Irrelevanz. So erscheint das Menschenrecht als Quell spezifischer Menschenrechte als wertfrei, weil es von allen Werten mit Ausnahme menschenrechtlicher frei ist. Es erscheint rein nicht im Sinne des Guten, Schönen oder sonst als angesehen und wünschenswert Erachteten, sondern gerade aus dem gegenteiligen Grund. Es ist rein, weil es von diesen Dingen bereinigt und befreit ist - mit Ausnahme menschenrechtlicher. Auf die allein kommt es an. Sie bilden seine Essenz. Man kann sich über den Charakter dieser bloßen Essenz streiten, wie man sich ja auch gestritten hat durch die Jahrhunderte hindurch über seine partiellen konkreten Realisierungen, die im Laufe der Zeit als bestimmte Menschenrechte entdeckt und aus seinem Born herausgegriffen und herauskristallisiert wurden. Hier kann die Tatsache, daß reines Menschenrecht freies Menschenrecht ist, einen Hinweis geben. Wenn nämlich reines Menschenrecht freies Menschenrecht ist, dürfte vornehmlich Freiheit den menschenrechtliehen Inhalt des reinen Menschenrechts darstellen. Dafür spricht auch die uns bekannteste Entwicklung der Anerkennung von Menschenrechten, die, weil sie zuerst kam, als grundlegend angesehen werden kann. Die aber hatte den Kampf um Freiheitsrechte zum Gegenstand. Der Kampf englischer Barone um ihre Freiheiten endete 1215 mit der Magna Carta Libertatum, der Großen Charter der Freiheiten. Ähnlich wurde der Kampf des Parlaments gegen betont Mark DeWolfe Howe in seiner Einleitung, xxv f., die in diesem Buch ersichtliche Sympathie für die Rechte der einzelnen und den Einfluß Darwins auf Holmes mit Hinweis insbes. auf zwei Stellen auf den Seiten 36 und 38: "The first requirement of a sound body of law is, that it should correspond with the actual feelings and demands of the community, whether right or wrong ... it seems to me clear that the ultima ratio, not only regnum, but of private persons, is force, and that at the bottarn of allprivate relations, however tempered by sympathy and all the social feelings, is a justifiable self-preference."
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I. Menschenrecht und Menschenrechte
das göttliche Recht der Stuarts für die Freiheitsrechte der Engländer geführt. Sir Edward Coke, ihr Sprecher, war für seine Wiederbelebung der Magna Carta bekannt. Sowohl die Petition of Right (1628) und die englische Bill of Rights von 1689, Marksteine in der Geschichte der Menschenrechte, stellen Freiheitsrechte in den Vordergrund in einem Land, das sich einen weitreichenden Schutz dieser Rechte traditionell zugute hielt und in dem man stolz darauf war, daß zur Zeit seiner größten Machtentfaltung, im 19. Jahrhundert, dieses Jahrhundert sowohl als das englische als auch als das liberale bekannt wurde. Seine bekannten Philosophen und Kommentatoren, Männer wie Bracton, Coke, Locke, Blackstone, sie alle hielten die Freiheiten der Engländer hoch, und der hervorragende französische Beobachter Englands, Montesquieu, sah in England das Land der Freiheit schlechthin.3 So kann kaum Zweifel bestehen, daß man in England unter Menschenrechten vor allem Freiheitsrechte verstand, die lange unter dem Ausdruck "rights of Englishmen" bekannt waren -jedenfalls bis zur Amerikanischen Revolution. Noch bis zu ihrer Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 fochten die amerikanischen Kolonien für diese Rechte zur Förderung ihrer freiheitlichen Begehren. Mit der Erklärung der Unabhängigkeit von England konnte man diesen Ausdruck dann aber schlecht beibehalten. Man sprach nun von den Rechten der Menschen, und dieser Ausdruck wurde nicht allein von Thomas Paine als Titel einer seiner Schriften benutzt. Er war weit verbreitet. Immer häufiger sprach man in Amerika von Menschenrechten, besonders aber seit dem Zweiten Weltkrieg. Und stets sah man in ihnen hauptsächlich Freiheitsrechte. Die amerikanische Nationalhymne besingt "the land of the free", und die Amerikaner würdigen es, im Land der Freien zu leben. Ihre Propagierung der Menschenrechte geschieht vor allem im Namen der Freiheit und zu deren Ausdehnung nicht nur im eigenen Land, sondern auf der ganzen Welt, für die das Amerikanische Jahrhundert proklamiert wurde. 3 Eine ähnliche Bewertung des Common law als Schutz der Menschenrechte findet sich in Roscoe Pound, The Spirit of the Common Law, Boston 1921. Gegen Ende des zentral plazierten Kapitels "The Rights of Englishmen and the Rights of Man" heißt es: "Moreover, even if we grant that ultimately all interests, individual and public, are secured and maintained because of a social interest in so doing, this does not mean that individual interests, the details of which the last two centuries worked out so thoroughly, are to be ignored. On the contrary the chiefest of social interests is the moral and sociallife of the individual; and thus individual interests become largely identical with a social interest. Just a in the seventeenth century an undue insistence upon public interests, thought of as the interests of the sovereign, defeated the moral and sociallife of the individual and required the assertion of individual interests in bills of rights and declarations of rights, there is like danger now that certain social interests will be unduly emphasized and that govemmental materialism will become an end rather than a means and defeat the real purpose of the legal order. Although we think socially, we must still think of individual interests, and ofthat geatest of all claims which a human being may make, the claim to assert his individuality, to exercise freely the will and the reason which God has given him. We must emphasize the social interest in the moral and social life of the individual. But we must remernher that it is the life of a free-willing being." (S. 110 f.) Vgl. H. R. Hahlo, Here Lies the Common Law: Rest in Peace, in Modem Law Review, XXX (1967), 241.
I. Menschenrecht und Menschenrechte
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Beschäftigt man sich mit der Entwicklung der Menschenrechte in anderen Nationen, kommt man bald zu dem Ergebnis, daß auch dort Freiheitsrechte im Vordergrund standen, die hervorragendes Element dieser Entwicklung sind.4 Das entspricht den Gedanken Hegels, der in der Einleitung seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Idee der Freiheit als den absoluten Selbstzweck der Weltgeschichte herausstellte und in der ein ständiges Verlangen nach mehr Freiheit sah.5 In dieser Idee aber kann die abstrakte Freiheit als Quell aller spezifischen Freiheitsrechte gesehen werden, mit deren anhaltendem Verlangen die Menschen sich zunehmend emanzipierten und so der Verwirklichung dieser abstrakten Freiheit als Urgrund all ihrer teilweisen Realisierungen immer näher rückten. Auch Heidegger könnte zur Unterstützung der Ansicht, die Freiheit sei hervorragendes Element des Menschenrechts, herangezogen werden. Gegen Ende seiner Abhandlung über das Wesen des Grundes ist zu lesen: "Die Freiheit als Transzendenz ist ... nicht nur eine eigene ,Art' von Grund, sondern der Ursprung von Grund überhaupt ... Die Freiheit ist der Grund des Grundes." Hegel spricht von der Idee der Freiheit, Heidegger von der Freiheit als Transzendenz. Auch er sieht in der abstrakten Freiheit den Quell all ihrer teilweisen Realisierungen als konkrete Freiheitsrechte. Angesichts solcher Betonungen dürften Menschenrechte ursprünglich vor allem Freiheitsrechte gewesen sein auch aus philosophischer Sicht und nicht nur aus der Perspektive historischer Entwicklung. Daraus kann gefolgert werden, daß die allgemeine, abstrakte Freiheit als Quell bestimmter Freiheitsrechte hauptsächlicher Inhalt des Abstraktums Menschenrecht als Born spezifischer Menschenrechte ist. Die Freiheit erscheint so (ob als Idee, ob als Transzendenz) als wesentliche Essenz des Menschenrechts (sei es als Idee, sei es als Transzendenz). Da das Abstraktum Menschenrecht nun, wie gezeigt, rein ist, dürfte es in großem Umfang hauptsächlich der reinen Freiheit entsprechen, von ethischen, moralischen, sittlichen usf. 4 Ich folge hier F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, 5: "Mein Hauptaugenmerk richtet sich nicht auf die besonderen Einrichtungen oder die Politik der Vereinigten Staaten oder Großbritanniens, sondern auf die Prinzipien, die diese Länder auf den Grundlagen entwickelten, die von den alten Griechen, den Italienern der Frührenaissance und den Holländern gelegt wurden und zu denen später die Franzosen und die Deutschen wichtige Beiträge geleistet haben." Seiner Meinung nach versuchten sie alle, vor allem durch das Ideal der Freiheit dem des Menschenrechts näherzukommen. s Man liest: "Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit - ein Fortschritt, den wir in seiner Nothwendigkeit zu erkennen haben . .. der Endzweck der Welt, das Bewußtseyn des Geistes von seiner Freiheit, und ebendamit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt ... Dieser Endzweck ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden ... Von der Idee der Freiheit, als der Natur des Geistes und dem absoluten Endzweck der Geschichte ist die Rede gewesen .. . Die Weltgeschichte stellt nun den Stufengang der Entwicklung des Princips, dessen Gehalt das Bewußtseyn der Freiheit ist, dar . .. Die Weltgeschichte stellt, wie früher bestimmt worden ist, die Entwicklung des Bewußtseyns, des Geistes von seiner Freiheit, und der von solchem Bewußtseyn hervorgebrachten Verwirklichung dar." Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1949, XI, 46 f., 52, 92, 101.
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I. Menschenrecht und Menschenrechte
Qualitäten bereinigt sein und nur menschenrechtliche anerkennen. Man gelangt so zu der Formel "reines Menschenrecht = reines Freiheitsrecht" oder ,,reines Menschenrecht= reine Freiheit" oder kurz "Menschenrecht= Freiheit", denn wenn etwas nicht qualifiziert ist, kann es nur rein sein. Da nun aber Freiheit weniger zum Verharren als zum Fortschreiten neigt, eher dynamisch als statisch ist und der Mensch, auf dem Rad des Ixion, sich mit partiellen Realisierungen der Freiheit bisher nicht zufrieden gegeben hat und nicht zu erwarten ist, daß er das in Zukunft tun wird, kommt man zu einer weiteren Formel. Die heißt "Verlangen nach Menschenrechten = Freiheitsdrang", oder, bezeichnet man den Freiheitsdrang als Liberalismus, "Verlangen nach Menschenrechten= Liberalismus". Beide Formeln sind voller Problematik. Ich wende mich zunächst der ersten zu und will die Problematik der Freiheit untersuchen, die ja nach dem Gesagten einen bedeutenden Bestandteil des Menschenrechts darstellt. Dabei will ich mich auf den Aspekt der Freiheit beschränken, der in dem Kampf um Freiheitsrechte wohl zuerst kam, nämlich die Freiheit, die nach Georg Jellinek "den vom Staatsgebot freien Zustand des Individuums bezeichnet. "6 Auch hier also soll erstes als Erstes im Sinne des wohl Wichtigsten gesehen werden. Der Hungrige freut sich, wenn er etwas zu essen bekommt; der Arme, wenn er zu Reichtum gelangt; der Kranke, wenn er genest. Bei allen ist die Freude aber kaum so groß wie bei denen, die von als unrechtmäßig empfundenen Bedrückungen befreit werden. Das liegt nicht allein daran, daß Hungrige, Arme und Kranke ihren Zustand oft als weniger ungerecht empfinden als die ihrer Freiheit ungerecht Beraubten. Nietzsche hat ja sogar die Krankheit als etwas Nützliches empfunden, ebenso Thomas Mann. Die Begeisterung über Befreiungen von Despotien folgt auch aus der beschriebenen hervorragenden Bedeutung der Freiheit. Rousseau dürfte das gesehen haben, als er sein bekanntestes Werk mit dem aufrufenden und beklagenden Satz begann, der Mensch sei frei geboren, doch überall in Ketten. Beethoven sah das vielleicht auch, als er die ergreifende Befreiungsszene im Fide6 "Religionszwang und Zensur haben die Vorstellung der Religions- und Pressefreiheit entstehen lassen, durch polizeiliche Eingriffe und Verbote sind Hausrecht, Briefgeheimnis, Vereins- und Versammlungsfreiheit gefordert worden. Nähere Überlegung ergibt leicht, daß hier nicht einzelne Rechte vorliegen, sondern nur besonders anerkannte Richtungen der individuellen Freiheit, die aber in sich einheitlich ist und den vom Staatsgebot freien Zustand des Individuums bezeichnet." Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., hrsg. von Walter Jellinek, Berlin 1914, 419. 1844 hieß es im Abschnitt "Die Eigenheit" in Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum: "Freiheit wollt Ihr Alle, Ihr wollt die Freiheit. Warum schachert Ihr denn um ein Mehr oder Weniger? Die Freiheit kann nur die ganze Freiheit sein; ein Stück Freiheit ist nicht die Freiheit. Ihr verzweifelt daran, daß die ganze Freiheit, die Freiheit von Allem, zu gewinnen sei, ja Ihr haltet's für Wahnsinn,- sie auch nur zu wünschen? - Nun, so laßt ab, dem Phantome nachzujagen, und verwendet Eure Mühe auf etwas Besseres, als auf das - Unerreichbare ... Was habt Ihr denn, wenn Ihr die Freiheit habt, nämlich - denn von Euren brockenweisen Freiheitsstückehen will ich hier nicht reden - die vollkommene Freiheit? Dann seid Ihr Alles, Alles los, was Euch geniert, und es gäbe wohl nichts, was Euch nicht einmal im Leben genierte und unbequem fiele."
I. Menschenrecht und Menschenrechte
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lio schuf, und die war es wohl vor allem, die gerührte Wiener entblößten Hauptes der Wiedereröffnung ihrer Staatsoper beiwohnen ließ. Wie mächtig Befreiung Begeisterung hervorrufen kann, zeigte sich in Berlin nach dem Fall der Mauer, als Leonard Bernstein entgegen allem Brauch in der Ode an die Freude "Freiheit, schöner Götterfunken" singen ließ. Nun ist es verständlich, im Rausch der Befreiung eher die Freiheit zu besingen als die Freude, zumal man damit den Grund seiner Freude betont, ihr so auf den Grund geht und als das ihr Wesentliche hervorhebt. Ähnlich ist es ja auch bei der Erringung von Menschenrechten gewesen. War da zum Beispiel ein Recht wie die Glaubensfreiheit, die man nach hartem Kampf gewann, so wurde sie doch bei aller Freude lediglich nüchtern verbrieft als Freiheitsrecht. Und so war es auch bei anderen Menschenrechten. Grundrechtskataloge, Bills of Rights, begnügen sich mit strikter Formulierung von Freiheiten, ohne ihrer Freude darüber Ausdruck zu verleihen. Andererseits können solch nüchterne Anerkennungsurkunden auf etwas Wichtiges hinweisen, nämlich darauf, daß Menschenrechte und die Freiheiten, die sie formulieren, nicht allein in freiheitlicher Begeisterung gesehen werden sollten und Freiheit nicht nur Freude schafft. Das wurde nicht nur von Thomas Hobbes gesehen, als er den zur Anarchie tendierenden Freiheiten seiner Landsleute, die in den Revolutionswirren zutage getreten waren, entgegentrat. Auch ein Blackstone, der das aus der Glorreichen Revolution hervorgegangene Regierungssystem mit seinen "checks and balances", die Montesquieu so beeindruckten, wohlwollend kommentierte, weil der König nun kein Unrecht mehr tun konnte infolge seiner Machtlosigkeit, wandte sich gegen allzu weit gehende Freiheiten der Bürger. Er kritisierte die "natürliche Freiheit", die "eigentlich in der Macht besteht, zu tun, was einem beliebt, ohne jegliche Beschränkung und Kontrolle mit Ausnahme der Gesetze der Natur."7 Vielleicht ist auch das Suchen Montesquieus, des bekanntesten ausländischen Beobachters der englischen Verfassung, nach der Freiheit daraus zu erklären, daß er auch deren Gefahren erkannte und schließlich mit der einschränkenden Definition herauskam, Freiheit sei das, was die Gesetze erlaubten. 8 Auch in Deutschland hatten Liberale ihre Zweifel über die Freiheit. In dem Lande, in dem während des heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation der Gedanke der Libertät eine ähnlich große Rolle spielte wie später die Reservatrechte einzelner Staaten vor der Reichsgewalt, sprach Kant von zu weit gehender "wilder Freiheit" der einzelnen. Ihm mißfielen "brutale Freiheit", "gesetzlose Freiheit", "barbarische Freiheit", "tolle Freiheit". Er beklagte sich des "so verworrenen Spiels menschlicher Dinge" in einer "regellosen Freiheit" und erwähnte "mit tiefer Verachtung" die "Anhänglichkeit der Wilden an ihre grenzenlose Freiheit." Aus7 Er erwähnt "wild and saverage liberty" und schreibt "naturalliberty consists properly in a power of acting as one thinks fit, without any restraint or control, unless by the law of nature." Commentaries, London 1765, I, i. s Vgl. mein Liberalism Proper and Proper Liberalism, Haitimore 1985, 55 ff., 65 ff.
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I. Menschenrecht und Menschenrechte
übungen solcher Arten von Freiheit verurteilte er als ,,Rohigkeit, Ungeschliffenheit und viehische Abwürdigung der Menschheit. " 9 Der als Befreier bekannte Philosoph von Königsberg war der Freiheit gegenüber also recht skeptisch. Und das war auch Regel. In § 15 seiner Philosophie des Rechts heißt es: "Die gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat, ist die der Willkür - die Mitte der Reflexion zwischen dem Willen als bloß durch die natürlichen Triebe bestimmt und an dem an und für sich freien Willen. Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sey dieß, daß man thun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung findet.'" 0 Vielleicht schätzte Regel die 1809 veröffentlichte Arbeit seines Tübinger Kommilitonen SeheHing über das Wesen der menschlichen Freiheit als dessen bedeutendste gerade deshalb, weil dort in präziser Form steht, die Freiheit sei ein "Vermögen des Guten und des Bösen." 11 Etwa ein halbes Jahrhundert später, in der Mitte des liberalen Jahrhunderts, schrieb John Stuart Mill im letzten Kapitel seines bekannten Essays über die Freiheit, "liberty consists in doing what one desires". Nun kann zwar argumentiert werden, das schlösse böse Taten aus, weil die ja nicht wünschenswert seien. Ein solches Argument geht aber lediglich von einer allgemein akzeptierten ethischen, moralischen und sittlichen Ordnung aus, wie sie sich mehr oder weniger teilweise in Rechtsnormen ausdrückt. Es legt nicht genügend Gewicht auf das Wort "one". "Man" ist aber zum Individuum hin orientiert. Man sagt zwar landläufig, "das tut man nicht" und deutet damit eine allgemeine Verhaltensregel an. Die richtet sich jedoch im Grunde an einzelne. Und bei Mill, der sich in seinem Lande mit der weitgehenden gesetzlichen Freiheit der Menschen nicht zufrieden gab und mit seinem Essay die Intoleranz hinsichtlich der Moral, die das viktorianische Zeitalter auszeichnete, kritisieren wollte, ist anzunehmen, daß er das "one" so meinte, daß das Individuum je nach seinem Gutdünken gerade das tun kann, was es eben will. Dabei brauchte es nicht zu beachten, ob denn sein Verhalten von anderen gebilligt würde. Es brauchte nicht einmal zu fragen, ob sein Handeln von seinem eigenen Standpunkt aus gut oder böse ist. Die Freiheit setzte es außerhalb von Gut und Böse. Regel befürchtete, der Freie könne in der "Freiheit . .. , zu thun, was man will", eine "direkte Aufforderung zum Diebstahl, Mord, Aufruhr usf." sehen (a. a. 0 ., § 319). Mill, dessen Definition der Freiheit den Worten gleicht, die Regel benutzt, erwähnt die von SeheHing getroffene Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht mehr. Auch die diese Unterscheidung anzeigende Warnung Hegels vor Entgleisun9 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784; Zum ewigen Frieden, 1795, in Kants Werke, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Hrsg., Berlin 1907- 12, VIII, 22, 24, 25, 26, 30, 354, 367. IO Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1821. 11 Schellings Werke, hrsg. von Manfred Schröter, München 1927 - 28, IV, 244.
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gen der Freiheit ins Verbrecherische erwähnt er nicht. Man denkt da unwillkürlich an etwas Paralleles, das sich im etwa gleichen Zeitabschnitt zeigte. In Schuberts Winterreise hieß es noch: "Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter." Nun kann man diese Worte als romantische oder romantisierende Begeisterung sehen, auf welche die Hybris der Aufklärung auch nach dem ernüchternden Erdbeben von Lissabon 1755 noch nachwirkte mit der Ansicht, der Mensch könne perfekt sein oder jedenfalls so gemacht werden. Aber das hatte der gläubige Komponist des Ave Maria wohl nicht im Sinn. Vielmehr stand da wohl der hoffende Gedanke im Vordergrund, angesichts deistischer Tendenzen könnten die Menschen auf ihrer Suche nach Gott auf Erden dort ein diesem gefälliges Verhalten zeigen. Die Winterreise deutet nicht auf eine hoffnungslose Aufgabe Gottes, sondern auf die Hoffnung seiner Wiederkehr auf die Erde. Keineswegs zeigt sie den Tod Gottes an. Jahrzehnte danach war es bei Kierkegaard, dessen Büste mit den Büsten Hans Christian Andersens und Niels Bohrs in der Halle des Kopenhagener Rathauses zu sehen ist, anders. Und dann gar bei Nietzsche, dem aus einem Pastorenhause Stammenden, der viele Pastoren zu seinen Vorfahren zählte und den seine Naumburger Klassenkameraden den "kleinen Pastor" nannten. Dem "lieber Gott auf Erden" der Winterreise stellte er, nachdem er in der Fröhlichen Wissenschaft festgestellt hatte, Gott sei tot, 12 die Worte Zarathustras an den Papst außer Dienst gegenüber: "Lieber keinen Gott, lieber auf eigene Faust Schicksal machen, lieber Narr sein, lieber selber Gott sein!" Unterschieden Schelling und Hegel noch zwischen Gut und Böse, ging Nietzsche Jenseits von Gut und Böse. Nietzsche läßt uns an Schopenhauer denken. Und es sollte nicht übersehen werden, daß in dem Zeitabschnitt zwischen Schubert, Schelling und Hegel einerseits und Kierkegaard, Mill und Nietzsche anderseits Die Welt als Wille und Vorstellung veröffentlicht wurde, das Hauptwerk des auch Richard Wagner beeinflussenden Philosophen, der sich trotz des miserablen Absatzes von dessen erster Auflage nicht davon abhalten ließ, es mit der ihm eigenen Ausdauer stetig weiter zu verbessern bis zum Ende seines Lebens, das des Lobes Goethes und Wagners nicht entbehrte und von dem er selbst sagte, das Glück sei unmöglich: Das Höchst-Mögliche sei ein heroischer Lebenslauf. 13 Schopenhauer starb 1860, im Jahr nach der 12 In der 18. Bemerkung, überschrieben "Der tolle Mensch", ruft der: "Ich suche Gott! Ich suche Gott! . .. Wohin ist Gott? ... ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet -ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! ... Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" 13 "Ein glückliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf Einen solchen führt der, welcher in irgendeiner Art und Angelegenheit für das allen irgendwie zugute Kommende mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird." Paralipomena, § 172a.
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Veröffentlichung von Mills Essay und dessen markanter Aussage, "liberty consists in doing what one desires." Da nun die Erfüllung eines Wunsches vom Willen zu dessen Erfüllung abhängt, deutet diese Aussage auf eine Verwandtschaft mit der Philosophie Schopenhauers, zumal "desire" eher noch als "wünschen" dem Gedanken des Wollens und Willens gleichkommt, höflicher und eleganter als "wish" erscheint und so bei Mills Sprachstil erwartet werden kann. Da Schopenhauer bei der Ausübung des Willens diesen und damit den Trieb dem Intellekt überordnet, kann man in Mills Satz einen Freibrief zur triebhaften Nutzung der Freiheit durch das Individuum sehen, während das Rationale als bloßes Mittel, Triebhaftem zu helfen, zweitrangig ist. Auch wenn man dieser Auslegung des Millschen Satzes nicht folgen will, dürfte wenig Zweifel darüber bestehen, daß Schopenhauer, den Wagner als den Philosophen sah, mit seiner Betonung des triebhaften Willens freiheitliche Begehren beeinflussen würde. Und das nicht nur bezüglich einer Befreiung vom Christentum, wegen der Schopenhauer wie Nietzsche sich einiges zugute tat. Seine Befreiungen, wie die Nietzsches, gingen weiter. Wenn sie auch der menschlichen Natur entsprachen, gingen sie recht weit. Das aber war nicht ungefährlich. Bedenkt man hierzu, daß Heidegger zeigte, wie sich Schellings Studie über das Wesen der menschlichen Freiheit vornehmlich mit dem Bösen befaßte, 14 so wird alles noch gefährlicher. Das zeigt, daß sich seit Hobbes und Blackstone, Kant und Hege!, um nur die oben erwähnten Autoren zu nennen, hinsichtlich der Gefahren, die in der Freiheit lauem, kaum etwas geändert hat. Man kann noch weiter gehen und behaupten, Bedenken über die Freiheit seien heute berechtigter als früher. Der Liberalisierungsprozeß, der trotz der Tudors und Stuarts die englische Geschichte bis zur Zeit von Mill grundsätzlich bestimmte, vollzog sich im Gehege rechtlicher Ordnung und war von dieser gehegt und begrenzt. Selbst die als Liberalismus bekannt gewordene historische Bewegung, unter deren Väter Coke, Locke, Blackstone, Montesquieu, Kant, Hege! und Jefferson gerechnet werden, ließ bei all ihrem Drängen nach mehr Freiheit keinen Zweifel über die Notwendigkeit öffentlicher Ordnungen und deren staatliche Organe. Es war innerhalb solcher, freiheitliche Exzesse verbietenden Ordnungen, wo eine wünschenswerte Freiheit gedeihen konnte und sollte. Der Staat mit seinem Recht galt als Voraussetzung solcher Ordnungen. Wenn Hegel den an und für sich freien Willen mit Recht und Sittlichkeit in einem Atemzuge nennt, so meinte er damit nicht etwa eine Harmonie der drei, sondern stellte kurz nach dem Erscheinen von Schopenhauers Hauptwerk den an und für sich freien Willen als etwas Gefährliches Recht und Sittlichkeit gegenüber, deren Aufgabe es war, diesen Willen zu begrenzen. Es war sicher nicht zufällig, daß sich gerade zur Hochzeit der als Liberalismus bekannten Bewegung, im 19., libera14 Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Tübingen 1971. Der vollständige Titel dieser Abhandlung lautet: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Ich nahm auf sie im ersten Satz meines Liberalism Proper and Proper Liberalism Bezug.
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len Jahrhundert, gerade im als besonders liberal geltenden England der Rechtspositivismus John Austins entwickelte, und dann gegen Ende dieses Jahrhunderts dort Albert V. Dicey voller Lob eine ,,rule of law" vertrat, bei der es weniger auf deren Inhalt ankam als darauf, daß sie in den vorgeschriebenen Formen zustande gekommen war. Sie konnte also durchaus die Freiheit des Individuums einschränken. 15 Im deutschen Sprachraum hatte ein Positivist wie der Staatsrechtier Georg Jellinek zweifellos großes Verständnis für die Freiheit der einzelnen vor der Staatsgewalt, ohne allerdings letztere nicht für notwendig zu erachten. Die These seiner Schrift über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte war denn ja auch, daß solche Rechte überhaupt erst dann Sinn hatten, wenn sie zum Wohle der einzelnen positivrechtlich formuliert waren. Sein Schüler Hans Kelsen ging dann weiter. Obwohl er persönlich liberalem Gedankengut anhing, ging seine Rechtstheorie so weit zu behaupten, ein Unrecht des Staates müsse unter allen Umständen ein Widerspruch in sich selbst sein- also auch eine despotische Behandlung der Bürger, die deren Freiheiten in Abrede stellt. Nach dieser Theorie kommt es beim Recht nicht darauf an, ob es gut oder böse ist, sondern allein darauf, daß es durchsetzbar ist. Er nannte diese seine Lehre die Reine Rechtslehre, weil das Recht von allen ethischen, moralischen und sittlichen Werten bereinigt und von ihnen befreit war. 16 Die Entwicklung zur Reinen Rechtslehre lief demnach etwa parallel zu der zur reinen Freiheit. Es ist, als ob erstere als ein letzter Ausweg erschien, ein Gewaltmittel, um den Gefahren letzterer zu begegnen, um den Staat mit seiner Rechtsordnung zu schützen, damit extreme Auswüchse der Freiheit diesem als Bewahrer gesetzlicher Formen die Freiheit, also des Freiheitsbegriffs Montesquieus, nicht den Garaus machen könnten. Tendenzen zu einer solchen staatsfeindlichen, zur Anarchie neigenden Entwicklung sind zweifellos zu erkennen. Selbst Hegel, der die Weltgeschichte als Entwicklung zur Freiheit sah, hatte da Bedenken. Wie bereits bemerkt, fürchtete er, daß "der an und für sich freie Wille", daß die "Freiheit überhaupt . .. , daß man thun könne, was man wolle", daß die "Freiheit ... , zu thun, was man will" eine "direkte Aufforderung zum Diebstahl, Mord, Aufruhr usf." sei. Es kann kaum bezweifelt werden, daß er hier jeweils das meinte, was ich als reine Freiheit bezeichnet habe. Offenbar scheute er sich aber, angesichts der allgemein akzeptierten ethischen, moralischen, sittlichen Attribute des Wortes ,,rein", das Kind beim Namen zu nennen. In den eben angeführten Zitaten sollten vor allem zwei Dinge beachtet werden. Einmal der Gedanke des freien Willens, den Hegel nicht nur substantivisch nennt, sondern gleich zweimal verbal betont. Sodann auch das "usf.". Hegel war sich, 15 lntroduction to the Study of the Law of the Constitution, London 1885. Die Popularität dieses Werkes zeigt sich darin, daß es bis zu seiner 10. Edition 1959 insgesamt 23 Auflagen hatte. 16 Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, 209: ,,Ein Unrecht des Staates muß unter allen Umständen ein Widerspruch in sich selbst sein." Siehe auch Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925.
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kurz nach der Veröffentlichung von Schopenhauers Hauptwerk, offenbar darüber im klaren, daß es neben Diebstahl, Mord und Aufruhr viele andere sozialethisch verwerfliche Handlungen gab und in Zukunft geben werde, zu denen die Freiheit auffordern würde, zumal er ja der Ansicht war, die Menschheit treibe zu immer mehr Freiheit. Sein Kommen aus dem Tübinger Stift suggeriert die Frage, ob die Entwicklung zur reinen Freiheit hin unterstützt wurde von einem Absinken des Religiösen. Der Augustinermönch Luther sah sich nach seinem Turmerlebnis zweifellos durch den Glauben nach Röm. 3 befreit. Und obgleich diese Befreiung allein durch die Gnade Gottes erfolgte und nicht durch gute Werke, hielt er doch an dem Gebot "bete und arbeite" fest. Der im Elternhaus und in der Schule streng pietistisch erzogene Kant wandte sich, dem entwachsen, gegen das Beten. Er begründete dieses nicht etwa sentimental, weil er das viele Beten zuhause und in der Schule als drückend empfunden hatte, sondern durchaus rational. 17 Marx. ging dann so weit, nicht nur das Christentum anzugreifen, sondern die Religion überhaupt, die er als Opium für das Volk abtat. Folgt man der Meinung, Geschichte sei im Grunde Kirchengeschichte und glaubt man mit den Anhängern der politischen Theologie, staatliche Einrichtungen seien verweltlichte kirchliche, war anzunehmen, daß es mit dem Fortschreiten des Liberalismus bei zunehmender Ablehnung religiöser Verpflichtungen in Anlehnung an Voltaires Ausruf "l'eglise, voila l'ennemi !" zunehmend zu einer Kritik staatlicher Institutionen mit ihren Strafen für Gesetzwidrigkeiten verschiedenster Art kommen, und dieser Gedanke einer politischen Theologie immer weniger anerkannt und gar dem Spott preisgegeben würde. Wie sich dessen Anhänger auch bemühen würden, eine solche, zum allzu Individualistischen neigende und daher die Gemeinschaft disintegrierende Entwicklung zu bremsen, erreichten sie doch kaum etwas. 18 Die seit Beccaria einsetzenden Strafreformen taten das ihre, diese Entwicklung vorankommen zu lassen. Sie kamen nicht überraschend angesichts der Meinung Spinozas, der Mensch werde seine Freiheit zum Guten nutzen, und der Rousseaus, der Mensch sei an sich gut. Bis nach dem Ersten Weltkrieg, der das Ende des liberalen Jahrhunderts mit seinem die Freiheit des Individuums mit Recht und Ordnung kombinierenden ,,klassischen" Liberalismus brachte, ging auch alles noch einigermaßen an. Die von dem sozialdemokratischen Reichsjustizminister Gustav Radbruch vorgeschlagenen Strafrechtsformen zeigen das. Die grundsätzliche Unterscheidung von Recht und Unrecht wurde noch allgemein anerkannt. Wenn man auch Zweifel darüber haben konnte, daß Kelsen in den zwanziger Jahren seine Behauptung, ein Unrecht des Staates müsse ein Widerspruch in sich selbst sein, noch durch die Ansicht ergänzte, die Freiheit des Individuums sei im 17 Kants Bemerkung über das Beten findet sich arn Ende seines Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1793, 2. Auf!. 1794. 18 Vgl. Carl Schrnitt, Politische Theologie- Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München/Leipzig 1922.
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Grunde unrettbar, wenn nicht unmöglich, 19 so war doch allgemein anerkannt, daß diese Freiheit durch Gesetze begrenzt war und eingeschränkt sein mußte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu sich ausbreitenden Angriffen gegen diese Einstellung. Sie zeigten zum guten Teil den Einfluß von Psychiatern. F. A. von Hayek, einer der bekanntesten Verfechter der Freiheit des Individuums von staatlicher Kontrolle und Regulierung, machte kein Hehl aus seiner Abneigung gegen deren Tendenzen, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu ignorieren und abzuschaffen. Am nachhaltigsten tat er dies in seiner 1970 gerade an Mozarts Geburtstag gehaltenen Salzburger Antrittsvorlesung. Die Worte des früheren Schülers Kelsens, der sich später scharf gegen den Rechtspositivismus seines Lehrers wandte und zu einem hervorragenden Advokaten der im Gewohnheitsrecht gründenden ,,rule of law" wurde, riefen die bis etwa zur Zeit Mozarts bestehende Harmonie dieses Rechts ähnlich ins Gedächtnis zurück, wie moderne Kompositionen viele an Mozarts Äußerung denken lassen, Musik sei Harmonie. 20 Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920, 10; 2. Aufl., 1929, II. Die Irrtümer des Konstruktivismus, München 1970, 18 ff., 30 f. Hayek zitiert George Brock Chisholm, The Re- establishment of Peacetime Society, in Psychiatry, IX (1946) 9, 11: "The re-interpretation and eventually eradication of the concept of right and wrong which has been the basis of child training, the Substitution of intelligent and rational thinking for faith in the certainties of the old people, these are the belated objectives of practically all effective psychotherapy ... The suggestion that we should stop teaching children moralities and rights and wrongs and instead protect their original intellectual integrity has of course to be met by an outcry of heretic or iconoclast, such as was raised against Galileo for finding another planet, and against the truths of evolution, and against Christ's Te-interpretation of the Hebrew Gods, and against any attempt to change the mistaken old ways and ideas. The pretense is made, as it has been made in relation to the finding of any extension of truth, that to do away with right and wrong would produce uncivilized people, immorality, lawlessness and social chaos. The fact is that most psychiatrists and psychologists and many other respectable people have escaped from these moral chains and are able to observe and think freely ... If the race is to be freed from its crippling burden of good and evil it must be psychiatrists who take the original responsibility. This is a challenge which must be met . .. With the other human sciences, psychiatry must now decide what is to be the immediate future of the human race. No one eise can. And this is the prime responsibility of psychiatry." Chisholm machte diese Äußerungen, bevor er mit dem Aufbau der Weltgesundheitsorganisation betraut und zum ersten Präsidenten der World Federation of Mental Health gewählt wurde. Sie erhielten ein lobendes Vorwort von Abe Fortas, der ·später dem amerikanischen Supreme Court angehörte. Die von Hayek kritisierten Ansichten Kelsens und Chisholms zeigen die ungeheure Spanne von Freiheitsrechten und machen so die Problematik dieser Rechte und damit der Menschenrechte deutlich: Da behauptet der Vertreter der Reinen Rechtslehre einmal, die Freiheit des Individuums sei im Grunde unmöglich infolge restriktiver positivrechtlicher Bestimmungen, und ein Vertreter der Psychiatrie kommt daher und plädiert für die Notwendigkeit einer totalen Freiheit des Individuums. Er stellt sich nicht nur gegen naturrechtliche Imperative, sondern auch gegen positivrechtliche in einer Weise, die der Meinung des logischen Positivisten Hans Reichenbach entspricht, der argumentierte, daß "the power of reason must be sought not in rules that reason dictates to our imagination, but in the ability to free ourselves from any kind of rules to which we have been conditioned through experience and tradition." The Rise of Scientific Philosophy, Berkeley 1949, 141. Und Hayek, der sich am Ende seines Buches über die Verfassung der Freiheit als "Old Whig" bezeichnete, 19
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Berechtigt wie Angriffe gegen das von Legislaturen gesetzte Recht auch sein mögen, kann man denen, die seit Ende des 18. Jahrhunderts sich in Gesetzgebungen gefielen und oft darin schwelgten, doch zugute halten, ·daß sie lange an der Unterscheidung zwischen Gut und Böse festhielten und damit der Rechtssicherheit dienten. Zwar wurde dieser Unterschied in der Praxis hin und wieder verwischt, weil durch zu großen Gesetzgebungseifer Gesetze einander sich derart schnell ablösten, daß die Rechtssicherheit darunter litt, da man oft nicht wußte, was denn nun eigentlich rechtens war? 1 Aber auch dieser Eifer zeigte wohl eher das Bestreben, zum Zwecke der Rechtssicherheit zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, als das Gegenteil. Die Gesetzgebungspolitik erschien vielen insofern in Ordnung, als sie, im Sinne der Polis, der Gemeinschaft oder jedenfalls dem bestimmenden Teil derselben diente, der entschied, was einzelne tun, d. h., welchen Gebrauch sie von ihrer Freiheit machen durften. Das mußte sich ändern, sobald das Individuum ganz für sich allein sein für sich ganz allein tätiger eigener Gesetzgebungspolitiker wurde, der nur sein egoistisches Interesse im Auge hatte und überhaupt nicht mehr fragte, ob dies im Hinblick auf andere gut oder böse war. Man hat von Großer Politik gesprochen und damit die Politik von Regierungen gegenüber anderen Regierungen gemeint. Dementsprechend wäre Kleine Politik die von Parteiführungen gegenüber anderen Parteien innerhalb eines Staates. Besteht, in der Tradition von Adam Smith und Kant, mit seiner Betonung der gewohnheitsrechtliehen "rule of law" und deren Balance von Freiheit, Recht und Ordnung etwa in der Mitte. Man kann da schwerlich umhin, nicht an Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte, Salzburg 1948, zu denken und an die Worte von William Butler Yeats in The Second Coming: "Things fall apart; the center cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world." Yeats, wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Mills Essay über die Freiheit geboren, hatte nach diesen Worten offenbar eher Befürchtungen, alles könne zur Anarchie ausarten denn zur Despotie der Herrscher. Hayeks Bedenken gehen mehr in beide Richtungen. Jedenfalls sollte man sich nicht aufgrundseines bekannten Buches über den Weg zur Knechtschaft darüber hinwegtäuschen, daß er auch die Anarchie fürchtete. Vgl. meine Würdigung zu seinem 90. Geburtstag, Der gehegte Liberalismus des Maßes, Neue Zürcher Zeitung vom 7./8. Mai 1989,43. 21 Siehe die Ausführungen von James Madison in Essay 62 des Federalist: Nachdem der als Vater der amerikanischen Verfassung bekannte spätere Präsident der Vereinigten Staaten Zweifel darüber geäußert hatte, daß "fluctuating counsils" in der amerikanischen Regierung dem Lande außenpolitisch schaden, fuhr er fort: "The internal effects of a mutable policy are still more calamitous. It poisons the blessings of liberty itself. It will be of little avail to the people, that the laws are made by men of their own choice, if the laws be so voluminous that they cannot be read, or so incoherent that they cannot be understood; if they are repealed or revised before they are promulgated, or undergo such incessant changes that no man, who knows what the law is today, can guess what it will be to-morrow. Law is defined as a rule of action; but how canthat be a rule, which is little known, and less fixed? Another effect of public instability is the unreasonable advantage it gives to the sagacious, the enterprising, and the moneyed few over the industrious and uninformed mass of the people. Every new regulation concerning commerce or revenue, or in any manner affecting the value of the different species of property, presents a new harvest to those who watch the change, and can trace its consequences; a harvest, reared not by themselves, but by the toils and cares of the great body of their fellow-citizens. This is a state of things in which it may be said with some truth that laws are made for the f ew, not for the many."
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denkt man hierzu den Ausspruch des langjährigen Sprechers des amerikanischen Repräsentantenhauses Tip O'Neill, "all politics is local", könnte man von Kleinster Politik reden. All diesen Arten von Politik ist zu eigen, daß sie behaupten, für eine mehr oder weniger große Gemeinschaft zu handeln. Nun bedeutet "behaupten" oft "vorgeben", eine traurige Wahrheit, die dem Zivilprozeß den Namen "Lügenprozeß" einbrachte. Ein solches Behaupten kann dann darüber hinwegtäuschen, daß die betreffenden Politiker im Grunde hauptsächlich für sich selbst etwas erreichen wollen, sei es auch nur Prestige, wobei nicht übersehen werden sollte, daß sich auch Prestige oft auf vielfältige Weise bezahlbar macht. Am unmittelbarsten tritt der Profit für den Politiker wohl bei lokaler Politik zutage. O'Neill sah das schon richtig. Auf Anraten seines Vaters ging er unermüdlich zu den Wählern seines Wahlkreises in Cambridge, Massachusetts, um für ihre Stimme zu werben. John F. Kennedy, ebenfalls Sproß einer in der Politik versierten irischen Familie, tat das ja ebenfalls, als er in vielen "tea parties" Hände über Hände schüttelte, um in den Senat gewählt zu werden, seinem Sprungbrett für das Weiße Haus. Auch er war ursprünglich auf lokaler Ebene ins Repräsentantenhaus gewählt worden. Die Politik erscheint so als Mittel, in einer Gemeinschaft etwas nur für sich selbst zu erreichen. Ihr Egoistisches, rein Egoistisches, weil letzten Endes von altruistischen Erwägungen bereinigt, dürfte allein genügen, um zu zeigen, daß die eigentliche Politik, die Politik an sich, reine Politik ist. Nicht nur nach Altruistischem fragt sie nämlich nicht, sondern auch nicht danach, ob sie gut oder böse ist. Darüber hinaus wird diese Ansicht aber noch unterstützt durch die Praxis einer amerikanischen Gesellschaft, Politiker als professionelle Lügner von ihrem jährlichen Wettbewerb, wer denn der größte Lügner war, auszuschließen. Als solche tauchten sie bekanntlich in Max Webers bekanntem Aufsatz über Politik als Beruf noch nicht auf. 22 Wie dem auch sei, läßt uns die reine Politik an die reine Freiheit denken. Man kommt dann zu dem Resultat, daß Politik ein Mittel ist, Freiheit zu genießen. Schließt man in diesen Genuß das Streben nach mehr Freiheit ein und bezeichnet man diesen als Liberalismus, wäre Politik Mittel des Liberalismus. Angesichts Hegels Meinung, die Menschheit dränge zur Freiheit, wäre dann der Liberalismus das Charakteristikum der Weltgeschichte und die Politik sein Helfershelfer, wenn nicht gar sein Alter ego. Das heißt aber nicht, daß dieses Chakteristikum Charakter in jeder Beziehung besitzt: Ganz im Gegenteil! Da ist einmal kein Charakter im Sinne von Feststehendem, denn das Bestimmte des Liberalismus und ihn Bestimmende ist es ja gerade, im steten Drang nach mehr Freiheit in unbestimmbarer Weise auf mehr oder weniger politische Art auszuufern. Sodann ist da kein Charakter im Sinne von etwas nur zu Preisenden, Hochstehenden. All das gilt auch von der Politik. Historiker mögen noch die Große Politik bewundern. Bei der Kleinen Politik dürften sie das schon weniger tun, noch weniger aber bei dem, was ich als Kleinste Politik bezeichnet habe. Das folgt aus der Sache selbst. Bei Kleinem denkt man ans Kleinliche. Das aber dürfte in der Großen Politik weniger anzutref22
Politik als Beruf, 1919, 8. Aufl., Berlin 1987.
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fen sein als in der Kleinen, und dort weniger als in der Kleinsten. Geht man nun weiter zur Allerkleinsten Politik, in der das Individuum nicht einmal mehr vorgibt, zum Wohle einer Gruppe von Menschen zu handeln, so ist die Wahrscheinlichkeit allerkleinsten Verhaltens am größten. Die Politik dieses mehr Freiheit Begehrenden dürfte die allerkleinlichste sein, was sie, rein individualistisch-egoistisch wie sie einmal ist, zur größtmöglich gefährlichen bezüglich der Mitmenschen macht. Sein derart bestimmtes Gutdünken dürfte zu einem Schlechtdünkeln anderer ausarten, das die Wahrheit des Sprichwörtlichen bei Goethe bestätigt: Lebst im Volke, sei gewohnt, Keiner je des andern schont.
So erweisen sich Freiheit, Liberalismus und Politik als Büchsen der Pandora, aus denen auf großzügigste wie auf kleinlichste Art so manches herausgegriffen werden kann, Schönes und Häßliches, Dunkles und Helles, Gutes und Böses usf. alles, was Herz und Verstand in Lust und Schmerz so wollen, ohne sich notwendig zu fragen, ob sie es denn auch sollen. Da nun Autoren wie Blackstone, Kant und Regel, die sich ausführlich mit der Freiheit befaßt haben und für freiheitliches Denken in ihren Kulturkreisen von großem Einfluß waren, eindringlich vor den in der Freiheit lauemden Gefahren warnten und auch Heidegger eher das Böse als das Gute in Schellings Arbeit über das Wesen der menschlichen Freiheit sah, will ich zunächst versuchen, einige bedenkliche Möglichkeiten der Freiheit aufzuzeigen. Dabei will ich mich darauf beschränken zu beachten, wohin die Freiheit führen kann und was sich frei dünkende oder sich Freiheiten nehmende Individuen so alles herausnehmen können. Selbstverständlich sind meine Beispiele keineswegs erschöpfend. Angesichts der Unerschöpflichkeit der Freiheit und ihrer Begehren, können sie das gar nicht sein. So dürfte alles unendlich schlimmer noch werden als hier dargestellt. Aus dem schier unermeßlich scheinenden Born der reinen Freiheit und des reinen Liberalismus kann der Freie immer wieder schöpfen und sich herausnehmen, was immer er will. Um bei Blackstone zu bleiben: der Freie kann aufgrundseiner natürlichen Freiheit den von Hobbes beschriebenen Naturzustand des Krieges aller gegen alle wiederherstellen. Mit Ausnahme der Gesetze, welche die Natur ihm auferlegt, kann er ohne jegliche Beschränkung und Kontrolle handeln und "wild and savage" nach dem Gesetz des Dschungels leben, nach dem das Schwächere dem Stärkeren unterliegt. Um bei Kant zu bleiben: wie die Wilden kann der Freie bei viehischer Abwürdigung der Menschheit grenzenlose Freiheit ausüben - barbarisch, brutal, roh, toll. Um bei Regel zu bleiben: der Freie kann willkürlich handeln, seinen Willen bloß durch natürliche Triebe bestimmen lassen ohne Rücksicht auf Sittlichkeit und Recht. Im einzelnen kann er Diebstahl, Mord, Aufruhr usf. begehen. Neben diesen spezifisch erwähnten Delikten kann er sich zu anderen frei fühlen. Betrug, Brandstiftung, Körperverletzung bis hin zur Verstümmelung, Sexualverbrechen: sie alle und noch viel andere mehr kann er in seiner Freiheit auf besonders gerissene und verabscheuungsvolle Weise ausführen, ohne dabei irgend-
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welche Hemmungen und Gewissensbisse zu haben, denn nach der reinen Freiheit läßt sein Gewissen ihm ja freien Lauf. Das trifft auch auf Anschläge auf das leben seiner Mitmenschen zu. Der sich frei fühlende Mörder hält sich für berechtigt, nicht nur zu töten, sondern dies auf die grausamste Art zu tun, oft in Verbindung mit anderen strafbaren Handlungen und häufig auch serienweise. Der Freie kann einen Aufruhr beginnen oder sich an einem solchen beteiligen, der abscheulicher noch ist als der in Emile Zolas Germinal beschriebene. Dieser braucht sich nicht nur gegen einen Unternehmer zu richten, wie dort. Er kann gegen die Regierung eines Staates gerichtet sein und damit direkt gegen die öffentliche Ordnung, ohne Rücksicht auf Verluste. Bei all den von Hegel genannten Verbrechen stehen das ethische Minimum des Rechts auf dem Spiel und a fortiori Ethik, Moral und Sittlichkeit, deren Schutz lange von dem erwartet worden ist, was allgemein als Naturrecht bekannt wurde. Denn wie immer man von dessen wechselndem Inhalt sprechen mochte, blieb es doch der erwünschte Bewahrer dieser Werte, 23 die vom Freien ähnlich mißachtet werden wie staatliches Recht. Für ihn ergibt sich so die für sein hemmungsloses Verhalten ergiebige Paradoxie, daß er aufgrund gerade seiner natürlichen Freiheit, also eines Naturrechts, das er nach dem Anfang der Verfassung von Virginia vom 12. Juni 1776, alle Menschen seien von Natur aus gleich und unabhängig, beansprucht, das Naturrecht mit seinem Schutz von Ethik, Moral und Sittlichkeit total mißachten kann. Und nicht nur das Naturrecht. Das haben ja auch Positivrechtier abgelehnt gemäß dem Ausruf Bemhard Windscheids in einer Greifswalder Rede 1854, der Traum des Naturrechts sei ausgeträumt. 24 Höhnisch triumphierend kann der Freie den für Recht und Ordnung einstehenden Positivrechtlern entgegenschleudern, nicht nur der Traum des Naturrechts sei vorbei, sondern auch der des positiven Rechts! Der Freie ist zu seinem eigenen Rechtssetzer geworden. Und bei seiner Mißachtung des Rechts kann erst recht nicht erwartet werden, daß in ihm noch etwas von jenem moralischen Gesetz zu finden ist, das Kant, wie der bestirnte Himmel über ihm, mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllte. Den Zitaten von Blackstone, Kant und Hegel folgend, habe ich mich darauf beschränkt, strafrechtlich relevant erscheinende Gefahren der Freiheit zu erwähnen, weil diese wohl für die Mitmenschen des freien Individuums am schlimmsten sind. Dabei sollten die Gefahren zivilrechtlicher Gebaren der ihre Freiheit Behauptenden nicht übersehen werden, wie sie sich - um nur ein Beispiel zu nennen - im Brechen privatrechtlicher Verträge gezeigt haben. Auch hier spottet der sich frei Wahnende des Rechts, auch hier verlangt er von der öffentlichen Autorität, seinem Freiheitsdrang nichts entgegenzusetzen. Und auch hier sind ihm, wie in strafrechtlicher Beziehung, Regierungen entgegengekommen. Gesetze zugunsten von Ver23 Vgl. Carl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtswissenschaft, Leipzig 1892; Rudolf Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Berlin 1902; Heinrich Rammen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl., München 1947. 24 Zitiert bei Carl Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen
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tragsbrechern zeigen das ebenso wie Gesetze zugunsten von Verbrechern. Der Unterschied zwischen Ver(trags)brechern und Verbrechern ist wahrlich nicht groß, selbst wenn erstere den Vertrag nicht in betrügerischer Absicht schlossen. Bei all dem hat die öffentliche Gewalt zunehmend billigend zugesehen, wie traditionelle Unterschiede von Recht und Unrecht ähnlich verwischt wurden wie die von Gut und Böse. Nun ist nicht zu leugnen, daß die Freiheit ein Vermögen des Guten und Bösen ist. Und wie die Freiheit vom Staate Böses mit sich bringen kann und es mit sich gebracht hat, so kann sie auch Gutes schaffen und hat sie dies auch getan. Wenn ich hier letzteres nicht weiter behandele, so geschieht das lediglich deshalb, weil mir das Gute, das Freie schaffen können und geschafft haben, für eine Studie der Problematik von Freiheitsrechten weniger bedeutend als das Böse erscheint. Keineswegs will ich durch diese Unterlassung andeuten, daß das Vermögen der Freiheit zum Guten nicht auch riesengroß sein kann. Das ist nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet offenbar geworden, wie Adam Smith und Ludwig Erhard gezeigt haben, auch nicht nur auf akademischer Ebene, wie der enorme, schnelle Aufschwung der von Wilhelm von Humboldt 1810 gegründeten Berliner Universität bewiesen hat. Überall sind zu allen Zeiten die Segnungen der Freiheit erfahren worden. Das gilt auch von Freiheiten, die nicht das Freisein von staatlicher Regulierung betreffen, sondern zum Beispiel die Mitwirkung der Bürger am Regieren, wie sie sich u. a. im aktiven und passiven Wahlrecht ausdrückt, Rechte, die wiederum darauf zurückzuführen sein dürften, daß die einzelnen frei genug waren, sie zu verlangen - ein weiteres Zeichen für die hier hervorgehobene Bedeutung der Freiheit vom Staat. Das gilt auch von moderneren Freiheiten, die man frei war, zu fordern, und die den Staat verpflichten, den einzelnen etwas zukommen zu lassen, wie freie Erziehung, ärztliche Hilfe und Erholung. Bei ihnen allen aber sollte auch stets beachtet werden, daß sie nicht nur gut, sondern auch böse sein können und sich die Wahrheit des Schellingschen Satzes auch bei ihnen beweist. All die hier nur beispielsweise erwähnten bekannteren Arten der Freiheit zeigen, wie umfangreich die Freiheit ist, die wir in ihren partiellen Manifestationen kennen. Das aber demonstriert, wie viel größer die Freiheit an sich sein muß, die reine Freiheit als Quell aller Erscheinungen ihrer Teile. Da nun die reine Freiheit nur ein Teil des reinen Menschenrechts ist, muß letzteres als Quell der verschiedensten Menschenrechte größer noch sein als die reine Freiheit. Und neben seinem auf der reinen Freiheit beruhenden Vermögen zum Guten und Bösen dürften andere Möglichkeiten kommen, die nicht bloß Gutes und Böses schaffen können, wie denn ja auch die Freiheit sich nicht im Guten und Bösen erschöpft. Man hat bekannte Menschenrechte als große Rechte bezeichnet. 25 Sie können in der Tat so gesehen werden, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Was ihre Quali25 Edmond Cahn, Hrsg., The Great Rights, 1963. Dieser Titel deutet auf Menschenrechte als pluralistischer Begriff. Sie fließen aus The Great Right, dem Menschenrecht als Quell all dieser Rechte.
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tät angeht, wäre es riskant, diese nur als gut oder schön oder sonstwie wünschenswert zu achten. Wie hier versucht wurde zu zeigen, darf man allgemeinen Versuchungen in dieser Richtung nicht erliegen. Jacob Burckhardts großen Männem der Geschichte vergleichbar, können sie auf verschiedenste Art gesehen werden und sind auch so gewertet worden. Quantitativ besteht über ihr Anwachsen kein Zweifel. Ihre Anerkennungen haben ständig zugenommen. Hegels und Jellineks Gedanken zu diesem Wachstum haben sich vielfach bewahrheitet. Sind aber bekannte Menschenrechte große Rechte, muß das Menschenrecht als deren reine Quelle "Großes Recht" größer noch sein, da Menschenrechte lediglich Teile des Menschenrechts sind, die aus diesem jeweils herausgegriffen werden. Das Ganze ist ja immer größer als seine Teile, solange die nicht das Ganze ausmachen. Das aber ist bei Menschenrechten bisher nicht der Fall gewesen und dürfte es wohl niemals sein. Zu groß ist der menschliche Drang, immer mehr Menschenrechte zu entdecken, sie vom Born des Menschenrechts herauszuholen und sich vieles mit ihnen herauszunehmen. Da wir den Inhalt des Menschenrechts nur ahnen können, ob uns nun dabei wohl ist oder nicht, müssen wir uns derzeit damit begnügen, die aus diesem Quell herausgenommenen einzelnen Menschenrechte und das, was man sich mit ihnen herausgenommen hat, kritisch zu untersuchen. Dabei gelangen wir zu einem wahren Labyrinth von Rechten in den verschiedensten Teilen der Erde, zu einer Wirrnis, die Irrnis andeutet sowie neben Nutzung Ausnutzung, neben ehrhaftem Brauchen schamloses Mißbrauchen.
II. Irrnis und Wirrnis 1. Menschenrechte sind die Losung der Zeit zur Lösung wichtig erscheinender Zeitprobleme. Wir wissen nicht, was sie mit der Zeit noch alles auf- und loslösen werden und wohin sie führen. Niemals wohl vorher wurde derart viel von Menschenrechten gesprochen. Man fragt sich, ob denn all das Reden über diese Rechte nicht zu einem bloßen Gerede ausartet, welches das ohnehin umfangreiche Wirren und Irren um sie noch vergrößert und entsprechend vertuscht. Niemals vorher erklärte eine Weltorganisation ein Jahr zu dem der Menschenrechte, wie es die Vereinten Nationen, mehr Länder umfassend als all ihre Vorgänger, taten. Dieses Jahr, 1968, erschien seinerzeit als Höhepunkt der seit dem Zweiten Weltkrieg stetig anwachsenden Rufe nach Menschenrechten. Es war aber eher ein Fanal zu weiteren Betonungen dieser Rechte, zu größerem Verlangen nach ihnen. Keine Regierung leistet es sich heute, offen gegen Menschenrechte aufzutreten. In allen Erdteilen bekennt man sich zu ihnen, im Osten und Westen, im kapitalistischen und kommunistischen Lager, in der Dritten Welt. Menschenrechte erscheinen als das große Weltereignis, das vieles überragende realisierungsbedürftige Ideal zum Wohle des Friedens auf Erden. Kaum fragt man und wagt man zu fragen, ob sie Probleme schaffen und zu Beunruhigungen menschlichen Seins in der Zeit führen, zu Disintegrationserscheinungen, die von jeher bei einem Übermaß an Rechten einzelner auftraten. Die Masse an Menschenrechten ist heute so groß, daß man sich fragt, ob sie denn alles Maß verloren haben und sogar die Frage gestellt hat, was sie denn eigentlich sind. 1 Man neigt dazu, unter Auslassung privatrechtlicher Rechte immer mehr öffentlichrechtliche Rechte als Menschenrechte auszugeben. Letztere klassifiziert man, um die Übersicht nicht zu verlieren, die sich bei der heutigen Masse an positivrechtlichen Menschenrechten allerdings leicht verlieren läßt, von der an naturrechtliehen ganz zu schweigen. Tatsächlich kann man viel unter Menschenrechten verstehen. Im Grund sind ja, nimmt man das Wort beim Namen, alle Rechte der Menschen Menschenrechte. Aus dem Wort ,,Menschenrechte" ist nämlich eine Unterteilung in eigentliche und I Montesquieu wagt erst im 1!. Buch seines Hauptwerkes Oe I' esprit des 1ois eine Definition der Freiheit. Maurice Cranston, What areHuman Rights?, New York 1973. Die Frage ist auch schon offenbar in dessen Freedom, A New Analysis, 3. Ed., London 1967.
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nichteigentliche Menschenrechte nicht ersichtlich. Der Ausdruck zeigt eine Sichtung dahin, daß nur bestimmte Rechte aufgrund bestimmter Denkrichtungen als Menschenrechte anerkannt werden, nicht an. Rein von ihm her ist kein Recht des Menschen ein Nichtmenschenrecht: Alle Rechte der Menschen sind Menschenrechte, ob sie nun auf dem Privatrecht, dem öffentlichen Recht oder dem Naturrecht beruhen. Eine andere Frage ist es, welches denn eigentlich die Rechte des Menschen sind. Da erscheint es zweifelhaft, ob es überhaupt Grenzen gibt. Der Begriff "Menschenrechte" enthält keinerlei Anzeichen irgendwelcher Beschränkungen, sei es durch einzelne oder durch Regierungen. Er impliziert lediglich Rechte des Menschen oder der Menschen, sonst nichts. Aber das will schon einiges heißen. Es läßt zunächst offen, ob es sich um Rechte handelt, die Menschen aufgrund ihres bloßen Menschseins besitzen, ohne Rücksicht auf eine äußere menschliche Autorität, oder um Rechte, die eine solche Autorität oder Macht oder Regierung verleiht. Es läßt ferner offen, ob es sich um Rechte einzelner gegenüber einzelnen oder gegenüber der Regierung handelt oder um solche, die eine Regierung gegenüber einzelnen hat. Es sagt nichts darüber aus, ob einzelne von den Maßnahmen einer Autorität oder Macht frei sind oder ob letztere frei sind, sie zu unterdrücken - selbst im Namen der Menschenrechte. Diesen Auslegungen könnten weitere hinzugefügt werden, aber schon sie allein zeigen eine enorme Spanne, von der notgedrungen menschenrechtliche Spannungen zu erwarten sind. Mit dem Pluralismus wächst die Konkurrenz, oder besser, die competition kompetenter Interpreten und all derer, die sich für kompetent halten. Von einem concurring kann da kaum noch die Rede sein. Alles erscheint konfus. Es entsteht die verzweifelte Frage, "Was ist das Echte und Rechte der Menschenrechte?" Sie dürfte ähnlich schwer zu beantworten sein wie die des Pilatus: "Was ist Wahrheit?" (Joh. 18, 38). Wachsend haben Wirrnis und Irrnis die Wahrheit über den Menschenrechtskomplex und die Menschenrechtskomplexe der Menschen gezeigt. Viele Rechtsansprüche beruhen auf dem Privatrecht. Sie vom Menschenrechtskomplex auszuschließen, wie es allgemein getan wird, steht der selbstverständlichen Gleichung "Rechte der Menschen =Menschenrechte" entgegen, ein unbefriedigendes Ergebnis. Es hieße zum Beispiel, daß ein Verbot der öffentlichen Gewalt, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu demonstrieren, ein Menschenrecht verletzt, nicht aber dagegen das Unterlassen eines Schadensersatzes durch jemand, der einen anderen auf Lebenszeit schuldhaft verstümmelte. Als der vom individualistischen Römischen Privatrecht herkommende Rudolf von Jhering seinem bekannten Wiener Vortrag vom Kampf ums Recht das Motto "im Kampf sollst du dein Recht finden" gab, dachte er vor allem an Menschen, die nach den Normen des Privatrechts ihre Rechte behaupten sollten. Jhering lehrte zur Blütezeit des Rechtspositivismus, )lachdem Auguste Comte und John Austin geschrieben hatten und Bemhard Windscheid in seiner Greifswalder Universitätsrede 1854 ausgerufen hatte: ,,Es gibt für uns kein absolutes Recht. Der Traum des Naturrechts ist ausgeträumt, und die titanenhaften Versuche der
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neueren Philosophie haben den Himmel nicht gestürmt." Aber so ausgeträumt war dieser Traum doch nicht. Auch Jhering war wohl nicht von seinem Einfluß ganz frei, nachdem Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas sein Recht außerhalb der Gesetze und gegen diejenigen, die er als Rechtsverdreher und -verachter ansah, durchsetzen wollte und die Sympathien vieler gewann. Rudolf Stammler schrieb über das Naturrecht mit wechselndem Inhalt, Edward S. Corwin über das höhere Recht hinter dem amerikanischen Verfassungsrecht und Heinrich Rommen über die ewige Wiederkehr des Naturrechts. 2 So nimmt es nicht wunder, daß Menschen ihre Rechte auf das Naturrecht gründeten bis auf den heutigen Tag, zumal Menschenrechte seit Menschengedenken auf dieses Recht gestützt wurden und auf dieses Recht in amerikanischen und französischen Erklärungen der Menschenrechte zurückgegriffen worden war. Menschenrechtsfreundliches Naturrecht wurde menschenrechtsfeindlichem, von staatlicher Allmacht und Willkür gesetztem positiven Recht entgegengestellt, ein mächtiges Mittel im Kampf um die Menschenrechte. Die Menschen reklamierten Rechte als ihnen von Natur aus immanent und mithin vor dem Staate existent. Diese wurden von ihnen als natürliche und damit selbstverständliche Menschenrechte angesehen. Das Individuum sah sie als etwas ihm Eigenes und aufgrund seiner einmaligen Natur Einziges, das es jederzeit zu bewahren und zu beanspruchen galt. Nach der Verdrängung des Theismus, der Gott als Schöpfer und Herrn der Natur sah, durch den Deismus, dem Gott nur bloßer Teil der Natur, dieser vielleicht gar untertan war, nach Behauptungen vom Tode Gottes konnte das dann dazu führen, daß einzelne ihre Menschenrechte dahin auffaßten, daß sie sich aufgrund ihrer Natur alles nehmen und herausnehmen konnten, was ihnen gerade einfiel und paßte, ohne Rücksicht auf andere und die staatliche Ordnung. Das Kalkül war einfach und einleuchtend: da jeder Mensch von Natur aus, natürlicherweise sui generis ist, kann jeder entsprechend seiner eigenen, einmaligen Auffassung seiner eigenen Menschenrechte ganz subjektiv vorgehen und vorpreschen, selbst wenn dadurch das Gemeinschafts- und Staatsgefüge in Mitleidenschaft gezogen oder gar zerstört wird. Der von Natur aus autonome Mensch hat, seiner Auffassung der Menschenrechte entsprechend, Carte blanche. In seinem Freiheitsdrang oder Liberalismus kann er gegen Diktaturen kämpfen, ohne jedoch die staatliche Ordnung selbst gefährden zu wollen. Er kann aber auch letzteres anstreben, und zwar sogar dann, wenn nach allgemeiner Ansicht von einer Unterdrückung durch die Regierung nicht gesprochen werden kann und die konstitutionelle Ordnung ein großes Maß an Menschenrechten garantiert, weil sie diese als den Menschen immanent ansieht und sich als Hüter und Beschützer dieser Rechte betrachtet. So kann das Individuum das Naturrecht nutzen und ausnutzen, um seine Menschenrechte auf gemäßigtere oder radikalere Weise geltend zu machen. Dem naturrechtliehen Radikalismus kam die Verschiedenheit der einzelnen Naturrechtsschulen sowie Stammlers Lehre vom Naturrecht mit wechselndem Inhalt z Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Berlin 1902; Corwin, The ,Higher Law' Background of American Constitutional Law, in Harvard Law Review, XLII (1928 - 29), 149, 365; Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, Leipzig 1936.
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zu Hilfe. Insbesondere letztere erleichterte es einzelnen, ihre eigenen, sie begünstigenden Konzepte des Naturrechts zu finden und zu erfinden und ihren rein individuellen egoistischen Menschenrechtsauffassungen Nachdruck zu verleihen. All das wurde noch genährt durch Ahnungen des reinen Liberalismus, der ohne jegliche Hemmungen zu immer mehr individueller Freiheit drängen läßt, wie wenig verläßlich diese auch sein und wie unzulässig sie von Mitmenschen auch angesehen werden mag. Darüber hinaus führte Hans Kelsens Reine Rechtslehre, die das Charakteristische des Rechts lediglich in dessen Durchsetzbarkeit sieht, mit ihrer positivistischen Extremität zu Reaktionen von seiten der Naturrechtler, die nun drängten, den Traum vom positiven Recht alsbald auszuträumen. Ihre Reaktionen waren besonders heftig nach den Erfahrungen mit den totalitären Diktaturen unseres Jahrhunderts. Kelsen wurde auf den Kopf gestellt. Hatte der behauptet, ein Unrecht des Staates müsse unter allen Umständen ein Widerspruch in sich selbst sein, hörte man nun, ein vom Individuum beanspruchtes Recht sei unter allen Umständen rechtens.3 Nach dieser Meinung hatten alle freie Bahn, ihre jeweiligen Ansprüche, mochten sie anderen noch so verstiegen erscheinen, als menschenrechtliche geltend zu machen. Bei wachsenden Annäherungen an den reinen Liberalismus und die reine Freiheit konnte das zu einem wahren Menschenrechtstaumel führen. Dieser fand seinen Niederschlag und seine Niederungen in internationalen und nationalen Menschenrechtsdeklarationen, also im positiven Recht. Der Traum dieses Rechts war nämlich ähnlich wenig ausgeträumt wie der des Naturrechts, zumal insbesondere das öffentliche Recht enorm anwuchs mit ständig neuen Gesetzen, Verordnungen, Anordnungen aufgrund von Gesetzen oder auch ohne gesetzliche Ermächtigung, ultra vires, im exces de pouvoir. Sind jedoch Menschenrechte nach harten Kämpfen um sie erst einmal von der öffentlichen Gewalt garantiert, kann auch ein Kampf ums Recht gemäß den Bestimmungen des öffentlichen Rechts erwartet werden, in dem mehr und mehr Menschen auch mehr und mehr Menschenrechte beanspruchen. Gibt es aber Menschenrechte nach dem Privatrecht und dem öffentlichen Recht, so kann man sagen, daß alle positivrechtlichen Ansprüche menschenrechtlich sind. Sind dies darüber hinaus auch naturrechtliche, kommt man zu dem Schluß, daß schlechthin alle Ansprüche der Menschen menschenrechtliche sind. Und wie die Normen all dieser Rechtsarten wachsen, vergrößert sich auch die Möglichkeit dieser Ansprüche. So leben wir in einer Schwemme von Menschenrechten, die immer größer wird. Sie allein wird dem Ausdruck "Menschenrechte" gerecht, denn in ihm sind Einschränkungen, auf welcher Grundlage sie immer beruhen mögen, nicht ersichtlich. Er umfaßt somit all diese Rechte und ist in seinem weiten Umfang der Begriff der Menschenrechte, der alle anerkannten und erwünschten Rechte der Menschen umfaßt.
3 Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze 1911, 2. Aufl., Tübingen 1923, 249.
3 Dietze
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Dieser umfassende Begriff ist ein pluralistischer. Er spricht von Menschenrechten im Plural, wie sie im einzelnen von Menschen konzipiert wurden und noch heute konzipiert werden. Er hat bestimmte Rechte zum Gegenstand, die den Menschen nach und nach erschienen sind und noch heute erscheinen. Für diese Erscheinungen muß es also einen generellen Überbegriff geben, aus dem sie alle abgeleitet sind und dessen teilweise Realisierung sie darstellen. Das ist der noch umfassendere Singularistische Menschenrechtsbegriff, das Menschenrecht, aus dem alle konkreten Menschenrechte, die wir kennen, fließen und dessen partielle Realisierungen sie darstellen. Dieser Singularistische Begriff, die Idee des Menschenrechts, ist wohl etwas Unveränderliches, Konstantes, das die Menschen in seiner Ganzheit ahnen, aber noch nicht ganz sehen. Er ist das ihnen vorschwebende Ideal, das der Verwirklichung harrt. Wie immer auch Menschenrechte die Losung unserer Zeit sind, so haben sie alle, die sie bisher entdeckt und herauskristallisiert wurden, zu einer Lösung aller Fragen der Zeit nicht geführt. Und solange wir noch keine Klarheit über die Wahrheit um das Menschenrecht haben, werden wir trotz fortschreitender Aufklärungen keine Klarheit über die Wahrheit der einzelnen Menschenrechte bekommen und deren Komplexität entwirren und klären können. Wir können es lediglich versuchen. Das Menschenrecht ist immer noch von Geheimnissen umwittert. All jene, welche Menschenrechte auf den Lippen führen, mutmaßen nun, was das Menschenrecht ist und sind allzu oft von ihm verführt, selbst wenn sie sich von ihm geführt wähnen. Die Erscheinungsformen einer Idee können dieser durchaus entgegenstehen. Wie der Richter bei seinen Versuchen der Rechtsfindung nicht notwendig aus dem Recht die richtige Entscheidung findet, so können auch die Formulierer von Menschenrechten irren und das Menschenrecht falsch interpretieren. Trotz aller Bemühungen, das Rechte zu tun, wird Unrecht getan. Die Annullierung alter Gesetze durch neue zeigt die Schwierigkeit richtiger Gesetzgebung, richtiges Recht zu kodifizieren und die Gesetze diesem Recht entsprechen zu lassen. Ähnlich schwierig ist es, selbst beim besten Willen die rechten Menschenrechte richtig zu verlangen und gar zu formulieren und anzuerkennen, solange es eine genaue Kenntnis des Menschenrechts nicht gibt. Um so unwahrscheinlicher muß das dann sein, wenn dieser Wille fehlt und von egoistischen Motiven auf sehr subjektive Weise geleitet wird. Vielleicht hat man deshalb lange davon abgesehen, sich zu vermessen, das Menschenrecht als solches zu beanspruchen oder zu formulieren. Der Dichter des Textes der kommunistischen Internationale, die angeblich das Menschenrecht erkämpft, hatte wohl ähnliche Zweifel über bereits anerkannte Menschenrechte wie Karl Marx. Ob das von diesem Weck- und Schlachtruf erstrebte Menschenrecht allerdings der Idee des Menschenrechts als solchem entspricht, ist eine andere Frage. Denn was hier als Menschenrecht bezeichnet wird, ist nichts als eine Ansammlung sozialistischer Auffassungen von Menschenrechten, eine bestimmte Klasse pluralistischer Rechte, die zum sozialistischen Klassenkampf paßt. Es demonstriert die Anmaßung, zu einem bestimmten Ziel hin orientierte Menschenrechte kühn zusammenfassend als Menschenrecht schlechthin aus-
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zugeben und den ideellen Begriff "Menschenrecht" zur Promotion parteipolitischer Zwecke dreist auszunutzen. Dem Totalitätsanspruch der Kommunisten entsprechend wurde das Wort "Menschenrecht" ja wohl im Sinne des erwähnten singularistischen Begriffs gebraucht. Es soll sich sicher nicht nur gegen das dem Kapitalismus eigene Recht des freien Handels und des freien Erwerbs und Gebrauchs des Privateigentums als Teil des öffentlichen Rechts richten, sondern auch gegen das der Bourgeoisie genehme individualistisch ausgerichtete Privatrecht. Marx sah ja in allen bürgerlichen Gesetzen lediglich Mittel zur Unterdrückung des Proletariats, auch wenn sie im Zuge der als Liberalismus bekannten Bewegung noch so sehr auf naturrechtliehen Erwägungen beruhten. Sie entsprachen seiner Ansicht nach dem Recht ebensowenig, wie nach der Meinung all derjenigen, die einen Prozeß verlieren und dann klagen, es gäbe kein Recht. Honore Daumier hat denen ja ergreifende Denkmale gesetzt, die zu denken geben. In ähnlicher Art ist auch heute zu bedenken, ob in den kommunistischen Nationen die Gesetze und deren Kodifikationen der Menschenrechte eher Mittel der Regierungen sind, Andersdenkende zu unterdrücken, als etwas, was dem Recht und dem Menschenrecht als solchem entspricht. Wie dem auch sei, unterliegt es wenig Zweifel, daß Wirrnis herrscht bezüglich der unter dem Privatrecht und dem öffentlichen Recht erwünschten oder anerkannten Menschenrechte. Ihre Stützung auf das Naturrecht kann da nicht helfen, da das selbst stets auf die verschiedenste und verwirrendste Art ausgelegt worden ist, wobei eine Schule die andere der Irrnis zeihte. Wo es den Pluralismus gibt, da gibt es Wirren und Irren. Das ist bei den verschiedenen Menschenrechten nicht anders möglich, weil uns der Singularistische Begriff des Menschenrechts, den sie alle mehr oder weniger verwirklichen wollen, noch nicht bekannt ist. Bei ihm kann es eine Wirrnis und Irrnis nicht geben, weil er, die Idee des einen und einzigen Menschenrechts schlechthin, ja mit einem anderen Begriff des Menschenrechts nicht konkurrieren und sich in keinerlei competition mit ihm befinden kann. Da wir ihn aber noch nicht kennen, ist er Interpretationen unterlegen, die ihrerseits Wirrnis erzeugen. Und wo Wirrnis ist, da liegt die Irrnis nahe. Die vorliegende Studie befaßt sich mit Wirrungen und Irrungen der Menschenrechte. Da diese aber, wenn man von Interpretationen absieht, beim Singularistischen Begriff des Menschenrechts ausgeschlossen sind, und Irrungen solange nicht ausgemacht werden können, wie wir ihn nicht kennen, will ich mich im folgenden auf den pluralistischen Begriff der Menschenrechte konzentrieren. Innerhalb dessen will ich mich auf diejenigen Rechte beschränken, welche man bis heute allgemein unter dem Begriff "Menschenrechte" verstanden hat, wenn auch, wie oben dargelegt, irrtümlich, nämlich die des öffentlich Rechts, wie sie vorwiegend in Deklarationen der Menschenrechte zu finden sind. Diese sind nun vor allem Rechte, die im Anschluß an Georg Jellinek oft als negative Rechte bezeichnet werden. Der Ausdruck ist nicht gerade glücklich. Wenn er auch nichts Derogatives implizieren soll, sondern nur eine Unterscheidung von "positiven" Rechten wie die zur Teilnahme am Regieren, so wird ,,negativ" doch leicht als etwas Abträgliches verstan3*
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den und ihm die Bedeutung von "nichtssagend" oder gar "übel" unterlegt. Tatsächlich aber handelt es sich um äußerst wichtige, wenn nicht sogar die fundamentalsten aller Menschenrechte. Es sind nämlich die Rechte, in gewissen Hinsichten von der Regierungsgewalt in Ruhe gelassen zu werden. Der Mensch ist sich der Beachtung seiner Menschenrechte wohl am ehesten bewußt, wenn man seinem Wunsch und Anspruch, in Ruhe gelassen zu werden, entspricht. Wird sein Handeln eingeschränkt, kann er sich oft noch bei dem Gedanken trösten, daß er so etwas nicht tun darf, weil des einen Handeln anderen ja grundsätzlich etwas antut und sie nicht unberührt läßt. Beim bloßen Nichthandeln reduziert sich diese Wahrscheinlichkeit, obgleich auch das anderen gefährlich werden kann. Das Fundamentale des Rechts, in Ruhe gelassen zu werden, folgt aus der offenbaren Tatsache, daß die Gedanken frei sind. Kein Mensch, keine Regierung, und seien sie noch so mächtig, konnten bisher die Gedankenfreiheit einschränken. Ob das in Zukunft angesichts der wachsenden Möglichkeit der Verabfolgung chemischer Mittel so bleiben wird, sei dahingestellt, schwächt aber nicht das Argument, daß die Gedanken bisher frei waren. Die Freiheit der Gedanken oder des Gewissens ist das absoluteste und immunste aller Menschenrechte. Ihre Existenz ist derart unbestreitbar und unbestritten, daß sie in Erklärungen der Menschenrechte nicht angeführt wird. Da diese die prinzipiell unbeschränkten Rechte der einzelnen gegenüber der prinzipiell beschränkten Beschränkungsbefugnis der öffentlichen Gewalt beschreiben, brauchen sie sich mit einem überhaupt nicht beschränkbaren Recht wie dem der Gedankenfreiheit gar nicht erst zu befassen. Die Gedankenfreiheit aber läuft darauf hinaus, in Ruhe gelassen zu werden. Das absoluteste aller Menschenrechte impliziert also, in Ruhe gelassen zu werden. Im Nichtbelästigtwerden kann man also das unbestreitbarste gott- oder naturgegebene Menschenrecht sehen, ob man es nun als göttlich oder natürlich bezeichnet. Kants Ansicht in seiner Schrift von 1786: Was heißt: sich im Denken orientieren?, die Freiheit zu denken könne nicht wirklich existieren, solange die Regierung den Ausdruck des Gedachten einschränkt, ist falsch. Es gibt ergreifende Beispiele dafür, daß die Gedanken- und Gewissensfreiheit unterdrückte Menschen durchhalten ließ und sie aufrichtete, sie ihres Menschseins und ihrer Menschenwürde trotz sie umgebender menschenunwürdiger Unmenschlichkeit gewahr bleiben ließ. Andererseits sah der Philosoph von Königsberg in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), daß der "Hang und Beruf zum Freien Denken" zur Freiheit führt. Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, daß die Denkfreiheit zu der des Ausdrucks des Gedachten und zu anderen Freiheiten führte, an die zu verlangen man nicht denkt, wenn man vorher nicht an sie dachte. Da nun die Denkfreiheit das absolute, von staatlichen Beschränkungen total immune Menschenrecht ist, die Freiheit des Gedankenausdrucks ihr nahe kommt, weil auch sie, wenn auch nur prinzipiell, ein Recht bedeutet, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, kann man schließen, daß die Ausdrucksfreiheit wie auch alle
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anderen Freiheiten, die ein grundsätzliches Unbelästigtsein von seiten der Regierung implizieren, innerhalb der Menschenrechte am höchsten rangieren. Bei ihnen ist das Individuum in der klaren Stellung eines Verteidigers von Rechten, die als vor dem Staate existent, dem Menschen mithin immanent, als seine natürlichsten Rechte angesehen werden können. Es ist eine starke Stellung. Wie Clausewitz den Verteidiger als sicherer erachtete als den Angreifer, so erscheinen die sogenannten negativen Menschenrechte, da sie sich aufgrund ihrer menschlichen Immanenz in einer Verteidigungsstellung befinden, als die sichersten der Menschenrechte. Und wie der militärische Verteidiger beansprucht, lediglich das behalten zu wollen, was ihm gehört, so hat der Verteidiger von Menschenrechten, die ihm von Natur aus gehören, den starken Anspruch, bloß das unangetastet wissen zu wollen, was ihm als Menschen immanent ist. Seine Stellung ist wohl noch stärker als die eines militärischen Verteidigers, weil bei ihr weniger Zweifel bezüglich des Besitzes laut werden dürften. Der hohe Rang dieser Rechte erhellt auch aus der Tatsache, daß man vorwiegend an sie dachte, als man für die Menschenrechte gegen Eingriffe der Monarchen focht. Man hat die Magna Charta als "negatives Dokument" bezeichnet, weil die meisten ihrer Bestimmungen den König verpflichten, nicht in die verschiedenen Freiheiten seiner Untertanen einzugreifen. Ähnlich ist es bei der Petition of Right von 1628, bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Die Menschen sollten in der Ausübung von Rechten, die sie als ihnen angeboren erachteten, wie die der Ausdrucksfreiheit, der Religionsfreiheit, der Freiheit der Versammlung, der Person, von der öffentlichen Gewalt unbehelligt bleiben. Sie wollten frei ihrem Handel nachgehen, Eigentum frei erwerben und nutzen ohne Einschränkungen, wie sie beispielsweise merkantilistische Gesetze mit sich brachten. Ansprüche, von der Regierung in Ruhe gelassen zu werden, standen bei den ersten Erklärungen der Menschenrechte entschieden im Vordergrund. Ihr Schutz wurde als der eigentliche Zweck von Regierungen angesehen. Andere Rechte, wie die zur Teilnahme am Regieren, die des aktiven und passiven Wahlrechts, galten dementsprechend lediglich als Mittel, die "negativen" Rechte, die man auch als Reservatrechte bezeichnen kann, weil sie dem Menschen immanente Rechte ihm als prinzipiell unantastbar reservieren beim Eintritt in das Gemeinwesen, ob man in dem nur einen Sozialvertrag sieht oder die Geburt in eine schon bestehende Gemeinschaft. Die folgenden Seiten sollen sich auf diese Rechte konzentrieren und die Verwirrungen um sie aufzeigen. Dabei sollte der Leser sich immer der Tatsache bewußt sein, daß es sich bei ihnen nur um einen kleinen, wenn auch sehr wichtigen und alten Teil aller Menschenrechte handelt, sogar nur um einen Teil des öffentlichen Rechts, das das Verhältnis der einzelnen zu ihrer Regierung beschreibt. Sollte bei diesen wenigen Menschenrechten deren Wirrnis und Irrnis demonstriert werden können, so kann man sich ein Bild davon machen, wieviel größer die Wirrungen und Irrungen im gesamten Komplex der Menschenrechte sein müssen, im Rest des öffentlichen Rechts, im Privatrecht und im Naturrecht, zumal wenn man bedenkt, daß es eine große Menge von Systemen des öffentlichen Rechts, des Privatrechts
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sowie viele Schulen des Naturrechts gibt. Auch will ich die folgenden Ausführungen hauptsächlich auf die Neuzeit beschränken. Diese beginnt in menschenrechtlieber Hinsicht mit der Bewegung, die allgemein unter dem Namen Liberalismus bekannt wurde, also im Zeitalter der Aufklärung, in dem die Menschen mehr und mehr über ihre Rechte gegenüber der Staatsgewalt aufgeklärt wurden. Dieses Zeitalter war auch das des Naturrechts, eines Rechts, das dem positiven Recht des Staates gegenübergestellt wurde und die Bastion war, von der aus man Eingriffe der Regierungen in die Freiheitssphäre der Individuen attackierte und seine angeborenen Rechte reklamierte. Außerdem wurde das Gewohnheitsrecht in diesem Rahmen als Stütze der Menschenrechte gebraucht aus der Erwägung heraus, daß Rechtsbräuche, die seit langem von den Menschen als freiheitlich akzeptiert wurden, den Segen der Natur und Gottes haben müssen.4 Sollten in dieser beschränkten Zeitspanne Wirrungen und Irrungen der Menschenrechte offenbart werden können, so ist klar, daß diese sich in einem größeren Zeitabschnitt noch vergrößern müßten, ob der nun weiter zurück oder in der Zukunft liegt. Es gab sie sogar zu der Zeit, als die Bewegung des Liberalismus im Entstehen war, im 17. und 18. Jahrhundert. Bekannt sind die verschiedenen Auffassungen über den Schutz des Privateigentums vor Übergriffen der Regierung während der Englischen Revolution, wie sie zum Beispiel bei den Debatten in Putney 1647 von Cromwell, lreton, Rainboro und Wildman vertreten wurden. Hier gab es ein klares Gegenüber von Bürger und Regierung, das auf einem Vertrag beruhte, ob der nun ursprünglich auf dem Feudalismus oder auf naturrechtliehen theoretischen Konstruktionen basierte. Immer war da dieses Gegenüber vorhanden, diese grundsätzlich unbeschränkte Freiheitssphäre der einzelnen gegenüber der grundsätzlich beschränkten Eingriffsbefugnis der Regierung, die prinzipielle Immunität der Individuen von der prinzipiell begrenzten Operationsbefugnis des Staates. Wie der einzelne über die Unversehrtheit seines Körpers verfügt und der Arzt ohne dessen Einwilligung an diesem keine operativen Eingriffe vornehmen darf, so muß die öffentliche Gewalt die einzelnen Bürger in Ruhe lassen, darf sie deren natürliche Rechte nicht ohne Einwilligung antasten. Diese Rechte sind Grund- oder Gründerrechte, die sich die Individuen bei der Gründung ihrer Regierung vorbehalten und deren sie nur mit ihrem Einverständnis verlustig gehen. Sie sind natürliche Menschenrechte, der menschlichen Natur immanent und ihr eigen. Dieses Eigensein, dieses Eigentum wurde von John Locke, dem Verteidiger der Glorreichen Revolution von 1688, die denjahrzehntelangen Revolutionswirren ein Ende setzte, unter Betonung des eben genannten Gegenübers herausgestellt. Im 9. Kapitel seiner 1689 erschienenen Second Treatise on Civil Government, das die Zwecke der politischen Gesellschaft und der Regierung behandelt, beschreibt er 4 Das wird klar in John Lockes Zweiter Abhandlung über das Regierungswesen (1689). Das letzte Kapitel, Of the Dissolution of Govemment, gibt ein Recht zum Abschaffen einer Regierung nicht leichtfertig ?U, sondern nur bei andauernden schweren Verletzungen der Rechte der Individuen und nur nach vergeblichen Petitionen um Abhilfe.
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die weitgehende Freiheit der Menschen im Naturzustand. In ihm werden die vor allem an sich selbst denkenden einzelnen höchstwahrscheinlich von Leidenschaften und Rachegefühlen zu weit getrieben. Übereifer in eigenen Sachen sowie Nachlässigkeit und Desinteresse lassen sie allzuwenig an andere denken. Jeder ist sowohl Richter als auch Vollstrecker des Naturrechts. Diesem Zustand wollen die Menschen entgehen, indem sie sich vereinen zum gegenseitigen Schutz "of their lives, liberties and estates, which I call by the general name ,property'." Gleich darauf nennt Locke das große und hauptsächlichere Ziel derer, die sich in Gemeinwesen zusammenschließen und einer Regierung unterordnen, die Bewahrung ihres Eigentums. Offenbar benutzt er hier das Wort "property" wieder in dem eben genannten umfassenden Sinn. Das tut er auch später in diesem Kapitel, wenn er vom Schutz des Eigentums als dem Zweck des Verlassens des Naturzustandes spricht oder von der Verpflichtung der "power of society, or legislative constituted by them", das Eigentum zu schützen. So hat "property" in diesem Kapitel viermal diese umfassende Bedeutung. Nur einmal spricht Locke von "liberty and property", die der Mensch sich bewahren will. Da nun Kapitel 9 in der Mitte der gesamten Abhandlung liegt und sozusagen ihren harten Kern bildet, kann man es als das Kapitel sehen, um das sich alles dreht. Und da in ihm "liberty and property" erwähnt sind und an anderen Stellen der Abhandlung Locke von "life, liberty and property" und nicht von "life, liberty and estate" spricht, sieht er in all diesen Begriffen wohl einzelne bestimmte Menschenrechte. Hingegen meint er mit dem "allgemeinen Namen ,Eigentum'", der das 9. Kapitel beherrscht, offenbar den alle spezifischen Menschenrechte umfassenden ·generellen Begriff des Menschenrechts. Angesichts der zentralen Lage dieses Kapitels und seiner Ausstrahlung erscheint die zweite Abhandlung so als Schrift zum Schutze des Menschenrechts sowie seiner einzelnen Teile, also einzelner Menschenrechte. In Anbetracht der im Naturzustand bestehenden weitgehenden Rechte der einzelnen, die ihnen auch im Gemeinwesen grundsätzlich verbleiben, ergibt sich dann nach Locke, vom Individuum aus gesehen, folgendes Bild: Werden mir mein Leben, meine Freiheiten, mein Gut genommen, werden mir Teile meines Eigentums, meines Eigentlichen genommen. Das darf die Regierung nicht ohne mein Einverständnis tun, denn sie ist ja hauptsächlich geschaffen worden, um mein Leben, mein Eigentum, die mir eigenen Menschenrechte zu bewahren. Sie ist ein trust zu diesem Zwecke. Verletzt sie dieses in sie gesetzte Vertrauen, kann ich für meine Menschenrechte gegen die Regierung kämpfen und diese durch eine andere ersetzen. Mit der Angabe einer Berechtigung, zur Bewahrung der Menschenrechte eine despotische Regierung abzuschaffen, schließt Locke seine Abhandlung. An ihrem Schluß also eine besonders starke Behauptung der Menschenrechte gegenüber der Regierung, die beim Leser nachklingen und ihm die Bedeutung dieser Rechte wachhalten dürfte. 5 Locke, der Verteidiger der Englischen Revolution, war auch der Philosoph der Amerikanischen Revolution, in der man eine höhere Dimension der Revolutionss Vgl. mein Über Formulierung der Menschenrechte, Berlin 1956,40.
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lehre Lockes sehen kann. Die in großem Umfang auf der Zweiten Abhandlung beruhende Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Kolonien spricht nicht nur von einem Recht zur Revolution, wenn Menschenrechte unterdrückt werden, sondern von einer Pflicht hierzu. In ihrer Debatte mit dem Mutterland behaupteten die Bewohner der Kolonien zunächst, ihnen würden ihre rights of Englishmen vom britischen Parlament vorenthalten, obwohl schon zu dieser Zeit auch hier und da von Menschenrechten gesprochen wurde. Mit der Unabhängigkeitserklärung machte es dann keinen Sinn mehr, von den Rechten der Engländer zu sprechen. Diese sprach von "gewissen unveräußerlichen Rechten, mit denen die Menschen von ihrem Schöpfer ausgestattet sind." Schon 1774 hatte der jugendliche Alexander Rarnilton in seiner Streitschrift The Farmer Refuted in großen Lettern geschrieben: "Die heiligen Rechte der Menschheit ... sind wie mit einem Sonnenstrahl im ganzen Volumen der menschlichen Natur durch die Hand der Gottheit selbst geschrieben und können niemals durch sterbliche Macht ausradiert oder verdunkelt werden." Das ist ein enthusiastisches, weitgehendes und mächtiges Bekenntnis. Es zeigt die Begrenzung menschlicher Macht durch Menschenrechte, die ,,heilig" sind und von Gott selbst in die menschliche Natur gelegt. Mit der Unabhängigkeitserklärung, den Bills of Rights der neuen unabhängigen Staaten, der Verfassung der Vereinigten Staaten, die Rarnilton im 84. Essay des Federalist auch ohne einen Grundrechtskatalog als "in every rational sense, and to every useful purpose, a Bill of Rights" bezeichnete, der man aber trotzdem noch einen solchen Katalog anfügte, um ganz sicher zu gehen, daß die Menschen von der Regierung in Ruhe gelassen werden, wurden die USA eine wahre Bastion der Menschenrechte. Das wurde nicht nur von Amerikanern, sondern auch von Ausländern gesehen. 6 Der Sonnenstrahl, von dem Rarnilton sprach, strahlte nicht nur auf das Land, das als "God's Own Country" bezeichnet und mit seiner Fülle an Menschenrechten zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde. Er strahlte, durch amerikanische Ereignisse in seiner Ausstrahlungskraft gefördert, auf die ganze Welt. Und wie in England die Whigs zugunsten gottgegebener Menschenrechte dem divine right of kings trotzten, so trotzte in Amerika eine kleine Anzahl von Kolonisten im Kampf für diese Rechte einem mächtigen Empire, das zu dieser Zeit schon derart konstitutionalisiert war, daß Montesquieu es als Hort der Freiheit sah. Die Menschenrechte wurden in Amerika nicht nur, wie in der Englischen Revolution, vor einem absoluten Monarchen verteidigt. Sie wurden auch gegenüber dem englischen Parlament behauptet, jener Körperschaft, die sich selbst als Bewahrer dieser Rechte sah und weithin als ein solcher galt. In Nordamerika erhielt der Kampf um die Menschenrechte eine neue Dimension. Man entdeckte neue Fronten dieses Kampfes. Ob damit etwas zustande kam in der Neuen Welt, das, wie der Spanier Francisco L6pez de G6mara gleich am Anfang seiner 1552 in Madrid veröffentlichten Historia general de las Indias von der Entdeckung der Neuen Welt schrieb, 6
Siehe mein Amerikanische Demokratie - Wesen des praktischen Liberalismus, München
1988, 38-44.
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mit der Fleischwerdung und dem Tode ihres Schöpfers ("encarnacion y muerte del que lo crio") vergleichbar ist, soll an dieser Stelle nicht behandelt werden. In menschenrechtlicher Beziehung kam jedenfalls allerhand zustande, was das Potential von Wirrungen und Irrungen zu erhöhen geeignet war. Der Kampf der Amerikaner um Menschenrechte trug seine offensichtlichsten Früchte zunächst in Frankreich, wo er den wachsenden Bestrebungen gegen die absolute Monarchie Aufwind verlieh. Lafayette erlebte die Amerikanische Revolution und verbreitete ihre Gedanken in seiner Heimat. Dort war der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Deist Thomas Jefferson, Botschafter der Vereinigten Staaten, und erlebte als Zeuge die Revolution. Diese Gedanken reflektieren neben heimischen Aufklärungsideen auch amerikanische, die ihre Wurzeln in der englischen freiheitlichen Tradition hatten. Auch Frankreich fühlte sich nun als Hort der Menschenrechte und wurde als solcher gesehen. Napoleon wurden seine Eroberungen erleichtert, weil er als Bringer und Förderer dieser Rechte galt. Man denke nur an Tolstois Krieg und Frieden und an Puccinis Tosca. Friedrich August von Hayek betonte den Unterschied zwischen der in England vorherrschenden Untermauerung der Freiheit des Individuums und der in Frankreich zustande gekommenen aufklärerischen, "die eine empirisch und unsystematisch, die andere spekulativ und rationalistisch; die erste auf der Grundlage einer Deutung der Überlieferungen und Einrichtungen, die sich spontan entwickelt hatten und nur unvollkommen verstanden waren, die zweite mit dem Ziel der Konstruktion einer Utopie, die oft, aber nie mit Erfolg versucht worden ist." Er nennt als Hauptvertreter der englischen Schule die schottischen Moralisten David Hume, Adam Smith und Adam Ferguson sowie deren englische Zeitgenossen Josiah Tucker, Edmund Burke und William Paley. Die französische Schule, "tief vom Cartesischen Rationalismus durchdrungen", wurde vor allem von den Enzyklopädisten und Rousseau, den Physiokraten und Condorcet vertreten. Zweifellos bestehen hier Unterschiede. Aber ich sehe in ihnen eine Bestätigung der Tatsache, daß nun einmal in verschiedenen Ländern verschiedene Ansichten über Menschenrechte existieren und von jeher existiert haben. Es ist fraglich, ob die beiden Schulen klar zu trennen sind. Sie gehen wohl eher ineinander über. Wenn Menschen empirisch und unsystematisch durch Generationen hindurch ihre Freiheiten verteidigen, beruht das sicher mit auf der vernünftigen Spekulation, daß ein solches Verhalten richtig ist. Wenn sie rationalistisch spekulieren, dies und jenes sei ihren Rechten zuträglich, basiert ihre Spekulation doch gewiß teilweise auf der Überlegung, daß die Menschen von jeher bestimmte Freiheiten beanspruchten und besaßen. Sogar ein Verteidiger der absoluten Monarchie wie Jean Bodin betonte, daß selbst diese durch das die Bürger des Landes schützende Gewohnheitsrecht gebunden war. Wohl gibt es Unterschiede zwischen Locke, dem Verteidiger der Glorreichen Revolution und Philosophen der Amerikanischen Revolution, und Rousseau, der als Vater der Französischen Revolution gesehen wird. Aber es sollte nicht übersehen werden, daß Locke, der infolge seiner Betonungen der traditionel-
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len Rechte, für die das englische Parlament kämpfte, der "englischen" Schule zuzuordnen ist, auch ein Essay On Human Understanding verfaßte. Und in seiner Zweiten Abhandlung über das Regierungswesen trat er bei aller Betonung der Rechte des Individuums klar für die Herrschaft der Mehrheit ein, was ihn Rousseau nahebrachte, dem Advokaten der Herrschaft der volonte generale, dessen Kampf um die Menschenrechte ähnlich herausgestellt wurde wie sein Wunsch nach einem von rationalen Spitzfindigkeiten ungetrübten Naturzustand. Menschenrechte lassen sich durch empirische, unsystematische, spekulative und rationalistische Argumente vertreten, durch gewohnheitsrechtliche wie auch naturrechtliche, wie sie der Aufklärung besonders eigen waren. Über alle läßt sich an Menschenrechte herankommen, meist spielen sie alle beim Kampf um diese eine Rolle. Nach Hegel ist das, was ist, vernünftig. Um so vernünftiger muß alles sein, was lange Zeit hindurch gewesen ist, das Gewohnte, an das man sich nicht erst zu gewöhnen, dem man vom menschenrechtliehen Standpunkt aus wohl selten nur zu frönen braucht. Hayek schreibt, die englischen und französischen Überlieferungen würden oft nicht auseinandergehalten, weil die französische aus dem Versuch entstand, englische Institutionen zu interpretieren und Vorstellungen, die andere Länder von den britischen Einrichtungen hatten, sich hauptsächlich auf die Darstellungen französischer Autoren gründeten. Er fahrt fort, diese Vorstellungen seien endgültig durcheinander gebracht worden, als sie zur liberalen Bewegung des 19. Jahrhunderts zusammenschmolzen und sogar führende englische Liberale ebensoviel aus der französischen wie aus der britischen Tradition übernahmen. Mir erscheint das alles ganz natürlich, ähnlich natürlich wie das, was Tocqueville in seinem Discours de Reception a 1' Acadernie Fran~aise 1842 erwähnte, nämlich, daß beide Vorstellungen im 18. Jahrhundert aus derselben Quelle hervorgingen. 7 Ein Zusammenschmelzen englischer und französischer Ideen ist auch schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte offenbar. Es ist in den Verfassungen der amerikanischen Einzelstaaten, der amerikanischen Bundesverfassung sowie in den französischen Revolutionsverfassungen ersichtlich. Was immer die Unterschiede zwischen all diesen Dokumenten sein mögen, lassen sie alle doch wenig Zweifel über einen grundsätzlich weitgehenden Schutz der Menschenrechte vor der Regierung, in dem sie den Hauptzweck des Staates und seiner Regierung sahen. Ich möchte diese in mächtigen westlichen Nationen wie Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten betonte Auffassung als das westliche Konzept der Menschenrechte bezeichnen, als "lndividualitätsprinzip". Wenn nun heute in der Welt von Menschenrechten die Rede ist, hat man insbesondere dieses westliche Konzept im Sinn. Das ist nicht verwunderlich angesichts der Ausbreitung der Bewegung des Liberalismus durch die Grande Nation, durch Großbritannien im Englischen Jahrhundert mit seiner Pax Britannica, durch die
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Die Verfassung der Freiheit, englisch 1960, deutsch Tübingen 1971, 65 f., 68.
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USA im 20. Jahrhundert, in dem bis zu einem gewissen Zeitpunkt vom Amerikanischen Jahrhundert und der Pax Americana die Rede war. Auch überrascht es nicht, daß sich noch danach die Vereinigten Staaten zum Sprecher für die Menschenrechte machten, besonders unter Präsident Carter, als stärkste der genannten westlichen Nationen. Ihr langes Zögern, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zu unterzeichnen, das viele verwunderte, ist wohl weniger auf Desinteresse oder gar auf eine Feindschaft gegenüber modernen Menschenrechtsbegriffen zurückzuführen, als auf die Erwägung, einzelne Nationen seien die besten Beschützer der Rechte ihrer Bewohner. Das lange Zögern, bis in die sechziger Jahre hinein, mit einer nationalen Affirmation von Menschenrechten für alle Amerikaner, ging wohl auch mit auf die Überlegung zurück, daß die Einzelstaaten des großen Bundesstaates diese Rechte besser schützen könnten als der Bund. Aus diesem Grunde hatte man ja schon 1787 bei der Schaffung der Bundesverfassung davon abgesehen, dieser einen Grundrechtskatalog anzufügen. Das offenbare allgemeine Engagement der Vereinigten Staaten für die Menschenrechte in der ganzen Welt ist in großem Ausmaß darauf zurückzuführen, daß dieses Land das einzige der großen Nationen ist, welches zu einer Zeit gegründet wurde, als man allgemein von Menschenrechten sprach. Die Idee der Menschenrechte waren der jungen Nation in die Wiege gelegt. Wie man vom Wachstum der Nation begeistert war, war man es auch von dem der Menschenrechte. Und diese Begeisterung wurde noch von dem schlechten Gewissen, das man wegen der über Jahrhunderte anhaltenden Sklaverei unter Regierungen, die keine Diktaturen waren, hatte, sekundiert, ebenso wie von dem Gedanken daran, daß die Emanzipation der Neger doch reichlich spät kam und mehr oder weniger unter Druck erfolgte. Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis führen oft zu übersteigerten Praktiken. Carl Schmitt bemerkte 1952, so etwa zum Höhepunkt der Pax Americana, die Welt werde immer größer sein als die Vereinigten Staaten. Ein Jahr später erschien Amold Toynbees The World and the West mit der klaren Botschaft, daß die Welt größer ist als der Westen, nachdem sich die westlichen Kolonialmächte nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Kolonien davonmachen mußten, in denen dieser Krieg als ein befreiender angesehen wurde. 8 Bei ihrer Befreiung vom Kolonialismus beriefen sich die Völker in den Kolonien oft auf die Menschenrechte, wie es die amerikanischen Kolonisten in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen Großbritannien getan hatten. Ferner dachte man an Woodrow Wilsons These vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das heißt nicht notwendig, daß in den früheren Kolonien das westliche Menschenrechtskonzept ähnlich verwurzelt war wie seinerzeit in den dreizehn englischen Kolonien in Amerika. Tatsächlich wurde es in der Opportunität der Stunde gegen die Kolonialmächte genutzt und ausgenutzt, um sie mit der ihnen eigenen Menschenrechtsauffassung zu schlagen. Der Liberalismus liefert ja mit seinem Freiheitsdrang so manche Instrumente der Zerstörung. Übers Die Einheit der Welt, in Merkur, VI (1952), 4. Schmitt fährt fort, die Erde werde auch immer größer sein, als der kommunistische Osten oder beide zusammen. Toynbees Buch erschien 1953 in London.
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haupt entsteht die Frage, wie es denn in der nichtwestlichen Welt um den westlichen Begriff der Menschenrechte steht.
2. Wir beginnen im Fernen Osten, mit Japan. Man hat den englischen Konservatismus zum guten Teil der insularen Lage des Landes zugeschrieben, jener splendid isolation, die es nicht nur militärisch vom Ausland absicherte. Auch Japan ist ein Inselreich. Mehr aber noch als Großbritannien, das seine Häfen früh öffnete und regen Handel mit der Welt trieb, isolierte sich Japan jahrhundertelang von der Außenwelt. Sieht man nun im Grad der Isolierung ein Anzeichen des Grades der Konservierung des Eigenen, erscheint Japan mehr noch als England als konservatives Land. Zwar ist es denkbar, daß die Übernahme fremder Gebräuche und Werte zu einer Übertreibung derselben führt. Konvertiten haben das durch besondere Ereiferungen schon immer gezeigt, man sieht es heutzutage häufig bei Amerikanisierten. Japan hat nun seit der Öffnung seiner Häfen durch ein amerikanisches Geschwader Mitte des 19. Jahrhunderts sehr schnell westliche Lebensformen angenommen. In vielen Beziehungen ist das so weit gegangen, daß der Eindruck entstanden ist, als wollten die Japaner den Westen überflügeln. Auf die Menschenrechte trifft das nicht zu. Da blieben die Japaner die Gefangenen und Bewahrer ihrer eigenen Tradition, die dem westlichen Menschenrechtsbegriff entgegensteht. Ihr Konservatismus ist hier von ganz anderer Art als der der Engländer. Während letzterer nämlich auf den Schutz der traditional rights of Englishmen bedacht ist, unter denen man vor allem die Freiheit der Individuen vor Eingriffen der Regierung verstanden hat, ist die japanische Tradition eine der Einordnungen der Bürger in das Gemeinwesen, ihrer Unterordnung unter dessen Regierung. Sie läßt die Stellung der einzelnen noch schwächer erscheinen als die der Franzosen unter dem theokratischen Königtum. Man mochte Ludwig XIV. den Sonnenkönig nennen. Wie sein Reich mit dem Louvre und Versailles aber auch erstrahlen mochte, als Abkömmling der Sonne galt er nicht. Beim japanischen Kaiser war das anders. Die sogenannte 17-Artikel-Verfassung von 604legte den Grund zu einer einheitlichen Staatsstruktur mit dem Kaiser als Souverän, der als Abkömmling der Sonnengöttin Amaterasu galt, die als mythologische Stammotter der japanischen Inseln und ihrer Bewohner verehrt wurde. Er war legitimer Inhaber aller politischen Autorität sowie Oberhaupt des Shintoismus, des japanischen Religionskults. Die Leitsätze fordern die Noblen zum Befolgen konfuzianischer Prinzipien auf, insbesondere zur Aufrechterhaltung der Harmonie im Gemeinwesen und zur Pflichterfüllung. Auch die 645 begonnene Taika-Reform war von Geboten und Verwaltungsregeln begleitet, welche das Einfügen der einzelnen in die Gemeinschaft demonstrieren. Diese Einfügung mit ihrer entsprechenden Unterordnung unter die Regierung änderte sich auch nicht unter dem Feudalsystem, das Ende des 12. Jahrhunderts bei Beschränkungen kaiserlicher Macht entstand. Es war von weitgehen-
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der Selbstisolierung gekennzeichnet, die sich u. a. in umfangreichen Beschränkungen des Außenhandels und alles Fremden zeigte. Das Christentum und ausländische Geisteswerke galten als staatszersetzend und waren verboten. Für das westliche Menschenrechtskonzept war da kein Raum. Nach der Öffnung Japans durch die Amerikaner verloren die Shogune ihre Macht, und die des Kaisers wurde wiederhergestellt. Zu einer Übernahme westlicher Menschenrechtsbegriffe kam es aber nicht, sondern eher zu einer Abwehr dessen, was man als Zwangsverwestlichung ansah. Mächtig waren die traditionellen Kräfte. Die Rückkehr zu einem starken Kaisertum war auf konfuzianistisch-nationalistische Ideen zurückzuführen. Unter dem Motto "verehrt den Kaiser, wehrt euch der Barbaren" suchten diese eine Rückbesinnung auf die in der mythologischen Verehrung der Sonnengöttin wurzelnde Tenno-Tradition, unter der bei selbständiger Ausnutzung westlicher Fortschritte Japan erstarken sollte. Westliches blieb dennoch gegenüber dem althergebrachten Japanischen sekundär. Das Wesentliche des westlichen Menschenrechtsbegriffs, die starke Stellung des Individuums vor staatlichen Eingriffen, wurde ignoriert gegenüber dem Interesse der vom Tenno geführten Gemeinschaft. Es kam nur zum Zuge, wenn es der Gemeinschaft nutzte. Bezeichnend ist, daß ein hervorragender Vorkämpfer für die Menschenrechte, Yukichi Fukuzawa, keinen Zweifel daran ließ, daß die Bürger ihre Pflichten im Staat zu erfüllen hatten. Werke von Naturrechtstheoretikern wie Emori Ueki und Chohmin Nakae sowie die ,jiyo minken undo", eine Bewegung für Volksherrschaft und demokratische Freiheiten, zeigen zwar, daß naturrechtliches westliches Denken und die Ansichten von Rousseau und John Stuart Mill Einlaß fanden. Dennoch stand im Mittelpunkt dieser Rezeption westlicher Gedanken nicht die Autonomie des Individuums, sondern das Wohl des gesamten Volkes. 9 Dieses sollte das Hauptanliegen der öffentlichen Gewalt sein. Der Gedanke einer auf dem Volke beruhenden Regierung überschnitt sich mit dem eines staatsbezogenen Nationalismus. Der Staat galt als Conditio sine qua non des Wohlergehens aller, das vor der Entfaltung einzelner kam. Das Individuum ging nicht dem Volk und dem Staat voran, wie in der westlichen Naturrechtslehre. Der Staat und das ihm dienende Volk gingen dem Individualismus vor. So blieb der Einfluß des westlichen Menschenrechtsbegriffs im Schatten vorherrschender konfuzianischer nationalistischer Anschauungen. Wenn auch Ueki in seinem Volkslied der Menschenrechte behauptete, man sei tot, wenn man ohne Freiheit ist, sah er die Freiheit doch in der Pflicht zu ihrer Ausübung zum Wohle der Gemeinschaft. Auch in der nach preußischem Vorbild entstandenen Meiji-Verfassung von 1889 spielten Menschenrechte keine so vorrangige Rolle wie in westlichen Ländern. Sie ist als eine von mythischen Traditionen zusammengehaltene "uneasy marriage" 9 Vgl. Cannen Blacker, The Japanese Enlightenment - A Study ofthe Writings ofFukuzawa Yukichi, Cambridge 1964; Tetsuo Najita, The Intellectual Foundation of Modem Japanese Politics, Chicago und London 1974.
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absolutistischer Ideen und moderner Verfassungsprinzipien bezeichnet worden. Unter ihr blieb der als heilig und unverletzbar angesehene Kaiser unbestrittener Souverän. Einzelne menschenrechtliche Klauseln ändern daran nichts. Sie demonstrieren eine westlichem Individualismus bare Auffassung und reflektieren Ansichten, die der Nationalist Hiroyuki Katoh 1882 in seinerNeuen Menschenrechtstheorie propagierte, welche die westliche Naturrechtslehre ablehnte und für eine sozialdarwinistische Auslese eintrat, d. h. für die Rechte der Stärkeren, der Regierung. Menschenrechte wurden nicht als vor dem Staate existent, dem Menschen mithin immanent, verstanden, sondern als Gabe des Tenno. Wenn auch nach allgemeiner Meinung die Regierung die öffentliche Meinung respektieren mußte, bestanden doch wenig Zweifel, daß sie vor allem die Belange des Landes wahrzunehmen hatte, hinter denen die der einzelnen Bürger zurücktraten. Das änderte sich auch nicht in der relativ liberalen Taishoh-Ära, in der, ein Jahr vor der Thronbesteigung Hirohitos, Männem das allgemeine Wahlrecht verliehen wurde. 1930 brach diese kurze demokratische Epoche zusammen. Eine nationalistische Politik führte zum Militarismus, liberal-demokratische Tendenzen unterlagen traditionellen, autoritären.10 In einer im Sommer 1941 vom Erziehungsministerium herausgegebenen Schrift, Der Weg des Untertanen, heißt es, es sei unverzeihlich, das Privatleben als einen Bereich individueller Freiheit anzusehen, in dem man außerhalb staatlicher Aufsicht tun kann, was man will. Ein Mahl oder ein Anzug gehöre nicht uns allein und man handle nicht in einer rein persönlichen Kapazität, wenn man spielt oder schläft. Alles habe seine Beziehung zum Staat, selbst im Privatleben solle man dem Kaiser huldigen und niemals die Einstellung, ihm dienen zu wollen, verlieren.'' Das zeigt, wie Shintoismus und Nationalismus diejenigen, die in den vorangegangenen Jahren Menschenrechtliches anklingen ließen, an die Seite drückten und die Unterordnung der einzelnen bis zur Selbstaufgabe für Kaiser und Reich verlangten - und verlangen konnten. Angesichts der offenbar andauernden Stärke einer derartigen traditionellen Haltung erscheint das nicht verwunderlich. Diese Stärke zeigte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die westliche Auffassung der Menschenrechte wurde nicht dominierend. Zwar wurden diese Rechte in der Verfassung festgelegt. Aber das war eher das Resultat der amerikanischen Besetzung als eine Konsequenz jener Bemühungen, die sich seit dem 19. Jahrhundert in Japan hier und da abzeichneten, aber nie voll zum Zuge kamen. Das wird besonders deutlich bei Artikel 13, der in der Sprache der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von den Rechten auf das Leben, die Freiheit und den Verfolg des Glücks spricht. Selbst wenn man die Formulierung der "ewigen und unverletzli1o Vgl. Tatsuo Arima, The Failure of Freedom: A Portrait of Modern Japanese lntellectuals, Cambridge, Mass. 1969; Richard H. Minear, Japanese Tradition and Western Law, Cambridge, Mass. 1970. II Matsumoto Sannosuke, The Roots of Political Disillusionment Public and Private in Japan, in Victor Koschmann, Hrsg., Authority and the Individual in Japan, Tokio 1978, 48.
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eben Rechte" (Art. 11) in den Artikeln 10- 40, also ziemlich am Anfang der Verfassung, als Bekenntnis zu den Menschenrechten sehen will, ist doch nicht zu übersehen, daß dieser Grundrechtskatalog auf "Rechte und Pflichten" abstellt. Er spricht also nicht nur von Rechten, sondern schränkt diese durch Pflichten ein, die die Bürger nach traditioneller japanischer Art der Gesellschaft gegenüber haben. Die Meiji-Reformer sehen gerade den Individualismus als den für ihr Land am wenigsten geeigneten Teil westlicher Kultur. Sie wollten die Modemisierung Japans ohne ihn zustande bringen. Daher überrascht es nicht, daß man dem Individualismus auch nach dem Zweiten Weltkrieg skeptisch gegenüberstand. So konnte schon Nabutake Ike von einer spezifisch japanischen Version der Demokratie sprechen, die ohne die konstitutive Figur des Individualismus auskommt. Und vor nicht zu langer Zeit konnte S. Prkash den japanischen Menschenrechtsbegriff als "nicht-westlich" bezeichnen und schreiben, das in Nachahmung des Westens angenommene Recht fände nur auf einen kleinen Teil des sozialen Lebens Anwendung, die Mehrheit des Volkes folge dagegen immer noch traditionellen Lebensweisen und der konfuzianischen hierarchischen Idee, so daß die Japaner öffentliche Angelegenheiten lieber der Regierung überlassen, als selbst in solche verwickelt zu werden. Das deckt sich etwa mit jener Freiheit in der Geborgenheit des Staates, von der Takeo Doi sprach. Es ist eine Geborgenheit, die auf dem Einfügen der einzelnen in die staatliche Gemeinschaft beruht. 12 Ich will es "Einfügungsprinzip" nennen. Ein ähnliches Bild findet sich in China. Das Reich der Mitte sah sich als Zentrum allen irdischen Geschehens, in dem die Menschen nach Harmonie strebten. Für individualistische Menschenrechte war in ihm wenig Platz. Immer galt das Einfügungsprinzip. Selbst im 19. Jahrhundert, als westliche Gedanken und Macht im Vordringen waren, sowie nach dem Fall des letzten Kaisers 1911 und unter dem Kommunismus wurde das individualistische Menschenrechtskonzept kaum anerkannt. Nach Max Weber ging das chinesische Kaisertum aus magischem Charisma hervor. 13 Man kann hinzufügen, daß das Einfügungsprinzip die Chinesen zu allen Zeiten beherrschte. Schon im ersten Kaiserreich betonten einflußreiche Legisten, eine transzendente, überstaatliche Autorität gäbe es nicht. Nur der Staat und seine Regierung seien die Quellen des Rechts, dessen Übertretungen schärfstens zu ahnden seien, zumal der Mensch als ein im Grunde böses Wesen verstanden wurde, das es zu züchtigen galt, um für staatsdienliche Zwecke verwendbar zu sein. Unter der Doktrin des Mandats des Himmels und des Konfuzianismus änderte sich diese Einstellung, wenn sie auch niemals ganz verschwand. Der Mensch wurde nun eher als 12 Dieses Einfügen geht wohl weiter noch als das preußische, was den Führer der am 1. Nov. 1929 von ihm gegründeten "deutschenjungenschaft" (dj.l.ll), Eberhard Köbel, genannt "tusk", veranlaßte, seinen ideellen Blick nach Japan zu wenden. Vgl. Takeshi lshida, Japanese Political Culture, New Brunswick, N. J. 1983. 13 Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 7. Auf!., Tübingen 1978, I, 311 f.
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von Grund auf gut verstanden. Bindungen des Herrschers an transzendente Kräfte und Institutionen der Machtkontrolle wurden anerkannt. Früh schon entwarf der 31. Abschnitt des Buchs der Riten das Mandat des Himmels, das dem Kaiser, als Sohn des Himmels verehrt, zugewiesen war, seine Autorität zugleich konstituierend und begrenzend. Er hatte nach dem Vorbild des Himmels zu regieren, für seine Untertanen zu sorgen, die Interessen des Reiches zu vertreten und dessen Ansehen zu mehren. Tat er das nicht, konnte das Volk von seinem Widerstandsrecht Gebrauch machen. Unter dieser Begründung wurde 1766 v. Chr. die seit Jahrhunderten regierende Hsia-Dynastie von der Shang-Dynastie gestürzt, diese ihrerseits 1222 v. Chr., als ihr letzter Vertreter sich als Tyrann zeigte, von der Chou-Dynastie abgelöst. All das war im Einklang mit dem klassischen Buch der Geschichte, in dem es heißt: "Der Himmel hört und sieht, wie unser Volk hört und sieht ... Der Himmel fühlt mit dem Volk. Was das Volk will, der Himmel wird es bewerkstelligen ... Der Himmel liebt das Volk und der Souverän sollte ehrfurchtsvoll nach dieser Einstellung des Himmels handeln." 14 Dies zeigt einen harmonischen Organismus des Reiches unter dem Himmel, in dem jeder seinen bestimmten Platz einnimmt, den er zum Nachteil der allgemeinen Harmonie nicht aufgeben und verlassen darf. Auch auf den Kaiser trifft das zu. Nur das Volk als solches hatte ein Widerstandsrecht zur Wiederherstellung der himmelsgewollten Harmonie, aber das Mandat des Himmels verlieh seinen einzelnen Mitgliedern keine individuellen Rechte, mit denen sie sich der Gemeinschaft entgegenstellen oder sich von ihr absondern konnten. Die dem Volke nützliche Führung des Staates blieb beim souveränen Herrscher, dessen Macht lediglich moralisch begrenzt war. An subjektive Rechte der einzelnen war nicht zu denken. Der Gedanke des Mandats des Himmels wurde während der Kaiserzeit Bestandteil der politischen Doktrin des Konfuzianismus, die ihrerseits durch das Einordnungsprinzip gekennzeichnet ist, demgemäß die einzelnen vor allem Pflichten gegenüber der staatlichen Ordnung hatten. Man kann von einer wahren Pflichtenethik sprechen. Webers Ansicht, die vornehmliehe Aufgabe der einzelnen, der Gruppen und der Regierung sei die verantwortungsvolle Erfüllung ihrer Pflichten, gibt die herrschende Meinung wieder. 15 Alles strebte hin zum Ideal der Menschlichkeit, das Güte, Humanität, Menschenliebe, Moral und Sittlichkeit urnfaßt. Wenn auch Konfuzius und sein Nachfolger Menzius die Persönlichkeitsentfaltung innerhalb des Staates herausstellten, deutet das eher auf eine Verpflichtung der Regierung, diese zu fördern, als auf eine Anerkennung von Menschenrechten im westlichen Sinne. Auch die vom Konfuzianismus betonten Wege der Kommunikation ermöglichten es lediglich, des Volkes Kritik und Unzufriedenheit den Regierenden zugänglich zu machen. Unterdrückte ein Herrscher seine Untertanen oder erschwerte er ihnen den Verfolg ihres Wohles, oblag es Intellektuellen und Literaten, ihn ent14 Jarnes Legge (Übers.) The Sacred Books of China. The Texts of Confucianism, Oxford 1879, Part I, 56, 127. 15 Weber, a. a. 0., 514.
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sprechend zu informieren und zu kritisieren. Das geschah öffentlich in den vorgeschriebenen Bahnen, den Wegen der Kommunikation, die der Kaiser selbst offen hielt. Zensoren am Hofe hatten die Aufgabe, Abweichungen von Normen, auch durch kaiserliche Beamte oder den Kaiser selbst, zu untersuchen und zu beklagen. Alle öffentliche Kritik hatte sich jedoch in den Grenzen der konfuzianischen Staatsdoktrin zu halten, die nicht in Zweifel gezogen werden durfte. Seit dem 11. Jahrhundert entstanden Akademien als Zentren des Meinungsaustauschs. Sie konnten aber vom Kaiser geschlossen werden, wenn ihm ihre Beanstandungen zu weit gingen. So war in China der Mensch für Jahrtausende Mittel zur Realisierung von Staatszwecken. Verhaltensregeln für das private und öffentliche Leben wurden bestimmt von Riten, die auf eine Privilegienordnung hinausliefen, in der jeder seinen eingeordneten Platz hatte. Der Mensch wurde als ein zur Ritenerfüllung bestimmtes, zum Guten zu formendes Wesen betrachtet. Wie schon von den Legisten zu Beginn der Kaiserzeit, wurde auch unter dem Mandat des Himmels und unter dem Konfuzianismus die Existenz von Menschenrechten als vorstaatliche, dem Menschen immanente individualistische Freiheitsrechte nicht zugegeben. Der Kult des Kaiserreiches diente den Interessen der Gemeinschaft. Das Individualitätsprinzip war dem Einordnungsprinzip untergeordnet. Erst im 19. Jahrhundert kam es unter ausländischen Einflüssen zu einer Auseinandersetzung zwischen der Macht der Regierung und der Freiheit des Individuums. Die Taiping Revolution (1853 - 64) ließ den Ruf nach individueller Freiheit laut werden. Die Meiji-Restauration und die rapiden Änderungen im benachbarten Japan ließen chinesische Intellektuelle zum Inselreich blicken. Tausende gingen dorthin zum Studium und lernten europäische und nordamerikanische Staatsauffassungen kennen. Ideen für eine neue Verfassung kamen nach China. Ende des Jahrhunderts beeinflußten sie die Reformbewegung der Hundert Tage. 1902 begann Liang Ch'i-ch-ao mit der Herausgabe der Zeitschrift New Citizen, welche die Erneuerung des chinesischen Volkes anstrebte. Ihre erste Nummer betonte den angelsächsischen Individualismus. Liang griff die bestehende Gesellschaftslehre an, agierte aber nicht als Revolutionär. Vielmehr forderte er ein allmähliches Anwachsen demokratischer Elemente in einer konstitutionellen Monarchie. Auch vom neuen Bürger verlangte er die Einsicht, daß die Freiheit des Individuums nur unter einer Rechtsordnung möglich ist, in der die Gesetze streng befolgt werden. Nach dem Boxeraufstand 1900 wurde der Spielraum des Hofes immer enger. Der Kaiser leitete zwar eine gewisse Konstitutionalisierung nach japanischem Vorbild ein, und auf Forderung des Hofes wurden 1905 Verfassungsprinzipien vorgelegt, die neben einer Parlamentswahl Rechte und Pflichten der Untertanen vorsahen, aber immer noch unter Betonung der Pflichten. Zu einer Anerkennung des westlichen Menschenrechtsbegriffs kam es nicht. Obwohl Sun Yat-sen, der allgemein als Vater der Republik galt, von der liberalen Ordnung in den Vereinigten Staaten stark beeinflußt war, wich sein politisches 4 Dietze
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Denken vom westlichen individualistischen Vorbild ab und tendierte zur Betonung der Gemeinschaft in einer erstarkten Nation. Sein Entwurf von Drei Volksprinzipien (1904) stellt den Nationalismus, die Volksherrschaft und das Volkswohl in den Mittelpunkt. Die Freiheit des Individuums blieb dem Wohlergehen des Ganzen untergeordnet. Es ging hauptsächlich um China: "Die Parole der französischen Revolution war: Liberte, Egalite, Fraternite; unsere Parole ist: Nationalismus, Volksherrschaft, Volkswohl ... Wenn wir den Ausdruck Freiheit auf die einzelne Person anwenden, werden wir zu einem Haufen losen Sandes. Auf keinen Fall dürfen wir dem Individuum mehr Freiheit geben: Sichern wir statt dessen die Freiheit der Nation! Der Einzelne soll nicht zuviel Freiheit haben, aber die Nation muß vollkommene Freiheit besitzen." 16 Sun Yat-sen wurde 1911 zum provisorischen Präsidenten Chinas ausgerufen. Er blieb einflußreich in den ersten Jahren der Republik. In ihnen wurde klar, daß sich traditionelle Normen behaupteten und die westliche Idee der Menschenrechte ziemlich unbeachtet blieb. Es kam vor allem auf eine stabile und durchsetzbare republikanische Ordnung an. Dennoch wurde der Kampf um Menschenrechte weitergeführt durch Bewegungen wie die der Bewegung für neue Kultur, der Bewegung des 4. Mai. Unter dem Einfluß der Schriften Rousseaus wurden mit dem Schlagwort "Vernichtet das konfuzianische Establishment" Menschenrechte gefordert. Aktiv war hier die 1911 gegründete Zeitschrift Neue Jugend. Ch'en Tu'hsiu betonte in dem Aufsatz Konfuzius' Lehre und das moderne Leben (1911) die Unvereinbarkeit des Konfuzianismus mit der Freiheit des Individuums. Auch die Anwesenheit von John Dewey und Bertrand Russell nach dem Ersten Weltkrieg half der Verbreitung individualistischer Gedanken. All diese Bemühungen blieben aber letzten Endes in herkömmlichen chinesischen Denkweisen befangen. Zu einer wirklichen Anerkennung des westlichen Menschenrechtsbegriffs führten sie nicht. Zu einer solchen kam es auch nicht unter dem Kommunismus. Der zeigt eher ein Bestreben nach einer neuen Ordnung, in die sich alle einfügen. Alles steht im Zeichen des Sozialismus. Die erste kommunistische Verfassung (1954) folgte im wesentlichen der Stalins von 1936. Auch die nach der Großen Kulturrevolution 1975 verkündete Verfassung bemühte sich nicht sonderlich um die Freiheit des Individuums von der öffentlichen Gewalt. In der Verfassung von 1978 lag der Schwerpunkt auf den geplanten Wirtschaftsreformen. Sie beschränkte sich auf eine Liberalisierung der Wirtschaft. In demselben Jahr forderte die Demokratische Bewegung mehr Freiheiten und Menschenrechte. Das Anfang 1979 verkündete Neunzehn-Punkte-Programm ist ein Manifest für Menschenrechte. Trotz seines Aufrufs zur Verwirklichung des Marxismus betont es, man solle von westlichen demokratischen und politischen Auffassungen lernen. Innerhalb des Einparteistaates konnte 16 Zitiert nach Peter Weber-Schäfer, Von der T'ai- p' ing Rebellion zur Republik, in Eduard J. M. Kroker, Hrsg., China. Auf dem Weg zur ,Großen Harmonie ', Stuttgart 1974, 40 f. Seine Vorträge von den drei Volksprinzipien, wohl sein bekanntestes programmatisches Werk, hielt Sun-Yat-sen 1924.
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die Demokratische Bewegung gewisse Erfolge verzeichnen. Die Verfassung von 1982 gilt als die demokratischste und liberalste der chinesischen Geschichte. Was jedoch ihre Aussagen über Menschenrechte angeht, müssen sie im Lichte der Präambel gesehen werden. Die aber unterstreicht die Prinzipien der Revolution, des Kommunismus, des Marxismus, Leninismus und des Denkens von Mao Tse-tung. Kapitel 2 spricht von den fundamentalen Rechten und Pflichten der Bürger. Hier also wieder die Koppelung von Rechten und Pflichten, in der das Einfügungsprinzip dominiert. Es wird klar gemacht, daß die Menschen- und Bürgerrechte vom Staat gewährte Privilegien sind und Beschränkungen durch die öffentliche Gewalt nicht ausschließen. Die Ausübung von Menschenrechten durch die Individuen darf nicht mit den Interessen des Staates, die im Sinne der kommunistischen Parteidoktrin festgelegt sind, kollidieren. Die Menschenrechte sind also den ideologischen Zielen der Diktatur untergeordnet. Sie können im Interesse der öffentlichen Ordnung jederzeit widerrufen werden. 17 Hierarchisch wie die chinesische Privilegienordnung von jeher war, ließen doch weder das Mandat des Himmels noch der Konfuzianismus Zweifel darüber, daß alle Menschen gleich geschaffen sind. Diese Einstellung hat sich auch im China der Neuzeit nicht geändert. Anders ist es im traditionellen Brauch Indiens. Hier war infolge der dominierenden Religion des Hinduismus an Gleichheit nicht zu denken. Und in der Praxis hat sich das bis heute kaum geänderttrotzaller Gleichheitsbeteuerungen der heutigen Verfassung. Nach Max Weber sieht das im Mittelpunkt des Hindu-Glaubens stehende Weltgesetz im Hinduismus eine Geburtsreligion mit dem Grundsatz: "Ohne Kaste gibt es keinen Hindu." Nach ihr gibt es eine "ewige rituelle Scheidung" zwischen den Kasten untereinander und den Kastenlosen, den "Unberührbaren". "Die Menschen waren nicht- wie für den klassischen Konfuzianismus - prinzipiell gleich, sondern wurden zu allen Zeiten ungleich geboren, so ungleich wie Menschen und Tiere." In der stufenrangigen ewigen Welt gab es ,,keinen seligen Urstand und kein seliges Endreich", konnte mithin auch kein der Gemeinschaft vorgelagertes Naturrecht bestehen, aufgrund dessen Menschenrechte als vor dem Staate existent, dem Menschen mithin immanent, beansprucht werden konnten. Die Gesamtheit aller Probleme, welche im Okzident das ,,Naturrecht" ins Leben riefen, fehlte eben vollständig und prinzipiell. Denn es gab schlechthin keinerlei "natürliche" Gleichheit der Menschheit vor irgendeiner Instanz, am allerwenigsten vor irgendeinem überweltlichen "Gott". Dies ist die negative Seite der Sache. Und diese ist die wichtigste: sie schloß die Entstehung sozialkritischer und im naturrechtliehen Sinn ,,rationalistischer" Spekulationen und Abstraktionen vollständig und für immer aus und hinderte das Entstehen irgendwelcher "Menschenrechte". 18 17 Merle Goldman, Human Rights in the People's Republic of China, in Daedalus, CXII (1983), Nr. 4, 111. 18 Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 6. Auf!., Tübingen 1978, II, 31, 40, 142 - 144.
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Die für das herkömmliche Indien charakteristische Vielfalt der Opferkulte, Riten und Verehrungsformen gestatten mit ihrer metaphysischen Toleranz lediglich einen Individualismus auf geistigem und religiösem Gebiet, sind also Ausnahmen von der grundsätzlichen Abwesenheit von Menschenrechten. Rechtlich stand ihnen ein Pluralismus gegenüber, der alles andere war als der im westlichen Sinne, und eine Emanzipation aus bestehenden, angeborenen und festgegossenen Formen kaum gestattete, nämlich der Pluralismus der Kasten und Kastenlosen. Ihm hatten sich alle ihr Leben lang zu fügen und einzufügen. Der Dogmatismus der herrschenden Priesterkaste der Brahmanen, mit dem diese seit Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. ihre starke Stellung ausbauten, gab diesen eine privilegierte Monopolstellung, wie sie wohl keine Priesterkaste jemals besessen hat. Er engte das Leben der einzelnen auf eine Weise ein, die anderen Religionen fremd ist. Unter diesem Dogmatismus wurde der angeborenen Ungleichheit mit einer Konsequenz gehuldigt, die äußerst weit ging. Unter der Kaste der Priester kam die der Krieger, unter dieser die der Händler und Handwerker, darunter die zum ewigen Dienen verpflichtete Kaste der Shudras. Neben diesen vier großen Kasten existierten fast dreitausend Unterkasten und unter denen wiederum die Kastenlosen. Diese Kastenordnung ist bis heute das Rückgrat des Lebens in Indien geblieben. In ihr ist es zu Lebzeiten nicht möglich, in eine höhere Kaste aufzusteigen. Nur bei der nächsten Inkarnation kann man in eine höhere Kaste hineingeboren werden. Und diese Hoffnung ist daran gebunden, das Gesetz des Hinduismus vollständig zu erfüllen, also sich in die bestehende Kastenordnung zu fügen. Eine soziale Aufbesserung nach dem Tode ist daher an ein Akzeptieren des Status quo vor dem Tode gebunden. Der aber bedeutet für große Teile der Bevölkerung, besonders für die Shudras und die Kastenlosen, Misere, insbesondere auf dem Lande, wo die Mehrzahl wohnt -jede Kaste in ihrem eigenen Dorfteil - und wo das Kastensystem die soziale Mobilität erschwert. Die rigide Kastenordnung wurde in großem Ausmaß deshalb errichtet, weil man die Stabilität der bestehenden Ordnung gewährleisten wollte. Sie impliziert Pflichten gegenüber dieser Ordnung. Rechte ihr gegenüber gibt es kaum. Das Einordnungsprinzip dominiert. "Die Hindu-Theorie verleiht dem Individuum keine Rechte, die sich von denen der Gemeinschaft unterscheiden. Die Idee der Freiheit als solche ist in der Auffassung vom Staat abwesend. Es ist das Prinzip des Schutzes, welches betont wird, und daher hat der Untertan dem Herrscher gegenüber keine legalen Rechte, außer dem der Rebellion." 19 Das Recht, einer Tyrannei zu widerstehen, ist in der Mahabbarata, wie die Veden und der Bhagavadgita eine heilige Schrift, erwähnt. Entsprechend hatte der Herrscher das Volk zu schützen, Leben und Eigentum der Bevölkerung zu sichern und die soziale Stabilität zu wahren. Zweifellos fanden britische Grundrechtsgedanken mit der Kolonialisierung Eingang. Aber sie richteten sich zunächst gegen die Kolonialmacht selbst und ihre 19
K. M. Panikkar, The ldea of Sovereignty and State in Indian Political Thought, Bombay
1963, 75.
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Vertreter, die außerhalb der hinduistischen Kastenordnung standen. Man forderte Gleichheit mit den Engländern, keine unter den Indern selbst. Der Menschenrechtsbegriff der Gleichheit wurde ein Kampfmittel des indischen Nationalismus und der Unabhängigkeitsbewegung. Ein Aufruf Mahatma Gandhis zeigt, daß er offenbar wenig daran interessiert war, nach gewonnener Unabhängigkeit westliche Ideen, die er während seines Studiums in England kennengelernt hatte, in Indien zu behalten: "Indiens Heil (liegt) darin, daß es vergiBt, was es in den letzten fünfzig Jahren vom Westen gelernt hat (... ). Nur da, wo diese verfluchte Zivilisation noch nicht eingedrungen ist, ist Indien noch, was es war." Dieser Aufruf zeigt allerdings auch, daß westliche Gedanken in Indien angekommen waren. Die Forderung des indischen Dichters und Nobelpreisträgers Räbindranath Tagore, in einem selbständigen Indien eine klare Trennung zwischen staatlicher Macht und individueller Freiheit zu ziehen, blieb nicht unbeachtet, und die Indian Civil Liberties Union tat das ihre zur Förderung solcher Gedanken. 20 Die Verfassung von 1950 enthält einen Grundrechtskatalog. Er garantiert gleich am Anfang die Meinungs- und Redefreiheit, das Recht auf friedliche und unbewaffnete Versammlung, auf Vereinigungen und Gewerkschaften, auf Bewegungsund Niederlassungsfreiheit, auf Erwerb, Bewahrung und Abtretung des Eigentums, auf freie Berufswahl und Gewerbefreiheit. In Artikel 15 heißt es, der Staat dürfe keine Person aufgrund ihrer Religion, Rasse, Kaste, ihres Geschlechts oder Geburtsorts benachteiligen. Andererseits ist betont worden, die Bestimmung dieses Artikels behandle die Kaste als einen ähnlich unaufhebbaren Zustand wie die Rasse und das Geschlecht, erkenne die angeborene Ungleichheit der Menschen also an. Darüber hinaus wird Artikel17, nach dem die Unantastbarkeit der Kastenlosen abgeschafft wird, in der Praxis besonders in ländlichen Bezirken durch fortgesetzte Diskriminierungen verhöhnt. So hat sich das Kastensystem zäh behauptet, denn der Hinduismus bestimmt nach wie vor das Leben der Mehrzahl der Inder. Auch der u. a. von Gandhi vertretene Reformhinduismus hat die Kastenstruktur 20 Zitiert bei Charles E. Ritterband, Universeller Menschenrechtsschutz und völkerrechtliches Interventionsverbot, Bern!Stuttgart 1982, 532. In einer Notiz von 1921, English learning, zeigt Gandhi sein Ressentiment gegen das Erlernen der englischen Sprache: "Hundreds of youths believe that without a knowledge of English, freedom for India is practically impossible. The canker has so eaten into the society that, in many cases, the only meaning of education is a knowledge of English. All these are for me signs of our slavery and degradation." Kurz danach fährt er mit einem Hinweis aufTagore fort : "I hope I am as great a believer in free air as the great Poet. I do not want my house to be walled in on all sides and my windows to be stuffed. I want the cultures of all the Iands to be blown about my house as freely as possible. But I refuse to be blown off my feet by any. I refuse to live in other people's houses as an interloper, a beggar or a slave." Am I. Juni 1921 erschien in Young lndia Gandhis Beitrag The Poet's Anxiety, in dem Tagores Zweifel über die Politik der "Nonco-operation" mit der Kolonialmacht zerstreut werden sollen. Man liest Sätze wie: "Non-cooperation isaprolest against an unwitting and unwilling participation in evil .. . Non-co-operation with evil is as much a duty as co-operation with good." The Publications Division, Ministry of Information and Broadcasting, Govemment of India, Hrsg., The Collected Works ofMahatma Gandhi, 1966, XX, 159, 162, 163.
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nicht angezweifelt. Andere auf dem Subkontinent vertretene, der Gleichheit der Menschen gewogene Religionen haben es bisher nicht vermocht, diesen althergebrachten Brauch abzuschaffen. 21 In Japan, China und Indien waren es verschiedene Religionen, die Lebensweisen formten, denen bis heute die Verpflichtung der Bürger gemein blieb, sich in die Gemeinschaft und die öffentliche Ordnung einzufügen. In über dreißig Ländern ist es nun so, daß sie alle hauptsächlich von nur einer Religion vereinnahmt werden, der des Islam. Da diese Religion, wie die meisten anderen, durch mehrere Auslegungen gekennzeichnet ist, wird sie in verschiedenen Nationen verschieden gesehen. Dennoch weichen all die unterschiedlichen Beurteilungen nicht vom Einfügungsprinzip ab. Die westliche Menschenrechtsauffassung hat sich also nirgends durchsetzen können. Nach der Lehre Mohammeds fließt alles Menschliche aus dem allmächtigen und unbestreitbaren Willen Allahs, des einzigen Gottes, ist alles ihm unterstellt. Staaten sind Theokratien, in denen die Herrscher als Allahs Agenten in der Einheit des allgewaltigen Staates sein Gebot ausführen. Es gelten die Vorschriften des Koran, der das Gesetz auf unabänderliche Weise festlegt. Daneben sind Rechtsquellen Überlieferungen der Ansichten des Propheten (Sunna), herrschende Meinungen der Rechtsgelehrten sowie Urteile aufgrund juristischer Analogieschlüsse. Außerdem sind ergänzend zulässig Präzedenzfälle, Urteile aufgrund öffentlicher Interessen ohne Bezug auf den Koran oder die Sunna, wie auch Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft. Interpretationen dieser Quellen haben wenig Zweifel darüber gelassen, daß die Individuen von Natur aus nicht mit eigenen Rechten gegenüber der Staatsgewalt ausgestattet sind, da das angesichtsder göttlichen Natur des Staates bedeuten würde, daß sie Gott gegenüber autonom sind. So erscheinen alle Rechte der Menschen, der Herrschenden und der Beherrschten als von Allah verliehene Privilegien. Die einzelnen gewinnen ihre Identität, ihre Persönlichkeit erst als Mitglieder der islamischen umma, einer Gemeinschaft, der sie sich einzufügen und für deren Erhaltung, Wohlergehen und Vergrößerung sie sich einzusetzen haben. Der Gedanke an vorstaatliche, dem Menschen angeborene Rechte kommt nicht auf. Es ist nicht nur so, daß das von Allah gesetzte Recht über dem von Menschen festgelegten steht: die von Regierungen als seinen Stellvertretern gemachten Gesetze werden als Teil des göttlichen Rechts selbst angesehen. Praktisch kommt dadurch ein göttliches Recht der Herrscher zustande, mit dem sich Menschenrechtsverletzungen als mit göttlichem Recht übereinstimmend legitimieren lassen. So haben die Menschen vor allem Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, dem Staat. Diese gelten als Pflichten gegenüber Allah. Man geht kaum fehl mit der Behauptung, daß ihre Rechte mit ihrer Pflichterfüllung wachsen, mit der Befolgung des Willens Allahs, der islamischen Rechtsquellen, wie diese auch von der jeweiligen Regierung als 21 Hans Joachim Klirnkeit, Der politische Hinduismus - Indische Denker zwischen religiöser Reform und politischem Erwachen, Wiesbaden 1981 .
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Agent Allahs ausgelegt werden mögen. Selbst Abdul Aziz Said, der sich bemühte, Menschenrechte unter dem Islam aufzuzeigen, schrieb: "Menschenrechte existieren lediglich im Verhältnis zu den Verpflichtungen der Menschen. Die Individuen haben gewisse Obligationen gegenüber Gott, ihren Mitmenschen und der Natur ... Wenn die Individuen diese Verpflichtungen erfüllen, bekommen sie gewisse Rechte und Freiheiten ... Die Individuen, die diese Obligationen nicht akzeptieren, haben keine Rechte. Ihre Ansprüche auf Freiheit sind unberechtigt." 22 An dieser grundsätzlichen Einstellung vermochte auch die nach dem Zweiten Weltkrieg anrollende Menschenrechtswelle im großen und ganzen kaum etwas zu ändern. Die reservierte Haltung vieler mohammedanischer Staaten gegenüber der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 zeigte sich u. a. in der Weigerung Saudi-Arabiens, diese zu unterzeichnen. Insbesondere hinsichtlich des Menschenrechts der Religionsfreiheit hatte man Bedenken. Dennoch haben einige Staaten in ihren Verfassungen Menschenrechte anerkannt. Aber auch sie stehen unter dem Gesetz des Islam und so ist ihre Nutzbarkeit entsprechend beschränkt. "Schutzrechte gegenüber dem Staat, negative Freiheiten, werden in islamischer Interpretation selbst dort ständig in Frage gestellt, wo sie positivrechtlich verankert sein mögen; gegenüber der moralisch unanfechtbaren Vorstellung, daß die Rechtsgewährung ausschließliches Privileg Allahs und nicht Teil der menschlichen Autonomie sei, vermag die liberale und individualorientierte säkulare Menschenrechtsphilosophie kaum zu bestehen. Umgekehrt muß die Menschenrechtsidee einem konsequenten islamischen Staats- und Rechtsdenken unverständlich bleiben." Unverständlich, weil als unnötig erachtet: "Während in westlicher Tradition Menschenrechte gerade ihre Notwendigkeit als Abwehrrechte gegenüber einem übermächtigen Staate erhalten, dessen Willkür beschnitten werden soll, sind Menschenrechte in konsequent islamischer Vorstellung im Grunde genommen überflüssig, da der Mensch immer und überall dem Willen Allahs zu folgen hat. Da die Erfüllung seines Willens aber auch die oberste Aufgabe des Staates ist, können idealtypisch keine Konflikte zwischen Staat und Volk, zwischen Herrschermacht und den Freiheitsanliegen der Beherrschten entstehen. Autonomie des Individuums wird durch Hingabe an einen religiösen Determinismus überhöht."23 Das wird in den einzelnen islamischen Gemeinschaften verschieden empfunden werden, denn die Strenge des Glaubens ist unterschiedlich in gegebenen Situationen. Da kann es sogar in demselben Land von einer offiziellen Version zu einer anderen gehen, wenn auch nicht oft zu einer so entgegengesetzten wie im Iran 1979, als orthodoxe Shiiten den zur Amerikanisierung neigenden Schah ablösten. Dort wurde die Abweisung des westlichen Menschenrechtsbegriffs durch den vermeintlichen Willen Allahs, wie er von Khomeini gesehen wurde, besonders eklatant. Man vollzog eine klare Abkehr von dem seinerzeit vom Iran mitunterzeich22 Abdul Aziz Said, Precept and Practice of Human Rights in Islam, in Universal Human Rights, I (1979), 73 f. 23 Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, München 1987, 190.
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neten Menschenrechtspakt von 1966. Der iranische Delegierte erklärte vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, daß, wenn immer göttliches Recht mit dem von Menschen gemachten kollidiert, ersteres vorgeht und daß, sobald eine Nation die Prinzipien des Islam als Grundlage seiner Existenz anerkannt und akzeptiert hat, bei der Lösung aller Probleme islamische Vorschriften befolgt werden würden, da diese Vorschriften alle von Gott abgeleitet sind. Erläuternd erklärte der Dauernde Vertreter Irans vor dem Dritten Komitee der Vereinten Nationen am 7. Dezember 1984: "Unsere neue politische Ordnung ... erkennt keine Autorität oder Macht an, als die des Allmächtigen Gottes und keine Rechtstradition, als das islamische Recht ... Nach unserer Ansicht behalten internationale Konventionen, einschließlich der Erklärung der Menschenrechte und ihrer Covenants, ihre Gültigkeit nur insoweit, als sie mit dem Islam vereinbar sind. Mit anderen Worten, es ist nicht unsere Absicht, Menschenrechte zu mißachten oder nicht; die Erklärung oder ihre Covenants sind nicht mehr relevant. " 24 Man hat das Khomeiniregime wegen seiner Negierung des westlichen Menschenrechtsbegriffs verurteilt, nach der Geiselnahme des Botschaftspersonals besonders in den Vereinigten Staaten. Tatsächlich besteht, was die Superiorität des Islam angeht, kein allzu großer Unterschied zu dem Verbündeten der USA, SaudiArabien. Im Gegensatz zu anderen Staaten hat dieses Land niemals eine Verfassung angenommen, weil dort der Koran als Verfassung angesehen und das Recht vom islamischen Rechtsdenken geprägt wird. Als zum Beispiel König Ibn Saud als Stellvertreter Allahs am 24. September 1960 die Pressezensur abschaffte, galt dies als sein gnädiges Wohlwollen, nicht als eine Konzession an den westlichen Menschenrechtsbegriff. Diese Einstellung hat sich unter dem orthodoxen Königtum bis heute nicht geändert. Selbst dort, wo - teilweise in Anlehnung an die Menschenrechtstradition der früheren Kolonialmächte - Grundrechte in Verfassungen aufgenommen wurden, waren sie im allgemeinen nur unvollkommen abgesichert. 25 Von einer den westlichen liberalen Demokratien gleichkommenden Sicherung kann jedenfalls keine Rede sein, auch nicht in relativ westlichen islamischen Staaten wie Marokko und der europäisierten Türkei. In Japan, China und Indien konnte man trotz interner Verschiedenheiten, die besonders in Indien groß sind, von einer politischen Einheit sprechen. Diese Länder sind ja heute noch konkrete Staaten. Auch sollten die vielen islamischen Staaten nicht darüber hinwegtäuschen, daß in ihnen ein einheitliches Band vorzufinden ist. Es gibt die den einzelnen Regierungen gewisse Einstellungen eigentümlich machende dominierende Religion, die generell Schlüsse auf die Auffassung der Men24 UN Doc. CCPRIC/SR. 368, para. 12 (1982). Das Zitat findet sich bei Christian Tomuschat, Human Rights in a World-Wide Framework, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, XLV (1985), 553. 25 Udo Steinbach, Die Menschenrechte im Verständnis des Islam, in Verfassung und Recht in Übersee, Nr. 5 (1975), 55.
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sehenrechte zuläßt. Im nichtislamischen Afrika ist das anders. Zwar gab es vor Jahrhunderten große Reiche, in Ghana vom 7. bis 9. Jahrhundert, in Benin vom 12. bis 15., in Mali vom 12. bis 16., im Kongo vom 13. bis 16., in Gao vom 14. bis 16. Jahrhundert. Aber nach dem Untergang dieser Reiche bestand das vorkoloniale Afrika aus nebeneinander liegenden Stammesgesellschaften mit begrenztem Raum. Die Folge war eine Vielzahl solcher Stämme, die noch heute durch die große Menge unabhängiger Staaten versinnbildlicht wird. In den meisten - die Quellen sind dürftig - herrschte, was Menschenrechte angeht, das Einfügungsprinzip, ohne daß man, wie bei islamischen Gesellschaften, von einer alles überschattenden zwingenden Religion sprechen könnte. Die Rechte der Individuen, in Ruhe gelassen zu werden, waren begrenzt. Sie wurden mit anderen Rechten durch die Familie, den Clan und den Stamm definiert, dem zumeist ein Häuptling oder ein Ältestenrat vorstand. Sie sahen in den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft lediglich Bestandteile des gemeinschaftlichen Organismus, die sich mit ihrem jeweiligen Status dem Ganzen einzufügen und ihm zu dienen hatten. Selbst Keba M'Baye, der sich bemüht zu zeigen, daß es im vorkolonialen Afrika Menschenrechte innerhalb der Stammesharmonie gab, die nach ihm von den Kolonialmächten zerstört wurde, indem sie Afrikanern Menschenrechte vorenthielten, gibt zu, daß im traditionellen Afrika Rechte von Pflichten nicht zu trennen sind. 26 Bräuche, Mythen, Sitten und Riten innerhalb der Stämme bestimmten die Lebensweise und engten sie ein. Die Regierungen der Stämme, oft unter dem Einfluß von Magiern und Zauberern, sahen darauf, daß die einzelnen sich fügten, in die Gemeinschaft einfügten und vor allem ihre Pflichten erfüllten. Da gab es so manche Tyrannenherrschaft Von Menschenrechten im westlichen Sinne, die den einzelnen Ansprüche gegenüber der öffentlichen Gewalt sicherten, konnte kaum die Rede sein. Die Kolonisierung durch westeuropäische Länder brachte Kontakte mit den Kolonialmächten. Die Frage ist, ob sich diese Kontakte alsbald menschenrechtlich zugunsten der Eingeborenen auswirkten. Sie ist zu verneinen. Man hörte zwar allerhand vom "white man's burden", von der "mission civilisatrice" und ähnlichen Kolonialisierungsbemäntelungen, und zweifellos wurden die Kolonisierten mit westlichen Auffassungen der Menschenrechte bekannt. Nutzen taten diese ihnen indessen kaum. Sie wurden lediglich zunehmend der Tatsache gewahr, daß sie nicht dieselben Rechte hatten wie die Kolonialherren. So sehr sich die Angehörigen der Kolonialmächte auch über den Sklavenhandel ihrer Vorfahren entrüsten mochten, sie machten das den Vorfahren der Eingeborenen zugefügte Leid und Unrecht durch eine Gewährung von Menschenrechten an deren Nachkommen nicht wett. Diese wurden im Gegenteil ausgebeutet, was marxistische Denker nach dem Scheitern der Pariser Kommune veranlaßte, die Weltrevolution mit der Begründung hinauszuschieben, das Proletariat in den Kolonialländern profitiere nun auch von der Ausbeutung der Eingeborenen. 26 Human Rights in Africa, in Kare! Vasak, Hrsg., The International Dimensions of Human Rights, Westport 1982, 583 ff.
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So erscheint es nicht verwunderlich, daß mit dem Ende des Kolonialismus in den neuen selbständigen Staaten ein wahrer Hunger nach Anerkennung von Menschenrechten einsetzte, hatte man doch die Verweigerung dieser Rechte durch die Kolonialherren als Argument gegen diese benutzt. Vielerorts wurden Verfassungen verabschiedet, wurden Grundrechte formuliert, die die Anerkennung der Prinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 reflektierten. Als vorbildlich galten in weiten Kreisen die Garantien der Verfassung von Nigerien von 1960. Sie schützte das Recht auf Leben und Freiheit, verbot Tortur und Zwangsarbeit, sorgte für prozessualen Schutz bei Arresten und Strafverfahren und ging von der Unschuld Angeklagter aus. Sie sicherte die Privatsphäre und das Familienleben, die Freiheit des Denkens, des Gewissens, der Erziehung, der Meinungsäußerung, der Vereinigung, Versammlung, die Freizügigkeit einschließlich der Ein- und Auswanderung. Bei Verletzung dieser Rechte durch die öffentliche Gewalt stand der Rechtsweg durch eine Klage vor den Gerichten offen. In der Praxis wurde die allgemeine Begeisterung für Menschenrechte jedoch kaum realisiert. Das soll die Echtheit dieser Begeisterung ebensowenig leugnen wie die der Bewohner der unabhängig gewordenen spanischen Kolonien in Südamerika Generationen früher. Aber wie sich dort die hierarchische Tradition Spaniens, der katholischen Kirche und des indianischen Caciquesystems durchsetzte, liberal-demokratischen Verfassungen den Garaus machte und im caudilloismo endete, kam es in vielen der neuen unabhängigen Staaten Afrikas zu Negierungen von Menschenrechten durch mehr oder weniger despotische Monarchien oder Mehrheitsherrschaften. Die vorkolonialen Bräuche erwiesen sich stärker als die moderne Euphorie. Sieht man sich die Menschenrechtsdeklarationen in afrikanischen Verfassungen an, gewinnt man den Eindruck, den man von der Verfassungsgebungsmanie in Südamerika nach Gewinnung der Unabhängigkeit hat: Es kam zu einer Masse von Normen, denen die Systematik fehlt. Sie geben der Ansicht eines Beobachters recht: ,,Zu den Hindernissen beim Menschenrechtsschutz in Afrika gehört die hierin exemplarisch zum Ausdruck gebrachte Verwirrung über Prioritäten und Kausalitäten der Menschenrechte. " 27 Es ist, als ob man bei den Formulierungen in aller Eile nur daran dachte, möglichst viel zu garantieren. Auf diese Weise kam ein Menschenrechtskauderwelsch zustande, dessen Masse menschenrechtliches Maß überlaufen ließ. Jede Gesetzesflut ist gefährlich, und das ist auch ein Überfluten mit Grundrechtsnormen. Am Ende kann man sich aus dem Wirrwarr kaum noch herausfinden, was das Emporkommen von Demagogen und Diktatoren fördert. So war es in vielen afrikanischen Staaten. Felix Ermacora hat beklagt, nirgends bestände eine größere Diskrepanz zwischen dem westlichen Menschenrechtskonzept und der menschenrechtliehen Realität als in afrikanischen Ländern. Da ist zunächst ein Doppelstandard zu beklagen. Die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) zieht gegen die Apartheid in Südafrika zu Felde, ignoriert aber geflissentlich schwere Menschenrechtsverlet21
Kühnhardt, a. a. 0 ., 273.
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zungen in schwarzafrikanischen Staaten, die bis zu Massenausrottungen ethnischer Gruppen gegangen sind. Auch innerhalb derselben völkischen Gruppe werden Menschenrechte mißachtet. Oft wurde betont, die Rechte der Individuen, von den Regierenden nicht behelligt zu werden, kämen nach denen der Gemeinschaft und des Staates, wie sie sich in staatlich gelenkten Sozialisierungsprogrammen zeigen sollten. Solche Gedanken fanden ihren Ausdruck in der 1981 von der OAU verabschiedeten Afrikanischen Charta der Rechte des Menschen und der Völker. Man ging sogar so weit, diese Auffassung der liberalen westlichen entgegenzustellen. So meinte der Präsident von Sambia, Kenneth Kaunda, ohne Zweifel sei die größte Gabe, die Afrikanern verliehen wurde, ihre Fähigkeit, menschliche Gemeinschaft allein deshalb zu lieben, weil sie eben eine Gemeinschaft von Menschen ist und dieser Gemeinschaftssinn sei der bestimmende Wesenszug der traditionellen Kultur. Er verlangte also eine Wendung zurück zum vorkolonialen Einfügungsprinzip. Die Einordnung in die Kommune, dieser "Kommunalismus", trägt heute vielerorts sozialistische Züge. Ein anderer bekannter Führer, Kwame Nkrumah, äußerte: "Die Idee des ursprünglichen Wertes des Menschen legt uns Pflichten sozialistischer Art auf. Hierin liegt die theoretische Basis des afrikanischen Kommunalismus. Diese theoretische Basis zeigte sich auf sozialer Ebene in Einrichtungen wie dem Clan, die ursprüngliche Gleichheit aller und die Verantwortung vieler für einen betonend ... In der traditionellen afrikanischen Gesellschaft ... kam das Wohl des Volkes zuerst." Ob die für das "Volkswohl" oft arrangierten Planungen von Diktatoren und diktatorischen Mehrheiten, die Einschränkungen des westlichen Menschenrechtsbegriffs mit sich brachten, besonders im Hinblick auf wirtschaftliche Rechte, diesem tatsächlich dienten, ist allerdings eine andere Frage. 28 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in der nichtwestlichen Welt dieser Begriff trotz aller Betonungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so recht nach vorn dringen konnte. In Japan, einer hochentwickelten Nation mit über 122 Millionen Einwohnern, in dem Land mit der größten Bevölkerung der Erde, China, sowie dem der zweitgrößten, Indien, in islamischen und schwarzafrikanischen Staaten: Überall hat sich das traditionelle Einfügungsprinzip trotz Europäisierungen und Amerikanisierungen behauptet. Nachdem man in Europa um die Jahrhundertwende vom fin de siecle sprach, nachdem Oswald Spenglers Gedanken vom Untergang des Abendlandes nach dem Ersten Weltkrieg weit beachtet wurden und Toynbee nach dem Zweiten Weltkrieg den verlierenden Westen der Welt gegenüberstellte, kann man heute hinzufügen, daß das mehr zur Gemeinschaft hin orientierte menschenrechtliche Einfügungsprinzip in der Welt bedeutend mehr Anhänger hat als das westliche Individualitätsprinzip. Letzteres ist outnumbered. Ist es damit ausmanövriert? Nicht notwendig. Nicht immer verdrängt Masse Klasse, wie die Masse auch vorrücken und Klasse gefährden mag, besonders, wenn sie sich noch als privilegierte Klasse ausgibt. Die größere numerische Stärke der 28 Consciencism, New York/London 1964, 69. Vgl. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Wien 1983,72.
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restlichen Welt gegenüber der westlichen muß nicht auf eine Verdrängung letzterer durch erstere hinauslaufen. Afrikanische und asiatische Völker haben das in den vergangeneo Jahrhunderten erfahren -und nicht nur sie. Wenige Spanier unterwarfen sich die mächtigen Reiche der Azteken und Inkas. Eine kommunistische Minderheit, die sich nur den Menschewisten gegenüber als sozialistische Mehrheit hinstellen konnte, unterwarf sich das Zarenreich. Die Minderheit der Nationalsozialisten unterwarf sich Deutschland. Es ist nicht nur so, wie es Lenin im Anschluß an Marx beklagte, daß das Proletariat träge ist, weshalb es berufsmäßige Revolutionäre benötigte. Das Volk im ganzen ist träge und trägt nicht allzu schwer daran in seinem Bürgertum: Es fällt den Machinationen und Manipulationen einiger Weniger selbst bei einem hohen Bildungsstandard zum Opfer, ohne sich dessen oft gewahr zu sein. Wenn Deutschland Hitler bis zur Aufopferung zum Opfer fiel, ist es kaum erstaunlich, daß die Russen von Kommunisten, die Azteken und Inkas von Spaniern beherrscht werden konnten und Asiaten und Afrikaner von Westmächten. Nun ist nach Hege! die Geschichte Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Auch wenn sich in der nichtwestlichen Welt das Einfügungsprinzip gegenüber dem menschenrechtliehen Individualitätsprinzip durchsetzen konnte, wurde letzteres dort doch bekannt und gewann seine Anhänger, wie ja nun einmal alles Freiheitliche leicht und schnell dauernde Freunde gewinnt. Mit nationalistischen Bestrebungen führte es das Ende des Kolonialismus mit herbei, blieb es bei vielen populär, blieb seine Durchsetzbarkeil möglich. Und immer dürfte die Freiheit der einzelnen von der Regierung locken. Ihre lockende Flamme verschlingt vieles. Vielleicht wird sie dereinst auch das Einfügungsprinzip verschlingen. Dieses Prinzip befürwortete Hegel noch im Geiste seines Ortes und seiner Zeit, als der Liberalismus oder Freiheitsdrang von ethischen, moralischen und rechtlichen Hegungen begrenzt war, ein proper liberalism im Gegensatz zum maßlosen liberalism proper, der keinerlei Beschränkungen des Freiheitsdranges kennt. Und wie in westlichen Nationen das Einfügungsprinzip mit dem Vormarsch des Liberalismus zunehmend eingeschränkt wurde, könnte das auch in nichtwestlichen Ländern geschehen. Auch dort nämlich könnten sich die einzelnen ihrer Eigenschaft als Politiker bewußt werden und nicht mehr, wie Max Weber, nur die Regierenden als Berufspolitiker ansehen. Auch dort könnten sie, wie es in westlichen Ländern schon geschehen ist, zunehmend versuchen zu erreichen, wonach ihnen ihr egoistischer Wille gerade steht. 29 Ob allerdings ein Sieg des westlichen Menschenrechtsprinzips in der nichtwestlichen Welt wahrscheinlich ist, erscheint aus verschiedenen Gründen zweifelhaft. Diese liegen einmal darin, daß die Zeit des Kolonialismus vorbei ist und westliche Nationen nicht mehr in der Lage sind, sich unter neuen internationalen Konstellationen und Situationen nichtwestliche Völker zu unterwerfen. Auch das, was heute von diesen Völkern manchmal als Neokolonialismus denunziert und der alten britischen Kolonialmethode "the flag follows the trade" verglichen wird, dürfte nicht mehr zu deren Beherrschung führen. Dennoch sollte man dieses Argument nicht 29
Siehe mein Politik - Wissenschaft, Berlin 1989, 66 - 71.
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überschätzen. Zwar hat die Geschichte gezeigt, daß Ideen durch die Stärke der sie Vertretenden Gehör verschafft werden kann- man denke nur an Napoleons Export der Gedanken der Französischen Revolution. Aber im Grunde sind Ideen von sich aus unsterblich. Thr Überleben ist weniger von den Lebenschancen der Menschen und Völker abhängig als von der Zugkraft anderer Ideen, ob diese nun generationenlang akzeptiert oder den Einfällen einzelner zu danken sind. In den vorangehenden Seiten wurde gezeigt, wie das Einfügungsprinzip von den Traditionen in Japan, China, Indien, in islamischen und schwarzafrikanischen Staaten unterstützt wurde und sich deshalb gegenüber dem westlichen Individualitätsprinzip behaupten konnte. Im folgenden soll dargestellt werden, wie es durch Ideen, die im Westen selbst entstanden, Schützenhilfe erhielt.
3. Unter diesen Ideen steht, wie die Ereignisse in China und Afrika gezeigt haben, die des Marxismus mit seinen Auslegungen und Ergänzungen im Vordergrund. Sie ist in unseren Tagen wohl die größte aus dem Westen stammende Herausforderung des westlichen Menschenrechtskonzepts. 1844 veröffentlichte der 25-jährige Karl Marx im Deutsch-Französischen Jahrbuch sein Essay Zur Judenfrage. Er behandelt die Frage der Emanzipation, also ein Menschenrechtsthema. Gegen Ende unterscheidet Marx, wie vor ihm die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, unter Hinweisen auf weitere derartige französische Deklarationen von 1791 und 1973, auf französische Revolutionsverfassungen sowie auf Menschenrechtsbestimmungen der Verfassungen von New Hampshire und Pennsylvania, zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten. Unter ersteren versteht er die Rechte der einzelnen, von der öffentlichen Gewalt bei ihrem Tun oder Nichttun in Ruhe gelassen zu werden. Er zeigt sich einigermaßen befriedigt darüber, daß Menschenrechte im Kampf gegen Feudalordnungen errungen wurden, hat aber doch Zweifel über sie wegen des ihnen eigenen Individualprinzips. Deshalb will er nicht, daß sie den Bürgerrechten vorgehen. Beide Klassen von Rechten fallen für ihn unter "die sogenannten Menschenrechte" als Sammelbegriff. Er behandelt "die sogenannten Menschenrechte, und zwar die Menschenrechte unter ihrer authentischen Gestalt, unter der Gestalt, welche sie bei ihren Entdeckern, den Nordamerikanern und Franzosen besitzen!" Er fährt fort: "Zum Teil sind diese Rechte politische Rechte." Nach kurzem Kommentar über letztere liest man dann am Ende des gleichen Absatzes weiter: "Es bleibt der andere Teil der Menschenrechte zu betrachten, die droits de l'homme, insofern sie unterschieden sind von den droits du citoyen." Über die droits de l'homme äußert er sich ausführlicher, denn in ihnen wittert er Gefahr. Für ihn kommen die Bürgerrechte zuerst, deshalb wohl erwähnt er sie- im Gegensatz zu französischen Menschenrechtsdeklarationen- vor den droits de l'homme. Er gibt sogar
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seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß das allgemein nicht so gesehen wird: "Die droits de l'homme, die Menschenrechte werden als solche unterschieden von den droits du citoyen, von den Staatsbürgerrechten. Wer ist der vom citoyen unterschiedene homme? Niemand anders als das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Warum wird das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft "Mensch", Mensch schlechthin, warum werden seine Rechte Menschenrechte genannt? Woraus erklären wir dies Faktum? Aus dem Verhältnis des politischen Staats zur bürgerlichen Gesellschaft, aus dem Wesen der politischen Emanzipation." Im folgenden Absatz heißt es gleich weiter: "Vor allem konstatieren wir die Tatsache, daß die sogenannten Menschenrechte, die droits de l 'homme im Unterschied von den droits du citoyen, nichts anderes sind als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen." Auf diese Art von Individuum und Zweifel darüber verwendet Marx einige Mühe, damit der Leser das Fragwürdige an ihm ja nicht übersieht. Er erwähnt, daß die ,,radikalste" Verfassung, die französische von 1793, unter den sogenannten Menschenrechten die natürlichen und unveräußerlichen Rechte der Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und des Eigentums nennt. Der sie genießende Mensch ist eine isolierte, auf sich zurückgezogene Monade, eine "auf sich ruhende Monade". Marx handelt all diese Menschenrechte ab und kommt zu dem Schluß: "Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefaßt wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person." Marx bedauert mit Verwunderung, "daß das Staatsbürgertum, das politische Gemeinwesen von den politischen Emanzipatoren sogar zum bloßen Mittel für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte herabgesetzt, daß also der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich nicht der Mensch als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den eigentlichen und wahren Menschen genommen wird." Mit Ressentiment stellt Marx fest, daß der egoistische Bourgeois, diese vom Gemeinwesen losgelöste Monade, bloßer Teil der bürgerlichen Gesellschaft, darin als eigentlicher, wahrer Mensch angesehen wird und in ihr entsprechend sein individualistisches Betätigungsfeld, Operations- und Jagdrevier zur Verfolgung seiner persönlichen Interessen sieht, ob diese nun denen der Gemeinschaft zuwiderlaufen oder nicht. Der Mensch soll sich zum Wohle der Gemeinschaft und seiner Mitmenschen zuerst als Bürger, nicht aber als Bourgeois fühlen, in die Gemeinschaft inte-
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grieren, nicht von ihr trennen und absondern. Marx. stellt also klar das Einfügungsprinzip dem menschenrechtliehen Individualitätsprinzip entgegen, das für ihn sogar ein Absonderungsprinzip darstellt, ist daher bei der Gegenüberstellung besonders kraß. Der Bourgeois ist für ihn nicht der wirkliche Mensch, wie sehr ihn die liberale Gesellschaft auch für einen solchen halten mg. Er sieht vielmehr im gemeinschaftsgebundenen Bürger den wirklichen Menschen, den Menschen als Gattungswesen, unter dem dereinst die "menschliche Emanzipation" vollbracht werden wird. Zweifellos war sich der junge Marx. des Menschenrechtsproblems bewußt, das aus der Gegenüberstellung der droits de l'homme, die für ihn Menschenrechte im engeren Sinn sind, zu den droits du citoyen, die er unter einem weiteren Begriff der Menschenrechte subsumiert, entsteht. Denn aus jeder Unterscheidung von Rechten folgen Rechtsprobleme, die sich oft in sozialen und anderen Problemen reflektieren und Wirrungen mit sich bringen. Und während Marx. in der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ordnung wohl bereits damals ein dem Verfall geweihtes Übergangsphänomen sah, sympathisierte er doch mit dem citoyen, dem Staatsbürger. Zum Abschluß seines Aufsatzes, als sollte dies noch einmal betont werden, stellt er diesen gegen "das egoistische unabhängige Individuum" des Bourgeois und preist ihn als "die moralische Person". Die Hoffnung, "der wirkliche individuelle Mensch" könne "als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, G_attungswesen" werden, nachdem er "seine ,forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat", deutet auf den individuellen Menschen als guten citoyen, als guten Staatsbürger. Es könnte anzeigen, daß der junge Marx. den Menschen qua Staatsbürger im Sinne des citoyen, als wirklichen individuellen Menschen, als Individuum akzeptiert. Denn, so kann man argumentieren, zwischen einem individuellen Menschen und einem Individuum dürfte es kaum einen Unterschied geben. Von da wäre es nicht weit zum Individualitätsprinzip der Menschenrechte im Sinne weniger eines krassen Absonderungsprinzips, sondern in dem großer Liberaler wie John Locke, Montesquieu, Adam Smith, Kant und Jefferson, die staatliche Ordnung und good citizenship als Voraussetzung individueller Entfaltung sahen. Vielleicht ist der markante, einen ganzen Absatz formende Satz, ,,Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst", sieht man in der menschlichen Welt mit ihren Verhältnissen die (Marx. als eine bourgeois Zwangsordnung erscheinende) staatliche Rechtsordnung, sogar ein Anzeichen dafür, daß diese Zwangsordnung schließlich verschwinden werde. Das wäre eine Vorahnung der Ansicht des späteren Marx.. Ein Seher war er ja. Dann wäre jenes Goldene Zeitalter erreicht, von dem nicht erst Rousseau träumte, in dem es keine Klassen, kein Hassen der Klassen, kein Klassenhassen, keinen Klassenhaß mehr gibt, keinen Staat mehr und somit auch keine Notwendigkeit für das, was Marx. als sogenannte Menschenrechte bezeichnet, da diese ja die prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre der einzelnen gegenüber der prinzipiell begrenzten Macht des Staates festlegen. Es darf nämlich nicht übersehen werden,
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daß Marx auch die Rechte des citoyen, nicht nur die des homme, unter die "sogenannten Menschenrechte" subsumierte, also unter einem ihm wohl zweifelhaften, wenn nicht verächtlichen Begriff. Daher ist ja der Eindruck entstanden, er sei Menschen- und Bürgerrechten abhold gewesen und hätte in ihnen nur Mittel der Bourgeoisie sowie einer bürgerlichen Ideologie gesehen, die als Klassenideologie verwerflich und daher zu verwerfen ist. An diese Einstellung knüpft bekanntlich Lenin an, in dessen Schriften sich das Stichwort "Menschenrechte" nicht findet. 30 Wie dem auch sei, eine klare Prophezeiung, der Staat werde unter dem Kommunismus verschwinden, ist in dem Aufsatz zur Judenfrage noch nicht ersichtlich. Sie kam später, aber nach dem Scheitern der Pariser Kommune glaubte Marx wohl selbst kaum noch, daß er das erleben würde. Er war ja ohnehin der Ansicht, daß vor dem Kommunismus eine sozialistische Übergangsphase notwendig ist, in der die Arbeiterklasse den staatlichen Apparat noch brauchte, um mit dem von ihr oktroyierten Recht ihr feindliche Klassen auszuschalten. In einem solchen Staat wären die Proletarier demnach die Citoyens, die den Angehörigen der Bourgeoisie, die sich noch nicht zu Staatsbürgern im marxistischen Sinne gewandelt hatten, den Garaus machen, um das Endziel der klassenfreien kommunistischen Gesellschaft zu erreichen. Das braucht nicht notwendig auf die Weise zu geschehen, an der der Citoyen Robespierre offenbar Gefallen fand, obgleich der Ideologe der britischen Labour Party, Harold Laski, die Russische Revolution mit der Französischen ver-
30 Marx. Zur Judenfrage in Siegfried Landshut, Hrsg., Die Frühschriften, Stuttgart 1964, 190- 195. Auf Seite 199 endet Marx diesen Rezensionsaufsatz zu Bruno Bauer, Die Judenfrage, Braunschweig 1843: .,Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht." Aus dem Aufsatz des jungen Marx ist manches ersichtlich. Wenn Marx von den .,sogenannten" Menschenrechten spricht, deutet das an, daß es sich für ihn dabei nicht um einen herkömmlichen, allgemein akzeptierten Begriff handelt, sondern um ein Modekonzept. Wenn er die Menschenrechte von den Nordamerikanern und Franzosen entdeckt wähnt, zeigt das, daß er diese Rechte als etwas Neues sah und zwischen den Menschenrechtsauffassungen beider Länder wenig Divergenz bemerkte. Sein Herausstellen des Menschenrechte genießenden Individuums und dessen offenbar hemmungslosen und unersättlichen Egoismus deutet auf ein Erkennen des von allen ethischen, moralischen, rechtlichen usw. Hegungen freien und damit reinen Liberalismus oder Freiheitsdranges. Es deutet auf eine von solchen Hemmungen unbeschwerte Nutzung und Ausnutzung der Freiheit eine Generation bevor John Stuart Mill im letzten Kapitel seines Essays über die Freiheit (1859) schrieb, .,liberty consists in doing what one desires." Vgl. mein Reiner Liberalismus, Tübingen 1985.
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glich. Gewiß hat man dieses Ereignis, um Kants Bemerkung zur Französischen Revolution auf die Revolution von 1917 anzuwenden, bisher nicht vergessen können. Jedenfalls ist es in Ländern, in denen der Marxismus/Leninismus am weitesten realisiert wurde, also in kommunistischen Staaten, die sich als Demokratien, Volksdemokratien oder Volksrepubliken bezeichnen und darauf stolz sind, daß es in ihnen Teilungen der Regierungsgewalt nicht gibt, bisher zu einer Schwächung des staatlichen Machtapparats kaum gekommen und schon gar nicht zu dessen Eliminierung. Die Regierung erscheint dort im Gegenteil stärker als in westlichen liberalen Demokratien. Die einzelnen werden von der herrschenden Partei mehr oder weniger in Kader organisiert und zum Zwecke der Ausschaltung der Bourgeoisie indoktriniert. Nach Meinung der Freunde des westlichen Menschenrechtsbegriffs wäre dessen Anerkennung gerade dort besonders nötig. Aber man sucht ihn gerade dort vergeblich. Und wie der junge Marx die bürgerlichen Menschenrechte als verächtliches Mittel bezeichnet, mit dem die Bourgeois ihrem immerwährenden Egoismus frönen, so betonte ein bürgerlicher Autor hundert Jahre nach dem Tode von Marx, die Marxisten benutzten diese Rechte ebenfalls bloß als Mittel zum Erreichen ihrer Ziele und Zwecke und verhielten sich durchaus folgerichtig, wenn sie in nichtsozialistischen Regimes für Bürger- und Menschenrechte kämpften ("civil liberties and human rights"), um diese dann nach ihrer Machtergreifung sofort zu zerstören. Er findet, daß Regimes, welche ihre Legitimität auf die marxistische Ideologie gründen, grundsätzlich und nicht etwa infolge temporärer Unzulänglichkeiten unfähig sind, die westliche Idee der Menschenrechte zu akzeptieren, weil dies ihre Grundlagen zerstören würde? 1 Marxistische Autoren haben bis heute an der Ablelmung dieser Idee festgehalten. Sie haben dieser im Sinne ihres Kampfliedes, nachdem die kommunistische Internationale das Menschenrecht erkämpft, aber auch im Mitgehen mit der weltweiten Tendenz, sich zu Menschenrechten zu bekennen, ihren eigenen Menschenrechtsbegriff entgegengestellt und diesen unter anhaltenden Kritiken des westlichen Menschenrechtskonzepts nachhaltig betont. Ihre Einstellung läuft auf eine weitgehende Umdeutung dieses Konzepts hinaus, bis hin zu einem entgegengesetzten Funktionieren, so daß man versucht ist, die Behauptung, Marx hätte Hege! auf den Kopf gestellt, durch die Behauptung zu ergänzen, Marxisten stellten den westlichen Begriff der Menschenrechte auf den Kopf. Ihre Einstellung zeigt in eklatanter Weise den Gegensatz des von ihnen verlangten Einfügungsprinzips zum Individualitätsprinzip. Der Westen wird beschuldigt, mit der Betonung seines eigenen Menschenrechtsbegriffs seine Art von Menschenrechten "zu einer Art Trägerrakete für Konterrevolutionsexport umzurüsten." Der Kommunismus, so wird behauptet, habe ganz andere Menschenrechtsforderungen als der Westen, nämlich die Klassenrechtsforderungen im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Für ihn sei "das Klassenanliegen des Proletariats letztlich ein Menschheitsanliegen", seien seine "Klassenrechtsforderungen" ,,Menschenrechtsforderungen". Auch liege 31
Leszek Kolakowski, Marxism and Human Rights, in Daedalus, CXII (1983), Nr. 4, 86.
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der Ursprung der Menschenrechte weder, wie das die westliche Lehre behauptet, "im Natur- noch Gottesrecht", sondern in der Dialektik des historischen Kampfes um Freiheit, den noch in unseren Tagen die Arbeiterklasse führe und durch kommunistische Auffassungen der Menschenrechte in stetem Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit teilweise schon realisiert habe. Die Propagierung des bürgerlichindividualistischen Menschenrechtsprinzips durch westliche Nationen wird als ,,interventionistische Menschenrechtspolitik" kritisiert, die dem Völkerrecht entgegensteht. Also klare Absagen an das westliche Menschenrechtskonzept, das nach marxistischer Auffassung dem marxistischen unterlegen ist. 32 Sieht man sich nun Übernahmen des letzteren in kommunistische Verfassungen an, wird die Umformung und die Umfunktionierung von Grundrechten in Grundpflichten leicht offenbar. Im Gegensatz zur Stalin-Verfassung von 1936, die Bestimmungen über den Staat solchen über Menschenrechte vorangehen ließ, bringt die sowjetische Verfassung von 1977 Bestimmungen über Menschenrechte am Anfang, vor denen über den Staat. Diese nach außen demonstrierte formale Konzession sollte aber nicht zu falschen Schlüssen über den Schutz einzelner vor der öffentlichen Gewalt führen. Zweifellos ist dieser Schutz größer als unter Stalin. Andererseits steht das Einfügungsprinzip weiter vor dem Individualitätsprinzip. Sowjetische Menschenrechte sind auf Pflichten der Bürger gegenüber dem Staate ausgerichtet. Artikel 39 schränkt die Ausübung von Rechten ein, wenn sie staatlichen Interessen, also im Grunde den sozialistischen Interessen der Kommunistischen Partei, zuwiderlaufen. Während in westlichen Demokratien wirtschaftliche Menschenrechte als wirtschaftliche Freiheiten der Individuen verstanden werden, betreffen sie in der Sowjetunion die Freiheit der regierenden Klasse, in die wirtschaftlichen Rechte der einzelnen Bürger einzugreifen und diese zu beschränken, um die sozialistische Wirtschaftsplanung zu fördern. Art. 40 garantiert das Recht auf freie Berufswahl nur unter Berücksichtigung der Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung. Art. 50 garantiert die Redefreiheit nur in Übereinstimmung mit den Interessen des Volkes und der Stärkung des Sozialismus, Art. 51 die Vereinigungsfreiheit nur insofern, als sie dem Aufbau des Kommunismus dient. Art. 59 erwähnt die Pflicht, die Ehre und Würde der sowjetischen Staatsbürgerschaft zu achten. Art. 60 lautet: "Pflicht und Ehrensache jedes arbeitsfähigen Bürgers der UdSSR ist die gewissenhafte Arbeit auf dem von ihm gewählten Gebiet der gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit sowie die Einhaltung der Arbeitsdisziplin." Art. 61 stipuliert, sozialistisches Eigentum zu wahren und zu schützen. Durchweg also eine Anpassung der Gestaltung des individuellen Lebens an staatliche Formen und Normen. In dessen Einordnung, also in dessen prinzipieller Unterordnung unter das Wohl des Staates und der Partei, wird die Freiheit des Individuums gesehen. In der Deutschen Demokratischen Republik, deren Verfassung in Art. 6 die unverbrüchliche Verbundenheit mit der Sowjetunion zum Staats- und Verfassungs32
Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte, Berlin 1982, 12, 14, 126, 159 ff.
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grundsatz erklärt, ist es nicht anders. Nachdem Art. 3 die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen für beendet erklärt hat, koppeln Artikel 19 - 40 Grundrechte mit Grundpflichten. Man geht von der Einstellung aus, daß sich die Persönlichkeit in Freiheit und Würde nur dann entfalten kann, wenn sie zum Wohle der Gemeinschaft und zu dem des Staates handelt. Wie in der Sowjetunion, orientieren sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Bürgern und der Regierung am Standard sozialistischer Moral und Programmatik. Andererseits sollte gerade in Bezug auf die Deutsche Demokratische Republik, wo so manches auf eine Rückbesinnung auf traditionelle deutsche Werte hindeutet, nicht übersehen werden, daß der Gedanke, daß sich Individuen nur innerhalb der staatlichen Gemeinschaft entwikkeln können und in ihrem Handeln immer das Wohl der Gesellschaft berücksichtigen sollen, in der deutschen Überlieferung wurzelt, die in der idealistischen Philosophie mit Kant, Fichte und Hegel Höhepunkte erreichte. Sie unterschied sich vom westlichen Individualitätsprinzip mit einem ihr eigenen Menschenrechtsbegriff, in dem das Einordnungsprinzip eine wesentliche Rolle spielte. Die deutsche Tradition ist grundsätzlich freiheitlich und menschenrechtsfreundlich bei gehöriger Berücksichtigung des Wohls der Gemeinschaft und ihrer Ordnung. Schließlich wird ja der mit natürlichen Rechten ausgestattete Mensch in eine solche hineingeboren. Die oft erwähnte Bemerkung Friedrichs des Großen, der König sei der erste Diener des Staates, zeigt einen großzügigen Willen des wohl bekanntesten deutschen Monarchen der neueren Zeit, für das Wohl des Staates zu leben. Bekanntlich war Kant froh, unter einem solchen Herrscher zu wirken, der als aufklärungswilliger Mensch wohl dem Ideal Platons nahekam. Sein Prinzip, ein jeder könne nach seiner Fa«ron selig werden, bedeutete zu seiner Zeit gewiß einen menschenrechtliehen Durchbruch der Regel des Augsburger Religionsfriedens, cuius regio, eius religio. Tatsächlich aber kamen in Deutschland Affirmationen von Menschenrechten nicht erst im 18. Jahrhundert zustande, wenn auch die bedeutende Rolle, die Friedrich der Große für den Gang vom Despotismus zum menschenrechtsfreundlicheren aufklärerischen Absolutismus spielte, nicht übersehen werden sollte. Es gab sie schon früher. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation erinnert an den Individualismus des römischen Rechts. Wie unter diesem eine weitgehende Handelns- und Handelsfreiheit anerkannt war, die sich u. a. in der klassisch gewordenen Definition des Eigentumsrechts als ius utendi, ius fruendi, ius abutendi spiegelte, gab es im Ersten Reich eine weitgehende Freiheit im öffentlichen Recht in der "Libertät", die den Herrschern der einzelnen Territorien viele Freiheiten gegenüber dem Kaiser zugestand. Während man bald nicht mehr bezweifelte, daß Frankreich, in dem das Wort "Nation" zustandekam, eine Nation, ein Staat war und man das auch von Spanien und Großbritannien sagen konnte, sagte man jahrhundertelang vom Deutschen Reich, es sei eigentlich gar kein rechtes Reich. Sein staatsrechtlicher Charakter blieb lange umstritten. Johannes Althusius, der den Niederlanden verbunden war, dessen Modell schweizerisch, dessen Kontext die an Bedeutung verlierenden Freien Reichsstädte waren, sah das Reich noch als etwas aus Provinzen Zusams•
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mengesetztes, gab aber zu, diese könnten souveräne Formen annehmen. Bogislaw Chemnitz dagegen bezeichnete das Reich als ein Gebilde, in dem die einzelnen Landesherren souverän waren. Hermann Conring ging noch weiter in dieser Richtung. Die geschichtliche Entwicklung zeigte bald eine wachsende Macht der verschiedenen Fürsten als Staatsoberhäupter ihres jeweiligen Territoriums gegenüber dem Kaiser. Sie beanspruchten nun immer mehr Freiheiten von ihm, wenn auch nicht wie Friedrich der Große, der in drei Schlesischen Kriegen die kaiserliche Autorität offen zurückwies. Allerseits schätzte man in deutschen Landen die Libertät als lokale Selbstverwaltung, was Hege! später veranlaßte, die Verzögerung der deutschen Einigung der Freiheitsliebe der Deutschen zuzuschreiben. Mit wachsendem Streben nach größerer Souveränität der partikularen Teile des Reichs kam eine Betonung der Freiheit der Bürger in den einzelnen, souveräner werdenden Teilen. Stimmen in dieser Richtung regten sich schon zur Zeit des Absolutismus. Stärker und stärker wurden sie von Generation zu Generation mit Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und Christian Wolff. Von der anfangliehen Behauptung eines absoluten Herrschers als Ausdruck der Volkssouveränität kam es zu der geistiger Freiheiten gegenüber einem solchen Herrscher bis zu der einer großen Anzahl von Menschenrechten. Klarer noch als Thomas Hobbes betonte Pufendorf, daß die einzelnen im Naturzustand zum Zwecke der Sicherheit ihrer natürlichen Rechte einen Sozialvertrag schließen, daß die Wahrung dieser Sicherheit später die Aufgabe des Herrschers wurde. Offener noch als der Philosoph von Malmesbury machte dieser erste Inhaber eines Lehrstuhls für Naturrecht in Heidelberg klar, daß die Souveränität des Herrschers aus dem Willen der Individuen und ihrer Gesellschaft destilliert wird und an sich selbst ihre Grenzen fand: nur das durfte der Herrscher tun, was er in seiner Eigenschaft als Souverän zu tun hatte. Die Untertanen konnten sich wehren, wenn er seinen Verpflichtungen nicht nachkam, sei es durch Mißbrauch seiner Gewalt oder durch deren Nichtnutzung zum Nachteil der Gesellschaft. Das Wohl der Gesellschaft stand also im Vordergrund. Der Herrscher konnte die Bürger zu allem zwingen, was er für die Gemeinschaft als vorteilhaft erachtete. Deren Mitglieder hatten ihm zu gehorchen, solange keine völligen Zweifel darüber bestanden, daß sein Verlangen im allgemeinen Interesse war. Daraus folgt, daß die Individuen bei der Geltendmachung ihrer Rechte die staatliche Sicherheit und das öffentliche Wohl zu berücksichtigen hatten. Der Staat wurde als moralische Institution aufgefaßt, zu deren Wahrung und Förderung sowohl der Herrscher als auch die Beherrschten beizutragen hatten. Die einzelnen wurden zu moralischen Personen, wenn sie ihre Freiheiten der Gemeinschaft zunutze machten. Pufendorf trat also für eine prinzipielle Souveränität des Volkes ein, die sich auf vertraglicher Grundlage im souveränen Herrscher manifestierte, dem eine willkürliche Amtsführung nicht erlaubt war. Im Rahmen des Staates und zu dessen Besten erkannte er die Rechte der Untertanen an. Wenn dies auch eine Anerkennung im Sinne des Einfügungsprinzips war, ging sie doch über das hinaus, was Hobbes den einzelnen Menschen im Staate zuerkannte. Hier war ein wesentlicher Schritt für Menschenrechte
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getan von einem deutschen Gelehrten, der in ganz Europa Ansehen genoß. Pufendorf konzentrierte sich vor allen Dingen auf Rechte, die mit der Souveränität verbunden waren, also im Grunde auf politische Rechte. Aber er erwähnte auch negative Menschenrechte, aufgrund derer die einzelnen beanspruchen können, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden. Wenn er, was diese Rechte angeht, weiter ging als Hobbes, ging er doch noch nicht so weit wie Locke. Es blieb bei Anklängen an das, was nach ihm Locke, den er beeinflußte, vertrat. Anders war es mit Thomasius. Hier ist ein direkter Einfluß des Verteidigers der Glorreichen Revolution und Philosophen der Amerikanischen Revolution klar ersichtlich. Wenn er auch in seinem Eintreten für Menschenrechte nicht so weit geht wie der Engländer, schlägt er ihnen doch eine Bresche. Sein Argument ist einfach und einleuchtend: wenn menschliches Handeln vom Willen eines beliebigen anderen Menschen nicht abhängig ist, kann es auch nicht vom Willen eines regierenden Fürsten abhängig sein. Das trifft für Thomasius besonders auf geistige Freiheiten zu, wie die Gewissensfreiheit, die Religionsfreiheit und die akademische Freiheit. Man kann fragen, warum er, der Locke kannte, diese wenigen Rechte aussonderte aus den vielen Rechten, die Locke für das Individuum beanspruchte. Das dürfte verschiedene Gründe haben. In England gab es im 17. Jahrhundert eine in ihrer Totalität beeindruckende Gegenüberstellung der umfangreichen, vom König gemäß dem divine right of kings beanspruchten Macht und den eine Vielheit von Menschenrechten umfassenden rights of Englishmen. So lag es für Locke nahe, letztere in ihrem vollen Umfang zu betonen. In Deutschland hingegen gab es kaum ein göttliches Recht von Königen und daher kein der Englischen Revolution entsprechendes Ereignis. So kam es auch nicht zu weitgehenden Behauptungen etwa von Rechten der Deutschen gegenüber den verschiedenen Herrschern, denn allgemein war man damit zufrieden, Libertät vom Kaiser zu genießen. Die einzelnen Fürsten wurden gewiß nicht müde, diesen Vorteil ihren Untertanen gegenüber zu betonen, denn Regierungen haben sich von jeher bemüht, den Regierten das ausreichende oder gar große Ausmaß ihrer individuellen Freiheiten klarzumachen. Honi soit qui mal y pense. Angesichts des ihn umgebenden Absolutismus erscheint es daher nicht verwunderlich, wenn der preußische Jurist und Philosoph sich auf das Betonen geistiger Freiheiten beschränkte. Nachdem Pufendorf vor allem politische Freiheiten behandelt hatte, sah Thomasius im Herausheben geistiger Freiheiten wohl den gangbarsten Weg, für weitere Rechte des Individuums eine Bresche zu schlagen. Das entspricht ganz Hegels Ansicht der geschichtlichen Entwicklung als eines Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit sowie auch der Georg Jellineks, daß Menschenrechte nach und nach aufgrundspezifischer Unterdrückungen durch die Herrschenden von den Beherrschten gefordert und schließlich durch erstere anerkannt werden. Außerdem war sich Thomasius wohl seiner bürgerlichen Verpflichtung im Preußen seiner Zeit bewußt, die gesellschaftliche Ordnung nicht gleich durch allzu umfangreiche Menschenrechtsforderungen zu gefährden. Ihm lag an einer solchen Ordnung, denn er meinte, der Fürst brauche Religionen, welche den Frieden im Staat gefährden, wie den Atheismus und intolerante Glaubensbekennt-
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nisse, ebensowenig zu dulden wie Menschen, die unabhängigen Bildungsanstalten eher gehorchten als ihm. Auch hier also wieder das Einfügungsprinzip mit seiner Forderung der Nutzung von Rechten der Individuen im Sinne des Gemeinwohls. Trotz seiner Betonung dieses Prinzips und bloß geistiger Rechte gebührt Thomasius das Verdienst, mit seiner Forderung individueller Freiheiten, die die Menschen von Natur aus besitzen, einen guten Schuß Individualismus in die deutsche Theorie eingeführt zu haben. Wenn er auch nicht so weit ging wie Locke, der seine Zweite Abhandlung erst veröffentlichte, als das absolute Königtum in England erledigt war, ist doch beachtlich, daß er sich in der ihn umgebenden absolutistischen Atmosphäre mit seinen Gedanken hervorwagte. Im Unterschied zu Locke betonte er allerdings, daß sich durch die Anerkennung der von ihm verlangten Freiheitsrechte durch den Fürsten dessen Machtbasis eher verbreitem als vermindern würde. Aber individuelle Menschenrechte, wenn auch vorerst nur wenige, waren nun einmal in die deutsche Staatslehre eingeführt und harrten ihrer Erweiterung. Diese kam mit Christian Wolff. Er verlor seine Professur in Halle unter dem Soldatenkönig, wurde aber von dessen Sohn, Friedrich II., dort reinstalliert. Der hatte ja als Kronprinz und Verfasser einer gegen den Machiavellismus gerichteten Schrift selbst unter dem strikten Regiment seines Vaters gelitten. Wolffs Propagierung von Menschenrechten war eine generelle. Er verteidigte die Unantastbarkeit aller ursprünglichen natürlichen Rechte des Individuums, die nicht ausdrücklich und vertraglich dem Staate Einschränkungsmöglichkeiten zugestanden. Er ging so weit, auch die Unverletzbarkeit solcher in der Gesellschaft erworbener Rechte zu betonen, bei denen Eingriffe durch die öffentliche Gewalt etwas der menschlichen Natur Wesentliches angreifen würden. So gab er zu, daß Privateigentum im Naturzustand begründet werden kann und dem Naturrecht entspricht. Gelegentlich trat er für den Freihandel ein mit dem Argument, der einzelne Kaufmann könne sein Interesse am besten beurteilen. Wolff war ein Advokat der Vereinigungsfreiheit, lange bevor diese offiziell anerkannt wurde. Er betonte, die Autonomie nichtpolitischer Vereinigungen und deren Autorität gegenüber ihren Mitgliedern beruhe nicht auf staatlicher Delegation, sondern auf dem solchen Vereinigungen innewohnenden Recht, das sich die Individuen beim staatsgründenden Vertrag vorbehielten. Wolffs weitgehende Behauptung von Rechten der einzelnen, von der Regierung nicht behindert zu werden, wurde durch die Erwägung untermauert, daß das Volk die ursprüngliche Quelle aller Regierungsgewalt ist und das Recht hat, den Herrscher durch grundlegende Gesetze zu binden und beschränkende und gemischte Regierungsformen zu errichten. Er ging sogar so weit, die Legitimität erblicher Monarchen auf den Willen des Volkes zu gründen. Ferner erlaubte er passiven Widerstand gegen Herrscher, die das Naturrecht verletzten und aktiven gegen solche, die das Verfassungsrecht mißachteten und Rechte usurpierten, welche das Volk und die Noblen für sich reservierten. Wolff lag derart viel an Menschenrechten, daß er es als Pflicht des Herrschers ansah, diese Rechte nicht nur zu achten, sondern eine allgemeine Atmosphäre zu schaffen, in der es den einzelnen leicht war, sich ihren Rechten gemäß zu entfalten. Diese Notwendigkeit veranlaßte Wolff,
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trotz seiner angesichts der Popularität von Montesquieu und der fortschreitenden Aufklärung verständlichen theoretischen Anerkennung konstitutioneller Ideen, für weitreichende Vollmachten des Herrschers einzutreten. Dieser sollte das Recht haben, alles zu tun, was er im Interesse des allgemeinen Wohls als notwendig erachtete. Parallel hierzu lief die entsprechende Verpflichtung der Beherrschten. Die Individuen mußten bei der Ausübung ihrer Rechte immer das Wohl der Gemeinschaft im Auge behalten, sich also in diese weitgehend einfügen. Wenn auch für Wolff die Machtbefugnisse des Fürsten mit den Rechten seiner Untertanen anwuchsen, bleibt doch nicht zu übersehen, daß das Anwachsen der Regierungsgewalt im Verhältnis zu dem der Menschenrechte bestand und als Mittel zu deren Förderung gesehen wurde, dem Wohle der Gesellschaft dienlich. So wurde Wolff bekannt als der letzte Bedeutende des Dreigestims, das zur Zeit des Absolutismus für eine wachsende Anerkennung von Menschenrechten eintrat und diesen immer aufgeklärter und milder erscheinen ließ. Das dürfte mit dazu beigetragen haben, daß Deutschland eine Revolution, wie sie Frankreich erlebte, erspart blieb und damit viel Blutvergießen. 33 Getreu der Aussage Kants, man lebe zwar in einem Zeitalter der Aufklärung, nicht aber schon in einem aufgeklärten, gab es weitere Aufklärungen. Sie führten zu Erweiterungen an Menschenrechten im Einklang mit Hegels Ansicht, die Geschichte zeige den Fortschritt zur Freiheit. Im Fortschritt zu dem ein größeres Maß an Freiheit sichemden Konstitutionalismus wurde nun die Macht des Staates ohne Nachteile für die Menschenrechte zunehmend abgebaut oder, wie man sagte, konstitutionalisiert. August Ludwig von Schloezer, ein Vertreter der Naturrechtsschule und Bewunderer der englischen Verfassung, war ebenso ein Verfechter konstitutioneller Regierungsformen wie Justus Moeser, der sich nach der alten, ursprünglichen, deutschen Verfassung sehnte, in der die Rolle des Staates minimal war. Aus realpolitischen Gründen akzeptierte er jedoch mit seinen Kollegen aus der Naturrechtsschute souveräne Fürsten als Mittel zum Schutze des Eigentums und der Freiheiten der einzelnen sowie der staatlichen Ordnung. Die Spanne der Advokaten des Konstitutionalismus, des Liberalismus und der Menschenrechte ist groß. Aber die meisten dieser Advokaten zogen an einem Strang zum Wohle einer größeren Emanzipation der einzelnen von der Regierungsgewalt. Immer aber waren sie sich der Notwendigkeit einer staatlichen Ordnung und einer entsprechenden Autorität der Regierung bewußt. Sie trieben die Popularisierung der Menschenrechtsidee, die mit Wolff nach den eher akademischen Versuchen von Pufendorf und Thomasius eingesetzt hatte, weiter und waren nicht ohne Erfolg. Friedrich Schiller zeigte sich als Verfechter der Menschenrechte, was nicht nur in seinem Wilhelm Tell zum Ausdruck kam. Beethoven stand ihm nicht nach. Und dann war da das große Dreigestim, Kant, Fichte, Hege}, dessen Bekanntheitsgrad den der Pioniere Pufendorf, Thomasius und Wolff weit übertrifft, weshalb ich es hier nicht weiter behandeln will. Eines sei indessen gesagt: was immer die Unterschiede ihrer 33
Vgl. Leonard Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957, 50 ff.
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Ansichten sein mochten, und in welchem Maße sie Menschenrechte und staatliche Autorität jeweils betonten, fügten sie sich doch alle in die bisher beschriebene deutsche Menschenrechtstradition ein. Sie ließen keinen Zweifel darüber, daß das Individualitätsprinzip dem Einfügungsprinzip zu weichen hat, wenn das Wohl der Gemeinschaft und der staatlichen Ordnung es erfordern. Aufgrund der Personalunion zwischen den Königreichen Hannover und Großbritannien gewann ersteres letzterem wahrscheinlich Boden ab. In Hannover bauten namhafte Gelehrte wie Ernst Brandes, August W. Rehberg und Friedrich C. Dahlmann auf der englischen Whig-Tradition auf, und ihre Ideen hatten eine gewisse Ausstrahlung auf Deutschland. Dennoch waren die Deutschen wohl weniger von den individualistischeren Gedanken der Englischen und Amerikanischen Revolutionen beeinflußt, sondern eher von den mehr gemeinschaftsbezogenen der Französischen Revolution. Nur diese wurde von Kant als ein Ereignis bezeichnet, das nicht mehr zu vergessen sei. Eine Büste Rousseaus, nicht Lockes, stand in seinem Zimmer. Wenn auch beide Philosophen dem Individualitätsprinzip huldigten, dem, was ich als westliches Menschenrechtskonzept bezeichnete, waren die Schriften Rousseaus doch weniger individualistisch als die Lackes und mehr zum Gemeinwohl hin ausgerichtet, zur ordre public eher als zur public order. Im 19. Jahrhundert waren es vor allem französische Ideen, die in breiter Front über den Rhein kamen, während englische mehr oder weniger bloß über die Nordseeküste Eingang fanden. Auch die Entwicklung Robert von Mohls, des bekanntesten Wegbereiters des menschenrechtsfreundlichen Rechtsstaates, demonstriert ein Hinwenden zum Einfügungsprinzip. Er, der zuerst eine kleine Studie über das Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nordamerika publizierte, zeigte sich zunächst als individualistischer Gegner der Polizei, um dann mit der Zeit das Gute der Polizei zu sehen und weniger individualistisch zu denken. Letztlich kam ihm also das Einfügungsprinzip vor dem Individualitätsprinzip. Es war nicht anders bei dem preußischen Nationalliberalen Heinrich von Treitschke, was nicht nur aus seinem Buch Die Freiheit ersichtlich ist, in dem er eine von gemeinschaftsfreundlichen Erwägungen gehegte individuelle Freiheit einer mehr egoistischen bevorzugt. In diesem Sinne ging es in Deutschland grundsätzlich weiter bis zum Ende des Kaiserreiches. Man hat in dem in der Weimarer Nationalversammlung zustande gekommenen Werk die demokratischste Verfassung gesehen, die es je in Deutschland bis zu ihrem Inkraftsein gab. Manchmal bezeichnete man sie sogar als die demokratischste der Welt. Man hat sie in der Mode der Zeit, die de Tocquevilles Prognose des unvermeidlichen Marsches der Demokratie bestätigte, besonders in der westlichen demokratischen Meinung wegen ihrer menschenrechtliehen Einstellung gelobt. Der frühere Reichskanzler Heinrich Brüning, an dessen Seminar in Harvard es mir vergönnt war teilzunehmen, bemerkte einmal, viele der nach dem Ersten Weltkrieg vor Pogromen in Osteuropa fliehenden Juden hätten sich damals in Deutschland so wohl gefühlt, daß sie dort blieben und nicht nach Amerika weiterzogen. Tatsächlich ging der Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung zum Individualitätsprinzip hin. Im Gegensatz zu dem der Paulskirche, der von den Grundrechten des
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Deutschen Volkes sprach, spricht er von denen der Deutschen. Andererseits geht er nicht so weit wie amerikanische und französische Erklärungen, die von Rechten des Menschen sprechen. Daneben unterläßt er es nicht, Rechte mit Pflichten zu koppeln. Er bleibt also der traditionellen deutschen Auffassung der Menschenrechte ähnlich verhaftet wie der Tradition einer starken Exekutive. Das Potential der starken Stellung des Reichspräsidenten, das später de Gaulle beeindruckte und zum Vorbild des Artikels 16 der Verfassung der Fünften Republik wurde, wurde von dem 300 Jahre nach Hobbes geborenen Carl Schmitt erkannt und ähnlich dem der Mehrheitsherrschaft zugunsten des menschenrechtliehen Einfügungsprinzips betont. 34 Dagegen bedauerte Hayek, der elf Jahre später, 1899 geboren wurde, also etwas über 200 Jahre nach der Veröffentlichung von Lockes Zweiter Abhandlung, die Stärke dieses Prinzips in der Weimarer Verfassung, weil Gesetzesvorbehalte die Garantien von Grundrechten verwässerten und tatsächlich zu erheblichen Einschränkungen dieser Rechte führten, die durch Beschränkungen, die die Exekutive gemäß Artikel 48 durchführte, noch ergänzt wurde. Er sah in ihnen einen Weg in die Knechtschaft, die sich dann im Nationalsozialismus in besonders krasser Form zeigte. Der erkämpfte unter Devisen wie "Freiheit und Brot" die Macht, behauptete sich unter Umwertung vieler Werte im Sinne Nietzsches mit Sätzen wie "Kanonen statt Butter" und "Du bist nichts, Dein Volk ist alles" und nutzte das Einfügungsprinzip in einer in der deutschen Geschichte einmaligen Weise derart aus, daß man auch von einer geringen Anerkennung der Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt kaum noch sprechen konnte. Hayek wies darauf hin, daß der Nationalsozialismus und die ihm eigene Verleugnung von Menschenrechten seine Wurzeln nicht nur in der Weimarer Republik hat und auch nicht allein auf deutsche Autoren zurückzuführen ist. Neben diesen erwähnt er solche in westlichen Demokratien wie Auguste Comte, Georges Sore!, Thomas Carlyle, Houston Stewart Chamberlain, H. G. Wells, T. H. Carr, also bis in unsere Zeit hinein. Er greift die antiindividualistische Einstellung an, die von der Klage Comtes über "die anhaltende westliche Krankheit, die Revolte des Individuums gegen seine Gattung" hinreicht bis zu Betonungen der Organisation auf Kosten der einzelnen. Und wenn er gegen Ende seiner an die Sozialisten aller Parteien gerichteten Schrift von den Totalitariern in unserer Mitte, womit er sein damaliges englisches Milieu meint, spricht, macht er klar, daß es neben der marxistischen Herausforderung des westlichen Menschenrechtsbegriffs eine westlichen liberalen Demokratien eigene gibt, die sich in Planungen und Planwirtschaften äußerte, sich wachsender Popularität erfreute und oft auf den Wohlfahrtsstaat abzielte. Nun impliziert eine Organisation nicht notwendig eine Negierung des westlichen Menschenrechtsbegriffs. Jedes Gemeinwesen, jeder Staat hat seine Organisa34 Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, 1924, in Die Diktatur, 4. Aufl., Berlin 1978; Reichspräsident und Weimarer Verfassung, in Kölnische Volkszeitung vom 15. März 1925, 1; Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931.
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tion, ist eine Organisation. Wie diese, schließt jene eine Anerkennung des Individualitätsprinzips der Menschenrechte nicht aus. Insbesondere England und die Vereinigten Staaten haben das zur Genüge gezeigt. Wenn aber innerhalb der Organisation Staat die Organisation dem individualistischen Begriff der Menschenrechte gegenübergestellt und dieser als egoistisch scharf verurteilt und abgelehnt wird zugunsten der "Organisation", wird dem Individualitätsprinzip eine klare Absage erteilt, werden Menschenrechte, wenn überhaupt, höchstens im Sinne des Einfügungsprinzips geduldet. Eine derartige Herausstellung der Organisation geschah nach Hayek aber in mehr oder weniger großem Umfang in liberalen westlichen Demokratien. Ähnlich ist es mit Planungen. Auch sie bedeuten nicht notwendig ein Außerachtlassen der Menschenrechte. Jede Regierung plant irgendwie, und jedes Regieren ist ein Planen. Diejenigen, die an die Regierung kommen wollen oder sich in der Regierung halten möchten, haben ein Programm, d. h. einen Plan. Sonst könnten sie kaum Regierende werden oder bleiben. Wie Ludwig Erhard gezeigt hat, kann ein Regierungsprogramm durchaus im Abschaffen einer Planwirtschaft bestehen, die die Initiative der einzelnen beschränkt, also eine Wirtschaft planen, in der es ein großes Ausmaß solcher Initiativen gibt und so im Einklang mit dem Individualitätsprinzip sein. Wo aber eine Planwirtschaft oder ein Planen diesem Prinzip klar entgegengesetzt wird, zumeist mit dem utilitaristischen Argument, das größte Wohl der größten Anzahl von Menschen sei aus sozialer Gerechtigkeit über den Egoismus einzelner zu stellen, handelt es sich um eine klare Absage an das westliche Konzept der Menschenrechte. Das Individualitätsprinzip wird deutlich zugunsten des Einfügungsprinzips zurückgedrängt. Wenn Hayek vor Eingriffen in die individuelle Freiheit durch den Staat warnt, denkt er vor allem an solche wirtschaftlicher Art. Er betont aber, daß diese wahrscheinlich einen Totalitarismus nach sich ziehen werden, der sich nicht auf die Wirtschaft beschränkt. Er vertritt also eine Ansicht wie der amerikanische Liberale John Adams, Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, Nachfolger George Washingtons und Vorgänger Jeffersons im Weißen Haus. Der bemerkte kurz vor der ~erfassunggebenden Versammlung 1787 in seiner bekannten Antwort an Turgot: "Eigentum ist ebenso wirklich ein Recht der Menschen wie die Freiheit . . . In dem Augenblick, in dem man in einer Gesellschaft den Gedanken zuläßt, das Eigentum sei nicht so heilig wie die Gesetze Gottes, und es keine Macht des Gesetzes und der öffentlichen Gerechtigkeit gibt, es zu schützen, beginnen Anarchie und Tyrannei." Hayek stellt sich auch Locke an die Seite, der, wie oben gezeigt wurde, in einem weiten Eigentumsbegriff alle Menschenrechte zusammenfließen sah. Zusammenfassend kann man sagen, daß das Individualitätsprinzip nicht nur in nichtwestlichen Staaten aufgrund nichtwestlicher Ideen und Traditionen hinter das Einfügungsprinzip gestellt wurde, sondern auch in westlichen Nationen infolge von Gedanken, die daselbst konzipiert wurden. Diese gehen vom Sozialismus marxistischer Prägungen zu dem sozialstaatlicher und wohlfahrtsstaatlicher Schattie-
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rungen. Ich will hier nicht darauf eingehen, welche von ihnen die größere Gefahr für das westliche Menschenrechtskonzept darstellen. Dazu habe ich im letzten Kapitel meiner Studie zur Verteidigung des Eigentums einiges gesagt. Nach Hayek ging "das Jahrhundert des Sozialismus wahrscheinlich um 1948 zu Ende", jedenfalls in westlichen Demokratien. Er hält den Sozialismus im Sinne von Marx also für erledigt und konzentriert sich darauf, vor nichtmarxistischen Tendenzen zu Planungen und Wohlfahrtsstaaten zu warnen. Mit seiner Prognose über die Chancen des Marxismus in westlichen Demokratien hat er vielleicht recht, obwohl ich bei solchen Voraussagen immer an das allgemeine Urteil von Experten über Lateinamerika in den dreißiger Jahren denken muß, nach dem Uruguay, Argentinien, Chile und Kolumbien keine Militärdiktaturen mehr zu fürchten hatten. Es scheint auch in kommunistischen Ländern wachsende Initiativen zu westlichen Menschenrechtskonzeptionen hin zu geben, obwohl die Erwartungen da nicht zu groß sein sollten. Andererseits kann die Ausbreitung des Kommunismus in der Dritten Welt sowie seine damit verbundene Stärkung in den Vereinten Nationen kaum übersehen werden. 35 Wie dem auch sei, sind Planungen, Planwirtschaften, Sozialstaaten und Wohlfahrtsstaaten seit Generationen mit uns gewesen und bis heute populär geblieben. Selbst in Ländern, in denen das Individualitätsprinzip traditionell weitgehend anerkannt wurde, wie in England und den Vereinigten Staaten, experimentierte man damit nicht ohne Wohlgefallen in Kriegen, Depressionen und normalen Zeiten. Man denke nur an die Kette vom New Freedom Woodrow Wilsons zum Ne.;_, Deal Franklin D. Roosevelts zur New Frontier John F. Kennedys und an ihre Zwischenglieder, den Fair Deal Harry S. Trumans und die Great Society Lyndon B. Johnsons. All diesen Programmen, wie immer sie jeweils auch planten und sich mit ihren Planungen durchsetzen mochten, ist die Regulierung zum Zwecke des generat welfare eigen. Da alle Hauptfiguren ihre Programme mit dem Wort "New" einführten, drängt sich die Frage nach dessen Bedeutung auf. Ich sehe sie im Abweichen vom traditionellen Individualitätsprinzip zum Einfügungsprinzip hin. Im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten, dieser sich in steter Bewegung befindlichen Nation von Emigranten, Immigranten, Migranten von Ort zu Ort, Job zu Job usw., im land of the free hat man den Liberalismus immer mehr dahin verstanden, tun und lassen zu können, was einem gerade gefallt. Im Sinne des free government kann das zweierlei bedeuten: einmal, daß die Regierung die einzelnen zunehmend ihren individuellen Wünschen entsprechend gewähren läßt und in deren Privatsphäre immer weniger eingreift; zum anderen, daß die demokratische Regierung sich als Vollstrecker des Willens der sie wählenden Mehrheit frei fühlt, soziale Programme wie die eben genannten durchzuführen, auch wenn diese auf Kosten der Rechte einzelner gehen. Im 20. Jahrhundert hat die letztere Auslegung der ersteren, die bis dahin vorherrschend war, Boden abgewinnen können. Selbst im Lande der Freien also, wo der Individualismus im pursuit of happiness unter der 35
The Road to Serfdom, Chicago 1944, 1976, vii, 7, 16, 167, 186- 188.
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Lizenz des Liberalismus wohl weitgehender anerkannt wurde und weiter trieb als in anderen Ländern, hat man verlangt, daß die einzelnen sich einfügen in die volonti generale.
4. Wenn nun der westliche, dem Individualitätsprinzip entsprechende Menschenrechtsbegriff in der nichtwestlichen Welt, also dem größten Teil der Erde, nicht akzeptiert wird und auch in westlichen liberalen Demokratien Zweifel an ihm und seinem oft als egoistisch gebrandmarkten Individualitätsprinzip entstanden, muß das nicht gegen ihn sprechen? Müssen dann Menschenrechte westlicher Prägung nicht als Ausnahmeerscheinung, ja als im Abstieg begriffen angesehen werden, on the way out? Muß das alles nicht verwirren angesichts der Tatsache, daß man heute so viel von Menschenrechten spricht und dabei an deren westliche Version denkt? Sollte man in unserem Zeitalter, in dem demokratische Tendenzen überall auf der Welt zu finden sind, nicht der Mehrheit ihren Willen lassen und dem von ihr bevorzugten Einfügungsprinzip? Ist es nicht arrogant zu erwarten, daß sich die Mehrheit der Nationen oder die innerhalb von Nationen in menschenrechtlicher Hinsicht Sozialistisches favorisierende Mehrheit der Minderheit fügt, zumal selbst in westlichen liberalen Demokratien das Individualitätsprinzip vom Einfügungsprinzip verdrängt zu werden scheint?36 Dem kann entgegnet werden, daß der Wille der Mehrheit nicht notwendig gut, rational und richtig ist. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Sapieha im 1. Aufzug von Schillers Demetrius im Reichstag zu Krakau: "Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist Unsinn! Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen", oder wie Karl Jaspers: "Auch die gegliederte Masse ist geistlos und unmenschlich. Sie kann alles zertreten, hat die Tendenz, keine Größe zu dulden und keine Selbständigkeit, aber die Menschen zu züchten, daß sie zu Ameisen werden". (Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931, 37.) Man weiß: Masse ist nicht Klasse. Gerade an Individuen von Klasse hat sich die Masse immer wieder aufgerichtet. Der Gedanke der Würde einzelner Menschen mit ihren natürlichen Rechten ist von jeher Trost und Verpflichtung geblieben. Wenn auch der Utilitarist Jeremy Bentham in seinen Anarchical Fallacies schrieb, aus den Gesetzen der Natur kämen nur imaginäre Rechte, natürliche Rechte seien einfach Unsinn und natürliche "unveräußerliche Rechte, eine amerikanische Phrase", seien "rhetorischer Unsinn, Unsinn auf Stelzen", folgten viele doch lieber Jacques Maritain. Nach ihm besitzt der Mensch Rechte aufgrund der bloßen Tatsache, daß er eine Person ist, ein Ganzes, Herr seiner selbst und seiner Handlungen. Daher ist er nicht nur Mittel zu einem Zweck, sondern Selbstzweck und muß als solcher behandelt werden. Die Würde der menschlichen Person? Der Ausdruck bedeutet nichts, wenn aus ihm nicht folgt, daß aufgrunddes 36
Siehe dazu mein Amerikanische Demokratie, 189 ff., 213 ff.
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Naturrechts die menschliche Person das Recht hat, respektiert zu werden, das Subjekt von Rechten ist und Rechte besitzt. Dies sind Dinge, die dem Menschen geschuldet werden infolge der bloßen Tatsache, daß er ein Mensch ist, "du seul fait que l'homme est homme" (Les droits de l'homrne et la loi naturelle, New York 1942, 82). Diese Einstellung ist alt und hat bis auf den heutigen Tag ihren Appeal nicht verloren. Oben wurde gezeigt, daß auch in nichtwestlichen Staaten das westliche Menschenrechtskonzept seine Anhänger hatte, selbst wenn es sich keiner traditionellen und allgerneinen Anerkennung erfreute. Man hat dort sogar in apologetische Weise versucht zu demonstrieren, daß einheimische Auffassungen der Menschenrechte den westlichen entsprachen, manchmal schon frühzeitig. 37 In der Bundesrepublik Deutschland ging man über das Maß des üblichen westlichen Menschenrechtsbegriffs noch hinaus. Im Gegensatz zu Hayek, der in der Weimarer Verfassung bemängelte, sie ebnete infolge ihrer Einschränkungsmöglichkeiten und tatsächlichen Beschränkungen der Grundrechte den Weg in die Knechtschaft des Dritten Reiches, fürchtete Carl Schmitt dies einer zu weitgehenden Liberalität wegen.38 Es war wohl eine Mischung von beiden sowie anderer Umstände, die zur Ablösung der Weimarer Republik durch das Hitlerregirne führte. Geschichtliche Ereignisse haben viele Gründe. Nie endender Historikerstreit beweist das. Jedenfalls wurde im Bonner Grundgesetz in einer heftigen Reaktion gegen das Dritte Reich das Einfügungsprinzip zugunsten des Individualitätsprinzips zurückgesetzt. Das nimmt nicht wunder. Je größer die Unterdrückung, um so größer die Reaktion gegen sie. Der Grad der Despotie steht im Verhältnis zu ihrer Verdammung und zum Umfang der Garantien von Menschenrechten. Der Parlamentarische Rat ließ diese Garantien daher weit gehen. Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung wurden Freiheiten vor staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre des Individuums auch vor dem Gesetzgeber geschützt, ja sogar vor dem Verfassungsgesetzgeber. Der trotz aller Bekenntnisse zum Sozialstaat weitgehende Schutz des Individualitätsprinzips wurde von den westlichen Besatzungsmächten ermutigt, in der Praxis noch durch den Einfluß der westlichsten und wohl liberalsten dieser Mächte, den Vereinigten Staaten, erweitert. Im "Land der Freien", in dem man sich dem von ethischen, moralischen, rechtlichen und anderen Hemmungen freien und daher reinen Liberalismus mehr nähert als in anderen Ländern, kam es nämlich nicht bloß zu einer Interpretation desfree govemment im Sinne der Freiheit der regierenden Mehrheit, nach Gutdünken schalten und walten zu können, selbst wenn es einzelnen schadete. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es auch zu einer wachsenden Perrnissivität, die sich u. a. in einem nie dagewesenen Schutz Krimineller, in erDas ist herausgearbeitet von Kühnhardt, a. a. 0., 180- 183, 203-205, 241 f., 264- 268. Staatsethik und pluralistischer Staat, in Kantstudien, XXXV (1930), 28; Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichs-Verfassung, Berlin 1931, ferner in Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954, 3. Aufl., Berlin 1985; Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in Gerhard Anschütz/Richard Thoma, Hrsg., Handbuch des deutschen Staatsrechts, Tübingen 1932, ferner in Verfassungsrechtliche Aufsätze. 37 38
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weiterten Legalisierungen von Abtreibungen, pornographischen Unternehmen sowie in Emanzipationen Homosexueller zeigte. Der Oberste Gerichtshof betonte, es gäbe keinen allgemeinen moralischen Standard. Sogar das ethische Minimum der Gesetze wurde zunehmend im Sinne des Mottos everything goes ausgelegt und entsprechend gelockert. Mit wachsender Amerikanisierung konnte die Bundesrepublik Deutschland derartigen Einstellungen kaum entgehen. Bundeskanzler Helmut Schrnidt, zu dessen Lieblingsautoren der an der Ausdehnung menschlicher Freiheit interessierte Karl Popper gehört, hatte schon recht, wenn er anläßlich der Schleyer-Affäre bemerkte, seine Mitbürger seien noch nie so frei gewesen wie heute. Dieser Drift zu immer mehr individueller Freiheit wurdealldie Jahre noch vom Hitlerkomplex sekundiert, von dem sich Deutsche noch nicht befreit haben. Infolge von Hitlers Verachtung für die Freiheit der Individuen fühlen sie sich verpflichtet, die im Grundgesetz garantierten Freiheiten großzügig zu interpretieren, selbst wenn das über die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers hinausgehen sollte. In anderen Ländern hat sich die Hitlerdiktatur zugunsten der Perrnissivität ebenfalls bemerkbar gemacht, wird sie bei menschenrechtliehen Forderungen ausgenutzt. Zusammen mit Amerikanisierungen führte das zu Ausdehnungen des Individualitätsprinzips der Menschenrechte. All das ist geeignet, Wirrnis um diese Reche zu schaffen. Zur Zeit des Entstehens der als Liberalismus bekannten Bewegung wollten Advokaten des Freiheitsdranges wie Locke, Montesquieu, Adam Srnith, Kant und Jefferson einen von ihnen als proper erachteten, gehegten Anspruch auf mehr Freiheit, im Unterschied zum ungezügelten, reinen Liberalismus. Sie wünschten einen proper liberalism im Gegensatz zum liberalism proper als Propeller von Menschenrechten. Immer mehr aber wurden vom reinen Liberalismus angeregte Liberalismen zu wahren Düsenantrieben des Verlangens nach mehr und mehr und immer großzügiger ausgelegten individualistischen Menschenrechten. Der ursprünglich als proper empfundene Liberalismus wollte den Primat des Individualitätsprinzips vor dem Einfügungsprinzip, ohne jedoch letzteres ganz abzulehnen. Modeme Liberalismen dagegen betonten den Egoismus der einzelnen oft auf eine Weise, die zur Anarchie hin tendiert und die Rechtsordnung in Frage stellt. Gerade diese aber ist, wie Georg Jellinek in seiner bekannten Studie über die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte hervorhob, eine Voraussetzung des effektiven Schutzes der Menschenrechte. Die Wirrnis um die Menschenrechte wird noch dadurch gesteigert, daß selbst innerhalb einer konkreten Rechtsordnung deren Schutz durchaus verschieden sein kann. Da kann einmal der Schutz durch Gewohnheitsrecht von dem durch Kodifikation divergieren. Selbst beim anerkannten Primat eines von beiden hängt viel von der Auslegung ab. So erschien die Bestimmung des Ersten Zusatzes zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der Kongreß dürfe kein Gesetz machen, das die Freiheit der Rede beschränkt, lange als ein absoluter Schutz des Individuums vor Eingriffen der Regierung. Fast 130 Jahre nach der Ratifizierung dieser Bestimmung, 1919, entschied der Oberste Gerichtshof aber im Fall Schenck v. United
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States, die Redefreiheit könne beim Vorliegen einer klaren und gegenwärtigen Gefahr eingeschränkt werden. Auch bei Rechten, die lange vor staatlichen Eingriffen immun erschienen, bleibt also eine gewisse Unsicherheit bezüglich ihres tatsächlichen Schutzes und damit eine Wirrnis über ihre Garantie. Daher kann man Benthams Bemerkung dahin auslegen, daß sogar Rechte, die auf Gesetzgebung basieren, auf Stelzen einherstolzieren. Schenck und seine Anhänger waren sicher nicht wenig verwirrt, als sie dieses Urteil härten. Verwirrter wurden sie wohl noch, als in den dreißiger Jahren Oberrichter Harlan F. Stone bemerkte, wirtschaftliche Rechte der einzelnen seien nicht so bedeutend wie die zum demokratischen Prozess notwendigen, und der Oberste Gerichtshof letztere zu "bevorzugten Freiheiten" erhob. Damit wurde der Brauch, alle Aspekte der individuellen Freiheit gleich zu bewerten, beiseite geschoben. Das Privateigentum und mit ihm verbundene Rechte, die bis dahin allgemeine Anerkennung genossen, wurden zu Rechten zweiter Klasse degradiert. 39 Man kann sich vorstellen, wie sich die Unsicherheit über Menschenrechte und die entsprechende Wirrnis verstärken müssen, wenn diese Rechte, wie unter den meisten Verfassungen, von vornherein lediglich unter Gesetzesvorbehalt garantiert werden. Eine weitere Steigerung erfuhr die Wirrnis um die Menschenrechte dadurch, daß verschiedene Nationen dieselben auf verschiedene Weise schützen. Allgemein gilt der Schutz des Angeklagten als Menschenrecht. Während aber in der anglo-amerikanischen Welt trial by jury als Voraussetzung eines fairen Prozesses gilt, ist das in vielen anderen Ländern nicht der Fall. Dort befindet der Richter über die Schuld des Angeklagten. Es ist schwer zu sagen, welche Methode vom Standpunkt der Menschenrechte zu bevorzugen ist. In der englisch sprechenden Welt hält man die letztere für zweifelhaft und potentiell arbiträr. Allerdings hat dort so mancher Angeklagte auf das trial by jury verzichtet und sich lieber dem Urteil beruflicher Richter anvertraut. Ein anderes Beispiel verschiedener Möglichkeiten des Rechtsschutzes ist die Gegenüberstellung von ordentlichen Gerichten und Verwaltungsgerichten. Da Eingriffe in die Privatsphäre in den meisten Fällen durch Verwaltungsbehörden erfolgen und Menschenrechte, die die prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre der einzelnen gegenüber der prinzipiell begrenzten Eingriffsbefugnis des Staates feststellen, dem öffentlichen Recht angehören, schuf man in Nationen wie Frankreich und Preußen Verwaltungsgerichte zur Beurteilung von Regierungsmaßnahmen. Der Grund hierzu war einmal die Erwägung, die ordentlichen Gerichte nicht zu überlasten, sodann aber auch die, daß auf das öffentliche Recht spezialisierte Richter hier besser urteilen konnten. Gegen Verwaltungsgerichte wandte sich Albert V. Dicey in seiner 1885 veröffentlichten lntroduction to the Study of the Law of the Constitution. Er erachtete es für die englische rule of law als bezeichnend, daß sich der Bürger bei Verletzung seiner Rechte durch die Regierung schutzsuchend an die ordentlichen Gerichte wenden konnte. Er argumentierte, Ver39 Siehe mein Zur Verteidigung des Eigentums, englisch 1963, deutsch Tübingen 1978, 125 - 128,186 - 190.
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waltungsgerichte seien als Teile der Verwaltung disponiert, es mit dieser zu halten. Dem wurde entgegnet, Verwaltungsrichter würden sich hüten, diesen Verdacht zu bestätigen und sich gerade aufgrund dessen besonders bemühen, dem klagenden Individuum zu seinem Recht zu verhelfen. So dürften die verschiedenen Möglichkeiten des richterlichen Schutzes der Menschenrechte verwirrende Zweifel darüber entstehen lassen, wo denn dieser Schutz am besten gewährleistet ist. Die angeführten Beispiele zeigen, daß die Wirrnis schon groß ist bezüglich der Rechte einzelner, von der Regierung in Ruhe gelassen und nicht behelligt zu werden. Sie wächst noch angesichts der vielen anderen Rechte, die heute als Menschenrechte ausgegeben und paradiert werden. Da sind einmal die sogenannten "positiven" Rechte zur Teilnahme am politischen Prozeß, wie das aktive und passive Wahlrecht. Gemäß dem Kampfruf der amerikanischen Revolution, no taxation without representation, machen sie die einzelnen zu Hütern ihrer Rechte, sollten sie Unterdrückungen verhüten. Mit wachsender Demokratisierung wuchs das Wahlrecht durch Abschaffung von Beschränkungen aufgrund des Eigentums, der Steuerzahlung, der Bildung, des Geschlechts und des Alters. Da nun aber Eigentümer, Steuerzahler, Gebildete und Ältere allgemein rationaler denken als Habenichtse, Ungebildete und Jüngere, und man auch gesagt hat, Frauen seien Emotionen mehr unterworfen als Männer, erhebt sich die Frage, ob Demokratisierungen Entrationalisierungen mit sich brachten - auch im Hinblick auf die Menschenrechte. Dafür spricht einiges. Man muß sich fragen, ob es vernünftig ist, ein Mittel zum Selbstzweck zu machen, einen Weg, den der amerikanische Oberste Gerichtshof einschlug, als er Menschenrechte, die er als Voraussetzung für den demokratischen Prozeß ansah, zu preferred freedoms erhob. Das ist einmal nicht rational, weil alle spezifischen Menschenrechte gleichrangige Aspekte des allgemeinen, allumfassenden Menschenrechts sind. Sodann ist es kaum rational deshalb, weil hier demokratische Rechte, die ursprünglich bloß als Mittel gedacht waren, die Freiheitssphäre des Individuums vor dem Staat zu schützen, nunmehr als Selbstzweck erscheinen. Der ursprüngliche Primat dieser Freiheitssphäre ist aus der amerikanischen Verfassung selbst ersichtlich. Deren schon im 18. Jahrhundert angenommene Bill of Rights garantiert nur Aspekte dieser Freiheitssphäre. Rechte zur Teilnahme am Regierungsprozeß erwähnt sie nicht. Die werden erst im 14. und 15. Verfassungszusatz von 1868 und 1870 und in späteren Verfassungsänderungen stipuliert. Überhaupt fragt man sich angesichts der Unterscheidung zwischen "bevorzugten" und anderen Freiheiten, wann denn z. B. die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Pressefreiheit für den demokratischen Prozeß relevant sind, und wann nicht, was die Verwirrung noch erhöhen dürfte. Man muß sich ferner fragen, ob es rational ist, daß die Doktrin der preferred freedoms sich gerade gegen die Rechte richtet, die beim homo oeconomicus, dem man rationales Denken nicht abstreiten wird, von jeher hoch im Kurs standen, nämlich die mit dem Privateigentum verbundenen Rechte. Man braucht dabei nicht
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so weit zu gehen und, wie Locke, alle Menschenrechte als des Menschen Eigentum betrachten. Man kann von seinem engeren Eigentumsbegriff ausgehen und lediglich den freien gesetzlichen Erwerb und den Schutz einer Sache sowie das freie Verfügungsrecht darüber meinen. Auch dann ist das Eigentumsrecht immer noch das älteste der Rechte des Individuums und das einzige unter ihnen, das dem Properen gleichgesetzt wurde. Im Deutschen ist ein Gut Eigentum. Im Französischen sind les biens =propriete im Sinne von Eigentum, und propriete bedeutet auch das Propere. Im Italienischen heißt proprio "eigen", aber auch "proper, echt, recht". Proprieta bedeutet "Eigentum" sowie "Redlichkeit". Im Spanischen gebrauchte man früher das Hauptwort buena für "Eigentum". Die Bedeutung des Adjektivs bueno ist "gut". Propiedad bedeutet sowohl "Eigentum" als auch "Korrektheit". Angesichts dieser langen Anerkennung des Eigentums und seiner Gleichsetzung mit dem Properen muß es beirren, wenn das Recht des Privateigentums, dessen Forderung gegenüber merkantilistischen Einschränkungen zur Zeit des Beginns der als Liberalismus bekannten historischen Bewegung eine bedeutende Rolle im Kampf um größere Freiheit spielte, nun, nachdem Pierre-Joseph Proudhon das Eigentum Mitte des vorigen Jahrhunderts als Diebstahl bezeichnete, diskriminiert wird. Man fragt sich, ob denn das, was man allgemein als soziale Rechte bezeichnet, Rechte, die mit wachsender Demokratisierung in Formulierungen der Menschenrechte aufgenommen wurden, rational ist und mit dem herkömmlichen Menschenrechtsbegriff harmonisiert. Man fragt sich, ob die ständige Ausweitung dieser Rechte nicht den gesamten Menschenrechtskomplex einer steigenden Verwirrung ausliefert und traditionelle Auffassungen der Menschenrechte geradezu auf den Kopf stellt. Ein Recht auf gefahrlose Arbeitsbedingungen erscheint vielen heute als selbstverständlich. Sie denken nicht daran, daß es sich bei ihm, wenn Menschenrechte die prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre des Individuums gegenüber dem Staat festlegen, eigentlich gar nicht um ein Menschenrecht handelt, wenn, wie meist in der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat nicht als Arbeitgeber auftritt. Und doch hat dieses Recht seinen Einzug unter die Menschenrechte gehalten. Bei ihm wird der einzelne aber immerhin noch geschützt. Es hat also den Gedanken des Schutzes vor einer höheren Gewalt noch mit den herkömmlichen Menschenrechten gemein, wenn auch bei denen die Betonung auf dem Schutz vor der staatlichen Gewalt liegt Geht man aber so weit, ein Menschenrecht auf Arbeit, auf Erziehung, auf bezahlte Ferien anzuerkennen, bei dem es sich nicht mehr um bloße Schutzansprüche handelt, sondern um anderweitige, die eher ein Bekommenwollen signalisieren, hat man es mit einer ganz anderen Art von Menschenrechten zu tun. Die Verwirrung um die Menschenrechte dürfte weiter wachsen. Das wird auch der Fall sein, wenn man bedenkt, daß die verschiedenen Arten dieser Rechte, die verschiedenen Menschenrechtskategorien miteinander konkurrieren anstatt sich, wie ursprünglich, als Menschenrechte bloß Aspekte der Freiheit vom Staat waren, zu komplementieren. So beschneiden Sozialhilfen oft die Eigentumsrechte derer, die für solche Hilfen zur Kasse gebeten werden, bis hin zu den 6 Dietze
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Steuerzahlern, die behaupten können, die Regierung nähme von A, um es B zu geben. Je weiter Sozialhilfen im Sinne eines Schutzes aber zu Hilfen im Sinne eines Erlangens von jeweils Gewünschtem werden, ob dies nun in einer freien Ausbildung oder in bezahlten Ferien liegt, um so fragwürdiger dürfte ihre Qualität als Menschenrechte erscheinen. Die Fragwürdigkeit von Menschenrechten erhöht sich noch, wenn demokratische Rechte, ursprünglich als bloßes Mittel zur Garantie des Schutzes des Individuums vor der Regierung konzipiert, diesen Schutz in Frage stellen, wenn nicht gar eliminieren. Nach Regel ist, was ist, vernünftig. Demnach muß selbst der Menschenrechtskomplex, wie er uns heute in seiner Vielgestaltigkeit konfrontiert, einer Ratio entsprechen. Sonst wären nicht nur, wie Bentham meinte, die auf dem Naturrecht basierenden Rechte Unsinn, sondern auch die in positiven Rechtsnormen festgelegten. Alles auf der Welt hat seinen Sinn und seine Gründe, auch wenn man nicht so weit geht wie Emanuel Swedenborg, der überall Göttliches sah. Der Grund aber für die enorme derzeitige Vielfalt an Menschenrechten und all das, was man als Menschenrechte bezeichnet, Rechte, die viele vor Freude jauchzen und andere vor Beklemmung erschaudern lassen, ist der unablässig laufende, ständig drückende Trieb zu immer größerer Freiheit, ist der Liberalismus. Sieht man nun, wie es vom Wort her angezeigt ist, im Liberalismus lediglich den Freiheitsdrang, so muß er als bloß solcher von allen Hemmungen ethischer, moralischer, rechtlicher und sonstiger Art frei und rein sein und es einzelnen oder mehreren völlig freistellen, jeweils das zu tun oder zu unterlassen, was ihnen gerade einfällt und gefallt. Everything goes. Chacun a son gout. Da gibt es dann keine kategorischen Imperative im Sinne Kants mehr. Es gibt nur noch den Imperativ des Liberalismus, sich als Einzelgänger oder als Mitglied einer Gruppe, einer Minderheit oder der Mehrheit das herauszunehmen, was man seiner Freiheit als dienlich erachtet, sich zu benehmen, wie man gerade will, auch wenn das anderen als ein Danebenbenehmen aufstoßen sollte. Vom reinen Liberalismus her kann es ja ein Danebenbenehmen gar nicht geben. Der im 18., als moralisch bekannten Jahrhundert, von Autoren wie Montesquieu, Adam Smith, Kant und Jefferson, die alle das Moralische betonten, geförderte Liberalismus verlor bald seine Regungen. Er entpuppte sich als Zauberlehrling, der die Geister des Freiheitsdranges, die er rief, nicht mehr los wurde. Ähnlich wie der von Srnith gewollten maßvollen, fairen free competition das maßlose, überegoistische Laisser-faire der Manchesterschule und Herbert Spencers folgte, streunte der ursprünglich gehegte Liberalismus. Andere Liberalismen wurden geschaffen, immer mehr von ihnen neuartig in einem Grade, der es fraglich erscheinen ließ, ob sie mit herkömmlichen Liberalismen noch zu vereinbaren waren. So wurde klar, daß der Liberalismus als solcher, der Liberalismus an sich, nur den bloßen Freiheitsdrang als solchen bedeutete und als reiner Liberalismus, als liberalism proper, wohl propere Liberalismen hervorbringen konnte, aber auch solche, die als improper erschienen. Sieht man im Liberalismus die treibende Kraft zu imm~r weiteren Anerkennungen von Menschenrechten, verwundert es nicht, daß der maßvolle Liberalismus
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des 18. Jahrhunderts, der sich mit Menschenrechten begnügte, die die prinzipielle Unantastbarkeit einzelner Freiheiten des Individuums vor der Staatsgewalt sicherten, der bei aller Betonung des Individualitätsprinzips dem Einfügungsprinzip eine gewisse Rolle zugestand, in Menschenrechtsbegriffe ausscherte, die das Einfügungsprinzip auf Kosten des Individualitätsprinzips betonten oder aber letzteres zur Anarchie hin degenerieren ließen und daher mit den ursprünglich festgelegten Menschenrechten kaum noch vereinbar waren. Wie es offensichtlich wurde, daß der gehegte, gemäßigte Liberalismus nur eine bestimmte Spielart des in seinen Nuancen schier unermeßlich erscheinenden Liberalismus an sich ist, so wurde klar, daß das Menschenrecht, dessen Umfang wir ähnlich wenig kennen wie den der Freiheit, unter der Ägis des reinen Liberalismus eine große Vielfalt von Menschenrechten und Menschenrechtskategorien ausstreuen konnte. Nach Friedrich Wilhelm Schellings Schrift von 1809, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, ist die Freiheit "ein Vermögen des Guten und des Bösen." So kann der Liberalismus Menschenrechte zum Guten und zum Bösen hervorbringen, gute und böse Menschenrechte. Der Liberale Kant hielt das wohl für wahrscheinlich. Am Ende seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt ( 1798) zitiert er Friedrich den Großen, der von "cette maudite race alaquelle nous appartenons" gesprochen hatte. Der Königsherger kritisiert die "Verderbtheit der schlimmen Rasse, welche Menschengattung heißt", und führt das Böse im Menschen auf den Eigennutz zurück. Meist ist die Forderung nach Menschenrechten egoistisch motiviert. Auch dann, wenn einzelne als Teil einer Gruppe oder der Mehrheit agieren, wollen sie etwas für sich selbst erreichen. Wenn Adam Smith den Wohlstand der Nationen, also ganzer Völkeraufgrund des den Individuen zugestandenen freien Handels betont, ist bei ihm der Egoismus ähnlich offenbar wie bei den Utilitaristen, die vom größten Nutzen für die größte Anzahl von Menschen sprachen. Ohne Eigennutz keine Menschenrechte. Selbstlose Menschenrechte sind ein Widerspruch in sich selbst. Wenn Kant das Böse auf den Eigennutz zurückführt, heißt das noch lange nicht, daß Eigennutz nur Böses produziert. Unter Despoten und deren Egoismus kam manch Gutes zustande, man denke nur an das kulturelle Schaffen der Renaissance. Mehr noch wurde aber wohl erzeugt nach Forderungen von Beschränkungen staatlicher Macht, nach Forderungen von Menschenrechten, egoistisch wie diese gewesen sein mögen. Heute kann man vielerorts von einem Absolutismus der regierenden Mehrheit sprechen. Auch der kann Gutes hervorbringen. Mehr jedoch kann sicher von freien, der Menschenrechte teilhaftig werdenden Individuen erwartet werden. Es ist also von der Ethik her vieles für Menschenrechte zu sagen, selbst wenn sie Egoismus demonstrieren. Eigennutz kann, wie sehr er auch der Grund alles Bösen sein mag, durchaus zum Guten gereichen. Angesichts der angezeigten Wirrnis der Menschenrechte erhebt sich die Frage, inwiefern diese Rechte auf der Irrnis derer, die sie wollen und formulieren, beruhen. Gewiß tun sie das nicht vom reinen Liberalismus, vom liberalism proper her. 6*
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Da der nur vom bloßen Drang nach mehr Freiheit motiviert ist, erscheint unter ihm jedes egoistische Bemühen um das, was das Individuum als seine Menschenrechte ansieht, rational. Wohl aber können sich Advokaten der Menschenrechte über diese vom Standpunkt eines gehegten Liberalismus, eines proper liberalism, irren, je nachdem, was als ein solcher angesehen wird. Betrachtet man als properen Liberalismus den als klassisch bekannt gewordenen, von Männern wie Locke, Montesquieu, Srnith und Kant vertretenen maßvollen Liberalismus, der nach dem Individualitätsprinzip Menschenrechte verlangt, die den Notwendigkeiten der staatlichen Ordnung Rechnung tragen und lediglich die prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre gegenüber der prinzipiell begrenzten Eingriffsbefugnis des Staates festlegen, ergibt sich für eine Irrnis in größtmöglichem Maße vermeidende Formulierung der Menschenrechte folgendes Bild. Angemessene und propere Menschenrechte müssen angemessen und proper formuliert werden. Geht man von diesem Grundsatz aus, sind die umfassenden Erklärungen von Menschenrechten, wie sie uns seit dem Zweiten Weltkrieg auf internationaler Ebene begegnen, problematisch. Sicher spricht einiges für sie. Sonst wäre es nicht, meist unter großer Publizität, zu ihnen gekommen. Aber sie erscheinen mir vernünftig hauptsächlich nur vom Standpunkt eben der Publizität aus. Angesichts schwerster Mißachtung der Rechte der einzelnen vor der Staatsgewalt in unserem Jahrhundert ist es nötig, der Menschheit die Würde des Menschseins, wie würdelos dieses auch erschienen sein mag, immer wieder vor Augen zu führen und sie wissen zu lassen, daß diese Würde sie den regierenden Gewalten gegenüber berechtigt. Ohne eines Gewahrseins von Rechten gibt es keinen Kampf ums Recht und keine Gewährung von Rechten. Wenn sich in den heutigen internationalen Menschenrechtsdeklarationen auch so manche Rechte eingenistet haben, die den ursprünglich konzipierten, die Freiheitssphäre des Individuums gegenüber der Regierung festlegenden Rechten widersprechen, hat das Wort "Menschenrechte" doch einen magischen Klang. Er dürfte bei denen, die vornehmlich Schlagworte und Überschriften lesen - und deren gibt es mehr und mehr - seine Wirkung nicht verfehlen. Sie werden sich ihrer Würde freuen. Sind sie belesen, werden sie an die geschichtlich am längsten anerkannten Menschenrechte denken, die einzelnen Freiheiten vor der öffentlichen Gewalt garantieren. Lesen sie gar die internationalen Deklarationen, werden sie auch diese Rechte erwähnt finden, um die selbst moderne Formulierer der Menschenrechte nun einmal nicht herumkommen. In ihnen könnten sie deren langer Anerkennung wegen die wichtigsten Menschenrechte, vielleicht sogar die Menschenrechte an sich, erblicken. Insofern haben internationale Erklärungen der Menschenrechte schon ihren Wert, der durch Gerichtsurteile, die sich auf diese Erklärungen berufen, noch unterstrichen werden kann.
Ihr Unwert liegt vor allem darin, daß eben die neuen Kategorien von Menschenrechten in ihnen enthalten sind, und zwar in einem Ausmaß, das die ursprünglichen Menschenrechte, die die Freiheiten des Individuums vor Eingriffen der Regierung garantieren, quantitativ überflügelt und an die Wand zu drücken scheint, besonders in Bezug auf den Schutz des Privateigentums. Infolge dieser Konkurrenz muß man
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sich fragen, welches denn eigentlich die richtigen Menschenrechte sind. Diese Ungewißheit wird immer deutlicher. Immer öfter hört man Beschwerden, daß Nationen, die internationale Menschenrechtserklärungen unterzeichneten, Menschenrechte verletzen. Das kann, muß aber nicht am bösen Willen in diesen Ländern liegen. Der Grund kann einfach eine unterschiedliche Auslegung der Bestimmungen sein. Das bedeutet, daß einige Bestimmungen befolgt werden und andere nicht, was bei Kritikern oft darauf hinausläuft, daß eben Menschenrechte schlechthin mißachtet werden, weil nicht alle zugesicherten Rechte sicher sind. Da ist es dann schwierig, festzustellen, wer wo und wie über Menschenrechte irrt. Es erscheint ja ohnehin fraglich, ob es denn angesichts der Verschiedenheit von Nationen und deren geteilten Auffassungen des Menschenrechtskomplexes infolge der ihnen eigenen Traditionen und Umstände bei der Unterzeichnung internationaler Menschenrechtsabkommen überhaupt eine über jeden Zweifel erhabene Übereinstimmung gab. Eine solche gibt es ja zuweilen nicht einmal bei bilateralen völkerrechtlichen Verträgen, die weniger komplizierte Dinge regeln sollen. Wie verschiedene Auffassungen der Freiheit, die schon Montesquieu Anfang des 11. Buches seines Hauptwerkes vom Geist der Gesetze betonte, gibt es unterschiedliche Auslegungen der Menschenrechte aufgrund verschiedener Überlieferungen und Umweltbedingungen. Sie deuten an, daß Formulierungen der Menschenrechte auf nationaler Ebene wegen größerer Klarheit dem tatsächlichen Schutz dieser Reche dienlicher sind als solche auf internationaler. Dennoch sind in den Schriften hervorragender Kenner des Liberalismus wie Hayek und Schmitt ähnliche Vorbehalte gegenüber nationalen gesetzgebensehen Formulierungen offenbar, wie sie schon Friedrich Karl von Savigny zum Ausdruck brachte. 40 Sie sind im Grunde berechtigt. Was lange währt, hat die Vermutung der Güte. Das ist in Lockes Ideen zur Revolution ebenso angezeigt wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Mehr oder weniger eilig verabschiedete Gesetze erscheinen dagegen gefährlich. Deshalb hat man den Gesetzgebungsprozeß durch Einrichtungen wie Initiative und Referendum, das Zweikammersystem und das Veto der Exekutive verlangsamt. Andererseits sollte nicht übersehen werden, daß im Gewohnheitsrecht so manches Menschenrecht einschlief und vergessen wurde. So mußte die Magna Charta dreihundert Jahre nach ihrem Entstehen von Lord Coke wiedererweckt werden, um aus ihr ein Kampfmittel für die rights of Englishmen zu machen. Kaum jemand wird die Wichtigkeit von Menschenrechtskodifikationen in amerikanischen, französischen und anderen Grundrechtskatalogen anzweifeln. Schon aus Gründen der Publizität sollten also Menschenrechte formuliert werden, um sie immer wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Ihre Formulierungen sollten aber nicht ohne gebührende Beachtung des Gewohnheitsrechts stattfinden. Der gewohnheitsrechtliche Schutz verdient als ge40 Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814; Stimmen für und wider neue Gesetzbücher, in Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, III (1816), Nr. 1. Vgl. Car1 Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950; F. A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, 3 Bände, Chicago 1973 -79.
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wöhnlicher, gewohnter Schutz stärkste Berücksichtigung. Die gewohnten, lange anerkannten Grundrechte sind die am tiefsten verwurzelten, die allgemein als die verläßlichsten und sichersten angesehenen. Wenn das, was ist, vernünftig ist, dann muß erst recht das, was lange ist, vernünftig sein, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß es eine Ratio hat, sondern in dem, daß es schon lange als rational angesehen wurde, als das, was natürlich den Segen Gottes hat. Sollen Menschenrechte die Freiheitssphäre des Individuums sichern, sollten die als am sichersten angesehenen, gewohnheitsrechtlichen, sozusagen selbstverständlichen, Irrnis und Wirrnis unwahrscheinlich machenden Menschenrechte bei Formulierungen der Menschenrechte eine zentrale Rolle spielen. Selbstverständliche Rechte sind die sichersten. Ihre gesetzgebensehe Formulierung läuft lediglich auf ihre Bestätigung und Bekräftigung hinaus. Sie ist der harte Kern, um den sich neue Menschenrechte scharen. Zweifellos haben letztere als Ergebnis fortwährender Suche nach mehr Freiheit, insbesondere bei wachsender Gewalt des Staates, ihre Berechtigung. Aber sie schmiegen sich dem harten Kern des Gewohnten an, um selbst zum Gewohnten zu werden, werden Teil des in einem bestimmten Milieu Gewachsenen, um selbst als dort gewachsen zu erscheinen. Wie es nach Montesquieu unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Auffassungen der Freiheit gibt und dementsprechend verschiedene Regierungsformen, gibt es verschiedene Auffassungen der Menschenrechte. Wie nach Rousseau eine Selbstregierung, die allgemein als die den Menschenrechten zuträglichste angesehen wird, nur in kleinen Gebieten möglich ist, so ist die Sicherheit der Menschenrechte dort wohl am größten. Daher sollte jedem Land grundsätzlich überlassen bleiben, seinen eigenen, ihm angemessenen und gemeinen Standard dieser Rechte festzulegen. Die rights of Englishmen zum Beispiel sind die Engländern gemeinen und gemäßen Menschenrechte. Die Grundrechte der Deutschen sind die gemeinen und ihnen gemäß angesehenen Menschenrechte. Es wäre absurd, von Deutschland aus etwas in England lange Akzeptiertes wie das trial by jury zu kritisieren oder von England aus in Deutschland seit langem bestehende Prozeßmethoden als menschenrechtsfeindlich hinzustellen. Wie jedes Land am besten in der Lage ist, aufgrund seiner spezifischen Situation die ihm gemäße Regierungsform zu wählen und dies aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Völker tun sollte, so ist es auch am meisten dazu qualifiziert, seine Rechtsordnung und mit ihr die Menschenrechte festzulegen. Zwar sollte es Fortschritte in anderen Staaten nicht unbeachtet lassen, denn durch Vergleiche kann man lernen. Wie es einen Geist der Gesetze gibt, der vielen Nationen trotz ihrer Verschiedenheit gemein ist, gibt es auch einen Geist der Menschenrechte. Er sollte von den einzelnen Völkern beachtet werden, wenn auch nicht in einem Grade, daß er dort Verwirrung stiftet. Während es Menschen nie verwehrt werden darf, das Verhalten anderer zu kritisieren, sollten sie sich doch zurückhalten, über anderer Menschenrechtsauffassungen zu richten, solange wir nicht wissen, was das Menschenrecht ist und was der richtige Standard der Menschenrechte. Wer das Richtige nicht kennt, sollte das Richten lassen. Hier findet wohl Anwendung, was in der Bergpredigt steht: ,,Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerich-
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tet werdet." Solange auf der Welt keine Einmütigkeit über Menschenrechte besteht, muß eine Kritik staatlicher Menschenrechtsauffassungen als Moralisierung erscheinen, ähnlich jener viktorianischen, die John Stuart Mill veranlaßte, seinen Essay über die Freiheit zu verfassen. Die Achtung der Souveränität der Staaten erfordert einen gewissen Respekt vor deren Garantien der Menschenrechte. Da diese Rechte nun einmal innerhalb von Nationen am effektivsten garantiert werden können, handelt es sich dabei auch um einen Respekt vor den Menschenrechten, die gerade in nationalen Grundrechtskatalogen vor Irrungen und Wirrungen geschützt werden können. Das Unterlassen ungerechtfertigter Angriffe auf Menschenrechtssituationen in bestimmt situierten Ländern gehört zu den Verpflichtungen der Menschenrechte. Im letzten Kapitel des eben genannten Essays schlüpfte dem Autor heraus, die Freiheit bestehe darin, zu tun, was man will. Das ist eine ebenso markante wie weitgehende Definition der Freiheit, um die sich mancher vor ihm gedrückt hat, eine Definition der reinen Freiheit als eines Vermögens des Guten und des Bösen. Bedenkt man, daß der Liberalismus die zu immer neuen Menschenrechten treibende Kraft ist, dann ist der von allen Hegungen freie reine Liberalismus die treibende Kraft zu reinen Menschenrechten, die von ethischen, moralischen, rechtlichen und anderen Hemmungen frei sind. In die kann dann jeder das hineinlesen, unter ihnen das beanspruchen, was er gerade will, Wirrnis hervorrufend. Um eine solche zu vermeiden, braucht man staatliche Formulierungen der Menschenrechte, die sich auf Rechte, welche die Freiheitssphäre des Individuums vor Eingriffen der Regierung garantieren, konzentrieren und mit diesen Rechten unvereinbare Rechte ablehnen, ohne das geförderte Individualitätsprinzip zum Anarchismus hin ausarten zu lassen. Neben den Respekt vor nationalen, völkischen Ansichten über Menschenrechte gehört deren genaue und klare Formulierung zu den Verpflichtungen der Menschenrechte.
111. Nutzung und Ausnutzung 1. Menschenrechte werden genutzt und ausgenutzt, und die Ausnutzung von Menschenrechten gefährdet oft menschliches Zusammensein. Die Tatsache, daß es auf der Erde eine große Anzahl von Auffassungen der Menschenrechte gibt, mag zu einer Wirrnis dieser Rechte führen, die den Eindruck von Irrnissen erwecken kann. Müssen denn Menschenrechte, so hat man gefragt, nicht für alle gleich sein? Wenn nach der Ode an die Freude alle Menschen Brüder werden, müssen sich dann nicht einige mit ihren unterschiedlichen Meinungen über Menschenrechte irren? Solche Argumente sind nicht leicht von der Hand zu weisen. Sie erscheinen einleuchtend besonders zu einer Zeit, in der man bei aller Begeisterung über die Menschenrechte und deren Fortschreiten fast täglich von ihren Verletzungen in weiten Teilen der Welt hört. Dennoch muß man fragen, ob Bemerkungen über menschenrechtliche Irrnisse irren. Ich habe bereits in meiner vor vierzig Jahren erschienenen Arbeit über die Formulierung der Menschenrechte hervorgehoben, daß in den Vereinigten Staaten Menschenrechte anders formuliert worden sind als in Deutschland. Das erschien mir damals nicht verwunderlich. Heute, nach weiteren Studien dieser Rechte, erscheint es mir noch weniger erstaunlich. Immer mehr wurde ich von der Ansicht Montesquieus überzeugt, daß verschiedene Völker verschiedene Auffassungen von den Dingen auf der Welt und in ihrer Welt haben und sich diese in ihren Gesetzen spiegeln. Im alten Germanien gab es ja solche "Spiegel" wie den Sachsenspiegel und den Schwabenspiegel. Wenn sie auch nicht mehr so genannt werden, gibt es sie doch heute noch in vielen Ländern sowie auch innerhalb derselben, wie in den Einzelstaaten von Bundesstaaten. Und wenn das in bestimmten Kulturkreisen so ist, dann ist es erst recht unter verschiedenen Kulturen zu erwarten - auch hinsichtlich der Menschenrechte. Wenn man daher von Wirrnis und Irrnis der Menschenrechte spricht, so meint man wohl hauptsächlich ein Umherirren in den Wirren, die unterschiedliche Meinungen von den Menschenrechten mit ihrem wahrhaftigen Menschenrechtslabyrinth mit sich bringen. Man bietet eher eine Beschreibung des Verschiedenen als dessen Bewertung an, eher die Darstellung eines Quantitativen denn Bemerkungen über Qualitatives. Bei einem Essay über Nutzung und Ausnutzung der Menschenrechte ist das anders. Das ist schon vom Titel her klar, obwohl auch hier, wie bei allen Interpreta-
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tionen, Vorsicht am Platze ist. Wenn er von Nutzung und Ausnutzung spricht, scheint es sich um eine Gegenüberstellung zu handeln, in der die meisten etwas Gegensätzliches erblicken werden, jedenfalls auf den ersten Blick. Aber hier muß man aufpassen und sich vor Vereinfachungen hüten. Es ist nicht so wie im Englischen, wo use und abuse klare Gegensätze sind und abuse Mißbrauch bedeutet. Im Französischen ist es ähnlich bei user und abuser. Auch hier haftet abus der Makel des Mißbrauchs an, man denke nur an abus de droit, ein besonders gegen Eigentümer gerichteter Begriff, der wohl auf die römische Definition des Eigentums, ius utendi, fruendi, abutendi, zurückgeht, die im ius abutendi den deutlichen Gegensatz zum ius utendi enthält. Ausnutzung entspricht dagegen nicht notwendig Mißbrauch. Sie kann einfach eine erweiterte Form des Nutzens sein. Wenn zum Beispiel jemand nach harter Arbeit seine Freizeit so richtig ausnutzt, dürfte das seinen Arbeitgeber mehr noch erfreuen, als wenn er sie bloß irgendwie nutzt. Anders ist es, wenn man die Gutmütigkeit von Freunden ausnutzt. Im norwegischen Wikinger-Gedicht Havarnal geben die Götter dem Volk den Rat, "det er en kjaer gest som sjelden kommer" - das ist ein lieber Gast, der selten kommt. Ausnutzung beinhaltet also eine gewisse Spannweite, die sich vom guten, reichlichen Nutzen zum bösen Ausnutzen erstreckt. Was das Recht angeht, liegt seine Ausnutzung insofern nahe, als es ein ethisches Minimum ist. Dabei sollte aber stets gefragt werden, ob eine unter der Behauptung einer ethischen Motivation verteidigte Ausnutzung eines ethischen Minimums tatsächlich ethisch ist, denn die Ethik unterliegt Ausnutzungen mehr noch als das Recht. Und gibt es bei Rechten abus de droit, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß es bei den großen Rechten, wie man die Menschenrechte genannt hat, grand abus de droit gibt, mit dem diese mehr oder weniger unverschämt ausgenutzt werden.'
2. Man braucht nicht Heideggers Abhandlung über das Wesen des Grundes zu folgen und in der Freiheit den Ursprung von Grund überhaupt, den Grund des Grundes zu sehen, um einzusehen, daß Menschenrechten das Streben nach Freiheit zugrunde liegt. Wann immer Menschen um die Anerkennung dieser Rechte gefochten haben mögen: stets nahmen sie sich Freiheiten, das zu tun, ob ihnen diese nun I In meiner Arbeit Zur Verteidigung des Eigentums, Tübingen 1978, einer Übersetzung der zuerst 1963 in Chicago erschienenen Originalfassung, habe ich den auf französische Juristen zurückgehenden Begriff des abus de droit noch als Widerspruch in sich selbst angesehen, 132 ff., 154. Später gab ich diese Ansicht auf. Bedeutungswandel der Menschenrechte, Karlsruhe 1972, 44 ff. Ist nämlich, wie Georg Jellinek in Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Aufl., Berlin 1908, 45, richtig hervorgehoben hat, das Recht nur ein ethisches Minimum, ergibt es sich von selbst, daß bei jedem Recht abus möglich ist, jedenfalls vorn Ethischen her.
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schon zugesichert waren oder nicht. Menschenrecht als Quell der dieses Recht teilweise realisierenden Menschenrechte ist Freiheitsrecht, und aus der Reinheit des Menschenrechts ergibt sich die des Freiheitsrechts. Da die reine Freiheit mit Ausnahme freiheitlicher Werte von allen Werten bereinigt ist, seien sie ethischer, moralischer, sittlicher, rechtlicher oder anderer Art, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten ihrer Nutzung und Ausnutzung. Und während bei isoliert wirkenden Individuen eine Ausnutzung nur ihnen gefährlich werden kann, kann sie es beim Zusammensein mit anderen diesen gegenüber um so mehr. Da nun Menschenrechte innerhalb von Gemeinschaften von Regierungen garantiert sind, wird bei der folgenden Diskussion über deren Nutzung und Ausnutzung ein Gemeinwesen mit seiner Regierung, also ein Staat mit seinem Recht und seiner Ordnung, ein Rechtsstaat, vorausgesetzt. Dort kann die Ausnutzung von Menschenrechten infolge freiheitlicher Versuchungen neben Individuen auch Recht und Ordnung gefahrden und damit den Staat und die Gemeinschaft selbst. Am Anfang des ersten Kapitels von Hayeks Buch über die Verfassung der Freiheit steht, eine der gebräuchlichsten Definitionen der Freiheit sei "Unabhängigkeit von der Willkür anderer." Diese Definition ist enger als die John Stuart Mills gegen Ende seines Essays über die Freiheit, "liberty consists in doing what one desires", die willkürliches Handeln als durchaus freiheitlich ansieht und vom Standpunkt der reinen Freiheit recht hat. Hayek dagegen will die Freiheit vor willkürlichem Handeln geschützt sehen. Da er von der Freiheit gegenüber anderen spricht, also unter anderen innerhalb einer Gesellschaft, wird letztere in der Regel als eine Gemeinschaft Anarchie ausschließen. Es wird sie unter der rule of law gemäß Recht und Ordnung geben. Auch Hayek setzt also einen Rechtsstaat voraus, der die Freiheiten der Individuen prinzipiell schützt. Für ihn ist die Freiheit des einzelnen nicht ganz zu erreichen. So kommt er als Befürworter der Freiheit zu dem Schluß, es müsse "Aufgabe einer Politik der Freiheit ... sein, Zwang oder seine schädlichen Wirkungen zu verringern, auch wenn wir ihn nicht ganz ausschließen können. " 2 Das zeigt guten Sinn für die Problematik der Menschenrechte, die ja fragt, wieviel Freiheit die Menschen haben und inwieweit sie diese nicht ausnutzen sollten. Diese Problematik ist so zum guten Teil die Problematik des die Freiheit der einzelnen grundsätzlich schützenden Rechtsstaats, dessen Existenz ständig durch neue freiheitliche Forderungen bestimmt und zuweilen zum Nachteil seiner Bürger gefährdet wird. Bei anerkannten Menschenrechten erhebt sich die Frage, ob sie in Klassen aufgeteilt und kategorisiert werden können. Das ist nicht nur möglich, wie oft gezeigt wurde. 3 Es ist auch notwendig, insbesondere deshalb, um Mittel zur Freiheitssicherung von ihrem Zweck zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nicht schwer zu treffen. Sie folgt aus der Tatsache, daß Freiheiten, zu handeln, voraussetzen, daß F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, 15. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Auf!., Tübingen 1905, leistete hier wohl Pionierarbeit 2
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man in seiner Handlungsfreiheit nicht gehindert wird. Die Voraussetzung der Freiheit, tätig zu sein, erscheint also als etwas Negatives. Georg Jellinek sprach daher vom negativen Status. Aber dessen Negatives ist vom menschenrechtliehen Standpunkt aus etwas durchaus Positives, weil es ja die prinzipielle Freiheitssphäre des Menschen bezeichnet. Deshalb nannte Jellinek diesen Status auch status libertatis. 4 Er"gibt dem Menschen das Recht, seine Freiheiten zum Guten und sonst Wünschenswerten zu nutzen und zum Bösen und sonst Unerfreulichen auszunutzen, um sich gewissermaßen gewissenlos dafür zu rächen, daß Regierungen ihre Macht nicht nur zum Guten nutzten, sondern zum Bösen ausnutzten, indem sie den Menschen Menschenrechte verwehrten und sie unterdrückten. Da nun Unterdrückungen oft darauf zurückgeführt wurden, daß Untertanen am Regieren nicht teilnehmen durften, ist es nicht verwunderlich, daß sie self-govemment und damit ihre Erhebung vom Untertan zum Bürger als Garantie ihrer Freiheit vor Unterdrückung sahen, ob der Herrscher nun nach dem divine right of kings verfuhr oder nach dem Spruch / 'Etat c'est moi. Der vornehmlich defensive Kampf um Freiheiten, von der Regierung in Ruhe gelassen zu werden, um seinen eigenen Neigungen nachgehen zu können, wurde so bald durch eher offensive Forderungen, am Regieren teilzunehmen, ergänzt. Hier wird klar, welche Menschenrechte Mittel, welche Zweck sind: die zur Mitwirkung am Regieren berechtigenden sind Mittel, den status libertatis der Individuen zu vergrößern. Aus diesem Status heraus protegiert, sollen sie dazu dienen, ihn durch rechtliche Realisierungen von immer mehr Menschenrechten zu vergrößern. Die Unterordnung demokratischer Rechte unter die Freiheiten, von anderen und der Regierung nicht behelligt zu werden, folgt nicht nur daraus, daß ein Mittel seinem Zweck untergeordnet sein muß. Sie folgt auch aus der historischen Entwicklung der Menschenrechte. So will die Magna Carta Libertatum vor allem den status libertatis. An demokratischen Rechten sind nur wenige erwähnt. 5 Ähnlich war es bei anderen klassischen Kämpfen um Menschenrechte. Wenn Hayek meint, die Aufgabe einer Politik der Freiheit müsse es sein, Zwang oder seine schädlichen Wirkungen zu verringern, auch wenn wir ihn nicht ganz ausschließen können, erscheint er als Rechtsstaatler, der dem den Rechtsstaat sichemden Staatsrecht Tribut zollt. Freiheitsrechte sind auch für Hayek vor allem das, was sie für Kelsens Lehrer Jellinek waren, nämlich Rechte, die den vom Staatsgebot freien Zustand des lndi4 Daselbst, 94. Ich will den Ausdruck status libertatis im folgenden beibehalten im Sinn der negativen Rechte, der Freiheiten von der Staatsgewalt, obwohl eigentlich auch die sogenannten positiven Rechte, an der Regierung durch aktives und passives Wahlrecht teilzunehmen, einen status libertatis anzeigen, weil die Bürger ja zu einer solchen Teilnahme frei sind. Andererseits erscheint es berechtigter, status libertatis nur im Sinne der negativen Rechte zu gebrauchen, weil es allein diese Rechte sind, die als dem Menschen immanent, als bereits vor der Gründung einer Gemeinschaft existierend angesehen werden können, weshalb sie ihrem Ursprung nach eher freiheitlich sind als positive Rechte, die eine Gemeinschaft voraussetzen, welche einzelnen diese Rechte verleiht. 5 Siehe mein Magna Carta and Property, Charlottesville 1965, 61 ff.
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viduums anzeigen. Der Ausdruck "Politik der Freiheit" ist gut gewählt, deutet er doch auf ein Mittel, die Freiheit der einzelnen, in der Hayek hauptsächlich deren Freiheit von der Willkür und dem Zwang anderer sah, zu vergrößern. Das aber kann durch Teilnahme am Regieren geschehen - durch Rechte, die der Demokratie dienen. Sieht man nun in der Politik ein Mittel, für sich etwas unter anderen zu erreichen,6 muß Politik der Freiheit ein Mittel sein, sich unter anderen immer freier zu machen. Menschenrechte zum Mitregieren, wie immer man sie bezeichnen mag,7 sind also nichts als Mittel, Regierten Freiheit von den Regierenden zu sichern. Man verlangte sie aus der Erwägung des demokratischen Traums heraus, daß am Regierungsprozeß teilnehmende Bürger sich nicht selbst unterdrücken würden. Sie danken ihre Existenz im status libertatis bestehenden Rechten, denn ohne Freiheiten wie die der Rede, der Presse und Versammlung wäre es um ihre Anerkennung wohl schlecht bestellt gewesen, da Machthaber nun einmal ihre Macht nicht verringert sehen wollen. So schufen Rechte im status libertatis demokratische Rechte aus jener nur ahnbaren Quelle aller Menschenrechte, dem Menschenrecht, damit mit ihrer Hilfe dieser Status durch weiteren Kampf um die Anerkennung neuer Freiheiten vom Zwang anderer erweitert werde. Im folgenden wird untersucht, inwiefern Menschenrechte im Sinne des status libertatis durch die Geburt demokratischer Rechte eine Tragödie schufen, in die sie sich selbst hineingezogen haben. Ich befasse mich zuerst mit der Nutzung und Ausnutzung von Freiheiten zur Teilnahme am Regieren und danach mit Nutzungen und Ausnutzungen von Freiheiten der einzelnen gegenüber anderen, der Regierung und dem Staat. Die Reihenfolge soll keine qualitative Priorität anzeigen. Sie ist lediglich von der Frage geleitet, ob Ausnutzungen des status libertatis mit dem Wachsen demokratischer Rechte offenbar geworden sind. Ich behandle zunächst die Lösung des Problems des self-government in der formativen Periode der Vereinigten Staaten und daraufhin den generellen Vormarsch der Demokratie.
3. Von den großen als Demokratien bezeichneten westlichen Mächten, Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wurden lange erstere als die Wiegen der modernen Demokratie gesehen. Ihre Bedeutung für diese Regierungsform soll ihnen nicht streitig gemacht werden. Coke, Locke, Blackstone, Montesquieu, Voltaire und Rousseau; die Englische Revolution gegen das 6 V gl. mein als Antwort auf Max Webers Politik als Beruf und Carl Schmitts Der Begriff des Politischen gedachtes Politik- Wissenschaft, Berlin 1989. 7 Vgl. Maurice Cranston, Freedom: A New Analysis, London 1953; Hayek, Verfassung der Freiheit, 13 ff.; Mortimer Adler, The Idea of Freedom: A Dialectical Examination of the Conceptions of Freedom, New York 1958; Hayek, Verfassung der Freiheit, 13 ff.
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divine right of kings und die Französische gegen das monarchistische Prinzip l 'Etat c'est moi: sie alle haben ihre Verdienste. Andererseits sollten diese nicht auf Kosten des amerikanischen Beitrags überbetont werden. Das ist lange geschehen. Es war wohl darauf zurückzuführen, daß England und Frankreich bereits zu einer Zeit Großmächte waren, als die Vereinigten Staaten noch unbedeutend und unbeachtet jenseits des Atlantik abseits von der großen Politik der Mächte lagen. Man sprach vom 19. Jahrhundert als dem Englischen und konnte vom vorangehenden als dem Französischen sprechen, die Grande Nation drückte ja noch unter Napoleon der Zeit ihren Stempel auf. Jedoch sollte nicht übersehen werden, daß die Volksherrschaft in diesen Ländern von Anfang an nicht so kompromißlos akzeptiert wurde wie in den Vereinigten Staaten. Wenn es nach der Glorreichen Revolution auch hieß, "the king can do no wrong" und die rule des Monarchen zur bloßen reign reduziert wurde, ist Großbritannien bis heute doch formell eine Monarchie geblieben. Und Frankreich blieb trotz seiner demokratischen Revolution bis heute innerlich geteilt. Nicht nur Restaurationen und die Dreyfus-Affäre, als l'affaire schlechthin bekannt, machten das deutlich. Auch Vichy tat es.8 Die Vereinigten Staaten waren dagegen von Anfang an demokratisch. Mit der Amerikanischen Revolution schaffte man dort die Monarchie auch förmlich ab. Im Gegensatz zu Frankreich dachte man kaum am Restaurationen der Monarchie, stand die Nation einig hinter der demokratischen Idee. Das beeindruckte den hervorragenden Beobachter Amerikas im 19. Jahrhundert derart, daß er sein Werk De la democratie en Amerique betitelte - mit dem Schwerpunkt auf dem Wort "Demokratie" - und das Beispiel Amerikas als für die Zukunft wegweisend hinstellte. Im 20. Jahrhundert, das infolge amerikanischer Stärke auch das Amerikanische Jahrhundert genannt wurde, sah man dann die USA als führende westliche Demokratie. Wie nach Jakob Burckhardt die Größe von Männern der Geschichte, hängt der Einfluß von Ländern ja meist von deren Macht ab und weniger von der Ethik ihres Handelns. Wie es sonst aber bei Machthabern Dinge gibt, denen man Bewunderung zollt, gibt es sie auch bei mächtigen Ländern. Fragt man mich, was mich an Amerika besonders beeindruckt hat, so ist es dies: in Amerika wurde innerhalb von nur elf Jahren, von der Unabhängigkeitserklärung 1776 bis zur verfassunggebenden Versammlung von 1787 das Problem der Demokratie erkannt, inwiefern die regierende Mehrheit die Rechte der Individuen zu schützen hat. Auf die Frage nach Nutzung und Ausnutzung der Menschenrechte bezogen heißt das: werden demokratische Rechte ausgenutzt, wenn durch sie Rechte einzelner gegenüber anderen und Machthabern leiden? Das läuft auf eine kritische Untersuchung des Demokratischen hinaus. Sie wurde in den Vereinigten Staaten erfolgreich unternommen, und s Zu der bereits von de Tocqueville im Vorwort zum zweiten Band seines Werkes über die Demokratie in Amerika erwähnten inneren Spaltung Frankreichs vgl. Jürg Altweg, Vergessen ist die erste Bürgerpflicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. April 1994, 29.
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zwar gleich in der formativen Periode dieser Nation. Amerika ist nämlich die Wiege der liberalen Demokratie nicht nur, weil hier zum erstenmal Menschenrechte, die den status libertatis anzeigen, als einklagbare subjektive Rechte in Grundrechtskatalogen formuliert wurden. Es ist diese auch, weil hier schon vor der Französischen Revolution ohne formale Konzessionen an die Monarchie, wie man sie in England gemacht hatte, demokratische Rechte eingeführt wurden. Demokratische Menschenrechte wurden zu Beginn der mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung entstandenen neuen Nation der Neuen Welt weitgehend genutzt in dem Glauben, die Freiheiten der Bürger vor Regierungs- und Staatsgewalt zu fördern - bis man merkte, wie sie zum Schaden dieser Freiheiten ausgenutzt wurden. Und dies Erwachen aus einem demokratischen Traum geschah, wie bereits betont, in dem als erstaunlich kurz anzusehenden Zeitraum von etwas über einem Jahrzehnt. Diese Kürze erscheint um so bewundernswerter, als es in jenen wenigen Jahren große Begeisterung gegeben haben muß, nun endlich den Kolonialstatus hinter sich gebracht zu haben und vom Mutterland ganz frei geworden zu sein, einen Enthusiasmus, in dem man stolz darauf hinweisen konnte, als erste aller modernen Kolonien dem Kolonialismus entronnen zu sein und als erste souveräne Nation in der Neuen Welt dem Antikolonialismus Schrittmacher geworden zu sein. All diese Faktoren erscheinen mir bedeutend für die Betonung demokratischer Rechte, welche die Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung kennzeichnet. Beim Kolonialismus drängt sich das Verhältnis von Eltern zu Kindem auf. In beiden Fällen kann man von Mündigen im Gegensatz zu Unmündigen reden. Schon zeitig will das Kind seinen Willen haben, was als ganz natürlich angesehen wird. Deshalb lassen ihm die Eltern oft seinen Willen. Überhaupt wird dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindem durch elterliche Liebe erzieherische Härte genommen. Anders ist es schon, wenn das Kind einen Vormund bekommt, es zum bloßen Mündel wird. Aber auch hier ist noch mit einer gewissen Sympathie des meist sorgfaltig ausgewählten Vormunds zu rechnen, die vergessen läßt, daß er kein Blutsverwandter ist. Solche Rücksichtnahmen gibt es bei Kolonialverhältnissen weniger, wobei es gleichgültig ist, ob die Fahne der Kolonialmacht dem Handel folgt oder umgekehrt, in welchen Variationen und mit welchen Rechtfertigungen auch immer. In der Regel tendierten Kolonialmächte dahin, die Kolonien und die Menschen in ihnen zu nutzen und auszunutzen. Das Betonen von the white man 's burden und einer mission civilisatrice ändert daran wenig. Auch schienen sich die meisten Angehörigen einer Kolonialmacht über eine derartige Ausbeutungspolitik einig zu sein: das Ausbleiben der von Marx vorausgesagten proletarischen Revolutionen wurde von Marxisten bekanntlich dadurch erklärt, daß die Arbeiter in den Kolonialmächten ihren Lebensstandard durch das Ausbeuten der Eingeborenen erhöhten und deshalb keine Lust mehr hatten, zu revoltieren. Neben ihrer materiellen Ausbeutung empfanden es die Eingeborenen sicher auch schlimm, von ihren Kolonialherren wie unmündige Kinder und Mündel behandelt zu werden, ohne der Rücksichtnahme und Liebe teilhaftig zu sein, die Vormünder und Eltern ihren Pflegebedürftigen meist zukommen lassen.
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Nun waren die Bewohner der amerikanischen Kolonien Englands durch die Kolonialzeit hindurch nicht mit denen europäischer Kolonien in Afrika, Asien und Lateinamerika zu vergleichen. Sie gehörten ethnisch zu den Bewohnern der britischen Inseln. Dennoch waren sie colonists, vom Mutterland abgetrennt, die sich rechtlich als Zweitrangige fühlten, weil ihnen ihre rights of Englishmen vorenthalten wurden. Als Erwachsene mußte ihnen ihr Mündelverhältnis dem Mutterland gegenüber unerfreulicher noch erscheinen als Mindeijährigen ihrem Vormund gegenüber. Ihr Kolonialstatus unterschied die amerikanischen Revolutionäre von denen, die im vorangegangenen Jahrhundert sich gegen Karll. erhoben hatten. Deren Rechte waren zwar mit dem wachsenden Vergessen der Magna Charta, besonders unter den Tudors und den ersten Stuarts, zurückgedrängt worden unter ständiger Begrenzung ihres Mitspracherechts durch das Parlament. Aber sie waren eben keine colonists und, im Gegensatz zu diesen, wenigstens im Parlament vertreten. Sie mochten eher Untertanen als Bürger sein, der Makel bloßer Untertanen, die dazu noch abgesondert und ausgesondert in Kolonien lebten, haftete ihnen nicht an. Sie brauchten nicht, wie später die amerikanischen Revolutionäre, das Schlagwort no taxation without representation zu gebrauchen. Die amerikanischen Revolutionäre unterschieden sich auch von denen in Frankreich wenige Jahre später. Dort war über Generationen immer offensichtlicher geworden, daß die Ansicht Jean Bodins, der Souverän habe trotz seiner Machtfülle die Bräuche seiner Landsleute zu achten, mißachtet wurde. Daneben hatte der König die Generalstände herablassend behandelt und so die Teilnahme von Volksvertretern an Regierungsgeschäften in Frage gestellt. Dennoch: wenn sich die Franzosen auch als bloße Untertanen unterdrückt fühlten, den Makel, lediglich Kolonisten zu sein, spürten sie nicht. Nun wird man fragen, warum die amerikanischen Kolonisten denn nicht ähnlich gegen Georg III. revoltierten, wie ihre Vorväter in England im 17. Jahrhundert es gegen Karl I. getan hatten. Dem kann entgegnet werden, daß sie einen firebrand wie Patrick Henry schon hatten, der ausrief, Cäsar habe seinen Brutus und Karl I. seinen Cromwell gehabt und Georg III. entsprechend angriff. Wenn die Amerikaner nur zögernd an die Revolution herangingen, so hatte das seine Gründe. Abgesehen davon, daß sie bei der bestehenden Machtlage kaum eine Chance hatten, den englischen König zu töten, hatte die Glorreiche Revolution die Monarchie konstitutionalisiert. Sie kannten die Rechtfertigung dieses Ereignisses durch John Locke, der eine Revolution nur bei langen schweren Unterdrückungen zuließ, von denen viele der Kolonisten nicht wirklich überzeugt waren. Denn es war ihnen ja über Generationen gelungen, die Macht der vom König ernannten Gouverneure zugunsten der Volksvertretungen in den einzelnen Kolonien zurückzudrängen und so Fortschritte hin zum self-govemment zu erzielen. Um so mehr mußte es sie wurmen, vom englischen Parlament mit belastenden Maßnahmen bevormundet zu werden, ohne dort vertreten zu sein. Wenn in den einzelnen Kolonien demokratische Rechte immer mehr anerkannt wurden, mußte es dann nicht als Anachronismus erscheinen, wenn dies vis-a-vis dem Mutterland nicht der Fall war? Da ist die Begeisterung vorstellbar, als man sich endlich von
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der GängeJung des Parlaments und des King in Parliament mit der Unabhängigkeitserklärung, The Unanimous Declaration of the Thirteen United States of America, befreite. Vielleicht ist es zu wenig, hier bloß von einem Stufengang demokratischen Rechts zu sprechen, in dem diese Rechte und die daraus folgende Mitbestimmung in Regierungsgeschäften Stufe um Stufe, von einer Kolonie zur anderen, erweitert wurden, bis zur Abschaffung der aus London kommenden Gesetze. Genauer wäre wohl der Vergleich mit einer metallenen Spirale, in der demokratische Rechte von einem kleinen unteren Punkt schwunghaft nach oben hin vergrößert werden. Und je weiter es nach oben geht, um so größer die Schwingungen, so daß man von einem wahren Taumel reden kann. In einen solchen wurden die souverän gewordenen Amerikaner versetzt. Der Spirale Schwingen begannen zu klingen und zeigten sich in einem ungeheuren Gesetzgebungseifer innerhalb der neuen Staaten, deren Legislaturen, endlich dem Kolonialstatus entwachsen, recht souverän auftraten. Erstaunlich ist das nicht, war doch die Kolonialzeit von einem ständigen Wachsen der das Volk vertretenden gesetzgebenden Kammern gekennzeichnet. Zwar bekannten sich neue Verfassungen zum Grundsatz der Teilung der Regierungsgewalt im Sinne Montesquieus. In der Praxis neigte man jedoch eher zu der von Locke befürworteten, welche die Legislative als die das Volk am meisten vertretende Gewalt als wichtigsten Teil der Regierung ansah. Es kam zu einer wahren Gesetzgebungsmanie, die alles in Amerika bisher Dagewesene übertraf. Sie war wohl dem Glauben an den Spruch "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich" zuzuschreiben, vielleicht kombiniert mit dem unter ,,Loi" im Dictionnaire Philosophique gebrachten Rat Voltaires, "wenn ihr gute Gesetze wollt, verbrennt die euren und macht neue" ("Voulez- vous avoir de bonnes lois? Brulez les vötres et faites nouvelles"). Sieht man sich den damaligen Gesetzgebungseifer an, wird man mehr und mehr der Hybris gewahr, nach der die Gesetzgeber in der Hoffnung handelten, durch ihren Willen zum Himmelreich guter Gesetze zu gelangen. Man fragt sich, ob Verabschiedung von Gesetzen nicht oft den Abschied vom Recht bedeutete. Das Machen neuer Gesetze trifft alte auf zweifache Weise. Einmal konkurriert es mit langsam gewachsenem Recht, dieses meist eliminierend. D. h., der Gesetzgebungseifer ab 1776 richtete sich zum guten Teil gegen das Common law, eine der Hauptstützen der Bewohner der Kolonien in ihrer langen Auseinandersetzung mit dem Parlament, die vom englischen Gewohnheitsrecht geschützten rights of Englishmen betonend. Sodann konkurrieren neu gemachte Gesetze mit ihren Vorgängern und schalten diese bei einem Konflikt aus. Das war bei dem Gesetzgebungseifer in den amerikanischen Staaten nach deren Souveränität klar zu sehen. Selbst wenn die damaligen Gesetzgeber Voltaires Artikel gekannt haben sollten, fragten sie vielleicht in ihrem Eifer nicht danach, weshalb der Franzose statt "bonnes" nicht "meilleures" geschrieben hatte. Und sahen sie nur dessen hier zitierten Sätze als Schlagwort, was in ihrer Begeisterung nicht verwunderlich gewesen wäre - Begeisterte lieben nun einmal Schlagworte und fallen auf sie herein -, so konnten sie durchaus besessen sein von ihrer vermeintlichen Sendung, gute und nicht
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nur bessere Gesetze zu setzen. Das aber deutet auf Hybris. Denn Hybris versteigt sich zum Guten als etwas Absoluten und ist mit bloß Besserem als etwas Relativen nicht zufrieden. Ein derartig hochtrabendes Bestreben aber, wohlgemeint und menschlich verständlich, wie es in Stunden des Enthusiasmus sein mag, ist gefährlich. Nichts kann besser werden ohne Wechsel, wobei aber immer zweifelhaft ist, ob es auch besser wird und ob es überhaupt gut werden kann. Man denkt an eine Umkehrung der Worte Mephistos im Studierzimmer von ,jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft." Daß in Amerika nach der Unabhängigkeitserklärung in den einzelnen Staaten so manches Schlechte geschaffen wurde, wurde schon damals nicht bezweifelt. Jefferson selbst kritisierte es. Er, der am 12. Juli 1816 Samuel Kercheval schrieb, er sei gewiß nicht für häufige und neuartige Änderungen von Gesetzen und Verfassungen, wenn Gesetze und Institutionen auch mit dem Fortschreiten des menschlichen Geistes Schritt halten sollten, blickte in den 1782 veröffentlichten Notes on Virginia kritisch auf die Verfassung seines Heimatstaates wegen deren Konzentration der Regierungsmacht in der gesetzgebenden Versammlung. Diese erschien ihm als klare Definition einer despotischen Regierung. Er erachtete es als irrelevant, ob eine solche Machtaoballung in einer gewählten Kammer existierte, weil für ihn hundertdreiundsiebzig Despoten ebenso unterdrückend waren wie ein einziger und man schließlich nicht für einen gewählten Despotismus gekämpft habe. Jefferson stand mit seiner Ansicht nicht allein. 9 Da nun die Legislativen als die demokratischsten Teile der neuen Regierungen angesehen wurden, liefen Kritiken dieser Institutionen im Grunde auf Bemängelungen der Demokratie hinaus. Und an solchen hat es nicht gefehlt. Ich will hier nur einige nennen. Sie zeigen, wie die Furcht vor der Demokratie nach der Unabhängigkeitserklärung von vielen geteilt wurde - zum guten Teil infolge dessen, was sich Gesetzgeber als Vertreter der Mehrheit der Wähler in den neuen Staaten mit der Unterdrückung der Rechte einzelner so alles herausnahmen. Diese Furcht machte klar, daß Rechte, die zur Teilnahme am Regieren berechtigten, nicht nur auf vertretbare Weise genutzt werden konnten, sondern auf bedenkliche Art ausgenutzt. Sie war ersichtlich vor der Verfassunggebenden Versammlung von Philadelphia, während dieser Versammlung sowie auch im Kampf um die Ratifizierung der dort entworfenen Bundesverfassung. Zu Beginn der ersten Phase zeigen diese Furcht schon die eben angeführten Bemerkungen von Jefferson und Rush. An deren Ende wird sie offenbar in Rushs be9 Andrew A. Lipscomb, Hrsg., The Writings of Thomas Jefferson, Washington 1903 - 04, Il, 162 f. Bereits 1777 beklagte sich Benjamin Rush darüber, daß unter der Verfassung von Pennsylvania "the supreme, absolute, and uncontrolled power of the State is ... in the hands of one body of men. Had it been lodged in the hands of one man, it would have been less dangerous to the safety and liberties of the community. Absolute power should never be trusted to man .. . I should be afraid to commit my property, liberty and life to a body of angels ..."Observations on the Government of Pennsylvania, in Dagobert D. Runes, Hrsg., TheSelected Writings of Benjamin Rush, New York 1947, 57.
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kannter Rede vom Januar 1787. In ihr betonte er, die Amerikanische Revolution sei keineswegs vorüber. Mit dem Befreiungskrieg sei lediglich der erste Akt dieses großen Dramas abgeschlossen. Es bleibe die Aufgabe, "to establish and perfect our new forms of government; and to prepare the principles, morals, and manners of our citizens, for these forms of government, after they are established and brought to perfection." Was da aufgrund der Rechtsunsicherheiten, welche immer mehr neue Gesetze in den einzelnen Staaten mit sich brachten, an neuen Regierungsformen errichtet und perfektioniert werden mußte, sagte Rush bald danach, wenn es heißt, "in our Opposition to monarchy, we forgot that the temple of tyranny has two doors. Wie bolted one of them by proper restraints: but we left the other open, by neglecting to guard against our own ignorance and licentiousness." 10 Die Monarchie war zwar durch die Volksherrschaft ersetzt worden, aber dabei hatte man vergessen, sich gegen die eigene Unwissenheit und ausschweifende Freiheit vor der Tyrannei zu schützen. Es war die Tyrannei einer Volksherrschaft, in der die regierende Mehrheit despotisch wurde. Befürchtungen hinsichtlich dieser Tyrannei wurden auch später, selbst in der Verfassunggebenden Versammlung, laut, von deren Verhandlungen die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, um direkte Einflußnahmen des Volkes auszuschließen. Noch unter dem Einfluß der egalitär-demokratischen Shays' Rebellion stehend, schrieb Theodore Sedgwick an Rufus King, jeder Beobachtende sei davon überzeugt, daß der Zweck von Regierungen, Sicherheit, durch demokratische Gleichheit nicht erreicht werden kann. Durch ihr Studium der Geschichte waren Mitglieder der Versammlung zu der Ansicht gelangt, daß Regierungen des gemeinen Volkes zu Tumulten, Angriffen auf Personen und Eigentum und endlich zur Despotie führen. Man glaubte, die Demokratie sei etwas Vorübergehendes, das zur Diktatur des reichen Demagogen führen würde, der zum Gönner ärmerer Volksschichten werde. Am offenbarsten war die Furcht vor der Demokratie wohl in den Debatten über den Vorrang der Bundesregierung vor den Regierungen der Einzelstaaten und die Wahl der Legislative des Bundes. Edmund Randolph bedauerte, daß die unter den derzeitigen Articles of Confederation bestehende Regierung des Staatenbundes nicht den Verfassungen der einzelnen Staaten übergeordnet war und klagte: "Our chief danger arises from the democratic parts of our constitutions ... None of the constitutions have provided sufficient checks against democracy." In den Beratungen über die Wahl des Senats war Roger Sherman gegen eine Wahl der Senatoren durch das Volk, das so wenig wie möglich mit der Regierung zu tun haben sollte. Elbridge Gerry bezweifelt nicht, daß die Übel, die man erfahre, auf demokratische Exzesse zurückzuführen seien. Charles Pinckney verlangte, die untere Kammer der Legislative des Bundes durch die Legislativen der einzelnen Staaten wählen zu lassen, weil das Volk dazu weniger geeignet sei. 11 JO Hezek.iah Niles, Hrsg., Principles and Acts of the Revolution, Haitimore 1822, 402. Eine ähnliche Haltung wurde am 4. Juli 1787 von Joel Barlow eingenommen, daselbst, 386. II Charles Warren, The Mak.ing of the Constitution, Boston 1937, 231; Max Farrand, Hrsg., The Records ofthe Federal Convention, New Haven 1911, I, 26, 48, 132.
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Im Einklang mit solchen skeptischen Meinungen über die Demokratie unter denen, die in Philadelphia die neue Bundesverfassung schufen, findet man Ansichten, welche geäußert wurden, als die Verfassung zur Ratifizierung vorlag. Ich will mich hier auf Bemerkungen beschränken, die in den Essays des Federalist gemacht wurden. Diese Aufsätze wurden auf die Initiative von Alexander Rarnilton hin von ihm, John Jay und James Madison geschrieben und in Zeitungen des Staates New York veröffentlicht, um die Wahler dieses Staates zu bewegen, die Verfassung anzunehmen. 12
Selbst in den wenigen Essays von Jay, die sich überdies auf die Vorteile konzentrieren, die der unter der Verfassung entstehende Bundesstaat im Gegensatz zu dem bestehenden Staatenbund in internationalen Beziehungen haben würde, fehlt es an Polemik gegen die in den einzelnen Staaten herrschenden Zustände mit ihrem demokratischen Gesetzgebungseifer nicht. Essay 3 bedauert, daß in einigen der Staaten im demokratischen Prozeß schlecht qualifizierte Männer in Regierungspositionen gelangt sind. Es wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß es in der Regierung des neuen Bundesstaates anders werden würde, weil auf bundesstaatlicher Ebene die Auswahl besserer Menschen für Positionen in der Regierung möglich sein würde. Diese dürften Bescheidenheit und Offenheit an den Tag legen und maßvoller und kühler in ihren Beratungen sein als diejenigen, die sich zur Zeit in den Regierungsgremien der einzelnen Staaten finden. Das müßte dazu beitragen, Ungerechtigkeiten der regierenden Mehrheiten gegenüber Minderheiten zu reduzieren. In Essay 64 wird Jays Mißtrauen gegenüber der Demokratie noch offensichtlicher. Dort wird betont, daß die Rechte der Individuen vor allem von der Legislative gefährdet sind. Es wird gepriesen, daß unter der neuen Verfassung es der indirekt gewählte Senat ist, der internationale Verträge zu ratifizieren hat, und nicht die direkt gewählte untere Kammer, das Repräsentantenhaus. Auf diese Weise ist die Ratifizierung von Verträgen, die für die Bürger verbindend sind wie Gesetze, allgemein in die Hände derer gelegt, die infolge ihres von der Verfassung festgelegten höheren Alters im Unterschied zu den Mitgliedern des Repräsentantenhauses eine größere Reife haben, die wegen ihrer Fähigkeiten und Tugenden distinguiert sind und in die das Volk größeres Vertrauen haben kann. Da seine Mitglieder auf sechs Jahre gewählt werden und alle zwei Jahre jeweils nur ein Drittel von ihnen zur Wahl ansteht, kann man im Senat auch eine gewisse Stabilität erwarten. Ist in den wenigen Essays, die Jay vor allem im Hinblick auf die außenpolitische Lage schrieb, eine Polemik gegen Demokratisches zu finden, wird es kaum überraschen, daß dies in den vielen Aufsätzen Madisons, die vor allem Innenpolitisches behandeln, um so mehr der Fall ist. Diese Skepsis zieht sich wie ein roter Faden durch dessen Beitrag, aber ich will mich hier auf einige Beispiele beschränken, welche das besonders deutlich machen. Da ist in Essay 10 Madisons Unterschei12 Siehe mein The Federalist - A etassie on Federalism and Free Government, Saltimore 1960.
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dung zwischen einer Demokratie und einer Republik. Er ist gegen erstere, in der er eine direkte Volksherrschaft sieht, von ihm als pure democracy bezeichnet. Sie ist turbulent und nicht vereinbar mit der Sicherheit der Person und des Eigentums, die infolge der Leidenschaften der herrschenden Mehrheit bedroht sind. In ihr gibt es nichts, was die Mehrheit davon abhalten könnte, die schwächere Partei oder ein unbequemes Individuum ihren Wünschen zu opfern. Das alles erscheint Madison weniger wahrscheinlich in einer Republik, in der das Regieren ausgeführt wird von vom Volke auserwählten Männern, die eine Verfeinerung öffentlicher Ansichten darstellen, eine Elite. Madison hält nicht viel von theoretical politicians, die irrtümlich angenommen haben, man könne durch eine Reduzierung der Menschheit zu einer perfekten Gleichheit hinsichtlich ihrer demokratischen Rechte erreichen, daß die Menschen in ihrem Besitz, ihren Meinungen und ihren Leidenschaften vollkommen gleich werden. Essay 48 beklagt, daß die Legislative in den einzelnen Staaten überall die Sphäre ihrer Aktivitäten ausdehnt und alle Macht in ihren wütenden Strudel zieht. Trotz Madisons Behauptung in Essay 10, eine Republik sei wegen ihres repräsentativen Charakters besser als eine reine Demokratie, ist er auch dieser gegenüber noch skeptisch, wenn er vor legislativen Usurpationen warnt, die zur gleichen Tyrannis führen können wie die Monarchie. Er bemerkt, daß selbst in einer repräsentativen Republik die Menschen eifersüchtig auf der Hut sein müssen vor den nicht ermüdenden Ambitionen der Legislatur und denen mit so großer Vorsicht begegnen sollten wie nur möglich. Er behauptet, aus den Archiven eines jeden Staates der Konföderation reichlich Beweise anführen zu können für legislative Usurpationen. Sie lassen keinen Zweifel darüber, daß, wie schon in Essay 10 gesagt wurde, Maßnahmen nicht nach den Maßstäben der Gerechtigkeit und des Schutzes der Minderheit ausgeführt werden, sondern aufgrund der "Superior force of an interested and overbearing majority." Bei Rarnilton ist das Mißtrauen gegen Demokratisches noch größer als bei Madison, der ja immerhin wegen seiner Haltung als Vorsitzender der Verfassunggebenden Versammlung als "great compromiser" bekannt wurde und von dem gewisse Konzessionen an die Demokratie erwartet werden konnten angesichts der Tatsache, daß er die ,,reine Demokratie" angreift, was eine Öffnung zur nicht reinen andeutet. Auch Rarnilton kritisiert die Legislativen in den Staaten. Er sieht sie vergiftet von zeitweiligen bösen Launen, Vorurteilen und Neigungen, die in Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen von Teilen der Gemeinschaft resultieren. Er bedauert die oppressive Herrschaft von Schuldnern, die, eher von momentanen Neigungen und Wünschen motiviert als von Gerechtigkeitserwägungen, die Rechte der Minderheit verletzen (Essay 27). Er beschwert sich über Praktiken, welche die Grundlagen von Eigentum und Kredit unterminiert, bei allen Bürgern gegenseitiges Mißtrauen geschaffen und zu einer weitgehenden Nichtbeachtung der Moral geführt haben (Essay 85). "Usurpation kann in jedem Staat auftauchen und auf den Freiheiten des Volkes herumtrampeln", heißt es in Essay 21, und "eine erfolgreiche Partei kann eine Tyrannei auf den Ruinen von Recht und Ordnung errichten." Hamilton erinnert an Shays' Rebellion und betont, die Bedrohung durch demokrati-
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sehe Aufstände gehöre nicht nur der Spekulation an, und das Resultat der Unruhen in Massachusetts hätte ein anderes sein können, wenn die Aufständischen von einem Cäsar oder Cromwell geführt worden wären. Voller Sorge fragt er: "Wer kann voraussagen, welche Wirkung eine in Massachusetts errichtete Despotie auf die Freiheiten von New Hampshire oder Rhode Island, von Connecticut oder New York haben würde?" Große Furcht zeigt er also vor den demokratischen Kräften im Lande, ob sie nun offen zum Aufstand schreiten oder in den Legislativen der einzelnen Staaten ihre Ziele verfolgen. Obgleich er annimmt, daß sich das alles durch die Ratifizierung der Verfassung zum Besseren ändern wird, bleibt er doch auch für diesen Fall skeptisch gegenüber der Legislative als dem demokratischsten Teil der neuen Bundesregierung. Er zeigt sich als Befürworter des richterlichen Prüfungsrechts in Essay 78, nach dem Gerichte das Recht haben, sogar vom Kongreß verabschiedete Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und sie bei einem Konflikt mit der neuen Bundesverfassung ungültig zu erklären. Das geht sehr weit und war zu Rarniltons Zeit ein Novum in der angelsächsischen Rechtsgeschichte. Es zeigt, wie Hamilton sich nicht scheute, zum Zwecke des Schutzes der Rechte des Individuums vor der regierenden Mehrheit zu gehen. Er tat dies in dem Bewußtsein, damit demfree government zu dienen, unter dem er, wie die meisten seiner Landsleute zu seiner Zeit, eine Republik verstand, in der die regierende Mehrheit verfassungsgemäß verpflichtet war, die Freiheiten der Individuen zu schützen. Aber der Ausdruckfree government ist vom Menschenrechtlichen her nicht nur problematisch; seine Duplizität zeigt die ganze Problematik der Menschenrechte in großer Schärfe. Neben der eben angegebenen Bedeutung kann free government nämlich auch eine Regierung bezeichnen, die frei ist, zu unterdrücken, sei sie monarchisch, aristokratisch - oder demokratisch. Und während kein Zweifel darüber besteht, daß in der formativen Periode der Vereinigten Staaten free government vornehmlich als ein self-government gesehen wurde, in dem das Prinzip der Teilnahme des Volkes am Regieren dem Prinzip des Schutzes der Individuen vor der Regierung untergeordnet war, wurde es auch als das gerade Gegenteil aufgefaßt. So sagte Benjamin Hiebborn 1777 in der Stadt, die durch die Boston Tea Party der Unabhängigkeit von England Vorschub leistete und nur durch den Charles River von der Harvard Universität getrennt ist, "zivile Freiheit" bedeute nicht "eine Regierung von Gesetzen, welche im Einklang mit Chartern, Grundrechtskatalogen oder Verträgen gemacht wurden, sondern eine im gesamten Volk existierende Macht, jederzeit aus jedem Grund oder ohne Grund, bloß aus seiner eigenen souveränen Lust heraus, sowohl die Weise als auch Essenz jeder früheren Regierung ändern oder abschaffen zu können und eine neue an ihre Stelle zu setzen." 13 Hier wurde also jene Tür weit geöffnet, von der Rush zehn Jahre später bedauernd sagte, sie sei offen gelassen worden und man hätte vergessen, sie zu verrammeln: die Tür zum demokratischen Despotismus, der die Jahre nach der Unabhängigkeitserklä13
Niles, a. a. 0., 27, 30.
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rung zu einer kritischen Periode nicht nur deshalb machte, weil es unter dem Staatenbund der Articles of Confederation keine eigentlich handlungsfähige nationale Regierung gab, sondern auch, weil demokratische Rechte nicht bloß genutzt wurden, die Freiheiten der Bürger vor der Regierung zu schützen, sondern weil die regierende Mehrheit diese Rechte ausnutzte, um ihre eigenen derzeitigen Interessen auf Kosten anderer wahrzunehmen. Die zivile Freiheit im Sinne Hiebborns wurde ausgenutzt, um zivile Freiheiten, wie sie allgemein von denen verstanden wurden, die eine neue Bundesverfassung anstrebten, einschließlich denen des Schutzes von Privateigentum und Vertragstreue, zu verletzen. Also: eine Art ziviler Freiheit wurde zum Schaden einer anderen ausgenutzt, demokratische Rechte zum Nachteil der Rechte, von der Regierung in Ruhe gelassen zu werden. Die Männer, die diese neue Verfassung wollten, sahen das Problem des self-govemment, das man als das Problem der Demokratie schlechthin betrachten kann, und das fragt, inwieweit die in freien Wahlen gewählte regierende Mehrheit die Rechte der einzelnen vor anderen und vor der Regierung zu achten und zu schützen hat. Ihre Vertreter waren die Mitglieder der Federal Convention, der Verfassunggebenden Versammlung, die 1787 in dem gleichen Gebäude tagte, in dem elf Jahre früher die Unabhängigkeit von Großbritannien erklärt wurde. Bis heute wird in Amerika betont, eine bessere Versammlung von Politikern hätte es seitdem im Lande nicht mehr gegeben. Sie und alle, die danach die entworfene Verfassung propagierten und ratifizierten, lösten das Problem der Demokratie, indem sie Demokratisches nicht abschafften, sondern korrigierten und nobler machten. Was immer sie an ihm auszusetzen hatten infolge der Ausnutzung demokratischer Rechte, ließen sie doch keinen Zweifel darüber, daß sie die Herrschaft des Volkes zum Wohle des Volkes für eine zukünftige Regierung der Vereinigten Staaten voraussetzten und andere Regierungsformen nicht in Erwägung zogen. Madison, der Vater der Verfassung, wollte die reine, direkte Demokratie durch eine repräsentative Republik verfeinern. Nach dem Prinzip noblesse oblige setzte er offenbar voraus - und der ganze Tenor seines Beitrags zum Federalist zeigt das - daß eine solche Republik mit seiner regierenden Elite kompromittiert würde, wenn man zuließe, daß nun alles, was der Gesetzgeber in der Laune des Augenblicks oder in kalt berechnendem Kalkül gerade wollte, Gesetzeskraft haben sollte. Der wurde begrenzt und glich dem legislateur Rousseaus, den Hichbom wohl im Sinn hatte, nicht. Die neue Verfassung schrieb ein langes Gesetzgebungsverfahren vor, um auszuschließen, daß Gesetze mit leidenschaftlicher Eile in der Laune des Augenblicks zustande kamen. Das sollte einmal durch die Teilung der Legislative in einen Senat und ein Repräsentantenhaus erreicht werden. Hinzu kam die Bestimmung der Unterzeichnung des Gesetzentwurfs durch die Exekutive, den Präsidenten, der auch sein Veto einlegen konnte und damit das Gesetzgebungsverfahren weiter verlängern oder das Gesetz gar verhindem konnte. Und selbst dann, wenn ein Gesetz zustande gekommen war, unterlag es noch der Prüfung der Gerichte hinsichtlich seiner Verfassungsgemäßheit. Wurde die verneint, wurde es ex tune nichtig. Andere institutionelle checks and balances gab es sowie auch solche, die
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sich aus dem bundesstaatliehen Charakter der Verfassung ergaben. So konnte z. B. ein Viertel der Staaten mit einem weiteren Staat eine Änderung der Verfassung verhindern. Das lief auf eine Begrenzung des Demokratischen hinaus und machte die Verfassung zu einer rigiden. Eine solche Begrenzung findet sich auch in der Eigentums- und Vertragsrechte schützenden Bestimmung, kein Staat dürfe ein Gesetz verabschieden, das die Obligationen von Verträgen mindert - eine klare Polemik gegen demokratische Praktiken, die in einzelnen Staaten stattgefunden hatten. Die Tatsache, daß man bei all diesen Begrenzungen des Demokratischen, bei all dieser Vorsicht gegenüber der Demokratie an ihrer Regierungsform festhielt, zeigt sich in Bemerkungen, die John Adams, Nachfolger von George Washington im Weißen Haus, der oft als Vater des amerikanischen Konservatismus angesehen wird, am 15. April 1814 in einem Brief an John Taylor machte: "Ich kann nicht sagen, daß die Demokratie im großen und ganzen übler gewesen ist als andere Regierungsformen. Ihre Abscheulichkeiten sind vorübergehender gewesen, die der anderen andauernder. Die Geschichte aller Zeiten zeigt, daß die Launen, Grausamkeiten und Schrecknisse der Demokratie bald sich selbst angeekelt, alarmiert und in Schrecken versetzt haben ... Dennoch darf die Demokratie nicht in Ungnade fallen; die Demokratie darf nicht verachtet werden. Die Demokratie muß respektiert werden; die Demokratie muß geehrt werden; die Demokratie muß gepriesen und gern gesehen werden; die Demokratie muß ein wesentlicher Bestandteil der Souveränität sein und die Kontrolle über die gesamte Regierung haben. Sonst kann moralische Freiheit oder irgendeine andere Freiheit nicht existieren." Diese Ausführungen wurden gemacht, als James Madison Präsident war. Wie seine Vorgänger Washington, Adams und Jefferson war er das, was letzterer in einem Brief an ihn vom 28. Oktober 1814 als natürlichen Aristokraten bezeichnete. Adams' Ansicht erinnert an die Winston Churchills 1947 vor dem Unterhaus, die Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen mit Ausnahme aller anderen. Sie deutet an, daß der konservative Neuengländer noch 1814 glaubte, sich mit der von den Verfassungsvätern vollbrachten Lösung des Demokratieproblems zufriedengeben zu können zu einer Zeit, als Oberrichter John Marshall das Verfassungswerk festigte und die junge Republik gerade in einem neuen Krieg mit Großbritannien ihre Unabhängigkeit nochmals behauptet hatte. Sie wurde ausgedrückt, als das Wahlrecht noch durch Eigentumsqualifikationen begrenzt war, vor dem Jahrzehnt, als die Begrenzungen abgeschafft wurden, was Chancellor James Kent zu der Warnung veranlaßte, die Demokratie erlaube keinen Schritt zurück. 14 Adams schrieb sie nieder anderthalb Jahrzehnt, bevor es nach seinem und Jeffersons Verscheiden am 4. Juli 1826- fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung- 1829 zur Jacksonian Democracy kam, die Tocqueville beobachtete. Es sollte in der Geschichte Geschichten geben, die Zweifel darüber erhoben, ob die von den amerikanischen Verfassungsvätern herbeigeführte republikanische Lö14 Reports of the Proceedings aod Debates of the Convention of 1821, Assembled for the Purpose of Amending the Constitution of the State of New York, Albany 1821,222.
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sung des Demokratieproblems andauern würde oder zu fragen war, ob das menschenrechtliche Schutzprinzip dem menschenrechtliehen Teilnahmeprinzip untergeordnet wurde und es neben wünschenswerten Nutzungen der Menschenrechte zu deren unliebsamen Ausnutzungen kam, und zwar auf der ganzen Welt.
4. Tocqueville wurde als der große Beobachter Amerikas bekannt, als der hervorragende Autor über die dortige Demokratie. Eine solche auf Amerika abstellende Meinung ist verständlich, entstand sein Hauptwerk doch nach einem Besuch der Vereinigten Staaten und zeigt es, was er dort vorfand. Sie wird noch durch dessen Titel, De la democratie en Amerique, verstärkt. Er wird ja meist, wie eben, in gleich großen Wörtern angegeben. Und da "Amerika" das letzte Wort ist, klingt es am längsten nach und wird deshalb vielen als das Wichtigste erscheinen. Aber wie Jakob Burckhardt empfahl, man solle Werke nicht in Übersetzungen lesen, sondern im Originaltext - man kann hier an die Übersetzung beim Fahrrad denken, die verändert -, so sollte man sich beim Titel eines Buches ansehen, wie er in der Originalausgabe erscheint. Das dachte wohl Carl Schmitt, als er in seiner Arbeit über Hobbes' bekanntestes Werk den Leviathan, wie er in der Erstausgabe mächtig auf der Titelseite erschien, in einer Reproduktion wiedergeben ließ. Sieht man sich nun die Titelseite von Tocquevilles Buch an, so fällt der Gedanke an Amerika hinter den der Demokratie zurück. Das Wort "Demokratie" ist das beherrschende. Es allein erscheint in Fettdruck mächtig und doppelt so groß wie ,,in Amerika" darunter, zwei Worte, die in dünnen Lettern gesetzt sind und relativ unscheinbar wirken. Danach ist Tocqueville die Demokratie die Hauptsache, die Demokratie als solche, die er nur an Amerika als einem Beispiel unter vielen demonstrieren will, wogegen er nicht im Sinn hat, schlechthin von der amerikanischen Demokratie zu sprechen. Sonst hätte er wohl von der democratie americaine im Titel gesprochen. Da nun das Wort "Demokratie" derart den Titel beherrscht, fragt man sich, ob denn diese Regierungsform ähnlich gewaltig erscheinen soll, wie der Moloch des Leviathan bei Hobbes. Hatte nicht Madison in Essay 48 des Federalist die Legislative als einen impetuous vortex hingestellt, einen wütenden, verschlingenden Strudel, der alle Macht an und in sich zieht? War ihm die gesetzgebende Gewalt nicht die, in der das Demokratische am deutlichsten repräsentiert wurde? Und hatte er dort nicht auch die enge Verbindung von exekutivem und legislativem, also von monarchischem und demokratischem Despotismus betont? Hatte nicht Rush letzteren ähnlich gefürchtet wie ersteren? Und war das nicht die Meinungall derer, die in Amerika eine neue Verfassung angestrebt hatten und damit das Demokratieproblem lösen wollten? Wenn es zunächst auch so aussah, als ob sie recht behalten hätten, würden künftige Entwicklungen ihren Optimismus bestätigen nach dem Einzug General Jacksons ins Weiße Haus und der damit verbundenen Jacksonian Revolution ?
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Oder würde das Problem des demokratischen Despotismus erneut auftauchen, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern überhaupt? Würde es etwa schlimmer noch auftreten, als zur Zeit der kritischen formativen Periode, weil das Demokratische sich nicht allein in der Macht der Legislative manifestierte, sondern auch in der Exekutive? Weil es unter dem mehr oder weniger hypokritischen Vorzeichen der Mehrheitsherrschaft, die sich der volonte generate Rousseaus näherte, zu einer Kombination von Exekutive und Legislative kam, die sich jeweils einzeln oder gar zusammen als Bannerträger des Demokratischen gaben? Würde es im Namen des Volksvertretens zu einem Zusammengehen des Monarchen im Sinne des Hobbes und seines Leviathan mit der Legislatur im Sinne von Lockes Zweiter Abhandlung kommen, obwohl diese Verteidigung der Glorreichen Revolution und deren Sieg des Parlaments über den absoluten König gegen eine solche Kollaboration und gegen Hobbes gerichtet war? Würde sich das Demokratische derart stark erweisen, daß es in der Exekutive wie auch der Legislative seine Stimme laut erheben konnte mit der Behauptung, in der Stimmung jeweiliger Augenblicke und Bedürfnisse im Namen des Volkes zu handeln, wenn auch vielleicht mit dem Vorsatz langfristiger Planung? Würden dabei Teile der angeblich Vertretenen erheblich getreten werden? Solche Gedanken müssen Tocqueville bewegt haben. Der Edelmann aus der Normandie, dessen Verwandte unter der Französischen Revolution litten, hatte von Haus aus Zweifel über die Demokratie und ihre egalitären Tendenzen. Sie wurden durch seine Beobachtungen in Jacksons Amerika nicht gemildert. Jackson war der erste Präsident der Vereinigten Staaten, der auf demokratische Weise aus der Reihe sprang. Er kam als erster aus dem damals noch wilden, demokratischen Westen und unterschied sich von seinen aus älteren Teilen des Landes wie Massachusetts und Virginia kommenden, aristokratischer anmutenden Vorgängern. Mit ihm kam mehr Demokratisches und Egalitäres ins Weiße Haus - und auch eine Persönlichkeit, die sich als besonders starke Exekutive gab: Jackson war der erste Präsident, der sich weigerte, eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs auszuführen. Er tat nicht nur das. Er wies diese auch machthabefisch und zynisch zurück. 15 Er, der zum erstenmal Opfer eines Attentatsversuchs auf einen Präsidenten wurde, trat als Volkstribun auf. Unter ihm kam es zum erstenmal zu einer gefährlich erscheinenden demokratischen Kombination der politischen Teile der Regierung, des Präsidenten und des Kongresses. Unter seinem Regime boten sich Tocqueville Anzeichen dafür, wie sich Demokratien in anderen Ländern entwickeln könnten. Wie es in der Einleitung seines Werkes über die Demokratie in Amerika heißt, suchte er dort das Wesen der Demokratie zu ergründen, ihre Neigungen, ihren Charakter, ihre Vorurteile und Leidenschaften. Im zweiten Band wird es dann noch deutlicher, daß es Tocqueville mehr um das Demokratische als solches ging, als darum, wie 15 Zu der ihm zugeschriebenen Bemerkung, "Weil, John Marshall has made his decision, now Iet him enforce it", vgl. Charles Warren, The Supreme Court in United States History, Boston 1926, I, 755 ff.
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sich dies in Amerika zeigte. Amerika erschien ihm vornehmlich als eine Art Laboratorium, in dem der Versuch der Demokratie schon einigermaßen fortgeschritten war. Tocqueville akzeptierte den Vormarsch der Demokratie als unvermeidlich, ohne ihn jedoch wirklich zu wollen. Nur zu oft fügt man sich ja in das Unvermeidliche. Und neben dem überall zu erwartenden Vorankommen des Demokratischen interessierte ihn besonders das in seinem Heimatland, Frankreich. Dort lag zur Zeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe der Gedanke der Demokratie in der Luft. Trotz aller Restaurationen bestätigte sich die Bemerkung Kants im Streit der Fakultäten, die Französische Revolution lasse sich nicht vergessen. Etwa zur Halbzeit zwischen dem Erscheinen von Tocquevilles zweitem Band (1840) und seinem Tode (1859) bestätigte der Historiker Fran~ois Guizot die Voraussage seines Landsmannes, als er von der Allmacht des Wortes "Demokratie" sprach, das alle Regierungen und Parteien auf ihr Banner schrieben. 16 Er mochte diese Vergötzung ähnlich wenig wie Disraeli auf der anderen Seite des Ärrnelkanals. 17 Aber, wie Tocqueville, bezweifelten beide nicht, daß der Demokratie die Zukunft gehören würde. Sie alle bekräftigten die oben angeführte Prognose von James Kent, dem bekannten Kommentator des amerikanischen Rechts, daß es in der Entwicklung der Demokratie keinen Schritt zurück gebe. Kent hatte das 1821 gesagt, als im Staat New York über die Ausdehnung des Wahlrechts beraten wurde. Offenbar sah er in einer solchen das Wichtigste dieser Entwicklung. Das ist richtig gesehen. Die wörtliche Übersetzung des griechischen demosist nun einmal "Volk", und zwar das Volk schlechthin. Wenn auch im Altertum die Volksherrschaft nur auf bestimmte Bürger eines Stadtstaates beschränkt war, ist das Wort "Demokratie" doch zunehmend weiter begriffen worden, und dieses Weiterbegreifen hat sich vor allem in Erweiterungen des Mitspracherechts am Regieren, in Ausdehnungen des Wahlrechts auf immer weitere Bevölkerungskreise manifestiert. So kann man sagen: das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, das aktive und passive Wahlrecht, ist das eigentlich demokratische, politische Menschenrecht, ist es doch das Recht der Menschen, an der Volksherrschaft in der Polis teilzunehmen und damit politisch tätig zu werden. Da aber politisches Tätigsein bedeutet, in einer Gemeinschaft für sich selbst etwas zu erreichen, hat jeder Wähler, wenn auch oft nur im kleinen, diese Möglichkeit. Das wurde klar gesehen, weshalb immer mehr Menschen das Wahlrecht haben wollten und dieses ständig auf größere Bevölkerungsschichten ausgedehnt wurde. Da das Recht, zu wählen, Voraussetzung des Rechts, gewählt zu werden, ist und damit grundlegender als letzteres, will ich mich hier auf das aktive Wahlrecht und dessen Erweiterung beschränken. Eine solche läuft auf ein Anwachsen der VolksDemocracy in France, New York 1849, 1974, 2 f., 5 f. Dorothy Pickles, Democracy, London 1970, 11, ohne Quellenangabe. Meinungen des Engländers, nach denen er die Demokratie als die Regierungsform der Zukunft anerkannte, bei Jens A. Christopherson, The Meaning of ,Democracy', Oslo 1966, 56 ff. Disraelis Ansicht ist so der de Tocquevilles ähnlich. 16
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herrschaft hinaus, so daß man zu folgender Gleichung gelangt: Wachsen der Wählerschaft = Wachsen der Demokratie. Dieses Wachsen aber erscheint als etwas rein Quantitatives. Über die Qualität der Wähler und der Demokratie sagt es ebensowenig aus wie die Gleichung "Volk= Volk". Sieht man im Liberalismus den Drang nach Freiheit und nimmt man an, dieser sei allen Menschen eigen, so spielt in ihm das Verlangen nach Ausbreitung des Wahlrechts auf immer breitere Bevölkerungsschichten eine bedeutende Rolle. Wie der Wunsch nach immer mehr Rechten, von anderen in Ruhe gelassen und von Regierung und Staat nicht behelligt zu werden, ist der Drang nach Rechten, das Regieren mitzubestimmen, stufenweise erfolgt. Nachdem man in den Vereinigten Staaten Eigentumsbeschränkungen abgeschafft hatte, wurde 1870 der 15. Verfassungszusatz verabschiedet. Er bestimmt nach der Emanzipation der Sklaven und deren Erhebung zu Bürgern, daß das Recht letzterer, zu wählen, nicht aufgrund von Rasse, Hautfarbe und früherer "servitude" verweigert oder begrenzt werden darf. 1964 sicherte das 24. Amendement das Wahlrecht auch denen, die keine Wahlsteuer oder sonstige Steuer bezahlten. Es füllte so Lücken, die nach dem Abschaffen von Eigentumsqualifikationen in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch da waren. In Großbritannien kam es nach dem Reform Act von 1832 zu weiteren Ausdehnungen der Wählerschaft. 1864 mochte der Grand Old Man der Liberalen Partei, Gladstone, das Wahlrecht noch als Privileg bezeichnen, als eine weitere Ausdehnung vollzogen wurde, 18 1888 wurde es abermals erweitert. Man gewöhnte sich ab, es als Privileg zu sehen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts vergrößerte sich dieses Recht für Frauen geradezu sprunghaft. Auf nationaler Ebene erlaubten es Neuseeland 1893, Australien 1902, Finnland 1906, Norwegen 1913, die Sowjetunion 1917, Deutschland 1919, die Vereinigten Staaten 1920, Großbritannien 1918 und 1928, Burma 1922, Ekuador 1929, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg Frankreich, Italien, Rumänien, Jugoslawien, China. Die Schweiz folgte 1971. Die an Territorium größte der westlichen Demokratien, in der das self-govemment seit ihrem Entstehen hochgehalten wurde und die unter ihrem Präsidenten Woodrow Wilson in den Ersten Weltkrieg zog, um die Welt für die Demokratie sicher zu machen, wollte also die Demokratie im eigenen Land auch noch sicherer machen, indem sie Frauen das Stimmrecht gab. Und auch die an Fläche kleinste der westlichen Demokratien, die Schweiz, die seit Generationen allgemein als Musterdemokratie galt, wollte in den siebziger Jahren noch demokratischer werden! Neben all diesen Ausdehnungen sind nicht die zu vergessen, welche durch die Herabsetzung des Wahlalters herbeigeführt wurden. In immer mehr Staaten wurde dieses derart heruntergesetzt, daß es unter dem Alter der bürgerlichtrechtlichen Geschäftsfähigkeit zu liegen kam. So konnte bei einer Bestätigung des Marsches der Demokratie eine Person das Geschick seiner Gemeinschaft mitIS Speech of the Chancellor of the Exchequer on the Bill for the Extension of the Suffrage in Towns, May 11, 1864, London 1864, 20: "What are the qualities which fit a man for the exercise of a privilege such as the franchise? Self-command, self-control, respect for order, patience under suffering, confidence in the law, regard for superiors?"
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entscheiden, nicht aber seine eigenen privatrechtliehen Interessen vertreten, von denen das Wohl und Unwohl der Gemeinschaft kaum oder überhaupt nicht abhing. Immer mehr wollten, jedenfalls im Hinblick auf das Wahlrecht, die Menschen gleich sein. Schon Montesquieu hatte die Liebe zur Gleichheit als das hervorragende Merkmal der Demokratie gesehen. 19 Das ständige Anwachsen demokratischer Rechte mit Erweiterungen des Wahlrechts bestätigt diese Liebe. Sie wird auch andauern und nach weiteren Ausdehnungen rufen. Denn demos bedeutet ja nun einmal Volk schlechthin, das ganze Volk. Da wird man z. B. bei dem schon heruntergesetzten Wahlalter nicht stehenbleiben wollen und kaum fragen, ob durch weitere Verminderungen dieses Alters die Demokratie gemindert wird oder herunterkommt. Zu allgemein ist die Anerkennung, der sich die Demokratie mit ihrer Liebe zur Gleichheit erfreut. T. S. Eliot konnte 1939 durchaus sagen, der Ausdruck .,Demokratie" sei universal geheiligt. Mit weiteren Ausdehnungen des Wahlrechts mußte er immer heiliger erscheinen. Zehn Jahre später ging nicht eine einzige ungünstige Antwort ein, als die UNESCO die Meinungen von über hundert Gelehrten bezüglich der Demokratie wissen wollte. Und 1966 nahmen John Kenneth Galbraith' Zuhörer dessen Bemerkung freundlich auf, wie die Familie, die Wahrheit, der Sonnenschein und Florence Nightingale sei die Demokratie über jeden Zweifel erhaben.20 Hatte er recht? Vom bloß Demokratischen her zweifellos. Wie der Liberalismus in seiner Reinheit ohne Rücksicht auf ethische, moralische, rechtliche und andere Erwägungen nur auf Ausdehnung der Freiheit des Individuums aus ist, ist auch das rein Demokratische als dessen wichtiger Bestandteil unter Mißachtung solcher Erwägungen lediglich daran interessiert, die Demokratie zu fördern. Das aber kann nur geschehen, wenn möglichst viele Angehörige des Volkes durch Abgabe ihrer Stimme das Recht zum Mitregieren haben. Wie früher im griechischen Stadtstaat, der polis, oder noch heute in schweizerischen Landsgemeinden und den Town Meetings Neuenglands, kann das durch direkte Teilnahme an den Staatsgeschäften geschehen oder auf mehr mittelbare Weise durch die Wahl von Repräsentanten, ob diese nun, wie Rousseau meinte, die Ansichten ihrer Wähler verfälschen, sie nach Meinung Madisons veredeln oder nach Edmund Burke mit ihrer gewissenhaften Rücksicht auf die Nation auch die Interessen ihrer Wähler vertreten. In allen Fällen ist die Berechtigung zur Teilnahme am Regieren eine zum Wählen, impliziert sie ein Wahlrecht. Und nichts paßt mehr ins Demokratische als der Drang, dieses Recht mehr und mehr Menschen zu geben und sie diesbezüglich gleich zu behandeln. Vom demokratischen Standpunkt kann da offensichtlich nicht zu weit gegangen werden, denn Volk ist Volk und je mehr Volk an der Regierung teilnimmt, um so demokratischer ist alles. Darüber ist ebensowenig ein Wort zu verlieren wie über das tatsächliche Fortschreiten des Demokratischen durch Ausdehnungen des 19 20
De l'esprit des lois, Buch 5, Kap. 3. Reith Lecturers, 1966 - 67, The Listener vom 15. Dez. 1966, 882.
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Wahlrechts. Wie aber sieht es vom Liberalismus her aus? Kann da vielleicht mit dem Demokratischen zu weit gegangen werden? Hier kommen andere Worte T. S. Eliots in den Sinn. "Mit Ausnahme von Richtungen, in die wir zu weit gehen können", so sagte er, "besteht kein Interesse überhaupt zu gehen: und nur denen, die riskieren, zu weit gehen, ist es möglich, herauszufinden, wie weit man gerade noch gehen kann.'m Diese Bemerkung zeigt die Problematik der Menschenrechte, deren Nutzen und Ausnutzung. Sie zeigt das Problem des Liberalismus und dessen Hauptkategorien: den Drang der Individuen zum Schutz vor anderen, vor Regierungs- und Staatsmacht, sowie deren Drang zum Mitregieren als Mittel zu diesem Schutz. Aus ihr kann gefolgert werden, daß man mit der Realisierung des Teilnahmeprinzips so weit gehen muß, bis man herausfindet, wie weit man damit gehen kann. Da es aber der Zweck solcher Realisierungen ist, dem Schutzprinzip zu dienen, liegt die Folgerung nahe, daß Demokratisches nicht weiter gehen darf, als es dem Schutz der Mitmenschen noch zuträglich ist. Wir kommen so zu der für Menschenrechte, Liberalismus und Demokratie wichtigen Frage, ob gegen den Vormarsch der Demokratie, wie er sich vor allem in Ausdehnungen des Wahlrechts gezeigt hat, etwas einzuwenden ist. Vom Quantitativen her scheint das weniger möglich zu sein, da die Volksherrschaft an sich, die man auch als reine Demokratie bezeichnen kann, von quantitativen Einschränkungen völlig frei ist. Demnach muß jeder wählen können, um mitzubestimmen. Man wird vielleicht einwenden, daß Wählenkönnen nicht Wählenmögen bedeutet und gerade durch Ausdehnungen des Wahlrechts viele hochqualifizierte Menschen gar nicht mehr wählen wollen, weil sie sich mit weniger qualifizierten nicht auf eine Stufe stellen, sich gar von ihnen vertrieben fühlen und Greshams Gesetz, nach dem schlechtes Geld gutes vertreibt, hier mutatis mutandis Anwendung findet. Aber das ist nicht demokratisch gedacht. Beim Demokratischen kommt es nicht aufs Wählenwollen, sondern aufs Wählendürfen, aufs Wählenkönnen an. Und während eine Wahlpflicht, wie sie manchmal eingeführt wurde, das Gegenteil vom Wahlrecht ist und daher nicht als Menschenrecht angesehen werden kann, 22 braucht sich, jedenfalls vom Demokratischen her, niemand darüber zu beklagen, daß Ausdehnungen des Wahlrechts ihm die Freude am Wählen nehmen. Wer seine Stimme nicht abgibt, wählt insofern, als er damit die Entscheidung anderer akzeptiert. Volenti non fit iniuria: ein Wahlrecht wird dadurch nicht geschmälert, daß man sich der Stimme enthält.
21 Zitiert in Brian Johnston, The lbsen Cycle, Boston 1975, dieser Studie über den Einfluß Hegels als Motto vorangestellt. 22 Das trifft auch auf Situationen zu, in denen die Behörden aufpassen, wer wählen geht, und Nichtwähler entsprechend schikaniert werden, wie es sich besonders in Einparteiensystemen gezeigt hat, in denen es ja ohnehin keine richtige Wahl gab. In Südamerika hat man verschiedentlich gesetzlich eine Wahlpflicht eingeführt, weil dort das Wegbleiben von der Wahlurne als das verläßlichste Mittel galt, dem Regime Opposition anzuzeigen.
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Es ist ja nicht nur so, daß die Liebe zur Gleichheit ein hervorragendes Merkmal der Demokratie ist, die diese Liebe im Drang zu immer gleicheren Wahlrechten manifestiert hat und das wohl auch weiter tun wird. Man kann weiter gehen und in Umkehrung der Ansicht, Quantität sei Qualität abträglich, behaupten, gerade das gleiche Wahlrecht schaffe durch das Zusammenwirken zusammengewürfelter Volksschichten eben jene demokratische Qualität, welche den Wert der Demokratie als einer von immer mehr Menschen als wünschenswert und gar ideal hingestellten Regierungsform ausmacht. Man denke nur an die Bemerkung des damaligen Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Hubert H. Humphrey, der Nixon 1968 in der Präsidentenwahl nur knapp unterlag und bei dessen Begräbnis Nelson Rockefeiler meinte, er hätte sicher einen sehr guten Präsidenten abgegeben. Am 17. Januar 1964 sagte er an der Johns Hopkins Universität, er habe auf die Klage, im Kongreß säßen Dumme, geantwortet, das sei schon in Ordnung; die gäbe es auch unter den Wählern, und es läge kein Grund vor, diese nicht durch ihresgleichen vertreten zu lassen. Während vor dem Kommen des demokratischen Zeitalters und bei Ausweitungen des Wahlrechts gehört wurde, Masse verdränge Klasse, wurde zunehmend angenommen, Massiges sei Rassiges im Sinne von Qualität, also das gerade Gegenteil von Mäßigem. Nun dürfe es vielen schwerfallen, im Massigen nicht Mäßiges zu sehen. Auch werden sie sich weigern, die Demokratie nur vom Demokratischen her zu beurteilen. Wie andere Regierungsformen ist die Demokratie vor Kritik nicht immun. Man braucht dem Gedanken, in der Demokratie erzeuge Quantität Qualität, nicht zu folgen, denn der folgt nur aus dem Demokratischen und dessen Hang zur Gleichheit, über die von jeher Zweifellaut wurden. So muß eine Kritik der Demokratie und ihres Wachsens angebracht erscheinen. Sie ist mit dem Demokratischen durchaus vereinbar, denn sie ist ja lediglich eine Stimmabgabe wie jede andere, denen allen durch demokratische Erweiterungen des Stimmrechts seit langem das Wort geredet wurde. Eine Kritik der Demokratie ist nicht nur zu dulden, weil Erweiterungen des Wahlrechts als dem der Volksherrschaft Essentiellen ständig vorangetrieben wurden und Kritik Wahl ist, so daß mit diesen Erweiterungen ein Anwachsen der Kritik nur natürlich ist. Sie wird geradezu gefordert. Gerade, weil das Demokratische eine Kritik der reinen Demokratie nicht möglich erscheinen läßt, wird eine Kritik der praktischen Demokratie von ihm verlangt. Vom Demokratischen her muß die reine Volksherrschaft ja die des gesamten Volkes im Sinne der Gleichheit aller beim Mitwirken und Mitbestimmen bedeuten, denn Volk als Volk ist nun einmal alles Volk. Das heißt aber, daß auch noch nicht mündige Kinder mitbestimmen können, weil sie genauso zum Volk gehören wie entmündigte senile Greise. Da nun ein Stimmrecht ohne ein Stimmen im Sinne des ein Denken voraussetzenden Wählens wenig Sinn hat, ist das Ansinnen, die Demokratie vom Demokratischen her nicht zu kritisieren, nicht zu vertreten. Wenn man argumentiert, die Demokratie könne vom Standpunkt des Demokratischen aus nicht kritisiert werden, ist das nur dann richtig, wenn man noch nicht Mündige und bereits Entmündigte, Verrückte
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und sonst nicht Zurechnungsfähige, also rechtlich nicht Handlungsfähige, den Handlungsfähigen gleichsetzt. Es ist falsch, wenn man bei der Mitwirkung am demokratischen Prozeß Denk- und Urteilsfähigkeit annimmt, wie es beim Wählen der Fall ist. Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Die Bedeutung der Herrschaft sollte in diesem Wort nicht übersehen werden. Herrschaft des Volkes aber setzt dessen Tatigsein, dessen Mitwirken an der Regierung voraus. Ein solches besteht in der Stimmabgabe, die eine Wahl anzeigt, was nur bei denen, die denken und urteilen können, möglich ist. In der Praxis ist demnach auch vom Demokratischen her die reine Demokratie zu kritisieren - und zwar gerade aufgrund ihrer Reinheit. Wie es eine Kritik der reinen Vernunft geben mußte, muß es eine Kritik der reinen Demokratie geben. Die aber muß von der Vernunft ausgehen. Sie muß fragen, was in einer spezifisch demokratischen Vernunft tatsächlich vernünftig ist und was nicht. Vielleicht sagt das auch etwas darüber aus, inwiefern demokratische Menschenrechte genutzt und ausgenutzt werden. Wenn Kants erste Kritik das notwendig Subjektive beim Kritisieren herausstellt, ohne jedoch den Gedanken einer objektiven Vernunft aus dem Auge zu verlieren, wird die reine Vernunft von unreinen, menschlichen und oft allzumenschlichen Vernünften und Vernünfteleien jeweils nur teilweise oder unweise realisiert. Entsprechend kann man denken, daß die reine Demokratie von unreinen, menschlichen und oft allzumenschlichen Anhängern der Demokratie infolge von deren Vernünften und Vernünfteleien jeweils nur teilweise oder unweise verwirklicht wird. Bei solchen Wirklichkeiten kommt Hegels bekannte Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie in den Sinn. Sie richtet sich gegen diejenigen, die wähnen, die Welt verbessern zu können und stattliches Staatliches nach dem, was sein soll, zu erreichen. Hegel tendiert dagegen dahin, Existierendes zu akzeptieren, "denn das, was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit ... Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." Er dachte hier wohl an jene, die als Kinder ihrer Zeit das, was sie schufen, als vernünftig erachteten, denen ihr derzeitiges Wirken der Wirklichkeit ihrer Zeit entsprach. Auf die Demokratie angewandt, könnte man sagen: existierende Volksherrschaften, die vom rein Demokratischen her unrein sind, weil sie dies infolge von Wahlbeschränkungen nicht ganz verwirklichen, sind schon deshalb vernünftig, weil sie existieren. Daraus kann man schließen, daß jetzige Wahlbeschränkungen vernünftig sind, was die Frage aufwirft, ob frühere Beschränkungen noch vernünftiger waren und der Wirklichkeit damaliger vernünftiger Demokratien mehr entsprachen als die gegenwärtige in derzeitigen Demokratien mit ihrem ausgedehnteren Wahlrecht es tut. Wurde etwa durch die Ausweitung dieses die Volksherrschaft bestimmenden Menschenrechts die Vernunft auf eine Weise ausgeweidet, daß immer weniger von ihr übrig blieb? Hat die demokratische Vernunft mit ihren Vernünfteleien der Vernunft als solcher geschadet?
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Vom Standpunkt letzterer könnte man eine bejahende Antwort geben, die der zitierten Stelle Hegels entsprechen kann. Sieht man nämlich in Hegels Wirklichkeit nicht nur bloße Existenz, sondern die Einheit von allgemeiner Idee und deren partiellen Erscheinungen, kann man zu dem Ergebnis gelangen, daß die aus der Berliner Zeit stammende Vorrede bei allen Konzessionen an vernünftig und wirklich Erscheinendes in diesem doch nichts als eine teilweise Verwirklichung der allgemeinen Idee der Vernunft sah. Und wenn Hegel auch gegen jene Philosophen war, die, in die Zukunft blickend, die Welt so formen wollten, wie sie sein sollte, so heißt das nicht notwendig, daß er als Historiker nicht sehnsuchtsvoll auf vergangene Zeiten geblickt hätte, in denen an Ausweitungen des Wahlrechts und der Demokratie noch nicht so zu denken war, wie auch zu seiner Zeit, in denen man an Ausweidungen der Vernunft in einer dieser gefährlich werdenden Art noch nicht weiter dachte. Denn das Wirkliche und daher Vernünftige gibt es ja nicht nur in der Gegenwart; es existierte auch in der Vergangenheit, wo es der Tücke historischer Nähe weniger unterliegt, als Vernünftiges und Wirkliches eher noch feststeht und festgestellt werden kann als in der Gegenwart - und für einen Rechtsphilosophen wie Hegel auch als das Rechte. In Frankreich heißt Vernunft raison. Hat jemand recht, so sagt man vous avez raison. Im Lande von Descartes und Voltaire erscheint Vernünftiges also dem Rechten nahe, wenn nicht gleich. Man kann daher fragen, ob die infolge von Ausweitungen des Wahlrechts derzeit existierenden Demokratien zwar als wirkliche auch vernünftige Erscheinungen sind, dennoch aber in ihrem demokratischen Drang das Vernünftige an sich zurückgedrängt haben und damit das Rechte. Das beantwortet vielleicht, ob es durch die Ausweitung demokratischer Menschenrechte zu einer Ausnutzung dieser Rechte gekommen ist sowie zu einer der Freiheiten der Individuen von anderen, von Regierung und Staat. Dabei sollte Hegels Auffassung des Rechts als des Rechten beachtet werden. Sie geht nämlich weiter als die seines Vorgängers Kant, der das Recht noch von der Moral unterschied. Sie geht auch weiter als die danach mit dem Rechtspositivismus kommende Jellineks, der im Recht immerhin ein ethisches Minimum sah. Und noch weiter ist sie entfernt von der Reinen Rechtslehre, bei der es auf Dinge wie Ethik, Moral und Sittlichkeit überhaupt nicht mehr ankommt, sondern bei einer diesbezüglichen Leere einzig und allein auf Durchsetzbarkeit. Für Hegel ist das Recht als das Rechte Inbegriff des Sittlichen. Seine Grundlinien der Philosophie des Rechts zeigen sein System der Ethik und Sittlichkeit. Angesichts seiner aus den Jugendschriften und der Phänomenologie des Geistes ersichtlichen Meinung, der wirklich sittliche Mensch sei nur im Gemeinschaftsleben denkbar, machen sie klar, in welch hohem Grade eine Ausnutzung des Rechts der Gemeinschaft auch im Hinblick auf Sittliches schadet. Da nun das Menschenrecht sowie dessen teilweise Verwirklichungen in spezifischen Menschenrechten Teil des Rechts sind, kann man seine eigenen Schlüsse ziehen, in welchem Umfang deren Ausnutzung dem Recht nicht nur im Sinne von Kant und Kelsen schaden kann, sondern auch, weitergehend, nach der Rechtsauffassung Hegels.
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5. Die Antwort auf die Frage, ob es zu Ausnutzungen demokratischer Menschenrechte sowie der Freiheiten von anderen Menschen, von Regierung und Staat, gekommen ist, kann aus dem Wesen der liberalen Demokratie gefolgert werden und aus deren Räson. Sie ergibt sich aus dem Satz: die Ratio der liberalen Demokratie ist nicht die der Vernunft an sich. Diese Feststellung überrascht nicht, denn jede partikuläre Räson ist nur eine teilweise Verwirklichung der Vernunft als solcher. Man hat von Staatsräson gesprochen und damit etwas gemeint, dessen Befolgung im Interesse des Staates notwendig erscheint. Ähnlich kann man von Universitätsräson sprechen wie auch von allen möglichen anderen Räsons?3 In all diesen Fällen handelt es sich jeweils lediglich um eine spezifische Räson, die von bestimmten Wünschen herrührt und entsprechende Ziele anstrebt. Ihr sind subjektive Elemente eigen. Sie schöpfen aus dem unerschöpflich erscheinenden Quell der reinen Vernunft, der nichts Subjektives anhaftet. Bei der Vernunft der liberalen Demokratie ist es nicht anders. Sie kommt durch die Gedanken der Anhänger dieser Regierungsform zustande, aber Gedanken sind notwendig subjektiv und daher präjudiziert. Wir wissen, daß verschiedene Arten der Staatsräson unterschiedlich gesehen wurden, daß dies auch bei anderen Räsons so gewesen ist. Immer kann bei solchen Bewertungen nicht nur gefragt werden, ob sie subjektive und voreingenommene Ansichten darstellen, sondern auch, ob sie vom Standpunkt der Vernunft als solcher gerechtfertigt sind. Auch die Räson der liberalen Demokratie unterliegt bei all den Räsonnements und Vernünfteleien, die über sie ergangen sind, der Kritik. Die Subjektivität und damit Anfälligkeit für Kritik des menschlichen Verlangen entsprechenden menschenrechtliehen Wesens des Liberaldemokratischen folgt auch daraus, daß die liberale Demokratie als Rechtsstaat gesehen wird. Jeder spezifische Rechtsstaat entspricht aber den besonderen subjektiven Vorstellungen derer, die ihn schaffen, so daß es Varianten des Rechtsstaates gibt. Man hat vom Rechtsstaat Kants, von dem Mohls und Stahls gesprochen, vom liberalen, nationalen, sozialen und von Kombinationen dieser Arten, vom nationalliberalen, nationalsozialen, ja nationalsozialistischen Rechtsstaat. Aber mit derartigen Klassifizierungen hat sich der Streit um den Rechtsstaat nicht erschöpft. Die verschiedenen Arten von Rechtsstaat unterlagen verschiedensten Interpretationen einer Unmenge von Kommentatoren, welchem Lager diese sich auch immer zurechnen mochten. Meist stand hier das Verhältnis des Individuums zu Regierung und Staat, das der Regierten zu den Regierenden zur Debatte, also die Problematik der Menschenrechte mit ihrer Diskussion um den Wert des Staates und die Bedeutung des Individuums.24 In dieser lauerte aber vorwiegend die Frage nach Nutzung und Ausnut23 Vgl. mein Reason of University, in Ann Husted Burleigh, Hrsg., Education in a Free Society, Indianapolis 1973. 24 Siehe Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914.
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zung der öffentlichen Gewalt - und der Menschenrechte. Beim Rechtsstaat der liberalen Demokratie ist es nicht anders. Die aus dem Liberalismus fließende liberale Demokratie sieht im demokratischen Teilnahmeprinzip das Mittel zum Schutzprinzip für die einzelnen von der Willkür anderer. Ihr Ideales kann nicht oft genug betont werden: Der grundsätzliche Schutz des Individuums, sein Recht, von Regierungen prinzipiell nicht behelligt zu werden, ist der Zweck der liberalen Demokratie. Sein Recht, mitzuregieren, muß diesem Zweck dienen. Eine Art von Menschenrechten soll also durch eine andere gesichert werden. Da letztere nun durch Wahlen diejenigen bestimmt, welche als Regierende das Ausmaß der Rechte der Regierten beeinflussen können, kann sie angesichts ihres positiven Charakters als offensiver Teil der Menschenrechte angesehen werden. Dagegen sind die Rechte der Individuen, in ihrem Verhalten von den Regierenden in Ruhe gelassen zu werden, infolge ihres negativen Status eher defensiver Art. Man braucht nicht an Clausewitz zu denken, um defensiven Menschenrechten die stärkere Stellung einzuräumen. Sie haben diese schon aufgrund der Tatsache, daß ihr Schutz der Zweck der liberalen Demokratie als der Regierungsform, die ein Maximum an Menschenrechtlichem gewährleistet, ist, während offensive Menschenrechte nur Mittel zu diesem Zweck sind. Sie haben diese Stellung auch, weil sie jene unveräußerlichen Rechte sind, von denen - im Gegensatz zu offensiven Rechten wie dem Wahlrecht - gesagt wurde, der Mensch sei mit ihnen geboren. Sie können schließlich als stärker angesehen werden, weil ohne sie die Einführung demokratischer Rechte nicht möglich gewesen wäre, da es zu einer solchen mindestens der Redefreiheit bedurfte. Dennoch wissen wir, daß auch die stärkste Defensive der Offensive oft zum Opfer gefallen ist, daß der status libertatis von allen Regierungen, einschließlich der demokratischen, bedroht wurde, daß Demokratisches sich in offensiver Weise zum Selbstzweck erhob, die Defensive angeborener Menschenrechte durchbrach und diese Rechte verletzte und gar liquidierte. So soll nun im Anschluß an die im vorangehenden Abschnitt beschriebenen generellen Ausweitungen demokratischer Rechte zunächst gefragt werden, inwiefern diese Rechte wünschenswert genutzt oder auf zweifelhafte Weise ausgenutzt wurden. Danach will ich untersuchen, ob Aspekte des status libertatis, also Menschenrechte, welche den vom Staatsgebot freien Zustand der Individuen anzeigen, von einzelnen ausgenutzt wurden in einer andere und die Gemeinschaft gefährdenden offensiven Weise. Angesichts des im Grunde quantitativen Charakters der Ausdehnungen des Wahlrechts erscheinen unliebsame Ausnutzungen derselben kaum möglich, muß eine jede Ausnutzung lediglich als bloße Nutzung bis zur Neige erscheinen. Wie es in den großen demokratischen Revolutionen als durchaus legitim empfunden wurde, Untertanen zu Bürgern zu machen, indem man ihnen self-govemment zusicherte, so muß vom Demokratischen her jede Ausdehnung des Wahlrechts legitim erscheinen, als gerechtfertigte Nutzung des Teilnahmeprinzips, wenn auch bis zur
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Neige. Die Frage ist nur, ob eine Nutzung dieses Prinzips bis zur Neige zu einem Neigen des Qualitativen führt, so daß man qualitativ doch von einer Ausnutzung sprechen kann. Ich möchte sie bejahen. Denken wir nur an die Amerikanische Revolution. Mit dem self-govemment kamen trotz bestehender Beschränkungen des Wahlrechts Gesetze, die von vielen, denen Gesetzgeber nicht mehr legitim erschienen, als unterdrückend empfunden wurden. Durch entsprechende Gesetzgebungsverbote, d. h. durch Einschränkungen des Demokratischen, wurde ihnen das Handwerk gelegt. Eine neue Legitimität wurde mit der neuen Bundesverfassung hergestellt. Oder denken wir an die Französische Revolution. In ihr artete die demokratische Einführung einer allmächtigen Legislative in jakobinischen Terror aus, in dem nicht nur Anhänger des Ancien n!gimes, sondern auch Girondisten zur Guillotine gebracht wurden. In der Russischen Revolution machten auf ähnliche Weise die Bolschewisten Zaristen und Menschewisten den Garaus - unter Beteuerungen, nun mit Sowjets mächtige, das Volk vertretende gesetzgebende Gewalten schaffen zu wollen. Das alles mochte noch aus revolutionären Ereiferungen und einer daraus hervorgehenden Hybris erklärt werden. Um so mehr muß man fragen, ob denn ganz legitime und legale Ausweitungen des Wahlrechts und damit des self-govemments, wie sie seit dem 19. Jahrhundert in normalen Zeiten stattfanden, nicht auch zu einer Hybris führten, in der man Irrationales entdecken konnte. Es ist zu untersuchen, welche dieser Geschehnisse, das kurzfristige revolutionäre oder das länger andauernde evolutionäre, den stärkeren demokratischen thrust hatte und inwiefern dieser geeignet war, den trust ins Demokratische zu steigern, dabei aber das Vertrauen in das Rationale demokratischen Wachsens verkleinerte. Revolutionen sind Tatsachen mit ursprünglicher Rechtssatzwirkung. Ihr Faktisches hat eine normative Kraft,25 die mit ihrem plötzlichen Zustandekommen gewaltig erscheint. Die unerwartete Möglichkeit für das Volk, sich nun endlich selbst regieren zu können, schuf einen derart starken demokratischen Schub und ein damit verbundenes großes Vertrauen ins Demokratische, daß man glaubte, Gegner desselben umbringen zu müssen: in England Kar! 1., in Frankreich Ludwig XVI. und seine Frau Marie Antoinette, in Rußland Nikolaus II. und seine ganze Familie. Überall gab es dort Revolutionen mit den diesen eigenen Opfern, in Amerika gab es den Revolutionary War, der auch seine Verluste mit sich brachte. Wie groß die unerwartete Begeisterung über die neuen demokratischen Möglichkeiten aber auch sein mochte, kam es in all diesen Revolutionen doch bald zu Ernüchterungen. Demokratischer thrust schwächte ab und mit ihm der trust in die Demokratie. Man kann das mit einem unerwarteten Verlieben auf den ersten Blick vergleichen. Das Feuer der Liebe brennt - und verbrennt wie ein Strohfeuer. Aber während bei der Liebe zwischen zwei Menschen nach erstem Aufflammen oft alles aus oder abgeschwächt ist, war es bei der Liebe zur Demokratie anders. 25 Georg Jellinek, Allgerneine Staatslehre, 3. Aufl. von Walter Jellinek, Berlin 1914, 342 ff., 477.
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Da mochte es in den demokratischen Revolutionen so manche Wehen geben; sie waren nur Geburtswehen. Das im Demokratischen Lebendige mit seinem Wachstumspotential hinderten sie nicht. Es blieb und überlebte alle Restaurationen. Sogar Kant, Verfasser von zwei Kritiken der Vernunft und einer der Urteilskraft, wie Tocqueville ein Gegner der Demokratie und der Revolution, verurteilte die Französische Revolution nicht. Er machte dieser wohl stärksten revolutionären Demonstration des Demokratischen das Zugeständnis, sie sei nicht zu vergessen. Der oben beschriebene Vormarsch der Demokratie zeigt die Wahrheit dieser Behauptung nur zu deutlich. Die Welt wurde durch Erweiterungen des Wahlrechts immer demokratischer. Es ist, als hätte sich nach dem Ungemach demokratischer Erscheinungen während der großen Revolutionen die Ansicht breitgemacht, man müsse zuerst durch die Wirren revolutionärer Ungewißheiten hindurch, um dann sicher weiterzugehen. Der in den demokratischen Revolutionen ersichtliche eher erratische Stufengang demokratischer Menschenrechte zum vermeintlichen Behuf menschlichen Freiseins von der Willkür anderer, der Regierung und des Staats wurde von einem konstanteren abgelöst. Demokratisches wurde konsolidiert. Der jetzt evolutionäre thrust hörte nicht auf. Mehr und mehr Menschen zeigten ihrentrustins Demokratische, dessen Wachsen bei vollem Wachsein zunehmend als selbstverständlich angesehen wurde. Die plötzlich zustande gekommene, in den Revolutionen aufgetretene temporäre Hybris gab es nun nicht mehr. Aber wurde sie vielleicht aufgrund des ständigen, als selbstverständlich empfundenen Wachstums des Wahlrechts von einer nicht weniger gefährlichen abgelöst? Kam nach dem bedenklichen Stufengang demokratischer Menschenrechte in den demokratischen Revolutionen gar ein noch bedenklicherer? Mit einem Stufengang ist es so eine Sache. Es gibt Stufengänge und Stufengänge. Bei allen steigt man höher und höher, hat man das Gefühl des Weiterkoromens und Erreichens, nicht aber das gleiche Empfinden von Sicherheit. Man kann den Stufengang von plötzlichen Rechten mit dem einer leichten Holztreppe vergleichen, den einer Evolution solcher Rechte mit dem aus massigen Quadem bestehenden Absätzen einer Pyramide. Beim ersten sind die Stufen klein. Man kann, mehrere auf einmal nehmend, schnell hinaufhasten. Das kann gefährlich sein, weshalb Treppen zur Sicherheit ein Geländer haben zum Festhalten, das allerdings oft nicht genutzt wird. Beim Verlangen, nur schnell weiterzukommen, denkt man meist gar nicht daran, ob überhaupt ein Fundament da ist, das man als etwas Verläßliches verläßt. Ist man oben angelangt, hat man mit dem Gefühl des Erreichten eines der Befreiung, welches das der Erschöpfung überragen dürfte. Aber mit ihm kann das beglückender Trunkenheit kommen und des Schwindels in einer Hybris, die das allzu schnell Erreichte als bloßen Schwindel entlarvt. Bei einer Pyramide ist es anders. Ob es nun eine in Ägypten oder Mittelamerika ist: stets ist das Erklimmen notwendig gemächlicher. Es ist schlecht möglich, mehrere Stufen auf einmal zu nehmen. Immer weiß man das breite Fundament deutlich unter sich. Man braucht sich nicht zu fragen, ob man dieses Verläßliche verläßt, das eines Geländers zum
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Festhalten nicht bedarf. Eine Treppe ist schnell erklommen, und demokratische Menschenrechte wurden in den demokratischen Revolutionen schnell bewerkstelligt. Das Erklimmen einer Pyramide dauert seine Zeit. Die Menschen sind heute immer noch dabei, den Stufengang demokratischer Freiheitsrechte zu vollziehen. Das heißt aber nicht, daß sie angesichts ihrer Überzeugung von ihnen selbstverständlich erscheinenden demokratischen Rechten nicht von einer Hybris im Demokratischen befallen würden, die schlimmer noch ist als die kurzlebige von Revolutionen, weil ihrer Meinung nach weder an den sicheren Grundlagen der Demokratie noch an deren Fortschreiten zu zweifeln ist. Die Frage ist nur, ob dieses Fortschreiten als Fortschritt im Sinne von Wünschenswertem zu sehen ist. Sie läuft auf eine Untersuchung der Ratio des Demokratischen hinaus, welche über die bereits oben angeschnittene hinausgeht. Dort wurde lediglich darauf abgestellt, daß Volksherrschaft ein Herrschenkönnen voraussetzt, was rechtlich Handlungsunfähige von der Teilnahme am demokratischen Prozeß ausschließt. Jetzt wird weiter gefragt, ob denn die Ausdehnung des Wahlrechts auf größere Kreise Handlungsfähiger vertretbar war oder ob durch eine solche der demokratische Schwung zu einem Schwund des Vertrauens in ihn führte, weil die Nutzung demokratischer Rechte zunehmend als deren unliebsame Ausnutzung erschien. Rousseau, allgemein als Vater der modernen Demokratie bekannt, wollte eine Volksherrschaft durch rationale Menschen. Der eine Generation nach ihm geborene Jefferson verfaßte kurz nach dessen Tod seine Notes on Virginia, die eine Skepsis gegenüber Volksvertretern erkennen lassen, welche an die Ablehnung der Repräsentation durch Rousseau erinnert. Wie der Autor des Emile hoffte der Gründer der Universität von Virginia, mittels Erziehung eine immer breitere rationale Basis für das self-govemment zu schaffen. Beide nahmen an, daß infolge entsprechender Erziehung die aufgrund demokratischen Wachsens größere Quantität der am Regieren teilnehmenden Wähler und Gewählten der Qualität der Demokratie nicht abträglich sein würde. Wachsende Ausbildung sollte wachsende Vermassung neutralisieren und Maßhalten garantieren. Andererseits haben anhaltende Einschränkungen demokratischer Rechte Zweifel gezeigt, ob trotz fortschreitender allgemeiner Erziehung das für die Volksherrschaft als wünschenswert Erachtete erreicht wurde. Außerdem hat man Beschränkungen des Wahlrechts auf Eigentümer und Steuerzahler, die in Preußen bis 1917 und in Kanada gar bis nach dem Zweiten Weltkrieg existierten, nicht allein damit begründet, daß Habende, haves, verantwortlicher handeln als Habenichts oder have-nots. Mit dieser Ansicht ging der Gedanke einher, daß es Vernunft erfordert, zu Besitz und Eigentum zu kommen und diese zu behalten, daß der homo oeconomicus rational denkt. Von Frauen hat man trotz der Emotionen, die Männer nicht nur während der Romantik zeigten, behauptet, sie seien emotionaler als Männer und handelten daher weniger rational. Man hat diese Meinung mit dem Hinweis zu unterstützen versucht, es habe doch nur verschwindend wenige weibliche Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften gegeben. Auch bei Jugendlichen wurde das Emotionale betont und dazu noch das deren Begeisterungen und Ereiferungen be-
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gleitende erratische Verhalten, was ein vernünftiges Denken beeinträchtigt. Das Anwachsen demokratischer Menschenrechte, das nach Hegel wegen seiner Wirklichkeit vernünftig ist, erscheint vielen auch heute noch unvernünftig. Wie dem auch sei: der Gedanke demokratischer Menschenrechte wurde immer wieder genutzt, sie in einem fortwährenden Stufengang zu erweitern. Auf diesem Gang schritt man hurtig fort und fort und fort, sich der sicheren Basis des Demokratischen wohl bewußt, dessen vermeintliche Selbstverständlichkeit bei den meisten gar nicht mehr den Gedanken aufkommen ließ, einer Hybris zu unterliegen. Man nutzte demokratische Rechte bis zur Neige, nutzte sie erschöpfend aus, ohne dabei Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen, indem man sie immer mehr Menschen zuerkannte. Bei einer derart weitgehenden Nutzung erhebt sich die Frage, ob hier eine Ausnutzung dieser Rechte nicht nur im Sinne maximaler Nutzung, sondern in dem von abus vorlag. Von einer solchen kann man vielleicht sprechen, wenn demokratischer thrust den trust ins Demokratische wanken läßt, und zwar nicht allein deshalb, weil demokratischer Schwung einen Schwund des Rationalen anzeigt. Menschen sind nun einmal nicht nur rational, sondern auch emotional. Rousseau und Jefferson, in der Wende zwischen Aufklärung und Sturm und Drang lebend, hätten wohl auch eine emotionell bedingte Enttäuschung über demokratische Rechte als berechtigt anerkannt und deshalb in deren zu weit gehender Nutzung einen abus gesehen. Wir wissen es nicht. Zu flüssig ist die Grenze zwischen einer bis zur Neige gehenden Nutzung und noch duldsamen Ausnutzung und einem nicht mehr akzeptablen abus. Eines aber wissen wir: geht die Ausnutzung demokratischer Rechte so weit, die Ratio dieser Rechte als bloße Mittel zum Schutz der Rechte einzelner vor der Willkür anderer, der Regierung und des Staates zu mißachten; werden demokratische Rechte vom Mittel zum Selbstzweck erhöht zum Nachteil der Rechte des status libertatis, dann liegt Ausnutzung im Sinne von abus vor. Und einiges spricht dafür, daß dies eingetreten ist. Das Wort "Demokratie" mag im 19. Jahrhundert in vieler Munde gewesen sein. Heute ist es in fast aller Munde. Überall hört man es und meist auf eine Art, die eine Anerkennung der Volksherrschaft erkennen läßt. Die Demokratie erscheint als das zu Bewahrende und das zu Erreichende getreu Woodrow Wilsons bekanntem Ausspruch "let's make the world safe for democracy". Seit Tocqueville über die Demokratie schrieb, hat man diese mit immer mehr Adjektiven versehen. Sie stellen die einfache Unterscheidung Madisons zwischen reiner und repräsentativer Volksherrschaft weit in den Schatten. 1966 zeigte Jens A. Christopherson, daß es hunderte von Auslegungen der Demokratie bereits zwischen der Französischen und der Russischen Revolution gab. Seitdem hat es noch mehr gegeben, und sie scheinen kein Ende nehmen zu wollen. Neben gebräuchlicheren Eigenschaften wie liberal, despotisch, begrenzt, unbegrenzt, direkt, repräsentativ, die ihrerseits unterteilt wurden, hat man neue mit Unterteilungen erwähnt, so daß man sich vor demokratischen Varianten und Variationen kaum noch retten kann. Giovanni Sartori brachte ein ganzes Buch über die Demokratie und ihre Definitionen heraus und sprach von demokratischen Verwirrungen. T. S. Eliot meinte, wenn ein Ausdruck
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so universell heiliggesprochen werde wie zur Zeit "Demokratie", begänne man sich zu fragen, ob er, da er zu viele Dinge bedeutet, überhaupt etwas bedeutet. C. B. Macpherson schrieb, es gäbe viel muddle hinsichtlich der Demokratie. 26 Trotzdem und vielleicht gerade deshalb darf nicht übersehen werden, daß bei all den gemachten und oft nicht für möglich gehaltenen Unterscheidungen und Kombinationen das Wort "Demokratie" stets im Vordergrund stand. Wie immer man es auch bestimmen und klassifizieren mochte mit allen möglichen Eigenschaftswörtern, blieben diese durchweg nichts als solche, blieb "Demokratie" das Hauptwort, behauptete sich die Demokratie auf irgend eine Weise. Ehern und fest stand sie da. An ihrer überrragenden, andauernden Bedeutung war nicht zu zweifeln. Bei einer derartig unbestrittenen starken Stellung mußten vorangehende Adjektive grundsätzlich als zweitrangig erscheinen, als kleine und kleinliche Attribute, die dem Großen, der Demokratie, Tribut zollten. Meist bezeichneten sie ein Wie und begnügten sich damit zu zeigen, wie eine bestimmte Art der Volksherrschaft beschaffen sein sollte. Nach demjeweiligen Wozu wurde weniger gefragt. Immer seltener dachte man an den ursprünglichen Zweck der Demokratie. Die anfängliche Ratio der Volksherrschaft wurde zunehmend wegrationalisiert. Zu Beginn des modernen demokratischen Zeitalters hatte man kaum Zweifel darüber gelassen, daß die Demokratie lediglich ein Mittel war, die Freiheit der Individuen vor der Willkür anderer, vor Regierung und Staat zu sichern. Die wachsende Betonung des Demokratischen und seines Fortschreitens tendierte dann aber dahin, die Demokratie als Selbstzweck anzusehen. Das war verständlich, denn dieses Fortschreiten infolge anhaltenden Ausdehnungen des Wahlrechts war viel offensichtlicher als das von Rechten, die dem Individuum seine sogenannten negativen Rechte sichern sollten, denen nur hin und wieder eines wie die Vereinigungsfreiheit zugefügt wurde, das allgemein aber nicht die Publizität erhielt, wie Kampagnen zur Erweiterung des Wahlrechts. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, des Landes, das im Amerikanischen Jahrhundert das Banner der Demokratie am höchsten hielt, gab dem Gedanken, demokratische Rechte dienten der Demokratie als Selbstzweck, dann offizielle Anerkennung. Er entschied, die in der Bill of Rights aufgeführten Grundrechte der einzelnen vor der Staatsgewalt seien nicht gleichwertig, die dem demokratischen Prozeß zuträglicheren seien preferred freedoms. 27 Nun wird man einwenden, der Supreme Court habe durch seinen besonderen Schutz von Rechten, die er als Voraussetzung eines funktionierenden demokratischen Prozesses ansah, doch nur den herkömmlichen Gedanken unterstreichen wollen, daß die Demokratie das beste Mittel zum Schutz des status libertatis ist. 26 Für Beispiele von Bedeutungen des Wortes "Demokratie" siehe mein Liberale Demokratie, Berlin 1992, 14 ff. 27 Palko v. Connecticut, 302 U.S. 319, 323, 325, 328 (1937). Ein kritischer Bericht der Karriere der Doktrin der preferred freedoms bei Justice Frankfurter in Kovacs v. Cooper, 336 U.S. 77, 89-97 (1949). Vgl. mein America's Political Dilemma- From Limited to Unlimited Democracy, Baltimore 1968, Kap. 4, insbes. 115, 121, 140 f., sowie Kap. 5 meines Zur Verteidigung des Eigentums.
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Aber dieses Argument überzeugt nicht, weil ja Rechte dieses Status wie Vertragsfreiheit, Vertragstreue und Eigentumsrechte, von vielen als äußerst wichtig betrachtet, jetzt dem demokratischen Sog geopfert werden konnten durch Behauptungen des Demokratischen, die auf Ausnutzungen demokratischer Rechte im Sinne eines abus hinausliefen. Ich darf hier an meine frühere Bemerkung erinnern, daß die demokratische Menschenrechte schaffenden großen Revolutionen in England, Amerika und Frankreich wohl nicht stattgefunden hätten, wenn es vor ihnen Freiheiten wie die der Rede, Presse und Versammlung nicht gegeben hätte, denn Revolutionen setzen Agitationen und Aufrufe voraus. Damals aber wurden solche Freiheiten lediglich genutzt und hier und da bis zur Neige ausgenutzt, um mit der Schaffung demokratischer Rechte Mittel zum Schutz der Individuen vor der Willkür anderer, der Regierung und des Staates zu haben. Die Nutzung dieser Freiheiten war auch offenbar bei Ausdehnungen des Wahlrechts. Kaum wurde bei all diesen Anlässen bezweifelt, daß die Volksherrschaft allen Rechten des Volkes im Sinne des status libertatis in gleicher Weise zugute kommen würde. An einen abus dieser Freiheiten war also kaum zu denken. Ihre neue Stellung als preferred freedoms zum Wohle der Demokratie läuft hingegen darauf hinaus, mit ihrer Hilfe die Volksherrschaft vom Mittel zum Selbstzweck zu machen, was nicht bevorzugten Rechten des status libertatis zum Nachteil gereichen kann. Das aber legt nahe zu untersuchen, ob Ausnutzungen sogenannter negativer Rechte im Sinne eines abus vorgelegen haben, die über das demokratischer Praxis Zuträgliche hinausgehen. Ich möchte das bejahen. Innerhalb des Stufengangs zur Freiheit gab es neben dem Stufengang demokratischer Rechte bis hin zu deren zu weit gehender Ausnutzung auch einen solcher Ausnutzungen bei Rechten des status libertatis. Einige Beispiele sollen versuchen, das zu zeigen. Aus ihnen kann ersehen werden, daß unliebsame Ausnutzungen in beiden menschenrechtliehen Kategorien der liberalen Demokratie zu finden sind, in der demokratischen sowie der von vornherein grundrechtlichen, welche die grundsätzliche Freiheitssphäre der einzelnen vor der arbiträren Gewalt anderer, vor Regierung und Staat anzeigt. Bei der Reichsgründung 1871 hat man von den Reservatrechten einzelner Staaten gesprochen. Mein verehrter Heidelberger Doktorvater Walter Jellinek verglich diese Rechte mit Menschenrechten, deren sich die einzelnen bei einem staatsgründenden Vertrag nicht begeben, die sie als Gründerrechte, als Grundrechte behalten wollen. 28 Es sind die Rechte, die sein Vater als die des status libertatis bezeichnete. Sie mögen angesichts verschiedener Umstände zu verschiedenen Zeiten verschieden aufgeführt und betont worden sein. Im Grunde sind sie alle gleich, da sie alle partiell, jedes auf seine partikuläre Weise, dasselbe anzeigen, nämlich einen Teil des vom Staatsgebot freien Zustandes des Individuums. Wenn ein solcher Teil 28 Er betonte das in seinem bekannten Seminar über die Formulierung der Menschenrechte und fragte mich diesbezüglich in der mündlichen Prüfung des Ersten Staatsexamens.
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über einen anderen, also ein ganz bestimmtes Grundrecht über ein anderes gestellt wird, mag das geschichtlich verständlich sein, da ja einzelne Grundrechte infolge ihrer jeweils speziellen Unterdrückung besonders betont wurden. Dennoch ist es rechthaberisch zu behaupten, innerhalb eines Grundrechtskatalogs sei ein bestimmtes Grundrecht bedeutender als ein anderes. Rechthaberei ist meist etwas Subjektives- und oft arrogant. 29 Ein Grundrecht jedoch steht zweifellos über allen anderen: das der Gedankenfreiheit. Die Gedanken sind frei. Da sie ohnehin nicht beschränkt werden können, muß Gedankenfreiheit über all jenen Grundrechten stehen, welche Beschränkungen durch die öffentliche Gewalt unterliegen. Nun ließ Kant erkennen, die Freiheit zu denken könne nicht wirklich existieren, wenn der Ausdruck von Gedanken eingeschränkt wird. Er betonte daher die Freiheit der Rede und der Feder30 und sah offenbar diese Freiheiten der Gedankenfreiheit besonders nahestehend an, wenn nicht gar als deren Alter ego. Ist dies aber so, könnten Rede- und Pressefreiheit schon deshalb als preferred freedoms angesehen werden, weil sie eben dem zweifellosesten aller Menschenrechte, der Gedankenfreiheit, am nächsten stehen. Hinzu kommt, daß sie in den großen demokratischen Revolutionen einhergingen mit dem Verlangen nach einem self-govemment, das auf individuellem Wählen, also auf individuellen Äußerungen, basiert. Angesichts dieser Überlegungen erscheint es treffend, wenn die amerikanische Bundesverfassung parallel zu der Priorität des in ihrem ersten Artikel fonnulierten demokratischsten Regierungszweiges, der Legislative, später auch gleich im ersten Amendement ihrer Bill of Rights Rede- und Pressefreiheit weitgehend sicherte. Bei solchen Erwägungen wäre es schon verständlich, wenn der Supreme Court Grundrechte, die ihm als der Demokratie besonders dienlich erschienen, als bevorzugte Freiheiten ansah. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß dadurch die Volksherrschaft als Selbstzweck erscheinen konnte, während man sie zu der Zeit, als die Verfassung und ihr Grundrechtskatalog angenommen wurden sowie auf Generationen danach, lediglich als Mittel zum Schutze der Rechte des status libertatis betrachtete. Es ändert nichts daran, daß demokratischen Rechten der Weg zu Ausnutzungen im Sinne von abus geebnet wurde. Daneben gibt es derartige Ausnutzungen der Rede- und Pressefreiheit, die nicht darauf abzielen, Demokratisches zum Selbstzweck zu machen. Man denke nur an die Entscheidung im Schenck-Fall, in der Oliver Wendeli Holmes der aus der Formulierung des ersten Verfassungszusatzes entnehmbaren Ansicht, Äußerungsfreiheiten seien Einschränkungen durch Gesetzgeber überhaupt nicht unterworfen, entgegentrat und sich damit den Gepflogenheiten anderer liberaler Demokratien, die 29 Mein Der Begriff des Rechts (noch nicht veröffentlicht) vertritt die These, daß alles Recht auf Rechthaberei beruht. 30 Siehe Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) ; Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786); Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793); Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt (1798), in Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Hrsg., Kant's Werke, Berlin 1907- 12, VIII, 41 f., 146, 304; VII, 128 f.
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Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt formulieren, anschloß. In denen gibt es allgemein Gesetze, die ein ungebührliches Ausnutzen von Äußerungsfreiheiten verhindern sollen. Man spricht von "übler Nachrede", von Beleidigung, seien die nun von einzelnen oder den Medien vorgebracht. Solche Ausnutzungen werden meist strafrechtlich geahndet. Aber es gibt auch Ausnutzungen, bei denen das nicht der Fall ist. Da muß man sich besonders dann, wenn Freiheiten der Äußerung genutzt werden, um andere Grundrechte anzugreifen, immer fragen, ob abus vorliegt. Das wurde in unserem Jahrhundert bei Attacken gegen das Privateigentum immer seltener getan mit dem Ergebnis, daß dieses Grundrecht zunehmend durch Gesetze begrenzt wurde. Hierdurch kam eine öffentliche Meinung zustande, die das Gefährliche von Ausnutzungen der Äußerungsfreiheiten zeigt. Es ist vielleicht bezeichnend, daß Walter Lippmann seinem Buch über Public Opinion kurz darauf eins über das Phantom der öffentlichen Meinung folgen ließ.31 Dadurch wurde eine Situation geschaffen, die sich von der, gegen die Mill sein Essay über die Freiheit schrieb, wenig nur unterscheidet. Die Werte allgemeiner Moral mögen sich geändert haben; ihr allgemeiner Einfluß ist infolge von wachsend gebrauchten Äußerungsfreiheiten gewiß nicht geringer geworden. Es ist die Frage, ob es heute nicht schlimmer aussieht als im Viktorianischen Zeitalter, zumal mit dem Vormarsch der Demokratie sich moderne Auffassungen der Moral immer mehr zu Gesetzen verdichtet haben, was einzelnen und der Gesellschaft oft nicht zum Vorteil gereicht hat. Um zunächst bei den sich oft als Musterdemokratie ausgebenden Vereinigten Staaten zu bleiben, sei als weiteres Beispiel für unliebsame Ausnutzungen von Grundrechten auf etwas hingewiesen, das für einzelne und die Gemeinschaft gefährliche Ausnutzungen von Rechten des status libertatis anzeigt und besonders unter dem Oberrichter Warren zutage trat. Ich meine das Ausnutzen prozessueller Grundrechte des Strafrechts, das ehrhafte, gesetzestreue Bürger zugunsten von Verbrechern benachteiligt. Hier ist ein besonders eklatanter Fall. Der Supreme Court entschied, daß ein gedungener Mörder, über dessen Schuld keinerlei Zweifel bestand, in der niederen Instanz zu Unrecht verurteilt wurde, weil sein der Polizei abgegebenes Geständnis, das keinesfalls erzwungen war, keine Beweiskraft habe, da die Polizei ihm verweigerte, vor dem Geständnis mit einem Anwalt zu sprechen. Nach der Verfassung hat ein in ein Strafverfahren Verwickelter das Recht auf einen Anwalt. Dieses Recht wurde nun entgegen der bisherigen Rechtsprechung, die eine polizeiliche Voruntersuchung nicht unter den Begriff des Strafverfahrens subsumierte, auf gänzlich neue Weise dahin ausgelegt, daß dem Verdächtigten das Recht auf einen Anwalt schon während der Voruntersuchung zusteht. Der Mörder wurde freigesprochen. Aber damit nicht genug. Er verklagte die Polizisten, deren Weigerung ihm eine schwere Freiheitsstrafe erspart hatte, auf 250 000 Dollar Schadensersatz wegen Beeinträchtigung seines Rechts, vor seinem Geständnis einen Anwalt zu konsultieren. Infolge dieser Entscheidung, die als Escobedo rule bekannt wurde 31
Public Opinion, New York 1922; The Phantom Public, New York 1925.
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und symptomatisch für das Ausnutzen strafrechtlicher Grundrechte ist, wurden dann viele verurteilte Mörder freigelassen. Ähnliches geschah zugunsten von Verbrechern mit anderen Verfassungsbestimmungen, die Rechte von Verdächtigten schützen sollten; man denke nur an Bestimmungen über den Schutz vor Verhaftung, vor Durchsuchungen und Beschlagnahmen von BeweismateriaL Manche Fälle erscheinen derart bizarr, daß man fragte, ob denn Richter nicht zu Komplizen von Verbrechern wurden? 2 Auch im Zivilrecht haben sich Beispiele gehäuft, die anzeigen, daß die sogenannten civil rights der in den sechziger Jahren verabschiedeten Gesetze im Sinne von abus ausgenutzt werden. Diese Gesetze verbieten Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, nationaler Herkunft und Geschlecht. Das dabei oft als schlecht Empfundene ist einmal, daß es einer Nation, die in aller Welt als Fördererund Wächter vonfree enterprise auftritt, nicht ansteht, im eigenen Lande die freie Marktwirtschaft insofern zu kompromittieren, als die Regierung ihr ein Bein stellt, weil sie Arbeitgebern praktisch vorschreibt, wen sie anstellen sollen; Universitäten, wen sie zum Studium zulassen sollen; usw. Ohne Zweifel haben sich die Vereinigten Staaten zu einem Land von Rechtsstreitigkeiten entwickelt, wie Präsident Reagan bedauernd verlauten ließ, und zwar nicht zuletzt aufgrund der verschiedensten Ausnutzungen von Zivilgesetzen, die Diskriminierungen untersagen. Amerika wird heute geradezu von Prozessen überflutet, in denen entweder geklagt wird, man werde aufgrund von Rasse, Farbe, Religion, nationaler Herkunft und Geschlecht diskriminiert, oder deshalb, weil man wegen der Bevorzugung von Minoritäten und Frauen glaubt, einer reverse discrimination zum Opfer gefallen zu sein. Ausnutzungen der Zivilgesetze haben sich nicht nur unter denen gezeigt, die im Lande wohnen. Diese Gesetze haben auch den Appetit von Ausländern angeregt, nach den Vereinigten Staaten als dem land of the free zu kommen, sei es auf legale oder illegale Art. Unter Ausnutzung des Grundrechts auf politisches Asyl versuchten z. B. immer mehr Bewohner Haitis ins Land zu kommen in der Hoffnung, dort im Gegensatz zu früher als Sklaven importierten Negern ein Eldorado zu finden. Präsident Bush schickte sie flugs nach Haiti zurück, der Ansicht, hier handele es sich um Menschen, deren Verlassen ihrer Heimat von wirtschaftlichen Erwägungen dominiert war. Präsident Clinton tat das anfangs auch. Bald aber änderte er seine Einstellung. Auf Drängen für ihn wichtiger Wählermassen und ihrer Verbände machte er der Ausnutzung von Rechten auf politisches Asyl Zugeständnisse, so daß die Frage erhoben wurde, ob er der Helfershelfer solcher sei, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen politisches Asyl verlangen. Deren zweifelhafte Ausnutzung des Rechts auf Asyl kann noch dadurch wachsen, daß sie sich die Gutmütigkeit und das Mitleid der Amerikaner zunutze machen ohne zu fragen, ob dieses Mitleid Leiden herbeiführen kann, welche Gutmütige 32 Escobedo v. Illinois, 378 U.S. 478 (1964). Siehe mein Bedeutungswandel der Menschenrechte, 40 ff.
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und Hilfsbereite nicht verdienen. Eine noch schlimmere Ausnutzung liegt vor, wenn Asylbewerber aus Haiti auf Schuldgefühle pochen, die weiße Amerikaner immer noch aufgrund jahrhundertelanger Sklaverei haben. Dann läuft eine Asylforderung auf etwas hinaus, was sich von Erpressung nur wenig unterscheidet. Ein solches Verhalten könnte noch unterstützt werden durch Erinnerungen an den Rassismus Hitlers, die in den Vereinigten Staaten ja von vielen aufrechterhalten worden sind?3 Obwohl man die Worte aus Präsident Kennedys Antrittsrede, die Schätze seines Landes seien groß, aber nicht unerschöpflich, im Auge behalten sollte, kann sich diese riesige, einen halben Kontinent umspannende Nation, ein immer noch unterbevölkertes traditionelles Einwandererland, in Bezug auf Asylanten wohl noch einiges leisten. Das ändert aber nichts daran, daß das Recht auf Asyl von vielen Bewerbern unliebsam ausgenutzt wurde bis auf den heutigen Tag. Um so mehr trifft das alles auf Deutschland zu, um hier nur das wohl krasseste Beispiel unerwünschter Ausnutzungen eines Grundrechts zu nennen. In dem den Deutschen verbliebenen kleinen Lebensraum intensivieren sich die eben genannten Probleme. Man kann die Lage in Amerika mit einem Vergrößerungsglas vergleichen, das sich durch Sonnenstrahlen allmählich erwärmt, die in Deutschland dagegen mit der wachsenden Hitze, welche die durch das Glas gebrochenen, dem Brennpunkt zustrebenden Strahlen verursachen. Deutschland wurde niemals als Einwandererland gesehen. Aufgrund seiner Bevölkerungsdichte waren die Deutschen zwar kein Volk ohne Raum, aber gewiß eines ohne viel Raum und keinesfalls eines mit zuviel Raum. 34 Das trifft in viel größerem Ausmaß auf die heutige Situation zu. In ein enorm reduziertes Land, das Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg verblieb, floß ab 1945 ein gewaltiger Zustrom von vertriebenen Deutschen, der in den letzten Jahren noch durch deutsche Rücksiedler ergänzt wurde. Unter diesen Umständen, die durch Millionen bereits ansässiger Ausländer verschärft wurden, mußten Ausnutzungen des Asylrechts besonders verwerflich erscheinen, darüber hinaus noch insbesondere infolge der Tatsache, daß Art. 16 des Grundgesetzes die wohl günstigsten Bedingungen für Asylsuchende schaffte, die es auf der Welt gibt. So muß eine Ausnutzung deutscher Generosität und Gutmütigkeit zweifelhaft erscheinen. Schlimmer noch als Amerikas Sklavereikomplex können Schuldgefühle der Deutschen wegen des Hitleeregimes ausgenutzt werden in einer Erpresserischem ähnlichen Art. Die Sklaverei liegt über ein Jahrhundert zurück, das Hitleeregime kein halbes, und die Tücke geschichtlicher Nähe macht 33 Man denke nur an die Ausstrahlung der Holocaust-Serie 1978, die Eröffnung des Holocaust-Museums 1993 und den Film Schindler's Liste. 34 Die drei Bände von Hans Grimm, Volk ohne Raum, München 1926, erschienen zuerst in einer Auflage von 5 000. 1934 war die Gesamtauflage 200 000, die einbändige Ausgabe der I 299 Seiten ging von 200 - 225 000. Deutschland war zu dieser Zeit nach Belgien in Europa am dichtesten besiedelt. Anfang der neunziger Jahre stand seine Bevölkerungsdichte in Europa mit 225 Menschen auf den qkm hinter der Hollands und Belgiens mit 447 bzw. 329 Einwohnern zurück. Die Ziffern sind für Frankreich 15; Schweiz 165; Österreich 93; Tschechei 130; Polen 123; Schweden 19; Dänemark 120; USA 27.
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sich immer noch bemerkbar im Einklang mit Burckhardts Feststellung in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen, daß historisch Näherliegendes größer erscheint als weiter Zurückliegendes und trotz Nietzsches Warnung, sich durch Ereignisse in der Vergangenheit nicht unterkriegen zu lassen. 35 Was Hitlerkomplexe in Amerika angeht, sind sie mit denen unter den Deutschen nicht zu vergleichen. Sie sind indirekter Art, weil man ja Hitler bekämpfte. In Deutschland sind sie direkt, weil sich viele von ihm führen ließen. In Amerika wirft Hitler hier und da einen mehr oder weniger leichten Schatten. In Deutschland überschattet er noch immer vieles. Die Ausnutzungen des Asylrecht erheben, da es sich um von außen in ein Volk hineingetragene handelt, das Problem der Zumutbarkeit von seiten der Gemeinschaft in erhöhtem Maße. Fremdes ist Ungewisses, Ungewisses aber beschwert das Gewissen und erscheint gefährlich. Beim Kommen eines jeden ist zu fragen, ob er willkommen ist und seine Aufnahme zumutbar. Selbst bei Verwandten ist das so, denn "Verwandte sind auch Menschen" mit all ihren Unzulänglichkeiten. In der Regel wird die Skepsis gegenüber Kommenden bei Nichtverwandten wachsen. Sie werden ein erhöhtes Wachsein erfordern. Ähnlich wird es in größerem Rahmen bei einem Volke sein. Zugehörige werden lieber aufgenommen werden als andere. Das ist völlig natürlich und mit Menschenrechten nur zu vereinbar. Wenn man diese Rechte als natürliche bezeichnet, kann man es den in einer Gemeinschaft Lebenden vom Menschenrechtlichen her kaum absprechen, beim Kommen Fremder ein natürliches Verhalten an den Tag zu legen. Daher sollte bei Zuwanderungen Fremder in ein bestimmtes Volk stets gefragt werden, ob die Angehörigen dieses Volkes nicht ein Menschenrecht haben, solche zu prüfen und abzulehnen. Menschenrechte sind nicht nur Rechte, die dem Menschen (Einzahl) als isoliertes Individuum zustehen, sondern auch solche, die Menschen (Plural) in ihrer Pluralität haben, womit dann wieder den einzelnen Mitgliedern dieser Mehrzahl gedient ist. Das liegt im Ausdruck "Menschenrechte" selbst. Daraus kann man entnehmen, daß, wie jeder einzelne, jedes Volk das natürliche Menschenrecht hat, seine Eigenart zum Schutze seines wahren Charakters und Wesens zu wahren und vor unerwünschten fremden Einflüssen zu bewahren. Aus diesem Grund können Zuwanderungen Fremder verhindert werden, besonders dann, wenn sie unter verurteilenswerten Ausnutzungen von Menschenrechten wie dem des Asyls geschehen, weil man dann nicht sicher 35 Als sich die Restauration nach dem Sturz Napoleons mit der Verarbeitung des Erbes der Französischen Revolution konfrontiert sah, wurde unter Ludwig XVIII. in Artikel2 der Chartre Constitutionelle von 1814 folgende Bestimmung aufgenommen: ,,Jedes Nachforschen nach Meinungen und Stimmabgaben vor der Wiederherstellung des Königtums ist verboten. Dieses Vergessen ist auch den Gerichten und Bürgern auferlegt." Das Gesetz war offenbar von Erwägungen geleitet, die Nietzsche gleich am Anfang seines Werkes Vorn Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zu erkennen gab: "Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur." Vgl. Altweg, a. a. 0.
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sein kann, ob bei einer Aufnahme nicht weitere Ausnutzungen kommen werden. 36 Die Bewahrung individuellen Volkstums ist ein Menschenrecht, dessen Bedeutung Woodrow Wilsons These vom Selbstbestimmungsrecht der Völker Ausdruck verlieh, das in unseren Tagen nur allzu offenbar geworden ist. Wenn es heute im Freiheitskampf ethnischer Gruppen auch oft unerfreulich zugeht, ändert das nichts an der Tatsache, daß es sich hier, wie durch die Geschichte hindurch im Kampf für unterdrückte Rechte von Individuen, um einen Kampf gegen Unterdrückungen ganzer Volksgruppen zur Wahrung ihrer Identität handelt, der selbst bei gelegentlichen Ausschreitungen gegen die Menschenrechte einzelner, nicht zur Volksgruppe gehörender Individuen pauschal nicht zu verurteilen ist. Ich glaube, einem großen Advokaten der Freiheit und Pionier der vergleichenden Herrschaftslehre wie Montesquieu zu folgen mit der Ansicht, daß verschiedene, unter verschiedenen Verhältnissen lebende Völker unterschiedliche Menschenrechtsprobleme haben und zu deren Lösung auf solch verschiedene Weisen berechtigt sind, die ihrer Eigenart entsprechen und die sie jeweils für richtig halten. Ich bleibe beim Vergleich zwischen den Vereinigen Staaten und Deutschland, also bei Ländern, denen in der Geschichte der Menschenrechte eine besondere Stellung gebührt, weil diese Rechte dort zuerst in rechtlich nutzbaren Grundrechtskatalogen formuliert bzw. vor Verfassungsänderungen geschützt wurden?7 Es gibt dort zu beachtende menschenrechtliche Unterschiede, welche über die bereits erwähnten hinausgehen. In Amerika wurde anfangs der angelsächsische Charakter der Bewohner betont und belobigt. Später wurde dieses Ethnische durch dieses bevorzugende Einwanderungsgesetz auf Germanisches ausgedehnt, das nach dem Zweiten Weltkrieg als diskriminierend abgeschafft wurde. 38 Man sprach in Amerika kaum davon, daß jemand amerikanischen Blutes sei. Man sprach vom true bom American und meinte damit jemand, der im Lande geboren war, welch ethnischer Gruppe er auch angehören mochte. Das wurde vom Prinzip des ius soli unterstützt. So ist es zu einem amerikanischen Volk im Sinne relativ ethnischer Reinheit an sich nie gekommen. 36 Siehe Kurt Rebmann, Wie lange noch deutsche Asylpolitik?, Die Welt vom 5. Januar 1993,5. 37 Die These, daß Menschenrechte eher in Amerika als in Frankreich rechtlich nutzbar formuliert wurde, ist das Kernstück von Georg Jellineks zuerst 1895 erschienener Abhandlung über die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Sie rief den Protest von E. Boutmy hervor in La declaration des droits de l'homme et du citoyen et M. Jellinek, in Annales des sciences politiques, XVII (1902), 415 ff. Die 3. Aufl. von Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, mit einem Vorwort herausgegeben von Walter Jellinek, München 1919, enthält eine Übersicht über die Diskussionen seit dem ersten Erscheinen des Werkes. Das Banner Grundgesetz schreibt nicht nur in Artikel 19 vor, der Wesengehalt von Grundrechten dürfe vom Gesetzgeber nicht angetastet werden. Artikel 79 schützt darüber hinaus Menschenrechten dienliche Bestimmungen selbst vor Verfassungsänderungen. 38 Siehe mein Amerikanische Demokratie - Wesen des praktischen Liberalismus, München 1988, 33 ff.
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Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson sahen Grund, sich gegen die sogenannten Bindestrichamerikaner zu richten. Andre Siegfried stellte noch in den zwanziger Jahren die Betonung ethnischer Verschiedenheit in seinem Buch über Amerika voran und sprach von einer Assimilationskrise. Max Lerner, John Higham, Arthur M. Schlesinger Jr. und Andrew Hacker haben die ethnische Aufspaltung der Amerikaner bis in unsere Tage festgestellt. 39 In den beiden letztgenannten Büchern, die um die Zeit der Los Angeles Riots veröffentlicht wurden, kann man vielleicht die Sorge erkennen, Tocquevilles Voraussage am Ende des ersten Bandes seines Werkes über die Demokratie in Amerika, im 20. Jahrhundert würden die Vereinigten Staaten und Rußland die stärksten Mächte sein, könnte sich dahin erfüllen, daß der ethnisch motivierten vertikalen Auflösung der Sowjetunion in Amerika eine so motivierte horizontale Desintegration folgen werde. Wie dem auch sei, man betont in Amerika heute die multikulturelle Gesellschaft. Eine solche hat es aber seit den großen Einwanderungswellen in diesem Jahrhundert schon lange gegeben. Deshalb sind Zuwanderungen aller möglichen ethnischen Gruppen kaum mehr etwas Besonderes. Und während die in den Vereinigten Staaten bereits ansässigen verschiedenen kulturellen Kreise ihre partikulare Identität innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zunehmend behauptet haben, kann man von einer spezifisch all-amerikanischen völkischen Identität, die gegen ins Land kommende Ausländer behauptet wird, schon seit langem nicht mehr sprechen. Menschenrechte im Sinne ethnischer Identität können so von Amerikanern zur Verteidigung ihrer Existenz gegenüber Ausländern kaum noch geltend gemacht werden. Das widerspräche dem, was aus dem American way of life geworden ist. Es bleibt abzuwarten, was daraus noch werden wird. In Deutschland ist da einiges anders, obwohl auch dort abzuwarten ist, wohin die Entwicklung führen wird. Jedenfalls gab es hier grundsätzlich bis in unsere Zeit hinein ein nationales Bewußtsein, das sich auf das spezifisch deutsche Volkstum im Sinne deutschen Blutes gründete, dem ius sanguinis entsprechend. Der deutsche Raum, in der Mitte Europas gelegen, mag von vielen durchzogen worden sein. Was blieb, wurden die Deutschen: ein auf sein Volkstum gegründetes, in Deutschland lebendes Volk. Da mochte es dort Libertät und zum Schutze von Menschenrechten Partikularismus und Föderalismus geben; seine Grenzen mochten weit gesehen werden wie von Hoffmann von Fallersleben oder eng gezogen wie nach dem Zweiten Weltkrieg: stets gab es mit dem Verlangen nach Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland die Behauptung einer kaum zu bezweifelnden deutschen Identität. Wie man von dieser auch aus Furcht vor einem neuen übertriebenen Nationalismus abrücken mochte: immer brach sie wieder durch und ließ sich nicht eindämmen, wie es spontane Begeisterungsausbrüche insbesondere bei sportlichen Siegen zeigten - gute Barometer für die Ständigkeit deutschen Zusam39 Dase1bst, 34; Artbur M. Sch1esinger, Jr., The Disuniting of America: Reflections on a Mu1ticu1tura1 Society, Knoxville 1991; Andrew Hacker, Two Nations: Black and White, Separate, Hostile, Unequal, New York 1992.
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mengehörigkeitsgefühls. Die multikulturelle Gesellschaft mag heute in Deutschland ihre Anhänger haben, die neben anderen Gründen40 sicher auch von herkömmlichen menschenrechtliehen Erwägungen geleitet sind und es ehrlich damit meinen. Das ändert nichts an der Tatsache, daß es dort keine multikulturelle Evolution gegeben hat wie in den Vereinigten Staaten und daher die Voraussetzungen gegeben sind für Menschenrechte in dem Sinne, daß man von Nichtdeutschen in Ruhe gelassen oder jedenfalls nicht betrogen und belästigt oder auf andere unliebsame Arten ausgenutzt wird. Dabei sollte man zur Defensive die Probleme nicht außer acht lassen, die sich in ethnischer Hinsicht in multikulturellen Ländern wie dem zaristischen Rußland und der Sowjetunion, in der Habsburger Monarchie und Jugoslawien, bei den Bulgarian atrocities zur Zeit Gladstones sowie in der modernen Türkei nach dem Ersten Weltkrieg, oder, weiter weg, in Ruanda gezeigt haben, ohne dabei die multikulturelle Problematik in den Vereinigten Staaten zu vergessen. Zusammenfassend kann man sagen, daß es zu bedenklichen Ausnutzungen sowohl demokratischer Rechte als auch der des status libertatis kam. Da aber diese beiden Menschenrechtskategorien der liberalen Demokratie inhärent sind, haben die vorangehenden Seiten wohl meine anfangs des Abschnitts gemachte Bemerkung bestätigt, daß die hier behandelten Ausnutzungen aus dem Wesen dieser Regierungsform zu erklären sind. Es soll nun untersucht werden, welche Ausnutzungen die gefährlicheren sind und ob ein Wechselverhältnis zwischen ihnen besteht, ob also Ausnutzungen demokratischer Rechte zu solchen des status libertatis führen und umgekehrt.
6. Man wird sich erinnern, daß ich demokratische Rechte als offensive, die Rechte des status libertatis als defensive bezeichnete. Da in einer Verteidigungsstellung der Gedanke überwiegt, in Ruhe gelassen zu werden, beim Angriff aber das Aggressive, wird man gleich meinen, demokratische Rechte seien die gefährlicheren oder gar die allein gefährlichen. Aber so generell darf man nicht urteilen. Bei den Menschenrechten gibt es nicht nur Schwarzes gegen Weißes. Eine derartige Unterscheidung wäre ähnlich riskant wie die des Rechtsstaates vom Unrechtsstaat Alles ist komplizierter. Es gibt ein Grau und ein Grau in Grau, das grausendes Grauen vor Ungewissem und Gewissenlosem herbeiführen kann.41 40 An solchen sind wohl vorwiegend Schuldbezeigungen wegen des Hitlerregimes. Siehe mein Der Hitler-Komplex, Wien 1990, insbes. 118 ff. 41 Zur Unterscheidung von Rechtsstaat und Unrechtsstaat siehe Carl Schmitt, Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat'?, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, XCV ( 1935), 189. Zur Frage, ob eine Philosophie der Menschenrechte jeweiligen Formulierungen dieser Rechte vorausgeht oder ihr nachhinkt, sei auf die bekannte Stelle Hegels aufmerksam gemacht: ,,Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der
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Die eben gemachten Äußerungen zum Asylrecht deuteten das bereits an. Dieses Recht ist im Grunde eines, dessen Zugehörigkeit zum defensiven status libertatis ihm auf die Stirn geschrieben zu stehen scheint. Dennoch ist, wie bei der Problematik der Menschenrechte ganz allgemein, Vorsicht am Platze. Seine Ausnutzung kann nämlich äußerst aggressiv sein. Unbefangen sieht sich alles zwar recht defensiv an. Der Betreffende verläßt ein Land, weil er sich politisch verfolgt fühlt. Er wird aus diesem Grunde in einem anderen Land aufgenommen, weil man ihm glaubt und dieser Glaube sich nach Überprüfung als gerechtfertigt erweist. Der Asylant genießt von nun ab im Gastland defensive Freiheiten, welche die Gewährung des Rechts auf Asyl mit sich bringt. Wie aber, wenn er tatsächlich gar nicht politisch verfolgt ist? Dann wird er, auch wenn er sich ehrlich für politisch verfolgt hält, durch objektive Ausnutzung des Asylrechts in gewissem Sinne schon offensiv. Weiß er, daß er politisch gar nicht verfolgt ist in seinem Herkunftsland, schwindelt er sich also unter bewußter Vorspiegelung falscher Tatsachen in ein anderes Land ein, so liegt in seinem Verhalten die Umwandlung eines defensiven Menschenrechts in eine rechtswidrige Aggression. Aber jede rechtswidrige Handlung stellt einen Angriff auf die Rechtsordnung dar. Und der zeigt sich in diesem Falle nicht nur im Tatbestand des Betrugs durch jemand, von dem Loyalität gegenüber dem fremden Land nicht erwartet werden kann, sondern auch darin, daß potentiell die Eigenart des Asyl gewährenden Volkes bedroht wird sowie dessen Eigentum am ihm zustehenden Territorium. Ein solcher Angriff wird noch erschwert, wenn das Verhalten des Asylanten über bloßes Lügen hinausgeht und er bei seiner Entlarvung zum Beispiel in den bereits erwähnten, Erpresserischem nahekommenden Anspielungen Zuflucht sucht und damit dem Fluch auf das Land seiner Flucht gar einen - oft mehr oder weniger höhnischen - Fluch auf seine ihn durchschauenden Gastgeber folgen läßt, wenn sie ihn endlich nach einem oft kostspieligen, mit vielem Ungemach für sie verbundenen Aufenthalt loswerden wollen. Neben aus dem Ausland kommenden Ausnutzungen defensiver Rechte gibt es solche innerhalb eines Landes durch Bürger, von denen Loyalität gegenüber ihren Mitbewohnern erwartet werden kann. Auch diese Rechte können bei Ausnutzungen offensiv, wenn nicht aggressiv werden. Meist gilt da die Regel: wenn ein Menschenrecht genutzt wird, um einem anderen Menschenrecht zu schaden, spricht angesichts der Gleichheit aller Menschenrechte die Vermutung dafür, daß es ausgenutzt wird. Wie oben bemerkt, hat man das Ende vorigen Jahrhunderts in Frankreich am Recht des Privateigentums gezeigt und hier zuerst von abus de droit gesprochen. Seitdem suchte man dem durch Betonungen sozialer Verpflichtungen Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." Grundlinien der Philosophie des Rechts Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1949, XI, 263 f. 9 Dietze
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des Eigentums Abhilfe zu schaffen, obwohl derartige Verpflichtungen oft dessen ungerechtfertigte Beschränkungen bedeuteten. In Amerika redet man seit langem aufgrund der vielen Morde mit Feuerwaffen von einer zweifelhaften Ausnutzung des in der Verfassung garantierten Rechts, Waffen zu tragen. Dieses hat sich als ähnlich einschränkbar erwiesen wie das der freien Äußerung. 42 Nun ist die Äußerungsfreiheit ein Recht, das als Voraussetzung der Demokratie angesehen werden kann. Ohne Meinungsäußerung keine Volksherrschaft. So steht diese Freiheit demokratischen Rechten besonders nahe und kann eigentlich diesen Rechten schon zugezählt werden. Ohne Äußerungsfreiheit erscheint es ja schwerlich möglich, demokratisch zu regieren und dabei insbesondere neue Gesetze anzuregen und in Gesetzgebungsverfahren durchzubringen, weil es ja nun einmal Gesetze sind, die das Wesen einer Demokratie vor allem bestimmen. Da gibt es vieles, was an Ausnutzungen der Äußerungsfreiheit in Verbindung mit demokratischen Rechten bedenklich erscheint, bei dem die Ausnutzungsproblematik als wichtiger Teil der Problematik der Menschenrechte besonders hervortritt. Es kann der bedenklichen Tatsache, daß die Äußerungsfreiheit vom amerikanischen Obersten Gerichtshof als preferred freedom angesehen wurde, noch hinzugefügt werden. So wurden beispielsweise, von Äußerungsfreiheiten sekundiert, demokratische Rechte vom Vormarsch der dem Demokratischen verbundenen Gleichheit genutzt und ausgenutzt, um das Privateigentum mit einer Unzahl sozialer Gesetze einzuschränken. Der Umstand, daß sich diese Tendenz bisher durchzusetzen vermochte und im Hegeischen Sinne als Wirkliches vernünftig erscheint, läßt immer noch die Frage offen, ob hier sowohl Äußerungsfreiheit als auch demokratische Rechte nicht im Sinne des abus ausgenutzt wurden, weil sie sich gegen das älteste aller Grundrechte richteten, das einzige, von dem gesagt werden kann, es sei sprachlich mit dem Gedanken der Propretät verbunden. 43 Um bei Hegels Behauptung zu bleiben, kann man natürlich auch fragen, ob denn, was über Jahrhunderte als Wirkliches auch als vernünftig angesehen wurde, an Vernünftigkeit nicht größer ist als das, was moderne Gesetzgeber in wenigen Generationen so alles an Sozialgesetzen arrangierten. Dieses Argument erinnert an Sir Edward Cokes Zurechtweisung Jakobs 1., nach der dessen Gesetze zwar seine natürliche königliche Vernunft reflektieren, aber an Bedeutung dem artificial reason of the law, einer sich über Jahrhunderte ausdehnende Ansammlung der Ansichten großer Juristen im Gewohnheitsrecht, nachste42 Das zweite Amendement lautet: ,,A weil regulated militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear arms, shall not be infringed." Besonders bekannt wurde in letzter Zeit nach dem Attentat auf Präsident Reagan die Brady Bill, die, als Reaktion auf die Verletzung und Lähmung Bradys bei diesem Attentatsversuch, zum Gesetz gemacht wurde, welches die Bestimmung des zweiten Verfassungszusatzes einschränkt. 43 Siehe mein Zur Verteidigung des Eigentums, II ff.
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hen. 44 Könnte man vielleicht die im demokratischen Gleichheitsdrang verabschiedeten Sozialgesetze weniger als vernünftig im Sinne Hegels und mehr als Vernünfteleien im Sinne Kants ansehen, die das so lange bewahrte Recht des Eigentümers als ius utendi, fruendi, abutendi antasten wollten? Das wäre sicher im Sinne von John Adams, der das Eigentum derart hoch bewertete, daß er in dessen Einschränkung den Beginn von Anarchie und Tyrannei sah. 45 Man hat die Tatsache, daß Äußerungsrechte demokratischen Rechten beim Schaffen von Sozialgesetzen sekundierten, meist als bloße Nutzung beider Rechtsarten angesehen, ähnlich wie deren Zusammengehen beim Ausdehnen des Wahlrechts. Von abus war dabei kaum die Rede. Die wenigen, die daran dachten, konnten sich gegen den demokratischen Sog zur Gleichheit nicht durchsetzen, da ja nun einmal das Wachsen des Demokratischen mit dem des Gleichen verkoppelt ist, am Wachsen des Demokratischen aber kaum zu rütteln war. Aber Wachsen erfordert Wachsein. Man muß sich davor hüten, zuviel erreichen zu wollen. Geht man weiter und weiter in Richtung Gleichheit, können Ausnutzungen von Menschenrechten zu einer Hybris führen, die glaubt, etwas erreichen zu können, was gar nicht zu erreichen ist, nämlich die totale Gleichheit aller. Wie ein auf eine unmögliche Leistung gerichteter privatrechtlicher Vertrag nichtig ist, weil er die Hybris mindestens eines der Vertragspartner zeigt, der sein Recht, einen Vertrag zu schließen, ausnutzt, so muß auch eine auf Unmögliches gerichtete Nutzung von Menschenrechten eine Hybris zeigende, geradezu absurde Ausnutzung dieser Rechte sein. Eine totale Freiheit aller ist vorstellbar, wie immer sie zum Bösen und Guten genutzt und ausgenutzt werden mag; eine totale Gleichheit aller ist es aus biologischen Gründen nicht. Sogar ein Gleichheitsapostel wie Rousseau sah das wohl, wenn er zu Beginn seines bekanntesten Werkes lediglich sagte, der Mensch sei frei geboren. Auch Jefferson wußte es. Am Anfang der Unabhängigkeitserklärung heißt es zwar, alle Menschen seien gleich geschaffen. Aber das wird durch die folgenden Worte, nach denen sie durch ihren Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, unter ihnen die auf Leben, Freiheit und den Verfolg der Glückseligkeit, dahin gedeutet, daß sie alle bloß gleich frei sind, zu leben, frei und glücklich zu sein. Man muß sich, wenn man seine Menschenrechte nutzt, stets fragen, ob hier deren unliebsame Ausnutzung vorliegt und ob man bei Versuchen zur Gleichmacherei nicht utopischen Versuchungen erliegt. In solchem Erliegen kann eine verurteilungswerte Ausnutzung dieser Rechte gesehen werden. Einmal schon deshalb, weil hier mit naturrechtliehen Argumenten und Floskeln gegen die Natur, die biologisch gesehen die Menschen nun einmal ungleich in die Welt bringt, gear44
Siehe Carl J. Friedrich, Constitutional Government and Democracy, rev. ed., Boston
1950, 105.
45 In Defence of the Constitutions of Goverment of the United States of America, London 1787, heißt es, "property is surely a right of mankind as really as liberty ... The moment the idea is admitted into society that property is not as sacred as the laws of God, and that there is not a force of law and public justice to protect it, anarchy and tyranny commence." Charles Francis Adams, Hrsg., The Works of John Adams, Boston 1850 - 56, VI, 8 f.
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beitet wird, während die Natur doch stärker ist als das von Menschen für natürlich Gehaltene, über dessen Gehalt sich die Geister von jeher schieden. Dann aber auch, weil Überbetonung der Gleichheit auf Kosten der Freiheit geht, Menschenrechte aber primär Freiheitsrechte sind.46 Die gemachten Ausführungen zeigen, daß Wechselwirkungen zwischen Ausnutzungen demokratischer Rechte und denen des status libertatis vorhanden sind. Das war zu erwarten, liefen doch die Ausnutzungen beider Kategorien von Rechten etwa parallel. Im Grunde defensive Rechte wie Freiheiten der Rede, Presse, Versammlung, Vereinigung: sie alle können offensiv und aggressiv werden und, von den Medien unterstützt und aufgebauscht, auf bedenkliche Weise ausgenutzt, was sie demokratischen Rechten und deren zweifelhaften Ausnutzungen nahebringt und sie gar zu solchen macht. Wie ist nun die Frage zu beantworten, welche der beiden Menschenrechtskategorien mit ihren Ausnutzungen die gefährlichere ist? Was die Rechte des status libertatis angeht, so braucht man als gefahrliehe nur die zu betrachten, die geeignet sind, offensiv und aggressiv zu werden. Sie haben durch Rede, Schrift usw. nicht nur das Wahlrecht vergrößert, sondern auch das Arbeiten der demokratisch Gewählten beeinflußt. Man kann in ihnen einen Steigbügel zu demokratischen Rechten wie zur Bestimmung demokratischer Politik sehen. Sie können bewirken, daß in Regierungen Gewählte den Status quo aufrecht erhalten oder ihn verändern 46 Oliver Wendeli Holmes, Ir., ein Vertreter der sociological jurisprudence, schrieb an Harold J. Lask.i, den Ideologen der britischen Labour Party: "I have no respect for the passion for equality, which seems to me merely idealizing envy." The Holmes-Laski Letters: The Correspondence of Mr. Justice Holmesand Harold J. Laski, 1916- 1935, Cambridge, Mass. 1953, II, 942. Vgl. Gerhard Leibholz: ,,Freiheit erzeugt notwendig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit." Die Freiheit der Persönlichkeit, Stuttgart 1958, 80. Das Primäre der Freiheitsrechte innerhalb der Menschenrechte ersieht man z. B. daraus, daß der Kampf um die Menschenrechte zunächst um Freiheiten von der Regierungsgewalt geführt wurde. Eine der ersten Demonstrationen dieses Kampfes war die um die Magna Carta Libertatum, die Große Charter der Freiheiten 1215. Trotz des von Walter Ullmann in The Individual and Society in the Middle Ages, Saltimore 1966, betonten, damals in England bestehenden milden feudalen Königtums fühlten sich die die Magna Charta verlangenden Barone dem König nicht gleich. Um so weniger erachteten sich die für ihre Freiheit kämpfenden Untertanen jenen Monarchen gleich, die sich als theistische Herrscher betrachteten. Die Priorität der Freiheit vor der Gleichheit erhellt auch aus dem Kampfruf der Französischen Revolution, Liberte, Egalite, Fratemite, ebenso aus dem immer wieder gebrauchten Begriff der Gleichheit vor dem Gesetz. (Vgl. Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Berlin 1925; Erich Kaufmann und Hans Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, No. 33, Berlin 1927; Max v. Rümelin, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Tübingen 1928; Otto Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht, Berlin 1929; E. L. Llorens, La Igualidad ante Ia Ley, Murcia 1934; meine Formulierung "Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich" in Formulierung der Menschenrechte, Berlin 1956, 159 ff.) Der Begriff zeigt, daß Menschen zunächst einmal frei waren, Gesetze zu machen, was immer deren Inhalt sein mochte. Goethe meinte: "Gesetzgeber oder Revolutionärs, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatans." Maximen und Reflexionen, 953.
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auch in Beziehung auf Menschenrechte, ob es sich nun um demokratische oder die des status libertatis handelt. Alle diese Rechte können sie vergrößern und einschränken. Thre Macht ist groß und kann sich als böse erweisen. Andererseits braucht sich eine Regierung, solange sie an der Macht ist, nicht beeinflussen zu lassen, groß wie Beeinflussungsversuche auch sein mögen. Insofern steht es mit Freiheiten der Äußerung ähnlich wie mit der Gedankenfreiheit. Wie die nach Kant nicht viel nutzt, ohne in der Freiheit der Äußerung anerkannt zu sein, so laufen Äußerungen nicht auf viel hinaus, wenn Regierende sie an sich abgleiten lassen und ihnen keine Beachtung schenken, sie jedenfalls nicht in Gesetze oder sonstige Entscheidungen umwandeln. Letzten Endes bleibt daher die aufgrund demokratischer Rechte existierende Regierung souverän. Ausnutzungen ihrer demokratisch herbeigeführten demokratischen Souveränität erscheinen so als gefahrlieber als die der Rechte des status libertatis, wie immer diese offensiv und aggressiv geworden sein mögen.
7. Fragt man abschließend, wie die durch menschliche Wünsche herbeigeführten, hier beschriebenen Entwicklungen zustande kommen konnten, so ist meine Antwort: unliebsame Ausnutzungen von Menschenrechten wurden vor allem infolge der diesen Rechten immanenten Permissivität möglich. An deren Wurzel aber steht der reine Liberalismus als Urgrund aller Freiheitsbegehren. Dieser ist nicht rein im Sinne von engelrein. Er ist rein, weil er ausschließlich vom Wunsch nach mehr Freiheit motiviert ist, ob diese nun zum Guten oder Bösen, Schönen oder Häßlichen u. a. m. genutzt oder ausgenutzt wird.47 In seinem Freiheitsdrang schließt der reine Liberalismus das Verlangen nach reinen Menschenrechten in sich, die als Freiheitsrechte von ethischen, moralischen, rechtlichen usw. Erwägungen bereinigt sind und nur Menschenrechtliches anstreben. Dabei ist es irrelevant, um welche der beiden Hauptkategorien der Menschenrechte es sich handelt, denn in beiden sind Freiheitsrechte offenbar: Rechte zur Teilnahme am Regieren zeigen eine "Freiheit zu" an, während Rechte, von anderen, von Regierung und Staat nicht behelligt zu werden, eine "Freiheit von" aufweisen. So manche Regierungen haben behauptet, für Menschenrechte einzustehen. Sie haben betont, daß sie vom Volk getragen sind oder es jedenfalls repräsentieren. Das Dritte Reich wurde als veredelte Demokratie gesehen. Die Kommunisten sahen in ihren Regimes, in denen die Mehrheit - in Rußland Bolschewisten genannt - nicht durch checks and balances wie in westlichen Demokratien gehandikapt war, eine zu bevorzugende Volksherrschaft. Regierende haben weiter behauptet, für eher defensive Menschenrechte zu kämpfen. Hitler betonte die Befreiung des 47
Siehe mein Reiner Liberalismus, Tübingen 1985, insbes. 21 ff.
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deutschen Volkes vom Versailler Diktat, sein Völkischer Beobachter hatte das Motto "Für Freiheit und Brot" auf der Titelseite. Marx und Marxisten sprachen von der Befreiung des Proletariats von kapitalistischer Unterdrückung. Von allen Regierungsarten aber steht der liberalen Demokratie das Menschenrechtliche auf die Stirn geschrieben, ob es sich nun um ,,Freiheiten von" oder "Freiheiten zu" handelt: In ihr gilt Menschenrechtliches derart unbestritten, daß es als wahre Ratio der liberalen Demokratie erscheint. Eine Folge davon ist, daß Menschenrechte genutzt werden bis zur Neige und ausgenutzt bis zum abus, wobei man sich fragt, ob abus zum abattoir eines frohen und geordneten Zusammenlebens in der menschlichen Gemeinschaft wird. In dieser Problematik der Menschenrechte sehe ich eines der wichtigsten Probleme der liberalen Demokratie, an die wohl MacPherson dachte, als er schrieb, die Demokratie sei vor etwa hundert Jahren als etwas Schlechtes, in den nächsten fünfzig .Jahren als etwas Gutes und in den letzten fünfzig Jahren als etwas Zweideutiges gesehen worden.48 Diese zweihundert Jahre entsprechen etwa der Zeit von der Amerikanischen Revolution bis heute. Wie gezeigt, wurde während dieser Revolution die Volksherrschaft als etwas Gefährliches angesehen, weil nach der Befreiung von England die neugewonnenen Rechte des self-govemment ausgenutzt wurden, um bestehende, vornehmlich auf Eigentum und Verträge gegründete Rechte der Individuen zu schmälern. Diesem selbstherrlichen und selbstherrischen Verhalten einiger Gesetzgeber wurde durch die neue Bundesverfassung ein Riegel vorgeschoben. So verstanden es die Amerikaner, in kurzen elf Jahren ein Problem der Demokratie zu lösen, indem sie klar machten, daß die regierende Mehrheit die Rechte der einzelnen zu achten hatte. Dieser in immer mehr Ländern zunehmend akzeptierten Auffassung der liberalen Demokratie war es wohl zuzuschreiben, daß die Demokratie endlich als etwas Gutes angesehen wurde. Ihre heutige Zweideutigkeit sehe ich darin, daß neben Ausnutzungen des Liberaldemokratischen zum Regulativen hin eine Ausnutzung zu einem Permissiven stattgefunden hat, welches das Staatsgefüge mit seiner Rechtsordnung gefährdet. Aufgrund des auf Eigentümer begrenzten Wahlrechts konnten Ausnutzungen demokratischer Rechte zu Sozialgesetzen in Amerika anfangs verhindert werden. An Ausnutzungen zu einem Recht und Ordnung gefährdenden Permissiven dachte man ja damals kaum, weil die moderne liberale Bewegung noch in den Anfängen steckte und nicht Regierung und Staat als solche, sondern nur deren menschenrechtsfeindlichen Auswüchse angriff. Jetzt ist das anders. Der demokratische Vormarsch hat beide Arten von Ausnutzungen der Menschenrechte möglich gemacht: zum Regulativen und zum Permissiven hin. Ein effektives Bremsen ist noch nicht in Sicht. Die Aussichten sind trübe. Sie könnten wohl nur gebessert werden durch wachsendes Gewahrsein von Verpflichtungen der Menschenrechte, das deren ungetrübtem Gewährenlassen entge48
Pickles, a. a. 0., stellt diese Ansicht ihrem Buch voran.
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gentritt Ein solches Maßhalten müßten wahrscheinlich erst einmal einzelne zeigen durch Autolimitation, um liberaldemokratischen Tendenzen Einhalt zu gebieten oder sie jedenfalls zu verlangsamen.49 Dem könnte die Einsicht helfen, daß liberale Demokratien jeweils zwar vernünftig erscheinen, dennoch aber auf Kompromissen basierende Notbehelfe sind, die der Vernunft als solcher nicht entsprechen. Sonst wären sie nicht durch die Geschichte hindurch gekommen und gegangen, würden sie sich nicht dauernd ändern, nicht abgelöst werden in der Hoffnung auf neue Synthesen. Sie erscheinen daher eher als bloße Vernünfteleien im Sinne Kants. Und ähnlich ist es mit ihren Menschenrechten und deren Nutzungen und Ausnutzungen zum Wohle und Schaden einzelner Bürger und ihrer Gemeinschaft.
49 Die Selbstbindungs- oder Autolimitationslehre wurde eingeführt von Georg Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge- Ein Beitrag zur juristischen Construktion des Völkerrechts, Wien 1880. Jellinek war ein Vertreter der voluntaristischen Theorie, die als Grundlage des gesamten Völkerrechtspositivismus angesehen werden kann. Er lehrte, daß ein souveräner Staat sich selbst beschränkt, wenn er mit einem anderen Staat ein Rechtsverhältnis eingeht, daß es ihm aufgrund seiner Souveränität aber freisteht, das Verhältnis zu lösen, ohne gegen das Recht zu verstoßen. V gl. Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, München und Berlin 1960, I, 38. Die von mir vorgeschlagene Autolimitation freier Individuen hat zum Wohle der Gemeinschaft Bedenken hinsichtlich eines Rücktritts von maßvoller Selbstbeschränkung. Ich denke hier an die Art von Autolimitation, die wohl Kants berühmte Stelle im Beschluß seiner zweiten Kritik im Sinn hat: ,,Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte H im m e I über mir, und das m or a 1 i s c h e Gesetz in mir ."Siehe Kritik der praktischen Vernunft, Werke, V, v, 74, 76, 79, 80, 82, 83, 87, 93, 117, 128, 161. Auf Seite 82 f. steht: "Pflicht und Schuldigkeit sind die Bestimmungen, die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetz geben müssen. Wir sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch praktische Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reichs der Sitten, aber doch zugleich Unterthanen, nicht das Oberhaupt desselben, und die Verkennung unserer niederen Stufe als Geschöpfe und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes ist schon eine Abtrünnigkeil von demselben dem Geiste nach, wenn gleich der Buchstabe desselben erfüllt würde." Vielleicht dachte Jellinek an Kant, als er schrieb, das Recht sei ein ethisches Minimum.
IV. Entpflichtung und Verpflichtung 1. Entpflichtungen rufen nach Verpflichtungen, und Entpflichtung von Menschenrechten erfordert Verpflichtung durch Menschenrechte. In Entpflichtungen von Menschenrechten kann ein nächster Schritt von unethischen Ausnutzungen dieser Rechte gesehen werden. Es ist ein weiter Schritt in unbekannte Weiten, ein Schritt vom Wege, vom Wege des Rechts, ein Wagnis, das die Waage der Gerechtigkeit in Frage stellt, weil ins Rechtlose gegangen wird. Verwerflich wie ein abus de droit sein mag, hält er sich doch immer noch im Rahmen des Rechts. Dessen Verpflichtung aber verflüchtigt sich, sobald der Mensch sich rechtlich entpflichtet. Durch eine Entflechtung vom Geflecht des Rechts treibt das Individuum in rechtloses, loses Niemandsland, in dem niemand so recht weiß, was eigentlich Recht ist, jeder sein eigenes Recht bestimmt, sein eigener Gesetzgeber, Richter und Rechtsvollstrecker ist. Wenn aber einmal die Rechtsordnung verlassen wird, kann von abus de droit keine Rede mehr sein, denn abus de droit setzt eine Rechtsordnung voraus. Wer sich im Freiheitsdrang hors de la loi und hors du droit begibt, verschmäht die Rechtsordnung, wie sehr er dies auch als Ausübung eines Menschenrechts sehen mag. Er bietet ihr die Stirn, wie der in Berlin dem Kreis der Freien angehörende Max Stirner. In seinem Angriff auf die bestehende Ordnung ging Stirner weiter. Er gab sich nicht damit zufrieden, zusammen mit Linkshegelianern Rechtshegelianer anzugreifen, die absoluten Idealismus mit dem Christentum versöhnen wollten und mit der paternalistischen Autorität des Staates die von dieser vorgeschriebene konformistische Moral verteidigten. Er ging auch gegen die ihm nahestehenden Linkshegelianer an und gab sich mit David Strauss' Buch über das Leben Jesu ebensowenig zufrieden wie mit Ludwig Feuerbachs 1841 veröffentlichter Arbeit über die Essenz des Christentums. Im Gegensatz zu Richard Wagner, dessen Wähnen in Bayreuth Ruhe fand, fand der aus dieser Stadt Stammende wenig Ruhe. In dem Strudel der Junghegelianer, der "Freien", der sich um Bruno Bauer und dessen alles verschlingenden Skeptizismus bildete, bewahrte er die Individualität seines Egos auf eine Weise, die selbst bei den Angehörigen dieses Kreises Anstoß erregte, als er im Geburtsjahr Nietzsches mit Der Einzige und sein Eigentum herauskam. 1 I Max Stirner wurde am 25. Okt. 1806 in Bayreuth geboren, wo eine Gedenktafel am Marktplatz heute sein Geburtshaus anzeigt. Er hieß ursprünglich Johann Caspar Schrnidt,
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Carl Schmitt, ein Kenner des Liberalismus und seines Individualismus, schrieb über Stimer: "Im ganzen genommen ist er scheußlich, lümmelhaft, angeberisch, renommistisch, ein Pennalist, ein verkommener Studiker, ein Knote, ein Ich-Verrückter, offenbar ein schwerer Psychopath. Er kräht mit lauter unangenehmer Stimme: Ich bin Ich, Mir geht nichts über Mich. Seine Wort-Sophismen sind unerträglich. Das Zazou seiner zigarrenrauchenden Stammtisch-Boheme ist eklig." Dennoch fährt Schmitt gleich fort: "Aber Max weiß etwas sehr Wichtiges. Er weiß, daß das Ich kein Denkobjekt ist. So hat er den schönsten, jedenfalls deutschesten Buchtitel der ganzen deutschen Literatur gefunden: Der Einzige und sein Eigentum." Das Wichtige an Stimer und dem Kreis, der ihn beeinflußte, ist für Schmitt offenbar, daß hier das "Trümmerfeld der Selbstzersetzung deutscher Theologie und idealistischer Philosophie" zustande gebracht wurde, das "sich seit 1848 in ein Kraftfeld theogonischer und kosmogonischer Ansätze verwandelt" hat: "Was heute explodiert, wurde vor 1848 präpariert. Das Feuer, das heute brennt, wurde damals gelegt. Es gibt gewisse Uran-Bergwerke der Geistesgeschichte. Dazu gehören die Vorsokratiker, einige Kirchenväter und auch einige Schriften aus der Zeit vor 1848. Der arme Max gehört durchaus dazu."2 Stimers Ich-Besessenheit, kombiniert mit seiner ersten, den Rest seines Buches überschattenden Kapitelüberschrift "Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt", suggeriert einen Liberalismus, der weiter geht als der Manchesters. Er stellt nämlich nicht nur auf Ökonomisches ab, sondern ist für jenes völlig uneingeschränkte und haltlose Laisser-faire des egoistischen Individuums, das klassische Liberale von Adam Smith bis F. A. Hayek ablehnten. Während die in der rule of law, im Rechtsstaat eine Garantie der Freiheit der einzelnen sahen, und sogar Marx trotz seiner Zweifel über Rechtsordnungen eine solche unter der Diktatur des Proletariats im Übergang zur klassenlosen Gesellschaft noch beibehalten wollte, sollte es nach Stimer eine Bindung an das Recht nicht mehr geben. Stimer dachte also offenbar an einen Liberalismus, der nur auf Erweiterungen der Freiheit des einzelnen aus war, von ethischen, moralischen, sittlichen, rechtlichen und anderen Erwägungen wie Rücksichtnahmen bereinigt. Wenn Stimer, wie viele andere, diese Art Liberalismus auch nicht als reinen Liberalismus bezeichnete, zeigte er ihn doch in seiner ganzen schweren Substanz an, die größte Leichtfüßigkeit nicht ausschloß. Vielleicht nannte Schmitt den Mann, den Marx als ,,heiligen Max" abtat, deshalb "arm", weil er davon absah, das Kind beim Namen zu nennen; vielleicht, weil er in Stimer den wichtigen Vater eines Liberalismus sah, der infolge seines weitgehenden Individualismus arm war und immer ärmer werden würde, weil er zunehmend zur Zersetzung staatlicher Ordnung führen und ein anarchistisches Trümmerfeld hinterlassen würde. 3 wurde aber bald wegen seiner ungewöhnlich hohen Stirn umgetauft, was ihm offenbar gefiel. Die letzte Arbeit über seine Rolle unter seinen Zeitgenossen und seinen Einfluß ist R. W. K. Paterson, The Nihilistic Egoist Max Stimer, London 1971. 2 Ex Captivitate Salus, Köln 1950, 81.
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Stirners egoistischer Individualismus paßte nicht allein in die von den .,Freien" geübte Kritik bestehender Zustände. Er war auch durchaus mit den Entwicklungen zu wachsender Freiheit vereinbar, wenn er nicht gar daraus gefolgert werden konnte. Mehr noch als in den vorangehenden Jahrhunderten waren Menschenrechte damals, zur Blüte des Manchestertums, zur Freiheit einzelner gegenüber der Regierung hin orientiert. So kann es wenig erstaunen, daß es zu Stirners Ideen mit ihren Entpflichtungen von allen rechtlichen Verpflichtungen kam. Neben Proudhon half dazu wohl auch de Tocqueville. Dessen Bestseller über die Demokratie in Amerika vergrößerte mit dem in der Luft liegenden Interesse an der Demokratie das an den Vereinigten Staaten, denen Tocqueville am Ende seines ersten Bandes eine große Zukunft voraussagte. Da lag es nahe, sich die amerikanischen Revolutionsideale vor Augen zu halten und sie mit den in Europa bekannteren französischen zu vergleichen. Dabei konnte man entdecken, daß amerikanische Formulierungen von Menschenrechten keine die einzelnen verpflichtenden Gesetzesvorbehalte enthielten, was eine allzu weite Interpretation dieser Rechte ermunterte - bis zum Anarchistischen hin. Eine solche aber war geeignet, auf eine Entpflichtung von Menschenrechten hinauszulaufen, die in maßvoller Weise, wie bei Locke, Blackstone, Kant und Mohl, die Notwendigkeit einer staatlichen Ordnung anerkannten.4 So steht der "arme Max", der atheistische, nihilistische Anarchist Stirner vielleicht mit am Beginn der Zertrümmerung der idealistischen Philosophie und deren maßvollen Auffassungen der Menschenrechte sowie am Ende des langen Kampfes um diese, staatliche Autorität grundsätzlich anerkennenden Rechte. Denn lange in der Tat währte und bewährte sich dieser Kampf in der Abwehr gegen menschliche Macht und Allmacht.
3 Paragraphenüberschriften in Stimers Buch sind "Der politische Liberalismus", "Der sociale Liberalismus", "Der humane Liberalismus". Den Ausdruck ,,reiner Liberalismus" fand ich nicht. Vielleicht teilte Stimer die Zurückhaltung anderer, den von ethischen, moralischen, sittlichen, rechtlichen usw. bereinigten Freiheitsdrang infolge der dem Wort ,,rein" anhaftenden ethischen und ähnlichen Attribute als rein zu bezeichnen. Man findet Ausdrücke wie "pure Uneigennützigkeit", ,,reine Gedankenwelt", "reinen Gedanken", "Geist, reinen Geist, oder den Geist, der nichts als Geist", "der Geist, der als reiner Geist existieren soll", "der reine Geist, der Geist als solcher", "ein reines sittliches Handeln, eine lautere, unverfälschte Sittlichkeit", .Jst sie so aber schon rein und wirklich das, was sie zu sein trachtet, und erreicht sie ihr letztes Absehen?", "Unser öffentliches oder Staatsleben ist ein rein menschliches", ,,reine Kritik,", "Das Jüdische ist nicht das rein Egoistische", "egoistischen, rein persönlichen Verkehr", "so darfst du den Protestantismus nur rechtfertigen, allenfalls ,reinigen', nicht verwerfen", "simple Individuen", "simples Individuum", "Nun ist der ,egoistische' Anstrich weggewischt und [A]lles so rein und- menschlich!" Sie zeigen, daß Stimer sich des Unterschiedes zwischen ,,rein" im Sinne des ethisch Anzustrebenden und in dem des bloß puren, von ethischen und anderen Werten freien Reinseins wohl bewußt war. Zitiert nach Hans G. Helms, Hrsg., Max Stimer, Der einzige und sein Eigentum und andere Schriften, München 1968,36,40, 41, 47, 62, 64, 73, 95, 123, 139, 147, 159, 190. AufSeite 106 steht, "die Freiheit ist inhaltsleer." Vgl. mein Reiner Liberalismus, Tübingen 1985. 4 Vgl. mein Liberalism Proper and Proper Liberalism, Baltimore 1984.
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Schon Sophokles sprach von diesem Bestreben. In seinem Schauspiel Antigone ordnet Kreon, der König von Theben, an, die Leiche des Verräters Polynices nicht zu begraben, sondern sie Aasgeiern und Hunden preiszugeben. Antigone revoltiert. Sie glaubt, ein jeder habe das Recht, begraben zu werden, und der König dürfe ihr nicht verwehren, ihren Bruder zu bestatten. "Kennst Du das Gesetz?" fragt Kreon. Sie bejaht. "Warum hast Du es dann gebrochen?" Sie erwidert, dieses Gesetz sei gewissenlos. Es mag das Gesetz des Staates ein, aber es ist unvereinbar mit der Gerechtigkeit: Auch glaubte ich nicht, daß Du, ein Sterblicher, In einem Atemzug schier übertrumpfen konntest Des Himmels unveränderliche, ungeschriebene Gesetze. Sie wurden nicht heute geboren oder gestern; Sie sterben nicht, und niemand weiß, woher sie kamen.
Kreon entgegnet, kein Herrscher könne Verräter ungestraft lassen, ihm müsse in allem gehorcht werden, ob sein Wille nun gerecht ist oder nicht. Sonst gäbe es Anarchie, das größte aller Übel. Sophokles stellt hier den Kampf gegen die Gewaltherrschaft der Anarchie gegenüber. Er führt triftige Argumente für die Verhaltensweise Kreons ins Feld. Der Dichter war ja auch General und Staatsmann. Dennoch verteidigt er Antigone und mit ihr die herkömmliche Autorität des religiösen Glaubens gegen die überbandnehmende Idee, Macht sei Recht. Er betont ein höheres Gesetz als das irdischer Herrscher, eines, das auf göttlichem Wollen fußt und dem Schutz der Menschenrechte vor staatlicher Gewalt dient. Später verteidigten Juristen und Theologen die Menschenrechte aufgrund des Naturrechts. Dieser schon von Sophokles angedeutete Begriff wurde von den Stoikern der hellenistischen Zeit und Roms herausgearbeitet. Bekannt ist die Bemerkung Ciceros : ,,Es gibt ein wahres Recht, richtige Vernunft im Einklang mit der Natur. Es richtet sich an alle Menschen und ist unveränderlich und ewig." (Republik, III, 22). Das im Einklang mit der Natur stehende wahre, richtige, vernünftige, unveränderliche, ewige Recht wurde unterschieden von dem unwahren, falschen, unvernünftigen, veränderlichen, zeitlichen jeweiliger Machthaber. In seinem dritten Brief an die Galater schrieb Paulus, ersteres käme allen Menschen zugute. Im christlichen Mittelalter wurde es als Teil des göttlichen Rechts gesehen, bis dann mit der Renaissance eine gewisse Säkularisierung zustande kam. Theistische Auffassungen wurden durch deistische ergänzt. Sie alle überlebten bis auf den heutigen Tag. In einer Ära allgemeiner Betonungen des Naturrechts, die wahre Fluten neuer Formulierungen der Menschenrechte hervorbrachte, schrieb Friedrich Schiller im Wilhelm Tell (II, 2) den Rütlischwur. Die Worte Stauffachers erinnern an die der Antigone und an die des jungen Alexander Hamitton kurz vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in The Farmer Refuted: "Die heiligen Rechte der Menschheit . . . sind wie mit einem Sonnenstrahl von der Hand Gottes selbst im
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Ganzen der menschlichen Natur eingeschrieben und können niemals durch sterbliche Macht ausgelöscht oder verdunkelt werden." Sie zeigen göttliches und natürliches Recht vereint als Grundlage der Menschenrechte. Zur Zeit des schweizerischen Volkshelden sah man in England das Gewohnheitsrecht als Quelle dieser Rechte. Im Krönungseid sicherte der König seinen Untertanen Freiheiten zu. In Runnymede erinnerten 1215 die Barone König Johann an ihre verbrieften Rechte und verlangten deren Bestätigung in der Magna Charta. Man ging von dem Prinzip aus, das Henry Bracton in der 5. Folie seines De legibus et consuetudinibus angliae erwähnte und das noch heute der Juristenfakultät der Harvard Universität als Leitspruch dient, non sub homine sed sub Deo et lege. Außerdem behauptete man, der Monarch müsse sich an seine auf dem Feudalismus beruhenden vertraglichen Verpflichtungen halten. Ähnliche Argumente gab es später. Sie führten 1628 zur Petition of Right, 1689 zur Bill of Rights, wichtige Marksteine in der Anerkennung von Menschenrechten. Zu Lebzeiten Schillers schillerten Forderungen von Menschenrechten auf mannigfaltige Weise. Man gründete sie auf das göttliche Recht, auf theistisches Naturrecht, auf das Gewohnheitsrecht und deren verschiedenartigsten Kombinationen. Die so hergeleiteten Rechte gab es in großer Anzahl. Infolge von Unterdrückungen durch absolutistische Herrscher betonte man anfangs Freiheiten von der Regierung, wie die des Eigentums, der Religion, der Presse. Da man aber die Mißachtung dieser Rechte zum guten Teil darauf zurückführte, daß das Volk von der Regierung ausgeschlossen war, verlangte man bald auch seine Teilnahme am Regierungsprozeß. Die Menschen sehen zunächst das nächste. Sie wurden zuerst der Unterdrückung gewisser Freiheitsrechte gewahr und verlangten deren Schutz vor den Machthabern. Dann suchten sie nach den Gründen des Despotismus und nach Mitteln, diesem Einhalt zu gebieten. Der Kampf um die Menschenrechte führte von der Monarchie zur Demokratie. Grundrechtsnormen, die den Schutz einzelner vor der staatlichen Gewalt sicherten, folgten solche, welche deren Teilnahme an der Macht vorsahen. Das Schutzprinzip wurde durch das Teilnahmeprinzip ergänzt, die Formel "Trotz der Monarchie" durch "Schutz durch die Demokratie". Die Revolutionen in England, Amerika und Frankreich demonstrierten das. Die Gegenüberstellung des Volkes und der Regierung wurde zunehmend durch den Begriff der Volksregierung ersetzt. Eine neue Sicht der Menschenrechte kam hinzu. John Locke, bei dem sich dieses Gegenüber findet, folgten Christian Wolff, Rousseau, Kant und Hegel, die die Integration des Individuums in das Gemeinwesen betonten. Die Erklärung der Menschenrechte, die nationale Liberale 1848 in Deutschland proklamierten, war nicht mehr so individualistisch wie frühere Deklarationen in England, Amerika und Frankreich, in Schweden, Holland und Belgien. Wenn sie von den Rechten des deutschen Volkes sprach, stellte sie deren Existenz in der deutschen Gemeinschaft und damit weniger das Individualistische als das Gemeinschaftliche dieser Rechte heraus. John Stuart Mills individualistischem Traktat von 1859, On Liberty, folgte zwei Jahre später Heinrich von Treitschkes
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gemeinschaftsfreundlichere Veröffentlichung Die Freiheit. Der Einfluß der idealistischen Schule blieb nicht auf Deutschland beschränkt. Sie strahlte insbesondere nach England und Neuengland aus. Und Rousseaus Ideen gingen um die ganze Welt. Auf dem europäischen Kontinent kam es zu marxistischen Parteien, in England zur Labour Party und in den USA zum Progressive Movement. Mit ihnen kam eine Betonung sozialer Rechte, nach denen die Menschen vom Staat und von den Mitbürgern gewisse, zumeist materielle Leistungen verlangen konnten. So gab es nun eine weite Spanne von Menschenrechten: Rechte, von der Regierung in Ruhe gelassen zu werden, an ihr teilzuhaben und von ihr oder durch sie etwas zu bekommen. Die größte Betonung der Menschenrechte kam aber nach dem Zweiten Weltkrieg. Niemals wohl in der Geschichte der Menschheit erfreuten sich diese Rechte einer derart weiten Anerkennung, gab es eine solche Menschenrechtspropaganda auf der ganzen Welt, und zwar auch auf internationaler Ebene. Wohl gab es internationale Abmachungen wie die zur Abschaffung des Sklavenhandels, zur Hegung des Krieges und zur Behandlung von Kriegsgefangenen. In ihnen legten bestimmte Staaten konkrete Rechte fest, wurde die Ordnung innerhalb dieser Staaten durch eine Menschenrechte schützende internationale Ordnung ergänzt. Was aber in den einzelnen Staaten sonst vor sich ging, war deren Sache. Ihre Regierungen konnten die Untertanen schützen oder unterdrücken. Ein Überbleibsel davon findet sich noch in der Charta der Vereinten Nationen, wenn Artikel 7 die Einmischung dieser Organisation in die internen Angelegenheiten der Mitgliedstaaten begrenzt. Andererseits stand die Gründung der UN im Zeichen der Förderung der Menschenrechte auch in den einzelnen Staaten. Als eine ihrer ersten und wichtigsten Aufgaben wurde die Thronerhebung der Menschenrechte, the enthronement of human rights in den Worten Winston Churchills, betrachtet. Ein Bekenntnis zu diesen Rechten findet sich in der Präambel der Charta, und Artikel 55 verlangt von den Mitgliedstaaten die Förderung der Menschenrechte. Außerdem kam es 1948 zu einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zur Universal Declaration of Human Rights, und 1950 zum Europäischen Covenant über den Schutz der Menschenrechte (European Covenant for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms). Beide binden die unterzeichnenden Staaten. Diejenigen, die in den ersten Jahren nach dem Kriege glaubten, die weitgehende Betonung der Menschenrechte sei hauptsächlich auf deren viel publizierte Mißachtung durch die Besiegten zurückzuführen, wurden bald eines anderen belehrt. 1966 billigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Covenant on Economic and Social Rights sowie den Covenant on Civil and Political Rights. 1975 wurde die Menschenrechtsvereinbarung von Helsinki unterzeichnet. Ob nun eine wirksame Maschinerie zur Durchsetzung von Menschenrechten zustande kam, wie die Europäische Kommission für Menschenrechte, oder eine weniger effektive, wie die United Nations Human Rights Comrnission, so ist doch die Tendenz, Menschenrechte auch innerhalb einzelner Staaten zu fördern, offenbar.
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Zu der weitgehenden Promotion dieser Rechte durch internationale Organisationen kommt eine auf nationaler Ebene. Die Diskussionen und Ereignisse in einzelnen Ländern zeigen eine allgemeine Beschäftigung mit den Menschenrechten und den Willen, diese zu fördern. Die neuen Verfassungen, ob sie nun in liberalen Demokratien, sozialistischen oder kommunistischen Staaten angenommen wurden, enthalten alle Bekenntnisse zu Grundrechten. Man kann von einer wahren Menschenrechtsflut sprechen. Wie die Universal Declaration of Human Rights sind sie oft recht lang, wenn auch nicht so umfangreich wie die der italienischen Verfassung. Zu dem ausgedehnten quantitativen Schutz kommt ein qualitativer, der weiter geht als früher. So schreibt das Bonner Grundgesetz in Artikel 19 vor, der Wesensgehalt von Grundrechten dürfe nicht mehr vom Gesetzgeber angetastet werden. Es geht sogar so weit, derartige Bestimmungen vor Verfassungsänderungen zu schützen (Art. 79). Bei der weitgehenden Betonung der Menschenrechte durch internationale Abmachungen und nationale Gesetze verwundert es nicht, wenn sie auch in der Wissenschaft ausgiebig behandelt wurden. Walter Jellinek gab nach dem Zweiten Weltkrieg Seminare über Formulierungen der Menschenrechte. Eine schier unübersehbare Literatur entstand. Ich selbst konnte mich des Bannes dieser Rechte nicht entziehen. All meine Publikationen behandeln sie. Abhandlungen über Menschenrechte wurden von den Aktivitäten privater Gruppen ergänzt. Zu ihrer Erforschung und Förderung wurden die Academy of Human Rights, die International League for Human Rights, die International Commission of Jurists, Amnesty International und viele andere gegründet. 1968 wurde von den Vereinten Nationen zum International Human Rights Year erklärt. Das ist symbolisch für eine Zeit, in der die Betonung der Menschenrechte so weit geht, daß man sie als wahres Superzeitalter der Menschenrechte bezeichnen kann. Das will nicht besagen, daß die Menschen heute schon alle möglichen Rechte genießen. In Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? ist zu lesen, man befände sich zwar in einem Zeitalter der Aufklärung, keineswegs aber schon in einem aufgeklärten. Inzwischen ist die Betonung von Grundrechten derart angestiegen, daß in den letzten zweihundert Jahren ihrer wohl mehr anerkannt wurden als in den vorhergehenden zweitausend. Dennoch ist auch die heutige Situation nicht eine, in der nicht noch mehr Menschenrechte verlangt werden, in der es über diese Rechte nicht weiterer Aufklärung bedürfte. Unsere Zeit ist eine der Vervollkommnung, nicht der Vollkommenheit der Menschenrechte. Wenn die Vereinten Nationen ein Jahr zu dem der Menschenrechte erklärten, so hat dies, wie die Präambel der Charter dieser Organisation, einen ähnlich programmatischen Charakter wie die Aufklärung. Wir befinden uns in einem Superzeitalter der Menschenrechte nicht nur deshalb, weil mehr Rechte als jemals zuvor Anerkennung gefunden haben, sondern auch, weil es in ihm ein wohl noch nie dagewesenes Drängen und Drängeln nach Menschenrechten gibt. Bringt die Flut von Menschenrechten menschenrechtliche Überflutungen?
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2. Angesichts des derzeitigen Drängens nach mehr Menschenrechten muß man sich fragen, ob denn überhaupt von einer Verpflichtung dieser Rechte die Rede sein sollte. Diese Frage scheint besonders deshalb berechtigt, weil es sich bei diesem Drängen offenbar nicht lediglich um eine zeitlich begrenzte Reaktion auf weitergehende Negierungen dieser Rechte unter bestimmten Regierungen handelt, um eine Laune der Zeit, sondern um ein fortgeschrittenes Stadium geschichtlicher Entwicklung, etwas historisch Determiniertes. Die Thronerhebung der Menschenrechte erscheint als Krönung menschlicher Evolution, als Beweis der Behauptung Hegels, der Endzweck der Geschichte sei die Freiheit, als konsequente Folge eines natürlichen Dranges, der bei den Menschen von jeher vorhanden war. Geht man da nicht gegen die Natur an, wenn man beim heutigen Trieb nach Menschenrechten von deren Verpflichtung spricht? Kommt das nicht einer Verneinung, zumindest einer Bezweiflung und somit Gefährdung der Menschenrechte nahe? Spielt es nicht in die Hände des Despotismus? Man schwimmt zweifellos gegen den Strom. Aber mit Strömungen und Überströmungen ist es so eine Sache. Und wie der Mensch Strömen wehrt und durch die Errichtung von Wehren Überflutungen verhindert, wie er sich vor geistigen Strömungen durch Innehaltung eines vernünftigen Maßes geschützt hat, so ist vielleicht auch sein Schutz durch eine Verpflichtung der Menschenrechte angezeigt. Auf den ersten Blick erscheint die Verpflichtung als Gegenteil der Berechtigung, die Pflicht als das des Rechts. Das Recht wird so gesehen, wie es in seiner Reinheit vom Individuum als sein und nur sein Recht aufgefaßt wird, das nicht durch irgendwelche Beschränkungen ästhetischer, ethischer, moralischer oder sonstiger Art beschränkt ist. Es entspricht der reinen Freiheit, die auch von solchen Beschränkungen frei und daher rein ist. Das Recht des Individuums bedeutet hier die Abwesenheit jeder Pflicht, seine Berechtigung die jeder Verpflichtung. Letztere haben andere: Habe ich ein Recht, so haben andere die Pflicht, ihm zu genügen. Im zweiten Akt seines A Woman of No Importance drückt Oscar Wilde das so aus: "Duty is what one expects from others." Danach hat der Soldat die Pflicht, für sein Land und seine Regierung zu kämpfen und zu sterben, und diese haben das Recht, das von ihm zu fordern. Wenn einzelne aufgrund moderner Sozialgesetze das Recht haben, vom Staat etwas zu verlangen, hat dieser die Pflicht, es ihnen zu geben. Recht und Pflicht erscheinen als etwas Absolutes, einander Ausschließendes. Eine derartige Betrachtungsweise, anziehend wie so vieles Reines sie auch sein mag, ist oft der Rechthaberei vergleichbar. Die aber ist verpönt. Der Rechthaber ist, so glaubt man weithin, noch lange nicht im Recht. Recht haben im Sinne individualistischer Rechthaberei und in dem allgemeinen Rechtsempfindens können also zweierlei bedeuten. Dem Rechthaber ist es gleichgültig, ob das, was er als sein Recht verlangt, schlecht oder recht ist, so lange er nur seinen Willen hat. Dieser braucht nicht von irgendwelchen ethischen, moralischen oder objektiv rechtlichen
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Empfindungen genährt zu werden. Er ist von ihnen frei und rein. Was zählt, ist das Verlangen, sein vermeintliches, subjektiv gesehenes Recht durchzusetzen, sei es nun wirklich recht oder auch nur schlecht. Schlecht und recht wird hier der Kampf ums Recht geführt. Von dem, den Jhering im Sinn hatte, ist er weit entfernt, weil er sich um das im objektiven Recht zum Ausdruck gebrachte allgemeine Rechtsempfinden wenig schert. 5 Schon im Alten Testament wird die Rechthaberei getadelt. Elihus Freunde verdammten Hiob, weil er sich für gerecht hielt, und Elihu zürnte darüber, daß Hiob seine Seele für gerechter hielt als Gott (32; 1, 2). Der Prediger Salomo warnte davor, allzu gerecht und weise sein zu wollen (7; 16). Seine Gedanken finden sich im Motto, das Robert Bums seiner Address to the Unco Guid voransetzte, "the rigid righteous is a fool". Wir sehen in Rechthabern Haarspalter, Intolerante, Querulanten und denken an Dinge wie Inquisition, Absolutismus und Despotismus. Vom zumeist eigennützigen und selbstherrlichen Rechthaber ist der zu unterscheiden, den wohl Oliver Wendeli Holmes im Sinn hatte, als er in A Birthday Tribute schrieb: Not always in all men's eyes B ut faithful to the light within.
Hier tritt das Egoistisch-egotistische zurück, tritt der Gedanke hervor, mit dem Recht für eine rechte Sache einzustehen. Das Gefühl für das rechte, richtige Recht, das rechte richtige Licht im Menschen, die innere Stimme des verpflichtenden Gewissens, ist vorhanden. Rechtes Recht: die Tatsache, daß das Adjektiv ,,recht" dem Substantiv ,,Recht" gleicht, zeigt die Verwandtschaft beider. Sie demonstriert, daß Recht recht ist oder recht sein sollte, betont die Verpflichtung des Rechts zum Rechten. Da nun das, was recht ist, für die meisten etwas Ethisches und Moralisches ist, kommt es zur Vermutung des Rechtsanspruchs als etwas Gutem, der Ethik oder Moral Verpflichtetem. Recht und Pflicht, Berechtigung und Verpflichtung erscheinen nicht mehr als Gegensätze. Derjenige, der egoistisch-egotistisch, schlecht und recht auf sein reines, von allen Werten freies Recht pocht, wird eher der Rechthaberei bezichtigt werden als jener, der recht und billig um sein gutes Recht kämpft und es maßvoll aufgrund anerkannter objektiver Normen geltend macht. Diese, selbst wenn sie nur ein ethisches Minimum darstellen, erkennen gewisse Verpflichtungen an. Auf deren Basis wird die Behauptung des Rechts recht und billig, ist sie nicht mehr schlecht und recht. Denn unter dem, was recht ist, wird allgemein das, was billig, nicht aber das, was schlecht ist, verstanden. Der Begriff ,,recht und billig" führt zur Glorie des Rechts Zusammengehörendes zus Gleich zu Beginn von Rudolf von Jherings Der Kampf ums Recht, Wien 1872, steht allerdings : ,,Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst jenen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, das Recht eines Volkes, wie das eines Einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus."
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sammen. "Schlecht und recht" dagegen ist nur eine Redensart, die auf künstliche Weise Entgegengesetztes zusammen erwähnt und das Rechte ähnlich verhöhnt wie die Rechthaberei es tut. 6 Ein Gemeinwesen benötigt nicht das der Pflicht bare Rechthaberische, sondern den Verpflichtungen anerkennenden Rechtsanspruch. Das ist offenbar in dem Teil des Rechts, dem der Rechtsanspruch auf die Stirn geschrieben ist, dem Obligationsrecht Man könnte hier meinen, bei einem Schuldverhältnis sei die Gegenüberstellung von Gläubiger und Schuldner derart kraß, daß lediglich das Gegenüber von Recht und Schuld, von Berechtigung und Verpflichtung, klar zutage tritt. Aber beispielsweise spricht das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch, dessen Schuldrecht vom römischen beeinflußt ist, vom "Recht der Schuldverhältnisse", nicht aber von "Recht und Schuld", was deren Gegenüber klarer hervorgekehrt hätte. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich der Ausdruck "Schuldrecht" eingebürgert. Er verbindet "Recht" und "Schuld" und versinnbildlicht die Verpflichtung desjenigen, der sein Recht gegenüber dem Schuldner geltend macht. Nach dem BGB hat nämlich der Gläubiger eine Verpflichtung gegenüber dem Schuldner. Gleich in den ersten Paragraphen des Rechts der Schuldverhältnisse wird das klargestellt. In § 241 steht: "Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern." Und der folgende Paragraph lautet: "Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern." Demnach hat also auch der Gläubiger bei der Geltendmachung seines Anspruchs Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte als ihn verpflichtend anzusehen. Ein Recht impliziert eine Pflicht, eine Berechtigung eine Verpflichtung. Man wird einwenden, bei Schuldverhältnissen des Privatrechts handle es sich um konkrete, genau bestimmte Obligationen, die von bestimmten Partnern bewußt eingegangen werden, während solche Obligationen zwischen einzelnen und deren Regierung nicht bestehen. Da aber Menschenrechte allgemein das Verhältnis einzelner zum Staat betreffen, könne man von einer Verpflichtung dieser Rechte nicht gut sprechen. Dieses Argument läuft darauf hinaus, daß zu einer Zeit, in der Menschenrechte - Gesetze des Himmels nach Sophokles, ewige Rechte nach Schiller, heilige nach Rarnilton - außerordentlich betont werden, es als wahres Sakrileg erscheinen muß, von ihrer Verpflichtung zu reden. Dem kann entgegnet werden, daß nicht einzusehen ist, weshalb nur diejenigen Rechte, die der Mensch dem Staate gegenüber behauptet, als Menschenrechte anzusehen sind, nicht aber die, welche er einzelnen Mitmenschen gegenüber geltend machen kann. Schließlich sind es in beiden Fällen Menschen, die ihre Rechte beanspruchen. Außerdem gibt es, dem Privatvertrag entsprechend, den Sozialvertrag, und nicht nur als Fiktion. Der Mayflower Compact und die Verfassung von Massachusetts von 1780 zeigen das. Dem privatrechtliehen Gläubiger ähnlich ist die Regierung ein öffentlichrechtlicher 6 Zur Rolle der Rechthaberei im Recht siehe mein: Der Begriff des Rechts (noch nicht veröffentlicht).
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Gläubiger, der gewisse Verpflichtungen gegenüber den Bürgern hat, die sich ihrerseits in einer öffentlichrechtlichen Schuldnerstellung befinden. Der privatrechtliche Gläubiger hat das Recht, vom Schuldner eine bestimmte Leistung zu fordern, aber, jedenfalls nach der Regelung des BGB, auch die Pflicht, Treu und Glauben und die Verkehrssitte zu berücksichtigen. Offenbar erscheint der Rechtsanspruch des Gläubigers hier klarer als seine Verpflichtung. Die Leistung, die er aus einem konkreten Schuldverhältnis fordern kann, ist eine ganz bestimmte. Dagegen ist seine Verpflichtung aufgrund von Treu und Glauben weniger klar. Das deutlich ersichtliche Recht des Gläubigers wird also durch seine weniger deutliche Pflicht beschnitten, etwas Spezifisches durch eine Generalklauset Letztere erscheint trotz ihrer Verpositivierung als Abglanz des Naturrechts vage. Der Gläubiger weiß genau, welches sein Rechtsanspruch ist, aber weniger, welche Verpflichtungen er gegenüber dem Schuldner hat. Dennoch ist diese Verpflichtung da. Man kann in der Regelung des BGB, das Anfang unseres Jahrhunderts in Kraft trat, eine Anerkennung menschenrechtlicher Verpflichtungen auf dem Gebiete des Privatrechts sehen, die im Zuge der seit dem 18. Jahrhundert offensichtlichen Betonung der Menschenrechte liegt. Anzeichen davon gab es allerdings schon früher. Während nämlich nach den Zwölf Tafeln der Gläubiger das Recht hatte, den Schuldner zu zerfleischen (in partes secare) und hinsichtlich der Größe des Stückes freie Hand hatte (si plus minusve secuerint, sine fraude esto), schrieb das Gesetz in Shakespeares Kaufmann von Venedig schon vor, wieviel Fleisch sich ein Gläubiger aus dem Schuldner herausschneiden durfte. Aber auf humanitär-menschenrechtliche Art verweigerte der Richter Shylock sein Pfund Schuldnerfleisch, um Blutvergießen zu verhindern. Hier wurde das Gesetz des Staates gebrochen, weil es vom menschenrechtliehen Standpunkt her verwerflich erschien. Die Hilfe für den Schuldner wuchs weiter bis auf unsere Tage. Der Begriff des nicht pfändbaren, zum Lebensunterhalt Notwendigen wurde ständig erweitert. Das sah man als Aspekt der Humanisierung des Rechts, die der wachsenden Anerkennung der Menschenrechte parallel lief und daher als menschenrechtliches Phänomen gesehen werden kann. Bedenkt man nun, daß der Schuldner immer mehr behalten konnte, was früher als Luxus pfandbar war, fragt man sich, ob denn die moderne Betonung seiner Rechte luxuriös ist. Und sieht man im Recht des Schuldners ein Menschenrecht, so stärkt das den Gedanken an eine Verpflichtung der Menschenrechte.7 Die privatrechtliche Verpflichtung von Rechtsansprüchen läuft parallel zur öffentlichrechtlichen, wie sie im Straf-, Staats- und Verwaltungsrecht zustande kam und aus Strafmilderungen und immer längeren Grundrechtskatalogen ersichtlich ist. Man kann den Schuldner des Privatrechts mit dem Bürger des öffentlichen Rechts vergleichen. Zweifellos war der Untertan vor allem Schuldner des absoluten Herrschers. Er hatte diesem gegenüber viele Pflichten und wenig Rechte. Die großen liberalen und demokratischen Revolutionen stärkten seine Stellung als Bür7 Siehe mein Zur Verteidigung des Eigentums, Tübingen 1978, 6 f., 38 f., 145, 173 ff., 200 ff.
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ger und hatten seine wachsende Emanzipation zur Folge. Diese ist auch in heutigen demokratischen Staaten noch nicht abgeschlossen. Dennoch sind Bürger im Grunde der Regierung Schuldner geblieben. Bei der Steuererhebung und der Aushebung zum Wehrdienst wird das hinreichend klar. Offenbar gab es Wechselwirkungen zwischen privatrechtliehen und öffentlichrechtlichen Entwicklungen. Wie der Schuldner, der früher versklavt, leiblichen Strafen ausgesetzt und eingesperrt werden konnte, zunehmend von diesen und anderen Belastungen gesichert wurde, wurden Untertanen und Bürger fortschreitend von Restriktionen durch die öffentliche Gewalt geschützt. Wie Schuldner immer mehr von Gläubigem verlangten, so beanspruchten Untertanen und Bürger immer mehr von Regierungen. Beim Kampf um die Magna Charta handelte es sich zum guten Teil um aus dem Feudalismus hergeleitete Rechte. Sie trugen in vieler Hinsicht privatrechtliehen Charakter und waren hauptsächlich die des Eigentums, die man unterdrückt wähnte. Um derartige Rechte ging es auch zur Zeit des Merkantilismus, die schon im Zeichen der öffentlichrechtlichen Gegenüberstellung des Monarchen zu seinen Untertanen stand. Daneben kämpften letztere für andere Rechte, die von Monarchen unterdrückt wurden. Diese Forderungen wurden zunehmend von solchen zur Teilnahme an der Regierung ergänzt. Nach Ausdehnungen des Wahlrechts und Demokratisierungen endlich wurden Rechte wie die auf Alters- und Krankenversorgung sowie solche auf Ausbildung und bezahlte Ferien verlangt. Bedenkt man, daß ursprünglich allein Unterdrückung durch die öffentliche Gewalt der Anlaß für die Forderung von Menschenrechten war, nun aber Rechte von Regierungen gefordert wurden, die nicht mehr als despotisch angesehen werden konnten, fragt man sich, ob auch diese Rechte als Luxus angesehen werden können. Maurice Cranston deutet das an, wenn er von "sogenannten Menschenrechten" spricht. 8 Auch das legt eine Untersuchung der Verpflichtung der Menschenrechte nahe. Die Frage nach den Pflichten derer, die im Luxus leben, ist alt. Ihre Problematik ist von jeher dringlicher erschienen als die von arm und reich. Meist ist man offenbar geneigt gewesen, Reiche und Arme zu akzeptieren, sonst hätte es sie durch die Zeiten hindurch kaum immer gegeben. Mit dem Luxus ist das anders. Da kommt der Gedanke unnötigen Reichtums in den Sinn, unverdienten Wohllebens und Genusses, der Verschwendung, der Prahlerei und Prasserei, der arroganten Verspottung derer, die sich keinen Luxus leisten können oder wollen, der Übermut, sie zu provozieren. In Rom wurde das Eigentum als ius utendi, fruendi, abutendi definiert. Dagegen hat man lange nichts eingewendet, weil die weitgehende Herrschaft über die Sache als Wesensmerkmal des Eigentums galt. Das änderte sich zunächst im Hinblick auf das ius abutendi, den gewollten Mißbrauch. Später wurde es auch als Mißbrauch angesehen, wenn jemand sein Land brach liegen oder seinen Wohnraum unbesetzt ließ. Aber zur Rechtfertigung solcher Einstellungen konnte man immer noch anführen, das ius abutendi gehe ja nicht direkt auf Kosten anderer, s What Are Human Rights, New York 1973, 68. 10*
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und das Argument überhören, es täte dies indirekt, weil ja Bedürftigen Land und Wohnung vorenthalten wurde. Die Sache liegt anders, wenn man dem Schuldner übennäßige Rechte gegenüber dem Gläubiger einräumt. Dann geht das klar auf Kosten des Gläubigers und dessen Recht, während der Schuldner frohlockt ob solch luxuriöser Berücksichtigung seiner Interessen. Ähnlich ist es, wenn man bezahlte Ferien verlangt. Auch für die muß ein anderer aufkommen gegen seinen Willen, wenn sie von der Regierung verordnet werden. Und wenn die verschiedensten Versorgungen durch den Staat verlangt werden, müssen die einen für die anderen herhalten, und letztere haben das Lachen. In solchen Fällen ist also wohl bei den Fordernden Maß am Platze sowie das Bewußtsein ihrer Verpflichtungen gegenüber anderen, die auch Menschen sind und deren Menschenrechte auch Achtung verdienen. Menschenrechtlicher Luxus ist zweifelhaft wie jeder andere. Es ergibt sich demnach folgende Rechtslage. Im Privatrecht kann der Schuldner aufgrund menschenrechtlicher Argumente Schutz vor dem Gläubiger beanspruchen, also vom Gläubiger etwas verlangen. Der Gläubiger ist verpflichtet, dem stattzugeben. Im öffentlichen Recht kann der Bürger auf der Basis solcher Argumente dem Staate gegenüber gewisse Rechte geltend machen. Der Staat ist verpflichtet, sie zu gewähren. Das alles sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Schuldner verpflichtet bleibt, seine Leistung zu erbringen, und der Bürger seine Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen erfüllen muß. Dem Recht entspricht die Pflicht, und die Pflicht entspricht dem Recht. Der Berechtigung entspricht die Verpflichtung nicht nur in dem Sinn, daß Gläubiger und Staaten in dem Maße verpflichtet sind, in dem ihnen gegenüber Schuldner bzw. Bürger berechtigt sind, sondern auch in dem, daß Gläubiger und Regierungen Schuldnern und Bürgern gegenüber Rechte geltend machen können. In einem auf Recht und Ordnung beruhenden Gemeinwesen stehen sich Rechte und Pflichten, Berechtigungen und Verpflichtungen nicht nur lediglich gegenüber, sie sind im Sinne der Gemeinschaft auch integriert. Die von einer wachsenden Anerkennung der Menschenrechte gekennzeichnete Entwicklung hat im Privatrecht zu einer steigenden Verpflichtung des Gläubigers gegenüber dem Schuldner geführt und im öffentlichen Recht zu einer wachsenden Verpflichtung der Regierung gegenüber dem Bürger. Dennoch oder gerade deshalb - sollte nicht vergessen werden, daß auch Schuldner Gläubigem gegenüber Verpflichtungen haben. Es wäre absurd, den Schutz des Schuldners gemäß Treu und Glauben derart auszudehnen, daß der Gläubiger den Glauben an Treu und Glauben, an die Vertragstreue des Vertragspartners verlieren muß. Seine ganze Haltung fußt ja auf dem Glauben an die Vertragstreue des Schuldners. Ähnlich absurd wäre es, dem Bürger so weitreichende Ansprüche auf Menschenrechte zu geben, daß es dem Gemeinwesen schadet, denn gerade dieses sorgt ja mit seiner Rechtsordnung für diese Rechte. Ohne eine klare, objektive Rechtsordnung und deren Achtung kann man zwar egoistisch das, was man rechthaberisch als sein Recht ansieht, ·in rücksichtsloser, von allen Hemmungen freien Weise bis zum äußersten treiben. Man kann zum reinen subjektiven Rechtsanspruch vordringen, den als sein Menschenrecht be-
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trachten und sich hämisch und höhnisch über die Rechte anderer hinwegsetzen. Die von der staatlichen Ordnung allen Bürger garantierten Menschenrechte sind dann nicht mehr möglich. Es gäbe diese Rechte nur noch im Zeichen der Anarchie, in der sie ihr Wesen und Unwesen treiben.
3. Da die gesetzgebensehe Entwicklung zu einer steigenden Anerkennung von Menschenrechten geführt hat, ist es angezeigt, Begründungen für deren Verpflichtung außerhalb des positiven Rechts zu suchen, wie man ja auch zu der Zeit, als diese Rechte durch despotische Dekrete, Gesetze und Verordnungen mißachtet wurden, mit naturrechtliehen Argumenten für sie warb. Das Naturrecht ist eine wichtige Waffe des Maßes und seines Messens. Seine ewige Wiederkehr zeigt sich bei der Behauptung und Verpflichtung von Menschenrechten, und das Anliegen solcher Verpflichtung ist keineswegs menschenrechtsfeindlich. Es kann, ganz im Gegenteil, ihrer Sicherung dienen. Kant war ein so großer Verfechter der Menschenrechte, daß Georg Simmel in seinem Berliner Vortrag zum 100. Jahrestag seines Todes bemerkte, der Begriff der Individualität sei das Grundmotiv Kantischer Philosophie und die Entwicklung individueller Freiheit habe mit Kant einen Höhepunkt erreicht. Wer aber denkt bei dem Befreier aus Königsberg in Preußen nicht an kategorische Imperative? Im Einklang mit der Heidelberger Schule betonte Richard Kroner Kants Einsicht, daß die Verwirklichung menschlicher Freiheit des Menschen Fähigkeit und Pflicht krönt. Kant verband der Menschen Recht mit ihrer Pflicht. Gerade von ihm stammt der wohl bekannteste Ruf zur Pflichterfüllung, wenn es in seinen Ausführungen zu den Triebfedern der praktischen Vernunft heißt: "Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nicht drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüthe Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegen wirken: welche ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachläßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein geben selbst können?" Bei diesen Worten kommen die des Sophokles in den Sinn. Wie Antigone nach dem Ursprung der unveränderlichen, ungeschriebenen Gesetze des Himmels fragt, fragt Kant nach dem Ursprung der Pflicht, die für ihn das alter ego des Rechts ist. Er mildert die Spannung zwischen Antigone und Kreon und bildet eine Synthese aus Pflicht und Recht.
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Im Jahre nach Kants Tod dichtete Wordsworth seine
Ode toDuty Stern Daughter of the Voice of God! 0 Duty! if that name thou Iove Who art a light to guide, a rod To check the erring, and reprove; Thou, who art victory and law When empty terrors overawe; From vain temptations dost set free; And calm'st the weary strife offrail humanity! There are who ask not if thine eye Be on them; who, in Iove and thruth, Where no misgiving is, rely Upon the genial sense ofyouth: Glad Hearts! without reproach or blot; Who do thy work, and know it not: Oh, if through confidence misplaced They fail, thy saving arms, dread Power! around them cast. Serene will be our days and bright, And happy will our nature be, When Iove is an unerring light, And joy its own security. And they a blissful course may hold Even now, who, not unwisely bold Live in the spirit of this creed; Yet seek thy firm support, according to their need. I, loving freedom, and untried; No sport of every random gust, Yet being to myself a guide, Too blindly have reposed my trust: And oft, when in my heart was heard Thy timely mandate, I deferred The task, in smoother walks to stray; But thee I now would serve more strictly, if I may. Through no disturbance of my soul, Or strong compunction in me wrought, I supplicate for thy control; But in the quietness of thought: Methis unehartered freedom tires; I feel the weight of chance-desires: My hopes no more must change their name, I long for a repose that ever is the same.
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Stern Lawgiver! yet thou dost wear The Godhead's most benignant grace; Nor know we any thing so fair As is the smile upon thy face: Flowers laugh before thee on their beds And fragrance in thy footing threads; Thou dost preserve the stars from wrong; And the most ancient heavens, through Thee, are fresh and strong. To humbler functions, awful Power! I call thee: I myself commend Unto thy guidance from this hour; Ob, Iet my weakness have an end! Give unto me, made lowly wise, The spirit of self-sacrifice; The confidence ofreason give; And in the light of truth thy Bondman Iet me live!
Der Ausgabe von 1837 setzte Wordsworth das Motto voran, jam non consilio bonus, sed more eo perductus, ut non tantum recte facere possim, sed nisi recte fecere non possim. Er fügte hinzu, es sei ihm oft vorgeworfen worden, seine Verpflichtung an den "ernsten Gesetzgeber" vergessen zu haben, und bekennt: "In der Tat habe ich sie von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag mißachtet. Jedoch, so will ich hoffen, nicht flagranter oder schlimmer als die meisten meiner lieben (tuneful) Brüder .. . Wir sollten uns gegenüber immer streng sein und anderen gegenüber nachsichtig, wenn auch nicht im Übermaß. Wenn wir überhaupt Vergleiche ziehen, so sollte es zu denen sein, die uns moralisch übertroffen haben." Ermahnungen zur Pflichterfüllung gab es nicht nur zur Zeit des Idealismus. Schon Diogenes Laertius ließ Pittacus sagen: ,,Erfülle gut die Pflicht, die vor dir liegt". 9 Seneca meinte, es sei lobenswert, das zu tun, was man tun sollte und nicht das, was man will, id facere laus est quod decet, not quod licet. 10 Nach Cicero konnte keine Phase des Lebens von der Pflicht frei sein, nulla vitae pars neque publicis neque privatis ... vacare officio potest. 11 Im 10. Buch der Konfessionen St. Augustins steht, daß wir kein Lob verdienen, wenn wir tun, was wir tun sollten, weil das unsere Pflicht ist. Und so geht es fort bis zu Goethe, der in seinen Betrachtungen im Sinne der Wanderer schrieb: "Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages." In Mazzinis Giovine Europa lesen wir: ,,Jede Mission ist eine Verpflichtung. Jeder muß alles tun, sie zu erfüllen. Er wird sein Gesetz des Handeins aus der tiefen Überzeugung von dieser Pflicht herleiten." Ralph Waldo Emerson bewegte nur das, was man tun muß und nicht, was die Leute denken. 12 Unter der i, 77. Octavia, Zeile 454. 11 De officiis, I, ii, 4. 12 Essays, First Series: Self-Reliance.
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Büste von Robert E. Lee in der Hall of Farne des amerikanischen Kongresses steht: "Duty then is the sublimest word in our language. Do your duty in all things. You cannot do more. You should never wish to do less." Diese Forderungen zeigen die Pflicht als weiten, generellen Begriff. Allgemein spricht man von ihr schlechthin, ohne besondere Erklärungen, als etwas täglich Verlangtes. Immer und überall ist sie da, ob nun Kant eine Reihe kategorischer Imperative nennt oder Thomas Carlyle eine Verpflichtung der anderen folgen läßt, wenn er in Sartor Resarius schreibt, durch Erfüllung der einem am nächsten liegenden Pflicht werde die nächste Pflicht klar. 13 Pflichterfüllung erscheint als etwas, das kein Lob verdient, weil es dem guten Menschen ohnehin eigen ist. Und doch wissen wir, wie wenig selbstverständlich die Pflichterfüllung von jeher war. Mit ihr war gewöhnlich die Abstinenz, die Bezwingung des eigenen Ichs verbunden. Sie galt als Gegenteil des der menschlichen Natur inhärenten Eigennutzes. Besonders seit die amerikanische Unabhängigkeitserklärung den Verfolg des Glücks als unveräußerliches Menschenrecht nannte, sind viele Menschen hauptsächlich auf ihren eigenen, meist materiellen Vorteil aus. Diese Einstellung wurde im Zeitalter des Liberalismus durch den Vormarsch der Freiheit des einzelnen wesentlich vorangetrieben. Der Gedanke der Pflichterfüllung trat immer mehr zurück, denn der Freiheitstrieb ist eigentlich ein Hieb gegen das Pflichtgefühl. Das wurde immer klarer mit dem Kommen dessen, was Carl J. Friedrich nach seiner Einwanderung in die Vereinigten Staaten unter Anspielung auf die Lage und Mission dieses Landes als The Age of the Common Man bezeichnete. Während im konservativen England Southey in der 65. Strophe seiner Carmen Nuptiale noch schrieb, "Of all the ways of life but one- The path of duty - Ieads to happiness", tendierte der "American way of life" mit seinem pursuit of happiness eher zum egoistischen und materialistischen Verfolg des Glücks, der den Gedanken der Pflichterfüllung ausklammerte und deshalb von Kant verurteilt wurde. So nimmt es nicht wunder, daß George Santayana, gegen die idealistische Schule revoltierend, in seinem Essay über Kant schrieb, ein in der Wildnis schreiender kategorischer Imperativ, eine Pflicht, nach der sich niemand zu richten braucht und unter deren Nichtbefolgung niemand zu leiden braucht, erscheine als eine ziemlich verlorene Autorität. Das paßte in den Beginn des 20. Jahrhunderts, des amerikanischen, als in den USA eine große Anzahlliberaler Variationen zustandekamen und die einen die anderen ablösten. Da wartete dann nicht mehr eine Pflichterfüllung auf die nächste, vielmehr war es so, daß man liberalerweise unter Mißachtung von Verbindlichkeiten von einem eigennützigen Verfolg seiner Interessen zum anderen hastete im pursuit of happiness. Für den gewöhnlichen Menschen, den "common man", ist es sicher nicht so einfach, die Entsagung über den Genuß zu stellen, Erfüllung der Pflicht über die von Wünschen. Im 5. Buch von Wordsworths The Excursion heißt es:
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Buch 2, Kap. 9.
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A light of duty shines on every day For all; and yet how few are warmed and cheered!
Nach dem ersten Weltkrieg schrieb H. L. Mencken in seinen Vorurteilen über Professor Veblen, das Pflichtgefühl sei eine Tortur. Offenbar wurde die Pflicht als Last empfunden und als etwas Lästiges ungern erfüllt. Andererseits sah man die westliche Kultur von dem Gedanken getragen, daß Pflichten neben Rechten einhergehen, Verpflichtungen neben Berechtigungen, daß Menschenrechte verpflichten. Unbequem wie sie sein mochte, wurde die Pflicht oft selbstverständlich, wenn nicht mit Freuden, erfüllt. Dulce et decorum est pro patria mori ist ein bekannter Satz, und Oliver Wendeli Holmes betonte, er bezahle gern seine Steuern. Aber in unserer Zeit machte Heinrich Böll aus den Worten von Thermophylae höhnisch und herablassend "Wanderer, kommst du nach Spa" und damit die im Heldentod endende Pflichterfüllung zur Farce. Und als bei meinen Rechtsstudien an der von Jefferson gegründeten Universität von Virginia Professor Carl McFarland die freudige Bereitschaft des großen Richters und Rechtsphilosophen, seine Steuern zu zahlen, erwähnte, brachen seine Hörer in Lachen aus. All das geschah nach dem Zweiten Weltkrieg. In unserem Jahrhundert wurde vielen klar, daß es neben der Pflichterfüllung deren Ausnutzung gab. Da des einzelnen Pflichtgefühl gegenüber dem Staat und seiner Regierung von diesen ausgebeutet wurde, gelangte man zu der Ansicht, eine Ausnutzung des Pflichtbewußtseins könne übler noch sein als Pflichtvergessenheit. 1914 starben junge deutsche Soldaten in ihnen selbstverständlicher Pflichterfüllung und dem Glauben, es sei süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben, bei Langemarck mit dem Deutschlandlied auf den Lippen. Aber je länger der aufreibende Stellungskrieg dauerte, um so mehr fragte man, ob denn für die Regierenden die Pflicht in der Hauptsache darin bestand, andere für sich kämpfen, leiden und sterben zu sehen. Erich Maria Remarque mochte seinem Bestseller Im Westen Nichts Neues die Bemerkung voranstellen, dieses Buch solle weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein, es solle nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam. Es war doch eine schreiende Anklage gegen all die, die das Pflichtgefühl anderer ausnutzten bis zu deren Siechtum, VerkruppeJung und Tod. Es war ein offenes Bekenntnis, daß es nie wieder Krieg geben dürfe. Mein Vater, der einen Bruder verlor, sagte oft, wenn der Erste Weltkrieg die Menschen zu dieser Einsicht bringen würde, dann seien seine Opfer nicht umsonst gewesen. Dem kategorischen Imperativ der Pflichterfüllung wurde der der Nichtausnutzung des Pflichtgefühls entgegengestellt. Das trug zweifellos mit dazu bei, daß es beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Deutschland auch nach Jahren der Einhämmerung des Pflichtbewußtseins gemäß der Parole "wer auf des Führers Fahne schwört, hat nichts mehr, das ihm selbst gehört", wenig Begeisterung gab für den Krieg. Meine Mutter, deren einziger Bruder im Ersten Weltkrieg fiel, kam am Morgen des Kriegsausbruchs weinend in mein Zimmer mit den Worten "nun geht es wieder los". Und je länger
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der Krieg dauerte, um so mehr wurde klar, daß das, was Machthaber den Menschen als Pflichterfüllung abverlangten, oft nichts war als eine schamhafte Ausnutzung eines ehrenvollen Begriffs durch ehrlose Verbrecher. Bei der Steuererhebung war es nicht viel anders. Man bezahlte mehr oder weniger bereitwillig Steuern, so lange es keine progressive Steuer gab. Als man zur Zeit der Französischen Revolution eine derartige Steuer vorschlug, bemerkte der Liberale A. R. Turgot, wie Gentz schreibt, man solle den Urheber dieses Plans exekutieren, nicht aber den Plan selbst. Friedrich Gentz bezeichnete diese Steuer als nicht viel besser als einen Straßenraub. 14 Als sie in den dreißiger Jahren des folgenden Jahrhunderts verlangt wurde, reagierte J. R. McCulloch so: "In dem Augenblick, in dem das Grundprinzip aufgegeben wird, von allen Individuen denselben Prozentsatz ihres Einkommens oder ihres Eigentums zu verlangen, ist man auf See ohne Steuer oder Kompaß und es gibt keine Ungerechtigkeit und Torheit, die nicht begangen werden könnte." 15 Das Kommunistische Manifest schlägt eine starke progressive Steuer vor, um dem Bourgeois sein Kapital wegzunehmen und die Produktionsmittel beim Staate zu konzentrieren. Die allgemeine Meinung entsprach damals jedoch eher der Bemerkung von Adolphe Thiers, die Proportionalität sei das Prinzip, die Progression hingegen nichts als hassenswerte Willkür. 16 Im gleichen Jahr bezeichnete John Stuart Mill sie als eine milde Form von Raub. 17 Als Holmes bemerkte, er zahle gern seine Steuern, war die Steuer in den Vereinigten Staaten bei weitem nicht so progressiv, wie sie es später wurde. So ist es fraglich, ob er unter den späteren Umständen seine Steuern weiter so gern gezahlt hätte. Jedenfalls dürften diejenigen, die das Menschenrecht des Eigentums geschützt sehen wollten, in der Zahlung progressiver Steuern einen Begriff der Pflichterfüllung sehen, den die Regierung ihnen gegenüber ausnutzt. Diese Beispiele zeigen, wie die Regierungen mit diesem Begriff, oft unter dem Vorwand der Staatsräson und des Gemeinwohls, die Regierten im eigenen Interesse übervorteilten. Da verwundert es kaum, daß die Menschen ihm gegenüber skeptisch wurden, zumal in Verbrauchergesellschaften die Lockungen des süßen Lebens, des dolce vita, immer größer wurden und Freud im Zuge von Amerikanisierungen immer mehr zum Zuge kam. Hinzu kommt, daß in der neuen Welt infolge dauernder Liberalisierungen die von Jefferson geäußerten ethischen und moralischen Warnungen zunehmend ignoriert wurden, der von ihm geprägte Begriff des pursuit of happiness bloß oberflächlich - at face value - gesehen und dem egoistischen Verfolg des Glücks in materialistischen Formen, die oft den Charakter des
14
138.
Über die Hilfsquellen der französischen Regierung, in Historisches Journal, III (1799),
15 On the Complaints and Proposals Regarding Taxation, in Edinburgh Review, LVII (1833), 164. 16 De 1a propri~t~. Paris 1848, 319. 17 Grundsätze der politischen Ökonomie, deutsch von W. Gehrig, Jena 192l, II, 475.
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Glücksspiels annahmen, freier Lauf gelassen wurde. An seine Verpflichtungen dachte man dabei immer weniger, wenn überhaupt noch. Immer mehr wurde den Menschen bewußt, daß Wildes Äußerung, Pflicht sei, was von anderen erwartet wird, nur allzu oft bewiesen wurde. Da gab es nicht allein einzelne, die etwas von anderen erwarteten, das ihnen zugute kam und deren Pflichtbewußtsein entsprechend ausnutzten: Eltern gegenüber Kindern, Lehrer gegenüber Schülern, Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmern, um nur einige zu nennen. Da war auch der Leviathan, der Moloch Staat, dessen Pflichtverlangen die Menschen ausgesetzt waren, sei es auf Betreiben Mehrheiten bildender Parteien, auf das einer einzigen Gruppe oder eines einzelnen, welch schönen Titel er sich auch zulegen mochte. Sie alle vergaben sich wenig, wenn sie von anderen im Namen der Pflichterfüllung viel forderten bis zur Aufopferung hin.
4. All dies wirft die Frage nach der heutigen Bedeutung der Pflicht auf. Man hat zwar viel von Pflicht gesprochen, sich aber offenbar wenig verpflichtet gefühlt, sie zu definieren. An bestimmten Erscheinungen der Pflicht hat es nicht gefehlt. Wenn Eltern ihren Kindem sagen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn Lehrer Schülern etwas aufgeben, Unternehmer von Angestellten gewisse Arbeiten verlangen und der Staat von seinen Bürgern Opfer fordert, wird im einzelnen klar gemacht, was Verpflichtungen sind. Aber die Pflicht als genereller Begriff, die Verpflichtung an sich, ist noch nicht definiert worden, wenn sie auch häufig besungen wurde. Das erscheint auf den ersten Blick eigenartig, ist aber wenig verwunderlich. Man ist oft mit einem allgemeinen Begriff schnell zur Hand, selbst wenn man nur eine ganz bestimmte Anwendung im Sinne hat. Er erscheint dann in seiner Allgemeinheit bequem und überzeugend. Das Schlagwort schlägt ein bei dem, für den es im bestimmten Fall gemeint ist. Das Nichtbemühen um eine Definition der Pflicht an sich wäre dann auf die Überlegung zurückzuführen, daß sich mit schlagfertigen, kurzen, markanten Konzepten besser operieren läßt als mit wohldurchdachten, sophistischen, daß die Würze in der Kürze liegt und man mit dem Simplen besser fährt als mit dem Komplizierten. Dieses Argument entspringt der Denkfaulheit, aber auch der Schläue derer, die anderen ihre Verpflichtungen vorbeten. Es rechnet mit der Dummheit und Naivität derjenigen, die zur Pflichterfüllung angehalten werden. Es kann von vielen gebraucht und mißbraucht werden, die andere zur Pflichterfüllung mahnen, und dürfte besonders denen willkommen sein, die der Ansicht sind, Pflicht sei, was von anderen verlangt wird. Man kann den generellen Pflichtbegriff auch sich selbst gegenüber anwenden, indem man einfach gerade das tut, was der Neigung entgegensteht. Auch hier erscheint dieser Begriff als etwas, dessen Definition man aus Bequemlichkeit unterläßt
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Andererseits kann man deshalb noch nicht zu einer Definition der Pflicht an sich gelangt sein, weil es schwierig ist. Obwohl man so manche Aufgabe aus Bequemlichkeit umgeht, dürfte die der Definition eines Konzepts, das wahrscheinlich seit Menschengedenken da ist, nicht zu ihnen gehören. Träge wie die Menschen sind, hat es stets solche gegeben, die Klarheit und Wahrheit suchten und forsch nach ihr forschten. Denken wir nur an Perrys strapaziöse Eroberung des Nordpols, an Messners Erklimmen aller Achttausender, an die entbehrungsreichen Expeditionen eines Darwin, eines Hedin, an Piccards Untersuchungen der Stratosphäre und der Meerestiefen, an die entsagungsvollen Entdeckungen und Fortschritte der Wissenschaft. Dabei waren neben anderen Motiven sicher auch Pflichtgefühle vorhanden. Es ist somit nicht anzunehmen, daß man sich bei jahrtausendelangem Streben nicht um eine Definition der Pflicht bemüht hätte. Die Abwesenheit einer solchen deutet darauf hin, daß sie nicht möglich ist. Man hat lange gefragt, was die Freiheit ist. Montesquieu zählte im 11. Buch seines Werkes vom Geist der Gesetze vieles auf, was als Freiheit verstanden wurde, um dann schließlich zu dem Ergebnis zu gelangen, sie sei das von den Gesetzen Erlaubte. Das aber ist lediglich eine von den Gesetzen eingeschränkte Freiheit, nicht aber die volle. Regel erwähnte in § 15 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts, die gewöhnlichste Vorstellung der "Freiheit überhaupt" sei, "daß man tun könne, was man wolle". Und John Stuart Mill schließt sich dem an, wenn er im letzten Kapitel seines On Liberty schreibt, die Freiheit bestände darin, zu tun, was man wolle - liberty consists in doing what one desires. In der Tat ist diese, von allen Beschränkungen freie und daher reine Freiheit die einzige befriedigende Definition der Freiheit. Bei der Pflicht gibt es eine solche klare und endgültige Definition nicht. Die Pflicht läßt sich nicht auf ihre reine Essenz reduzieren, läßt sich nicht definieren. Wildes Definition läßt die Pflicht, etwas von sich selbst zu verlangen, an der Kant gelegen war, aus. Der Ausdruck, man tue etwas aus reinem Pflichtbewußtsein, ist nur eine Redensart, die besagt, daß man nur aus Pflichtbewußtsein handelt. Denn ein reines Pflichtgefühl in dem Sinne, daß es von allen ästhetischen, ethischen, moralischen, rechtlichen und anderen Erwägungen völlig frei und daher rein ist, gibt es nicht, da ja gerade die Präsenz solcher Erwägungen diesem Gefühl innewohnt. Im Gegensatz zur Freiheit ist die Pflicht nicht bestimmbar, ist sie immer relativ, an jeweils verschiedene Sollensbestimmungen gebunden und von ihnen entsprechend jeweiligen Wollensregungen geleitet. Bei der Definition der Freiheit kann man von der Abwesenheit aller Restriktionen als der Freiheit wesentlich ausgehen. Bei der Pflicht muß man eine Unmenge von Restriktionen in Rechnung stellen, was eine klare Definition, wie sie sich bei der Freiheit anbietet, nicht möglich macht. Das heißt nicht, daß man sich nicht mit dem Versuch einer Definition befassen solle, die unter gewissen Umständen als gerechtfertigt erscheint. Mit dem Ursprung der Pflicht will ich mich nicht weiter befassen. Er geht wohl so weit zurück, wie der der Freiheit und des Rechts, denn wenn die Pflicht zur Freiheit in Bezie-
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hung steht wie auch zum Recht, muß sie so alt sein wie die beiden. Die rücksichtslose Ausübung der Freiheit ließ bei den Geschädigten sicher gleich den Gedanken der Verpflichtung der Freiheit erwachen und damit den des Unrechts und des Rechts. Ob und wie dann der Pflichtbegriff im einzelnen innerhalb der Familie, der Schule, der Vertragspartnerschaft, der Kirche, des Staates oder sonstiger Gemeinschaften herausgearbeitet wurde, soll hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls findet er sich in den meisten Gemeinschaften, und unter ihnen haben sicher Wechselwirkungen stattgefunden. Bedeutend erscheint für die Langlebigkeit des Pflichtbegriffs die Tatsache, daß er auch mit dem Aufkommen liberaler Gedanken und deren Betonung von der Aufklärung an nicht unterging. Man kann zum Beispiel die Werke von Montesquieu und Adam Smith nicht lesen, ohne beeindruckt zu sein von ihren Ermahnungen zur Pflichterfüllung, und es ist vielleicht nicht ohne Bedeutung, daß die Pflichtbekenntnisse eines Kant und Wordsworth Ende des moralischen und Anfang des liberalen Jahrhunderts zustande kamen, als ob man sicher gehen wollte, daß mit dem Kommen größerer Freiheiten die Verpflichtungen derselben nicht vergessen würden. So dürfte es sich beim Versuch einer zeitgemäßen und entsprechend mäßigen Definition der Pflicht empfehlen, die Wende vom moralischen zum liberalen Jahrhundert, vom Absolutismus mit seinem Klerikalismus zum Liberalismus mit seinem Antiklerikalismus zu berücksichtigen, also das Gehen vom Alten zum Neuen. Bei aller Wendigkeit sollte aber nicht das Gute des Herkömmlichen entgehen. Nach Ausnutzungen des Pflichtbegriffs in unserem Jahrhundert sowie der ihnen folgenden Tendenzen zur Pflichtvergessenheit sollte ein modernes Pflichtbewußtsein in gesundem Abgewogensein wohl maßvoll in der Mitte liegen. Kant, der unter dem Absolutismus litt, zeigte an, daß der Pflichtgedanke von den Herrschern ausgenutzt wurde. Um dem entgegenzuarbeiten, schrieb er, die Pflicht drohe nicht zu einer Handlung, gegen die das Gemüt eine natürliche Abneigung verspürt und vor der es zurückschreckt. Das kann man dahin auslegen, daß Untertanen und Bürger den ihr Pflichtbewußtsein ausnutzenden Herrschern nicht zu gehorchen brauchen, wenn letztere gegen das Naturrecht verstoßen. Dem Argument, Kant habe einen strengen Gesetzesgehorsam verlangt, kann entgegnet werden, daß diese seine Ansicht nur auf die Untertanen aufklärerischer Herrscher zutrifft, die, wie Friedrich der Große, sich als erste Diener des Staates sahen und damit ihre eigenen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft anerkannten. Man kann sich auf die berühmte Stelle im Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft berufen, die geeignet ist, Verpflichtungen gegenüber willkürlichen Herrschern abzuschwächen: ,,Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der b e s t i r n t e H i m m e l über mir, und das m o r a lisehe Gesetz in mir ." Andererseits läßt Kant wenig Zweifel über die Verpflichtungen der Pflicht. Die Pflicht drängt den Menschen zwar nicht zu etwas, das natürliche Abneigung in
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ihm hervorruft, aber doch dazu, seinen Neigungen entgegen zu handeln. Sie faßt "nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt", in sich, sondern stellt "ein Gesetz" auf, "welches von selbst im Gemüte Eingang findet" und "sich selbst wider Willen Verehrung (wenn nicht gleich immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegen wirken." Sie verlangt "Unterwerfung" unter dieses Gesetz, welches verehrt wird, obgleich es der Neigung entgegensteht. Unter ihm kann manalldas verstehen, was den einzelnen auf natürliche Weise binden sollte, ohne seinen Ekel zu erregen. Da sind zunächst die von außen an den Menschen herantretenden staatlichen Gesetze, in denen Kant im aufklärerisch regierten Preußen seiner Zeit wohl ein moralisches Minimum sah. Sie waren unter der von ihm bevorzugten republikanischen Regierungsform, unter der die Gesetzgeber den Gesetzen unterworfen waren, strikt zu befolgen, weil sie den Bürgern ein Maximum an Freiheit sicherten. Anders war es bei der Demokratie, die Kant im ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden heftig kritisiert und die für ihn derartig despotisch ist, daß er ihr den Despotismus unter der Obergewalt eines einzelnen vorzieht. Aber die Pflichterfüllung geht über das ethische Minimum der Gesetzesbefolgung hinaus. Der einzelne muß entgegen seiner Neigung mehr für andere tun, als positive Gesetze es vorschreiben. Er muß dem moralischen Gesetz in sich folgen. Das ist offenbar das, was in seinen Ausführungen zu den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft als das "Gesetz aller Gesetze" bezeichnet wird, nämlich das Gebot " I i e b e G o t t ü b e r a 11 e s und deinen Nächsten a I s dich s e 1 b s t ". Es steht im Gegensatz zum Prinzip der eigenen Glückseligkeit, " 1 i e b e d i c h s e 1 b s t ü b e r a 11 e s , Gott aber und deinen Nächsten um dein s e 1b s t w i 11 e n ".Bedenkt man nun, daß Kant sein Leben lang über seine Nächsten und die Menschen schlechthin wegen ihrer egoistischen Neigungen Zweifel hegte, daß er auch in seinem letzten größeren Werk, am Ende seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt, sich die Worte Friedrichs des Großen, der von "cette maudite race a laquelle nous appartenons" sprach, zunutze machte, so zeigt sein Pflichtbegriff gewiß Idealismus. Der Romantiker Wordsworth sieht in der Pflicht die Tochter der Stimme Gottes, in Pflichterfüllung den Sieg des Gesetzes. Wir dürfen annehmen, daß er unter "law" nicht nur das von Regierungen gesetzte Recht versteht, sondern das Wort in dem in England gebräuchlichen Umfange gebraucht, also das Gewohnheitsrecht und das Naturrecht sowie das moralische Gesetz einschließt. Die Pflicht hält Irrende im Zaum, maßregelt sie, schützt vor Überwältigungen durch leeren Terror und eitle Versuchungen, befriedet den zermürbenden Hader der schwachen Menschheit. Teil der Pflicht ist die Liebe, das nie irrende Licht, welches die Menschen glücklich macht und ihnen sichere Freude bringt. Das die Freiheit liebende Ich ist blindlings häufig sein eigener Wegweiser. Es folgt dem Herzen in pflichtvergessendem Begehren, um auf bequeme Weise jeweiligen Wünschen nachzugehen. Aber in der Stille des Nachdenkens wird es bald der ziellosen Freiheit müde und sehnt sich nach der konstanten Ruhe, die die Pflichterfüllung bietet. Es hofft, der Gedan-
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ke an die Pflicht möge seinen Schwächen ein Ende setzen, ihm den Geist des Sichaufopferns sowie das Vertrauen auf die Zukunft geben und es als der Pflicht treuer Diener im Lichte der Wahrheit leben lassen. Wordsworth spricht vom "genial sense ofyouth" derjenigen, die, so lange sie keinen Ärger stiften, nicht danach fragen, ob sie pflichtvergessen handeln. Sie erfüllen ihre Pflicht, ohne dessen gewahr zu sein. Sollten sie infolge falscher Vorstellung und falschen Vertrauens scheitern, sollte die Besinnung auf die Pflicht ihre rettenden Arme um sie legen. Wordsworth stellt Pflicht und Neigung klar gegenüber. Er sieht in der Pflichterfüllung, der Forderung der Vernunft, menschliche Stärke. Gibt man dagegen seinen Neigungen und den Forderungen des Herzens nach, so ist das menschliche Schwäche. Er spricht vom Selbst und dem egoistischen Versagen, die es zum Wohle der Mitmenschen zu überwinden gilt. Pflichterfüllung besteht nicht nur in der Achtung staatlichen Rechts, sondern auch in der des Naturrechts, der Moral sowie der Nächstenliebe. Das alles erinnert an Kant. Wenn der Engländer es nicht so durchblicken läßt, wie der Preuße, daß Gesetzesgehorsam weniger dem despotischen Staat gilt als dem konstitutionellen, liegt das wohl daran, daß er im englischen Konstitutionalismus, der als freiheitlicher Republikanismus schon Montesquieu beeindruckte, aufwuchs und unter einer despotischen Regierung nicht zu leiden hatte. Seine Worte über die Jugend dürften der Tatsache zuzuschreiben sein, daß er als Romantiker mehr vom Sturm und Drang beeinflußt war als der Königsherger Rationalist. Beim Versuch einer in unsere Zeit passenden Definition der Pflicht kommt man kaum ganz von den als klassisch angesehenen Äußerungen Kants und Wordsworths los. Andererseits ist die Pflicht nicht etwas Klares, Definitives. Die Pflicht ist nicht etwas Absolutes. Sie ist etwas Relatives. Der Pflicht Sein ist in der Zeit, im Raum, im Gegebenen. Sie richtet sich nach dem, was Alexander Rüstow als Ortsbestimmung der Gegenwart bezeichnete. Die Pflicht ist flexibel. Das alles bedeutet nicht, daß die hehren Forderungen Kants und Wordsworths außer acht zu lassen sind. Mit den Wölfen heulen erweist der Pflicht nur selten einen Dienst. Aber der Pflichtbegriff läßt doch einen gewissen Spielraum, des Gewissens gewissenhaften Spielraum, in dem man dem moralischen Gesetz gemäß entscheiden muß, was die Pflicht jeweils verlangt. Schon die Pflichtbegriffe von Kant und Wordsworth sind wohl lockerer als frühere. Beide Autoren hätten es sicher nicht gewollt, daß ein Vater seinen Sohn wegen Pflichtverletzung hinrichten läßt, wie es geschah. Kaum dürfte Kant den Soldatenkönig deshalb bewundert haben, weil er den Freund seines Sohnes enthaupten ließ und letzteren noch dazu zwang, sich das anzusehen. Wahrscheinlich ekelte ihn das an. Wie dem auch sei, ist bei einem heutigen Ruf zur Pflicht die heutige Lage zu berücksichtigen und damit das, was seit Kant und Wordsworth geschehen ist. Es erscheint fraglich, ob der Gedanke der Pflicht als etwas Gottverwandtes, wie er bei beiden noch hervortritt, nicht abgeschwächt wurde, nachdem man hörte, Religion sei Opium für das Volk und Gott sei tot. Die Lobpreisung Allahs in Khomei-
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nis Iran mit ihrer Betonung der Pflichterfüllung bis zum Opfertode ist wohl eine Ausnahme. Bei den christlichen Religionen ist allgemein mit der Lockerung des Glaubens eine solche des Pflichtbewußtseins festzustellen. Weitgehende Liberalisierungen förderten diese Entwicklung, zumal sie in steigendem Maße auf einen oberflächlichen, materialistischen Verfolg des Glücks ausgerichtet wurden, der sich immer mehr von den moralischen Ermahnungen seines Schöpfers Jefferson löste, zu einem puren Rennen nach Gold und Geld wurde und bei dem der Einfluß Freuds das Sinnen auf Sinnlichkeit und sinnlichen Genuß noch verstärkte. Bedenkt man dabei, daß die USA wohl das liberalste aller Länder sind und Freud dort mehr zum Zuge gekommen ist als anderswo, dürften als Folge von Verdrängungen des Freudschen Begriffs der Verdrängung zunehmende Amerikanisierungen mit wachsender Permissivität das Pflichtgefühl immer mehr verdrängen. Das könnte auf Überbetonungen und Ausnutzungen des Pflichtbewußtseins zurückzuführen sein, sollte aber nicht dazu verleiten, den Pflichtbegriff unziemlich zu lockern, so verlockend das in liberalistischen Zeiten auch sein mag. 18 Modeme Ressentiments gegen Gott und Religion können über deren jahrhundertelange Bedeutung für den Pflichtbegriff nicht hinwegtäuschen. Griechen und Römer sahen in Göttern Wesen, die wie Menschen ihre guten und schlechten Seiten hatten. Ähnlich war es in der germanischen Mythologie. In Wagners Ring kam es infolge ethischer Verfehlungen der Götter zur Götterdämmerung. Allgemein führte wohl die Erkenntnis, daß das Verhalten pantheistischer Gottheiten nicht nur gut ist, zum Ende von Göttern und Beginn Gottes, zu Erhebungen eines Einzigen zum Allmächtigen. Da dieser ohne Konkurrenz war, konnte er nur gut sein. Zwar wurde er gelegentlich böse im Sinne von zornig, aber das wurde darauf zurückgeführt, daß die Menschen schlecht waren und ihm, dem Nurguten, gegenüber ihre Pflicht vernachlässigten. Ob man nun heute noch an Gott glaubt oder nicht, so erkennt man doch meist Gutes an. Dazu trugen Gottesbegriffe und damit Religionen sicherlich bei. Zwischen Gott und gut ist der sprachliche Unterschied nicht groß, im Englischen ist er noch geringer, God, good. "Good God" heißt ein Ausruf. Vielleicht ist das symbolisch. Jedenfalls dürfte kaum bezweifelt werden, daß die Pflicht zum Guten ruft und Pflichterfüllung bedeutet, Gutes zu tun. Lange stritt man darüber, welches der richtige Gott ist, was zum Agnostizismus und Atheismus beitrug. Verschiedene Gegebenheiten in Gemeinschaften von der Familie bis zur Kirche und zum Staat haben verschiedene Auffassungen vom Guten geformt, die ihrerseits den Umweltbedingungen entsprechend verschiedene Gewohnheiten, Gesetze usw. schufen und von diesen ihrerseits beeinflußt wurden. Aber wie man aus Montesquieus Werk vom Geist der Gesetze ersieht, daß bei aller Betonung von deren Verschiedenheit auch eine gewisse Einigkeit darüber bestand, was recht ist, so haben verschiedene Auffassungen des Guten mit der Zeit gewisse Übereinstimmungen hinsichtlich des Guten erzielt. Dennoch ist zu beachten, daß 18 Vgl. mein Reiner Liberalismus, sowie Amerikanische Demokratie - Wesen des praktischen Liberalismus, München 1988.
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Gutes in verschiedenen Teilen der Erde immer noch verschieden gesehen wird, wie ja auch verschiedene Gemeinschaften noch verschiedene Gesetze haben. Wenn nun die Pflicht zum Guten ruft, kann man zu der Formel "Böses vermeiden = Gutes tun" kommen. Dies ist wohl treffender als die bloße Behauptung, ein Vermeiden des Bösen schaffe noch lange nicht das Gute. Gewiß tut derjenige, der keinen Vertragsbruch, kein Verbrechen begeht, Gutes. Denn wenn auch sein Verhalten auf den ersten Blick als etwas Passives erscheint, ist doch fraglich, ob es nicht mehr darstellt. Ein Nichttun setzt meist eine Entscheidung voraus, also ein Tun. Wenn ich kein Verbrechen begehe, ist es schon möglich, daß mir ein solches gar nicht in den Sinn gekommen ist. Aber wenn selbst Goethe zugibt, er könne sich vorstellen, jedes Verbrechen zu begehen, wird es allgemein gewiß so sein, daß der Mensch aktiv entscheidet, nicht zum Verbrecher zu werden. Und wenn er seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt, dürfte dies in der Mehrzahl der Fälle absichtlich geschehen. All das zeigt, daß Nichttun in der Regel auf einem Tun beruht und in sogenannter Passivität Aktivität liegt. Durch die Vermeidung des Bösen wird Gutes getan. Aber die Pflichterfüllung kann weiter gehen als die bloße Vermeidung des Bösen. Obgleich ein passiveres Verhalten oft besser sein wird als ein aktiveres und eine größere Pflichterfüllung darstellen kann, wird man normalerweise seine Pflicht um so besser erfüllen, je mehr man Gutes tut. Jemand, der an der Fahndung nach einem Verbrecher teilnimmt, wird seine Pflicht meist besser erfüllen als einer, der ihr gleichgültig gegenübersteht. Von Beamten wird eine solch aktive Teilnahme deshalb ja auch erwartet, weil man davon ausgeht, daß sie infolge ihres Dienstes in und an der Gemeinschaft und entsprechender Bezahlung durch diese, das Gemeinwesen mehr zu schützen haben als andere. Bedenkt man nun, daß jedes Mitglied einer Gemeinschaft, das freiwillig in ihr verbleibt, irgendwie von ihr profitiert, so besteht eine Vermutung, daß seine Pflichterfüllung mit seinen guten Handlungen wächst. Altruistische Aspekte der Pflichterfüllung dürfen allerdings nicht zur Ausschaltung des einzelnen und seiner berechtigten Interessen führen. Selbst wenn man im Gemeinwohl nicht lediglich die Summe des Wohls der einzelnen sieht, wie die Utilitarier es taten, wird man zugeben, daß das Gemeinwohl ohne die Mitwirkung einzelner schlecht denkbar ist. Da aber einzelne eher tätig werden, wenn es ihren eigenen Interessen dient, sollte man in Bezug auf deren Pflichterfüllung den Egoismus nicht von Grund auf verurteilen. Die Pflichterfüllung ist eine Sache des Maßes und des Maßhaltens, und der Altruismus ist dies oft nicht mehr als der Egoismus. Man hat viel von sozialer Gerechtigkeit gesprochen, und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war der Begriff des Sozialen aus dem Vokabular der Europäer kaum wegzudenken. Allgemein wurde unterstellt, das Soziale und die soziale Gerechtigkeit seien etwas Gutes, und man sei zu ihrer Förderung verpflichtet. Wie schon früher, als es hieß "du bist nichts, dein Volk ist alles", wurde betont, nur durch soziale Gerechtigkeit, wenn nicht gar durch den Sozialismus, sei dem Volke gedient, und II Dietze
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einzelne seien nur im Interesse der Gemeinschaft oder der Kommune da. In so manchen Ländern wurden unter dem Mantel der Pflicht einzelne zu bloßen Arbeitstieren reduziert und im sozialistischen Klassenkampf deklassiert. Sie wurden ähnlich ausgebeutet, wie sozialistische Doktrinen es dem Kapitalismus vorhielten. Die von Ludwig Erhard in der Bundesrepublik Deutschland eingeführte Soziale Marktwirtschaft - auch er war sich in damaligen Stimmungen und Mißstimmungen der Bedeutung des Wortes "sozial" bewußt - schloß dagegen mit der Devise "Wohlstand für alle" den Wohlstand des einzelnen nicht aus und zu diesem Zwekke auch nicht seinen Egoismus, von dem lediglich Maßhalten verlangt wurde. Das Pflichtbewußtsein schaltet den Eigennutz des Individuums nicht aus, es begrenzt ihn nur in gewissen ethischen und altruistischen Maßen. Wie der dem einzelnen und dessen Glückseligkeit Zugeständnisse machende Pflichtbegriff aus der Ausbeutung einzelner durch nationale und internationale Sozialismen miterklärt werden kann, die Erhard aus der Nähe kannte, rührt Kants strikter erscheinender Pflichtbegriff vielleicht aus seiner friderizianischen Erfahrung her, die Thomas Carlyle veranlaßte, Friedrich den Großen unter jene Männer einzureihen, denen ,,hero-worship" gebührt. Es wäre auch verständlich, wenn Kant, der nur unter absoluten Monarchen lebte, sich durch deren Betonen der Pflicht im preußischen Beamten- und Soldatenstaat veranlaßt gesehen hätte, bei seinen auf die Befreiung des Individuums gerichteten Aufklärungen diesem Betonen Zugeständnisse zu machen. Geschickt war er ja. Nach der Veröffentlichung von Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft beteuerte er dem Nachfolger Friedrichs des Großen gegenüber unter dem Drucke der Zensur, derartiges als dessen gehorsamer Untertan nicht mehr zu publizieren. Nach dessen Tod tat er es aber dann doch mit dem Streit der Fakultäten, listig bemerkend, er sei ja nun nicht mehr diesem (verstorbenen) Monarchen untertan. Vielleicht ist Kants strenger Pflichtbegriff auch darauf zurückzuführen, daß der asketisch lebende Junggeselle wenig Verständnis für die Begehren und Lebensfreuden anderer aufbrachte. Vielleicht ist dieser Begriff aber auch gar nicht so streng, wie es scheint. Kant gibt ja zu, die Pflicht verlange nichts, was einem natürlicherweise widerstrebt. Das ist eine wichtige Einschränkung, zumal das, was einem so widerstrebt, von einem selbst subjektiv bestimmt wird. Denn jeder ist in Bezug auf seinen eigenen Geschmack sein eigener Herr, wie man auch von "der Pflicht her" den Satz chacun a son goilt kritisieren mag. Außerdem findet sich in § 87 der Kritik der Urteilskraft folgende Stelle: "Das moralische Gesetz als formale Vernunftbedingung des Gebrauchs unserer Freiheit verbindet uns für sich allein, ohne von irgend einem Zwecke als materialer Bedingung abzuhängen; aber es bestimmt uns doch auch, und zwar a priori, einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht: und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der W e 1 t . Die subjektive Bedingung, unter welcher der Mensch .. . sich unter dem obigen Gesetze einen Endzweck setzen kann, ist die Glückseligkeit. Folglich, das höchste in der Welt mögliche und, soviel an uns ist, als Endzweck zu befördernde
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physische Gut ist G 1ü c k s e 1 i g k e i t : unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetz der S i t t 1 i c h k e i t , als der Würdigkeit, glücklich zu sein." Auch aus den folgenden Paragraphen geht hervor, daß Kant, wie oft er auch Pflicht und Neigung, die Erfüllung der Pflicht und die der Wünsche gegenüberstellen mag, doch Zugeständnisse macht. Wenn er auch die Freiheit, nach Glückseligkeit zu streben, durch das moralische Gesetz und den Gedanken der Pflicht einschränkt und will, daß die Menschen stets danach trachten, gemäß dem moralischen Gesetz glücklich zu werden, so ist die Glückseligkeit letzten Endes doch der Endzweck, den es zu erreichen gilt. Keinesfalls kann sie, wenn sie auf moralische Weise erstrebt wird, etwas Unmoralisches, der Pflicht Entgegenstehendes sein. Kant spricht an dieser Stelle von "uns" im Plural, aber auch vom Menschen in der Einzahl. Er redet also vom Menschen in der Gesellschaft, was dessen Verpflichtung dieser gegenüber anzeigt. Jedoch vergißt Kant nicht den Menschen als Einzelwesen. Das deutet an, daß der Mensch auch für sich wirken kann zum Zwekke seiner eigenen Glückseligkeit, solange sein Vorhaben sittlich ist. Allerdings sollten Kants Zugeständnisse an den Egoismus nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Individuum stets zuerst das Allgemeinwohl bedenken und sorgfältig prüfen muß, ob sein Vorhaben nicht zu egoistisch ist. Das Wohl anderer darf man nun heutzutage nicht mehr hauptsächlich in dem des Staates sehen, weil es sich ja zur Genüge gezeigt hat, wie sehr ein vom Staat geformtes und propagiertes Pflichtgefühl von ihm ausgenutzt werden und wie gefährlich und dem Guten abträglich das Voranstellen staatlicher Interessen sein kann. Vorsicht vor Regierungen und ihren Verzierungen! Mit der Gemeinschaft der Kirche ist das schon anders. In unserer Zeit sind Kirchen nicht mehr so mächtig wie zu der Voltaires. Im Gegensatz zum Staat können sie niemand zu etwas zwingen, von wenigen Theokratien abgesehen. Auch sind sie im großen und ganzen mehr zum Ethischen hin orientiert als politische Gebilde, obwohl die Gefährlichkeit ihres Dogmatismus ebenso wenig aus den Augen gelassen werden sollte wie die staatlicher Propaganda. Beim Herausfinden seiner Pflicht muß man rational verfahren, und die Möglichkeit rationaler Entscheidungen wächst mit der Nähe der zu berücksichtigenden Personen. Der Eigennutz solle zunächst gebremst werden durch Rücksichtnahme auf die Nächsten, in der Regel Familienangenhörige oder Freunde. Dennoch sollte darauf gesehen werden, daß auch größere Kreise der Gemeinschaft nicht zu kurz kommen. Die Pflichterfüllung verlangt das Abwägen der Interessen aller. Dabei muß man sich von einer inneren Stimme, einem inneren Richter leiten lassen, und zwar möglichst nicht nur spontan. Spontaner Enthusiasmus, der insbesondere Jugendlichen eignet, verlockt zur Ausnutzung des Pflichtgefühls. Deshalb schrieb Wordsworth wohl, die Pflicht solle ihre Arme um irrende Jugendliche legen. Der Romantiker zeigte sich hier als realistischer Engländer. Bei der Bestimmung pflichtgemäßen Verhaltens folge man am bestem dem Rat, den Goethe in II*
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seinem letzten Brief an Wilhelm von Humboldt, den Gründer der Berliner Universität, geschrieben, gab: "Nachdenken ... und immer wieder nachdenken". Diese Worte erinnern an die des Descartes während der Aufklärung, in der wir uns noch immer befinden, wie sehr ihr durch Emotionen und Verklärungen, Führungen und Verführungen auch Wunden geschlagen wurden, cogito, ergo sum. Der Mensch ist, weil er denkt. Auch sein Menschsein im Guten wächst mit seinem Nachdenken. Er erfüllt seine Pflicht, wenn er gewissenhaft sein Wissen nutzt und sein Gewissen befragt, was zu tun und zu unterlassen ist. Es gibt keine ideale Pflicht. Die Umstände lassen die Plicht aus jeweiliger Sicht verschieden erscheinen. Aber wenn es auch keine ideale Pflicht gibt, gibt es doch Ideale der Pflicht. Sie sind das Licht, das menschliches Handeln richtig richtet. Seinen Verhältnissen gemäß ist jeder in der Lage, sich von der Pflicht zum Guten leiten zu lassen und diese auf seine Art zu erfüllen. Wie Gesetze ein ethisches Minimum sind, so ist Gesetzesgehorsam ein Minimum der Pflichterfüllung. Und wie der gute Bürger gern den Gesetzen gehorcht, gehen die der Glückseligkeit Würdigen mit ihrer Pflichterfüllung gern über den bloßen Gesetzesgehorsam hinaus. Pflichterfüllung bedeutet nicht nur, Verbote des Bösen zu achten, sondern darüber hinaus, sich Gebote zum Guten zu geben. Gern erfülle jederzeit deine Pflicht. Freudig lebe ihr, damit dein Leben lebenswert sei. Nimm immer Rücksicht auf andere. Handle so, wie dein Gewissen es befiehlt nach gewissenhafter Prüfung deines Wissens um deine und anderer Wünsche. Befolge die Goldene Regel und behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Nutze ihre Pflichtgefühle nicht aus und laß die deinen nicht von ihnen ausnutzen. Zeige denen, die dich und das dir Würdige angreifen, Verständnis, verstehe sie aber richtig. Sieh ihre Mißlichkeit und verständige sie über ihre Mißstände. Verständige dich nicht mit ihnen entgegen deiner Erkenntnis des Guten und sei stark bei dessen Behauptung. Sieh die Schwächen und Stärken von Doktrinen, Philosophien und Religionen. Laß deinen Schwächen nicht freien Lauf und befreie dich von ihnen. Glaube nicht, daß andere deine Ansichten teilen müssen. Bedenke, daß Auffassungen vom Guten von vielen Faktoren vieler Welten abhängen. Laß die gewähren, die dich gewähren lassen, denn sie werden sich vielleicht besser bewähren als du. Sei kritisch, aber kritisiere dich selbst, bevor du an anderen Übles findest. Wenn du glaubst, dir selber der Nächste zu sein, so wisse, daß du deinem Nächsten nicht näher bist, als er sich selbst, daß auch er seine eigenen Pflichtgefühle haben kann und darf. Sei altruistisch, ohne zu vergessen, daß der Egoismus dem Altruismus oft dienlich ist. Sei idealistisch, vergiß aber nicht, daß der Materialismus ein Mittel zur Verwirklichung von Idealen sein kann. Suche Erlösung in der Entsagung und finde dadurch deine Freiheit, bejahe aber in Freiheit das Gute und löse dich nicht von deinen Verbindlichkeiten ohne deren Erfüllung. Bedenke immer, daß du vieles nicht wissen kannst und noch mehr nicht weißt, laß dir das aber nicht das Herz verbrennen und beachte: Nichtwissen entlastet das Gewissen nicht.
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5. Wendet man nun den Pflichtbegriff im einzelnen auf Menschenrechte an, kommt man zu deren verschiedensten Verpflichtungen. Sie liegen für die einzelnen nicht nur darin, Verbote, wie sie beispielsweise die Zehn Gebote aussprechen, zu achten. Auch verpflichten sie Regierungen nicht nur, sich nach den Verboten von Grundrechtskatalogen, Menschenrechte nicht zu beschränken, zu richten. Sie verlangen darüber hinaus, Gutes zu tun. Am bekanntesten sind wohl die Verpflichtungen der Herrschenden gegenüber den Beherrschten. Das mag dazu beigetragen haben, daß man heute allgemein, wenn man von Menschenrechten spricht, an Unterdrückungen durch Machthaber denkt und an deren Verpflichtungen, diese Rechte zu schützen. Diese Einstellung ist auch offenbar in Abhandlungen über die Geschichte der Menschenrechte. Sie beschreiben, wie von altersher die Menschen um die Anerkennung ihrer Rechte gerungen haben, um gewisse Freiheiten, die die Herrscher zu respektieren hatten. Bekannte Dokumente aus früher Zeit sind die Magna Charta, die Goldene Bulle. Im 17. und 18. Jahrhundert gaben dann Unterdrückungen durch absolute Monarchen und eine wachsende Aufklärung dem Verlangen der Untertanen nach Menschenrechten und dem Gedanken, daß diese Rechte die Herrscher verpflichten, großen Auftrieb. Man denke an die Petition of Right und die Bill of Rights in England, an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, an die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Zu dieser Zeit wurden Grundrechtskataloge in Verfassungen aufgenommen, und in den kommenden Generationen wahrte man diese Übung. Montesquieu folgend, verstand man unter dem Konstitutionalismus die Verpflichtung von Regierungen, Menschenrechte zu achten. Diese Verpflichtung erstreckte sich auf einzelne Rechte als Teile der allgemeinen, generellen menschlichen Freiheit. Ein qualitativer Unterschied zwischen diesen einzelnen Teilen wurde im großen und ganzen nicht gezogen. Offenbar ging man davon aus, daß Teile eines Ganzen qualitativ nicht verschieden sein konnten und man schwerlich einen Teil der Freiheit als bedeutender erachten konnte als einen anderen, daß die Verletzung eines jeden Teils den Menschen treffen konnte, da letztlich er darüber befand, ob seine Freiheit beschränkt wurde und in welcher Weise. Zwar traten diejenigen Aspekte der Freiheit, deren Unterdrückung besonders stark empfunden wurde, während des Kampfes um ihre Anerkennung in den Vordergrund. Das machte sie aber nicht zu privilegierten Rechten. Nach ihrer Anerkennung durch die Regierung gesellten sie sich zu den bereits anerkannten Rechten als Gleiche unter Gleichen. So standen zur Zeit des Merkantilismus die Rechte des privaten Eigentums und Handeins und die Verpflichtungen der Regierungen, diese Rechte zu achten, im Vordergrund. Unter der Theokratie wurde die Religionsfreiheit betont, zu anderen Zeiten die Preßfreiheit Aber die jeweilige Betonung einzelner Rechte, die im Kampf um deren Anerkennung unvermeidlich war, war nur
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zeitweilig. Sie führte nicht zu ihrer dauernden Bevorzugung vor anderen Rechten. Man kommt so zu der Formel der Gleichheit einzelner Menschenrechte, .,spezifisches Menschenrecht= spezifisches Menschenrecht". In den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts hielt sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten nicht mehr an diese Regel und verletzte damit seine Verpflichtungen gegenüber gewissen Menschenrechten, weil er diese zu zweitklassigen Rechten relegierte. Im Fall U.S. v. Carolene Products Co. unterschied Oberrichter Stone 1938 zwischen wirtschaftlichen Rechten und solchen, die für den demokratischen Prozeß wichtig sind, und gab letzteren den Vorzug. Die Doktrin der "preferred freedoms" wurde zur offiziellen. Die Menschenrechte des freien Handels und Eigentums, die beim Kampf um die amerikanische Unabhängigkeit im Vordergrund standen und bis zum Sozialprogramm des New Deal unter Präsident Franklin D. Roosevelt oft betont wurden, ohne allerdings zu bevorzugten Rechten erklärt zu werden, wurden nun diskriminiert. Das war menschenrechtlich bedenklich. Wenn nämlich ein bestimmtes Menschenrecht degradiert wurde, ermutigt das die Herabwürdigung anderer Menschenrechte und kann dazu führen, daß die Regierung willkürlich bestimmen kann, welche Rechte überhaupt noch geschützt werden sollen und welche das nicht mehr verdienen. Das wirft uns in die Zeit des als überwunden geglaubten Absolutismus mit seiner bekannten Mißachtung der Menschenrechte zurück. Hätte der Supreme Court klar gemacht, seine Einschränkung bestimmter Rechte sei infolge der Depression oder eines anderen Notstands temporär notwendig gewesen, wäre dagegen wenig einzuwenden gewesen. Statt dessen aber wurden etablierte Rechte generell reduziert. Die Verpflichtung einer Regierung geht nicht so weit, durch eine allzuweit gehende Anerkennung der Menschenrechte das Allgemeinwohl aufs Spiel zu setzen. Ein Robinson konnte tun und lassen, was er gerade wollte, so lange er allein auf seiner Insel war. Mit dem Kommen Freitags wurde das schon anders. Da war gegenseitige Rücksichtnahme geboten und damit eine Einschränkung der Rechte beider. Das trifft bei größeren Gemeinwesen um so mehr zu, wenn auch mit der Größe der Einwohnerzahl die Beschränkung der Rechte der einzelnen nicht notwendig proportional wächst, denn allzu viele Faktoren fallen da ins Gewicht. Allgemein werden Regierungen infolge verschiedener biologischer, ethnischer, geographischer, gesetzlicher, klimatischer, politischer, religiöser, sozialer, wirtschaftlicher und anderer Umstände Menschenrechte in verschiedener Weise anerkennen. Das entspricht der Verschiedenheit positiver Gesetze sowie den unterschiedlichen Auffassungen vom Naturrecht, das nach Stammler ohnehin eines mit wechselndem Inhalt ist. Immer muß man von einer verständigen Würdigung der spezifischen Situation eines Landes ausgehen, um die menschenrechtliehen Verpflichtungen seiner Regierung zu bewerten. Da aber Menschenrechte durch den Staat am wirksamsten geschützt werden können und staatliche Gesetze in der Mehrzahl der Fälle eine Vorbedingung für ihren Schutz sind, kommt ihre zeitweilige, durch eine Notlage gebotene Einschränkung letzten Endes ihrem Bestand zugute und ist daher nicht menschenrechtsfeindlich.
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Die amerikanische Verfassung enthält keine Bestimmung über eine Beschränkung von Menschenrechten in Notfällen. Da sie von einigen Staaten unter der Bedingung der Anfügung einer Bill of Rights ratifiziert wurde, war eine solche Bestimmung im damaligen Menschenrechtsjubel und -trubel kaum zu erwarten. Außerdem glaubte man im Optimismus der Zeit, im neu errichteten republikanischen Staatswesen werde es schon keine Notstände geben. Als 1861 der Bürgerkrieg ausbrach, sah sich Lincoln ohne Verfassungsbestimmungen, die ihn berechtigt hätten, Menschenrechte einzuschränken. Er nahm sich dieses Recht und las seine Berechtigung hierzu einfach in die Verfassung hinein. 1940 fand de Gaulle, daß die Abwesenheit von Notstandsbestimmungen in den Verfassungsgesetzen der Dritten Republik zur schnellen Kapitulation Frankreichs beitrug. Er sah darauf, daß die Verfassung der Fünften Republik in Artikel 16 eine dem Artikel 48 der Weimarer Verfassung nachgebildete Berechtigung des Präsidenten, notfalls Grundrechte einzuschränken, enthielt. Das Fehlen einer totalen Verpflichtung der Regierung, Menschenrechte zu schützen, ist auch aus Formulierungen dieser Rechte ersichtlich. Da heißt es beispielsweise "Die Rede ist frei. Ausnahmen bestimmen die Gesetze", oder "Redefreiheit besteht im Rahmen der Gesetze". Wo, wie in der Verfassung der Vereinigten Staaten, ein Gesetzesvorbehalt fehlt, ist es in der Praxis nicht viel anders. Im Falle Schenck v. United States schrieb Oliver Wendeli Holmes 1919, bei einer klaren und gegenwärtigen Gefahr könnten Gesetze die Redefreiheit durchaus einschränken. Später, 1948 in Terminiello v. Chicago, drückte das der Richter Jackson so aus, die Verfassung sei kein Mittel zu ihrer Selbstvernichtung infolge eines zu weit gehenden Schutzes der Rechte der einzelnen Individuen. Obwohl das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bestimmt, daß sogar Verfassungsänderungen nicht so weit gehen dürfen, den Wesensgehalt der Grundrechte zu gefährden, gibt es auch dort Beschränkungen dieser Rechte zum öffentlichen Wohl. All das zeigt, daß nicht nur Regierungen, sondern auch Regierte durch Menschenrechte verpflichtet sind. So sprach die Weimarer Verfassung ausdrücklich in der Überschrift ihres zweiten Teils von den Grundrechten und Pflichten der Deutschen. Es ist richtig, Grundrechte durch Grundpflichten zu ergänzen, Menschenrechte durch Menschenpflichten, staatlichen Verpflichtungen solche, die Grundrechte den Individuen auferlegen, entgegenzuhalten. Trotz des Schindluders, der mit der idealistischen politischen Philosophie getrieben wurde, darf nicht deren guter Kern vergessen werden. Der wurde nicht nur von totalen Herrschern entstellt, sondern auch von denen, die diese Philosophie und deren Anbetung des Staates angriffen, weil sie deren Interpretation keinen Glauben scnenkten oder aus purem Opportunismus es als schicklich ansahen, den deutschen Idealismus zu attackieren. Während nämlich die idealistische Philosophie nach Hegels Tod in Universitäten in England und Neuengland eine respektvolle, wenn nicht gar herrschende Stellung erlangte, ging man dort im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert liberaler Variationen und deren Entstellung eines für eine Balance zwi-
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sehen den Verpflichtungen der Regierenden und Regierten sorgenden Liberalismus dazu über, in Hegels Philosophie nichts als Staatsvergötterung zu sehen. Seine Bemerkung in § 257 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, "Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee", wurde geflissentlich ignoriert oder übersehen oder unterschlagen. Seine Worte in Zusatz 152 des folgenden Paragraphen, "Es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist", wurde von Carl J. Friedeich übersetzt, "it is the course of God through the world that constitutes the state". 19 Bei T. M. Knox heißt es dagegen schon: "The march of God in the world, that is what the state is".Z0 Hier wurde also auf nicht ganz korrekte Weise "Gang" mit "Marsch" übersetzt, und kurz und bündig wurde dann daraus einfach "The state is the march of God in the world". Mit diesem Schlagwort wurde Hege! den breiten, oft nicht ungebildeten Massen als Antiliberaler dargestellt. Seine Philosophie erschien als Vergötterung eines Staates, der in der Hybris seiner Göttlichkeit durch die Welt marschiert, wohl gar noch im verpönten preußischen Stechschritt, sie erobernd, den Menschen den Marsch blasend. Kaum ist davon die Rede, daß für Hege! der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee war, ein Gemeinwesen, in dessen Obhut und Ordnung sich die einzelnen Bürger in ordentlicher Freiheit zum Besten entwickeln konnten. Fragt man nun nach den menschenrechtliehen Verpflichtungen der einzelnen gegenüber dem Staat und seiner Regierung, so sollten sie mit der jeweiligen Empfindung staatlich geschützter Menschenrechte wachsen. Die Grabrede des Perikles erscheint zunächst als Loblied auf die Freiheiten, die Athen gewährt. Sie ist aber auch eine Mahnung. Eine derartige Polis verdient mehr Gehorsam ihrer Polizei gegenüber. Für sie sollten die Bürger auch willig ihr Leben hingeben. Mit den menschenrechtliehen Verpflichtungen des Staates wächst die seiner Bewohner. Je liberaler ein Staat, um so großzügiger sollten seine Angehörigen ihm dienen. Rechte verpflichten. In liberalen Demokratien sind die einzelnen nicht nur vor der öffentlichen Gewalt geschützt. Sie sind darüber hinaus berechtigt, am Regierungsprozeß mitzuwirken. Da sie dies allgemein zu ihrem Vorteil tun, sollten ihre menschenrechtliehen Verpflichtungen gegenüber dem Staat besonders groß sein und mit dem Liberalen und Demokratischen wachsen. Je liberaldemokratischer eine Gesellschaft ist, um so größer ist die Verpflichtung ihrer Mitglieder ihr gegenüber. Dabei ist zu beachten, daß das Wort "liberal" ursprünglich die Freiheit des einzelnen unter dieser Herrschaftsform bezeichnete und nicht etwa die der herrschenden Mehrheit, einzelne zu unterdrücken. So lange diese Mehrheit aber bereit ist, sich abwählen zu lassen, sollten die Mitglieder der nichtregierenden Minderheit ihr gegenüber in Gehorsam ihre Pflichten erfüllen. Unter einer sich im Kriege befindlichen Diktatur kommen Verweigerungen des Wehrdienstes, pazifistische Demonstrationen infolge schwerer Strafen praktisch 19
The Philosophy of Hegel, New York 1954, 283.
zo Hegel's Philosophy of Right, Oxford 1952, 279.
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kaum vor, obwohl sie bei offenbaren Ausnutzungen des Pflichtgefühls der Regierten durch die Regierungen durchaus verständlich wären. Die Bürger eines freiheitlichen, Menschenrechte achtenden Landes sollten sich ihres Glücks, dort zu leben, bewußt sein und gegen einen von den Volksvertretern unterstützten Krieg grundsätzlich nicht demonstrieren. Ähnliches findet auf die Außenpolitik Anwendung. Rankes Idee des Primats der Außenpolitik hat nach der Zeit des Imperialismus mit der Bewegung zum Internationalismus und seinen Organisationen und dem zunehmenden Einfluß der öffentlichen Meinung an Bedeutung verloren. Dennoch lebt der einzelne immer noch primär in der staatlichen Gemeinschaft und ihrer Ordnung, von der er profitiert, weil sie es ist, die seine Rechte schützt. Solange die Außenpolitik von einer in freien Wahlen gewählten Regierung bestimmt wird, sollte der Bürger sich nicht ostentativ gegen sie stellen. Freiwillig sollte er sich so verhalten, wie er es in Diktaturen unter Androhung von Strafen ohnehin müßte. So kann er verhindern, daß Diktaturen seinem Gemeinwesen gegenüber Vorteile erlangen und schützt damit seine Menschenrechte. Die Preßfreiheit ist eine wichtige Sicherung gegen das Böse. Dennoch erscheint freiwilliges Beschränken bei der Presse, dem modernen Meinungsformer und -aufbauscher, angezeigt. Im Streit der Fakultäten befürwortet Kant Volksaufklärung als "die öffentliche Belehrung des Volks von seinen Pflichten und Rechten in Ansehung des Staats, dem es angehört." Sie sollte nicht vom Staate ausgehen, sondern von freien Rechtslehrern, von Philosophen, die "dem Staate, der immer nur herrschen will, anstößig" und "unter dem Namen Au f k 1ä r er als für den Staat gefahrliche Leute verschrien" sind. Da Kant sich selbst als aufklärender Philosoph und Rechtslehrer sah und sein Denken eine Balance zwischen den Rechten und Pflichten des Staates und der Individuen zeigt, war er gegen eine vom Staat gelenkte Volksaufklärung, wie sie im Dritten Reich vom Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda vollzogen wurde, aber auch gegen von ungebildeten einzelnen ausgehende, den Staat gefährdende Meinungsäußerungen. Er wollte eine verantwortungsvolle, das staatliche Gefüge nicht bedrohende Presse. Diese sollte die vom Staate garantierte Freiheit ihres Metiers dem Staate gegenüber nicht ausnutzen. Ihre Vertreter sollten sich immer fragen, ob sie durch Aufhausebungen und Übertreibungen Unheil anrichten. In liberalen wie auch sozialistischen Demokratien gibt es den Sozialstaat. In Diktaturen werden egoistische Ausnutzungen von sozialen Leistungen des Staates bestraft, in der Regel empfindlich. In freieren Sozialstaaten sollte auf solche Ausnutzungen pflichtgemäß verzichtet werden. Das trifft auf alle Bürger zu, denn die Pflichterfüllung kennt keinen Unterschied der Person, des Ansehens und des Standes, ein jeder ist ihr fähig. Verpflichtungen der Bürger gegenüber der Obrigkeit sind meist auch solche gegenüber der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern. Das bringt uns zur Pflichterfüllung einzelner gegenüber einzelnen.
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6. Der Wehrdienstverweigerer schadet neben dem Staat auch einem Mitbürger. Besonders dort, wo es keine allgemeine Wehrpflicht gibt, sondern einen Selective Service, bedeutet die Freistellung des einen die Einberufung des anderen. Die Pressefreiheit kann nicht allein die berechtigten Interessen einer Regierung gefährden. Man muß fragen, ob sie nicht zu weit zum Nachteil einzelner Mitmenschen ausgelegt wird. Seit langem gilt als Leitspruch der New York Times "all the news that's fit to print". Das ist ein guter Vorsatz. Jedoch ist nicht zu übersehen, daß sich das, was schicklich erscheint, um gedruckt zu werden, bei seriösen Zeitungen erweitert hat, von Boulevardblättern und Zeitschriften, die sich zu diesem Grundsatz gar nicht erst bekennen, ganz zu schweigen. Die Sensationslust, die Karl Jaspers in seinen Betrachtungen zur geistigen Situation der Zeit beschrieb, die von Ortega hervorgehobene Rebellion der Massen sowie die Popularisierungen Freuds trugen dazu bei. Politiker und Prominente werden von einer wahren Meute von Journalisten verfolgt und gewöhnlichen Sterblichen geht es oft nicht besser. Das Privatleben ist zunehmend der Beobachtung und Preisgabe durch Reporter ausgesetzt. Dabei sollten sich diese doch ihr großes Glück vor Augen halten, nicht unter einer staatlichen Pressezensur leiden zu müssen und ihre weitgehende Pressefreiheit mit Verantwortung paaren. Ausnutzungen öffentlicher Sozialleistungen fallen nicht nur dem Staate zur Last, sondern gehen im Grunde zu Lasten steuerzahlender Bürger. Das sollte jeder bedenken, der stempeln geht, weil die Differenz zwischen seiner Arbeitslosenunterstützung und seinem Arbeitslohn für ihn nicht so groß ist, daß sich das Arbeiten lohnt. Jeder, der sich krank meldet, ohne wirklich arbeitsunfähig zu sein, sollte daran denken, daß während seiner Abwesenheit vom Arbeitsplatz oft seine Kollegen unentgeltlich für ihn einspringen müssen. Bewerber um Erziehungsbeihilfen konkurrieren oft mit anderen. Mit dem Gewinn eines Stipendiums sticht man oft einen anderen aus. Das vergrößert die Verpflichtung, der Zuwendung Ehre zu machen durch gewissenhaften Fleiß. Es unterliegt wenig Zweifel, daß Rechte auf Sozialleistungen durch den Staat und damit durch einzelne Bürger anderer Natur sind als z. B. die Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit usw. Letztere können als der menschlichen Natur eigen angesehen werden. Das entspricht etwa dem weiteren Eigentumsbegriff, den Locke in seiner zweiten Abhandlung bringt, wenn er dort in § 123 von ,,Lives, Liberties and Estates, which I call by the general Name, Property" spricht. Nicht nur das, was ich rechtmäßig an Gut habe, ist mein Eigentum. Auch mein Leben ist es sowie auch meine Freiheit in ihren verschiedenen Manifestationen, wie Freizügigkeit einschließlich der Freiheit vor Kasernierung, die Freiheit zu denken, zu schaffen und zu produzieren. Sie alle können als Eigentum des Menschen angesehen werden. Alles, was dem Menschen eignet, ist sein Eigentum.
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Nun kann man sagen, der Mensch könne sich nicht recht entwickeln, wenn ihm nicht die Mittel hierzu geboten werden, er müsse also, wenn notwendig, diese von
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anderen bekommen. Hier ist Vorsicht geboten, weil ja solche Zuwendungen ihm nicht eigentlich von Natur aus zustehen, sondern von anderen künstlich, von außen, zu ihm kommen. Während man wohl ohne viel Zweifel jemanden, der im Dienste an anderen ein Glied verloren hat, einen Anspruch auf Wiederherstellung seiner Arbeitskapazität oder Fürsorge zugestehen kann, erscheint es fraglich, ob ein gesunder Mensch ohne entsprechende Verdienste durch staatliche Subventionen seine Verdienstmöglichkeit erhöht bekommen sollte. In einer freien Gesellschaft wird man weniger dagegen einzuwenden haben, daß jemand nicht arbeiten will, als dagegen, daß er Arbeitslosenunterstützung oder bezahlte Ferien fordert. Faule haben auch im Namen sozialer Gerechtigkeit kein Recht auf das Eigentum anderer. Da materielle Güter ihren Ursprung meist in der Widmung der Freiheit und des Lebens zu ihrem Erwerb haben, würde mit dem Anspruch auf solche Güter auch einer auf die Freiheit und das Leben von deren Erwerber bestehen. Locke spricht meist von "life, liberty and property", benutzt also das Wort "property" anstelle von "estate". Es ist dieser sein engerer Begriff des Eigentums, der allgemein unter Eigentum verstanden wird. Ihm wird seit so langer Zeit Tribut als Menschenrecht gezollt, daß man ihn als ältestes Menschenrecht gesehen hat. Vielleicht ist es dieser Tatsache mit zuzuschreiben, daß dem Eigentum neben dem Gedanken des Gutes auch der des Guten anhaftete. In Rom wurde proprietas für Rechtlichkeit und Eigentum gebracht, proprius für proper, gut sowie für eigen. In vom Lateinischen abgeleiteten Sprachen änderte sich das nicht. Im Italienischen heißt proprio sowohl eigen als auch proper, echt, recht. Proprieta bedeutet Rechtlichkeit und Eigentum. Im Spanischen gebrauchte man das Hauptwort buena für Eigentum. Die Bedeutung des Adjektives bueno, buena ist "gut". Proprio heißt "eigen", aber auch justo, recht. Tut man etwas al proprio, so tut man es justamente, korrekt, recht, con propiedad. Propiedad bedeutet auch "Eigentum". In Frankreich wendet man propriete heute hauptsächlich im Sinne von Eigentum an, aber auch in dem des Guten und Properen. Propre bedeutet "eigen" sowie ,,recht", "korrekt", "gut". Das Adverb von bon, gut, ist bien. Die Güter der Erde sind Ies biens de Ia terre, das öffentliche Wohl ist le bien public. Mobilien sind biens meubles, Immobilien biens immeubles. Das englische property wurde vom altfranzösischen propriete abgeleitet und bedeutet sowohl Eigentum als auch Korrektheit des Verhaltens oder der Moral. Autoren wie Hobbes und Locke sprechen von propriety, wenn sie property meinen. Auch in Sprachen, die nicht vom Lateinischen abstammen, zeigt sich die Verbindung des Eigentums mit dem Guten. Im Englischen ist ein Wort für Eigentum goods (Güter). Es ist mit good (gut) verwandt. Ein deutsches Wort für Eigentum ist Gut. Angesichts der allgemeinen Anerkennung des Eigentums als etwas Gutem fragt man sich, ob es denn überhaupt verpflichten und der Eigentümer Verpflichtungen haben kann. Wenn die Pflicht zum Guten auffordert und das Eigentum etwas Gutes ist, muß sich die Pflichterfüllung dann nicht mit dem Erwerb von Eigentum als etwas Gutem erschöpfen? Muß die Pflicht, Eigentum zu erwerben, nicht eine Verpflichtung des erworbenen Eigentums ausschließen? Kann der Eigentümer nicht
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auf den Lorbeeren seines Eigentums als etwas Gutem ausruhen? Das ist zu verneinen. Wie alle Menschenrechte, verpflichtet das Eigentum die Menschen. Die Frage ist vielmehr, ob gerade aufgrund seiner Identifizierung mit dem Guten das Eigentum mehr verpflichtet als andere Rechte. Haftet nämlich dem Eigentum die Vermutung des Guten an, dann muß es in seinem Gutsein dem Guten dienen. Sonst würde es sich selbst untreu werden. Die Güte des Eigentums legt Eigentümern ähnliche Verpflichtungen auf wie die Ansicht, der Staat sei die Wirklichkeit der sittlichen Idee, Staatsmänner und Regierungen bindet. Die Verpflichtung des Eigentums kann einmal darin gesehen werden, daß es zu seiner eigenen Vergrößerung gebraucht wird. Geld gibt Geld, danari fanno danari, dinero llama dinero. Diese Formeln und ähnliche sind in vielen Ländern populär. Sie bestechen durch ihre Einfachheit und entprechen der Lehre Kalvins, die Max Weber in seinem bekannten Aufsatz über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus hervorhob. Unter dem Einfluß des Kalvinismus wurden in der Schweiz, den Niederlanden, in England und den USA beachtliche Anhäufungen von Kapital erzielt, da dort der Success oft im Sinne von Moneymaking gesehen wurde. Auch in Deutschland erfreut sich der Gedanke, daß der Kapitalismus etwas Gutes ist, eines weiten Ansehens. Die Neuauflagen der von P. Koslowski und James Buchanan veröffentlichten Schrift über die Ethik des Kapitalismus zeigt das. Die Akkumulationsverpflichtung der Eigentümer hat wesentlich zum Fortschritt beigetragen. Sie ist nicht notwendig so egoistisch, wie es von ihren Feinden behauptet wird, denn das Drängen nach Gold und Geld bringt oft nicht jene Glückseligkeit, die vom materiellen pursuit of happiness erhofft wird. Es verlangt, wie Kalvin es forderte und Weber es zeigte, ein gutes Maß Entsagung. Der Akkumulationsverpflichtung von Eigentümern kann man deren Entsagungsverpflichtung gegenüberstellen. Damit meine ich nicht die Überlassung von Vermögen zu gemeinnützigen Zwecken im Todesfall, obwohl der Ausschluß von Freunden und Verwandten von einer Erbschaft sicher für manchen Erblasser eine Entsagung bedeutet. Ich meine die zu Lebzeiten. Solche Verzichte wurden von jeher von verschiedenen Seiten gefordert. Wir denken an den Zinswucher, an die von Adam Smith erwähnte unfaire Konkurrenz, an die Maßlosigkeit der Manchester-Schule, an die amerikanischen robber-barons, die inside-traders in unserer Zeit. Man fragt da, ob ein maßvolleres Verhalten von Eigentümern und eine größere Anerkennung ihrer Entsagungsverpflichtungen dem Marxismus nicht den Wind aus den Segeln genommen hätten. Von der Strömung des Sozialismus wurden dann auch nicht-marxistische Sozialreformer getrieben, ihre gegen Eigentümer gerichteten Thesen zu verkünden. Wir denken an Christlichsoziale wie J. H. Wiehern, Adolf Stoecker, Adolf Kolping, Wilhelm Kettelee und Friedeich Naumann in Deutschland, an Charles Kingsley, John Maleolm Ludlow, Frederick D. Maurice und die Anglo- katholische Bewegung in England, an die Social Gospel, Francis G. Peabody, A. J. F. Behrends, Lyman Abbott and Washington Gladden in den Vereinigten Staaten. Ihre Arbeiten wurden durch Nationalökonomen unterstützt wie die Kathedersozialisten Adolph Wagner, Gustav Schmoller, Lujo Brentano, Adolf
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Held, Wilhelm Roscher. Sie wiederum beeinflußten in Deutschland studierende Amerikaner wie Richard T. Ely und Sirnon Patten, so daß die 1885 gegründete American Economic Association Milderungen des Laissez-faire sowie Einschränkungen von Eigentümern zwecks größerer Berücksichtigung sozialer Probleme in ihr Programm aufnahm. Daneben liefen juristische Angriffe gegen den individualistischen Eigentumsbegriff, wie die Ablehnung römischrechtlicher Eigentumskonzepte durch Deutschrechtler, die Ideen des Franzosen Leon Duguit über die soziale Funktion des Eigentums und die soziologische Jurisprudenz in den USA?' Die Deutschrechtier hatten es nicht allzu schwer, die soziale Funktion des Eigentums zu demonstrieren. Der Römischrechtier Rudolf von Jhering gab ihnen willkommene Schützenhilfe. Er hob hervor, daß sogar das römische Recht, "das den Grundsatz der individuellen Selbständigkeit so klar und bewußt erlaßt und so energisch und in so weiter Ausdehnung durchgeführt hat", nicht als Grundlage für einen bloß individualistischen Eigentumsbegriff gelten kann. "Es ist also nicht wahr, daß das Eigentum seiner ,Idee' nach die absolute Verfügungsgewalt in sich schlösse. Ein Eigentum solcher Gestalt kann die Gesellschaft nicht dulden und hat sie nie geduldet- die ,Idee' des Eigentums kann nichts mit sich bringen, was mit der ,Idee der Gesellschaft' in Widerspruch steht. Diese Vorstellung ist noch ein Rest jener ungesunden naturrechtliehen Vorstellung, welche das Individuum auf sich selbst isolierte ... Der Grundsatz der Unantastbarkeit des Eigentums heißt die Dahingabe der Gesellschaft an den Unverstand, Eigensinn und Trotz, an den schnödesten frevelhaftesten Egoismus des Einzelnen - ,mag alles zu Grunde gehen, wenn mir nur mein Haus, Land, Vieh bleibt!,- Aber bleibt es Dir in Wirklichkeit, Du Kurzsichtiger? Die Gefahren, die Allen drohen, drohen auch Dir; die See, das Feuer, die Seuche, der Feind ereilen auch Dich, im allgemeinen Ruin wirst auch Du mit begraben- die Interessen der Gesellschaft sind in Wahrheit Deine eigenen, und wenn letztere in Dein Eigentum beschränkend eingreift, so geschieht es ebenso sehr Deinet-, als ihretwillen." Jhering zeigte an römischen Institutionen, daß sogar in Rom mit seiner weitgehenden Definition des Eigentums als eines ius utendi, fruendi, abutendi der Eigentümer niemals eine unbegrenzte Macht über sein Eigentum besaß. "Alle Rechte des Privatrechts, wenn sie auch zunächst nur das Individuum zum Zweck haben, sind beeinflußt und gebunden durch die Rücksicht auf die Gesellschaft, es gibt kein einziges, bei dem das Subjekt sagen könnte: dies habe ich ausschließlich für mich, ich bin Herr und Meister über dasselbe, die Konsequenz des Rechtsbegriffs erfordert es, daß die Gesellschaft mich nicht beschränke." Auch heißt es: "Man braucht nicht Prophet zu sein, um zu wissen, daß diese gesellschaftliche Auffassung des Privatrechts der individualistischen mehr und mehr Boden abgewinnen wird. Es wird eine Zeit kommen, wo das Eigentum eine andere Gestalt an sich tragen wird als heute, wo die Gesellschaft das angebliche Recht des Individuums, von den Gütern dieser Welt möglichst viel zusammen zu scharren .. . nicht mehr anerkennen wird," weil die individualistische Auffas21
Siehe mein Zur Verteidigung des Eigentums, 116 ff.
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sung von Eigentum unter dem Votwand der "Heiligkeit des Eigentums" tatsächlich die "Unersättlichkeit, Gefräßigkeit des Egoismus" unterstützt. 22 Die Zeit, in der dem Privateigentum eine andere Rolle zugedacht wurde als eine individualistische und egoistische, kam. In Deutschland wurden Bismarcks Sozialgesetze um die Zeit verabschiedet, als der Deutschrechtier Otto v. Gierke den "absolutischen Begriff des Eigentums" als eine "gemeingefährliche" Fiktion bezeichnete, die "eine Vermutung für Schrankenlosigkeit" begründet. 23 Gierke tadelte den 1888 veröffentlichen Entwurf des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches, weil er den Mißbrauch des Eigentums nicht verbot. Er behauptete, jedes Recht schließe eine Pflicht in sich, habe eine moralische Grenze, und verlangte die Verdichtung sittlicher Verpflichtungen zum rechten Gebrauch des Eigentums in gesetzliche. Im öffentlichen Recht gab es ähnliche Verlangen, die sich in Verfassungsbestimmungen niederschlugen. Artikel 9 der preußischen Verfassung von 1850 lautete noch "Eigentum ist unverletzlich", und diese Formulierung wurde mit unbedeutenden Abweichungen von anderen deutschen Staaten übernommen. Dagegen beschränkt sich die Weimarer Verfassung mit der Feststellung, das Eigentum werde von der Verfassung garantiert, und bestimmt in Art. 153: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine und Beste". Andere Nationen machten etwa dieselben Erfahrungen. Beschränkungen des Privateigentums wurden nicht nur für kommunistische und sozialistische Länder bezeichnend, sondern auch für liberale Demokratien. Wir brauchen nur an die Beispiele zu denken, die traditionell kapitalistische und liberale Demokratien wie England und die Vereinigten Staaten unter Regierungen der Labour Party und unter Programmen wie dem New Deal, der New Frontier boten und daran, daß das Gebotene von späteren Regierungen kaum rückgängig gemacht wurde, weil die Wähler das offenbar nicht wollten. Vielleicht wäre es zu solchen Einschränkungen und Regulierungen des Privateigentums durch die öffentliche Gewalt nicht gekommen, wenn Eigentümer von sich aus, sittlichen und moralischen Etwägungen folgend, mehr die menschenrechtliehen Verpflichtungen des Eigentums der Gemeinschaft und den nächsten gegenüber anerkannt und sich entsprechend verhalten hätten für das Gemeine und Beste. "Dienst . . . für das Gemeine und Beste": die Formulierung fasziniert. Beim Dienst denkt man an Pflichterfüllung, aber auch an die Ausnutzung des Pflichtgefühls. An letztere besonders dann, wen man an Dienstverpflichtung denkt. Dieser Begriff trägt mit der Verschweißung von Dienst und Verpflichtung den Gedanken der Pflicht derart dick auf, daß einem vor deren Ausnutzung geradezu schaudert, zumal bittere Erfahrungen vor nicht allzu langer Zeit gezeigt haben, daß Dienst für das Gemeine Dienst für das Beste vor allem derer war, die Dienstverpflichtungen auf gemeine Weise unter Lippenbekenntnissen zum Altruismus egoistisch ausnutzten. Die sicher gut gemeinte Formulierung der Verfassungsväter von Weimar erin22 23
Der Zweck im Recht, 3. Aufl., Leipzig 1893, I, 515 - 534 passim. Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889, Neudruck Frankfurt 1948, 17 ff., 20.
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nert an den Satz eines Großen dieser Stadt, "edel sei der Mensch, hilfreich und gut". Sie ist aber riskant angesichts der Tatsache, daß gesetzgebensehe Motive oft vergessen werden, sich von ihren Urhebern abstrahieren und loslösen, so daß der Gesetzestext dann als weiser angesehen wird als der Gesetzgeber. Auslegungen und Exegesen von Gesetzen haben das hinreichend gezeigt. So kann die Formulierung des Artikels 153 eine ominöse Bedeutung annehmen. Da sie nicht vom Dienst an der Gemeinschaft, am gemeinen Wohl, sondern von dem für das Gemeine spricht, kann das Gemeine als das Alltägliche, Durchschnittliche, ja sogar als das Böse, also als wahres Gegenteil des Besten erscheinen, denn all diese Begriffe können in das Gemeine hineingelesen werden. Das Betonen einer "Volksgemeinschaft" unter der Devise "du bist nichts, dein Volk ist alles", das zur Hingabe von Allem für das Volk und seine Herrscher aufforderte, zur Unersättlichkeit und Gefräßigkeit eines Altruismus wurde, der nur allzu oft als Deckmantel für die Unersättlichkeit und Gefräßigkeit der Führenden diente, hat demonstriert, daß dies alles durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Der oft hervorgehobene rechtsstaatliche Charakter des Artikels 153, nach dem Eingriffe in das Privateigentum nur aufgrundvon Gesetzen erfolgen dürfen, ändert daran nichts. Unter der Weimarer Verfassung, die oft als demokratisches Leitbild hingestellt wurde, war der Rechtsstaatsbegriff derart formalisiert, daß praktisch dem Gesetzgeber keine Schranken auferlegt waren. Er konnte je nach Belieben all das zum Gesetze machen, was ihm gerade einfiel und gefiel, also auch das Gemeine im Sinne des Durchschnittlichen oder des Bösen, welches er von seiner Sicht aus dann einfach als "das Beste" ansehen konnte. Als Bestes konnte er sowohl das betrachten, was die Gemeinschaft im besten Sinne dieses Wortes schaffensfreudig macht, aber auch das, was Gemeine durch den Genuß dessen, was sie durch Einschränkungen des Eigentums anderer bekamen, ohne selbst etwas zu schaffen, gemein macht. In der modernen liberalen Demokratie ist vieles möglich, weil sie immer demokratischer wird und auch liberaler in dem Sinne, daß sie sich mehr und mehr dem reinen Liberalismus nähert, der keinerlei Restriktionen der Freiheit mehr anerkennt und in vielen Ländern dahin tendierte, auch die Freiheit der regierenden Mehrheit immer weniger zugunsten der Rechte des Individuums zu begrenzen, besonders im Hinblick auf das Menschenrecht des Privateigentums. Das flößt Furcht ein vor Verpflichtungen der Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt. Es erregt den Wunsch nach der Privatrechtsgesellschaft, in der das öffentliche Recht über das zur Erhaltung von Recht und Ordnung notwendige minimale Maß nicht hinausgeht. Bedenkt man, daß die Bewegung des Liberalismus gegen Eingriffe des öffentlichen Rechts in die Privatsphäre zustandekam und zieht man ferner in Betracht, daß der Kampf der Liberalen anfangs und für lange Zeit auf den sogenannten Nachtwächterstaat gerichtet war gemäß der Parole that government is best that govems least, und daß alles im Zeichen der Befürwortung von Menschenrechten stand, so erweist sich eine Menschenrechtsgesellschaft als eine Privatrechtsgesellschaft, die Menschenrechte als verpflichtend ansieht, eine Privatrechtsgesellschaft mit sozialem Gewissen.
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7. Das soziale Gewissen Menschenrechtswürdiger muß sich einmal gegenüber dem Staat und der Regierung zeigen, da ohne diese eine Privatrechtsgesellschaft nicht garantiert ist. Sodann sollte es auch den Nächsten gegenüber demonstriert werden, um der Nächstenliebe willen, aber auch zum Zwecke der Verhinderung staatlicher Regulierungen und Eingriffe in die Privatsphäre auf Verlangen derer, die sich unberücksichtigt und unberechtigt benachteiligt wähnen. Dabei ist stets von der jeweiligen Situation auszugehen. Das Außerachtlassen menschenrechtlicher Differenzen ist ein großes Problem der Menschenrechte sowie ihrer Verpflichtungen. Es kann leicht zu Arroganz, Besserwisserei und Rechthaberei führen. Die Geschichte macht klar, daß um Menschenrechte unter jeweils verschiedenen Bedingungen verschiedenartig gerungen wurde und daß diese unter solchen Umständen auf unterschiedliche Weise von der öffentlichen Gewalt anerkannt wurden. Das ist noch heute offenbar, man braucht sich nur die Grundrechtsdeklarationen internationaler Abmachungen und Organisationen und der einzelner Staaten anzusehen. Man findet da lediglich eine gewisse, nicht aber eine völlige Übereinstimmung darüber, was Menschenrechte sind und in welchem Umfang sie existieren. Liberale Demokratien haben diesbezüglich oft andere Auffassungen als kommunistische Volksdemokratien, und Länder ohne Rassenprobleme andere als solche mit derartigen Konflikten. Die einzelnen Auffassungen sind meist gerechtfertigter, als Außenstehende denken. Mit anderen Worten: es hat bisher noch keinen Menschenrechtsstandard gegeben, der für sich in Anspruch nehmen könnte, der einzig und allein richtige zu sein, und zwar nicht nur überhaupt, weltweit, sondern lediglich im Hinblick auf gegebene lokale und zeitliche Verhältnisse. Da kann es einzig und allein nur richtig sein, menschenrechtliche Situationen unter Berücksichtigung der Lage in den verschiedenen Teilen der Erde mit einer gewissen und gewissenhaften Toleranz zu beurteilen. Man darf sie nicht von vornherein verurteilen, muß dortigen Fortschritten Achtung zollen, wenn sie auch nicht so schnell fortschreiten, wie man es gern möchte, und sich davor hüten, Menschenrechtsstandarde aufgrund allzu subjektiver Maßstäbe zu kritisieren. Auch sollte nicht vergessen werden, daß die Verschiedenheiten solcher Standards Menschenrechten insofern dienlich sein können, als sie es den einzelnen ermöglichen, von einer Menschenrechtssituation in eine andere, ihnen angenehmere, überzuwechseln. Die Freiheit der Wahl ist ein bedeutendes Menschenrecht. Sie entfällt zum guten Teil, sobald es nur einen einzigen Menschenrechtsstandard gibt. Es erschien mir immer zweifelhaft, ob sich der amerikanische Kongreß zumuten durfte, den verschiedenen Teilen seines ausgedehnten Territoriums einen bestimmten Menschenrechtsstandard vorzuschreiben, weil das nicht nur örtliche Gegebenheiten unberücksichtigt ließ, sondern auch die Möglichkeit weiterer menschenrechtlicher Fortschritte, wie sie durch verschiedene Experimente zustandekommen können, schmälerte. Da er überdies einen über alle Kritik erhabenen, also allein richtigen Menschenrechtsstandard nicht kannte, weil den niemand kennt, war seine Gesetzgebung vielleicht arrogant, obwohl sie unter dem Druck der Gefahr eines
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Bürgerkrieges zustandekam. Eine Arroganz könnte a fortiori bestehen, wenn der gleiche Menschenrechtsstandard für verschiedene Völker eines Kontinents, ja des ganzen Erdballs, dekretiert wird. Aber wie es trotz verschiedener Gesetze in einzelnen Ländern gewisse Dinge gibt, in denen Rechtssysteme sich ähneln und die allgemein anerkannt werden wir denken an den Satz pacta sunt servanda, an das Prinzip, in einem Rechtsstreit alle Parteien zu hören - so gibt es auch allgemeine Prinzipien der Menschenrechte und entsprechende Verpflichtungen dieser Rechte. In einer Privatrechtsgesellschaft, einer mit nur minimalen, notwendigen Einschränkungen der Freiheitssphäre des Individuums durch die Regierung und einer maximalen Anerkennung der Menschenrechte, versteht es sich von selbst, daß die Verpflichtungen der Bürger, ihre Rechte gegenüber dem Staat nicht auszunutzen, maximal sein müssen. Es gibt nicht nur eine Ausnutzung des Pflichtgefühls der einzelnen durch Regierungen, es gibt auch eine Ausnutzung der Menschenrechtsfreundlichkeit des Staates durch die Menschen. Letztere führt zur Abnutzung des Staates, also gerade der Einrichtung, die immer noch als der Hauptgarant des Rechts und damit der Menschenrechte angesehen werden kann, wie sehr sie im Zeitalter internationaler Organisationen auch im Verschwinden begriffen sein mag. Somit kann eine Abnutzung des Staates durch Ausnutzung der Menschenrechte diese am Ende ihres zur Zeit wirkungsvollsten Schutzes berauben. In unseren Tagen erscheinen mir folgende Verpflichtungen derer, die Menschenrechte genießen, vorrangig, wenn dadurch auch kein genereller Vorrang dieser Verpflichtungen vor anderen angezeigt werden soll, weil ja die Gleichheit aller Menschenrechte auf die Gleichheit ihrer Verpflichtungen weist. Es handelt sich hier also lediglich um die Art von zeitlich gebundener Betonung, die auch beim Kampf um die Anerkennung einzelner Menschenrechte vorhanden war, ohne diesen jedoch unter anderen Menschenrechten für immer eine bevorzugte Stellung zu verleihen. Zunächst sollte es keine Ausnutzung und Abnutzung der staatlichen Autorität durch Kriminelle geben. Der bekannte Strafrechtler Franz v. Liszt bezeichnete Strafgesetze als die Magna Charta des Verbrechers.24 Diese Magna Charta sollte nicht derart durch prozessuale Kniffe ausgenutzt werden, daß es zweifelhaft werden könnte, ob der Staat das Recht und seine Ordnung noch im Griffe hat. 1934 nahm der bekannte Staats- und Verfassungsrechtier Carl Schmitt in einem vielbeachteten Aufsatz den Gedanken Liszts gedankenreich auf und schrieb, so, wie die Strafgesetze nicht zur Magna Charta des Verbrechers werden dürften, dürften liberale Verfassungen nicht zur Magna Charta derer werden, die sie zerstören wollten.25 Man kann diese Ansicht weiterführen und sagen, Grundrechtsgarantien des Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 22. Aufl., Berlin 1919, 18. Der Führer schützt das Recht, in Deutsche Juristen-Zeitung XLIX (1934), 945. Siehe auch dessen Nationalsozialismus und Rechtsstaat, in Juristische Wochenschrift, LXIII (1934), 714. 24
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12 Dietze
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Staates dürfen nicht zur Magna Charta derjenigen werden, die durch Ausnutzung ihrer Rechte und Abnutzung des Staates als Garanten der Menschenrechte diese letztlich durch Aushöhlung der öffentlichen Gewalt zerstören. Es sollte immer gefragt werden, ob nicht nur Kriminelle, Hoch- und Landesverräter die Existenz der staatlichen Ordnung gefährden, sondern auch unter dem Schutz der Grundrechte agierende und revoltierende Demonstranten, denn von der Agitation zur Revolution ist es oft nur ein kleiner Schritt. Besonders unter den Regierungen frei gewählter Volksvertreter sollten Demonstranten ihrer bürgerlichen Verpflichtungen eingedenk sein. Dies sollten schließlich auch Empfänger von Sozialleistungen des Staates und solche, die es werden wollen, denn auch das finanzielle Ausbluten des politischen Körpers kann zu seinem Verbluten führen. Neben Ausnutzungen des öffentlichen Rechts gibt es die des Privatrechts. Und wie erstere nicht allein dem Staate schaden, sondern auch einzelnen, so schaden letztere zwar zunächst den Mitmenschen, letzten Endes jedoch auch dem öffentlichen Wohl. Die Doktrin des abus de droit wurde zur Zeit Gierkes und Jherings in Frankreich innerhalb des Privatrechts entwickelt. Am 2. Mai 1855 entschied ein Gericht in Colmar im Elsaß, wo heute der bekannte Altar von Mathias Grünewald Christi Leiden eindringlich darstellt, das Eigentumsrecht müsse sich auf die Befriedigung wirklicher und legitimer Interessen beschränken, die Grundsätze der Moral und Fairneß sträubten sich gegen eine Justiz, die eine von Böswilligkeit motivierte Verhaltensweise erlaubt, welche nur als Schikane empfunden werden kann. Die Entscheidung machte Schule. Es kam zu einer weiten Auslegung des Rechtsmißbrauchs, die nicht auf Frankreich beschränkt blieb.26 Zweifellos ist ein Mißbrauch des Rechts im formalistischen Rechtsstaat ein Widerspruch in sich selbst. Ein Goebbels konnte vor 1933 wohl spotten, die Weimarer Republik sei dumm genug, wenn sie es seiner Partei erlaube, sie zu zerstören. Und ein Privatmann kann durchaus sagen, er könne sein privates Recht so geltend machen, wie er es wolle. Das Gesetz ist hart. Barlachs Rächer zeigt das. Zwischen rächen, rechten und richten ist der Unterschied nicht groß. Andererseits hat schon das wegen seiner individualistischen Härte bekannte römische Privatrecht die Worte Senecas beherzigt: Quanto latius officiorum patet quam iuris regula? Quam multa pietas, humanitas, liberalitas, iustitia, fides exigunt, quae omnia extra publicas tabulas sunt. 27 Die Römer betrachteten moralische Pflichten so bedeutend wie gesetzliche. Und wenn wir dem Satz des großen Positivisten Georg Jellinek folgen, das Recht sei nur ein ethisches Minimum, den gerade das positive Recht und seine positivistische Interpretation in unserem Jahrhundert bewiesen haben, ergibt sich die Verpflichtung, das einem rechtlich Zustehende dem Nächsten gegenüber auf moralische und über das ethische Minimum hinausgehende Weise geltend zu machen und die Nächstenliebe nicht aus den Augen zu lassen. Menschenrechtliche Freiheiten sind maßvoll zu nutzen und nicht auszunutzen, auch einzelnen gegen26 21
Zum abus de droit, siehe mein Zur Verteidigung des Eigentums, 132 ff. De ire, II, 28.
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über. Wie immer man über abus de droit denken mag: eine freiwillig rücksichtsvolle Geltendmachung privater Rechte schneidet jeder Kritik einer Ausnutzung dieser Rechte das Wort ab. Um beim zentralen Gegenstand des Privatrechts zu bleiben, wird man sich erinnern, daß ich Regulierungen und Degradierungen des Eigentums durch die öffentliche Gewalt bemängelte. Aber bei jeder Kritik muß man nach den Gründen für das Beanstandete fragen, denn alles Böse und Gute hat seinen bösen und guten Grund. Sicher gab es Beschränkungen des Privateigentums durch Regierungen, weil Eigentümer ihren Verpflichtungen nicht nachkamen. So erscheint es angezeigt, an die Verpflichtungen von Eigentümern gegenüber ihren Mitbürgern zu erinnern. Das privatrechtliche Pflichtgefühl sollte mit wachsender privatrechtlicher Freiheit steigen. Denkt man zum Beispiel an die Reduzierung der nach dem Zweiten Weltkrieg vielerorts üblichen Regulierungen des Wohnraums, so sollten Vermieter, die durch Kriegsereignisse kaum betroffen wurden, es sich reiflich überlegen, ob sie Mietern kündigen sollten, die nach ihrer Flucht infolge von Feindeshandlungen in ihnen gehörigen Grundstücken eine neue Bleibe und Heimat fanden, um sie abermals zur Flucht zu verfluchen. Das trifft besonders dann zu, wenn sie ihr Haus bloßer Erbschaft verdanken und sich der Mieter gar noch sein Heim, das er als Ausgebombter oder Flüchtling verlor, unter Mühen selbst erschuf. Man hat das Erbrecht wohl weniger aufgrund des Erbens an sich angegriffen als deshalb, weil Erben ihr Erbteil auf Kosten ihrer weniger bemittelten Mitmenschen rücksichtslos ausnutzten. Auch der böse Neid hat seine guten Gründe. Daneben sollte nicht übersehen werden, daß die Wohnungszwangswirtschaft zum guten Teil darauf beruht, daß Mieter den Zwängen von Vermietern, die sich ihrer menschenrechtliehen Verpflichtungen nicht genügend bewußt sind, entgehen wollen. Ähnlich sollte auch bei anderen Schuldverhältnissen Rücksicht genommen werden, obwohl die meist nicht Härten aufweisen, wie die Kündigung einer Wohnung als eines gewohnten ruhenden Punktes im Lebensbereich, einer Zufluchtsstätte vom Ungemach modernen Geworfenseins. Rücksichtnahme geziemt Jungen gegenüber Alten, Gesunden gegenüber Kranken, Frohen gegenüber Unglücklichen. Nach dem Tode eines nahen Angehörigen sollte einem nicht gleich ein unerfreuliches Schreiben zugestellt werden. Immer sollte der Fordernde darauf achten, daß eine gewisse und gewissenhafte Relation zwischen seinem Ansinnen und dem Leid, das dieses dem Mitmenschen antun könnte, besteht. Selbstverständlich geht die Verpflichtung des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren nicht so weit, daß er seinen Großmut ausnutzen lassen muß. Aber Großzügigkeit ist im Privatrecht ebenso am Platze wie im öffentlichen. Wie es sie dort bis zur Begnadigung hin gibt, sollte es sie auch da im Sinne des Vergebens geben. Harte Aktionen werden oft harte Reaktionen hervorbringen. Wenn Rechtskämpfe hart ausgefochten werden, hat das zwar unmittelbar einen offiziellen Rechtsfrieden zur Folge. Ressentiments bei den Unterlegenen wird es kaum beseitigen. Sie werden glauben, aufgrund bloßer ungerechter Gesetze verloren zu haben, nicht aber aufgrund des Rechts im Sinne einer höheren Gerechtigkeit. Aber wie der Rechtsstaat dem Geset12*
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zesstaat vorzuziehen ist, das verantwortungsvolle moralische Recht der verantwortungslosen Ausschlachtung zweifelhafter Gesetze, so soll die Privatrechtsgesellschaft eine Rechtsgesellschaft sein und nicht nur eine Gesetzesgesellschaft Sonst dürften immer mehr Menschen Karl Marx. beipflichten, daß das von den Gesetzen propagierte Recht nur ein Mittel der herrschenden Klasse ist, andere zu unterdrükken. Die vom öffentlichen Recht sanktionierte Privatrechtsgesellschaft dürfte bei maßvoller ethischer, moralischer und sittlicher Anwendung der Gesetze im Sinne der Nächstenliebe ein Verlangen nach Einmischung der Regierung zum Schutze Bedürftiger unnötig machen und eine Verdrängung des prinzipiell menschenrechtsfreundliche Privatrechts durch das im Grunde menschenrechtsgefährdende öffentliche Recht verhindern. Es besteht wohl wenig Zweifel, daß privatrechtliche Exzesse ähnlich zu öffentlichen Kontrollen und Regulierungen führten, wie der bellum ornnium contra ornnes zum Leviathan des Thomas Hobbes, der so manchen Menschenrechten zum Zwecke des Friedens den Garaus machte. Vor wenigen Jahren sprach Manfred Hättich von Frieden durch Friedfertigkeit. Dieser Gedanke kann durch das Schlagwort ,,Recht durch Rechtfertigkeit" ergänzt werden. Auch das durch Rechtfertigkeit erzielte Recht ist ein Schritt zum Frieden, und Rechtfertigkeit ist in mancher Beziehung Friedfertigkeit. Der Rechtfertige wird mit dem ihm günstigen objektiven Recht nicht nur durch dessen positivistische Durchsetzung fertig, sondern wird dies besonders deshalb, weil er sich großmütig vom bloßen Beharren auf einem ethischen Minimum zum ethischen Maximum hin bewegt, vom positiven Gesetz zur allgemeinen Gerechtigkeit durch ein faires, ja großzügiges Verstehen der mißlichen Lage des anderen. Dadurch wird die Rechtfertigkeit zur Friedfertigkeit, zu Recht und Frieden, zum wahren, nicht vorübergehenden Rechtsfrieden. Letzterem ist auch gedient, wenn man nicht allzu viele Rechte für sich verlangt, mit denen, die man bereits genießt, sich zufrieden gibt. Der Friede wird gefördert, wenn man friedfertig auf die rücksichtslose Ausübung seiner Rechte sowie auf Beanspruchung weiterer Rechte verzichtet und nach gewissenhafter Abwägung der Interessen aller maßvoll seine eigenen Verpflichtungen anerkennt. Die Gebote der Friedfertigkeit und der Rechtfertigkeit zum Zwecke des Friedens und des Rechts existieren hinsichtlich aller Menschenrechte auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. 1965, kurz nach der weitgehend politisch motivierten Verabschiedung einer umfangreichen Zivilgesetzgebung in den USA im Namen der Menschenrechte, beklagte Louis Henkin, daß in den Vereinten Nationen Menschenrechte sich als politischer Fußball erwiesen und die Politik zur antagonistischen Ausbeutung dieser Rechte im Kalten Krieg geführt habe. 28 Drei Jahre später, im Internationalen Jahr der Menschenrechte, brachte Moses Moskowitz ein Buch unter dem Titel The Politics and Dynamics of Human Rights heraus. Durch die Geschichte hindurch, besonders aber seit der amerikanischen Unabhängigkeitser28
The United Nationsand Human Rights, in International Organization, XIX, 511.
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klärungund dem Kommunistischen Manifest, ganz besonders aber seit dem Zweiten Weltkrieg, ist sich die Menschheit der Dynamik der Menschenrechte bewußt gewesen. Hegels Ansicht vom Gang der Geschichte als einer fortschreitenden Entwicklung zur Freiheit kann als Bewegung zur steigenden Anerkennung von Menschenrechten gesehen werden. Es ist wohl außer Zweifel, daß in ihr die Politik eine wichtige Rolle spielte. Aber über die Politik kann man seine Zweifel haben, über die große Politik der Mächte, die kleinere der Parteien und die noch kleinere privatrechtlicher Gegner. In der Politik wird viel gebogen und gelogen, ob man das Politische nun wie Carl Schmitt als Freund/Feind-Verhältnis sieht oder, wie zumeist in westlichen liberalen Demokratien, als Kompromißbereitschaft und stetes Kompromittieren. Der von dem Liberalen F. A. Hayek herausgestellte David Hume schrieb neben Essays über den Ursprung der Regierung und über zivile Freiheit, einer Untersuchung über die Prinzipien der Moral, auch einen Essay darüber, daß die Politik zu einer Wissenschaft reduziert werden mag. Und wenn im Federalist, dem klassischen Kommentar zur amerikanischen Verfassung, von der Wissenschaft der Politik die Rede ist, dann in Verbindung mit Einrichtungen, die ein maßvolles Maß an Menschenrechten und deren Verpflichtungen anzeigen. Vielleicht kann die politische Wissenschaft dazu beitragen, das politische Drängen nach mehr und mehr Menschenrechten, das unsere Zeit kennzeichnet und vielleicht zeichnet, sinnvoll zu gestalten. Jedenfalls erscheint es fraglich, ob es auf die Dauer sinnvoll sein wird, den jeweiligen Verpflichtungen der Menschenrechte zu entrinnen. Stimers nihilistischer Befreiungsruf im Geburtsjahr Nietzsches machte ihn, im Gegensatz zum Erscheinen von Schopenhauers Hauptwerk, sofort berühmt. Sein Aufschrei verhallte jedoch schnell. Menschenrechte blieben rechtsstaatlich gehegt. Selbst in den Vereinigten Staaten machte man klar, daß ihre Reklarnierung die öffentliche Sicherheit nicht gefährden darf.29 Vielleicht kann man in Edvard Munchs Schrei - gemalt zu einer Zeit, als neues Interesse an Stimer erwachte, als Nietzsches letzte Arbeiten, Der Antichrist, die Dionysos-Dithyrarnben und Ecce Homo, dalagen und Freud seine ersten Werke über die Hysterie veröffentlichte - ein Omen für die kommende Problematik der Menschenrechte sehen, eine Warnung an das neue Amerikanische Jahrhundert mit all seinen Neuigkeiten, Notschreie wegen Verletzungen von Menschenrechten nicht zu Notschreien aufgrund zu weit gehender Rechte der Einzigen und ihres Eigentums führen zu lassen.
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Schenck v. United States, 249 U.S. 47 (1919).
V. Menschenrechte und Menschenrecht Die Problematik der Menschenrechte zeigt sich bei Menschenrechten sowie in deren Verhältnis zum Menschenrecht. Sie ergibt sich aus dem Grad der Reinheit jeweiliger Menschenrechte und des Menschenrechts. Dabei ist stets die Rolle zu beachten, welche die Menschen und das Menschliche in deren Schöpfung und Interpretation gespielt haben. Die einzelnen Menschenrechte sind von Menschen gemachte, die Menschen machen lassen. 1 Umfang und Faimeß dieses Laisser-faire machen ihre Problematik aus. Die doppelte Bedeutung von Menschenrechten als etwas von Menschen Hervorgebrachtes und etwas, nach dem Menschen handeln können, ist aus dem Wort "Menschenrechte", geht man ihm auf den Grund, selbst ersichtlich. Sie kann in dieses Wort hineingelesen werden, ohne der einen oder anderen Auslegung Abbruch zu tun. Alle Rechte setzen zu ihrem Entstehen menschliches Tun voraus und erlauben ein solches nach ihrem Zustandekommen. Alle Rechte sind Rechte der Menschen, im Rahmen des Möglichen von Menschen gemacht und von ihnen genutzt und ausgenutzt. Wenn sie das aber sind, wäre es widersinnig, gerade bei denjenigen Rechten, die speziell den terminus technicus "Menschenrechte" erhalten haben und denen damit das Menschenrechtliche auf die Stirn geschrieben steht, zu leugnen, daß auch sie von Menschen vollbracht, also von ihnen gemacht, genutzt und ausgenutzt werden? I Vgl. Max Stirner: "Trugen Wir in der sogenannten Feudalzeit Alles von Gott zu Lehen, so findet in der liberalen Periode dasselbe Lehnsverhältnis mit dem Menschen statt. Gott war der Herr, jetzt ist der Mensch der Herr; Gott war der Mittler, jetzt ist's der Mensch; Gott war der Geist, jetzt ist's der Mensch. In dieser dreifachen Beziehung hat das Lehnsverhältnis eine Umgestaltung erfahren. Wir tragen jetzt nämlich erstens von dem allmächtigen Menschen zu Lehen unsere Macht, die, weil sie von einem Höheren kommt, nicht Macht oder Gewalt, sondern ,Recht' heisst: das ,Menschenrecht'." Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1845, in Hans G. Helms, Hrsg., Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften, München 1968, 127. Für die Ansicht, daß alles Recht auf menschlicher Rechthaberei beruht, siehe mein Der Begriff des Rechts, 1994 (noch nicht veröffentlicht). 2 Stirner schreibt, Bruno Bauer hielte Juden wie Christen "das allgemeine Menschenrecht vor. Das Menschenrecht!" Er selbst trifft wohl die von mir gemachte Unterscheidung zwischen dem Menschenrecht (Einzahl) als Quelle aller partikulären Menschenrechte (Mehrzahl) und eben diesen Menschenrechten als teilweisen Realisierungen des Menschenrechts nicht. Er erwähnt "ein ,allgemeines Menschenrecht'" und meint damit offenbar eines der Menschenrechte, wie auch, wenn er "ein Menschenrecht" erwähnt. Sonst spricht er von Menschenrechten in der Mehrzahl. A.a. 0 ., 123, 103, 175, 189. Auf Seite 123 zeigt er an, daß Bauer die "allgemeinen Menschenrechte" und "das allgemeine Menschenrecht ... Das Menschenrecht" gleichsetzt.
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Die eben gezeigte Unterscheidung darf nicht übersehen werden. Man muß sich vor einseitigen Auffassungen hüten und sollte Menschenrechte nicht lediglich als etwas bereits Vorhandenes ansehen, das honoriert oder mißachtet wird. Eine derartige Ansicht erscheint aber seit langer Zeit gang und gäbe. Vielleicht ist sie mit darauf zurückzuführen, daß im Römischen Recht das Recht des Eigentums, das wohl am längsten anerkannte Menschenrecht, mit ius utendi, fruendi, abutendi als etwas Gegebenes definiert wurde, das man nutzen und ausnutzen konnte. Jedenfalls sind Menschenrechte lange so gesehen worden, sieht man sie vorwiegend so in unserer Zeit. Die ist nämlich gekennzeichnet durch dauernde Berufungen auf existierende Menschenrechte der vielfälligsten Art. Sie erinnern an Zeiten, in denen in Deutschland die Volksgemeinschaft derart betont wurde, daß es z. B. passieren konnte, daß einem, der sich beim Fahrkartenschalter nach vom drängte, tadelnd zugerufen wurde, das sei keine Volksgemeinschaft. Heute hört man vor allem in Ländern mit weitreichenden Menschenrechtsgarantien Klagen, bestehende Menschenrechte würden mißachtet. In den Vereinigten Staaten, wo der praktische Liberalismus mit seinen Betonungen der Rechte der einzelnen wohl am offenbarsten zutage tritt, hat das zu einer nicht abreißenden Kette von Prozessen wegen vermeintlicher Verletzungen von Menschenrechten geführt, die nicht nur Präsident Reagan bedauern ließ, daß das Land zu einem wahren Eldorado für solche geworden ist, die behaupten, ihre Menschenrechte seien verletzt, zu einer Iitigation society mit der ihr eigenen Schwächung der Gesellschaft. Bedenken über die Einseitigkeit, Menschenrechte lediglich als etwas bereits Gemachtes zu sehen, folgen schon daraus, daß Gemachtes erst einmal gemacht werden muß. Bei Menschenrechten sind die Menschen nicht nur Nehmende, sondern auch Gebende. Nehmen setzt immer Geben voraus. Man muß daher Menschenrechte auch als etwas Werdendes sehen, nicht nur als etwas Gewordenes. Nicht allein die oft bis zur Erschöpfung reichende Ausschöpfung gegebener Menschenrechte ist zu beachten, sondern auch deren Schöpfung. Die Menschen sind nicht nur als unter Menschenrechten stehend zu sehen, sozusagen als deren rechtliche Geschöpfe, sondern auch als deren Rechtsschöpfer. Menschen bewirken Menschenrechte und lassen diese nicht nur auf sich einwirken. Sie bestimmen sie und lassen sich nicht nur von ihnen bestimmen. Der Mensch ist creator und creature der Menschenrechte zugleich. Die einseitige Betonung des von Menschenrechten Gestatteten geht lange zurück. Und zwar handelt es sich hier stets um spezifische Rechte, die jeweils genannt wurden. Das ist in der an Menschenrechtlichem reichen Geschichte Englands offenbar. Die Krönungseide der Könige enthielten Aufzählungen der Rechte der Vasallen gemäß dem Vertragsverhältnis des Feudalismus, die sich der Monarch verpflichtete zu halten. Bei der von Johann 1215 unterzeichneten Magna Carta Libertatum war es nicht anders. Sie wurde ihm abgerungen, weil er, den Versprechen seines Krönungseides untreu geworden, in bestimmte Rechte der Vasallen eingegriffen hatte. Sie war keineswegs das Resultat einer Revolte, sondern lediglich eine diffidatio, nach der die Barone auf ihren aus dem Feudalverhältnis herrührenden
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Rechten bestanden, unter denen die des Eigentums hervorragten. 3 Auf ähnliche Weise enumerieren die Petition of Right (1628), die unter Anleitung von Sir Edward Coke entworfen wurde, spezifische Rechte, wie auch die Bill of Rights von 1689 zum Abschluß der Glorreichen Revolution, wenn sie die "althergebrachten Rechte und Freiheiten" der Engländer noch einmal bestätigt. Ob man nun die von Coke vor dem Sieg des Parlaments über die Monarchie verfaßten Institutes liest oder Blackstones danach geschriebene Commentaries: immer werden da ganz bestimmte Rechte der Engländer genannt, die gegenüber der Regierung, sei sie nun monarchisch oder parlamentarisch, beansprucht werden können. Es waren diese rights of Englishmen, welche die amerikanischen Kolonien gegen belastende Maßnahmen des englischen Parlaments behaupteten. Daher kann es nicht überraschen, wenn die Unabhängigkeitserklärung von 1776 eine lange Aufzählung all der einzelnen Rechte enthält, die unter Georg III. negiert und verletzt wurden. Auch die Grundrechtskataloge der einzelnen unabhängig gewordenen Staaten enthalten konkrete Menschenrechte, aus denen die Bürger bestimmte Ansprüche an die Regierung stellen konnten. Als die 1787 in Philadelphia entworfene neue Bundesverfassung zur Ratifizierung anstand, wurde an ihr die Abwesenheit einer Bill of Rights bemängelt, welche die Individuen gegenüber der Bundesregierung schützt.4 Dem wurde abgeholfen, da einige Staaten es zur Bedingung für ihre Ratifikation der Verfassung machten. Auch im Grundrechtskatalog des Bundes wurden Menschenrechte im einzelnen aufgeführt, die andere, im ursprünglichen Verfassungsdokument bereits vorhandene ergänzten. Auch die Franzosen sahen zu, daß Menschenrechte als ganz bestimmte Rechte formuliert wurden. Schon das wohl bekannteste Bekenntnis zu diesen Rechten, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, enthält neben allgemeineren Formeln eine Aufzählung konkreter Rechte, aus denen man Ansprüche gegenüber der Staatsgewalt glaubte herleiten zu können. Der Gedanke, diese Rechte nutzen und ausnutzen zu können, wurde im republikanischen Frankreich derart populär, daß man bei der Schaffung der Verfassungsgesetze der Dritten Republik davon absah, einen Grundrechtskatalog zu formulieren, weil man es für selbstverständlich hielt, daß die in der Erklärung genannten Rechte Teil dieser Gesetze waren. Die Verfassungen der Vierten und Fünften Republik unterstellen die fortwährende Geltung der Erklärung von 1789, enthalten aber darüber hinaus neue Formulierungen von Menschenrechten, die wiederum als gegebene Normen angesehen wurden, aus denen die einzelnen Nutzen ziehen konnten. In Deutschland war es nicht anders. Ob man nun die 1848 in der Faulskirehe zustande gekommenen Grundrechtsbestimmungen betrachtet, die in den einzelnen Siehe mein Magna Carta and Property, Charlottesville 1965. Walter Jellinek schloß sich in seiner Heidelberger Vorlesung über Staatsrecht der Meinung vieler 1787 lebender Amerikaner an, Grundrechte seien hinreichend durch die Grundrechtskataloge der einzelnen Staaten geschützt. Zur Unterstützung dieser Ansicht siehe den von Alexander Hamilton verfaßten 84. Essay des Federalist. 3
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Staaten vor und nach der Reichsgründung von 1871, in der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik Deutschland, in den Reichsverfassungen von 1871 oder 1919 sowie im Bonner Grundgesetz: immer erscheinen Menschenrechte als ganz bestimmte Rechte und immer wurden sie vornehmlich als Rechte gesehen, die vorhanden waren und die Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen berechtigten. Die verschiedenen Arten von Rechtsstaaten, die solchen Menschenrechten huldigten, waren ganz konkrete Gebilde, aus denen die Menschen ihre Rechte Regierung und Staat gegenüber herleiten konnten. Ihr Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung respektierte diese. 5 So erschienen Menschenrechte überall in lichter, scheinender Glorie, als etwas Daseiendes, gegen ungerechtfertigte Beschränkungen Rückversicherndes, auf das man sich verlassen konnte. Der Rechtsstaat mit seinem die Menschenrechte schützenden Inhalt erschien als etwa das, was Richard Thoma vor dem Ersten Weltkrieg als Rechtsstaatsidee gelobt hatte, die in ihrem unbeirrbaren Schutz der einzelnen dem entsprach, was Heinrich Triepel Anfang der dreißiger Jahre beim Treffen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer hervorhob, nämlich daß sich der Rechtsstaat als solcher mit seinem inhärenten Schutz der Menschenrechte über all seine verschiedenen Erscheinungen hinweghob, unantastbar ermutigend in seiner menschenfreundlichen Essenz. So ermutigend als Garant der Menschenrechte wie die amerikanische Verfassung, von der Edward S. Corwin, der Nachfolger Woodrow Wilsons als McCorrnick Professor of Jurisprudence in Princeton, schrieb, sie sei der Bibel vergleichbar.6 Nun ist aber bekannt, daß es nach der Formalisierung des Rechtsstaates durch Stahl in Deutschland zu den verschiedensten Arten des Rechtsstaats kam, daß diese Arten und Ausartungen Menschenrechte verschieden beurteilten, sie nicht immer hinreichend würdigten, und die Geister sich darüber stritten, wie weit deren Schutz denn eigentlich gehen solle. Wir wissen, daß diese verschiedenen Arten des Rechtsstaats und deren unterschiedliche Auslegungen zu einem Auf und Ab der Menschenrechte führte und schließlich im Grundgesetz mit dem sozialen Rechtsstaat ein Zwitterding zustande kam, das seinerseits zu Streitigkeiten über den menschenrechtliehen Gehalt dieser Art von Rechtsstaat führte, die bis heute nicht zu Ende gekommen sind. Die allgemeine Annahme, in Rechtsstaaten konkrete Formulierungen der Menschenrechte vorzufinden, auf die man sich verlassen kann, bekam daher in der Praxis Konkurrenz durch fortwährendes Ändern und Weiterentwickeln in Literatur, Politik und Rechtsprechung. 7 s Siehe Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Berlin 1929. 6 Thoma, Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts, IV ( 191 0), 196 ff.; Triepel, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, VII (1932) 197; Corwin, The ,Higher Law' Background of American Constitutional Law, in Harvard Law Review, XLII (1928) 149. 7 Vgl. meine Beiträge zu den Festschriften für Gerhard Leibholz und Carl J. Friedrich unter den Titeln Rechtsstaat und Staatsrecht, Staatsrecht und Rechtsstaat, in Karl Dietrich Bracher, Christopher Dawson, Willi Geiger, Rudolf Smend, Hrsg., in Zusammenarbeit mit Hans-
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In anderen Ländern war es ähnlich. In Frankreich wurde der Etat de droit mit dem avenement de La loi zunehmend relativiert. Immer neue Gesetze unterwarfen Menschenrechte in den verschiedenen Verfassungen immer neuen Bewertungen, die ihnen Abbruch taten, auch wenn man es ablehnt, diesbezüglich von einer tegislation qui tue zu sprechen. 8 Auf der anderen Seite des Ärmelkanals wich A. V. Diceys bekannte Herausstellung der rule of law von dem von der Magna Charta, Coke und Blackstone vorgezeichneten menschenrechtsfreundlicheren Weg ab, da er gegen Ende des im Zeitalter der Gesetzgebungen liegenden liberalen Jahrhunderts die rule of law insofern relativierte, als er jedes vorschriftsmäßig zustande gekommene Gesetz mit ihr vereinbar hielt. Unter Ivor Jennings sah man dann eine zunehmende Bewertung von Menschenrechten zum Sozialen hin. Sie reflektierte den Schwund der Liberalen Partei und die wachsende Stärke der Labour Party. All das geschah zu einer Zeit, in der in den Vereinigten Staaten die soziologische Jurisprudenz mit Roscoe Pound, Louis D. Brandeis und Oliver Wendeli Holmes, Jr., von sich reden machte. 9 Auch in Amerika zeigte sich bei allen hoffnungsvollen Annahmen durch men in the street, Menschenrechte seien etwas Konstantes, Vorliegendes, daß deren Bewertung konstantem Wandel unterlag. Die dortige hohe Einschätzung dieser Rechte als etwas verläßlich Gegebenes wurde schon am Anfang der Nation angezeigt, als Rarnilton in Essay 84 des Federalist hervorhob, die Verfassung sei auch ohne eine spezifische Bill of Rights infolge ihrer Teilungen der Regierungsgewalt ein hervorragender Grundrechtskatalog. Der verfassungsmäßige Schutz der Menschenrechte wurde noch dadurch untermauert, daß, sozusagen zur doppelten Sicherung dieser Rechte, eine Bill of Rights angefügt wurde. Beide, die in Philadelphia entworfene ursprüngliche Verfassung und die später ihr zugefügte Bill of Rights, machen seitdem die amerikanische Constitution aus, die sich infolge ihres weitreichenden Schutzes der Menschenrechte eines unbestrittenen Prestiges als der konkrete, eigentliche Herrscher der Amerikaner erfreut. So konnte die Verfassung als ein der Bibel ähnliches Menschenrechtsdokument gesehen werden, und ihre Interpretationen als Erklärungen zum jeweiligen Status der Menschenrechte. Von ihren Kommentatoren will ich nur zwei nennen, die als Oberrichter bzw. Richter dem Obersten Gerichtshof besonders lange angehört haben und etwa am Anfang und Ende der bisherigen Verfassungsentwicklung, die sie entscheidend beeinflußt haben, stehen: John Marshall und William J. Brennan, Jr. Ersterer wurde bekannt durch seine konservative Verteidigung des Privateigentums und privatrechtlicher Justus Rinck, Die moderne Demokratie und ihr Recht: Constitutionalism and Democracy, Tübingen 1966, Il, 17 ff.; Klaus v. Beyme, Hrsg., Theory and Po1itics: Theorie und Politik, Haag 1971, 526 ff., Two Concepts of the Ru1e of Law, lndianapolis 1973. s Fernand Auburtin, Une legislation qui tue, Paris 1922. 9 Albert V. Dicey, lntroduction to the Study of the Law of the Constitution, London 1885, wurde gefolgt von Jennings, The Law and the Constitution, London 1959. Die Titel beider in vielen Auflagen erschienenen Bücher erscheinen mir bezeichnend für die verschiedene Weise, mit der die Autoren die Verfassung betrachteten.
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Verträge, letzter als ein entschiedener Gegner der Todesstrafe und Befürworter von civil rights, wie man Menschenrechte in Amerika oft bezeichnet. Die Ansichten beider reflektieren das fortlaufende Werden der Verfassung und damit der Menschenrechte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. 10 Unbegrenzte Möglichkeiten verlangen Vorsicht. Ihr ungeheurer Operationsradius verlockt zu Versuchungen und Ausuferungen in allen nur denkbaren Richtungen, wie wenig diese letzten Endes auch richtungweisend sind: zum Nationalen, Internationalen, Rationalen, Irrationalen, zum Schönen, Häßlichen, Moralischen, Unmoralischen, zum Guten und Bösen. Unbegrenzte Möglichkeiten sind das ideale Betätigungsfeld der Freiheit, wenn auch Ideales dabei nicht herauskommen mag. Deshalb ist es natürlich, daß man sich in Amerika der reinen Freiheit am meisten nähert. Bei der Stärke dieses Landes der unbegrenzten Möglichkeiten im 20. Jahrhundert, das sich seinem Ende nähert und dessen Mythos es viele als das Amerikanische Jahrhundert ansehen ließ, erscheint es angebracht, noch etwas über Dasein und Werden der Menschenrechte dort hinzuzufügen. Das bietet sich besonders deshalb an, weil man gerade in den Vereinigten Staaten einen Vorkämpfer für diese Rechte gesehen hat und sich die unbegrenzten Möglichkeiten derselben westlich des Atlantik besonders deutlich gezeigt haben - sowohl im Hinblick auf ihr Wachsen als auch ihre Verminderung. Die nach beängstigenden Negerunruhen in den sechziger Jahren verabschiedeten Bürgergesetze, die vor allem Diskriminierungen aufgrund von Rasse, Religion, Hautfarbe, nationaler Herkunft und Geschlecht verbieten und so der althergebrachten free enterprise praktisch außerordentlich zugesetzt haben, gingen ähnlich weit wie die Rechtsprechung hinsichtlich der Rechte von Verbrechern. Hier wurde ein Korpus von Menschenrechten geschaffen, der, wie zahlreiche Prozesse wegen reverse discrimination und die Zunahme von Delikten zeigen, von vielen als ein Corpus delicti gesehen wird, wie weitgehend er von anderen auch als menschenrechtliehe Errungenschaft gepriesen werden mochte. Bereits vorhandene Menschenrechte wurden von Gesetzgebern und Richtern in der amerikanischen Demokratie vergrößert - for better or worse, selbst wenn es auf Kosten der Rechte anderer und anderer Rechte ging. 11
10 In seiner Entscheidung in MacCulloch v. Maryland (1819) betonte Marshall, sich gegen eine zu enge Interpretation der Verfassung stellend, "we must never forget that it is a constitution we are expounding .. . intended to endure for ages to come, and, ,consequently, to be adapted to the various crises of human affairs." Brennan führte aus, "we are an aspiring people, a people with faith in progress. Our amended Constitution ist the Iodestar for our aspirations. Like every text worth reading, it is not crystalline. The phrasing is broad and the limitations of its provisions are not clearly marked. Its majestic generalities and ennobling pronouncements are both luminous and obscure. This ambiguity of course calls forth interpretation, the interaction of reader and text." The Constitution of the United States: Contemporary Ratification, Vortrag an der Georgetown Universität am 12. Okt. 1985. 11 Siehe mein America's Political Dilemma- From Limited to Unlimited Democracy, Baitimore 1968, 63 ff., 97 ff.
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Aber das sind nur Beispiele der einen Seite des Werdens von Bestehendem. Im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten ist auch gezeigt worden, wie gegebene Menschenrechte verkleinert, wenn nicht gar abgeschafft wurden. Während des Bürgerkrieges suspendierte Präsident Lincoln die von der Verfassung geschützte Habeaskorpusakte mit ihrem Schutz der Freiheit der Person, entgegen der Entscheidung des Oberrichters Taney. Er rechtfertigte sein Verhalten mit dem Argument, es sei besser, eine einzelne Verfassungsbestimmung zu ignorieren, als die ganze Verfassung aufs Spiel zu setzen. Das lief auf eine Relativierung der Verfassungsbestimmungen und der in ihnen festgelegten Menschenrechte hinaus, auf eine Unterscheidung zwischen wichtigeren und weniger bedeutenden Rechten. Nun konnte man das noch als Folge des Satzes inter arma silent Ieges abtun. Das war aber nicht mehr möglich zur Zeit des New Deal unter Franklin D. Roosevelt, als man zwischen preferred freedoms und anderen Freiheiten unterschied. Rechten, die dem demokratischen Prozeß mehr dienten als andere, gab man den Vorzug. Das lief in der Hauptsache auf Diskriminierungen ökonomischer Rechte, wie die des Privateigentums und aus privatrechtliehen Verträgen hinaus. Roosevelt, der einzige Politiker, der entgegen dem seit George Washington üblichen Brauch, für das höchste Amt nicht öfter als zweimal zu kandidieren, sich viermal wählen ließ, zeigte sich in der Bewertung von Gesetzen als Gefolgsmann Jeffersons, der oft als Vater der Demokratischen Partei gesehen wird und dem Roosevelt ein großes Monument setzen ließ mit einer Statue, die, auf der verlängerten Achse des Weißen Hauses liegend, dorthin blickt. In diesem Monument wurde die bekannte Äußerung Jeffersons in seinem Brief an Samuel Kercheval vom 12. Juli 1816 eingemeißelt, nach der er zwar nicht für häufige Änderungen von Gesetzen und Verfassungen ist, dennoch aber glaubt, diese müßten mit der Zeit Schritt halten. Roosevelt zeigte sich auch als Schüler Lincolns, dessen Rede in Gettysburg mit den Worten "government of the people, for the people, by the people" eine in Amerika oft zitierte Definition der Demokratie gegeben hatte. Er äußerte ähnliche Gedanken wie Jefferson, wenn er bemerkte, das Gesetz müsse zwar kontinuierlich, dennoch aber wechselbar sein, daß ein wankendes Gesetz ein Widerspruch in sich selbst ist und ein Gesetz, das sozialen Erfordernissen nicht angepaßt ist, ein Anachronismus.12 Sie alle, Jefferson, Lincoln und Roosevelt gehörten zu denen, die den Wert des Gegebenen, aber auch den kontinuierlichen Werdens sahen. Dieses Werden lief auf ein Werten hinaus, denn die Verwandtschaft von werten und werden darf nicht übersehen werden. Von Menschen gewolltes Werden basiert auf einem Werten, das im Auf- und Abwerten bestehen kann. So können gegebene Menschenrechte dauerndem Werten und Werden unterliegen. Konstant daseiende Menschenrechte, auf welche die Allgemeinheit allgemein vertraut, können wohl geborgen sein, aber durch auf Interpretationen beruhende Anwendungen auch gebogen werden und auf eine Weise verbogen, die verlogen und verboten erscheint. 12 Siehe Andrew C. MacLaughlin, Lincoln, the Constitution, and Dernocracy, in Ethics, XLVII (1936) 9.
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Geborgen, gebogen, verbogen, verlogen: dieser Quaternio zeigt Dasein, Werten und Werden der Menschenrechte, Vertrauen einflößend, aber auch Mißtrauen streuend gegenüber dem Streunen des Vorhandenen. Und je unbegrenzter die Möglichkeiten des Wertens und Werdens sind, um so mehr erscheint Vorsicht am Platze. Dennoch ist auch Nachsicht zu üben. Bedenkt man nämlich, daß Menschenrechte erst einmal von Menschen gemacht sein müssen, bevor sie von Menschen gebogen und verbogen werden können, weiß man, das alles auf menschliches Handeln zurückgeht. Das aber kann allzumenschlich mit den ihm inhärenten Schwächen sein. Bei allem, das Menschen vollbringen, muß man sich neben Erwägungen und Abwägungen ethischer, moralischer, sittlicher, rechtlicher und anderer Art stets vor Augen halten: irren ist menschlich. Die Möglichkeit des Irrens bei der Auslegung und Anwendung bestehender Menschenrechte, riskant und beunruhigend wie sie sein mag, ist doch relativ klein, vergleich man sie mit den Möglichkeiten des Irrens bei der ursprünglichen Erschaffung dieser Rechte. Interpreten bereits vorhandener Normen haben meist weniger Spielraum als die Schöpfer derselben, wobei es hier dahingestellt sein mag, was letztere motiviert. Diese können sich an etwas Konkretes halten, jene nicht. Diejenigen, die Menschenrechte herbeiführen, erkennen, was vom Menschenrechtlichen her in Normen festzulegen ist; die aber, die solche Normen lediglich interpretieren und anwenden, erkennen diese auf die eine oder andere Weise nur an. Das Handeln ersterer ist ursprünglich kreativ, das letzterer abgeleitet derivativ. Groß wie die Problematik der Menschenrechte im zweiten Fall sein mag, ist sie im ersten doch größer noch. Der wenden wir uns nun zu. Sie ist in ihrer Vielfalt überwältigend und unerschöpflich. Deshalb werden im folgenden nur einige Hauptprobleme behandelt, die dem Verfasser als besonders auffallig erscheinen. Sie schließen weitere Anfälligkeilen an Problemen, denen sich schöpferische Formulierer von Menschenrechten gegenübersehen, nicht aus. Da ist zunächst zu fragen, inwiefern man bei der Formulierung von Menschenrechten von deren Universalität reden kann. Schon der Ausdruck "Universalität der Menschenrechte" ist problematisch. Geht man ihm auf den Grund, kann er vielerlei bedeuten, je nachdem, von welcher Seite man ihn betrachtet. Sieht man ihn bloß vom Begriff der Menschenrechte aus, erhebt sich die Frage, was denn eigentlich mit ihm gemeint ist. Ist es die vom Ausdruck her zu vermutende totale Universalität oder eine begrenzte, die auf einen Widerspruch in sich selbst hinauslaufen würde? Man kann durchaus geneigt sein, von einer wirklichen, d. h. totalen Universalität der Menschenrechte nur dann zu sprechen, wenn alle Rechte gemeint sind, die Menschen geltend machen können, einschließlich ihrer privatrechtlichen. 13 Denn jeder, der solche Rechte beansprucht, kann ja behaupten, die seien seine Menschenrechte, weil er eben ein Mensch ist. Dann wären öffentlichrechtli13 So kann man auch unter Staatsrecht alle Rechtsnormen innerhalb eines Staates sehen, und nicht nur das Staatsrecht im Sinne eines Teils des öffentlichen Rechts bzw. der Lehrdarbietungen, die unter diesem Titel angeboten werden. Vgl. die in Anm. 7 angeführten Arbeiten.
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ehe Menschenrechte nur beschränkte Menschenrechte, also keine totalen, keine universalen. Man kommt so zu der Ansicht, daß Menschenrechte einschließlich privatrechtlicher Rechte mehr universal sind als die, welche nur öffentliche Rechte umfassen. Denn das, was einiges ausschließt, ist weniger universal als das, was mehr umfaßt. Da man nun aber mit Menschenrechten allgemein die öffentlichrechtlicher Art meint, bietet es sich an, ihre Universalität nicht im Sinne von Menschenrechten schlechthin zu suchen, sondern in einem engeren, nicht eigentlich universalen. Rein vom Ausdruck her ist also die Universalität der Menschenrechte mehrdeutig. Die daraus folgende Problematik wird jedoch keineswegs dadurch aus der Welt geschafft, daß unter Menschenrechten lediglich öffentlichrechtliche verstanden werden. Spricht man nämlich von der Universalität der Menschenrechte in dem allgemein gebräuchlichen Sinne, daß unter diesen Rechten nur die verstanden werden, welche die Freiheitssphäre des Individuums gegenüber Regierung und Staat sichern, ergeben sich weitere Komplikationen. Auch dann kann die Universalität der Menschenrechte verschiedenes bedeuten. Ich will mich hier auf nur einige Aspekte beschränken und zunächst auf Probleme hinsichtlich von Zeit, Inhalt und Raum aufmerksam machen. Man kann einmal von der Universalität der Menschenrechte im Sinne der Zeit sprechen und zeigen, daß diese Rechte durch die Zeiten hindurch bekannt waren. Dabei erhebt sich gleich die Frage, wie universal sie das tatsächlich waren. Man kann sich die Antwort natürlich bequem machen und einfach sagen, allein die Tatsache, daß sie von den Worten der Antigone gegenüber Kreon oder den Argumenten der Barone gegenüber Johann bis in unsere Zeit behauptet wurden, beweist ihre Universalität. Aber selbst wenn man unterstellt, Menschenrechte seien stets bekannt gewesen, weiß man noch nichts darüber, ob sie auch stets anerkannt waren. Wäre das nämlich so gewesen, hätte Antigone ihren Bruder nicht heimlich begraben müssen, hätte es der Magna Charta nicht bedurft. Bei genauerem Hinsehen wird offenbar, daß Zeiten, in denen Menschenrechte anerkannt wurden, mit denen abwechselten, als das nicht so war. Nur eine Übersicht zeigt also eine Universalität der Menschenrechte, und dann ist diese Universalität auch nur eine gewisse, die einer gewissenhaften Prüfung nicht standhält, weil von einer echten, d. h. dauerhaften Universalität nicht die Rede sein kann. Man kann hier eher von einem Auf und Ab der Anerkennung von Menschenrechten sprechen. Nun können zwar Anhänger des Gedankens von der Universalität der Menschenrechte gerade in diesem Auf und Ab ihren Gedanken bestätigt sehen. Aber es ist zweifelhaft, ob das hinreicht, im Hinblick auf die Zeiten von einer Universalität der Menschenrechte zu sprechen - ein weiteres Zeichen für deren Problematik. Ein Wandel war im Verlaufe der Geschichte nicht allein in Bezug auf Anerkennungen der Menschenrechte offenbar. Er zeigt sich auch bei deren Inhalt. Auch hier kann man es sich wieder bequem machen und einfach behaupten, allein die Tatsache, daß Menschenrechte, wie immer sich ihr Inhalt auch gewandelt haben mag, Anerkennung fanden, beweist ihre Universalität. Aber selbst wenn man An-
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erkennungen unterstellt, erheben sich doch Fragen, wie weit denn vom Inhaltlichen her von einer wirklichen Universalität die Rede sein kann. Man bedenke nur den Wandel der Bewertung des Privateigentums. Da wird schon seit geraumer Zeit vom ius abutendi kaum noch gesprochen, wenn man auch hin und wieder davon hört, vor allem im Hinblick auf das Brachliegen großer Landmassen in Lateinamerika. Das ius fruendi wurde nicht nur von staatlichen Maßnahmen, z. B. gegen Zinswucher, begrenzt. Selbst das ius utendi ist heute bei weitem nicht mehr so stark wie früher. Man denke an Diskriminierungen im Rahmen der Doktrin der preferred freedoms in den Vereinigten Staaten, einem traditionellen Bollwerk dieses Rechts. In Deutschland hatten die einzelnen Staaten mit unbedeutenden Variationen die Bestimmung des Art. 9 der preußischen Verfassung übernommen, "Eigentum ist unverletzlich". Art. 153 der Weimarer Reichsverfassung dagegen beschränkte sich auf die Feststellung, das Eigentum werde von der Verfassung garantiert. Das lief infolge der Gefahr, mit Zweidrittelmehrheit verabschiedete Gesetze als verfassungsändernd anzuerkennen, auf eine Beschränkungsmöglichkeit des Eigentums durch den einfachen Gesetzgeber hinaus. Der Parlamentarische Rat in Bonn erkannte die soziale Auffassung des Privateigentums mehr noch an als die Nationalversammlung in Weimar es getan hatte. Art. 14 des Grundgesetzes lautet: "Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Eine ähnliche Bestimmung der Weimarer Verfassung wurde von der Mehrzahl damaliger Juristen noch dahin ausgelegt, daß sie keine unmittelbaren Verpflichtungen für die Eigentümer schafft. In der Bundesrepublik Deutschland war die große Mehrheit der gegenteiligen Ansicht. In anderen Ländern war die Entwicklung nicht viel anders. 14 Sie erscheint derart universal, daß man fragt, ob man denn da überhaupt noch von einer wirklichen Universalität der Eigentumsrechte sprechen kann. Bei der Würdigung von Rechten, die aufgrund privatrechtlicher Verträge zustande kamen, ist es ähnlich. Das überrascht nicht, da solche Verträge ja meist wirtschaftlicher Art sind und Eigentumsrechte betreffen. Ich habe an anderer Stelle von Bedeutungswandeln der Menschenrechte gesprochen und versucht zu zeigen, wie sich der Inhalt dieser Rechte oder jedenfalls dessen relative Betonungen allgemein änderten. 15 Nun kann man zwar in diesen Veränderungen einen Beweis dafür sehen, daß sich Menschenrechte trotz ihres wechselnden Inhalts doch immer wieder behaupteten und daher 14 Vgl. mein Zur Verteidigung des Eigentums, Tübingen 1978, insbes. ll2 ff., 153 ff., 193 ff. 15 Bedeutungswandel der Menschenrechte, Karlsruhe 1972. Der Titel wurde von Gerhard Leibholz vorgeschlagen, der mir eine Einladung zu dem am 19. Januar 1971 vor der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe gehaltenen so betitelten Vortrag besorgte. Ich widmete die Arbeit aus Anlaß des 100. Jahrestages der deutschen Einigung im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 dem Andenken des früheren Reichskanzlers Heinrich Brüning, in dem ich Werte des Kaiserreichs weiterleben sah, an dessen Seminar in Harvard ich teilnahm und an dessen Hilfe dort und später ich mich gern erinnere. Der Vortrag wurde noch zu seinen Lebzeiten konzipiert und ausgearbeitet.
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universal sein müssen. Man hat ja wohl auch den wechselnden Inhalt des Naturrechts als Zeugnis für die ewige Wiederkehr dieses Rechts angesehen, woraus sich auf eine Universalität dieses Rechts schließen läßt. Dennoch möchte ich bezweifeln, ob dieses Argument ausreicht, von einer wirklichen Universalität der Menschenrechte hinsichtlich ihres Inhalts zu sprechen. Gerade bei Menschenrechten ist ja der Inhalt wesentlich, und zwar ein konstanter. Geht der verloren oder wird er reduziert, erscheint es zweifelhaft, ob man in inhaltlicher Beziehung noch von deren Universalität reden kann. Spricht man von der Universalität der Menschenrechte, denkt man an sie meist weniger im Sinne von Zeit und Inhalt, sondern in dem von Raum. Man denkt an deren Geltung für alle Menschen überall auf der Welt, welcher Kultur, Nation usw. sie auch angehören mögen. Aber auch diese Art von Universalität hat ihre Risse, und nicht allein deshalb, weil schon, wie in den vorangehenden Absätzen betont wurde, UniversaHtäten in zeitlichen und inhaltlichen Hinsichten zweifelhaft erscheinen. Sie hat sie darüber hinaus, weil in verschiedenen Teilen der Erde verschiedene Auffassungen der Menschenrechte und deren entsprechende Anerkennungen seit langem bestanden haben und auch heute noch da sind. Man erinnere sich nur, wie lange die Vereinigten Staaten, gewiß eine Nation mit großen Verdiensten um die Menschenrechte, trotz steter Betonungen derselben sich weigerten, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zu unterzeichnen. Man denke an die von kapitalistischen, kommunistischen und non-committed Regierungsvertretern unterzeichnete Akte von Helsinki und an die fortwährenden Berichte über Mißachtungen der in diesen und anderen Dokumenten festgelegten Rechte. Dann wird klar, daß es sich bei all jenen Beteuerungen eher um etwas Prograrnrnatisches handelt als um tatsächlich Existierendes. Nun kann man natürlich angesichtsdieser hochtrabenden Erklärungen schon von einer gewissen Universalität der Menschenrechte sprechen, aber eben mehr im Sinne von Lippenbekenntnissen, weniger in dem von etwas wirklich Praktizierten. In der Praxis gibt es da eine Wirrnis, die, je nachdem, von welcher Seite sie gesehen wird, oft als Irrnis erscheint. So haben liberale Demokratien Auffassungen gezeigt, die sich von denen absoluter Regimes weitgehend unterscheiden, ob sie nun zur freien Marktwirtschaft oder zum Sozialismus hin tendieren. Derartige Unterscheidungen werden von denen verschiedener Religionen und Kulturen ergänzt, und in all diesen hier bloß als Beispiele genannten Gruppierungen gibt es Unterteilungen, welche ihre eigenen Ansichten über Menschenrechte vertreten. Ähnlich ist es bei ethnischen Gruppen, bei verschiedenen Nationen und Staaten. Auch hier werden die Anhänger der Idee von der Universalität der Menschenrechte dahin neigen, eine solche Universalität zu behaupten und vorbringen, gerade die Diversität der Menschenrechte demonstriere deren Universalität. Sie werden vielleicht sogar so weit gehen und sagen, je größer die Diversität, um so größer die Universalität. Eine solche Einstellung übersieht aber, daß es verschiedenen Meinungen notwendig an Kohärenz mangelt und es wohl gerade diese ist, welche die Universalität (Einzahl!) der Menschenrechte ausmacht.
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Die drei Universalitäten, die hier als Beispiele einer teilweisen Demonstration der Universalität der Menschenrechte angeführt wurden, können zugleich vorhanden sein und sich gegenseitig befruchten oder miteinander konkurrieren, wodurch die Problematik der Menschenrechte wachsen dürfte. Im großen und ganzen werden zeitliche und räumliche Umstände den Inhalt der Menschenrechte beeinflussen. Sie bilden dessen Rahmen, weshalb ich meine Diskussion des Inhaltlichen mit der des Zeitlichen und Räumlichen umrahmte. Wie weitgehend aber diese drei Universahtäten auch ineinander übergehen mögen, bleibt die Universalität der Menschenrechte doch eine bloß qualifizierte, eingeschränkte, solange wir noch nicht alle Menschenrechte kennen. Angesichts des anhaltenden Wachsens dieser Rechte aufgrund der Tatsache, daß immer neue entdeckt, gefordert und anerkannt werden, wird das wohl noch lange so bleiben. Meine Bemerkungen zu den UniversaHtäten der Menschenrechte hinsichtlich Zeit, Inhalt und Raum mögen Zweifel haben laut werden lassen. Aber sie gaben doch einige, wenn auch grobe, Hinweise auf den materialen Inhalt dieser Rechte, die den Einfluß Montesquieus zeigen. Dem Aristokraten von La Brede bei Bordeaux, wo den freiheitlichen Girondisten nahe dem Boulevard Esprit des Lois ein Denkmal geweiht ist, imponierte die Freiheit der Engländer. Aber er, der einmal verlauten ließ, es sei wohltuend, auf seinem eigenen Land wandeln zu können, sah doch das Komplexe der Freiheit. Nach langen Überlegungen erst entschloß er sich, sie endlich zu definieren als das, was die Gesetze erlauben. Unter denen aber verstand er zu einer Zeit, die den Übergang vom Gewohnheitsrecht zum Legislativen sah, sowohl ersteres, was selbst Bodin für den souveränen König bindend erachtete, als auch die von Gesetzgebern verabschiedeten Gesetze. Sie alle aber wurden beeinflußt von Zeit und Raum, von jeweiligen Traditionen und örtlichen Verhältnissen, ob diese sich nun ethnisch, moralisch, sittlich oder anders äußerten. Für Montesquieu führte der Weg zum weisen esprit des lois über die verschiedenen Weisen der durch Raum und Zeit beeinflußten Gesetze. 16 In Fortführung der Gedanken des nach Locke kommenden Zeitgenossen Blackstones und Altmeisters der vergleichenden Herrschaftslehre sind Menschenrechte zunächst im Sinne der von den Amerikanern reklamierten rights of Englishmen 16 Vgl. das Kapitel über Montesquieu in meinem Liberalism Proper and Proper Liberalism, Baltimore 1984. Es vergleicht den Franzosen mit Adam Smith, Kant und Jefferson hauptsächlich im Hinblick auf das Verhältnis der Freiheit der einzelnen zu Recht und Ordnung. Das Beeindruckende gerade bei Montesquieu ist, daß er sich nicht damit zufrieden gibt, verschiedene Rechtssysteme seiner Zeit zu vergleichen, sondern auch durch die Geschichte hindurch. Und wie groß die Unterschiede im einzelnen sein mögen, wird bei der Lektüre seines Werkes doch klar, daß da ein gewisser Geist der Gesetze da ist, der sich durch alle Systeme zieht und in ihnen anerkannt ist. Ich denke da oft an den Satz pacta sunt servanda. Fraglicher schon erscheint mir der Satz nulla poena sine lege, weil er, mit nullum crimen sine poena konkurrierend, so manchen, der eine sozialethisch unerwünschte Handlung begeht, als Schlupfwinkel zur Straflosigkeit dienen kann. Vgl. Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Rechtsstaat, in Juristische Wochenschrift, LXIII (1934) 714 und Was bedeutet der Streit um den ,Rechtsstaat' ?, in Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, XCV (1935) 196.
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aufzufassen, also als Rechte, die durch die Zeiten hindurch auf einem spezifischen Grund und Boden wuchsen. Wie man diese auch seit der Amerikanischen Revolution in Menschenrechte umtaufen mochte, blieben sie doch, wo immer sie behauptet wurden, Abbilder der Zeit in einem bestimmten Raum. Gewiß haben internationale Organisationen Anzeichen dafür gegeben, daß man auf dem Wege zu einem allgemeinen Geist der Menschenrechte ist. Aber wie Montesquieu zeigte, daß der Weg zu einem allgemeinen Geist der Gesetze über die Gesetze einzelner Gemeinschaften, Gesellschaften und Staaten führt, so muß man sich heute immer noch klarmachen, daß der Weg zu einem internationalen Konsens über Menschenrechte über Anerkennungen dieser Rechte in den einzelnen, die internationale Gemeinschaft ausmachenden Nationen führt, in denen vorwiegend lokale Umstände in Betracht gezogen werden. Da letzteres nun zum Wohl der jeweiligen Bevölkerungen geschieht, sollten diese sich ebensowenig wie internationale Organisationen anmaßen, Nationen außerhalb ihrer Grenzen ihren Standard der Menschenrechte aufzuzwingen. Menschenrechte werden unter Berücksichtigung räumlicher und zeitlicher Gegebenheiten erworben, nicht aber unter Negierung von Raum und Zeit gegeben. Was nun den materialen Inhalt von Menschenrechten angeht, so haben sich in verschiedenen Ländern unterschiedliche Auffassungen gezeigt. Ich will hier nur die bekanntesten nennen. Sollen lediglich "negative" Rechte als Menschenrechte anerkannt werden, Rechte, welche die Freiheitssphäre der einzelnen vor der öffentlichen Gewalt festlegen, oder auch die sogenannten "positiven" Rechte, die zum Mitregieren berechtigen, vor allem durch das aktive und passive Wahlrecht? Und was alles sollen negative Rechte umfassen, sollen sie in kurzen Katalogen erwähnt sein wie in der amerikanischen Bundesverfassung oder in langen Ausarbeitungen wie in der Verfassung der Republik Italien? Und wie weit sollen positive Rechte gehen? Sind hohe oder niedrige Altersgrenzen zu bevorzugen? Sollen sie Soldaten ausschließen? Wegen Verbrechen Verurteilte, wie es lange in Deutschland geschah, oder nicht, wie in den Vereinigten Staaten? Das alles sind, neben anderen, Fragen, die von Land zu Land entschieden worden sind und auf die es viele Antworten gibt. Neben der Problematik der Menschenrechte hinsichtlich ihres materialen Inhalts gibt es eine eher formaler Art. Sie zeigt sich ebenfalls auf verschiedene Weise. Da ist zunächst die Frage, ob Menschenrechte überhaupt in konkreten Normen formuliert werden sollten. Diese läuft im Grunde parallel zur Abwägung der jeweiligen Vorteile des althergebrachten Gewohnheitsrechts und neuerer Gesetzgebungen, wie wir sie aus Savignys bekannter Antwort an den Heidelberger Rechtslehrer Thibaut kennen. 17 Im 84. Essay des Federalist äußerte Hamitton Bedenken über das Verlangen, der neuen Bundesverfassung eine gesonderte Bill of Rights anzufügen, weil deren Enumeration spezifischer Rechte andere ausschließen würde und daher 17 Vgl. Carl Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950; F. A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Chicago 1973-79.
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vom menschenrechtliehen Standpunkt aus zu restriktiv wäre. Andererseits sah Georg Jellinek gerade in den Grundrechtskatalogen der amerikanischen Staaten eine effektive Garantie von Menschenrechten. Wer hatte recht? Gelangt man zu der Ansicht, Menschenrechte seien in Katalogen zu formulieren, ergeben sich neue Probleme, die sich mit dem Wie solcher Formulierungen befassen. Da kann man einmal fragen, ob die Normen in feierlicher, hochtönender Sprache abgefaßt werden sollen oder in streng juristischer Fachsprache. In der Weimarer Nationalversammlung standen sich hier Friedrich Naumann und der Reichsgerichtsrat Düringer gegenüber, der eine für, der andere gegen politische Leitsätze. Walter Jellinek betonte in seinem Seminar über Formulierungen der Menschenrechte, man könne juristisch klare Sätze durchaus schön formulieren. Eine andere Frage ist die nach dem Platz eines Grundrechtskatalogs in der Verfassung. Soll er am Anfang stehen wie im Bonner Grundgesetz, in der Mitte wie in der Weimarer Reichsverfassung oder am Ende wie in der amerikanischen Verfassung? Für alle drei Plazierungen lassen sich Gründe anführen, welche die Bedeutung der Menschenrechte betonen. Da kann einmal gesagt werden, der Grundrechtskatalog gehöre an den Anfang einer Verfassung, um die Priorität der Menschenrechte anzuzeigen, ein Geleit zu den folgenden Bestimmungen, die von ihm überschattet werden und in seinem Sinne zu interpretieren sind. Zugunsten einer Mittellage kann argumentiert werden, sie mache ersichtlich, daß Menschenrechte der Kern der Verfassung sind, ein Stern, der auf die vor und hinter ihm kommenden Normen strahlt und von diesen umrahmt und beschützt wird. Was endlich den Plan angeht, Menschenrechte an das Ende einer Verfassung zu setzen, kann hierfür angeführt werden, am Ende Stehendes ließe nach dem Satz "Ende gut, alles gut" die gesamte Verfassung in gutem menschenrechtliehen Licht erscheinen. Außerdem wirke es am längsten nach und bekräftige, in welchem Licht das Vorangehende zu sehen ist, ein Argument, das Unterstützung findet durch die Betonung der Wichtigkeit, welche die amerikanische Verfassungsentwicklung der dortigen Bill of Rights zugeschrieben hat. Natürlich kann man auch anders argumentieren. Gegen eine Plazierung in der Mitte kann geltend gemacht werden, eine solche ließe Grundrechte unbedeutend erscheinen, eingequetscht wie sie zwischen anderen Bestimmungen, welche vorwiegend die Regierung definieren, sind. Auch kann behauptet werden, eine Formulierung am Ende der Verfassung spräche gerade nicht für die Relevanz der Menschenrechte. Man sieht, hier gibt es viele Probleme. Aber damit nicht genug. Dazu kommen noch, allein hinsichtlich der formalen Formulierung von Menschenrechten, andere. Sollen zum Beispiel Menschenrechte schützende Bestimmungen Gesetzesvorbehalte aufweisen, nach denen diese Rechte durch Gesetzgeber eingeschränkt werden können? In meiner unter Walter Jellinek verfaßten Heidelberger Dissertation akzeptierte ich, deutschem Brauch und Mißbrauch folgend, einige Gesetzesvorbehalte. Daran nahm mein Studienberater an der Harvard Universität, Carl Joachim Friedrich, Anstoß. Er war offenbar von der Abwesenheit solcher Vorbehalte in Amerika beeindruckt, was erneut zeigt, wie der Inhalt von Men13*
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sehenrechten von traditionellen örtlichen Erwägungen mitbestimmt wird. 18 In der Praxis war es allerdings so, daß man sich in Amerika dem deutschen Verfahren schon 1919 genähert hatte, als der Oberste Gerichtshof im Schenck-Fall entschied, die Redefreiheit könne bei einer klaren und gegenwärtigen Gefahr gesetzlich eingeschränkt werden. Taucht schon bei der Abwesenheit von Gesetzesvorbehalten die Frage auf, ob denn derartige Formulierungen der Menschenrechte nicht zu weit gehen, so muß das erst recht dann so sein, wenn es, wie in Art. 79 III des Grundgesetzes verboten wird, in Grundrechtsbestimmungen festgelegte Grundsätze durch Verfassungsänderungen zu schmälern. Immunität von Grundrechtsbestimmungen vom gewöhnlichen Gesetzgeber ist eine Sache; die vom Verfassungsgesetzgeber eine andere. Denn hier werden die Grundlagen des demokratischen Prozesses selbst in Frage gestellt. Bei einer Immunität von Grundrechten vor dem gewöhnlichen Gesetzgeber, wie sie Art. 19 II GG vorsieht, bleibt wenigstens die demokratische Ordnung mit ihren "positiven Rechten", auf denen sie beruht, gewahrt. Das aber ist nicht mehr der Fall, wenn es nicht möglich ist, eine die Demokratie hochhaltende Verfassung demokratisch zu ändern. Auch in den eben angeführten Artikeln wird klar, wie wesentlich der Inhalt von Grundrechten von Zeit und Ort bestimmt wird. Sie sind offenbar Reaktionen auf grundrechtsfeindliche Ausnutzungen von Gesetzesvorbehalten in der Weimarer Republik und auf Verletzungen von Grundrechten in der darauffolgenden Diktatur. Die behandelten Beispiele zeigen, wie facettenreich die Problematik der Menschenrechte allein bei deren formalen Formulierungen ist. Da kann es kaum überraschen, daß die Problematik größer noch ist bei deren materialem Inhalt. Der neigt nämlich zu steten Ausdehnungen der oben nur gestreiften Kategorien von Rechten, ob diese nun "negativer", "positiver" oder sonstiger Art sind. So wurde beispielsweise in den sechziger Jahren in Amerika die Redefreiheit im Sinne des free speech movement, das bei Studenten in Berkeley seinen Anfang genommen hatte, immer mehr erweitert. Freiheit des Ausdrucks zeigte sich auch während des Vietnamkrieges in Änderungen des Respekts vor dem Sternenbanner. Bis dahin war es unbestritten, daß dieses Symbol des Landes "never must touch the ground". Es galt als infam, selbst beim Einholen einer gehißten Aagge diese den Boden berühren zu lassen. Nun aber wurde sie auf Schmutz geworfen und voller Hohn und Wut verbrannt. Und der Oberste Gerichtshof hielt das für eine gerechtfertigte Ausübung der Redefreiheit. Als Unruhen überband nahmen, wurde gefragt, ob es denn ein right to riot gäbe, während bis dahin riofing strafrechtlich geahndet worden war. Was positive Rechte angeht, redet man in Deutschland bereits von "unseren ausländischen Mitbürgern", denen man auf lokaler Ebene schon das Wahlrecht zugestand. Die Problematik der Menschenrechte ist groß. Vielleicht sollte man eher von deren Universalität sprechen als von einer der Menschenrechte. 19
IS
Siehe mein Über Formulierung der Menschenrechte, Berlin 1956, 7.
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Die besonders in der zweiten Hälfte des Amerikanischen Jahrhunderts anzutreffenden Ausdehnungen dieser Rechte sind zum nicht unwesentlichen Teil Reaktionen auf faschistische und kommunistische Diktaturen, auf erstere wohl noch mehr als auf letztere, weil die den Krieg verloren und sich bei Intellektuellen weniger Sympathien erfreuten. 20 Zum anderen sind diese Ausdehnungen eine Folge des liberalen Englischen Jahrhunderts, wie die liberale Amerikanische Revolution ja auch als Fortsetzung der Whig Revolution des vorangegangenen Jahrhunderts gesehen werden kann. Sie zeigen somit eine Kontinuität, die der Meinung Hegels entspricht, die Welt dränge zur Freiheit. Da ist es nicht überraschend, wenn der Freiheitsdrang weiter ging als der von Hege! erwünschte, staatsrechtlich und sittlich gehegte. Es entstand eine gewisse, gewissenhafte und gewissenlose, Menschemechte fordernde Hybris. Sie entsprach etwa den Worten in Schuberts Winterreise: Lustig in die Welt hinein, Gegen Wind und Wetter! Will kein Gott auf Erden sein, Sind wir selber Götter!
In solchen Zeichen wurden die von Georg Jellinek betonten historischen Ursprünge der Menschenrechte innerhalb einer staatlichen Ordnung hinwegromantisiert. Es ging gegen die Welt der Staaten, gegen den Wind und die Witterungen ihrer Macht. Der Staat Hegels wurde entthront. Die historische Dialektik des Entstehens von Menschenrechten - Unterdrückung, Forderung, Anerkennung - wurde fortgeführt, aber mit dem Unterschied, daß sich diejenigen, die weitere Rechte forderten, oft nur einbildeten, unterdrückt zu sein, es aber gar nicht waren, denn die Zeiten des Absolutismus waren nun ja meist vorbei. Eine mehr und mehr individualistische Entwicklung bekam Auftrieb durch die Äußerungen Max Stirners und seinen Behauptungen, Menschenrechte seien von Menschen selbst gemacht. So erschien es vielen, als seien diese Rechte von jenen Göttern auf Erden, die Schubert besang, geschaffen worden. Nietzsches Freiseinwollen und dessen scharfe Kritik I9 Von einer Universalität der Menschenrechte zu sprechen, ist ähnlich tautologisch, wie von Volksdemokratie zu reden. Vom Wort her sind Menschenrechte ohnehin universal, ob man sie nun so sieht, daß sie alle von Menschen gemacht sind, oder so, daß sie für alle Menschen gelten oder jedenfalls gelten sollten. Man sollte daher beim Gebrauch des Wortes "Universalität" klar machen, daß man es jeweils nur in einer gewissen Beziehung benutzt. Dann aber bedeutet Universalität der Menschenrechte eher etwas Restriktives als Universales. Zum right to riot, siehe James Bumham, The Right to Riot, in National Review, XX (1968) 1000. Die enorme Zunahme beanspruchter Menschenrechte suggeriert die Frage, ob denn die Tatsache, daß Menschenrechte ein Resultat des Liberalismus sind, sie auch zu dessen Opfern macht. 1914 konnte Edward S. Corwin, The Doctrine of Judicial Review, Princeton 1914, 20, durchaus noch schreiben, es sei Unsinn, wenn einer sich durch ein Gesetz nicht gebunden fühlt, weil er es für verfassungswidrig hält. Heute dagegen glauben viele, ihre eigenen Gesetzgeber sein zu dürfen, ohne daß ihnen der Gedanke kommt, das sei Unsinn. Verdrängt Stirner Nietzsche? 2o Siehe mein Der Hitler-Komplex, Wien 1990.
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am Staat im achten Hauptstück des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, seinem Buch für freie Geister, tat das ihre zur Forderung immer weiterer Rechte auf Kosten von Recht und Ordnung. 21 Parallel zu dieser Entwicklung der Freiheit lief die der Gleichheit. Wie Regel die Freiheit im Vormarsch sah und dieser Entwicklung skeptisch gegenüberstand, weil er fürchtete, sie werde nicht nur staatliches Recht, sondern auch Ethik, Moral und Sittlichkeit in Frage stellen, wie er mit gemischten Gefühlen äußerte, die Massen rückten vor, so sah de Tocqueville die Gleichheit unaufhaltsam vorankommen. Wie groß seine Bedenken zu dieser Entwicklung auch sein mochten, fand er sich doch mit ihr ab, weil ihm in Amerika das Potential der Gleichheit der Möglichkeiten, voranzukommen, beeindruckt hatte. Er beschrieb das in seiner Studie über die Demokratie in Amerika und war offenbar der Ansicht, Gleichheit und Demokratie gehörten zusammen. Er folgte hier seinem Landsmann Montesquieu, dem Beobachter des englischen Regierungswesens, dem die Liebe zur Gleichheit als das bezeichnende Merkmal der Demokratie erschien. 22 Ähnlich der Anerkennung freiheitlicher Menschenrechte kam auch die egalitärer schrittweise zustande, wie besonders die Ausdehnung des Wahlrechts es zeigte. Dadurch verkoppelte sich Gleichheitsrechtliches mit positiven Freiheitsrechten zum erhofften Wohle negativer Rechte unter einer Regierung, die allgemein als liberale Demokratie bekannt ist. Von ihr sagt man, sie sei Menschenrechtlichem mehr gewogen als irgend eine andere Regierungsform. Sie erscheint vom Standpunkt des Menschenrechtlichen ideal. Angesichts des Vormarsches von Freiheits- und Gleichheitsrechten ist zweifelhaft, ob dieser nur aus historischer Dialektik entstand. Der Kampf um Menschenrechte, stark wie er sich infolge spezifischer Unterdrückungen zeigen mochte, wurde auch aus metaphysischen Quellen gespeist. Man sollte die Rolle nicht unterschätzen, die naturrechtliche Erwägungen hier gespielt haben. Das überrascht nicht. Wenn Menschen als natürliche Personen ihre ihnen inhärenten, also natürlichen Rechte beanspruchten, was war da natürlicher, als an natürliches Recht, als 21 Man denke an die Popularität Nietzsches seit den sechziger Jahren und an die von Hermann Hesse. 1971 veröffentlichte die Oxford University Press R. W. K. Paterson, The Nihilistic Egoist Max Stirner. Das Buch reflektiert die 68er Bewegung, die ihrerseits nur eine Art Höhepunkt der Entwicklung war, die sich schon seit Jahren abzeichnete. Es bringt auf Seite 63 eine Wiedergabe des Inhaltsverzeichnisses der Redam-Ausgabe von Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1893, die wohl - zur Zeit Nietzsches - von der Atmosphäre des fin de siecle ermutigt wurde. In dem liest man als erste Überschrift "Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt". Da kommen die Worte in den Sinn, mit denen nach Thomas Manns Phantasie über Goethe (1948) Charlotte von Schiller den Dichterfürsten, dessen 250. Geburtstag die Welt Ende dieses Jahrhunderts begehen wird, rügt: "Er hat sein Sach' auf nichts gestellt." Ich denke auch an das Abträgliche, was Carl Schmitt über Stirners "Mir geht nichts über Mich" schrieb und doch hinzufügte: "Aber Max weiß etwas sehr Wichtiges. Er weiß, daß das Ich kein Denkobjekt ist." Ex Captivitate Salus - Erinnerungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, 81 (im letzten, "Weisheit der Zelle" betitelten Kapitel). 22 De l'esprit des lois, Buch 5, Kap. 3.
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an das Naturrecht zu denken! Das Naturrecht wurde als ein Menschenrechte spendendes Reservoir gesehen, eine Art göttlicher Born, aus dem in geschichtlicher Dialektik auf dieser Erde Menschenrechte entstanden. Es erschien als Menschenrechtshimmel, als Götterfunke, der von Menschen angehimmelt wurde. Aus ihm glaubten Schuberts und Nietzsches Erdengötter, vernünftig und leidenschaftlich, redlich und listig und auf andere Arten holen zu können, was immer ihnen in der Notwendigkeit und Laune des Augenblicks so alles gefiel, gefangen und besessen wie sie oft waren von der allgemeinen Idee des Menschenrechtlichen oder des Menschenrechts. Wir wissen nicht, ob Menschen dieser Idee vor der Menschenrechte schaffenden historischen Dialektik gewahr waren oder ob die Erfahrung der Dialektik ein Gewahrwerden des Menschenrechts mit sich brachte, wie es ja überhaupt oft schwierig ist, herauszufinden, ob Abstraktes Konkretes schafft oder umgekehrt. Jedenfalls kann man beim Entstehen von Menschenrechten wohl von einer Wechselwirkung sprechen, die es nicht erlaubt, das Menschenrecht zu ignorieren. Ursprünglich läßt sich aber bestimmt eines nicht leugnen: Das Reservoir aller spezifischen Menschenrechte, deren allgemeine Idee ist das Menschenrecht. Als Urgrund der Menschenrechte hält sich das Menschenrecht verhalten im Hintergrund und ist doch allgegenwärtig zur Begründung neuer Rechte und deren Werdens. Immer ist es offen, die hoffenden Formulierer und Interpreten von Menschenrechten zu befriedigen, die aus ihm Nehmenden gewähren zu lassen zum Guten und Bösen. Es erleidet dadurch keine Einbuße, ebenso wie auch die Ethik nicht darunter leidet, daß Schlechtes geschaffen wird, da sie sich ja mit Bösem ebenso befaßt wie mit Gutem. 23 Das kann man vielleicht als die List der Vernunft des Menschenrechts bezeichnen. Es ist smart. Denn warum sollte sich die Idee des Menschenrechts durch solche, die Menschenrechte formulieren und interpretieren, aufs Spiel setzen lassen? Warum soll sich das Große der Idee des Menschenrechts durch das Kleine und oft Kleinliche beim Werden von Menschenrechten, die da aus ihm geschöpft werden, verkleinem lassen? Die Idee des Menschenrechts speist die Menschenrechte, wie immer sie in menschlicher und allzumenschlicher Manier gemacht, genutzt und ausgenutzt werden?4 23 Vgl. Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 1926, insbes. 336 ff. Auf Seite 343 steht: "Die Fähigkeit zum Bösen gehört notwendig zur Fähigkeit zum Guten." 24 Hier denkt man an Worte Hegels: "Es ist das Besondere, das sich an einander abkämpft und wovon ein Theil zu Grunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begiebt ; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, was durch sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Theil nichtig, ein Theil affirmativ ist. Das Particulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine: die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseyns und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen. Sämtliche Werke, Stuttgart 1949, XI, 63. Auf Seite 90 findet sich folgende Bemerkung, die vielleicht Stimer beeinflußte: "So produein das organische Individuum sich selbst: es macht sich zu dem, was es eigentlich an sich ist; ebenso wie der Geist nur das, zu was er sich selbst macht, und er macht sich zu dem, was
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Diejenigen, die Menschenrechte machen, nutzen und ausnutzen, werden dabei von der Idee des Menschenrechts angefeuert und verlockt. So tendieren Freiheitsrechte Schaffende dahin, immer mehr aus dem Fond der Idee der Freiheit zu schöpfen und sich damit diesem umfassenden Freiheitsbegriff, d. h. der einen Freiheit, zu nähern?5 Bei Gleichheitsrechten ist es ähnlich - und natürlich auch bei Menschenrechten als Sammelbegriff von Freiheits- und Gleichheitsrechten. Wie durch die stete Zunahme letzterer Freiheit und Gleichheit in ihrer Totalität mit der wachsenden Summe ihrer partikulären Erscheinungen immer mehr erreicht werden, so wird das Menschenrecht - als unerschöpfliche Quelle aller spezifischen Menschenrechte deren Totalität darstellend - durch die Summierung von immer mehr partikulären Menschenrechten zunehmend, wenn auch wohl niemals ganz, erreicht. Das Menschenrecht kann Gutes und Böses hervorbringen oder, besser gesagt, Gutes und Böses können aus dem Born des Menschenrechts von Menschen hervorgebracht werden. Weit bekannt wurde der programmatische Gebrauch des Menschenrechts im Kampfruf der kommunistischen Internationale: "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!" Wir wissen, wohin das führte: in das Elend der sich als Volksdemokratien ausgebenden kommunistischen Diktaturen. In liberalen Demokratien dagegen sehe ich die andauernden Berufungen auf das Menschenrecht und die damit verbundenen Weiterentwicklungen von Menschenrechten zur Anarchie hin tendieren. Führt man sich nämlich das Eigentliche liberaler Demokratien vor Augen, muß jeder, rein vom Demokratischen her, am Ende u. a. das Wahlrecht haben und, vom rein Liberalen her, nach mehr Freiheit in seinem eigenen Interesse er an sich ist." Das ähnelt dem, was Mann in dem eben angeführten Aufsatz von Goethe sagt, der von "angeborenen Verdiensten" sprach und hinzufügte: "Man muß etwas sein, um etwas zu machen." Stirner schreibt a. a. 0., 189, er sei "mehr als Mensch, nämlich ein absonderlicher Mensch." Die Ansicht dieses Einzigen mit seinem Eigenturn erinnert an John Locke, der oft als geistiger Vater des modernen Individualismus gesehen wird. Dieser bekannte Verteidiger des Privateigenturns sah in diesem nicht nur Besitz an Dingen, die er auch als estate (Eigentum im engeren Sinne) bezeichnete. In Paragraphen 123 und 124 seiner Zweiten Abhandlung nennt er auch einen weiteren Eigenturnsbegriff, wenn es dort heißt, daß Menschen den unsicheren Naturzustand verlassen "for the mutual preservation of their Jives, Iiberties, and estates, which I call by the general narne, property. The great and chief end, therefore, of rnen's uniting into cornrnonwealths, and putting thernselves under government, is the preservation of their property; to which in the state of nature there are rnany things wanting." Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualisrn: Hobbes to Locke, Oxford 1962, 194 ff. Stirner, a. a. 0 . 75, zitiert Bailly: "Wenn ihr nicht ohne meine Einstimmung über mein Eigenturn verfügen könnt, wie viel weniger könnt ihr es über meine Person, über Alles, was meine geistige und gesellschaftliche Stellung angeht! Alles das ist mein Eigentum, wie das Stück Land, das ich beackere: und ich habe ein Recht, ein Interesse, die Gesetze selber zu machen." 25 Siehe mein Reiner Liberalismus, Tübingen 1985, insbes. 31 ff. Ein Beispiel für die Tendenz einzelner Menschenrechte, sich in der Praxis dem Menschenrecht zu nähern, bietet die Entwicklung der Magna Carta Libertatum zu einer Magna Carta Libertatis im Hinblick sowohl auf negative als auch positive Rechte. Ich habe versucht, das in Magna Carta und Property, 48 ff. , zu zeigen.
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streben können, damit er deren Vermögen zum Guten und Bösen voll ausschöpfen kann. Er kann dann das Eigentliche der Politik, für sich selbst innerhalb einer Gemeinschaft etwas zu erreichen, in vollstem Maße demonstrieren und dies nach dem reinen Liberalismus, der nur auf die Ausdehnung der Freiheit des Individuums aus ist, auf maß- und skrupellose Weise tun. 26 Blickt man auf das Dasein existierender Menschenrechte und bedenkt man deren Weiterwerden unter den Verlockungen des Menschenrechts aufgrund dessen steten Seins, erscheint als einer der wichtigsten Aspekte der Problematik der Menschenrechte die Koexistenz und Konkurrenz von Freiheit und Gleichheit. Diese sind eine weitere Folge des reinen Liberalismus, nach dem Individuen sich frei fühlen können, jeweils zu bestimmen, wie frei und gleich die Menschen sein sollen. Das aber gebiert ein noch größeres Problem mit der existentiellen Frage, was Menschenrechte hinsichtlich staatlicher Macht bzw. Autorität darstellen. Man hat lange geglaubt, Entwicklungen zum Sozialen und Sozialistischen tendierten zu einer allzu starken Gewalt der Regierenden und dabei anarchistische Tendenzen nicht genügend beachtet. Aber man sollte immer an die Warnung von John Adams denken, die vor der Anarchie vielleicht mehr noch warnte als vor der Tyrannei, was auch Wilhelm Röpke tat. 27 Bei Menschenrechten ist gutes Maß angebracht, Mittelmaß, das den Verlust der Mitte verhindert. Individuen sollten genau so wie Regierungen immer daran denken, daß Menschenrechte, wie das Recht schlechthin, ein ethisches Minimum sind. Nietzsche forderte dazu auf, sich bei Betrachtungen der Vergangenheit nur von Bewunderungswürdigem leiten zu lassen. Bedenkt man hierzu seine Bemerkung über das Gold und sieht man in Menschenrechten edelste Rechte, wäre er vielleicht eher für deren sanfte Strahlung eingetreten als für ihren aufpolierten, gleißnerischen Glanz.Z8 Man vergesse nicht, daß Gleiße eine Giftpflanze ist. Bei der Geschichte der Menschenrechte sollte man Geschaffenes entsprechend würdigen und sich im Weiterschaffen trotz nicht endenwollender Freiheitsbegehren nicht ailzu viele Freiheiten herausnehmen. Vielleicht gelingt es modernen liberalen Demokratien, zu jener Balance von Menschenrechten und der diese schützenden staatlichen Autorität zurückzukehren, welche zur Zeit des konstitutionellen klassischen LibeSiehe mein Politik- Wissenschaft, Berlin 1989, sowie Reiner Liberalismus. Röpke schrieb Pierre F. Goodrich am 18. August 1952: "Lord Acton certainly did not mean to deny that, if there is something worse than despotism, it is anarchy, i.e., the absence ofpower." 28 In Der Wanderer und sein Schatten, 61, heißt es: "Go I d . -Alles, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanfte Strahlung ist dem edelsten Metalle zu eigen." Mit dieser Abänderung des Sprichworts "Es ist nicht alles Gold, was glänzt" erscheint der als großer Befreier bekannte, unruhige Philosoph maßvoll. Für die Ansicht, daß man bei Nietzsche nie so recht weiß, woran man mit ihm ist, siehe Thomas Manns Vortrag vor dem Pen-Ciub in Zürich am 2. Juni 1947 über Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Angesichts der Problematik der Menschenrechte wissen wir wohl auch noch nicht, woran wir mit ihnen sind. Jhering, dem Kampf ums Recht zur Ehre eher als zum Trotz: immer ist Maß angemessen, nie aber Anmaßung. 26 27
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ralismus vorherrschte, und im Menschenrecht eine sittliche Idee zu sehen, die von den Individuen gutgeheißen wird und ihre Gemeinschaft beherrscht. Das betrachte ich in meiner menschlichen Wenigkeit als die wohl bedeutendste Aufgabe innerhalb der derzeitigen Problematik der Menschenrechte.
Nachwort Die vorangehenden Essays versuchen, die Problematik der Menschenrechte an der Irrnis und Wirrnis, Nutzung und Ausnutzung, Entpflichtung und Verpflichtung dieser Rechte zu zeigen. Sie stellen diese Beispiele partieller Erscheinungen der Menschenrechtsidee, dieses Dings an sich dar, die durch die Willen der Menschen aus verschiedenen Gründen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten geformt wurden. Rahmenerscheinungen wurden im Rahmen des Menschenrechts als ihres Urgrundes gesehen, dessen Unermeßlichkeit es fraglich macht, ob seine Problematik überhaupt enkadriert werden kann. Im Vorwort zu seines Vaters Arbeit über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte schrieb Walter Jellinek, Bedrückung sei meist die Mutter eines Freiheitsgedankens. Er stellte sich so hinter dessen These, nach der spezielle Menschenrechte aufgrund bestimmter Unterdrückungen in rechtsverbindlichen Normen garantiert wurden, aus denen die einzelnen Ansprüche stellen konnten. Zweifellos haben die ersten amerikanischen Grundrechtskataloge viel für den Schutz der Menschenrechte getan, haben Amerikaner den demokratischen Kampf gegen den Despotismus gefördert. Dennoch ergibt sich angesichts der gerade in den Vereinigten Staaten starken Progression des Liberalismus die Frage, ob denn immer neue Formulierungen von Menschenrechten nicht zu weit geführt haben und ähnlich problematisch geworden sind wie im Zeitalter der Gesetzgebungen nach Carl Schmitt das Recht schlechthin. Ich muß da an Schillers Tell, sein "Neujahrsgeschenk auf 1805", seinem Todesjahr, denken. Wäre dieser Freiheitsenthusiast, der von der Wiederkehr des alten Urstandes der Natur sprach, aus dem sich die Menschen ihre unveräußerlichen Rechte holen konnten, vielleicht gegen mehr und mehr Formulierungen solch vermeintlieher Rechte gewesen, die ein problematisches Menschenrecht zu schaffen geeignet waren? Oder hätte er, der Zweifel über Mehrheitsbeschlüsse äußerte und nicht Freiheit, sondern Freude als schönen Götterfunken sah, eher Zweifel über die kommende Entwicklung des Menschenrechtlichen gehabt seit dem Jahrhundert, das als liberales bekannt wurde und in dem man vom Tode Gottes sprach? Wir wissen es nicht und trösten uns mit dem Worten, die der von Schiller bewunderte andere Große von Weimar äußerte und die mit denen, die ich an den Beginn dieser Arbeit stellte, übereinstimmen, wenn er Faust gleich am Anfang sagen läßt, er sähe nach langen Studien, "daß wir nichts wissen können."
Personen- und Sachverzeichnis Absolutismus, Despotismus, Diktatur 67, 68, 131, 140, 143, 166, 197, 201, 203 Abdul Aziz Said 55 Abus de droit 89, 118, 120, 121, 122, 123, 129, 131, 134, 136, 178, 179 Acton, Lord 201 Adams, John 74, 103, 131, 201 Allah 54, 55 Althusius, Johannes 67 Altweg, Jürg 93, 125 Amerika (USA) 14, 42, 45, 56, 88, 92, 93, 123, 126, 127, 140, 141, 167, 172, 174, 183, 185, 186, 187, 198 Amerikanisierung, Ausstrahlung von 40, 43, 44, 46, 49, 55, 59, 78, 154, 203 Amerikanische Revolution 39, 40, 41, 72,93,98,115,120,134,140,194,197 Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 85, 96, 97, 101, 102, 131, 152, 180, 184 Amerikanisches (20.) Jahrhundert 93, 197 Anarchie 17, 131, 137, 149, 206 Arima, Tatsuo 46 Asyl 123, 124, 125, 126, 129 Auburtin, Fernand 186 Auctoritas, potestas 31, 201 Aufklärung 7, 36, 41, 71, 165, 169 Bauer, Bruno 64, 136, 182 Beccaria, C. 22 Beethoven, Ludwig 16, 71 Bentham, Jeremy 76 Berber, Friedrich 135 Bergbohm, Car1 27 Bernstein, Leonard 17 Bill of Rights ( 1789) 14, 140, 165 Blacker, Carmen 45 Blackstone, William 14, 17, 26, 27, 92, 138, 184, 186, 193
Bodin, Jean 41, 95 Böll, Heinrich 153 Bonn 77, 126, 185, 196 Bourgeois(ie) 35, 60, 62, 64, 65 Bracton, Henry 14, 140 Brandeis, Louis D. 186 Brandes, Ernst 72 Brennan, William J. 186, 187 Brüning, Heinrich 72, 196 Buchanan, James 172 Burckhardt, Jakob 29, 93, 104, 125 Burke, Edmund 41, 108 Burnham, James 197 Cahn, Edmond 28 Car1yle, Thomas 73, 152, 162 Carr, T. H. 73 Carter, James 42 Chamberlain, Hauston S. 73 Chemnitz, Bogis1aw 68 Chisholm, George B. 23 Christlichsoziale 172 Christopherson, Jens A. 106, 118 Churchill, Winston 103, 141 Cicero 139, 151 Clausewitz, Carl von ll4 Coke, Sir Edward 14, 20, 85, 92, 130, 184, 186 Comte, Auguste 31, 73 Concordet, Antoine 41 Conring, Hermann 68 Corwin, Edward S. 32, 185 Cranston, Maurice 30, 147 Darwin(ismus) 13 Dahlmann, Friedrich 72 Daumier, Honore 35 Deismus, Theismus 32, 139 Demokratie liberale 65, 76, 94, 113, 114, 121, 134, 168, 169,174,176,181,198,200,201
Personen- und Sachverzeichnis Problem der 93, 94, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 104, 105, 119, 134 reine 102, 111 Unaufhaltsamkeit, Vormarsch der 72, 80, 81, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112,116,117,118,119, 147 Deutschland 17, 66,67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 77, 86, 88, 117, 120, 127, 128, 133, 141, 162, 167, 183, 184, 185, 191 Deutschrechtier 173, 174, 175 Descartes, Rene 112 Dewey, John 50 Dicey, Albert V. 21, 79, 186 Diogenes Laertius 151 Doi, Takeo 47 Duguit, Uon 173 Egoismus, Egotismus, Egozentrik 24, 25, 26,34,62,63,64, 74, 82,83, 137,138, 144, 148, 152, 158, 161, 162, 163, 164, 173, 174, 200, 201 Eigentum, Eigentümer 37, 39, 53, 62, 67, 79, 81, 84, 107, 117, 120, 130, 134, 136, 140, 154, 165, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 179, 181, 183, 186, 191, 200 Einfügungsprinzip 47, 48, 52, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 66, 67, 74, 75, 76, 78, 83, 140, 141 Eliot, T. S. 108, 109, 118 Emerson, Ralph Waldo 151 England, Großbritannien 13, 14, 17, 42, 44,92,93,95, 102,140,141,167,172, 183, 186 Englische Revolution 17, 31, 39, 40, 41, 69,72,92,93,95, 105,120,140,184, 197 Encyklopädisten 41 Ermacora, Felix 58, 59 Escobedo v. Illinois (1964), Escobedo ru1e 122 Ehtik, Moral, Religiosität, Sittlichkeit 13, 18, 20, 22, 27, 48, 54, 55, 56, 64, 69, 82, 93, 108, 112, 122, 135, 136, 151, 154, 160, 163, 178, 181, 198, 199, 202 Faschismus, Nationalsozialismus 73, 113, 197 Ferguson, Adam 41
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Fichte, Johann Gottlieb 67, 71 Fortas, Abe 23 Frankreich 41, 42, 93, 106, 119, 126, 129, 140, 167, 184, 186 Französische Revolution 65, 71, 72, 93, 95, 115, 120, 132, 140 Free govemment als Begrenzung der Regierung 75, 101 als Mittel des Regierens 75, 77, 101 Freiheit 15, 17, 18, 19, 21, 26, 60, 85 Ausdrucks- 36, 37, 121, 130 Demonstrations- 168, 169 Gedanken- 36, 121,170 Gewissens- 36 Glaubens- 12, 17, 37, 140, 165, 170 Handels- 37, 70, 165 Presse- 12, 56, 121, 165, 169 Versammlungs- 37 Wahl- 176 reine 21, 26, 27 zum Guten und Bösen 18, 22, 26, 28 Unerschöpflichkeit 26, 156 Freiheitsdrang, Liberalismus 13, 16, 20, 22, 26, 32, 38, 42, 43, 60, 64, 68, 71, 75, 76, 82, 84, 85, 87, 107, 108, 109, 133, 152, 154, 163, 197, 203 Freud, Sigmund 154, 170 Friedrich, Carl Joachim 131, 152, 158, 168, 185, 195 Friedeich der Große 67, 70, 83, 157, 162 Galbraith, John K. 108 Gandhi, Mahatma 53 Gaulle, Charles de 73, 167 Gentz, Friedrich 154 Gesetzgebung 78, 96, 194, 203 Gewohnheitsrecht 12, 38, 41, 78, 85, 86, 96, 130, 140, 194 Gierke, Otto von 174, 178 Gleichheit 51, 53, 62, 132, 177, 198, 199, 201 und Demokratie 98, 108, 110, 131 Glück(seligkeit), pursuit of happiness 46, 75, 131, 152 Goethe, Johann Wolfgang 19, 26, 132, 151, 161, 163, 164, 198, 200, 203 Goldene Bulle 165 Goldene Regel 164 Goldman, Merle 51
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Personen- und Sachverzeichnis
Gott(esgnadentum), Gottes Tod 19, 159, 160, 168, 203 Göttliches Recht 14, 40, 66, 69, 86, 93, 139, 140, 199 Grimm, Hans 124 Grundrechtskataloge, Grundrechtsdeklarationen II, 12, 17, 33, 35, 40, 42, 43, 53, 55, 56, 58, 59, 61, 66, 72, 73, 78, 80, 84, 85, 87, 119, 121, 140, 141, 142, 146, 165, 167, 176, 184, 186, 192, 194, 195, 203 Guizot, Franr;ois 106 Hacker, Andrew 127 Hahlo, H. R. 14 Hamilton, Alexander 40, 99, 100, 101, 138, 145, 184, 186, 194 Hartmann, Nicolai 199 Hättich, Manfred 180 Hayek, Friedrich August von 15, 23, 41, 42, 73, 74, 75, 77, 85,90,91, 137,181, 194 Regel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 18, 20, 26, 27, 29, 42, 60, 65, 67, 68, 69, 71, 82, 111, 112, 128, 130, 140, 143, 156, 167, 168, 181, 197, 198, 199, 200 Heidegger, Martin 15, 20, 26, 89 Henkin, Louis 180 Hichbom, Benjamin 101, 102 Higham, John 127 Hinduismus 51 , 52, 53 Hitler, Ado1f, Hitlerkomplex, Ritterregime 60, 77, 78, 124, 125, 128, 133, 169, 197 Hobbes, Thomas 17, 26, 68, 69, 73, 104, 171, 180, 200 Holmes, Oliver Wendell, Jr. 12, 121, 132, 144, 153, 154, 167, 186 Howe, Mark DeWo1fe 13 Humboldt, Wilhelm von 28 Hume, David 41 Humphrey, Hubert H. 110 Hybris 19, 96, 97, 115, 118, 131, 168, 197 Individualitätsprinzip 42, 47, 59, 61, 67, 72, 74, 75, 76, 77, 78, 83, 87 lus sanguinis 127 Jacksonien Revolution, Demokratie 103, 104, 105
Jaspers, Kar! 76, 170 Jay, John 99 Jefferson, Thomas 20, 63, 78, 82, 97, 117, 131, 154, 188, 193 Jellinek, Georg 12, 16, 21, 29, 35, 69, 78, 89, 90, 91, 112, 115, 126, 135, 142,178, 197 Jellinek, Walter 12, 16, 120, 184, 185, 195, 203 Jennings, lvor 186 Jhering, Rudo1fvon 31, 144, 173, 178, 201 Kant, Immanuel 7, 17, 20, 22, 26, 27, 36, 63, 65, 67, 71, 72, 78, 82, 83, 84, 111, 112, 116, 121, 135, 138, 140, 143, 152, 156, 157, 158, 159, 162, 163 Kasten 51, 52, 53, 54 Kathedersozialisten 172, 173 Katoh, Hiroyoki 46 Kaufmann, Erich 132 Kaunda, Kenneth 59 Kelsen, Hans 21, 22, 23, 33, 91, 112 Kennedy, John F. 25, 75, 124 Kent, James 103, 106 Khomeini 55, 56, 159 Kierkegaard, Soren 19 Kleist, Heinrich von 32 Klenner, Hermann 66 Klirnkeit, Hans Joachim 54 Knox, T. M. 168 Ko1akowski, Leszek 65 Kolonialismus 52, 56, 57, 58, 60, 94, 95 Kommunismus 34, 35, 50, 60, 61 , 62, 63, 64, 65, 66, 67, 133, 154, 174, 181, 197, 200 Konfuzianismus 47, 48, 49, 50 Konservatismus 43, 44, 103 Konstitutionalismus 71 Koran 54 Koschmann, Victor 46 Koslowski, Peter 172 Krieger, Leonard 71 Kühnhardt, Ludger 55, 77 Lafayette, Joseph 41 Laissez-faire 82, 137, 173 Laski, Harold 64, 132 Lee, Robert E. 152
Personen- und Sachverzeichnis Leibholz, Gerhard 132, 185, 191 Lenin, V. I. 51, 60 Lerner, Max 127 Liang, Ch'i-ch-ao 49 Liberal(e) 17, 51, 56 Liberales (englisches) Jahrhundert 20, 21, 42, 49, 72, 93, 118, 157, 197 Liberalism proper and proper liberalism 60, 78, 82, 84, 138 Liberalismus (auch Freiheitsdrang) klassischer22, 78, 83, 84, 137, 157,201, 202 Manchester 82, 138 maßvoller 82, 83, 84, 138, 168, 175, 201, 202 reiner 33, 77, 78, 82, 83, 87, 108, 133, 137, 138, 175, 200, 201 Libertät 17, 67, 69 Lincoln, Abraham 167, 188 Lippmann, Walter 122 Liszt, Franz von 177 Llorens, E. L. 132 Locke, John 14, 20, 38, 39, 40, 41, 63, 69, 70, 72, 73, 78, 81, 84, 85, 92, 95, 105, 138, 140, 170, 171 , 193, 200 Luther, Mactin 22 MacLaughlin, Andrew C. 188 Macpherson, C. M. 119, 134, 200 McCulloch, J. R. 154 Madison, James 99, 100, 103, 104, 108, 118 Magna Charta 13, 14, 84, 91, 95, 132, 140, 147, 165, 177, 178, 183, 186, 190, 200 Mainzer, Otto 132 Mann, Thomas 16, 192, 200, 201 Mao Tse-Tung 51 Maritain, Jacques 76 Marx, Kar!, Marxismus 22, 34, 51, 61, 62, 63,64,65,66,74,75,94, 137, 141,172, 186 Masse, Maß, maßvoll, maßlos 30, 132, 58, 59, 76, 82, 110, 149 Mazzini, Giuseppe 155 Mencken, H. L. 153 Menschenrecht reines 7 und Menschenrechte 7, 11-29, 34, 35, 86, 90, 182- 202, 203
207
Menschenrechte Auslegung 85 Formulierung 11, 12, 34, 58, 81, 84, 85, 86, 87, 88, 122, 138, 167, 189, 194, 195, 196, 203 Freiheitsrechte im Vordergrund 14, 15, 192 Gleichheit aller 165, 166 Grenzen, Unbegrenztheit 7, 31, 203 Große Rechte 28, 29 im engeren und weiteren Sinn 30, 31, 33, 145, 182 in Afrika 57, 58, 59; China 47, 48, 49, 50, 51, 56, 59, 61; Indien, 51, 52, 53, 54, 56, 61; islamischen Ländern 54, 55, 56, 59, 61; Japan 44, 45, 46, 47, 56, 59, 61; westliche Auffassungen, 42,45,54, 55,57,60,65,66,72,76,77 Jahr der 30, 142, 180 offensive und defensive 37, 55, 114, 128 positive und negative 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42 singularistischer und pluralistischer Begriff 11 , 12, 34, 35 soziale 81 , 82 und Bürgerrechte 61, 62, 63, 64, 92, 95 Merkantilismus 165 Mill, John Stuart 18, 20, 45, 64, 87, 90, 140, 154, 156 Minear, Richard H. 46 Moeser, Justus 71 Mohammed 54 Mohl, Roher von 72, 113, 138 Montesquieu, Charles 14, 17, 20, 21, 30, 40, 63,71,78,82,84,85,86,88,92,108,126, 156,157,160,165,193,194, 198 Najita, Tetsuo 45 Nakae, Chohmin 45 Naturrecht 32, 33, 37, 38, 39, 45, 51, 66, 71, 76, 77, 82, 133, 134, 146, 149, 199 Naturzustand 17, 26, 39, 42, 203 Nawiasky, Hans 132 New Freedom, New Deal, New Frontier, Fair Deal, Great Society 75, 166, 174, 188 Nkruma, Kwarne 59 Nietzsche, Friedeich 19, 20, 73, 125, 181, 197, 198, 199, 201
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Personen- und Sachverzeichnis
Ordnung, öffentliche Sicherheit, öffentliches Wohl im Staat 24, 27, 31, 32, 48, 52, 54, 63, 69, 71, 90, 134, 136, 137, 146, 163, 177, 181, 197, 198 Ordre public, public order 72 Organisation, Planung 73, 74, 75, 76 Ortegay Gasset, Jose 170 Paine, Thomas 14 Paley, William 41 Panikkar, K. M. 52 Petition of Right (1628) 14, 37, 140, 165, 181, 184, 201 Physiokraten 41 Pickles, Dorothy 106 Politik(er) 24, 25, 26, 60, 90, 91, 92, 93, 102, 106, 170, 185 Popper, Kar! 78 Pound, Roscoe 14, 186 Preferred freedoms 79, 80, 119, 120, 121, 130, 166, 188 Prkash, S. 47 Pufendorf, Samuel 68, 69, 71 Positives Recht 27, 33, 38, 80, 82, 178, 180 Putney Debates 73, 74, 75, 76 Radbruch, Gustav 22 Rebmann, Kurt 126 Rehberg, August W. 72 Rechthaberei 143, 144, 145 Rechtsstaat 90, 91, 113, 114, 128, 175, 181, 185 Reformbewegung der 100 Tage 49 Reichenbach, Hans 23 Reine Rechtslehre 21, 23, 112 Reverse discrirnination 123, 187 Rights of Englishmen 14, 40, 44, 69, 85, 86, 184, 193 Ritterband, Charles E. 53 Rommen, Heinrich 27, 32 Roosevelt, Franktin D. 75, 166, 188 Roosevelt, Theodore 127 Röpke, Wilhelm 201 Rousseau, Jean-Jacques 16, 22, 41, 42, 45, 49, 72, 92, 102, 117, 131, 140, 141 Rümelin, Max von 132 Rush, Benjamin 97, 106 Russen, Bertrand 50 Russische Revolution 64, 115, 118
Savigny, Friedrich Kar! von 85, 194 Schelling, Friedrich Wilhelm 18, 20, 26, 83 Schenck v. United States (1919) 78, 79, 181, 196 Schiller, Friedrich 12, 71, 76, 139, 140, 145, 203 Schlesinger, Arthur M., Jr. 127 Schleyer Affäre 78 Schloezer, August Ludwig von 71 Schmitt, Carl 22, 27, 43, 73, 77, 85, 104, 113, 128, 137, 177, 181, 193, 194, 198, 203 Schopenhauer, Arthur 19, 20, 22, 181 Schubert, Franz 19, 197, 199 Sannosuke, Matsumoto 46 Santayana, George 152 Sartori, Giovanni 118 Sedlmayr, Hans 24 Seneca 151 Shintoismus 44, 46 Sklaverei 57, 124 Smith, Adam 24, 28, 41, 78, 82, 84, 137, 157, 172, 193 Sophocles 139, 145 Sore], Georges 73 Sozialleistungen 170, 171 Soziologische Jurisprudenz 173, 186 Spencer, Herbert 82 Spengler, Oswald 59 Spinoza, Baruch 22 Steinbach, Udo 56 Stahl, Friedrich Julius 185 Stammler, Rudolf 27, 32 Steuern 153, 154 Stimer, Max 16, 136, 137, 138, 181, 182, 197 Sun Yat-sen 49, 50 Sunna 59 Swedenborg, Emanuel 82 Tagore, Rabindranath 53 Taiping Revolution 49 Thibaut, A. F. J. 194 Thiers, Adolphe 154 Thoma, Richard 185 Thomasius, Christian 68, 69, 70, 71 Tocqueville, Alexis de 42, 72, 103, 104, 105, 106, 116, 118, 138, 198 Tomuschat, Christian 56
Personen- und Sachverzeichnis Toynbee, Arnold 43 Treitschke, Heinrich von 72, 140 Triepel, Heinrich 185 Tu hsiu Chen 50 Truman, Harry S. 75 Tucker, Josiah 41 Ueki, Emori 45 Ullmann, Walter 132 United Nations 141, 180 Universalität 189, 190, 191, 192, 193, 197 Volonte generate 42, 105 Voltaire 22, 92, 96, 112, 163 Wagner, Richard 19, 136 Wahlrecht 37, 106, 107, 108, 109, 110, 112, 114, 115, 116, 119, 120, 147, 198, 200 Warren, Charles 93, 105
14 Dietze
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W ashington, George 103 Weber, Max 25, 47, 48, 51, 60, 172 Weber-Schäfer, Peter 50 Wehrdienst(verweigerung) 168, 170 Weimar 72, 73, 77, 174, 175, 178, 185, 191, 195 Wells, H. G. 73 Wilde, Oscar 143, 155, 156 Wilson, Woodrow 43, 75, 107, 127, 185 Windscheid, Bernhard 31 Wolff, Christian 70, 71 Wordsworth, William 150, 151, 152, 153, 157, 158, 159, 163 Würde 76, 84, 163 Yeats, William Butler 24 Zola, Emile 27 Zweiter Weltkrieg 14, 23, 43, 46, 47, 55, 59, 77, 84,117,127,141, 153,179,181