Privatautonomie und Kontrahierungszwang 3161472160, 9783161579103, 9783161472169

Jan Busche stellt den Standort und die Bedeutung des Kontrahierungszwangs in der modernen Privatrechtsordnung dar. Er ge

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Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhalts verzeichni s
Erster Teil Privatautonomie und Kontrahierungszwang im System des Privatrechts
§ 1 Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes
§ 2 Theorie der Privatautonomie
I. Privatautonomie als Rechtsbegriff
II. Bedeutung der Privatautonomie für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung
1. Privatautonome und heteronome Rechtsordnungen
2. Gestaltungsplan der Privatrechtsordnung unter dem Grundgesetz
a. Privatautonomie als Gegenstand der allgemeinen Handlungsfreiheit
b. Objektive Dimension der verfassungsrechtlich verbürgten Handlungsfreiheit
3. Gestaltungsplan der Privatrechtsordnung und Wirtschaftsverfassung
a. Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes
b. Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union
c. Staatsinterventionistische Wirtschaftsverfassungen
III. Zusammenfassung
§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie
I. Historische Annäherung an ein Gestaltungselement der Privatrechtsordnung
II. Reichweite der Vertragsfreiheit
1. Verankerung im Verfassungsrecht
2. Objektive Dimension der Grundrechte und Bipolarität der Vertragsrechtsbeziehung
III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips im Vertragsrecht
1. Ausübungsformen der Vertragsfreiheit
a. Konzeption des BGB
b. Inhalt einzelner Ausübungsformen
aa) Vertragsbegründungsfreiheit (Abschluß- und Kontrahentenwahlfreiheit)
bb) Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit
cc) Inhalts- und Gestaltungsfreiheit
c. Interdependenz von Vertragsbegründungs- und Vertragsgestaltungsfreiheit
2. Begriffliche Konkretisierung der Vertragsfreiheit
3. Funktionsmodelle vertraglicher Selbstbestimmung
a. Formale Vertragsfreiheit
aa) Leitgedanken
bb) Kritik
b. Materielle Vertragsfreiheit
aa) Heteronome Vertragszielbestimmung
(1) Theorie der objektiven Richtigkeitsgewähr
(a) Leitgedanken
(b) Kritik
(2) Soziale Vertragstheorien
(3) Ergebnis
bb) Autonome Vertragszielbestimmung
(1) Theorie der subjektiven Richtigkeitsgewähr
(a) Leitgedanken
(b) Kritik
(2) Theorie der Vertragsparität
(a) Leitgedanken
(b) Kritik
(c) Exkurs: Folgerungen für die Inhaltskontrolle
(3) Theorie des informationellen Gleichgewichts
(a) Leitgedanken
(b) Kritik
(4) Theorie der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit
(a) Leitgedanken
(b) Kritik
(5) Theorie der Selbstherrlichkeit
(a) Leitgedanken
(b) Kritik
cc) Ergebnis und eigener Standpunkt: Theorie der vertragsrechtsgebundenen Selbstbestimmung
IV. Zusammenfassung
§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit durch Kontrahierungszwang
I. Kontrahierungszwang als Untersuchungsgegenstand in Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten
1. Begriff und Funktion des Kontrahierungszwangs
2. Bindungen der Vertragsbegründungsfreiheit außerhalb des Kontrahierungszwangs
a. Vorvertag und Option
b. Sittlich-moralische Bindungen
c. Wirtschaftliche Bindungen
d. Gesetzliche Vertragsübernahme
e. Ausübung eines einseitigen gesetzlichen Gestaltungsrechts
f. Diktierter Vertrag
g. Vertragsschluß kraft Gesetzes
II. Terminologische Vorklärung
III. Allgemeiner und besonderer Kontrahierungszwang im Verhältnis zueinander
IV. Zusammenfassung
Zweiter Teil Der allgemeine Kontrahierungszwang
§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Präponderanz vertraglicher Selbstbestimmung
I. Funktionssicherung der Vertragsbegründungsfreiheit bei Vertragsverweigerung
II. Voraussetzung des allgemeinen Kontrahierungszwangs: Qualifizierte Vertragsverweigerung
1. Verfolgung rechtlich geschützter Interessen durch den Vertragsinteressenten
a. Ausdrückliche gesetzliche Schranken
b. Immanente Bindungen
2. Abhängigkeit des Vertragsinteressenten von einem Anbieter
a. Abhängigkeit im allgemeinen
b. Einzelne Formen der Abhängigkeit
aa) Sachliche Abhängigkeit
bb) Räumlich-zeitliche Abhängigkeit
cc) Konditionale Abhängigkeit
dd) Folgerungen
3. Vertragsgeneigtheit des Anbieters
4. Leistungsfähigkeit des Anbieters
III. Zusammenfassung
§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Anspruchssystem des BGB
I. Kontrahierungszwang im System des Schadensersatzrechts
1. Kontrahierungszwang aufgrund der Verletzung vorvertraglicher Pflichten
a. Voraussetzungen und Rechtsfolgen der c.i.c.
b. Kontrahierungszwang als Folge willkürlichen Abbruchs von Vertragsverhandlungen
c. Kritik
2. Kontrahierungszwang aufgrund eines Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 826 BGB)
a. Deliktsrechtliches Korrelat der Rechtsgeschäftsordnung
b. Ansätze zur Konkretisierung des Tatbestands der guten Sitten
aa) Kritische Bestandsaufnahme
bb) Folgerungen für den Untersuchungsgegenstand
c. Sittenverstoß und allgemeiner Kontrahierungszwang: Einzelne Begründungsmuster
aa) Lehre vom Monopolmißbrauch
(1) Rechtsprechung
(a) Reichsgericht
(aa) Entscheidungspraxis
(bb) Bewertung
(b) Bundesgerichtshof
(aa) Entscheidungspraxis
(bb) Bewertung
(c) Instanzgerichte
(d) Fazit
(2) Schrifttum
(a) Meinungsstand
(aa) Kontrahierungszwang aufgrund Konzessionserteilung
(bb) Kontrahierungszwang aufgrund daseinsvorsorgender Betätigung
(cc) Kontrahierungszwang aufgrund willkürlicher oder illoyaler Vertragsverweigerung
(b) Fazit
bb) Mißbräuchliche Wahrnehmung einer Versorgungsaufgabe
(1) Meinungsstand im Schrifttum
(a) Kontrahierungszwang für (sozial) wichtige Güter
(b) Kontrahierungszwang ohne sachliche Einschränkung
(2) Fazit
cc) Eignung der Konkretisierungsansätze zur Sicherung der Vertragsbegründungsfreiheit
(1) Maßstab
(2) Voraussetzungen
(a) Schutz rechtlich geschützter Interessen
(b) Schutz des von fremdem Angebot abhängigen Vertragsinteressenten
(c) Inpflichtnahme vertragsgeneigter Anbieter
(d) Inpflichtnahme leistungsfähiger Anbieter
(3) Fazit
3. Kontrahierungszwang aufgrund der Verletzung eines absoluten Rechtes (§ 823 Abs. 1 BGB) oder eines Schutzgesetzes (§ 823 Abs. 2 BGB)
a. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
aa) Grundlagen
bb) Einzelfälle
(1) Arbeitsverträge
(2) Bewirtungsverträge
cc) Kritik
b. Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
aa) Grundlagen
bb) Vertragsverweigerung als Eingriff
cc) Kritik
c. Verletzung eines Schutzgesetzes i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB
4. Kontrahierungszwang als Folge der Verpflichtung zum Schadensersatz
a. Anspruch auf Naturalrestitution
b. Anspruch auf Naturalprästation
II. Kontrahierungszwang zur Abwehr einer Beeinträchtigung der Vertragsbegründungsfreiheit
1. Inhalt des quasinegatorischen Abwehranspruchs
2. Dogmatische Einordnung des Abwehranspruchs
a. Quasinegatorischer Unterlassungsanspruch analog §§ 12 S. 2, 862 Abs. 1 S. 2, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB
b. Quasinegatorischer Beseitigungsanspruch analog §§ 12 S. 1, 862 Abs. 1 S. 1, 1004 Abs. 1 S. 1 BGB
III. Zusammenfassung
§ 7 Allgemeiner Kontrahierungszwang: Konturen eines privatrechtlichen Instituts
I. Bedeutung für die Vertragsrechtsordnung
II. Schutz von Individualinteressen
III. Rechtszwang zum Abschluß eines privatrechtlichen Zielvertrages
IV. Anspruch auf Abschluß eines privatrechtlichen Zielvertrages
V. Zustandekommen des Zielvertrages
VI. Inhalt des Zielvertrages
1. Vorrang privatautonomer Aushandlung
2. Bestimmung des Anspruchsinhaltes bei Versagen der Privatautonomie
a. Bedeutung der Interdependenz von Vertragsbegründungs- und Vertragsgestaltungsfreiheit
b. Substitution privatautonomer Aushandlung durch einseitiges Leistungsbestimmungsrecht analog §§ 316, 315 Abs. 1, 3 BGB
aa) Grundlagen
bb) Gesichtspunkte für die gerichtliche Leistungsbestimmung
3. Nebenpflichten
VII. Prozessuale Rechtsdurchsetzung
1. Vertragsschluß und Leistung: Möglichkeit der Klagverbindung
2. Klageart und Bestimmtheit des Klageantrages
3. Fazit
VIII. Zusammenfassung
Dritter Teil Der besondere Kontrahierungszwang im Deliktsrecht
§ 8 Ergänzende Vertragsbegründungskontrolle durch Deliktsrecht – dargestellt am Beispiel der Wirkung spezieller Gleichheitssätze
I. Standort, Inhalt und Bedeutung spezieller Gleichheitssätze
II. Alternativität der Regelungsmodelle: Influenzierende oder imperative Vertragsabschlußgebote
III. Schadensersatzrechtliche Kompensation der Diskriminierung und allgemeiner Kontrahierungszwang
IV. Funktion ergänzender Vertragsbegründungskontrolle
1. Ausgangsüberlegung
2. Ergänzende Vertragsbegründungskontrolle durch § 823 Abs. 2 BGB
3. Ergänzende Vertragsbegründungskontrolle durch § 826 BGB
4. Fazit
V. Zusammenfassung
Vierter Teil Der besondere Kontrahierungszwang in Spezialgesetzen
§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung (§ 20 Abs. 1, 2 GWB)
I. Behinderungs- und Diskriminierungsverbot als Anwendungsfall eines kartellrechtlich fundierten Kontrahierungszwangs
II. Vertragsverweigerung in der vertikalen Absatzbeziehung
1. Bedeutung von Absatzmittlungsverhältnissen
2. Absatzpolitische Motivation der Vertragsverweigerung
a. Motivbündel
b. Konfliktpotential bei einzelnen Aktionsparametern
aa) Preisgestaltung
bb) Service, Beratung und Geschäftsausstattung
cc) Produktqualität
dd) Werbung
III. Vertragsverweigerung gegenüber Absatzmittlern im Lichte des Diskriminierungsverbots
1. Normstruktur und Normzweck
a. Zweck der Verhaltenskorrektur: Institutionenschutz und Individualschutz
b. Leitziel: Wettbewerbsschutz
c. Konkretion: Wettbewerblicher Entfaltungsschutz
2. Normadressaten
a. Erschließungsfunktion des Unternehmensbegriffs
b. Begrenzung der Normwirkung auf Unternehmen mit herausgehobener Marktstellung
aa) Marktbeherrschende Unternehmen (§ 20 Abs. 1 1. Alt. GWB)
(1) Grundtatbestand (§ 19 Abs. 2 S. 1 GWB)
(2) Oligopoltatbestand (§ 19 Abs. 2 S. 2 GWB)
(3) Marktbeherrschungsvermutung (§ 19 Abs. 3 GWB)
bb) Unternehmensvereinigungen (§ 20 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2 S. 1 GWB)
cc) Preisbindende Unternehmen (§ 20 Abs. 1 3. Fall GWB)
dd) Vertragsmächtige Unternehmen (§ 20 Abs. 2 S. 1 GWB)
(1) Rechtspolitischer Hintergrund der Regelung
(2) Abhängigkeit der Marktgegenseite als Maß für Vertragsmacht
3. Normbegünstigte
a. Tatbestand der Abhängigkeit
aa) Abhängigkeit von marktbeherrschenden Unternehmen
bb) Abhängigkeit von vertragsmächtigen Unternehmen
(1) Konkret-individuelle Betrachtung
(2) Fehlende Ausweichmöglichkeit
(3) Erscheinungsformen der Bezugsabhängigkeit
(a) Überblick
(b) Fallgruppen
(aa) Sortimentsbedingte Abhängigkeit
(bb) Unternehmensbedingte Abhängigkeit
(cc) Knappheitsbedingte Abhängigkeit
(4) Tatbestandseinschränkung auf kleine und mittlere Unternehmen
4. Gleichartigen Unternehmen üblicherweise zugänglicher Geschäftsverkehr
a. Funktion der Tatbestandseinschränkung
b. Einzelheiten
aa) Gleichartige Unternehmen
bb) Üblicherweise zugänglicher Geschäftsverkehr
c. Exkurs: Üblicherweise zugänglicher Geschäftsverkehr im Lichte der US-amerikanischen „essential facilities“-Doktrin
aa) Anwendungsbeispiele
bb) Leitgedanken und Kritik der Implementierung in das europäische und deutsche Kartellrecht
5. Diskriminierung: Synonym für wettbewerbswidriges Verhalten
a. Prinzip der Interessenabwägung
b. Interessenträger
c. Abwägungsverfahren
aa) Erste Stufe: Ermittlung der abwägungsfähigen Interessen
bb) Zweite Stufe: Wettbewerbskonformität der Interessenverfolgung (normative Abwägung)
cc) Dritte Stufe: Überprüfung des normativen Abwägungsergebnisses anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
dd) Zusammenfassung: Abwägungsverfahren im Überblick
d. Interessenabwägung anhand exemplarischer Einzelfälle
e. Modifizierung des Abwägungsmaßstabs bei Kontraierungszwang?
IV. Kontrahierungszwang als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot
1. Diskriminierungsverbot als Schutzgesetz i.S.v. § 33 S. 1 GWB
2. Rechtsdogmatische Herleitung des Kontrahierungszwangs
3. Rechtsfolge: Wettbewerbliche Gleichbehandlung gleichartiger Unternehmen
V. Zusammenfassung
§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht (§ 10 EnWG)
I. Bedeutung der Anschluß- und Versorgungspflicht
II. Entstehungsgeschichte
III. Regelungszweck aus historischer und heutiger Sicht
IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht
1. Normadressaten
a. Energieversorgungsunternehmen i.S.v. § 2 Abs. 3 EnWG
b. Begrenzung auf Gebietsversorgungsunternehmen
aa) Regelungskontext
bb) Begriffskonkretisierung
(1) Allgemeine Versorgung
(a) Fremdversorgung
(b) Geschäftseröffnung durch Versorgungsbereitschaft
(2) Versorgungsgebiet
(a) Abgrenzungskriterien
(b) Tarifeinheit versus Preisgünstigkeit der Versorgung
(c) Gebietsaufteilung zur Tarifpreisdifferenzierung als Folge des Wettbewerbs um Versorgungsgebiete
(d) Versorgungszuständigkeit in der Interimsphase
(aa) Adressat der Anschluß- und Versorgungspflicht
(bb) Exkurs: Wegenutzungsentgelt in der Interimsphase
(3) Marktstellung
c. Durchführung einer Tarifversorgung
aa) Bedeutung
bb) Tarifformen
cc) Tarifbekanntmachung
d. Fazit
2. Normbegünstigte
a. Letztverbrauchende Tarifkunden
aa) Versorgungsbedürfnis
bb) Einzelfälle
b. Sonderabnehmer
aa) Meinungsstand
bb) Versorgung in der Insolvenz
V. Anschluß- und Versorgung von Letztverbrauchern als Folge der Gebietsversorgung
1. Verpflichtung zur möglichst sicheren und preisgünstigen Versorgung: Ein Zielkonflikt
2. Anspruch auf Anschluß und Versorgung: Gemeinwohlgeleitete Selbstregulierung
3. Inhalt des Anspruchs
4. Wirtschaftliche Unzumutbarkeit der Verpflichtung
a. Konkretisierung der Leistungsverpflichtung durch § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG
b. Steuerung der wirtschaftlichen Risikoverteilung
c. Fallgruppen
aa) Person des Abnehmers
bb) Eigenart der Abnahmeverhältnisse
d. Auswirkungen: Ausscheiden aus der Tarifversorgung
VI. Kontrahierungszwang zum Zwecke von Anschluß und Versorgung
1. Leistungspflicht auf vertraglicher Grundlage
2. Formen der Vertragsbegründung
a. Vertragsbegründung zur Energieentnahme
b. Vertragsbegründung bei Energieentnahme
3. Rechtsnatur des Energielieferungsvertrages
VII. Verfassungsmäßigkeit der Anschluß- und Versorgungspflicht
VIII. Zusammenfassung
§ 11 Abnahmepflicht nach dem Stromeinspeisungsgesetz (§ 2 StrEG)
I. Privatrechtsgestaltung in der Verfassungskritik
II. Regelungszweck
III. Grundlagen der Abnahmeverpflichtung
1. Normadressaten
2. Normbegünstigte
a. Grundsatz: Fremdgebietserzeugung
b. Ausnahmen
aa) „Staatliche“ Erzeugungsanlagen
bb) Eigenverwertung
3. Gegenstand der Abnahmepflicht
a. Grundsatz: Energieträgerprivileg
b. Ausnahme: Großanlagenvorbehalt
c. Anwendbarkeit auf andere Energiequellen
IV. Kontrahierungszwang als Rechtsfolge der Abnahmepflicht
1. Rechtsdogmatische Begründung
2. Umfang und Inhalt der Abnahmepflicht
a. Netzzugangsmodalitäten
b. Netzkapazität
c. Erzeugungsqualität und Vergütungshöhe
V. Wirtschaftliche Unzumutbarkeit der Abnahmepflicht
1. Regelungszweck
2. Grenzen der Abnahmepflicht
a. Unbillige Härte (§ 4 Abs. 2, 3 StrEG)
aa) Erfordernis spürbarer Preisanhebung
bb) Preisanhebungen im Kontext des Energiewirtschaftsrechts
(1) Sonderabnehmerbereich
(2) Tarifkundenbereich
cc) Spürbarkeit der Preiserhöhung
b. Nichteinhaltung der Verpflichtungen aus der BTOElt
3. Rechtsfolge
VI. Verfassungsmäßigkeit der Abnahmepflicht
1. Beschränkung der Vertragsfreiheit als notwendige Folge des Kontrahierungszwangs
2. Stromeinspeisungsvergütung als Sonderabgabe
3. Stromeinspeisungsgesetz und Grundrechte
a. Grundrechtsbetroffenheit der Gebietsversorgungsunternehmen
aa) Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)
(1) Eingriff in den Schutzbereich
(2) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs
(a) Verfolgung eines verfassungsrechtlich legitimen Ziels
(b) Geeignetheit der Maßnahme
(c) Erforderlichkeit der Maßnahme
(aa) Finanzielle Förderung
(bb) Absatzsicherung
(d) Angemessenheit der Maßnahme
(3) Fazit
bb) Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG)
cc) Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)
dd) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)
ee) Fazit
b. Grundrechtsbetroffenheit der Letztverbraucher
aa) Mittelbare Grundrechtsbetroffenheit
bb) Freiheitsrechte auf wirtschaftlichem Gebiet (Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG)
cc) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)
dd) Fazit
VII. Ordnungspolitische Bedenken
VIII. Konkurrenzverhältnis
IX. Zusammenfassung
§ 12 Besonderer Kontrahierungszwang in Spezialgesetzen: Strukturen und Funktionen
I. Schutz von Allgemeininteressen
1. Präponderanz des Allgemeininteresses bei „besonderem“ Kontrahierungszwang
2. Erscheinungsformen des Kontrahierungszwangs in Spezialgesetzen: Legitimierende Sachgründe
a. Leistungssichernder Kontrahierungszwang
b. Wirtschaftspolitischer Kontrahierungszwang
c. Multifunktionaler Kontrahierungszwang
II. Bedeutung für die Vertragsrechtsordnung
III. Rechtszwang zum Abschluß eines privatrechtlichen Zielvertrages und zur Leistung
IV. Anspruch auf Abschluß des Zielvertrages
V. Zustandekommen und Inhalt des Zielvertrages
1. Vertragsperfektionierung
2. Gegenleistung für die unter Kontrahierungszwang stehende Leistung
VI. Rechtsbedingungen des Kontrahierungszwangs
1. Zumutbarkeit des Vertragschlusses
2. Leistungsfähigkeit des Anbieters
VII. Prozessuale Rechtsdurchsetzung
1. Klagziel
2. Klageart und Bestimmtheit des Klageantrages
VIII. Verhältnis zum allgemeinen Kontrahierungszwang
IX. Gesetzlicher Eingriff in die Vertragsbegründungsfreiheit und Grundrechtsschutz
X. Zusammenfassung
Fünfter Teil Kontrahierungszwang im Lichte der (De-)Regulierung einzelner Wirtschaftsbereiche am Beispiel des Zugangs zu „Netzwerken“
§ 13 Energiewirtschaft
I. Deregulierungsüberlegungen: Marktöffnung durch Zugang zu vorhandenen Leitungsnetzen
II. Kontrahierungszwang zum Zwecke der Durchleitung von Energie
1. Spezialgesetzlicher Netzzugang
a. Geschäftseröffnung und Interessenabwägung
b. Bestimmung des Durchleitungsentgeltes
aa) Grundsatz
bb) Kalkulationsmodelle
(1) Preisbestimmung nach den Kosten einer fiktiven Stichleitung
(2) Preisbestimmung auf der Basis anteiliger Systemkosten
2. Grundsätze des allgemeinen Kontrahierungszwangs und besonderer deliktsrechtlicher Kontrahierungszwang
§ 14 Telekommunikation
I. Deregulierungsschritte
II. (De-)Regulierung des wettbewerblichen Ordnungsrahmens
III. Wettbewerbsinitiierung durch Verpflichtung zur Zusammenschaltung mit Konkurrenten
1. Spezialgesetzlicher Kontrahierungszwang des TKG
2. Netzzugangsbedingungen
IV. Netzzugang bei Marktbeherrschung auf der Abnehmerstufe
1. Spezialgesetzlicher Kontrahierungszwang des TKG
2. Kontrahierungszwang außerhalb des TKG
V. Zusammenfassung und Ausblick
§ 15 Bankdienstleistungen
I. Umstrukturierung des öffentlichen Bankensektors
II. Praxis des Netzzugangs für Girodienstleistungen
III. Reichweite des spezialgesetzlichen Kontrahierungszwangs
IV. Allgemeiner Kontrahierungszwang für Girodienstleistungen
1. Vertragsziel
2. Voraussetzungen
IV. Zusammenfassung und Ausblick
Sechster Teil Allgemeiner und besonderer Kontrahierungszwang im System des Privatrechts
§ 16 Relativität der Vertragsbegründungsfreiheit
§ 17 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Institution des Vertrages: Die actio ad contrahendum
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Privatautonomie und Kontrahierungszwang
 3161472160, 9783161579103, 9783161472169

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JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 40

Jan Busche

Privatautonomie und Kontrahierungszwang

Mohr Siebeck

Jan Busche, geboren 1961; 1986-91 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 1989 Promotion, 1991-94 Wissenschaftlicher Assistent in Kiel; 1994-97 wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin; 1998 Habilitation.

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Busche, Jan: Privatautonomie und Kontrahierungszwang / Jan Busche. - Tübingen : Mohr Siebeck, 1999 (Jus privatum ; Bd. 40) ISBN 3-16-147216-0

978-3-16-157910-3 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019

© 1999 J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Pfäffingen aus der Times-Antiqua belichtet, von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Niefern gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden. ISSN 0940-9610

Vorwort Die vorliegende Studie ist vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin im Sommersemester 1998 als Habilitationsschrift angenommen worden. Sie ist während meiner Assistentenzeit am Institut für deutsches und europäisches Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Energierecht der Freien Universität Berlin sowie zuvor am Institut für Wirtschafts- und Steuerrecht der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel entstanden. Nach Abschluß der Arbeit ergangene Rechtsprechung sowie neueres Schrifttum konnten für die Drucklegung noch bis Ende 1998 berücksichtigt werden. Das unermüdliche Schaffen des Gesetzgebers, der sich mit der am 1.1.1999 in Kraft getretenen Sechsten GWB-Novelle und dem seit dem 29.4.1998 geltenden neuen Energiewirtschaftsrecht zentralen Bereichen dieser Untersuchung angenommen hat, machte es zudem erforderlich, die Arbeit für die Drucklegung an die aktuelle Gesetzeslage anzupassen. Einschlägige Vorschriften werden daher ausschließlich nach der neuen Paragraphenfolge zitiert. Zum besseren Verständnis sind die Paragraphenbezeichnungen früherer, sachlich übereinstimmender Regelungen zumeist am Beginn einzelner Untersuchungsabschnitte ergänzend aufgeführt, da sich die Rechtsprechungs- und Schrifttumsnachweise regelmäßig noch auf die alte Gesetzeslage und Paragraphenfolge beziehen. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist eine Standortbestimmung des Kontrahierungszwangs im System des Privatrechts. Ausgehend von einer Inhaltsbestimmung der Vertragsfreiheit und ihrer Funktionsvoraussetzungen schlägt die Studie eine Neubewertung des allenthalben angenommenen Spannungsverhältnisses zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang vor. Die Anregung zu dieser Untersuchung hat mir mein verehrter akademischer Lehrer, Herr Professor Dr. Dr. Franz Jürgen Säcker, gegeben. Seine stete Gesprächsbereitschaft hat der Entwicklung der Arbeit überdies immer wieder wichtige Impulse verliehen. Dafür, nicht zuletzt aber für die jahrelange fachliche sowie persönliche Förderung, die stets angenehme Zusammenarbeit und den mir während der Assistentenzeit gewährten Freiraum möchte ich mich herzlich bedanken. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Professor Dr. Detlef Leenen für die Übernahme des Zweitgutachtens sowie Herrn Professor Dr. Helmut Lecheler für das freundliche Interesse am Fortgang der Untersuchung und seinen moralischen Zuspruch. Dankbar bin ich schließlich für den stets anregenden Gedankenaustausch mit den Kolleginnen und Kollegen an den Instituten in Kiel und Berlin. Freund-

VI

Vorwort

schaftlich verbunden bin ich deswegen insbesondere meinen ehemaligen Kollegen aus Kieler Zeiten, Herrn Dr. Hartmut Oetker, Universitätsprofessor in Jena, und Herrn Richter Volker Gillerke. Mit meiner Berliner Kollegin, Frau Privatdozentin Dr. Viola Schmid, habe ich einen energierechtlichen Diskurs begonnen, den wir bei einem neuen Projekt fortsetzen wollen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Institute, die mir insbesondere bei der Literaturbeschaffung hilfreich zur Hand gegangen sind. Besonders danken möchte ich der Bibliothekarin des Berliner Instituts, Frau Rosemarie Nikoloff, die sich stets fürsorglich um meine Literaturwünsche gekümmert hat, und Herrn Referendar Thomas Keul, der mir bei der Mühe des Korrekturlesens zur Seite stand. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Drucklegung dieser Schrift mit einem nennenswerten Betrag unterstützt. Auch dafür sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Gewidmet sei diese Studie all jenen aus dem Familien- und Freundeskreis, die ihr Entstehen geduldig verfolgt haben, insbesondere aber meinem Vater, der die Vollendung der Schrift nicht mehr miterleben konnte. Berlin, im August 1999

Jan Busche

Inhaltsübersicht Vorwort Inhaltsverzeichnis

V VII

Erster Teil: Privatautonomie und Kontrahierungszwang im System des Privatrechts

1

§ 1 Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes

2

§ 2 Theorie der Privatautonomie

13

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

46

§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit durch Kontrahierungszwang

110

Zweiter Teil: Der allgemeine Kontrahierungszwang

123

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Präponderanz vertraglicher Selbstbestimmung

124

§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Anspruchssystem des BGB

142

§ 7 Allgemeiner Kontrahierungszwang: Konturen eines privatrechtlichen Instituts

236

Dritter Teil: Der besondere Kontrahierungszwang im Deliktsrecht

277

§ 8 Ergänzende Vertragsbegründungskontrolle durch Deliktsrecht - dargestellt am Beispiel der Wirkung spezieller Gleichheitssätze

278

Vierter Teil: Der besondere Kontrahierungszwang in Spezialgesetzen

299

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung (§ 20 Abs. 1, 2 GWB)

301

VIII

Inhaltsübersicht

§ 1 0 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht (§ 10 EnWG)

405

§ 11 Abnahmepflicht nach dem Stromeinspeisungsgesetz (§ 2 StrEG)

489

§ 1 2 Besonderer Kontrahierungszwang in Spezialgesetzen: Strukturen und Funktionen

575

Fünfter Teil: Kontrahierungszwang im Lichte der (De-)Regulierung einzelner Wirtschaftsbereiche am Beispiel des Zugangs zu „Netzwerken"

603

§ 1 3 Energiewirtschaft

605

§ 1 4 Telekommunikation

619

§ 1 5 Bankdienstleistungen

631

Sechster Teil: Allgemeiner und besonderer Kontrahierungszwang im System des Privatrechts

643

§ 1 6 Relativität der Vertragsbegründungsfreiheit

644

§ 17 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Institution des Vertrages: Die actio ad contrahendum

651

Literaturverzeichnis

659

Sachregister

715

Inhalts verzeichni s Vorwort

V

Inhaltsübersicht

VII

Erster Teil

Privatautonomie und im System des 1

Kontrahierungszwang Privatrechts

§ 1 Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes

2

§ 2 Theorie der Privatautonomie

13

I. Privatautonomie

13

als Rechtsbegriff

II. Bedeutung der Privatautonomie für den der Rechtsordnung

Gestaltungsplan 20

1. Privatautonome und heteronome Rechtsordnungen 2. Gestaltungsplan der Privatrechtsordnung unter dem Grundgesetz a. Privatautonomie als Gegenstand der allgemeinen Handlungsfreiheit b. Objektive Dimension der verfassungsrechtlich verbürgten Handlungsfreiheit

25

3. Gestaltungsplan der Privatrechtsordnung und Wirtschaftsverfassung a. Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes b. Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union c. Staatsinterventionistische Wirtschaftsverfassungen

30 30 34 39

III. Zusammenfassung

20 22 22

44

X

Inhaltsverzeichnis

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie I. Historische Annäherung an ein Gestaltungselement der Privatrechtsordnung II. Reichweite der Vertragsfreiheit 1. Verankerung im Verfassungsrecht 2. Objektive Dimension der Grundrechte und Bipolarität der Vertragsrechtsbeziehung

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips im Vertragsrecht

46 46 53 53 59

63

1. Ausübungsformen der Vertragsfreiheit a. Konzeption des BGB b. Inhalt einzelner Ausübungsformen aa) Vertragsbegründungsfreiheit (Abschluß- und Kontrahentenwahlfreiheit) bb) Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit cc) Inhalts- und Gestaltungsfreiheit c. Interdependenz von Vertragsbegründungsund Vertragsgestaltungsfreiheit

63 63 67

2. Begriffliche Konkretisierung der Vertragsfreiheit 3. Funktionsmodelle vertraglicher Selbstbestimmung a. Formale Vertragsfreiheit aa) Leitgedanken bb) Kritik b. Materielle Vertragsfreiheit aa) Heteronome Vertragszielbestimmung (1) Theorie der objektiven Richtigkeitsgewähr (a) Leitgedanken (b) Kritik (2) Soziale Vertragstheorien (3) Ergebnis bb) Autonome Vertragszielbestimmung (1) Theorie der subjektiven Richtigkeitsgewähr (a) Leitgedanken (b) Kritik (2) Theorie der Vertragsparität (a) Leitgedanken (b) Kritik (c) Exkurs: Folgerungen für die Inhaltskontrolle . (3) Theorie des informationellen Gleichgewichts . . . . (a) Leitgedanken (b) Kritik (4) Theorie der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit

72 74 74 74 74 76 76 76 76 79 86 87 87 87 87 88 90 90 91 94 96 96 97

67 70 70 71

98

XI

Inhaltsverzeichnis

(a) Leitgedanken (b) Kritik (5) Theorie der Selbstherrlichkeit (a) Leitgedanken (b) Kritik cc) Ergebnis und eigener Standpunkt: Theorie der vertragsrechtsgebundenen Selbstbestimmung IV. Zusammenfassung

102 108

§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit durch Kontrahierungszwang I. Kontrahierungszwang als Untersuchungsgegenstand in Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten 1. Begriff und Funktion des Kontrahierungszwangs 2. Bindungen der Vertragsbegründungsfreiheit außerhalb des Kontrahierungszwangs a. Vorvertag und Option b. Sittlich-moralische Bindungen c. Wirtschaftliche Bindungen d. Gesetzliche Vertragsübernahme e. Ausübung eines einseitigen gesetzlichen Gestaltungsrechts f. Diktierter Vertrag g. Vertragsschluß kraft Gesetzes II. Terminologische

98 99 100 100 101

Vorklärung

110 110 110 113 113 113 113 114 115 116 116 117

III. Allgemeiner und besonderer im Verhältnis zueinander

Kontrahierungszwang 119

IV. Zusammenfassung

120

Zweiter

Der allgemeine

Teil

Kontrahierungszwang 123

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Präponderanz vertraglicher Selbstbestimmung I. Funktionssicherung der bei Vertragsverweigerung

124

Vertragsbegründungsfreiheit 124

XII

Inhaltsverzeichnis

II. Voraussetzung des allgemeinen Kontrahierungszwangs: Qualifizierte Vertragsverweigerung

127

1. Verfolgung rechtlich geschützter Interessen durch den Vertragsinteressenten a. Ausdrückliche gesetzliche Schranken b. Immanente Bindungen

127 127 129

2. Abhängigkeit des Vertragsinteressenten von einem Anbieter a. Abhängigkeit im allgemeinen b. Einzelne Formen der Abhängigkeit aa) Sachliche Abhängigkeit bb) Räumlich-zeitliche Abhängigkeit cc) Konditionale Abhängigkeit dd) Folgerungen

131 131 133 133 133 134 136

3. Vertragsgeneigtheit des Anbieters 4. Leistungsfähigkeit des Anbieters

136 139

III. Zusammenfassung § 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Anspruchssystem des BGB I. Kontrahierungszwang im System des Schadensersatzrechts 1. Kontrahierungszwang aufgrund der Verletzung vorvertraglicher Pflichten a. Voraussetzungen und Rechtsfolgen der c.i.c b. Kontrahierungszwang als Folge willkürlichen Abbruchs von Vertrags Verhandlungen c. Kritik 2. Kontrahierungszwang aufgrund eines Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 826 BGB) a. Deliktsrechtliches Korrelat der Rechtsgeschäftsordnung b. Ansätze zur Konkretisierung des Tatbestands der guten Sitten aa) Kritische Bestandsaufnahme bb) Folgerungen für den Untersuchungsgegenstand c. Sittenverstoß und allgemeiner Kontrahierungszwang: Einzelne Begründungsmuster aa) Lehre vom Monopolmißbrauch (1) Rechtsprechung

139

142 143 143 143 145 145 151 151 153 153 159 162 162 162

Inhaltsverzeichnis

(a) Reichsgericht (aa) Entscheidungspraxis (bb) Bewertung (b) Bundesgerichtshof (aa) Entscheidungspraxis (bb) Bewertung (c) Instanzgerichte (d) Fazit (2) Schrifttum (a) Meinungsstand (aa) Kontrahierungszwang aufgrund Konzessionserteilung (bb) Kontrahierungszwang aufgrund daseinsvorsorgender Betätigung (cc) Kontrahierungszwang aufgrund willkürlicher oder illoyaler Vertragsverweigerung (b) Fazit bb) Mißbräuchliche Wahrnehmung einer Versorgungsaufgabe (1) Meinungsstand im Schrifttum (a) Kontrahierungszwang für (sozial) wichtige Güter (b) Kontrahierungszwang ohne sachliche Einschränkung (2) Fazit cc) Eignung der Konkretisierungsansätze zur Sicherung der Vertragsbegründungsfreiheit (1) Maßstab (2) Voraussetzungen (a) Schutz rechtlich geschützter Interessen (b) Schutz des von fremdem Angebot abhängigen Vertragsinteressenten (c) Inpflichtnahme vertragsgeneigter Anbieter . . (d) Inpflichtnahme leistungsfähiger Anbieter . . . (3) Fazit 3. Kontrahierungszwang aufgrund der Verletzung eines absoluten Rechtes (§ 823 Abs. 1 BGB) oder eines Schutzgesetzes (§ 823 Abs. 2 BGB) a. Allgemeines Persönlichkeitsrecht aa) Grundlagen bb) Einzelfälle (1) Arbeitsverträge (2) Bewirtungsverträge cc) Kritik b. Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aa) Grundlagen

XIII 162 162 169 170 170 177 177 181 183 183 183 186 187 192 192 192 192 194 197 197 197 198 198 203 206 209 210

212 212 212 213 213 214 214 216 216

XIV

Inhaltsverzeichnis

bb) Vertragsverweigerung als Eingriff cc) Kritik c. Verletzung eines Schutzgesetzes i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB 4. Kontrahierungszwang als Folge der Verpflichtung zum Schadensersatz a. Anspruch auf Naturalrestitution b. Anspruch auf Naturalprästation II. Kontrahierungszwang zur Abwehr einer Beeinträchtigung der Vertragsbegründungsfreiheit 1. Inhalt des quasinegatorischen Abwehranspruchs 2. Dogmatische Einordnung des Abwehranspruchs a. Quasinegatorischer Unterlassungsanspruch analog §§ 12 S. 2, 862 Abs. 1 S. 2, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB b. Quasinegatorischer Beseitigungsanspruch analog §§ 12 S. 1, 862 Abs. 1 S. 1, 1004 Abs. 1 S. 1 BGB III. Zusammenfassung

217 218 219 220 220 224 225 225 227 227 230 235

§ 7 A l l g e m e i n e r Kontrahierungszwang: K o n t u r e n e i n e s p r i v a t r e c h t l i c h e n Instituts

236

I. Bedeutung für die Vertragsrechtsordnung

236

II. Schutz von Individualinteressen III. Rechtszwang Zielvertrages

zum Abschluß

eines

privatrechtlichen 240

IV. Anspruch auf Abschluß Zielvertrages V. Zustandekommen

239

eines

privatrechtlichen

des Zielvertrages

VI. Inhalt des Zielvertrages

241 245 247

1. Vorrang privatautonomer Aushandlung 2. Bestimmung des Anspruchsinhaltes bei Versagen der Privatautonomie a. Bedeutung der Interdependenz von Vertragsbegründungs- und Vertragsgestaltungsfreiheit b. Substitution privatautonomer Aushandlung durch einseitiges Leistungsbestimmungsrecht analog §§ 316, 315 Abs.l, 3 BGB aa) Grundlagen bb) Gesichtspunkte für die gerichtliche Leistungsbestimmung

247

3. Nebenpflichten

262

251 251 252 252 257

XV

Inhaltsverzeichnis

VII. Prozessuale Rechtsdurchsetzung

264

1. Vertragsschluß und Leistung: Möglichkeit der Klagverbindung 2. Klageart und Bestimmtheit des Klageantrages 3. Fazit

264 267 272

VIII. Zusammenfassung

273 Dritter Teil

Der besondere im

Kontrahierungszwang Deliktsrecht 277

§ 8 Ergänzende Vertragsbegründungskontrolle durch Deliktsrecht - dargestellt am Beispiel der Wirkung spezieller Gleichheitssätze I. Standort, Inhalt und Bedeutung Gleichheitssätze

278

spezieller 279

II. Alternativität der Regelungsmodelle: Influenzierende oder imperative Vertragsabschlußgebote

282

III. Schadensersatzrechtliche Kompensation der Diskriminierung und allgemeiner Kontrahierungszwang

. 287

IV. Funktion ergänzender Vertragsbegründungskontrolle 1. Ausgangsüberlegung 2. Ergänzende Vertragsbegründungskontrolle durch § 823 Abs. 2 BGB 3. Ergänzende Vertragsbegründungskontrolle durch § 826 BGB 4. Fazit V. Zusammenfassung

...

290 290 291 292 296 297

XVI

Inhaltsverzeichnis

Vierter Teil Der besondere in

Kontrahierungszwang Spezialgesetzen 299

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung (§20 Abs. 1, 2 GWB) I. Behinderungs- und Diskriminierungsverbot als Anwendungsfall eines kartellrechtlich fundierten Kontrahierungszwangs II. Vertragsverweigerung Absatzbeziehung

in der

301

302

vertikalen

1. Bedeutung von Absatzmittlungsverhältnissen 2. Absatzpolitische Motivation der Vertragsverweigerung a. Motivbündel b. Konfliktpotential bei einzelnen Aktionsparametern aa) Preisgestaltung bb) Service, Beratung und Geschäftsausstattung cc) Produktqualität dd) Werbung III. Vertragsverweigerung gegenüber Absatzmittlern im Lichte des Diskriminierungsverbots 1. Normstruktur und Normzweck a. Zweck der Verhaltenskorrektur: Institutionenschutz und Individualschutz b. Leitziel: Wettbewerbsschutz c. Konkretion: Wettbewerblicher Entfaltungsschutz 2. Normadressaten a. Erschließungsfunktion des Unternehmensbegriffs b. Begrenzung der Normwirkung auf Unternehmen mit herausgehobener Marktstellung aa) Marktbeherrschende Unternehmen (§ 20 Abs. 1 1. Alt. GWB) (1) Grundtatbestand (§ 19 Abs. 2 S. 1 GWB) (2) Oligopoltatbestand (§ 19 Abs. 2 S. 2 G W B ) . . . . (3) Marktbeherrschungsvermutung (§ 19 Abs. 3 GWB) bb) Unternehmensvereinigungen (§ 20 Abs. 1 2. Fall, Abs. 2 S. 1 GWB)

306 306 308 308 309 309 310 311 311 312 312 312 315 320 324 324 325 325 325 326 327 329

Inhaltsverzeichnis

cc) Preisbindende Unternehmen (§ 20 Abs. 1 3. Fall GWB) dd) Vertragsmächtige Unternehmen (§ 20 Abs. 2 S. 1 GWB) (1) Rechtspolitischer Hintergrund der Regelung . . . . (2) Abhängigkeit der Marktgegenseite als Maß für Vertragsmacht

XVII 330 332 332 333

3. Normbegünstigte 335 a. Tatbestand der Abhängigkeit 335 aa) Abhängigkeit von marktbeherrschenden Unternehmen 335 bb) Abhängigkeit von vertragsmächtigen Unternehmen 335 (1) Konkret-individuelle Betrachtung 335 (2) Fehlende Ausweichmöglichkeit 338 (3) Erscheinungsformen der Bezugsabhängigkeit 344 (a) Überblick 344 (b) Fallgruppen 344 (aa) Sortimentsbedingte Abhängigkeit 344 (bb) Unternehmensbedingte Abhängigkeit. . 346 (cc) Knappheitsbedingte Abhängigkeit 348 (4) Tatbestandseinschränkung auf kleine und mittlere Unternehmen 349 4. Gleichartigen Unternehmen üblicherweise zugänglicher Geschäftsverkehr a. Funktion der Tatbestandseinschränkung b. Einzelheiten aa) Gleichartige Unternehmen bb) Üblicherweise zugänglicher Geschäftsverkehr c. Exkurs: Üblicherweise zugänglicher Geschäftsverkehr im Lichte der US-amerikanischen „essential facilities"-Doktrin aa) Anwendungsbeispiele bb) Leitgedanken und Kritik der Implementierung in das europäische und deutsche Kartellrecht 5. Diskriminierung: Synonym für wettbewerbswidriges Verhalten a. Prinzip der Interessenabwägung b. Interessenträger c. Abwägungsverfahren aa) Erste Stufe: Ermittlung der abwägungsfähigen Interessen bb) Zweite Stufe: Wettbewerbskonformität der Interessenverfolgung (normative Abwägung)

352 352 353 353 357 363 363 365 370 370 370 372 372 375

XVIII

Inhaltsverzeichnis

cc) Dritte Stufe: Überprüfung des normativen Abwägungsergebnisses anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit 383 dd) Zusammenfassung: Abwägungsverfahren im Überblick 384 d. Interessenabwägung anhand exemplarischer Einzelfälle . 385 e. Modifizierung des Abwägungsmaßstabs bei Kontraierungszwang? 390 IV. Kontrahierungszwang als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot 1. Diskriminierungsverbot als Schutzgesetz i.S.v. § 33 S. 1 GWB 2. Rechtsdogmatische Herleitung des Kontrahierungszwangs 3. Rechtsfolge: Wettbewerbliche Gleichbehandlung gleichartiger Unternehmen V. Zusammenfassung

392 392 396 399 402

§ 1 0 Anschluß- und Versorgungspflicht i m Energierecht ( § 1 0 EnWG) /. Bedeutung

405 der Anschluß-und

Versorgungspflicht

II. Entstehungsgeschichte III. Regelungszweck

aus historischer

406 409

und heutiger Sicht

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht 1. Normadressaten a. Energieversorgungsunternehmen i.S.v. § 2 Abs. 3 EnWG b. Begrenzung auf Gebietsversorgungsunternehmen aa) Regelungskontext bb) Begriffskonkretisierung (1) Allgemeine Versorgung (a) Fremdversorgung (b) Geschäftseröffnung durch Versorgungsbereitschaft (2) Versorgungsgebiet (a) Abgrenzungskriterien (b) Tarifeinheit versus Preisgünstigkeit der Versorgung (c) Gebietsaufteilung zur Tarifpreisdifferenzierung als Folge des Wettbewerbs um Versorgungsgebiete

410 414 414 414 416 416 417 417 417 418 420 420 423 426

Inhaltsverzeichnis

XIX

(d) Versorgungszuständigkeit in der Interimsphase (aa) Adressat der Anschluß- und Versorgungspflicht (bb) Exkurs: Wegenutzungsentgelt in der Interimsphase (3) Marktstellung c. Durchführung einer Tarifversorgung aa) Bedeutung bb) Tarifformen cc) Tarifbekanntmachung d. Fazit 2. Normbegünstigte a. Letztverbrauchende Tarifkunden aa) Versorgungsbedürfnis bb) Einzelfälle b. Sonderabnehmer aa) Meinungsstand bb) Versorgung in der Insolvenz V. Anschluß- und Versorgung von als Folge der Gebietsversorgung

430 432 436 436 439 441 442 443 444 444 444 445 447 447 450

Letztverbrauchern

1. Verpflichtung zur möglichst sicheren und preisgünstigen Versorgung: Ein Zielkonflikt 2. Anspruch auf Anschluß und Versorgung: Gemeinwohlgeleitete Selbstregulierung 3. Inhalt des Anspruchs 4. Wirtschaftliche Unzumutbarkeit der Verpflichtung a. Konkretisierung der Leistungsverpflichtung durch § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG b. Steuerung der wirtschaftlichen Risikoverteilung c. Fallgruppen aa) Person des Abnehmers bb) Eigenart der Abnahmeverhältnisse d. Auswirkungen: Ausscheiden aus der Tarifversorgung.... VI. Kontrahierungszwang und Versorgung

430

453 453 454 456 459 459 460 462 462 469 469

zum Zwecke von Anschluß 473

1. Leistungspflicht auf vertraglicher Grundlage 2. Formen der Vertragsbegründung a. Vertragsbegründung zur Energieentnahme b. Vertragsbegründung bei Energieentnahme

473 474 474 477

3. Rechtsnatur des EnergielieferungsVertrages

479

XX

Inhaltsverzeichnis

VII. Verfassungsmäßigkeit Versorgungspflicht

der Anschluß-

und 482

VIII. Zusammenfassung

485

§ 1 1 Abnahmepflicht nach d e m Stromeinspeisungsgesetz (§ 2 StrEG)

489

I. Privatrechtsgestaltung

in der Verfassungskritik

II. Regelungszweck

489 491

III. Grundlagen der Abnahmeverpflichtung 1. Normadressaten 2. Normbegünstigte a. Grundsatz: Fremdgebietserzeugung b. Ausnahmen aa) „Staatliche" Erzeugungsanlagen bb) Eigenverwertung 3. Gegenstand der Abnahmepflicht a. Grundsatz: Energieträgerprivileg b. Ausnahme: Großanlagenvorbehalt c. Anwendbarkeit auf andere Energiequellen

495 495 497 497 501 501 502 507 507 508 509

IV. Kontrahierungszwang der Abnahmepflicht

510

als

Rechtsfolge

1. Rechtsdogmatische Begründung 2. Umfang und Inhalt der Abnahmepflicht a. Netzzugangsmodalitäten b. Netzkapazität c. Erzeugungsqualität und Vergütungshöhe V. Wirtschaftliche

Unzumutbarkeit

der Abnahmepflicht....

510 512 512 515 518 519

1. Regelungszweck 2. Grenzen der Abnahmepflicht a. Unbillige Härte (§ 4 Abs. 2, 3 StrEG) aa) Erfordernis spürbarer Preisanhebung bb) Preisanhebungen im Kontext des Energiewirtschaftsrechts (1) Sonderabnehmerbereich (2) Tarifkundenbereich cc) Spürbarkeit der Preiserhöhung b. Nichteinhaltung der Verpflichtungen aus der BTOElt....

519 520 520 520

3. Rechtsfolge

533

VI. Verfassungsmäßigkeit

der Abnahmepflicht

521 521 523 527 530 538

Inhaltsverzeichnis

1. Beschränkung der Vertragsfreiheit als notwendige Folge des Kontrahierungszwangs 2. Stromeinspeisungsvergütung als Sonderabgabe 3. Stromeinspeisungsgesetz und Grundrechte a. Grundrechtsbetroffenheit der Gebietsversorgungsunternehmen aa) Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) (1) Eingriff in den Schutzbereich (2) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs (a) Verfolgung eines verfassungsrechtlich legitimen Ziels (b) Geeignetheit der Maßnahme (c) Erforderlichkeit der Maßnahme (aa) Finanzielle Förderung (bb) Absatzsicherung (d) Angemessenheit der Maßnahme (3) Fazit bb) Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) cc) Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 G G ) . . . dd) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ee) Fazit b. Grundrechtsbetroffenheit der Letztverbraucher aa) Mittelbare Grundrechtsbetroffenheit bb) Freiheitsrechte auf wirtschaftlichem Gebiet (Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) cc) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) . . . . dd) Fazit

VII. Ordnungspolitische Bedenken VIII. Konkurrenzverhältnis IX. Zusammenfassung § 1 2 Besonderer Kontrahierungszwang in Spezialgesetzen: Strukturen und Funktionen I. Schutz von Allgemeininteressen 1. Präponderanz des Allgemeininteresses bei „besonderem" Kontrahierungszwang 2. Erscheinungsformen des Kontrahierungszwangs in Spezialgesetzen: Legitimierende Sachgründe a. Leistungssichernder Kontrahierungszwang b. Wirtschaftspolitischer Kontrahierungszwang c. Multifunktionaler Kontrahierungszwang

II. Bedeutung für die Vertragsrechtsordnung

XXI

538 539 547 547 547 547 549 549 550 551 551 553 555 561 561 563 564 566 566 566 567 567 568

568 570 571

575 575 575 578 578 579 580

580

XXII

Inhaltsverzeichnis

III. Rechtszwang zum Abschluß eines Zielvertrages und zur Leistung

privatrechtlichen 583

IV. Anspruch auf Abschluß des Zielvertrages V. Zustandekommen

584

und Inhalt des Zielvertrages

585

1. Vertragsperfektionierung 2. Gegenleistung für die unter Kontrahierungszwang stehende Leistung VI. Rechtsbedingungen

des Kontrahierungszwangs

585 589 591

1. Zumutbarkeit des Vertragschlusses 2. Leistungsfähigkeit des Anbieters

591 593

VII. Prozessuale Rechtsdurchsetzung

594

1. Klagziel 2. Klageart und Bestimmtheit des Klageantrages

594 596

VIII. Verhältnis zum allgemeinen Kontrahierungszwang IX. Gesetzlicher Eingriff in die Vertragsbegründungsfreiheit und Grundrechtsschutz X. Zusammenfassung

597 599 600

Fünfter Teil

Kontrahierungszwang im Lichte der (De-)Regulierung einzelner Wirtschaftsbereiche am Beispiel des Zugangs zu „Netzwerken" 603 §13

Energiewirtschaft

605

I. Deregulierungsüberlegungen: Marktöffnung Zugang zu vorhandenen Leitungsnetzen II. Kontrahierungszwang von Energie

zum Zwecke der

durch 606

Durchleitung

1. Spezialgesetzlicher Netzzugang a. Geschäftseröffnung und Interessenabwägung b. Bestimmung des Durchleitungsentgeltes aa) Grundsatz bb) Kalkulationsmodelle

609 609 609 612 612 614

XXIII

Inhaltsverzeichnis

(1) Preisbestimmung nach den Kosten einer fiktiven Stichleitung (2) Preisbestimmung auf der Basis anteiliger Systemkosten

614 615

2. Grundsätze des allgemeinen Kontrahierungszwangs und besonderer deliktsrechtlicher Kontrahierungszwang . 618

§ 1 4 Telekommunikation

619

I. Deregulierungsschritte II. (De-)Regulierung des Ordnungsrahmens

619 wettbewerblichen 620

III. Wettbewerbsinitiierung durch Verpflichtung zur Zusammenschaltung mit Konkurrenten 1. Spezialgesetzlicher Kontrahierungszwang des TKG 2. Netzzugangsbedingungen IV. Netzzugang bei Marktbeherrschung Abnehmerstufe

625

und Ausblick

631 des öffentlichen Bankensektors

II. Praxis des Netzzugangs für Girodienstleistungen III. Reichweite des spezialgesetzlichen Kontrahierungszwangs IV. Allgemeiner Kontrahierungszwang leistungen 1. Vertragsziel 2. Voraussetzungen IV. Zusammenfassung

625 629 628

§ 1 5 Bankdienstleistungen I. Umstrukturierung

622 624

auf der

1. Spezialgesetzlicher Kontrahierungszwang des TKG 2. Kontrahierungszwang außerhalb des TKG V. Zusammenfassung

622

und Ausblick

632 633 634

für

Girodienst636 636 637 639

XXIV

Inhaltsverzeichnis

Sechster Teil

Allgemeiner und besonderer Kontrahierungszwang im System des Privatrechts 643 § 1 6 Relativität der Vertragsbegründungsfreiheit

644

§17 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Institution des Vertrages: Die actio ad contrahendum

651

Literaturverzeichnis

659

Sachregister

715

Erster

Teil

Privatautonomie und Kontrahierungszwang im System des Privatrechts

§ 1 Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes Eine Studie mit dem Titel „Privatautonomie und Kontrahierungszwang" behandelt auf den ersten Blick Gegensätzliches. Der Zwang zum Abschluß eines Vertrages muß bei wörtlichem Verständnis als genaues Gegenteil jener aus der Privatautonomie abgeleiteten Vertragsfreiheit begriffen werden, deren Aufgabe es sein soll, rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung zu ermöglichen. In Übereinstimmung damit werden Formen des Kontrahierungszwangs zumeist als systemfremde, nur im Ausnahmefall sachlich hinzunehmende Begrenzungen der Privatautonomie angesehen. Dem gilt es auf den Grund zu gehen. Das BGB als zentrale Kodifikation des deutschen Privatrechts, das schon aus diesem Grunde zunächst zu konsultieren ist, benennt den Grundsatz der Vertragsfreiheit nicht ausdrücklich, hat ihn jedoch an prominenter Stelle zu Beginn des ersten und zweiten Abschnitts des Zweiten Buches in den Geist der §§241 und 305 aufgenommen. 1 Diese Vorschriften des allgemeinen Vertragsrechts beschreiben einen rechtlichen Freiraum zur Eingehung gegenseitiger Verpflichtungen, ohne damit zum Vertragsschluß zu verpflichten.2 Eine Vorschrift, die einen Kontrahierungszwang unter bestimmten Voraussetzungen explizit anordnet, existiert nicht. Und doch wird der „Alltag des Vertragsrechts" entgegen dieser „Regel" außerhalb des allgemeinen Vertragsrechts von Sachverhalten begleitet, die gemeinhin dem Kontrahierungszwang, also der Verpflichtung zur Eingehung einer Verbindlichkeit, zugerechnet werden. Während also im allgemeinen Vertragsrecht die Fahne der Vertragsfreiheit noch gehißt wird,3 scheint sie vor ihren Toren längst eingeholt worden zu sein. Im Vertragsalltag begegnet dem einzelnen der Kontrahierungszwang nicht nur beim Abschluß von Kfz-Haftpflichtversicherungsverträgen (§ 5 PflVG), sondern ebenso bei der Beförderung von Personen im öffentlichen Personenverkehr (§§ 22, 47 PersBefG) und auf den Eisenbahnen des öffentlichen Verkehrs (§10 AEG) wie auch bei der Lieferung von Energie an Tarifabnehmer (§ 10 EnWG), um nur einige spezialgesetzlich geregelte Fälle zu nennen, mit denen der private Nachfrager täglich in Berührung kommt. Während es sich dabei um tradierte Anwendungsfälle des Kontrahierungszwangs handelt, deren sachliche Berechtigung kaum noch weiter hinterfragt wird, belebt sich der 1 2 3

Vgl. H. P. Westermann, Vertragsfreiheit, S.26. Vgl. Burckhardt, Methode, S. 190 (zu Art. 13 Schweiz. ZGB). So die treffende Beschreibung von Kötz, Europäisches Vertragsrecht I, S. 16.

§ 1 Beschreibung des

Untersuchungsgegenstandes

3

zumeist rechtspolitisch gefärbte Streit um den Kontrahierungszwang als Rechtsfigur immer dann, wenn der Kontrahierungszwang in neue Anwendungsfelder vorstößt: Hinzuweisen ist nur auf die bisweilen heftig geführte Diskussion um die Verpflichtung von Energieversorgungsunternehmen, Strom aus regenerativen Erzeugungsquellen in ihr Netz aufzunehmen (§ 2 StrEG).4 Das Stromeinspeisungsgesetz mit seinem marktdirigistischen Ansatz bricht sich in diesem Punkt am Selbstverständnis der Deregulierungsbemühungen, die mittlerweile auch den Sektor der Energiewirtschaft bestimmen und deren Anliegen ein staatlicherseits nicht bevormundeter Wirtschaftsverkehr ist.5 Das genaue Gegenteil davon wird durch eine gesetzliche Verpflichtung zum Vertragsschluß bewirkt, die den an der Austauschbeziehung beteiligten Parteien das vertragliche Selbstbestimmungsrecht weitgehend entzieht.6 Dennoch hat der Kontrahierungszwang gerade in jüngeren Deregulierungsgesetzen Einzug gehalten, wie sich am Beispiel der Regelungen in §§ 10, 14 Abs. 1 AEG und §§ 33, 35 f. TKG zeigt. Auch hier stellt sich die Frage, ob es sich um systemfremde oder sachlich zu rechtfertigende Begrenzungen der Vertragsfreiheit handelt. Wer einem Kontrahierungszwang unterliegt, dem ist nicht nur die Freiheit der Abstandnahme vom Vertragsschluß mit einem bestimmten Partner genommen, sondern weitgehend auch die inhaltliche Gestaltungsfreiheit dieser Verträge, soweit sie, wie in den spezialgesetzlich statuierten Fällen, durch besondere Vertrags- oder Tarifordnungen geregelt sind. Die fehlende Möglichkeit individueller Vertragsgestaltung seitens des Verpflichteten wird nach verbreiteter Anschauung als notwendige Folge des Kontrahierungszwangs angesehen, da dessen Verpflichtungswirkung anderenfalls durch das Fordern unangemessener Vertragsbedingungen wieder aufgehoben und damit umgangen werden könnte.7 Nach dieser Anschauung besteht die Funktion des Kontrahierungszwangs nicht lediglich darin, den Vorgang des technischen Vertragsschlusses durch Austausch sich entsprechender Willenserklärungen zu bewirken, sondern auch darin, die Parteien zu einem ganz bestimmten Leistungsaustausch hinzuführen. Damit scheint der Kontrahierungszwang im Sinne der eingangs getroffenen Gegenüberstellung sowohl der Vorstellung vertraglicher Abschlußfreiheit als auch der Vorstellung vertraglicher Gestaltungsfreiheit grundlegend zu widersprechen. Legitimierende Sachgründe für seine Anordnung ergeben sich offenbar allein aus dem Bedürfnis des Wirtschaftsverkehrs an einer güterbezogenen Sicherung von Vertragsgelegenheiten, nicht jedoch aus den Wertungen des Vertragsrechts selbst. Dafür spricht, daß 4

Dazu unten §11 III. Dazu unten § 13. 6 Allgemein dazu Kilian, AcP 180 (1980), S.47, 53 f.; Vykydal, JA 1996, 81, 82ff.; aus dem älteren Schrifttum Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil 1/2, § 162IV 2 (S. 999 f.). 7 Vgl. dazu nur Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 5; Kilian, AcP 180 (1980), 47, 77; Nipperdey, Kontrahierungszwang, S.31; Soergel-Wolf, Vor §145, Rn. 102; Staudinger-Bork, Vorbem zu §§ 145 ff., Rn. 15. 5

4

§ 1 Beschreibung des

Untersuchungsgegenstandes

der Kontrahierungszwang sich nicht mit der partiellen Korrektur eines von den Parteien autonom vereinbarten Vertragsinhalts begnügt, wie sie Folge der im Privatrecht verbreiteten Inhaltskontrolle ist, sondern mit dem vorgeschalteten Diktat des Vertragsschlusses die Vertragsfreiheit überhaupt in Frage zu stellen scheint. Das erklärt auch, warum eine vom Gedanken der Privatautonomie geprägte Zivilrechtsdogmatik im Umgang mit dem Kontrahierungszwang durchweg Probleme hat.8 Während es sich bei der Vertragsinhaltskontrolle um ein weithin anerkanntes Kontrollinstrumentarium handelt, bei dessen Anwendung zuweilen wenig Scheu zu verspüren ist, werden Erscheinungsformen der Vertragsbegründungskontrolle allgemein reservierter betrachtet.9 Dennoch ist anerkannt, daß sich eine gesetzliche Verpflichtung zum Vertragsschluß nicht nur aus den bereits bezeichneten spezialgesetzlichen Regelungen,10 sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch aufgrund eines „allgemeinen" Kontrahierungszwangs ergeben kann, dessen gesetzliche Grundlage - wegen des Fehlens einer vertragsrechtlichen Regelung überwiegend in der deliktsrechtlichen Vorschrift des § 826 BGB gesehen wird.11 Im Bereich des Wirtschaftsrechts ist der Kontrahierungszwang zudem als mögliche Rechtsfolge des allgemeinen Behinderungs- und Diskriminierungsverbots aus § 20 Abs. 1, 2 GWB (= § 26 Abs. 2 GWB aF.) anerkannt.12 Schon diese wenigen Hinweise auf die Erscheinungsformen und Wirkungen des Kontrahierungszwangs zeigen, daß diese Rechtsfigur im Privatrecht keineswegs ein Schattendasein führt, wie ein erster Blick auf §§241, 305 BGB vermuten läßt, sondern weite Bereiche des Vertragsrechts überstrahlt. Trotz dieser Allgegenwart wäre es freilich verfrüht, den Kontrahierungszwang deswegen bereits als tragende Säule der Vertragsrechtsordnung zu bezeichnen. Dem steht schon der angedeutete und einstweilen nicht auflösbare Widerspruch zum Grundsatz der Vertragsfreiheit entgegen. Allerdings wird die Annahme eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang durch eine weitere Beobachtung zumindest in Frage gestellt: Die vom Kontrahierungszwang ausgehenden Bindungen der Vertragsabschluß- und -gestaltungsfreiheit sind nämlich auch in anderem Zusammenhang nicht unbekannt und kommen zumindest der Wirkung nach dem Kontrahierungszwang nahe. Sinnfälliges Beispiel sind zum einen Normen wie §§ 571, 613 a BGB, nach denen der Vermieter bzw. 8

Dazu Raiser, in: summum ius, summa iniuria, S. 145, 162. Dazu auch Otto, S. 6. 10 Als solche wurden genannt §§ 10, 14 Abs. 1 AEG; § 10 EnWG; §5 PflVG; §§22, 47 PBefG; § 2 StrEG; §§33, 35 f. TKG; weitere spezialgesetzlich geregelte Anwendungsfälle des Kontrahierungszwangs finden sich in §§48 ff. BRAO; § 6 EnWG; § 21 Abs. 2 S. 2 LuftVG; §§ 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 4, 2 Abs. 1 S. 1 Milch- u. FettG; §§ 1 Abs. 2 S. 2, 23 Abs. 1, 110 Abs. 1 PflegeVG (BGBl. I 1994, 1014); § 1 PflVG; § 19 Abs. 1, 2 bzw. §97 Abs. 1 TKG iVm. § 9 Abs. 1 TKV; §61 UrhG; §26 VerlagsG; §§6Abs. 1, 11 Abs. 1 WahrnG. 11 Dazu unten § 6 I 2. 12 Dazu unten § 9 II; weitere Anknüpfungspunkte für einen kartellrechtlichen Kontrahierungszwang ergeben sich aus §§ 19, 20 Abs. 6 (iVm. § 33 S. 1 GWB). 9

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Betriebsübernehmer im Wege der Vertragsübernahme in ein Schuldverhältnis mit Personen gezwungen wird, mit denen er freiwillig unter Umständen keinen Vertrag geschlossen hätte. Zum anderen werden etwa nach der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft bzw. vom „faktischen" Arbeitsverhältnis die Parteien (für die Vergangenheit) an einem Schuldverhältnis festgehalten, obwohl der zugrundeliegende Vertrag auf fehlerhafter Grundlage beruht und deshalb vernichtbar ist. Eine Bindung der Vertragsabschlußfreiheit ist schließlich auch mit der Anwendung der Grundsätze über das Fehlen oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage verbunden, da die Parteien den Vertrag in Kenntnis der Umstände, die für eine (vorrangige) Vertragsanpassung maßgebend sind, möglicherweise gar nicht geschlossen hätten. Der Vertrauensschutzgedanke führt hier zu einer gesetzlichen Beschränkung der rechtlichen Selbstbestimmung. Die genannten Beispiele reflektieren im Grunde nur, daß die Willensherrschaft als Grundvoraussetzung jeder Form rechtlicher Selbstbestimmung im Sinne der Formel Friedrich Karl v. Savignys13 vom Willen als dem einzig Wichtigen und Wirksamen im geltenden Recht nicht vollkommen verwirklicht ist.14 Der empirisch feststellbare, reale (subjektive) Wille des einzelnen ist zwar, wie sich aus § 133 BGB ergibt, Ausgangspunkt und Wertungsgrundlage vertraglicher Selbstbestimmung; die Auslegung der Vertragserklärung erfolgt jedoch, wie § 157 BGB zeigt, nach ihrer objektiv-normativen Bedeutung für einen in der konkreten Situation des Erklärungsempfängers befindlichen „reasonable man" und nicht nach der sprecherbezogenen Bedeutung,15 da es nicht um einseitige Interessenverwirklichung, sondern um Interessenverwirklichung im bi- oder mehrpolaren Verhältnis geht.16 Damit werden „Momente der individuellen Selbstgestaltung wie der auferlegten Verantwortung für den zurechenbar gesetzten objektiven Willenserklärungstatbestand zusammengebracht."17 In der objektiv-normativen Korrektur des wirklichen Willens ist bereits angelegt, daß eine vom Standpunkt des Erklärenden aus vollkommene vertragliche Abschlußfreiheit de lege lata nicht besteht. Das illustrieren die bekannten Parkplatzfälle,18 in denen der Nutzer bei Einfahrt in die Parkzone erklärt, er werde für die in Anspruch genommene Leistung kein Entgelt entrichten. Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH,19 die im Schrifttum weitgehend gebilligt wird, ist die protestatio facto contraria unbeachtlich; der Nutzer muß danach die objektive Erklärungsbedeutung seines Verhaltens gegen sich gel13 Savigny, System III, S.258: „Denn eigentlich muß der Wille als das einzig Wichtige und Wirksame gedacht werden, und nur, weil er ein inneres und unsichtbares Ereignis ist, bedürfen wir eines Zeichens, woran er erkannt werden könnte." 14 Vgl. dazu nur Bärmann, S. 88 ff. 15 Säcker, MünchKomm BGB, Einl., Rn. 141; ders., JurA 1971, 509, 514ff.; vgl. auch Singer, S. 44 ff. 16 Vgl. nur Mayer-Maly, MünchKomm. BGB, § 157, Rn.6. 17 Säcker, lurA 1971, 509, 519. 18 Vgl. dazu nur Palandt-Heinrichs, Einf v § 145, Rn. 25 ff. 19 BGHZ 95, 393, 399 - Maklerprovision; BGH NJW 1965, 387, 388 - Omnibusbahnhof.

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§ 1 Beschreibung des

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ten lassen, so daß ein Vertrag mit dem Parkplatzbetreiber zustande kommt, 20 obwohl der Verwahrende gerade das nicht gegen sich gelten lassen will.21 Noch weitergehend ist die Abkehr vom Willensprinzip im Bereich der richterlichen ergänzenden Vertragsauslegung.22 „Ungewollte" vertragliche Bindungen können hier eintreten, da die auf Gesetz beruhende ergänzende Vertragsauslegung ein Instrument zur Entstörung unvollkommener Verträge ist, mit dem diese heteronom zu Ende gedacht werden. 23 Die ergänzende Vertragsauslegung trägt daher zuweilen den Charakter einer Willensfiktion, wenngleich sie eigentlich darauf angelegt ist oder darauf angelegt sein sollte, die Vertragslücke im Geiste der Parteien zu schließen. Hält man sich die angeführten Bindungen der Vertragsabschlußfreiheit vor Augen, so wird deutlich, daß die Rechtsfigur des Kontrahierungszwangs im Hinblick darauf nicht außerhalb der geltenden Vertragsrechtsordnung steht. Die nachvollziehbaren - Bedenken gegen ihre systematische Integration in das Vertragsrecht scheinen sich denn auch weniger auf die Tatsache der Bindung der Vertragsabschlußfreiheit zu beziehen, als vielmehr auf die „Schneidigkeit", mit der die Parteien - entgegen aller Vorstellung von Selbstbestimmung - in einen Vertrag gezwungen werden. Die nach wie vor unsichere Konturierung des Kontrahierungszwangs als Rechtsfigur weckt zudem die Befürchtung, in ihm sei der Sprengstoff enthalten, der das Gebäude der Privatautonomie zum Einsturz bringt. Der Kontrahierungszwang hat jedoch nicht nur Wirkungsparallelen zu anderen Formen der Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit, mit denen den Beteiligten die Entscheidung über das Ob (und Wie) des Vertragsschlusses von der Rechtsordnung abgenommen wird; es gibt trotz unterschiedlicher systematischer Standorte auch Parallelen zum Instrumentarium der Inhaltskontrolle. Das gilt nicht nur für die bereits angesprochenen Rückwirkungen des Kontrahierungszwangs auf die Vertragsgestaltungsfreiheit, sondern auch für den rechtstatsächlichen Ausgangsbefund, der zur Statuierung des Kontrahierungszwangs bzw. der Inhaltskontrolle führt. Offenbar sucht nämlich der Gesetzgeber wie auch der Normanwender sowohl mit dem Mittel des Kontrahierungszwangs als auch mit dem Mittel der vertraglichen Inhaltskontrolle durch Eingriffe in die Vertragsfreiheit allenthalben erkennbare Defizite im Handeln der Privatrechtssubjekte zu regulieren. Ausgangspunkt und Anlaß der Eingriffe ist dabei zumeist die rechtstatsächliche Beobachtung, daß das wirtschaftliche und zuweilen auch das intellektuelle 20 Anders noch BGHZ 21, 319, 334f. - Parkplatz; 23, 175, 177f. - Stromversorgung; 23, 249,261 - Hoferbfolge, wo in Anlehnung an Haupts Lehre vom faktischen Vertrags Verhältnis ein Vertragsschluß ohne Willenserklärung angenommen wurde. 21 Dazu Hart, KritV 1986, 211, 223 f. 22 Zu diesen Fällen vgl. etwa BGHZ 16, 71 ff. - Praxistausch; RGZ 117, 176 ff. - Wettbewerbsverbot. 23 Vgl. dazu nur Esser/Schmidt, Schuldrecht AT 1/1, § 10 I 2; Hart, KritV 1986, 211, 225 ff.; Oechsler, S. 235 ff.; Singer, S. 50ff.

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Verhandlungsgleichgewicht zwischen den Vertragschließenden typischerweise gestört ist.24 So wird die im Bereich staatlicher Eingriffe in den Privatrechtsverkehr anzusiedelnde Verbraucherschutzgesetzgebung,25 die sich im Schuldvertragsrecht auch des Instrumentariums der Inhaltskontrolle bedient, als Antwort auf die fehlende Konsumenten-Souveränität und das dadurch hervorgerufene Verhandlungsungleichgewicht zwischen Anbietern und Nachfragern verstanden.26 Nicht anders verhält es sich bei der Vertragsbegründungskontrolle auf dem Gebiet des Energie Versorgungsrechts: Die eine allgemeine Anschluß- und Versorgungspflicht und damit einen Kontrahierungszwang statuierende Vorschrift des § 10 Abs. 1 EnWG ist in einem - immer noch - durch Auswahldefizite geprägten wirtschaftlichen Umfeld angesiedelt, in dem sich der um einen Vertragsschluß nachsuchende Verbraucher vertragsmächtigen Anbietern gegenübersieht. Die angedeuteten Regelungs- und Wirkungsparallelen von Vertragsbegründungs- und Vertragsinhaltskontrolle lassen einen vertragsrechtlichen Paradigmenwechsel im Sinne einer Abkehr vom Prinzip der Selbstbestimmung hin zu einer Indienstnahme des Vertrages für Zwecke einer gleichmäßigen Güterverteilung, von der formalen Freiheitsethik zur materialen Verantwortungsethik,27 vermuten. Wer das vom Pathos der Selbstbestimmung getragene Vertragsleitbild der Väter des BGB vor Augen hat, dem muß es so erscheinen, daß Inhaltskontrolle und Abschlußzwang dem im BGB verwurzelten Gedanken der Vertragsfreiheit antinomisch gegenüberstehen und auf grundlegend anderen rechtlichen Ordnungsprinzipien beruhen.28 Dieser Eindruck verstärkt sich signifikant durch die Kodifikationsentwicklung, da die dem Vertragsrecht des BGB nach dessen Inkrafttreten zu Teil gewordenen Korrekturen durchweg außerhalb des BGB verortet wurden, sieht man einmal von kodifikationsinternen Lösungen wie im Mietund Reisevertragsrecht ab. Angesichts einer Vielzahl versplitterter Einzelregelungen fällt es schwer, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, es gebe ein einheitliches, vom BGB dominiertes und im wörtlichen Sinne der Vertragsfreiheit verpflichtetes „allgemeines" Privatrecht. Es zeigt sich vielmehr das Bild eines Privatrechts, das zu Gunsten einzelner 24

Ebenso Hart, KritV 1986, 211, 212, 239. Zum Verbraucherschutz als Rechtsproblem vgl. die gleichnamige Monographie von Joerges, S. 11 ff.; fernst Dauner-Lieb, S. 13 ff. 26 Vgl. Ramm, in: Gerechtigkeit, S.39ff.; speziell zum Recht der AGB Pflug, S.28f.; Lieb, AcP 183 (1983), 327, 360. 27 Vgl. zu dieser Fragestellung Reuter, AcP 189 (1989), 199 ff. 28 So sieht etwa Medicus, ZIP 1989,817,819, in einer Stellungnahme zur Inhaltskontrolle in den sog. Bürgschaftsfällen in jeder „Ausweitung des § 138 Abs. 1 BGB" eine Einschränkung der Privatautonomie; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1,4, bemerkt zum Kontrahierungszwang: „Der aufregendste Widerspruch (...) ist aber zweifellos jener, der zwischen dem Kontrahierungszwang einerseits und der Vertragsfreiheit als einem zentralen Element der Privatautonomie und damit der Privatrechtsordnung andererseits besteht."; vgl. auch Isay, KartRdsch. 1929,373,376; Pabst, S.7; Wimpfheimer, KartRdsch. 1929,1,7. 25

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Interessentengruppen durch Vermehrung zwingender Rechtsnormen modifiziert ist; eines Privatrechts, das gleichsam aus einer Ansammlung unterschiedlicher thematischer Ausgliederungen („Nebengesetze") und sonderprivatrechtlicher Regelungsmodelle besteht,29 die es dem Betrachter zusehends erschweren, seine eigentlichen Ordnungsprinzipien noch als solche zu erkennen. 30 Zeugnisse dieser Entwicklung sind nicht zuletzt Rechtsgebiete wie das Arbeits- und das Wirtschaftsrecht31, die erst nach Inkrafttreten des BGB zur vollständigen Entfaltung gelangten, schon bald als Sonderprivatrechte ein Eigenleben zu entwickeln begannen und nicht selten sowohl Regelungen privatrechtlicher als auch öffentlichrechtlicher Natur enthalten, die zu einer Einschränkung sowohl der Gestaltungsais auch der Abschlußfreiheit führen. Andere „Ausgliederungen" aus dem allgemeinen Privatrecht betreffen Materien, durch deren Regelung - häufig aufgrund richterrechtlicher Vorprägung - lediglich eine Ergänzung bzw. Modifizierung allgemeiner Lehren herbeigeführt wurde, ohne daß damit umfassende Sonderprivatrechte entstanden sind.32 Der Sache nach geht es bei diesen Nebengesetzen, zu denen das AGB-Gesetz, das Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften, das Verbraucherkreditgesetz, das Produkthaftungsund das Umwelthaftungsgesetz zu rechnen sind, vielmehr um die rechtliche Bewältigung von Problemlagen in typisierten Lebenssachverhalten, bei denen zumeist die wirtschaftliche oder soziale Unterlegenheit bestimmter Gruppen von Privatrechtssubjekten eine Rolle spielt. Inhaltlich verklammert sind diese Fälle im weiteren Sinne durch den Gedanken des Verbraucherschutzes.33 Ein hervorstechendes Beispiel ist insoweit das Abzahlungsgesetz als Vorläufer des Verbraucherkreditgesetzes, das bereits im Jahre 1894, also noch vor dem BGB, in Kraft trat.34 Die Hinwendung zur „exklusiven" Lösung allgemeiner vertragsrechtlicher Probleme resultiert letztlich aus der Erkenntnis, daß das „allgemeine" Vertragsrecht nur bedingt geeignet ist, einen in den Augen aller Vertragsbeteiligten gleichermaßen „gerechten" Vertragskompromiß herbeizuführen. Exemplarisch dafür steht das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Schon frühzeitig wurde beklagt, daß die Vertragsfreiheit nur allzugern von wirtschaftlich stärkeren Vertragspartnern dazu benutzt wird, um dem „schwächeren" Vertragsteil wirtschaft-

29 Dazu Damm, in: Öffentliches Recht, S.85, 130ff.; Preis, ZHR 158 (1994), 567, 569ff.; Scherrer, S. 39ff.; Westen, JZ 1993,8, 15;//. P. Westermann AcP 178(1978), 150, 151 ff. 30 Dazu auch Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 34f.; Lieb, AcP 183 (1983), 327, 332; Wieacker, in: Industriegesellschaft, S. 9, 29. 31 Vgl. dazu etwa Assmann, S. 167ff.; Piepenbrock, S.21ff.; Raiser, Zukunft, S . l l f f . ; Reichold, in: Jahrbuch 1992, S.63, 68; Schmidt-Syaßen, S.8ff.; Wiethölter, FS Böhm, S.41 ff. 32 Zur Abgrenzung von Sonderprivatrechten und Nebengesetzen vgl. Bydlinski, System, S. 415 ff. 33 Vgl. nur H. P. Westermann, Gutachten, S. 8 ff. 34 Zur Entstehungsgeschichte vgl. nur H. P. Westennann, MünchKomm BGB, 2. Aufl. 1988, Vor § 1 AbzG, Rn. 1 ff.

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lieh nachteilige Allgemeine Geschäftsbedingungen zu oktroieren. 35 Die Rechtsprechung hat diese Sachverhalte zunächst unter Rückgriff auf § 138 BGB bzw. im Wege richterlicher Inhaltskontrolle nach dem Grundsatz von Treu und Glauben zu lösen gesucht. 36 Die auf die Generalklauseln des Zivilrechts gestützte richterliche Rechtsfortbildung wurde angesichts der Fülle der aufgetretenen Mißstände jedoch nicht als befriedigend empfunden, so daß sich der Gesetzgeber unter dem Eindruck der anhaltenden öffentlichen Diskussion 37 zu einer Kodifizierung in Gestalt des im Jahre 1976 in Kraft getretenen AGB-Gesetzes entschloß. Eine Parallele zu dieser Form der Einschränkung privatautonomer Gestaltungsfreiheit weist das Energiewirtschaftsrecht für die Einschränkung der Vertragsbegründungsfreiheit auf. Dort hat der Gesetzgeber die allgemeine Anschluß- und Versorgungspflicht für Energie Versorgungsunternehmen freilich schon im Jahre 1935 statuiert, nachdem die Rechtsprechung zuvor den Weg eingeschlagen hatte, Vertragsverweigerungen am Maßstab der Sittenwidrigkeit zu überprüfen. Es bleibt der Befund, daß die vertragliche Abschluß- und Gestaltungsfreiheit, so wie sie den Schöpfern des BGB vor Augen stand, im Laufe der Zeit vielfältige Einschränkungen erfahren hat. Diese Abkehr vom Leitbild des allgemeinen Vertragsrechts im BGB mag ihre soziologische Ursache darin haben, daß das BGB die Rechtswirklichkeit von vornherein nur unvollkommen erfaßte, 38 kann aber auch der zwischenzeitlichen Änderung der Lebensverhältnisse zugeschrieben werden. 39 Insbesondere der letztgenannte Aspekt, der durch den Wandel der wirtschaftlichen Verhältnisse seit Beginn des Jahrhunderts bestätigt wird, hat dazu geführt, daß „das wirklich,geltende' Privatrecht, besonders die allgemeinen Lehren und das Schuldrecht, (...) nicht mehr aus dem Gesetzestext (...) abgelesen werden können". 4 0 Diese Entwicklung ist zunächst durch die Rechtsprechung forciert worden, die nach der Feststellung Wieackers41 schon unter der Ägide des Reichsgerichts „die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrunde lag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt" hat. Die in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung angelegte Lehre vom allgemeinen Kontrahierungszwang mag als ein Beispiel dafür angesehen

35 Hedemann, Recht, S. 13; Nipperdey, Kontrahierungszwang, S.3; Pappenheim, FS Cohn, S. 289, 292ff.; dazu auch Kessler, FS Martin Wolff, S. 67, 74ff. 36 Vgl. zusammenfassend BGHZ 22, 90, 94 ff. - Freizeichnungsklausel; ferner BGHZ 41, 151, 154 ff. - Allgemeine Lagerbedingungen (zu § 242 BGB); 60, 377, 380 ff. - Makler-AGB (zu § 242 BGB) und RGZ 143, 2 4 , 2 8 f . - Stromlieferung I (zu § 138 BGB). 37 Vgl. nur die Beschlüsse des 50. DJT 1974, abgedruckt in NJW 1974, 1987 f. 38 Schlosser, S. 164f., 167; Reichold, in: Jahrbuch 1992, S.63, 68, der von einer „Scheinwelt" der durch das BGB eröffneten Freiheitssphären spricht. 39 Zu diesen rechtssoziologischen Aspekten auch Rebe, S. 16 f.; Wieacker, FS DJT II, S. 1,6 f. 40 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 514f.; vgl. auch Schwark, JZ 1980, 741, 741 ff.; Säkker, MünchKomm. BGB, Einl. Rn.46. 41 Wieacker, in: Industriegesellschaft, S. 9, 24; vgl. auch Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 67; krit. Kühler, FS Raiser, S. 697, 708f.

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§ 1 Beschreibung des

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werden. Sie war für den Gesetzgeber auf anderen Gebieten wegweisend. Es liegt daher nicht fern, das geltende Vertragsrecht weniger als Instrument zur selbstherrlichen Regelung der Beziehungen der Individuen zu sehen, als vielmehr in seiner ebenfalls vorhandenen Dimension als soziale Institution zu erfassen. 42 Damit ergeben sich allerdings Zweifel, ob der eingangs herausgestrichene Gegensatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang tatsächlich als solcher besteht oder ob es sich beim Instrument des Kontrahierungszwangs nicht vielmehr um eine Art immanente Begrenzung der Privatautonomie handelt. Dieter Hart plädiert in diesem Zusammenhang dafür, den Kontrahierungszwang und andere Formen der Vertragsbegründungskontrolle als Elemente „sozialer Steuerung" in das Grundprinzip der Vertragsfreiheit zu integrieren.43 Es gehe um „.Sozialisierungen' des Vertragsrechts in dem Sinne (...), daß der der Erklärung zugrundeliegende individuelle Wille des Rechtssubjektes gegenüber objektivierten (typisierten) Anforderungen an die Erklärung und damit an das Zustandekommen des Vertrages mehr und mehr zurücktritt, privatautonomes Handeln sich in einem sozial determinierten Rahmen bewegt." 44 Gegen diese Bewertung sprechen Äußerungen, die den Kontrahierungszwang geradezu als Paradigma für eine von außen an das Privatrecht herangetragene Beschränkung der Privatautonomie begreifen und damit die eingangs herausgestrichene These einer antinomischen Verbindung von Privatautonomie und Kontrahierungszwang stützen. Hans Carl Nipperdey hat in seiner nach wie vor grundlegenden Schrift „Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag" aus dem Jahre 1920 in diesem Sinne von einer „Sozialisierung des Rechts" gesprochen, um die Abkehr von der „formalen Freiheitsethik" zu beschreiben. 45 Arthur Nussbaum46 konstatierte in gleicher Weise eine Angleichung von privatem und öffentlichem Recht und auch Wolfgang Kilian47 stellt aus heutiger Sicht ganz in diesem Sinne eine „Entprivatisierung des Privatrechts" fest. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß der Einfluß des einzelnen Rechtssubjekts auf Vertragsschluß und -gestaltung zusehends zugunsten des überindividuell den Einzelnen fremdbestimmenden, gleichsam „sozialisierenden" Willens des Gesetzgebers zurückgedrängt wird, der im Falle des Kontrahierungszwangs zu einem Vertragsschluß selbst gegen den Willen des Betroffenen verpflichtet. Das Regelgefüge des Privatrechts, das per se nicht auf die Verwirklichung vertragstranszendenter Ziele angelegt zu sein scheint, sondern allgemein mit dem Topos der Selbstbe-

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Kessler, FS Martin Wolff, S.67, 78; Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler, S. 115f„ 119; Wieacker, in: Industriegesellschaft, S.9, 24ff., 30. 43 Hart, KritV 1986,211,212. 44 Hart, KritV 1986, 211, 213. 45 AaO., S. 105; vgl. auch Hedemann, FS Nipperdey, S.251, 256 („Strom des Vordringens der sozialen Idee"); Mertens, S. 2, 32. 46 Nussbaum, S.3. 47 AcP 180 (1980), S.47,77.

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Stimmung belegt ist, wird in der Sicht derjenigen, die - mit ablehnender Intonierung - von der Sozialisierung des Rechts sprechen, durch Beschränkungen für Zwecke der Wirtschaftsordnung und -Steuerung in sachfremder Weise in Dienst genommen. 48 Unabhängig von der Bewertung des Vorgangs, der wertneutral als Wandel der Privatautonomie begriffen werden kann, erstaunt es nicht, wenn angesichts der Anzahl und der Bedeutung der vom Gesetzgeber fremdbestimmten Lebenssachverhalte gefragt wird, ob es nicht eher wie eine Geisterbeschwörung klinge, wenn die Privatautonomie heute vielfach noch als Grundpfeiler des geltenden Vertragsrechts bezeichnet wird. 49 Peter Schwerdtner50 meint unter Berufung auf Ernst A. Kramer51 denn auch zu erkennen, die Geschichte der Idee der Privatautonomie sei die „Geschichte des Abbaus einer Fiktion". Andere sprechen bereits vom Tod des Privatrechts. 52 Besonders plastisch ist in diesem Zusammenhang die Feststellung Harm Peter Westermanns, der nach einem „Blick auf das Mietrecht, aber auch manche Entwicklungen des Insolvenzrechts, des Abzahlungsrechts oder des Rechts der Wohnungsvermittlung" den Eindruck gewinnt, „von dem berühmten Tropfen sozialistischen Öls sei im Sinne der Forderung Gierkes inzwischen so viel durchgesickert, daß von den Säulen des Privatrechtssystems - subjektives Recht und Privatautonomie - mittlerweile nur noch Stümpfe aus einer Öllache herausragen." 53 Damit ist zugleich der auch die Diskussion um den Kontrahierungszwang begleitende Konflikt zwischen dem „sozialisierenden" öffentlichen Recht und dem individualistisch geprägten Privatrecht angesprochen, der sich aus dem Spannungsbogen zwischen allfälligem staatlichem Regelungsanspruch und dem Willen zur individuellen Rechtsverwirklichung speist. 54 Aus der Sicht derjenigen, die warnend von einer „Sozialisierung des Rechts" sprechen, steht das Privatrecht für eine „Herrschaft der Gesellschaft über sich", das öffentliche Recht für „die Herrschaft des Staates über die Gesellschaft", das Privatrecht „für den Lebensraum 48

Kubier, FS Steindorff, S. 687, 693; Steindorff, Einführung, S. 3 f. Kötz, Gutachten, S. A 36; vgl. auch dens., FS Mestmäcker, S. 1037ff.; ähnlich Ramm, in: Gerechtigkeit, S. 39, 40: „In keinem zentralen Lebensverhältnis ist die freie Selbstbestimmung durch Vertrag noch Realität."; vgl. zur Eigentumsfreiheit auch Sontis, FS Larenz, S.981: „(Die moderne Zeit) hat Beschränkungen oder Bindungen des Eigentums in einem Maße zutage gebracht, daß man sagen könnte, das Hauptgewicht hinsichtlich der wirtschaftlich bedeutsamsten Eigentumsgegenstände liege heute nicht mehr auf der absoluten Freiheit des Eigentümers, sondern auf dem Gesetzesvorbehalt (,soweit nicht das Gesetz entgegen(steht)')."; vgl. auch Ott, NJW 1972,420,421. 50 Persönlichkeitsrecht, S. 132. 51 Die Krise des liberalen Vertragsdenkens, 1974. 52 Zur anglo-amerikanischen Diskussion Atiyah, S. 571 ff.; Riesenfeld, in: Jahrbuch 1995, S.9, 12. 53 AcP 178 (1978), 150, 176. 54 Vgl. bereits Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 86, der die Wurzel des Kontrahierungszwangs und damit des Eingriffs in die Vertragsfreiheit im öffentlichen Recht sah. 49

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des Wettbewerbs", das öffentliche Recht für „seinen Tod".55 Antithetisch dazu forderte Otto v. Gierke 1889 die „sozialisierende" Wirkung des öffentliches Rechts geradezu ein, als er angesichts des Entwurfs zum BGB feststellte: „Man erhält nun zwei von ganz verschiedenem Geiste beherrschte Systeme: ein System des gemeinen Civilrechts, in welchem das ,reine' Privatrecht beschlossen liegt, und eine Fülle von Sonderrechten, in denen ein vom öffentlichen Recht her getrübtes und mit öffentlichem Recht vermischtes Privatrecht waltet. Hier lebendiges, volkstümliches, sozial gefärbtes Recht voll innerer Bewegung, - dort eine abstrakte Schablone, romanistisch, individualistisch, verknöchert in todter Dogmatik." 56 Diese pointierte Feststellung berührt die Grundfrage nach dem funktionalen Geltungsgrund des Privatrechts und hier insbesondere des Vertragsrechts: Besteht die Funktion des Privatrechts allein darin, die Freiheit des einzelnen zu sichern oder besteht sie zumindest auch in der sozialen Ordnung des Gemeinwesens? Eine Annäherung an diese Fragestellung erfordert eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Dogmatik der Privatrechtsordnung und damit insbesondere mit der sie konstituierenden Theorie der Privatautonomie. Sie soll nachfolgend exemplarisch für das Verhältnis von Privatautonomie und Kontrahierungszwang unternommen werden: Läßt sich der Kontrahierungszwang als sachfremde Begrenzung der Privatautonomie begreifen, die von außen an diese herangetragen wird, oder handelt es sich um einen „sozialen" Eckpfeiler, der das Gebäude des Vertragsrechts vor dem Einsturz bewahrt? Die Studie wird sich bei der Behandlung dieser Fragestellung auf die deutsche Privatrechtsordnung und die für sie wesentlichen europarechtlichen Impulse beschränken. Auf parallele Problemlagen in ausländischen Rechtsordnungen soll im gegebenen Sachzusammenhang ergänzend hingewiesen werden.

55 So in gewollter Überspitzung Zacher, FS Böhm, S. 63, 108; zu öffentlich-rechtlichen Einbrüchen in das Privatrecht auch Zöllner, JuS 1988, 329, 331. 56 v. Gierke, Aufgabe, S.16. - Die „soziale Tendenz des Bürgerlichen Gesetzbuches", betont dagegen Planck, DJZ 1899, 181 ff., unter Hinweis auf Vorschriften wie §§ 138, 242, 246 f., 571, 617 f., 826,904 ff. BGB. Seine Charakterisierung des BGB lautet daher: „Befestigung der Grundlagen der bestehenden Gesellschaftsordnung, Beschränkung der individuellen Rechte und Abschwächung der Konsequenzen derselben, soweit die billige Rücksicht auf das berechtigte Interesse anderer es erfordert, sowie Schutz der wirtschaftlich Schwachen, das sind die sozialen Gesichtspunkte, welche das BGB bei seinen Vorschriften stets im Auge gehabt hat."(aaO., 184); vgl. zum Sozialmodell des BGB auch Wieacker, in: Industriegesellschaft, S. 9, 22 f.

§ 2 Theorie der Privatautonomie Bevor eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Privatautonomie und Kontrahierungszwang gegeben werden kann, muß zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff „Privatautonomie" überhaupt zu verstehen ist. Die Begriffsklärung soll Auskunft über die Bedeutung der Privatautonomie für die Privatrechtsordnung geben und den Maßstab erbringen, um beurteilen zu können, ob sich der Kontrahierungszwang als solcher oder zumindest einzelne Ausprägungen dieses Rechtsinstituts in das geltende Privatrechtssystem einfügen lassen.

I. Privatautonomie

als

Rechtsbegriff

In den Lehrbüchern, Monographien und Kommentaren zum Bürgerlichen Recht wie auch in den Interpretamenten der Gerichte finden sich in der Wortwahl unterschiedliche, dem Sinn nach aber kaum differierende, schlagwortartige Umschreibungen jenes „Phänomens", das unter dem Begriff Privatautonomie seit der Jahrhundertwende zunehmend geläufig wurde. 1 Da der Begriff häufig als Synonym für Vertragsfreiheit benutzt wird, 2 liegt das Schwergewicht der aufzufindenden Deutungen auf der Betonung des Prinzips willentlicher Selbstbestimmung. 3 So heißt es, Privatautonomie sei das „Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen." 4 Nach anderer, dem Sinn nach

1 Vgl. Cosack, §51, 5 (S. 147f.); Crome, System I, § 18 (S.93); von „Autononomie-Gesetzen" als den ungeschriebenen Gesetzen, die Bürger sich selbst oder anderen geben, sprach bereits Thibaut, System I, S.34; zur Begriffsgenese Mayer-Maly, JbRSoz. XIV (1989), 268, 269ff.; zu geistesgeschichtlichen Wurzeln Murakami, FS Müller-Freienfels, 1986, S. 467 ff. 2 Vgl. nur BAG NJW 1995, 275, 277 - Probezeitkündigung; Fikentscher, Schuldrecht, § 21 III (Rn. 83); Lorenz, S. 17; Mückenberger, KritJ 1971, 248, 254; Raiser, Zukunft, S.8; Zöllner, AcP 176 (1976), 221, 229 ff. 3 BVerfGE 89, 214, 231 f. (= NJW 1994, 36, 38) - Bürgschaft I; BVerfG NJW 1994, 2749, 2750 - Bürgschaft II. 4 BVerfGE 72, 155, 170 (= WM 1986, 828, 831) - Handelsgeschäft; 89, 214, 231 (= NJW 1994, 36, 38) - Bürgschaft I; BVerfG NJW 1994, 2749, 2750 - Bürgschaft II; NJW 1996, 2021 Bürgschaft III; BAG NJW 1995, 275, 277 -Probezeitkündigung; Dieterich, RdA 1995, 129, 130; T. Dreier, in: Jahrbuch 1992, S. 115, 116; Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 129; Fastrich, S. 23, 29; Flume, Allgemeiner Teil II, S. 1, 15; ders., in: FS DJT I, S. 135, 136; Grossmann, S. 18; Hönn, Jura 1984, 57; ders., JuS 1990, 953; Kreutz, S. 117 (Fn. 14), 122; Lorenz, S. 15; Manssen, S. 132;

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

ähnlicher Formulierung ist darin die Befugnis des einzelnen zu sehen, entsprechend seinen Bedürfnissen seine Rechtsverhältnisse selbstverantwortlich und ohne staatliche Intervention ordnen zu können. 5 Der Begriff der Privatautonomie hatte freilich nicht immer den positiven Klang, der nach heutigem Verständnis in den angebotenen Definitionen mitschwingt. Paul Oertmann warnte in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts vor seiner Verwendung, da der Begriff „Privatautonomie" auf eine den Parteien vom Staat lediglich belassene Gestaltungsmacht hinweise. 6 Fritz von Hippel griff diese These in seiner 1930 abgeschlossenen Habilitationsschrift „Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie" auf und resümierte: „Der Ausdruck Privatautonomie ist in der heutigen Jurisprudenz wenig angesehen." 7 Der Begriff war möglicherweise nicht nur wenig angesehen, zumal auch die Defizite einer zügellosen Privatautonomie offen erkennbar waren. Die Begriffsbildung leidet bis zum heutigen Tage daran, daß es zu einer Verständigung über ihren exakten Sinngehalt nicht gekommen ist. 8 Trotz aller Ähnlichkeit der Deutungsversuche haftet diesen doch der Geruch des Formelhaften und der Unverbindlichkeit an. So kommt es, daß ein zentraler Begriff der heutigen Privatrechtswissenschaft „für unterschiedliches Verständnis anfällig" geblieben ist. 9 Dennoch kann ein Grundkonsens über das Wesen der Privatautonomie nicht geleugnet werden: Allgemein kennzeichnend für die dargestellten Begriffsdeutungen ist nämlich das Moment der Nichteinmischung des Staates in die Privatrechtsgestaltung, das notwendig mit dem Begriff der Selbstbestimmung verbunden erscheint. 10 Damit ist gleichwohl nicht erklärt, warum der Kundgabe des Willens durch Handlungen und Erklärungen eine für den Vorgang der Selbstbestimmung wesentliche Funktion zukommt. Allein die Fähigkeit zur Willensäußerung ist nicht gleichbedeutend mit dem Faktum der Selbstbestimmung. Diese kann auch nicht mit der NichteinmiMedicus, Allgemeiner Teil, Rn. 174; Roth, BB 1987, 977; Roscher, S. 54; Säcker, Gruppenautonomie, S. 169; ders., JurA 1971, 509, 523 f.; Singer, S. 1; Staudinger-Dilcher, Einl. zu §§ 104 185, Rn. 7; Vykydal, S. 39; H. P. Westermann, Vertragsfreiheit, S. 24; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S.19; ähnlich auch Adomeit, Gestaltungsrechte, S.21: „Privatautonomie bedeutet eine Kompetenzbestimmung, sie umfaßt alle Ermächtigungen zu privatrechtlicher Einwirkung auf Rechtslagen"; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 33; ders., Privatautonomie, S. 173; ders., System, S. 147; Lorenz, Geschäftsgrundlage, S. 160; Rittner, AcP 188 (1988), 101, 121. 5 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254; Fastrich, S. 3: „Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung"; Kollmar, S. 144; Paschke, S. 37; Schopp, JuS 1992, 537, 544, der den Schwerpunkt auf die Fähigkeit der Person legt, ihre Verhältnisse vernünftig zu regeln; Scherrer, S.7. 6 Allgemeiner Teil, S. 318. 7 AaO., S. 62 (Fn. 7); vgl. auch Pappenheim, FS Cohn, S. 289, 295: „So mächtig ist (...) mitunter die Privatautonomie, dass sie selbst eine Nachprüfung ihrer Ergebnisse hinsichtlich ihrer Verträglichkeit mit den Interessen der allgemeinen Rechtsordnung zu verhindern imstande ist." 8 Mayer-Maly, JbRSoz, XIV (1989), S. 268, 273. 9 Mayer-Maly, JbRSoz XIV (1989), S. 268, 269. 10 Vgl. Medicus, Allgemeiner Teil, Rn. 176; Struck, S. 26, meint, Privatautonomie sei ein Topos, da damit nichts anderes ausgesagt werde als der Gemeinplatz: Am besten alles wird so gemacht, wie die Beteiligten es gewollt haben.

I. Privatautonomie als Rechtsbegriff

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schung des Staates in die Sphäre privater Rechtsverwirklichung erklärt werden.11 Aus diesem Grunde sind der Begriff Privatautonomie wie auch die um seine Erklärung bemühten Definitionen zumindest mißverständlich, insofern damit eine vom verfaßten Staat losgelöste, sich gleichsam selbst rechtfertigende Regelungsautonomie suggeriert wird.12 Die Privatautonomie stellt keine Rechtsquelle eigener Art dar.13 In einer auf dem Zusammenschluß einzelner Rechtssubjekte basierenden Gesellschaft ist Selbstbestimmung nur denkbar, wenn der Wille des Einzelnen von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft kraft allgemeiner Übereinkunft oder bestimmter Regeln, denen alle Individuen unterworfen sind, respektiert wird.14 Diese Regeln stellt die Rechtsordnung zur Verfügung, mit deren Hilfe die Gesellschaft ihre Individualbeziehungen „verfaßt" und damit die Grundlegung für den Staat schafft. Es ist daher im Ausgangspunkt zutreffend, wenn die Bedeutung der Privatautonomie in Konkretisierung der erstgenannten Begriffsbestimmungen darin gesehen wird, „daß der einzelne seine privaten Lebensverhältnisse im Rahmen der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen frei gestalten kann"15 (Hervorhebung v. Verf.). Privatautonome Rechtsgestaltung kann sich nur dort vollziehen, wo die Rechtsordnung durch Bereitstellung materieller und prozessualer Regelungsmechanismen der einzelnen Willensbekundung Rechtsgeltung verschafft. 16 Ohne diese institutionellen Regelungsmechanismen fehlt der natürli11

Raiser, FS DJTI, S. 101, 115; zweifelnd F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 178 (Fn. 141). Der Begriff wird daher zuweilen auch als verfehlt angesehen: Staudinger-Dilcher, Einl. zu §§ 104 - 185, Rn.7; Oertmann, Allgemeiner Teil, Vorbem. v. § 104, Anm. 3 a (S. 296 f.). 13 Cosack, §51, 5 (S. 148); Crome, System I, § 18 (S.93); Endemann, S.73f.; Danz, S.6; Isay, Willenserklärung, S.96; Lorenz, S. 16; Manigk, Anwendungsgebiet, S.6; dem Sinn nach auch Bydlinski, Privatautonomie, 1967, S.68 (Fn. 123), 70; vgl. auch / Schmidt, Vertragsfreiheit, S.59f.; Schwabe, Drittwirkung, S.20; mißverständlich Canaris, Vertrauenshaftung, S.412: „Richtig ist vielmehr, daß der Geltungsgrund (des Rechtsgeschäfts) im Prinzip der Privatautonomie zu sehen ist (...).". 14 Georg Jellinek, Staatslehre, S.217, hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß „die Idee ausdrücklicher Freiheitsrechte, die Forderung der Errichtung des Rechtsstaates und die Erfüllung dieser Forderung durch richterliche Garantierung des gesamten, also auch des öffentlichen, Rechtskreises der Individuen" ihre Wurzel in der auf Thomas Hobbes und John Locke zurückgehenden Staatsvertragslehre der Aufklärung hat; vgl. auch Hillgruber, Schutz, 1992, S.5 (Fn.4); zum modellhaften Charakter der Staatsvertragslehre vgl. J. Schmidt, Vertragsfreiheit, S. 159 ff. 15 Brox, Erbrecht, Rn. 20; ähnlich Boemke, NJW 1993, 2083; ders., NZA 1993, 532, 532f.; Bydlinski, Privatautonomie, S. 127: „Rechtliche Anerkennung der Möglichkeit, durch Willensäußerungen Rechtsfolgen herbeizuführen oder zu verhindern."; Canaris, Vertrauenshaftung, S. 413 („Privatautonomie ist Selbstbestimmung der Person durch rechtliche Selbstgestaltung."); Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 129; Heck, Grundriß, S. 5 f.; Larenz, Allgemeiner Teil, § 2 II e (S. 40 f.); Manigk, Privatautonomie, S. lOf.; Schopp, Grundfragen, S.51 („Möglichkeit, die eigenen Lebensverhältnisse mit dem Mittel des Rechtsgeschäfts, insbesondere des Vertrages frei zu gestalten."); M. Wolf, in: Grundlagen, S. 19, 22; v. Tuhr, Allgemeiner Teil I, S. 25; Zöllner, JuS 1988, 329; Palandt-Heinrichs, Überbl v § 104, Rn. 1. 12

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BVerfGE 89, 214, 231 (= NJW 1994, 36, 38) - Bürgschaft I; RGZ 68, 322, 324; 157, 228,

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

chen Fähigkeit zu handeln jede Möglichkeit der Sozialgestaltung.17 Mit Franz Böhm gesprochen: „Nicht ein naturales Können, sondern ein soziales Dürfen ist kennzeichnend für die Privatrechtsgesellschaft".18 Aus den Regelungsmechanismen ergibt sich erst der rechtserhebliche Sinn des naturalen Könnens, der natürlichen Fähigkeit zu willensgesteuerter Selbstbestimmung.' 9 Es ist nicht die Privatautonomie, die der Rechtsordnung als apriorisches, von dieser „nur" rezipiertes und geschütztes Prinzip vorgegeben ist; die Privatautonomie leitet sich erst aus der Rechtsordnung ab.20 Der Begriff wird damit für die Erklärung des Prinzips willentlicher Selbstbestimmung nicht etwa überflüssig. Er ist allerdings ungenau, wenn er der eigentlichen Wortbedeutung nach als vorrechtliche „Selbstgesetzgebung" des Individuums verstanden wird.21 Richtig verstanden entspricht sein definitorischer Bedeutungsgehalt dem in der Rechtsordnung in Form individueller Gestaltungsvorrechte verankerten Selbstbestimmungsprinzip.22 Unter einem „Prinzip" werden im folgenden in Übereinstim223 (jeweils zum Rechtsgeschäft); Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 1 f., 18; ders., Rechtstheorie, S. 58; Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 149; Dernburg, Pandekten I, § 79 2., 3. (S. 160); Dieterich, RdA 1995, 129, 130; M. Fischer, S. 23; Flume, FS DJTI, S. 135, 137, 148; ders., Allgemeiner Teil II, S. 18; H. Huber, S. 18f.; F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 158; Kreutz, S. 57 f., 117, 122; Lorenz, Allgemeiner Teil, § 2 II e (S.41 f.); Laufke, FS Lehmann I, S. 145, 180f.; LübbeWolf S. 81 ;Manigk, Privatautonomie, S. 84; Müller-Freienfels, FS Rittner, S. 423, 441; Paschke, S. 38; Raiser, FS DJT I, S. 101, 105; Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler, S. 115, 116; Richardi, Kollektivgewalt, S. 50 f. \ Rittner, Ausschließlichkeitsbindungen, S. 63; Roscher, S.55; Säcker, Gruppenautonomie, S.272; Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 163; Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8, 14 (zur Vertragsfreiheit); Vykydal, S.39; H. P. Westermann, Vertragsfreiheit, S.26ff.; Zitelmann, S. 280; vgl. für den skandinavischen Rechtskreis auch Ross, S. 130: „Competence is the legally established ability to create legal norms (or legal effects) through and in accordance with enuntiations to this effect." 17 Anders die von Savigny, Puchta und zunächst auch Windscheid vertretene Auffassung, die im subjektiven Recht die rechtliche Garantie der Willensmacht des Individuums als Willenssubjekt sah; vgl. Savigny, System I, §§ 4 , 5 2 , 5 3 ; Puchta, Institutionen I, §§ 6 , 2 3 , 2 9 , 3 0 ; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, § 37 (S. 156, b. Fn. 3); vgl. auch Scherrer, S. 7: „Die Befugnis einer Partei, ohne Anlehnung an ein bestimmtes Gesetz oder sogar im Widerspruch zu dessen Wortlaut, sich jemand mit rechtlicher Wirkung zu verpflichten, wird heute allgemein Privatautoniomie genannt." (Hervorh. v. Verf.). 18 Böhm, ORDO XVII (1966), S.75, 85. 19 Vgl. auch J. Schmidt, FS Lukes, S. 793,798f. 20 BAG DB 1994, 1726 - Ausbildungskosten; Badura, FS Rittner, S. 1, 2; Flume, Allgemeiner Teil II, § 1, 2; F. v. Hippel, Problem, S. 104; Lorenz, S. 16f.; Oertmann, Allgemeiner Teil, S. 296f. (Anm. 3 a); Max Weber, S. 398; anders aber Pernice, GrünhutsZ 7 (1880), 465, 484ff., der die Bindungs wirkung des Vertrages unter Berufung auf Kant, Rechtslehre, S. 19, nicht auf die vom Staat bestätigte Regelungsautonomie zurückführt, sondern als transzendentale Deduktion aus einer vorrechtlichen, sittlich und psychologisch begründeten Pflicht ableitet, gegebene Versprechen zu halten (S. 486 ff.); im vorrechtlichen Bereich kann es sich dabei aber nur um eine sittliche, nicht eine rechtliche Pflicht handeln (vgl. Lorenz, Allgemeiner Teil, § 2 II e; Ennecerus/ Nipperdey, Allgemeiner Teil 1. Hbbd., §49 I; Penski, JZ 1989, 105, 112). 21 Staudinger-Dilcher, Einl. zu §§ 104 - 185, Rn. 7. 22 BVerfGE 81, 242, 254f. - Handelsvertreter; ähnlich schon Kreutz, S. 122f.; Paschke, S. 40; Reuter, Perpetuierung, S. 36; Roscher, S. 55;M. Fischer, S. 23 f., nennt den instrumentellen

I. Privatautonomie als Rechtsbegriff

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mung mit Dworkin alle Maßstäbe verstanden, die, ohne Regeln zu sein, als Argumente für individuelle Rechte dienen können. 23 Die das Selbstbestimmungsprinzip effektuierenden Rechtsnormen sind zugleich Ausdruck der Zweckmäßigkeit des Rechts. 24 Der Zweck des Rechts ist insoweit ein relativistisches Kriterium, da er nur im Lichte des zu effektuierenden Wertgesichtspunktes beurteilt werden kann. Dieser kann für eine Rechtsordnung von mehr oder minder großer Bedeutung sein. Die Bedeutung eines Wertgesichtspunktes wie des Selbstbestimmungsprinzips wird dabei durch die „gesellschaftlich-politische Grundideologie" der Sozietät determiniert, die damit den grundlegenden Gestaltungsplan für Aufbau und Ausgestaltung des Soziallebens vorgibt. 25 Der Gedanke der Zweckmäßigkeit beschreibt nun allerdings nicht den alleinigen Wert des Rechts. Es handelt sich nur um ein Ziel, eine Wertidee des Rechts. Weitere Ziele neben der Zweckmäßigkeit sind die Wertideen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit. 26 Alle drei Wertideen stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern verkörpern als ineinander greifende Grundtendenzen des Rechts jene Rechtsidee 27 , aus der sich die im geschriebenen Recht positivierten Rechtswerte oder Rechtsprinzipien ableiten. 28 Mit der Vorstellung einer die Rechtsordnung überwölbenden Rechtsidee verbindet sich insoweit ein mehrdimensionales, sich gegenseitig beeinflussendes System oberster Leitgedanken des Rechts. Soweit die Rechtsordnung durch zweckmäßige Regelungen das Selbstbestimmungsprinzip auszuformen sucht, greift sie dabei den in der physischen Wesenheit des Individuums wurzelnden und jeder Rechtsordnung vorgegebenen Willen zur Selbstverwirklichung auf. 29 Die Transformation des Selbstbestimmungsprinzips in die Rechtsordnung vollzieht sich durch die Arbeit des Gesetzgebers, der durch Bereitstellung rechtlich ausgeformter Instrumentarien darüber Teil der Privatautonomie „Handlungsfreiheit"; vgl. auch Fastrich, S. 3; Staudinger-Dilcher, Einl. zu § § 1 0 4 - 1 8 5 , Rn. 5. 23 Dworkin, S.90; dazu Alexy, in: Argumentation und Hermeneutik, S.61; vgl. auch Esser, Grundsatz und Norm, S.50ff.; Lorenz, Methodenlehre, S.474; zum Prinzipiencharakter des Rechts, den bereits Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft II, S. 312 ff., entfaltet hat, vgl. ferner Canaris, Systemdenken, § 2 II 2 b; Dreier, Rechtsbegriff, S. 25 ff.; Sieckmann, S. 15 ff., 141 ff. 24 Steindorff, FS Raiser, S. 621,627. 25 Henkel, S.428. 26 Die Terminologie folgt insoweit Radbruch, S. 168 ff., und Henkel, S. 390; vgl. auch Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S.26, 125; ders., Methodenlehre, S. 290ff., 304ff.; Ryffel, S. 224 ff.- Eine terminologisch und inhaltlich geschlossene Konzeption der auf das Recht einwirkenden Wertideen existiert nicht; zu dem im Schrifttum vertretenen Positionen vgl. im Überblick Bydlinski, Methodenlehre, S. 292 f. 27 Zum Verständnis des Rechts als Ausformung von Rechtsideen / Grundprinzipien vgl. auch Larenz, Richtiges Recht, S.29; Henkel, S.389ff.; A. Kaufmann, S.214f.; in der Terminologie abweichend, der Sache nach aber übereinstimmend Hruschka, S. 69, der vom „Prinzip Recht" spricht. 28 Dazu Larenz, Methodenlehre, S. 474. 29 Bydlinski, Privatrecht im Rechtssystem, S.47; Fastrich, S.41; Henkel, S.74f.; Säcker, Gruppenautonomie, S. 168.

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§ 2 Theorie der

Privatautonomie

befindet, in welchem Umfang die Gesellschaft privatautonome Rechtsgestaltung (nicht: Rechtsschöpfung) anerkennt. Rechtliche Geltung erlangen die Wertideen oder „vorrechtlichen Prinzipien"30 erst durch den Vorgang der Transformation und Inkorporation in das Recht. Wertideen können als Rechtsprinzipien nur insoweit Geltung beanspruchen, als sie in Rechtsregeln oder von der Rechtsordnung anerkanntem Gewohnheitsrecht reflektiert werden.31 Das Selbstbestimmungsprinzip findet damit in Gestalt der Privatautonomie seine rechtserhebliche Bestätigung. 32 Es geht anders als bei der Autonomie unterstaatlicher Verbände33 nicht um die Ermächtigung34 zu einem Handeln seitens des Staates oder die Ableitung

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Penski, JZ 1989, 105, 112, spricht gleichbedeutend von Moralnormen. Penski, 3Z 1989, 105, 111. 32 Canaris AcP 184 (1984), 20\ Raiser, FS DJTI, S. 101, 105, 118f.;ÄeMter,Perpetuierung, S. 35 f. 33 Zur Verbandsautonomie etwa Kaiisch, in: Rechtsvergleichendes Handwörterbuch, Bd.2, S.339,340; Soergel-Hadding, Vor § 21, Rn. 79. Autonomie unterstaatlicher Verbände ist abgeleitete staatliche Autonomie, da ihr Gegenstand die Regelung der Angelegenheiten eines vorrechtlich seinem Wesen nach nicht existenten Zusammenschlusses von Individuen ist. Die Verbandsautonomie erschöpft sich nicht in der Zusammenfassung heterogener individueller Einzelinteressen; der Verband verwirklicht vielmehr ein neues, mit seiner Gründung dokumentiertes überindividuelles Gruppeninteresse, das nur partiell mit den ihn legitimierenden Einzelinteressen dekkungsgleich ist (vgl. auch Taupitz, Standesordnungen, S. 687 ff.). Er kann daher seine Selbstsetzungsbefugnis nur aus dem Recht beziehen („derivative Autonomie"); dazu - wenn auch mit nicht immer einheitlichem Begründungsansatz - BGHZ 29, 352, 355; BayObLGZ 1977, 6, 9 f.; OLG Frankfurt NJW 1973,2208, 2209. Bötticher, ZfA 1 (1970), 3,46; Coing, FS Flume I, S. 429, 430; Dütz, S. 244; Flume, FS Bötticher, S. 101 ff.; Meyer-Cording, NJW 1966, 225, 226 (Fn.13); Oertmann, Allgemeiner Teil, § 2 5 , 4 ; Rittner, Die werdende juristische Person, S. 248 ff.; Säcker/ Oetker, Repräsentation, S. 12; E. Schumann, GS Dietz, S.323, 334 (Fn.41); Soergel-Schultzev.Lasaulx, BGB, 10. Aufl. 1967, §25, Rn. 10; Staudinger-Coing, BGB, 12. Aufl., Vorbem. zu §§ 21-54, Rn. 38; v. Tuhr, Allgemeiner Teil I, S.503; Taupitz, Standesordnungen, S.603. - Anders die auf v. Gierke (Deutsches Privatrecht, Bd. I, S. 112ff.) zurückgehende genossenschaftliche Rechtsquellenlehre, die auch unterstaatlichen Verbänden originäre Rechtsetzungsgewalt zuerkennt, aber nur vereinzelt Gefolgschaft erfährt; vgl. insoweit Bogs, FS J. v. Gierke, S.39, 69; ders., RdA 1956, 1 ff.; Galperin, FS Molitor, S. 143ff.; Herschel, AcP 166 (1966), S. 372, 375. Wie hier, jedoch speziell zur Tarifautonomie BVerfG BB 1996, 1835; BVerfGE 44, 322, 340f. mwN.; BAGE 4, 240, 251; F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 139, 265 f. (staatlich anerkannter Gestaltungsfreiraum); Lerche, FS Steindorff, S.897, 906; Säcker, Grundprobleme, S.28f., 31 f., 73 ff.; ders., Gruppenautonomie, S. 344; Säcker/Oetker, Grundlagen, S. 36f.; Zöllner DB 1989, 2121, 2121 f.; a.A. Canaris, AcP 184 (1984), 201, 244 („Anerkennung"); Krüger, RdA 1957, 201, 202f.; RGRK-Steffen, Vor §21, Rn.32, §25, Rn. 1; Richardi, Kollektivgewalt, S.164f.; ders., DB 1990,1613,1615; ders., NZA 1992,769,772; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz Art. 9 Rn. 301; ders. Koalitionsfreiheit, 1971, S. 55 ff., 2 6 0 f „ 371. 31

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Der „Ermächtigungstheorie", die das hinter dem rechtlichen Konstrukt der Privatautonomie stehende natürliche Selbstsetzungsprinzip vernachlässigt, folgen Burckhardt, Methode, S. 184 f., 188,190,192; Danz, S. 6; Fikentscher, Schuldrecht, § 21 III (Rn. 84); Griller, JB1. 1992, 205, 211 ff.; Höfling, S.23; Manigk, Privatautonomie, S.127f.; Paschke, S.39; Roussos, JZ 1988, 997; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 398; wohl auch Reinhardt, FS SchmidtRimpler, S. 115, 116 („Verleihung"); eher beiläufig auch: Enneccerus, S. 134; Enneccerus/ Nipperdey, Allgemeiner Teil 1/1, § 4 9 1 (Fn.2);H. P. Westermann, Vertragsfreiheit, S. 26 f., der neben-

I. Privatautonomie als Rechtsbegriff

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dieser Fähigkeit vom Staat im Sinne einer staatlichen Delegation 35 , sondern um das vom Staat mit Rechtsqualität ausgestattete Anerkenntnis natürlicher Fähigkeiten und Bedürfnisse. 36 Der mit dem Begriff der Privatautonomie bezeichnete Bereich individueller Regelungsvorrechte beschreibt in diesem Sinne einen Rechtsgestaltungsfreiraum.37 Er beschreibt jenseits des natürlichen Könnens das rechtliche Können und Dürfen.38 Dem Individuum wird insoweit jenseits des rechtlichen Sollens ein Freiraum individueller Rechtsgestaltung vorbehalten,39 dem der Gesetzgeber positivrechtlich Geltung verleiht.40 Diese positivrechtliche Geltung beruht auf der Anerkennung subjektiver Rechte. Damit sind im Sinne einander von Ermächtigung und Delegation spricht; undeutlich auch Blomeyer, AcP 154 (1955), 527, 529; Diederichsen, in: Rangordnung, S. 39,59 („(...) Ermächtigung durch den Gesetzgeber, der damit die eigenständige Rechtsetzungsmacht des Bürgers anerkennt."). 35 So Adomeit, Rechtstheorie, S. 58 (wohl auch ders., RdA 1967,297,301,304, wo allerdings synonym auch von „Ermächtigung" die Rede ist; vgl. auch dens., Gestaltungsrechte, S. 11, 19 f.); Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 328, 330, der die Vertragsfreiheit als verliehene Kompetenz ansieht; Pflug, S.46; Oftinger, in: Freiheit, S.315, 322; wohl auch Krüger, RdA 1957, 201, 203; undeutlich Boemke, NZA 1993, 532, 533; ders., NJW 1993, 2083. 36 Von einer Anerkennung im dargelegten Sinne spricht auch Ihe ring, Geist II/l, S.219 („Der Anspruch des Individuums auf die rechtliche Freiheit stützte sich (...) auf eine ethische Grundlage," den schöpferischen Beruf der Persönlichkeit. Daraus ergibt sich zunächst für das Individuum der Gesichtspunkt, daß sein Recht auf Freiheit zugleich eine Pflicht ist, für den Staat aber, daß er nur diese wahre, ethisch berechtigte Freiheit des Subjekts anzuerkennen und zu verwirklichen hat. Seine Aufgabe der Freiheit des Subjekts gegenüber ist also nicht eine bloß negative, ein Gewährenlassen, ein Nichteingreifen in ein fremdes Gebiet, seine Stellung nicht die des indifferenten Zuschauers; sondern seine Aufgabe ist wesentlich positiver Art: Verwirklichung der rechtlichen Freiheit, Sicherstellung derselben gegen die Gefahr einer Unterdrückung oder Entziehung, drohe dieselbe von außen oder von Seiten des Subjekts selbst (Selbstverwirklichung der Freiheit). Darin eine dem Begriff der Freiheit widerstrebende Bevormundung von Seiten des Staates zu erblicken, ist nur möglich, wenn man weder der Freiheit, noch dem Staat eine sittliche Bestimmung zuschreibt."). Vgl. auch Burckhardt, Vertrag, S.5; Bydlinski, Privatautonomie, S. 127; Endemann, S.72ff.; Gysin, S.301; Habersack, AcP 189 (1989), 403, 411, der allerdings mißverständlich auch von einer „Kompetenzübertragung" spricht; F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 139 ff.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 328; Lorenz, S. 16; Pernice, GrünhutsZ 7 (1880), 465, 468f.; Raiser, FS DJTI, S. 101, 115; Säcker, Grundprobleme, S.272 (Fn. 85); Singer, S.6; Stobbe, Privatrecht I, S. 146 f.; Taupitz, AcP 192 (1992), 341,343; ders., Standesordnungen, S. 597 ff.; Thiele, Zustimmungen, S. 12; eher beiläufig: Flume, Allgemeiner Teil II, § 1, 2; Hille, S. 19 (zur Vertragsfreiheit); F. v. Hippel, Problem, S. 71; Larenz, Allgemeiner Teil, § 2 II e a.E.; Merz, Privatautonomie heute, 1970, S. 3; Zürcher, S. 8, 12 f. (zur Vertragsfreiheit); vgl. auch Canaris AcP 184(1984), 201, 218f. 37 Burckhardt, Methode, S. 192; ders., Vertrag, S.7; Reuter, Perpetuierung, S.35f.; Rittner, JZ 1990, 838, 846; ders., AcP 188 (1988), 101, 120ff.; Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 138; vgl. auch Adomeit, Gestaltungsrechte, S.21: „Privatautonomie ist identisch mit der Gesamtheit bestehender Gestaltungsrechte." 38 Zur Unterscheidung von natürlicher und rechtlicher Handlungsfähigkeit vgl. W. Roth, S. 162 ff. 39 Denninger, S. 72f., 234ff., 297ff.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 288; Jellinek, System, S.51; Luhmann, Grundrechte, S . 7 7 f „ 211 ff.; Schapp AcP 192 (1992), 355, 383; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 72. 40 Vgl. insoweit auch Säcker, Grundprobleme, S. 272 (Fn. 85)

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

Iherings die rechtlich geschützten Individualinteressen bezeichnet, 41 deren Bedeutung Helmut Coing zusammenfassend so beschrieben hat: „Der Gedanke des subjektiven Rechts hält die Auffassung lebendig, daß das Privatrecht und der Rechtsschutz, den es begründet, letztlich der Aufrechterhaltung der Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft dient, daß die individuelle Freiheit eine der grundlegenden Ideen ist, um deretwillen das Privatrecht existiert. Denn im Gedanken des subjektiven Rechts kommt zum Ausdruck, daß das Privatrecht das Recht der voneinander unabhängigen, nach ihren eigenen Entschlüssen handelnden Rechtsgenossen ist." 42 Der Wert der Privatautonomie, ihre ureigene „Faszinationskraft", liegt in der Transformationswirkung, die sie durch die „Bezugnahme auf einen vom Recht vorgefundenen, empirisch mit den Mitteln der Psychologie nachweisbaren anthropologischen Grundtatbestand" 43 entfaltet, der sich im Selbstverwirklichungsbedürfnis des Menschen findet. Die Aufrechterhaltung der Freiheit des einzelnen in der Sozietät ist jene Leitidee der Privatautonomie, mit der sie den „empirisch-realen, psychischen Willen des seit Anbeginn zu sich selbst Stellung nehmenden, des transzendierenden und sich in seiner Subjektivität erlebenden Menschen" 44 aufnimmt. Nach alledem bezeichnet der Begriff Privatautonomie in der Ableitung aus der vorrechtlichen Wesenheit des Individuums und der aus dem Selbstsetzungsbedürfnis geformten Wertidee der Selbstbestimmung einen Bereich individueller Gestaltungsvorrechte, den der Gesetzgeber mit den von ihm geschaffenen Einzelregelungen anerkennt.

II. Bedeutung der für den Gestaltungsplan

Privatautonomie der Rechtsordnung

1. Privatautonome und heteronome Rechtsordnungen Die aufgefundene Begriffsbestimmung ermöglicht es, privatautonome Rechtsordnungen, die dem Vorrang der Selbstbestimmung verpflichtet sind, von solchen heteronomen Rechtsordnungen zu unterscheiden, denen der Vorrang der Fremdsteuerung als Gestaltungsprinzip zugrunde liegt. 45 Dabei handelt es sich zugege41

Ihering, Geist III/l, § 61 (S. 351 ff.); zur Auseinandersetzung mit Windscheid, der das subjektive Recht allein als Willensmacht oder Willensherrschaft verstand, vgl. Raiser, JZ 1961,465; vgl. ferner Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil, Bd. I, § 72; Thon, S. 147 ff.; v. Tuhr, Allgemeiner Teil I, § 1 \ Standinger-Coing, BGB, 11. Aufl. 1954, Vorbem. 20 zu § 1. 42 Coing, in: Coing/Lawson/Grönfors, S. 7, 23; vgl. auch Bydlinski, System, S. 137. 43 Säcker, JurA 1971, 509, 522. 44 Säcker, JurA 1971, 509, 522. 45 Vgl. dazu bereits Ihering, Geist II/l, § 30 (S. 123 f.); aus neuerer Zeit etwa Bydlinski, AcP 194 (1994), 319, 324 ff.; ders., Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 41, 77; ders., FS Raisch, S. 7, 17 f.

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

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benermaßen zunächst um eine grobe Klassifizierung, die jedoch die weitere Untersuchung argumentativ begleiten soll. Unabhängig davon, welchem Gestaltungsprinzip der Gesetzgeber letztlich folgt, dem Autonomieprinzip oder dem Heteronomieprinzip, findet er zunächst den das Individuum prägenden existentiellen Willen zur Selbstverwirklichung vor, denn jede Gesellschafts- und Rechtsordnung basiert auf dem Zusammenschluß von Individuen. Durch die Wahl des Ordnungsprinzips zeigt der Gesetzgeber, welchen Wert die Gesellschaft der von ihr vorgefundenen Wesenheit des Individuums und seinem Selbstverwirklichungsbedürfnis beimißt: Von der einen Rechtsordnung wird es respektiert und zu relativer Blüte geführt; relativ, weil der Zusammenschluß von Individuen zu einer Gesellschaft notwendig der Selbstverwirklichung Grenzen zieht 46 und in diesem Sinne zu einer „Instrumentalisierung von Menschen durch Menschen als Erscheinungsform ihrer Freiheit führt". 47 Von der anderen Rechtsordnung erfährt es keine Pflege, sondern wird im Gegenteil zugunsten kollidierender staatsinterventionistischer Interessen zurückgedrängt, weitgehend eingeschränkt oder gar ignoriert. Die durch den Vorrang der Selbstbestimmung gekennzeichneten Rechtsordnungen gewähren demgemäß relativ umfassende Regelungsfreiräume, die nur im Ausnahmefall kodifikatorischen Beschränkungen unterliegen, während das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei einem Vorrang der Fremdsteuerung geradezu in sein Gegenteil verkehrt wird: Regelungsfreiräume bestehen nur, wenn sie vom Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumt werden. Die Einteilung der Rechtsordnungen in „privatautonome" und „heteronome" enthält eine Ordnung nach Strukturprinzipien und mithin die Anknüpfung an bestimmte Strukturmerkmale. 48 Rechtsordnungen, die von denselben, der Selbstbestimmung verpflichteten Strukturen beherrscht werden, können daher als privatautonome Rechtsordnungen bezeichnet werden, auch wenn der Umfang der Regelungsautonomie, so wie er sich in den von der Rechtsordnung dafür bereitgestellten Regelungsinstrumentarien präsentiert, durchaus von unterschiedlicher Qualität sein kann. In diesem Sinne beschreibt der Begriff der Privatautonomie eine der Rechtsordnung inhärente Regelungsmaxime, ohne zugleich auf einen bestimmten Bestand von Gestaltungsinstrumentarien oder einen bestimmten Umfang der Regelungsfreiräume hinzuweisen. Es handelt sich also nicht um einen feststehenden „geschlossenen" Rechtsbegriff, sondern um einen „infolge von Sprachlichkeit, Wirklichkeitsbezug und Werthaftigkeit .deutungsbedürftigen'" Typusbegriff 49 , der durch den Bestand der in einer Rechtsordnung vorhandenen Rechtsregeln konkretisiert wird. Die Offenheit des Typusbegriffs erlaubt eine

46 47 48 49

Henkel, S.258f. Suhr, EuGRZ 1984, 529, 531. Canaris, FS Lerche, S. 873, 874. Dazu Leenen, S. 107; Strache, S. 18ff.

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

Konkretisierung des Typus in der Gesamtschau mehr oder weniger charakteristischer Einzelmerkmale und ermöglicht damit neben der Festlegung eines Idealtypus die Beschreibung verschiedener vom Idealtypus abweichender Realtypen. Das Verständnis der Privatautonomie als Typusbegriff trägt dem Umstand Rechnung, daß die Idee der Selbstbestimmung sowohl in den verschiedenen staatlichen Gesamtrechtsordnungen als auch in einzelnen Rechtsgebieten dieser Rechtsordnungen unterschiedlich ausgeprägt ist. Dementsprechend ist auch das Instrumentarium zur Entfaltung einer individualgesteuerten Rechtsordnung je nach dem Typus des die Rechtsordnung prägenden Verständnisses individueller Existenz ausgestaltet. Der Umfang individueller Gestaltungsvorrechte und damit der Bestand an subjektiven Privatrechten spiegelt in seiner instrumentalen Ausrichtung auf die personale Selbstbestimmung als Rechts(-gestaltungs-)idee den Typus der in der Rechtsordnung verwirklichten Privatautonomie wider. Das ist zunächst anhand der im Grundgesetz anerkannten Reservate privatautonomer Gestaltungsmöglichkeiten zu erläutern.

2. Gestaltungsplan der Privatrechtsordnung unter dem Grundgesetz a. Privatautonomie

als Gegenstand der allgemeinen

Handlungsfreiheit

Der Gedanke der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch privatautonomes Handeln, der seinen Ursprung in der Wesenheit des Menschen und seinem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung findet, ist als allgemeine Grundaussage seinem Ursprung nach in dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit des Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt. 50 Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit enthält den Grundsatz der Handlungsfreiheit, die als solche unabdingbare Voraussetzung für eine Rechtsverwirklichung frei von Drittinteressen ist. Handlungsfreiheit ist dabei, wie ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 1 GG zeigt, im umfassenden Sinne als allgemeine Handlungsfreiheit zu verstehen. 51 Zwar ist die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG wie

50 BVerfGE 72, 155, 170; BVerfG NJW 1992, 2409, 2410; WM 1993, 2199, 2202; BAG DB 1994, 2190, 2191; Becker, DZWir 1994, 397, 400; Boemke, NZA 1993, 532; Brox, Erbrecht, Rn.24; Dieterich, RdA 1995,129,130; Paschke, S. 39 ff. - In einzelnen Landesverfassungen finden sich ähnliche Bestimmungen, vgl. Art. 1 Abs.l BadWürtt.Verf.; Art. 101 BayVerf.; Art. 10 BrandgbVerf; Art. 3 Abs. 1 BremVerf; Art. 2 Abs. 1 HessVerf; Art. 1 Abs. 1 RhPfVerf; Art. 2 S. 1 SaarlVerf; Art. 15 SachsVerf; Art. 5 Abs. 1 SachsAnhVerf; Art. 3 Abs. 2 ThürVerf. 51 So ausdrücklich Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (v. Mangoldt), S. 7; vgl. auch BVerfGE 6 , 3 2 , 3 6 , 3 8 ff.; 8,274,328; 12, 341, 347; 54, 143, 144; 74, 129, 151; 75, 108, 154f.; 80, 137, 152ff.; Degenhart, JuS 1990, 161, 162ff.; Erichsen, Jura 1987, 367, 368; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Art. 2, Rn. 3; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 2, Rn. 12ff.; Merten, JuS 1976, 345, 345f.; Säcker, Grundprobleme, 1969, S. 24; Starck, in: v. Mangoldt/Klein, Art. 2 Abs. 1, Rn. 6ff.

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

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auch in den Entwürfen zu dieser Vorschrift nicht ausdrücklich benannt; dem Sinn nach findet sie sich jedoch durchgängig in den entsprechenden Formulierungen des allgemeinen Freiheitsrechtes wieder. So heißt es in dem seinerzeit als Art. 2 Abs. 2 vom Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen formulierten Herrenchiemseer Entwurf: „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet." 52 Später verständigte sich der Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates, dem zunächst der Vorschlag unterbreitet worden war: „Er (der Mensch) darf tun und lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt oder die verfassungsmäßige Ordnung des Gemeinwesens nicht beeinträchtigt" 53 , in seiner 23. Sitzung am 19.11.1948 auf die geltende Fassung des Art. 2 Abs. 1 GG (Art.2 Abs. 2 d. Entw.) 54 . Dem schloß sich der Hauptausschuß in erster Lesung auf seiner 17. Sitzung am 3.12.1948 ohne weitere Diskussion an. 55 Der Änderungsvorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses: „Jedermann hat die Freiheit, zu tun und zu lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." (Fassung v. 13.12.1948) wurde als zu vulgär klingend abgelehnt (Zweite Lesung des Hauptausschusses in der 42. Sitzung v. 18.1.1949) 56 , so daß der vom Grundsatzausschuß favorisierte Text auch in der vierten und letzten Lesung des Hauptausschusses (57. Sitzung v. 5.5.1949) bestätigt wurde. 57 Er blieb, in der Absatzfolge nunmehr als Absatz 1, auch bei den Lesungen im Plenum (9. Sitzung v. 6.5.1949; 58 10. Sitzung v. 8.5.1949 59 ) unverändert. Die Nichterwähnung der allgemeinen Handlungsfreiheit im Verfassungstext ist insoweit offenbar auf rein sprachliche Gründe zurückzuführen. So wurde der Vorschlag, die freie „Handlungsfähigkeit" mehr herauszuheben, von dem Mitglied des Parlamentarisches Rates Lensing (CDU) unter Zustimmung des Grundsatzausschusses mit der Bemerkung abgelehnt: „Freie Entfaltung umfaßt alles." 60 Wenn es aber in der Absicht des Verfassunggebers lag, mit der Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit des Individuums zu statuieren, dann liegt darin zugleich auch eine Wertentscheidung für die Anerkennung des

52 Bericht des Unterausschusses I, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Bd. 2, S. 219; Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent, in: Der Parlamentarische Rat 1948-1949, aaO.,S. 580; vgl. auch Entstehungsgeschichte, JöR n.F. 1 (1951), S.54. 53 Entstehungsgeschichte, JöR n.F. 1 (1951), S. 55. 54 Entstehungsgeschichte, JöR n.F. 1 (1951), S. 58. 55 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S.205f.; Entstehungsgeschichte, JöR n.F. 1 (1951), S.59. 56 Vgl. v. Mangoldt, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 533. 57 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 744. 58 Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, S. 175. 59 Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, S. 226. 60 Vgl. Entstehungsgeschichte, JöR n.F. 1 (1951), S. 57.

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

Rechts auf individuelle Selbstbestimmung. Dessen Begrenzung durch die Schrankentrias der Rechte anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und des Sittengesetzes zeigt nicht nur die im Staatsverbund wurzelnde Sozialgebundenheit des Selbstbestimmungsrechts61, sondern weist zugleich auf den Inhalt der Gewährleistung hin. Die Schrankenbestimmung wäre nicht nachvollziehbar, wenn das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nur die Handlungsfreiheit auf einer „höheren Ebene des Kernbereichs des Persönlichen" (sog. Persönlichkeitskerntheorie) meinen würde.62 Gegen eine derartige Interpretation spricht bereits der Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG, der nicht nur die freie Entfaltung der „geistigsittlichen" Persönlichkeit erwähnt, sondern offenbar den Menschen in seiner „ganzheitlichen" Wesenheit vor Augen hat.63 Diese findet ihren Ausdruck außer in der gleichsam nach innen gekehrten geistig-sittlichen Existenz auch in dem außengerichteten Handeln des Individuums, das es ihm überhaupt erst ermöglicht, seine geistig-sittliche Existenz anderen Individuen mitzuteilen. Das Persönlichkeitsbild des Grundgesetzes anerkennt mithin das eingangs herausgearbeitete Selbstverwirklichungsbedürfnis des Individuums. Es handelt sich insoweit um eine notwendige Bedingung der Menschenwürde.64 Dem Menschen soll die Entfaltung dessen ermöglicht werden, „was in ihm angelegt ist".65 Dazu aber gehört neben der geistig-sittlichen Freiheit notwendig auch die Freiheit im wirtschaftlichen Bereich,66 also auf dem Sektor des Güter- und Dienstleistungsverkehrs. In der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts gesprochen: „(...) die Freiheit im wirtschaftlichen Bereich" 67 bzw. „die Handlungsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiet"68. Mit der allgemeinen Handlungsfreiheit ist dem einzelnen die Chance zur Verwirklichung selbstgesetzter (autonomer) Ziele gegeben.69 61 BVerfGE 4, 7, 15 f.; 8, 274, 329; 7, 198, 205; vgl. auch Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Art. 2 Abs. l , R n . 4. 62 BVerfGE 6, 32, 36.- Anders aber Peters, Recht, S.48, 74; ders., FS Laun, S.669, 673; ders., BayVBl. 1965, 37; OLG Koblenz, NStZ 1982, 338, 339; ähnlich, wenn auch im Ansatz weiter, Hesse, Grundzüge, Rn. 428: „Gewährleistung der engeren persönlichen, freilich nicht auf rein geistige und sittliche Entfaltung beschränkten Lebenssphäre", sowie Duttge, NJW 1997, 3353 ff., und Grimm in abweichender Meinung zu BVerfGE 80, 137 ff. (aaO., 164 ff.). 63 Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 2 Abs. 1, Rn. 11. 64 Alexy, Theorie, S. 321 ff. 65 Stein, Staatsrecht, § 20 II 4 a. 66 Belke, Geschäftsverweigerung, S. 17; Degenhart, JuS 1990, 161, 165; Helm, S.31; E. R. Huber, Verfassungsproblematik, S. 10; Kreutz, S. 118; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 2, Rn. 16; Papier, Hdb.VerfR., S.799, 832f. (Rn.75); Roscher, S.55; Starck, in: v.Mangoldt/Klein, Art. 2 Abs. 1, Rn.7, weist zu Recht auch auf systematische Bedenken gegen eine Verkürzung des Grundrechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG hin, die sich unweigerlich für die Definition des dann noch geschützten Freiheitsbereiches ergeben; dies räumt auch Hesse, Grundzüge, Rn.428, ein; vgl. auch BVerfGE 80, 137, 154, sowie Evers, AöR 90 (1965), 88, 93 ff. 67 BVerfGE 8, 274, 328; 12, 341, 347; 25, 371, 407; 65, 196, 210; 74, 129, 151 f.; 75, 108, 154; 78, 232, 244; BVerfG NJW 1984,476, 477. 68 BVerfGE 10,89,99; 29, 260,266f.; 50,290,366; 73,261,270; 75,108,154; 78,232,244. 69 Vgl. etwa BVerfGE 5, 85, 104; 9, 83, 88; 45, 187, 227; Klein, Grundrechte, S. 53; v. Man-

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

b. Objektive Dimension der verfassungsrechtlich

verbürgten

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Handlungsfreiheit

Das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit enthält nach dem Ergebnis der voranstehenden Überlegungen die verfassungsrechtliche Grundwertung zum Selbstbestimmungsrecht des Individuums. Insoweit erscheint es zu kurz gegriffen, in Art. 2 Abs. 1 GG lediglich ein bloßes Auffanggrundrecht zu sehen, das bei Zusammentreffen mit spezielleren Grundrechtsgewährleistungen zu weichen hat. Die Vorschrift enthält vielmehr neben ihrer Funktion als („subjektives") Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates zugleich auch einen durch Art. 1 Abs. 3 GG vermittelten Handlungsauftrag an den einfachen Gesetzgeber, aber auch an Jurisdiktion und Exekutive, 70 indem sie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen seinem Schutz unterstellt („objektive" Dimension 71 ). 72 Der Staat soll in das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen eigoldt/Klein/Starck, Art. 1, Rn. 7; W. Roth, S.69; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 14; Stern/ Sachs, Staatsrecht III/l, S. 641. 70 BVerfGE 7, 198, 204 f.; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 8, 24. 71 Vgl. BVerfGE 50,290,337: „Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie (die Grundrechte) in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben. Die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft (BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth), hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung (vgl. etwa für das Eigentum BVerfGE 24, 367 (389) - Hamburgisches Deichordnungsgesetz). Sie läßt sich damit nicht von dem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen, in dem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt."; vgl. auch Hillgruber, Schutz, S. 126ff.; ablehnend etwa Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1533f.; Denninger, JZ 1975, 545, 546f.; Forsthoff, FS C. Schmitt, S.35, 38ff.; Goerlich, S. 131 ff. (in kritischer Auseinandersetzung mit der auf die „allgemeine Werteordnung" abstellenden Methode der Rechtsgewinnung des Bundesverfassungsgerichts). 72 Allgemein dazu Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 12f.; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 225ff.; Hermes, S.63 (Fn. 134); Isensee, S.22; Jeand'Heur, JZ 1995, 161, 163; Klein, NJW 1989, 1633, 1636, 1639f.; Pietrzak, JuS 1994, 748ff.; Singer, JZ 1995, 1133, 1138f., 1141; Stern/Sachs, Staatsrecht III/l, S.931 f. mwN.; Lerche, FS Steindorff, S. 897, 903, sieht darin eine Ausprägung des „Denkens von den Grundrechten her, das die konkrete Gestalt der einfachen Rechtsordnung als Ausbildung und Aktualisierung der Grundrechte in den einzelnen Lebensbereichen zu begreifen sucht, weit über speziell sozialstaatliche Ziele hinaus, diese freilich miteinschließend." - Diese Dimension staatlichen Handelns wurde bereits frühzeitig erkannt; vgl. nur Rotteck, in: Staats-Lexikon, Bd. 5, S. 645: „Der Staat hat hiernach vor allem sich selbst der Freiheitsbeschränkung gegen seine Angehörigen zu enthalten. (...) Er gewähre also, oder vielmehr er anerkenne und taste also nicht an die von selbst, d.h. vermöge natürlichen Rechts den Bürgern gebührende Freiheit in allen Kreisen des rechtsgemäßen Seins und Wirkens, wie die Gedankenund Gewissensfreiheit, die Rede- und Preßfreiheit, die Gewerbe- und Handelsfreiheit, die Studien-, überhaupt die Lern- und Lehrfreiheit, die Auswanderungsfreiheit usw., und behandle die Bürger ja nicht nach dem despotischen Grundsatz: alles sei ihnen verboten, was man ihnen nicht ausdrücklich zu erlauben für gut fand, sondern er ehre die Freiheit (innerhalb der vom vernünftigen Rechtsgesetze gezeichneten Grenzen) als überall von selbst bestehende Regel, vorbehaltlich derblos ausnahmsweise aus triftigen Gründen zu statuierenden Beschränkungen. (...) Hat dergestalt der Staat sich der selbsteigenen Eingriffe in die Freiheitsrechte seiner Angehörigen enthalten, so bleibt ihm noch übrig, dieselben auch gegen diejenigen zu schirmen, womit sie in ihrer Wechselwirkung untereinander selbst bedroht sein mögen. (...) Er soll ferner durch weise Geset-

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

nerseits möglichst wenig eingreifen, andererseits die Bedingungen der Freiheit schaffen und sichern. 73 Die objektive (bzw. Auftrags- oder Schutz-) Dimension der Grundrechte steht also nicht beziehungslos neben der subjektiv-rechtlichen Gewährleistung, 74 sondern ist gewissermaßen deren Folge und dient deren Verstärkung. 75 Die Objektivierung ist im Lichte des Normprogramms des jeweiligen Grundrechts und damit anhand der darin aufscheinenden Werteordnung vorzunehmen, 76 so wie sie im unterverfassungsrechtlichen - möglicherweise noch unvollkommenen - Recht widergespiegelt wird. Keineswegs darf die Objektivierung gleichbedeutend sein mit einer Interpretation der Einzelgrundrechte nur aus sich selbst heraus bzw. anhand einer Gesamtschau der im Grundgesetz angelegten Werteordnung. Ein derartiges Vorgehen würde zum einen nicht nur den abwehrrechtlichen Gehalt der Grundrechte relativieren, 77 diese gleichsam aushöhlen, sondern zum anderen auch die Gefahr einer „weiteren Relativierung der bindenden Kraft einfacher, schlicht-parlamentarischer Gesetzgebung" 78 heraufbeschwören; ein Argument, das immer wieder gegen die objektivrechtliche Interpretation von Grundrechten vorgebracht wird. 79 Die Gefahr einer „Kolonisierung" 80 des Privatrechts ist freilich in der These des Bundesverfassungsgerichts 81 von der „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte in das Privatrecht angelegt, die auf eine in sich selbst ruhende Interpretation der Grundrechte und deren bloßen Vollzug durch das einfache Recht hindeutet. 82 In diesem Sinne kann allerdings von einer Verwirklichungstendenz der Grundrechte keine Rede sein. Diese erschließt sich mit hinreichender Klarheit vielmehr erst aus der Beiziehung einfachen Rechts. 83 Der Erkenntnisprozeß ist sozusagen ein gegenläufiger: Von ze und deren sorgsame Verwaltung der den Bürgern sonst noch und woher immer drohenden Freiheitsbedrückung steuern, namentlich dem Misbrauch der Privat- und Gesellschaftsgewalt im Hause oder in der Familie, in der Gemeinde, in der Kirche usw. (...)." 73 Jeand'Heur, JZ 1995, 161, 161 f.; vgl. auch BVerfGE 81, 242, 256 - Handelsvertreter. 74 So im Ansatz noch BVerfGE 6, 5 5 , 7 2 ff. - Ehegattenbesteuerung. 75 BVerfGE 50, 290, 337 - Mitbestimmung; Alexy, Der Staat 1990, 49, 61 \Brohm, JZ 1994, 213, 217; Hillgruber, Schutz, S. 130; Jeand'Heur, JZ 1995, 161, 163; vgl. auch Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 18 f. 76 Vgl. BVerfGE 6, 32, 40f.; 6, 55, 72 - Ehegattenbesteuerung; 6, 386, 388; 7, 198, 205 Lüth; 10,59, 81; 12,205,259f.; 21,362, 371 f.; 23,127,134; 25,256,263; 30,173,188; 33,303, 330 - Numerus clausus; 35, 79, 114 - Hochschule; 36, 321, 330f.; 37, 57, 65; 39, 1, 41 Schwangerschaftsabbruch I; 46, 160, 164 - Schleyer; 49, 89, 141 f. - Kalkar; 53, 30, 57 - Mülheim-Kärlich; 57, 295, 320; 88, 203, 254 ff. - Schwangerschaftsabbruch II; vgl. auch Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1, 3 ff.; Jarass, AöR 110 (1985), S. 363, 369 ff.; Jeand'Heur, JZ 1995, 161, 165; Schapp, JZ 1998, 913 ff. 77 Jeand'Heur, JZ 1995, 161, 162. 78 Hesse/Kauffmann, JZ 1995, 219, 222. 79 Vgl. etwa Böckenförde, NJW 1974,1529, 1534; Denninger, JZ 1975, 545, 546 f.; Goerlich, S. 131 ff. 80 So die treffende Formulierung von Oeter, AöR 119 (1994), 529, 532. 81 Vgl. nur BVerfGE 84, 192, 194 f. (= NJW 1991, 2411) - Entmündigung, std. Rspr. 82 Zu Recht kritisch Lerche, FS Odersky, S. 215, 220 ff., 227. 83 Lerche, FS Odersky, S.215, 222; vgl. auch Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 210f.

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

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der Verfassung zum einfachen Recht und vom einfachen Recht zurück zur Verfassung. Nur in diesem Sinne sind die Grundrechte allseitig wirkende Prinzipiennormen mit Verwirklichungstendenz.84 Dem einfachen Gesetzgeber obliegt es, diese Werteordnung aus- bzw. aufzufüllen. 85 Für das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit bedeutet das, daß der für sich genommen allgemeinen und noch wenig konkreten Aussage des Art. 2 Abs. 1 GG Geltung zu verschaffen ist.86 Geltung verschaffen in diesem Sinne heißt, das nebeneinander stehende Selbstverwirklichungsbedürfnis der einzelnen Individuen in der Weise auszugleichen, daß das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Selbstbestimmungsprinzip für den einzelnen zum Tragen kommt (Verwirklichungsgebot). Im Sinne Kants ist ein rechtlicher Zustand zu schaffen, daß „die Willkür des einzelnen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." 87 Wenn nun Art. 2 Abs. 1 GG das Selbstbestimmungsprinzip reflektiert, so bedeutet das, „daß Selbstbestimmung insoweit von staatlicher Gewalt unabhängig sein soll, als diese zur Wahrung der Selbstbestimmung anderer nicht erforderlich ist. Anders gewendet: daß staatliche Gewalt insoweit zulässig ist, als sie zur Wahrung der Selbstbestimmung aller erforderlich ist."88 Claus-Wilhelm Canaris&9 spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem an die staatliche Gewalt gerichteten Verbot des Untermaßes.90 Es geht, soweit die Legislative betroffen ist, um die Umsetzung der objektiven Dimension der Grundrechte in einfachrechtliche Normen, die es dem einzelnen Rechtssubjekt erlaubt, von den verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheitsrechten Gebrauch zu machen. Diesbezüglich steht dem Gesetzgeber angesichts gegenläufiger Interessen gleichrangiger Grundrechtsträger regelmäßig ein Gestaltungsspielraum zu,91 so daß der objektiven Dimension der Freiheitsrechte 84

Allgemein dazu Penski, JZ 1989, 105, 106ff.; Rüfher, GS Martens, S. 25, 29. Säcker, ARSP 1972, 215, 229. Höfling, S.40; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 2, Rn. 11, bezeichnet Art. 2 Abs. 1 GG in diesem Zusammenhang als „allgemeine Orientierungsnorm für staatliches Handeln". - Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß v. 19.10.1993 - 1 BvR 567, 1 0 4 4 / 8 9 (=BVerfGE 89, 214, 231 = NJW 1994, 36, 38 - Bürgschaft I) zur gerichtlichen Inhaltskontrolle von Bürgschaftsverträgen bei Vermögenslosigkeit des Bürgen ausgeführt: „Er (der Gesetzgeber) muß der Selbstbestimmung des einzelnen im Rechtsleben einen angemessenen Betätigungsraum eröffnen. Nach ihrem Regelungsgegenstand ist die Privatautonomie notwendigerweise auf staatliche Durchsetzung angewiesen. Ihre Gewährleistung denkt die justitielle Realisierung gleichsam mit und begründet die Pflicht des Gesetzgebers, rechtsgeschäftliche Gestaltungsmittel zur Verfügung zu stellen, die als rechtsverbindlich zu behandeln sind und auch im Streitfall durchsetzbare Rechtspositionen begründen." 85 86

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Kant, Metaphysik der Sitten, Bd. IV, S. 337. Penski, JZ 1989, 105, 112; vgl. auch BVerfGE 81, 242, 256 - Handelsvertreter. 89 JuS 1989, 161, 163; ders., AcP 184 (1984), 201, 228. 90 Vgl. auch Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 13; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 395 („Kern-/Minimalschutz"). 91 Das Bundesverfassungsgericht hat dazu festgestellt, die Erwägungen des Gesetzgebers 88

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

zwar kein subjektives Recht des Individuums auf eine ganz bestimmte Maßnahme entspricht.92 Immerhin besagt die objektive Dimension der Grundrechte jedoch, daß dem einzelnen Rechtssubjekt ein Mindestmaß an Entfaltungsmöglichkeiten gegeben sein muß, das von der Legislative nicht unterschritten werden darf. Für die vertragsrechtliche Privatautonomie ist damit die Bereitstellung eines Instrumentariums gefordert, das dem einzelnen zwar nicht die Garantie, wohl aber die Möglichkeit der individuellen Interessenverfolgung bietet. Nicht zu folgen ist in diesem Punkt Robert Alexy93, der die objektive Dimension der Grundrechte nicht allein mit einer Verwirklichungstendenz verbindet, sondern den in den Freiheitsrechten abgebildeten Rechtsprinzipien gleichsam eine Optimierungstendenz zuspricht. 94 Auf das Selbstbestimmungsprinzip gewendet, bedeutet das bei Zusammentreffen zweier Individuen, daß durch Rechtsregeln Freiheitsräume in materiell gleichmäßiger Weise zuzuteilen wären. Das widerspricht dem aus dem Selbstbestimmungsgrundsatz folgenden Gestaltungsvorrecht der Beteiligten. Hier muß auch die Kritik an der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Handelsvertreter- und Bürgschaftsrecht ansetzen, 95 wenn dort davon die Rede ist, die kollidierenden Grundrechtspositionen seien in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, „daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden." 96 Das kann im weiteren Kontext der Entscheidungsgründe nur im Sinne der Gewährleistung einer wie auch immer gearteten materiellen Vertragsgerechtigkeit verstanden werden. 97 Soweit dem Selbstbestimmungsprinzip ein Verwirklichungsgebot innewohnt, geht es aber nur darum, Selbstbestimmung überhaupt (in irgendeiner Weise) zu ermöglichen, nicht aber darum, Selbstbestimmung nur in bestimmter materieller Form zuzulassen. Letzteres wäre ein Widerspruch in sich. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich daher - wohl zur Absicherung seines Ergebnisses - nicht allein auf das in der Privatautonomie ausgeformte Selbstbestimmungsprinzip, sondern zugleich auch auf das der Gerechtigkeitsidee entspringende Sozialstaatsgebot. 98 Die Heranziehung gegenläufiger Prinzipien zur Einschränkung der Vertragsfreiheit, wie sie das Bundesverfassungs-

dürften nicht „so offensichtlich fehlsam" sein, „daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können."; vgl. nur BVerfGE 25, 1, 12, 17; 30, 292, 317; dazu auch Schapp, JZ 1998, 913, 918. 92 Vgl. BVerfGE 39, 1, 44, 46f.; 46, 160, 164f.; Badura, FS Rittner, S. 1, 2; Brohm, JZ 1994, 213, 218; Canaris, AP Nr. 65 zu Art. 12 GG (Bl. 458 R); ders., JuS 1989, 161, 163 f.; ders., AcP 184 (1984), 201, 227; Lerche, FS Steindorff, S. 897, 904. 93 Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.; ders., Der Staat 29 (1990), 49, 54f. 94 So im Ergebnis auch Dieterich, RdA 1995, 129, 130f.; Erichsen, Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rn. 58 (S. 1210); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 352. 95 Vgl. auch Fastrich, RdA 1997, 65,69; Singer, S. 26f. 96 Vgl. nur BVerfGE 89, 214, 232 = NJW 1994, 36, 38 - Bürgschaft I. 97 Vgl. BVerfGE 89, 214, 232 ff. = NJW 1994, 36, 38 f. - Bürgschaft I. 98 BVerfGE 89, 214, 232 = NJW 1994, 36, 38 - Bürgschaft I.

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gericht unter Rückgriff auf das Sozialstaatsgebot vorzunehmen scheint, bedarf jedoch der Legitimation. Die Legitimation für ein derartiges Vorgehen kann nur aus einer Verankerung der Gerechtigkeitsidee im Recht selbst folgen, aus der sich für den Einzelfall eine Überlagerung des privatautonomen Gestaltungsvorrechts ergibt. Für die staatliche - rechtsanwendende - Gewalt folgt daraus, daß die Vernachlässigung des in Art. 2 Abs. 1 GG angelegten und einfachgesetzlich reflektierten Verwirklichungsgebotes zugunsten eines anderen Rechtsprinzips im einzelnen zu begründen i s t . " Mit Alexy100 läßt sich dafür folgendes allgemeines Abwägungsgebot formulieren: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein." 1 0 1 Dafür müssen sich im einzelnen wiederum Anhaltspunkte aus dem Recht selbst ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat diese in der zitierten Bürgen-Rechtsprechung in den §§ 138 und 242 B G B erblickt und darauf das Erfordernis einer vertraglichen Inhaltskontrolle bei struktureller Störung der Vertragsparität gestützt. 1 0 2 Die beschriebene Verwirklichungstendenz existiert in gleicher Weise für jene in unmittelbarem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG stehenden grundrechtlichen Gewährleistungen, die den Grundsatz der allgemeinen Handlungsfreiheit flankieren, dessen Inhalt konkretisieren und effektuieren und sich zu diesem selbst in einem Spezialitätsverhältnis befinden. 1 0 3 Dabei handelt es sich im vermögensrechtlichen Bereich um die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) 1 0 4 , ferner in wirtschaftlicher Hinsicht um die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) 1 0 5 und die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG). Ein Bedürfnis für die Anerkennung eines speziellen unbenannten Grundrechts der „allgemeinen Wirtschaftsfreiheit", „das sich nicht in der Addition oder Einzelausprägung der dekliniert gewährleisteten wirtschaftserheblichen Einzelgrundrechte (des Eigentums, der Berufsfreiheit, Vertragsfreiheit und der Freiheit von Vergemeinschaftung) erschöpft" 1 0 6 , ist darüber hinaus nicht erkennbar. „Wirtschaftsfreiheit" und „Wettbewerbsfreiheit" lassen sich letzthin zurückführen auf den Gedanken der Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten, wie

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Brohm, JZ 1994, 213, 216; Hillgruber, Schutz, S. 116; Höfling, S.40. Theorie der Grundrechte, S. 146; ders., Der Staat 29 (1990), S.49, 55; zustimmend Höfling, S.40; Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 126. 101 Ähnlich auch BVerfGE 23, 98, 106; 34, 269, 286 f. 102 BVerfGE 89, 214, 232 ff. = NJW 1994, 36, 39 - Bürgschaft I; dazu noch unten § 3 III 3 b bb) (2) (c). 103 BVerfGE 14, 288, 293; Degenhart, JuS 1990, 161, 161 f.; Merten, JuS 1976, 345, 347; W. Roth, S. 70. 104 BVerfGE 24, 367, 389. 105 BVerfGE 30, 292, 334; 54, 301, 313; BVerfG DVB1. 1993, 492, 493; Hufen, NJW 1994, 2913,2914. 106 So Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 722; ders., VVDStRL 25 (1967), 257, 302; ders., Preiskontrolle, S.79ff.; vgl. auchFikentscher, Schuldrecht, §21 II (Rn.83); Koch, S.21. 100

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§ 2 Theorie der

Privatautonomie

er in den die Handlungsfreiheit garantierenden Freiheitsrechten seine rechtliche Anerkennung und Verkörperung erfahren hat. 107 Mit der verfassungsrechtlich abgesicherten Wertentscheidung für eine Garantie des Prinzips allgemeiner Handlungsfreiheit im geistig-sittlichen wie auch im wirtschaftlichen Bereich hat der Verfassunggeber dem einfachen Gesetzgeber nicht nur den Auftrag zur Ausfüllung des Selbstbestimmungsprinzips durch einfachgesetzliche Normen erteilt, sondern die staatliche Gewalt insgesamt zugleich dem Gedanken der Privatautonomie verpflichtet. 1 0 8 Der Wert des Art. 2 Abs. 1 GG liegt also in der „grundsätzlichen Anerkennung individueller Freiheit schlechthin" 1 0 9 und damit in der Legitimationsbedürftigkeit etwaiger Freiheitsbeschränkungen. Nicht die Indienstnahme des Individuums für überindividuelle Ziele, sondern die Selbstentfaltung des Einzelnen entspricht dem Geist des Grundgesetzes. 1 1 0 Privatautonomie im so verstandenen Sinne bedeutet für das Individuum Vertragsfreiheit, Testierfreiheit, Eigentumsfreiheit und Assoziationsfreiheit. 111 Damit sind diejenigen Ausübungsfreiheiten bezeichnet, die die Privatautonomie ihrem Gegenstand nach ausfüllen.

3. Gestaltungsplan der Privatrechtsordnung und Wirtschaftsverfassung a. Wirtschaftsverfassung

des

Grundgesetzes

Die Wirtschaftsverfassung 1 1 2 steht in unmittelbarem sachlichem Zusammenhang zum Gestaltungsplan für die Privatrechtsordnung. Das ist ohne weiteres verständlich, da sich die wirtschaftliche Betätigung in einer modernen Industrie- und 107

Zur Wettbewerbsfreiheit W. Geiger, Schranken, S. 16ff.; Scholz, ZHR 132 (1969), 97, 105 ff.; Canaris, FS Lerche, S. 873, 880; vgl. auch Belke, Geschäftsverweigerung, S. 18 f. 108 Badura, FS Rittner, S. 1, 2f.; Dreher, FS Rittner, S. 93, 115; Flume, Allgemeiner Teil II, § 1 10 a (S. 18); Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, S. 35 ff.; Raiser, in: Verhandlungen d. 46. DJT (1966), Bd. II, B 19; Reichold, in: Jahrbuch 1992, S. 63, 81 („Vorrang des Privatrechts"); Rittner, FS Müller-Freienfels, S.509, 514f.; ders., ZHR 152 (1988), 318, 326; zur freiheitssichernden Funktion des Privatrechts im Gefüge der Gesamtrechtsordnung vgl. auch Bydlinski, AcP 194 (1994), 319, 343 ff.: krit. Manssen, S. 158f. 109 Hillgruber, Schutz, S. 127. 110 Richardi, NZA 1992, 769, 774, verdient daher Zustimmung, wenn er anläßlich der auf dem 59. DJT 1992 geführten Diskussion zur Kodifikation des Arbeitsvertragsrechts ausführt: „Dem grundrechtlich gewährleisteten Freiheitsprinzip entspricht mehr, einen sachgerechten Ausgleich mit den Mitteln des Vertragsrechts zu gewährleisten, als einen Schutz durch Reglementierung nach dem Prinzip der Fremdbestimmung zu verwirklichen." 111 Vgl. Scherrer, S. 53 (Fn.4); Staudinger-Dilcher, Einl. zu §§ 104-185, Rn. 5. 112 Der Begriff der Wirtschaftsverfassung wird im folgenden ieS als Gesamtheit der wirtschaftsordnenden Normen mit Verfassungsrang aufgefaßt (vgl. dazu Zacher, FS Böhm, S.63, 73 ff., 77f. mwN.). Unter der „Wirtschaftsordnung" werden dagegen alle das Gebiet der Wirtschaft ordnenden Tatsachen verstanden (anders etwa Willgerodt, FS Mestmäcker, S. 329, 336f.; Raiser, FS J. v. Gierke, S. 181, 192 f., die den Begriff Wirtschaftsverfassung iSd. hier verwandten

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Dienstleistungsgesellschaft nicht in Form von Realakten vollzieht, sondern auf vertragsrechtlicher Basis erfolgt. Auch die Wirtschaftsverfassung läßt daher erkennen, welchen Stellenwert privatautonome Rechtsgestaltung in einer staatlich verfaßten Sozietät hat. In einer marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsverfassung, bei der die Ziele des wirtschaftlichen Handelns vornehmlich von den Marktbeteiligten formuliert werden, ist eher mit einer Privatrechtsordnung vom privatautonomen Typus zu rechnen, während Wirtschaftsverfassungen mit staatsdirigistischen Lenkungselementen eher darauf angewiesen sind, mit heteronom formulierten Zielvorgaben in konkrete Austauschbeziehungen hineinzuwirken. Das Grundgesetz verpflichtet den Staat allerdings nicht explizit auf eine ganz bestimmte Wirtschaftsordnung. Eine ausdrückliche programmatische Ausrichtung auf bestimmte wirtschaftspolitische Ziele ist dem Grundgesetz im Gegensatz zu Art. 151 WRV und zu Regelungen in einigen Landesverfassungen 1 1 3 fremd. 1 1 4 Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat, in dem sich die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Grundanschauungen von CDU und SPD gegenseitig blockierten, und der Vorstellung, mit dem Grundgesetz nur eine Übergangsverfassung zu schaffen, wurde die Regelung der Wirtschafts- und Sozialordnung seinerzeit zunächst hintangestellt. 115 Daher kann auch der vereinzelt gebliebenen Auffassung von Hans Carl Nipperdey116 nicht beigetreten werden, der im Grundgesetz die soziale Marktwirtschaft verfassungsrechtlich verankert sah. 117 Die Diskussion darüber ist in jüngerer Zeit durch den Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18.5.1990 118 (StaatsV) erneut beflügelt worden. 1 1 9 Sowohl in der Präambel zu diesem Vertragswerk als auch in Art. 1 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 2 und Art. 11 Abs. 1 S. 1 StaatsV bekunden die vertragschließenden Parteien ihren Willen, die Wirtschafts- und Sozialunion auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft zu gestalten. Dazu enthält das Gemein-

Begriffs „Wirtschaftsordnung" verstehen.). Die Terminologie ist insgesamt nicht einheitlich; vgl. Basedow, Wirtschaftsverfassung, S. 6 ff.; Rebe, S. 28 ff. 113 Art. 151 Abs. 1, 152 BayVerf.; Art.39 BremVerf; Art.27, 38 Abs. 1 HessVerf; Art. 17 Abs. 1 MecklVVerf.; Art. 24, 26-28 NRWVerf; Art. 51 RheinlPfVerf; Art.43 SaarlVerf; Art. 38 ThürVerf; zu den Verfassungsberatungen in der amerikanischen und britischen Zone vgl. V. Schockenhoff, S.24 ff. 114 Papier, Hdb. VerfR., S.799, 806 (Rn. 16); Schmidt-Preuß, Zentralfragen, S. 101. 115 Dazu V. Schockenhoff, S. 133 ff.; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S.54. 116 Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S.25, 64; ähnlich Fikentscher, Schuldrecht, §21 I (Rn.82): „Verankerung der sozialen Marktwirtschaft (...) in einem weitverstandenen Sinn". 117 Vgl. dazu auch Leisner, Sozialbindung, S. 220; Kriele, ZRP 1974, 105, 107 f.; Canaris, FS Lerche, S. 873, 879. 118 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik v. 18.5.1990, BGBl. IIS. 537. 119 Zur Diskussion in den 60er und 70er Jahren vgl. nur Tettinger, BB 1977, 1617 ff.

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

same Protokoll über Leitsätze, das gem. Art. 4 Abs. 1 S. 1 Bestandteil des Staatsvertrages geworden ist, die bei der Auslegung und Anwendung fortbestehenden DDR-Rechts zu beachtenden marktwirtschaftlichen Ordnungsmaximen. Damit hat der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft erstmals Eingang in eine Kodifikation des Wirtschaftsrechts gefunden. 120 Daraus auf eine wirtschaftsverfassungsrechtliche Staatszielbestimmung der Sozialen Marktwirtschaft zu schließen, 121 ist jedoch angesichts der Normqualität des Staatsvertrages verfehlt. Wenn dieser auch im Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Bundesrat mit verfassungsändernden Mehrheiten beschlossen worden ist und daher mit besonderer gesetzgeberischer Legitimität ausgestattet ist, 122 so ändert dies nichts daran, daß es sich der Normhierarchie nach nur um einfaches Recht handelt. 123 Eine ausdrückliche Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG) hat nicht stattgefunden wie auch völkerrechtlich schon wegen Untergangs des einen Vertragspartners, der DDR, im Wege der Sukzession weitergehende Bindungen für die Bundesrepublik Deutschland nicht bestehen. 124 Bei dem Staatsvertrag handelt es sich vielmehr nur um singuläres Übergangsrecht, das auf die besondere Situation des einigungsbedingten Transformationsprozesses in der DDR, nämlich der Überführung einer autokratisch strukturierten Zentralverwaltungswirtschaft in eine freiheitlich geprägte marktwirtschaftliche Ordnung, zugeschnitten war. 125 Die programmatische Bedeutung des Staatsvertrages für die Gesetzgebungstätigkeit hat sich mit dem Vollzug der deutschen Einheit erschöpft, da dessen Regelungen durch das Inkrafttreten von Bundesrecht im Beitrittsgebiet entweder gegenstandslos geworden sind oder eine Überlagerung durch die Bestimmungen des Einigungsvertrages erfahren haben (vgl. Art. 40 Abs. 1 EVertr.). Schon dieser Übergangscharakter steht einer Inkorporierung des einfachgesetzlichen Staatsvertrages in das Grundgesetz im Wege verfassungsauthentischer Interpretation entgegen. 126 Allein für die Auslegung des auf seiner Grundlage geschaffenen Übergangsrechts entfaltet der Staatsvertrag weiterhin Wirksamkeit. Keinesfalls aber enthält er eine fortwirkende und den Gesetzgeber bindende wirtschaftsverfassungsrechtliche Festlegung auf die Ziele der Sozialen Marktwirtschaft. 120 In § 1 Abs.2 StabG ist dagegen allgemein nur von einer „marktwirtschaftlichen Ordnung" die Rede. 121 So Horn, Zivil- und Wirtschaftsrecht, S.35 (Rn. 39); undeutlich v. Schlabrendorjf/ Michaelis de Vasconcellos, DtZ 1990, 142, 142 (mitFn.3). 122 Darauf weist zutreffend Schmidt-Preuß, DVB1. 1993, 236, 238, hin. 123 Vgl. auch Wank, RdA 1991, 1, 2. 124 Schmidt-Preuß, DVB1. 1993, 236, 238. 125 Schmidt-Bleibtreu, in: Verträge, Bd. 1, S.47, hat den Staatsvertrag in diesem Sinne prägnant ein „solides Kursbuch" genannt. 126 Ebenso Säcker/Oetker, Grundlagen, 1991, S. 2 (Fn.2); Schmidt-Preuß, DVB1. 1993, 236, 238, mit Schwerpunkt auf dem Aspekt der Normhierarchie; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S.55; Tettinger, BB 1992, 2, 3; ders., in: Deutsche Wiedervereinigung, Bd. II/l, S. 149,151; a.A. Horn, Zivil- und Wirtschaftsrecht, S. 35 ff. (Rn. 35 ff.); Kissel, NZA 1990, 545, 549 (im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG).

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Richtig ist allerdings, daß mit der verfassungsrechtlichen Verankerung des allgemeinen Selbstbestimmungsrechts in Art. 2 Abs. 1 GG, das durch Art. 9 , 1 2 und 14 GG effektuiert wird, zugleich die Wertentscheidung für eine freiheitlich verfaßte Wirtschaftsordnung verbunden ist. 127 Insoweit erscheint es zumindest mißverständlich, wenn im Anschluß an Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts 128 davon gesprochen wird, das Grundgesetz sei wirtschaftspolitisch „neutral" oder „offen". 129 Das Bundesverfassungsgericht hat in der InvestitionshilfeEntscheidung nämlich auch ausgesprochen, daß der Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik nur verfolgen könne, „sofern er dabei das Grundgesetz beachtet". 130 Mit der Entscheidung des Grundgesetzes für die „Handlungsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiet" ist jedenfalls eine Wirtschaftsordnung nicht vereinbar, die auf dem Vorrang der Fremdsteuerung, also allfälligen Eingriffen des Staates in die private Wirtschaftstätigkeit beruht. 131 Das Grundgesetz ist im Gegenteil dem Primat der Einzelsteuerung verpflichtet. Es präferiert damit nicht eine ganz bestimmte Wirtschaftsordnung, sondern den Typus der freiheitlich verfaßten, auf den Wettbewerb der Einzel Subjekte aufgebauten Wirtschaftsordnung. 132 Mit dieser ist das Modell der Marktwirtschaft nicht zwingend deckungsgleich, 133 aber 127 Badura, AöR 92 (1967), 382, 392ff.; Everling, FS Mestmäcker, S.365, 366f.; Karpen, S. 41 f.; Lutter, BB 1975, 613, 614; Schmidt-Preuß, DVB1. 1993, 236, 239 ff.; Zacher, FS Böhm, S.63, 89, 97 ff.; im Ergebnis wohl auch Breuer, Hdb. StR. III, § 147, Rn. 19; E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, S.30f., der angesichts sozialrechtlicher Freiheitsbindungen von einer „Entscheidung für eine gemischte Wirtschaftsverfassung" spricht; ablehnend offenbar Leisner, BB 1975, 1,3. 128 BVerfGE 4, 7, 17; 7, 377,400; 14,19, 23; 14,263, 275; 30, 292, 315; 50, 290, 338; zuvor bereits Krüger, DVB1. 1951, 361, 363. 129 Vgl. insoweit Arndt, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht, S.745 (Rn.39ff.); Badura, AöR 92 (1967), S.382, 392f.; Ehlers, JZ 1990, 1089, 1089; Ehmer, S.52f.; Reuter, MünchKomm BGB, Vor §21, Rn.54; Schiaich, Neutralität, S. 107ff.; Scholz, BB 1993, 1954, 1959; Scholz-Hoppe, FS Pfeiffer, S.785, 792; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S.52ff.; im Anschluß an das Mitbestimmungsurteil Keßler, in: Grundrechte, S. 205 ff.; Reich, in: Grundgesetz und sozialer Wandel, S. 51, 54 ff. 130 BVerfGE 4 , 7 , 18. 131 Canaris, FS Lerche, S.873, 878f.; Kriele, ZRP 1974, 105, 108f.; Papier, Hdb. VerfR., S.799, 810 (Rn.25); R. Schmidt, Hdb. StR III, §83 Rn.20; R. Schmidt/Bauer/Mögele, S.74; Scholz, Mitbestimmung, S.43; Schwark, DZWir 1997, 89, 91; a.A. K Schockenhoff, S. 254ff. 132 Ebenso Schmidt-Preuß, DVB1. 1993, 236, 241; vgl. auch Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20, Abschn. VIII, Rn. 60; Rupp, S. 14; Scholz, Entflechtung, S. 91 ff.; ders., Paritätische Mitbestimmung, S.42f., 37ff.; ders., FS Rittner, S.629, 639f.; ders., Hdb. StR VI, S. 1127f.; Stern, ORDO XXX (1979), 257, 263f.; Stern/Sachs, Staatsrecht III/ 1, S. 883f.; mißverständlich daher BVerfGE 50, 290, 336f.: „Das Grundgesetz (...) enthält keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung. Anders als die Weimarer Reichsverfassung (Art. 151 ff.) normiert es auch nicht konkrete verfassungsrechtliche Grundsätze der Gestaltung des Wirtschaftslebens."; ähnlich bereits zuvor Scheuner, VVDStRL 11 (1954), S. 1, 19 ff. 133 Scholz, Mitbestimmung, S.43: „System der freiheitlich-dezentralen Wirtschaftsordnung".

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

durchaus vereinbar, 134 da es sich um ein Modell der Einzelsteuerung über ein System interdependenter Märkte handelt. 1 3 5 Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren gewährleistet, daß jedermann eigene Ziele verfolgen und zugleich auch gesamtwirtschaftlich sinnvolle, mit Entscheidungen anderer koordinierte Entscheidungen treffen kann. In den autonomen Entscheidungen des einzelnen Wirtschaftssubjekts entfalten sich dabei sowohl die Steuerungs- und Ordnungsfunktion des Wettbewerbs, die auf Konsumentensouveränität, eine optimale Faktorallokation und Anpassungsflexibilität abzielt, wie auch die dynamischen Funktionen des Wettbewerbs, als deren wichtigste die Verteilungsfunktion und die Antriebs- oder Leistungsfunktion zu nennen sind. 136 In dieser Hinsicht läßt sich daher sehr wohl eine Interdependenz zwischen Privatrechtsordnung und Wirtschaftsverfassung feststellen. 137 Beide Regelungskreise gruppieren sich um das Individuum als autonomen Entscheidungsträger, wobei der den Bereich der Privatautonomie konkretisierende Normbestand gleichsam die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für die Freiheit des Einzelnen auch auf wirtschaftlichem Gebiet widerspiegelt. Es handelt sich nicht um eine Systemgarantie im wirtschaftsverfassungsrechtlichen Sinne, sondern um Ausübungs-, gleichsam Funktionsgewährleistungen. 1 3 8 Der Gesetzgeber hat die „Freiheit des einzelnen Bürgers auch bei der Ordnung der Wirtschaft zu respektieren". 1 3 9 Es läßt sich daher sagen, daß die dem privatautonomen Typus zuzurechnenden antiautoritären Rechtsordnungen wirtschaftsverfassungsrechtlich das Ordnungsmodell der (Sozialen) Marktwirtschaft zulassen, es aber nicht zwingend gebieten. b. Wirtschaftsverfassung

der Europäischen

Union

Der für das Grundgesetz geltende Befund wird durch einen Blick auf die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union bestätigt, die über Art. 23, 24 Abs. 1 GG in das Bundesrecht einstrahlt, soweit Sachverhalte mit Gemeinschaftsbezug berührt sind. Wie das Grundgesetz so enthielten auch die Römischen Verträge 134 BVerfGE 4, 7, 18; Behlke, S. 208; Karpen, S. 43; in diesem Sinne wohl auch Fikentscher, Wirtschaftsrecht II, S. 39 f. 135 Vgl. dazu nur Willgerodt, FS Mestmäcker, S. 329 ff. 136 Dazu I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 28 f. 137 Assmann, S. 164ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 164; Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, S. 51; ders., Ordnung, S. 60 f. (anders noch ders., Wettbewerb und Monopolkampf, S. 154ff.); Canaris, FS Lerche, S.873, 875f.; Eucken, Grundlagen, S.55f.; Hönn, Kompensation, S. 109; Hoppmann, ORDO XXXXI (1990), 3, 13 ff.; Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 24; Raiser, FS J. v. Gierke, S. 181, 193, 195; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 89 ff.; Zacher, FS Böhm, S. 63,79; Zöllner, luS 1988,329,330; a.A. Ballerstedt, in: Die Grundrechte III/l, S.l, 46ff. 138 R. Schmidt, Hdb. StR III, §83 Rn.21, 25; Scholz, in: Staatssektor, S. 113, 125; vgl. auch Vogel, Hdb. StR I, § 27 Rn. 71. 139 BVerfGE 50, 290, 337; zustimmend K. Vogel, Hdb. StR I, § 27 Rn. 71.

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

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über die Gründung von EWG, EGKS und EAG keine explizite Festlegung auf eine bestimmte Wirtschaftsverfassung. 140 Gleichwohl zeigen die schon in der Ursprungsfassung auf die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes (Art. 2 EWGV/EG-V) zugeschnittenen Grundfreiheiten des EWG-Vertrages, daß die Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft von Anfang an nicht an dem Bild einer Zentralverwaltungswirtschaft ausgerichtet sein sollte, sondern auf die Einzelsteuerung des Marktprozesses durch die Marktteilnehmer im Sinne einer Ordnung marktwirtschaftlicher Prägung vertraute. 141 Mit den Grundfreiheiten des freien Warenverkehrs (Art. 23 ff. EG-V), dem Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und aller Maßnahmen gleicher Wirkung (Art. 28 ff. EG-V), der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 ff. EG-V), der Niederlassungsfreiheit (Artt. 43 ff. EG-V), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EG-V) und des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 56 ff. EG-V) bekennt sich die Gemeinschaft zur wirtschaftlichen Handlungsfreiheit des Einzelnen. 142 Die im EGKS- und EAG-Vertrag geregelten Wirtschaftsbereiche, die von starker öffentlicher Intervention in die Wirtschaftsabläufe bestimmt werden, nehmen dagegen im wirtschaftsverfassungsrechtlichen Sinne eine Ausnahmestellung ein und haben insgesamt keine systemprägende Bedeutung. Das zeigt sich auch in der Rechtsprechung des EuGH zum Wettbewerbsrecht, die entscheidend von dem Gestaltungsprinzip der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit beeinflußt wird. Der Vorrang der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit, wie er sich in den Grundfreiheiten des EWG-/EG-Vertrages und in den Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft zeigt, lieferte schließlich wichtige Impulse für die richterrechtliche Anerkennung und Fortentwicklung eines gemeinschaftsbezogenen Grundrechtsschutzes. Wirtschaftsverfassungsrechtlich ist dabei insbesondere die Anerkennung der Eigentumsfreiheit 143 und der Berufsfreiheit 144 durch den EuGH hervorzuheben. 140 Scherer, S. 201 ff., der daraus jedoch zu Unrecht eine weitgehende wirtschaftspolitische Neutralität des EWGV ableitet; in diesem Sinne auch VerLoren van Themaat, FS v.d. Groeben, S.425, 428 ff. 141 Badura, VVDStRL 23 (1966), S. 34,43, 77 ff. (mwN Fn. 177); Basedow, Wirtschaftsverfassung, S. 27; Behrens, Jura 1989, 561, 562; Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 67; Canaris, FS Lerche, S. 873, 890; Oppermann, Europarecht, Rn. 809; ders., in: Staat und Wirtschaft, S. 53, 57, 69; Mestmäcker, in: FS v.d. Groeben, S.9, 16; Petersmann, EuZW 1993, 593, 594; Rittner, JZ 1990, 838, 839ff.; Willgerodt, FS Mestmäcker, S.329, 343; wohl auch Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 59: „offene Wirtschaftsverfassung". 142 Dazu im Überblick Basedow, Wirtschaftsverfassung, S.40ff.; siehe ferner Petersmann, EuZW 1993, 593, 594. 143 EuGH, Slg. 1979,3727, 3745 (Tz. 1 7 f f . ) - H a u e r ; Slg. 1989,2237,2268 (Tz. 15) - Schräder; Urt. v. 22.10.1991, Rs. C-44/89, EuZW 1992, 120, 122 (Tz. 26 ff.) - von Deetzen; Urt. v. 10.1.1992, Rs. C-177/90, EuZW 1992, 155, 156 (Tz. 16) - Kühn; Urt. v. 24.3.1994, Rs. C 2/92, EuZW 1994, 568, 569 (Tz. 19) - Milchreferenzmengen; Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-280/93, EuZW 1994, 688,692 (Tz. 78) - Bananenmarktordnung; EuZW 1995, 109, 111 (Tz. 22) - Winzersekt; EuZW 1996, 309, 312 (Tz. 28) - Milcherzeuger; EuZW 1996, 313, 315 (Tz. 55) - Fischerzeugnisse. 144 EuGH, Slg. 1989, 2237, 2268 (Tz. 15) - Schräder; Urt. v. 10.1.1992 - C-177/90, EuZW

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

Die schon in den Römischen Verträgen angelegte Grundentscheidung für ein marktwirtschaftliches System 145 hat eine gewisse Verfestigung noch durch das mit der Einheitlichen Europäischen Akte verfolgte Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes (Art. 14 EG-V) und die mit dem Vertrag über die Europäische Union verbundene Verpflichtung auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (Art. 4 Abs. 1 EG-V) erfahren. 146 Die Festlegung auf den Grundsatz freien Wettbewerbs bedingt notwendig die Anerkennung privatautonom handelnder Rechtssubjekte, da nur sie einen funktionsfähigen, von staatlicher Lenkung unbeeinflußten Marktprozeß gewährleisten können. Wenngleich also die Privatautonomie, und als deren wichtigste Ausprägung die Vertragsfreiheit, nicht ausdrücklich als Rechtsinstitute im EG-Vertrag verankert sind, so sind sie doch funktional durch die Verhaltensfreiheiten und den Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit garantiert 147 , mit denen die Privatautonomie über die mitgliedstaatliche Anerkennung hinaus einen gemeinschaftsweiten Bezug erhält. 148 Ganz in diesem Sinne deutet sich in der neueren Rechtsprechung des EuGH die Anerkennung des Grundsatzes der allgemeinen Handlungsfreiheit an. 149 Zwischen der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft und derjenigen des Grundgesetzes ist mithin eine weitgehende „Systemkonvergenz" 150 , wenn auch keine vollständige Kongruenz festzustellen. 151 Das hat die Frage nach der Normhierarchie aufgeworfen. Diese ist insbesondere deshalb virulent, weil das EG-Recht im Gegensatz zu den nationalstaatlichen Verfassungen und damit auch zum Grundgesetz - abgesehen von Art. 12 (Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit) und Art. 141 (Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau) - keine Verbürgung allgemeiner Grundrechte enthält, sondern nur einzelne Wirtschaftsfreiheiten definiert. Die richterrechtlichen Ansätze des EuGH zur Entwicklung eines europäischen Grundrechtssystems, die sich rechtsvergleichend an den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den

1992, 155, 156 (Tz. 1 6 ) - K ü h n ; Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-280/93, EuZW 1994, 688, 692 ( T z . 7 8 ) Bananenmarktordnung; EuZW 1995, 109, 111 (Tz. 22) - Winzersekt; EuZW 1996, 309, 312 (Tz. 38) - Milcherzeuger; EuZW 1996, 313,315 (Tz. 55) - Fischerzeugnisse. 145 Undeutlich Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 59. 146 Dazu auch Basedow, Wirtschaftsverfassung, S. 32; v. Bogdandy, EuZW 1992, 9, 14; Petersmann, EuZW 1993, 593, 595; Wank, Jura 1991, 622, 628, folgert daraus unzutreffend eine Festlegung des Bundesgesetzgebers auf eine marktwirtschaftliche Verfassung; Bleckmann, DVB1. 1992, 335, 341, will im Wege einer Gesamtanalogie aus allen Vorschriften des EWGV ableiten, daß in der EG der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft gilt; vgl. auch Willgerodt, FS Mestmäcker, S.329, 343 f. 147 So auch Basedow, Wirtschaftsverfassung, S. 52; Canaris, FS Lerche, S. 873, 890. 148 Müller-Grajf, NJW 1993, 13, 14. 149 Vgl. EuGH NJW 1989, 3080, 3081 (Tz. 19) - Hoechst; zuvor bereits EuGH Slg. 1987, 2289, 2338 (Tz. 15) - Rau; dazu P. Kirchhof, EuR-Beiheft 1/91, S. 11, 24; Rengeling, S. 135 f.; Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 9, 26 (b. Fn.54). 150 R. Schmidt, Hdb. StR III, § 83, Rn. 26. 151 Ähnlich Rittner, JZ 1990, 838, 842.

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

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sie bindenden Menschenrechtsverträgen, insbesondere an der EMRK, orientieren,152 bleiben einstweilen lückenhaft, da sich anhand dessen eine allgemeingültige Aussage über Mindeststandards nicht treffen läßt und eine ausdifferenzierte Schrankensystematik bisher fehlt. 153 Gleichwohl hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem „Solange II" - Beschluß festgestellt, daß die Rechtsprechung des EuGH einen dem deutschen Grundrechtskatalog gleich zu erachtenden, wirksamen Schutz der Grundrechte gewährleiste.154 Durch das in der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck kommende Bekenntnis zu einem vereinten Europa und die über Art. 24 Abs. 1 GG ermöglichte Form supranationaler Zusammenarbeit seien auch Regelungen auf der Ebene der Gemeinschaft ermöglicht, die die Grundrechte im Einklang mit den Zielen und besonderen Strukturen der Gemeinschaft wahrten.155 Solange dies der Fall sei, werde das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in der Bundesrepublik nicht ausüben.156 Diese Argumentation ist angesichts der Defizite des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene, die selbst das Bundesverfassungsgericht konstatierte,157 auf Kritik gestoßen. In den Augen der Kritiker ist die Begründung des „Solange II" Beschlusses eher von der Hoffnung auf die Prinzipientreue des EuGH getragen, als daß sie durch ein geschlossenes europäisches Grundrechtssystem abgesichert wäre. In der Tat scheint der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Grundrechtsverbürgungen nicht geeignet, die Bedenken gegen einen wirksamen Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene zu beseitigen.158 Da nur die Einzelstaaten Mitglied der EMRK sind, nicht aber die Gemeinschaft selbst,159 können EG-Bürger nur nationale Rechtsakte, nicht aber solche der Gemeinschaft zur Überprüfung durch

152 Vgl. EuGH Slg. 1969, 419, 425 (Tz. 7) - Stauder; Slg. 1970, 1125, 1135 (Tz. 3 f.) - Internat. Handelsgesellschaft; Slg. 1974,491, 507 (Tz. 1 2 f f . ) - N o l d ; EuZW 1991, 507,510 (Tz. 4 1 ) ERT; NJW 1994, 3005, 3006 - Aids-Test; EuZW 1996, 307, 309 (Tz. 33) - EMRK-Gutachten; siehe ferner zum Schutz der Eigentumsfreiheit Fn. 143, zur Berufsfreiheit Fn. 144; vgl. auch Chwolik-Lanfermann, S.49ff.; Hüffer/Ipsen/Tettinger, S. 137ff. 153 Dazu auch Chwolik-Lanfermann, S.54 ff; Schaefer, S. 223ff.; Schilling, EuZW 1991, 310ff. 154 BVerfGE 73, 339, 383 ff. 155 BVerfGE 73, 339, 386. 156 BVerfGE 73, 339, 387; nach der „Maastricht"-Entscheidung (BVerfG EuGRZ 1993,429, 434 f.) basiert diese Prüfungspraxis auf einem „Kooperationsverhältnis" zum EuGH; ähnlich bereits P. Kirchhof, JZ 1989, 453, 454: „kooperationsbereites Vertrauen"; ders., EuR-Beiheft 1/ 1991, 11, 24: „Kooperationsangebot"; kritisch zu diesem Begründungsansatz Zuck, NJW 1994, 978, 978 f. 157 BVerfGE 73, 339, 383. 158 Dazu etwa Chwolik-Lanfermann, S.62f.; Zuck, NJW 1994,978, 979; ; anders in der Tendenz etwa Schaefer, S. 227. 159 Zur derzeit fehlenden Zuständigkeit der Gemeinschaft für einen EMRK-Beitritt vgl. EuGH EuZW 1996, 307, 309 (Tz. 23 ff.) - EMRK-Gutachten.

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

die Kontrollorgane der EMRK stellen. 160 Zudem sind die Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments gegenüber Kommission und Rat trotz Direktwahl nur unvollkommen ausgestaltet. 161 In seiner Maastricht-Entscheidung v. 12.10.1993 spricht das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Parlament denn auch nur „stützende Funktion" für die Legitimation des Handelns der europäischen Organe zu und legt das Schwergewicht parlamentarischer Kontrolle auf die Legislationsorgane der Mitgliedstaaten. 162 Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß sich das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission schon durch die Gemeinsame Erklärung vom 5.4.1977 zum Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft 163 wie auch durch die am 12.4.1989 im Rahmen einer Entschließung verabschiedete „Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten" 164 zu einem effektiven Grundrechtsschutz bekannt haben. 165 Dieses Bekenntnis wird bekräftigt durch Art. 6 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union vom 7.2.1992, wonach sich die aus den Mitgliedstaaten bestehende Union zur Achtung der Grundrechte verpflichtet, so wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ergeben. Damit wurde die vom EuGH entwickelte Grundrechts-Rechtsprechung erstmals in Vertragsform gegossen und gehört seither zum gesicherten Bestand des Gemeinschaftsrechts. Damit nicht (mehr) vereinbar ist der vom Bundesverfassungsgericht in der „Solange I" - Entscheidung getroffene Befund, das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht stünden „unabhängig voneinander und nebeneinander in Geltung". 166 Was die Rechtsanwendung anbetrifft, vermittelt vielmehr das Bild zweier sich teilweise überlappender konzentrischer Kreise eine zutreffende Vorstellung von dem Ineinandergreifen beider Regelungsbereiche. 167 Das Grundgesetz öffnet sich durch

160 Yg[ Chwolik-Lanfermann, ZRP 1995, 126, 130. - Dagegen nehmen andere Autoren aufgrund des Beitritts der Mitgliedsstaaten zur EMRK eine Sukzession der Gemeinschaft in die Mitgliedschaft und damit eine unmittelbare Bindung der EG an die EMRK an; vgl. nur Tomuschat, EuR 1990, 340, 357; dagegen mit Recht Chwolik-Lanfermann, S. 62 f. 161 Dazu auch Petersmann, EuZW 1993, 593, 596. 162 EuGRZ 1993, 429,438. 163 ABl. C 103/1 v. 27.4.1977 = EuGRZ 1977, 157. 164 ABl. C 120/51 ff. v. 16.5.1989 = EuGRZ 1989, 204ff. 165 Zur Entwicklung der Grundrechtsdogmatik im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses Weber, JZ 1985, 965, 968 ff. 166 BVerfGE 37, 271, 278. 167 Damit wird zugleich die Aufgabe versinnbildlicht, das nationale Recht „gemeinschaftsfreundlich" auszulegen (vgl. auch Art. 10 EG-V), um auf diese Weise dem Gemeinschaftsrecht zu optimaler Wirksamkeit zu verhelfen (Prinzip des „effet utile"). Ihre verfassungsimmanente Grenze findet die gemeinschaftsfreundliche Auslegung in den der Europäischen Gemeinschaft enumerativ übertragenen Aufgaben: Nur insoweit Hoheitsgewalt auf die Gemeinschaft delegiert ist („Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung"), können Rechtsakte der Gemeinschaft Wirkung gegenüber den Mitgliedstaaten entfalten und damit in deren Rechtsordnungen einstrahlen (vgl. auch BVerfG EuGRZ 1993, 429, 445). Dabei gilt es, wie Basedow (Wirtschaftsverfassung,

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

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Art. 23, 24 GG gleichsam den Wertungen des Gemeinschaftsrechts. 1 6 8 Speziell für die Grundrechtsverwirklichung bedeutet dies keine Derogation des nationalstaatlichen Grundrechtsschutzes, sondern durch den Rückgriff auf die Verfassungsüberlieferungen der Einzelstaaten eher dessen Verstärkung in den Bereichen, in denen das europäische Recht keine dem nationalen Grundrechtsstandard vergleichbare Freiheitsgewährleistung enthält. Schon nach den bisherigen Präzisierungen dieser Grundsätze durch die EuGH-Rechtsprechung wird deutlich, daß jedenfalls im Hinblick auf den im Grundgesetz angelegten Vorrang der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit des Einzelnen nicht nur eine Systemkonvergenz zwischen der europäischen und der deutschen Wirtschaftsverfassung besteht, sondern eine inhaltliche Kongruenz. 1 6 9 Es bleibt allein das Bedenken ob der verfahrensseitigen Absicherung der Freiheitsgewährleistung auf europäischer Ebene, zumal in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Voraussetzungen der vom 2. Senat in Anspruch genommenen subsidiären Zuständigkeit des Gerichts nicht erkennbar sind. 170 Manches spricht dafür, diese im Sinne der Solange II - Rechtsprechung nur anzunehmen, sofern das unionsrechtliche Schutzniveau hinter dem deutschen Grundrechtsschutz zurückbleibt. 171 c. Staatsinterventionistische

Wirtschaftsverfassungen

Während in den von marktwirtschaftlichen Ordnungen geprägten Staaten der in privatautonomer Verantwortung wahrgenommenen Marktbetätigung einzelner Privatrechtssubjekte systembildende Bedeutung zukommt, vollziehen sich die Austauschprozesse in staatlich gelenkten (feudalen oder totalitären) Wirtschaftsordnungen entsprechend staatsinterventionistischer Vorgaben. Im Unterschied zu marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsverfassungen gilt nicht der Vorrang der Einzelsteuerung durch unabhängig voneinander handelnde Individuen, vielmehr haben sich diese der Exekution des staatlichen Willens unterzuordnen. Dieser Typus einer Wirtschaftsverfassung entfaltet sich in vollkommener Weise in der

S.55) zutreffend ausführt, vorrangig die „Interpretationsmöglichkeiten auszuloten, die ein widerspruchsfreies Nebeneinander von Grundgesetz und EWG-Vertrag gestatten". 168 BVerfG EuGRZ 1993, 429,437; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 5 Rn. 8 f. 169 Dazu auch Rittner, JZ 1990, 838, 842. 170 Kritisch auch Zuck, NJW 1994,978,979; vgl. zu diesem Problemkreis noch Everling, GS Grabitz, S. 57ff.; Hirsch, NJW 1996, 2457ff.; Horn, DVB1. 1995, 89ff.; Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193 ff. 171 Anders offenbar die 1. Kammer des 2. Senats des BVerfG, NJW 1995,950,951; krit. dazu Nettesheim, NJW 1995, 2083, 2084f., der Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als verfassungsunmittelbare Schrankennorm ansieht und bei Vergleichbarkeit des Schutzniveaus eine zusätzliche Kontrolle unionsrechtlich determinierter Maßnahmen am materiellen Gehalt der im GG gewährleisteten Einzelgrundrechte für obsolet hält, zugleich aber für einen effektiven Schutz der Grundrechtsträger vor einer Verletzung von Unionsgrundrechten über Art. 19 Abs. 4 GG plädiert; vgl. auch Huber, EuZW 1997, 517, 520f.; Zuleeg, NJW 1997, 1201, 1206f.

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§ 2 Theorie der Privatautonomie

Zentralverwaltungswirtschaft. 172 Kennzeichnend für diese ist die von einer Zentralinstanz durch einen hierarchisch gegliederten Lenkungsapparat unter Einsatz verbindlicher Direktiven an die Betriebe vermittelte Planung der Güterallokation. Wenngleich nicht verkannt werden darf, daß mit einer in dieser Weise vollzogenen Abschichtung marktwirtschaftlicher und staatsinterventionistischer Wirtschaftsverfassungen nurmehr Idealbilder („Systeme") beschrieben sind, ergeben sich durchaus doch Rückschlüsse auf die Funktionsabhängigkeit und -gebundenheit privatautonomer Rechtsverwirklichung. Führt man den Gedanken eines staatsinterventionistischen Wirtschaftssystems konsequent zu Ende, dann erscheint das Instrumentarium des Vertrages als Ausfluß des Willens zu privatautonomer Rechtsverwirklichung obsolet. Eines rechtsgeschäftlich vermittelten Einflusses von Individuen auf wirtschaftliche Austauschprozesse bedarf es nicht, wenn allein der Staat als Verteiler von Gütern und Dienstleistungen auftritt. 173 Aber selbst in Staaten mit staatsinterventionistischen Wirtschaftsverfassungen ist erkannt worden, daß der Austausch von Gütern und Dienstleistungen ohne Instrumentalisierung des Vertrages als „Katalysator" staatlicher Planvorgaben oder individueller Austauschbedürfnisse nicht funktioniert. 174 Diese Erkenntnis wird - nebenbei bemerkt - auch von jenen Stimmen nicht in Frage gestellt, die dem Vertragssystem generell die Fähigkeit der Hervorbringung sachlich angemessener Vertragsergebnisse absprechen. Nicht der Verzicht auf den Vertrag als Rechtsgestaltungsinstrumentarium ist daher das Thema, sondern seine Indienstnahme im Sinne einer ideologisch überhöhten Wirtschaftsdoktrin. 175 Das hat allerdings in den Staaten des früheren RGW das Auftreten von Formen der Schattenwirtschaft, die sich jenseits der Wirtschaftsdoktrin organisiert, nicht verhindern können. Gerade für private Austauschbedürfnisse gilt, daß diese sich regelmäßig jenseits staatlich verordneter Zuteilung bewegen und sich

172

Zur Unterscheidung von Wirtschaftsordnungen nach den Grundformen der Marktwirtschaft und der Zentralverwaltungswirtschaft vgl. Eucken, Grundsätze, S. 19ff.; ders., Grundlagen, S . 5 0 f f „ 141 ff. 173 So die Modellvorstellung von Menger, Neue Staatslehre, S. 88 f.; dazu F. v. Hippel, Problem, S. 63 ff.; vgl. auch Burckhardt, Methode, S. 158f.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 328 f.; Radwanski, JurBl. 1979,70,71. 174 Vgl. allgemein Böhm, ORDO XVII (1966), S.75, 76; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 20 (Fn. 36); Loeber, S. 11, 222; Westen, JZ 1993,8, 12; beispielhaft zur Entwicklung des Zivilrechts in der DDR Drobnig, JZ 1960, 233, 235; Markovits, S. 11 ff.; Raiser, in: Kartelle und Monopole II, S.523, 525; siehe auch Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 169, zu Bestrebungen in der NS-Zeit, den Vertrag wegen seiner Richtigkeitsmängel im Hinblick auf „volksgenössische" Rechtsgestaltung zugunsten hoheitlicher Gestaltung zurückzudrängen. 175 Dazu Kollmar, S. 127 f.; Kringe, ROW 1976, 20, 20f.; Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler, S. 115, 129; M. Wolf, in: Grundlagen, S. 19, 23; vgl. auch Siebert DR 1944, 5, 9 (für das NSRecht); zum ZGB-DDR: Klinkert, NJ 1975, 110, 112; Joachim/Knüpf er, WR 1975, 7, 7; Supranowitz, WR 1975, 1, 2; Westen, JZ 1993, 8, 13; zum Arbeitsvertragsrecht in der DDR Oetker NJ 1991, 147, 149.

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

41

notfalls auch ohne Anerkennung durch die Rechtsordnung in einem intersubjektiven Tauschverkehr Bahn brechen. 176 Da es in einem staatlicherseits instrumentalisierten Privatrechtssystem nicht mehr um die Selbstverwirklichung der Rechtssubjekte geht, das Vertragsrecht vielmehr im Sinne gesellschaftlicher Ziele funktionalisiert ist, kommt der vertraglichen Inhaltsfreiheit auch außerhalb des staatlichen Plansystems von vornherein nur untergeordnete Bedeutung zu. Die Interessenwahrnehmung oder gar Herbeiführung von Austauschgerechtigkeit liegt nicht in den Händen der Parteien. Sie ist Aufgabe des Staates, da nach der Doktrin eines staatlicherseits instrumentalisierten Vertragsrechts die Interessen des einzelnen notwendig mit den gesellschaftlichen identisch sind, sich nur noch als unselbständiger Teil des Ganzen erweisen. 177 Das Vertragsrecht ist damit quasi vergesellschaftet. Nicht zuletzt auch, um die persönliche Initiative für das Ganze fruchtbar zu machen, ohne daß damit die Subordination des Einzelnen unter staatliche Interessen aufgegeben wird. Von Privatautonomie kann aber, wenn überhaupt, nur in sehr begrenztem Umfang gesprochen werden: 178 Die Instrumentalisierung der Individualrechtsbeziehung für Zwecke einer „höheren Staatsidee" erfordert Eingriffe in die vertragliche Inhaltsfreiheit, indem durch Soll- oder unmittelbar zwingende Vorschriften der individuelle Gestaltungsspielraum auf ein Minimum reduziert und der Planung und Leitung des Ganzen untergeordnet wird. Jenseits der vertraglichen Inhaltsfreiheit kann privatautonomer Handlungsspielraum damit allenfalls noch im Hinblick auf das „Ob" des Vertragsschlusses festgestellt werden. 179 Ein Befund, der exemplarisch anhand des Vertragsrechts jener staatsinterventionistisch geprägten Wirtschaftsordnungen verifiziert werden kann, die im 19. Jahrhundert theoretisch fundiert und im 20. Jahrhundert in Osteuropa praktisch erprobt wurden. Thilo Ramm180 hat diesen Befund für die Verhältnisse in der DDR mit den Worten zusammengefaßt: „Die individuelle Freiheit war die Freiheit des Einzelnen, sich in (den Staat), in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren." In den ehemals allein von „staatssozialistischem" Gedankengut geprägten Zentralverwaltungswirtschaften Osteuropas, die zumindest in ihren Nachwirkungen weiterleben, 181 war der Grad der Vertragsfreiheit - verstanden als Abschluß176

Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8, 9. Markovits, S.91; Pleyer, FS Rob. Fischer, S.531, 539f.; Ramm, JZ 1996, 456, 457; für das Privatrecht in der NS-Zeit etwa Hallstein, ZStaatsw 102 (1942), 530, 546; Lorenz, Vertrag und Unrecht, S.91 ff.: Vertrag als Gestaltungsmittel völkischer Ordnung. 178 Zu undifferenziert daher für den Aspekt der Vertragsfreiheit Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8, 9 (Fn.9); wie hier Böhm, SJZ 1946, 141, 145 (b. Fn.2); Scherrer, S.52 (Anm.2); Westen, JZ 1993,8, 13. 179 Vgl. zum ZGB-DDR Ranke NJ 1975, 532, 535: „Die zivilrechtliche Dispositionsbefugnis der Partner ordnet sich in die gesellschaftlichen Aufgaben und die rechtlichen Grundsätze des Gesetzes ein, ist also gesetzesgebunden und keine ,Privatautonomie'." 180 JZ 1996,456,458. 181 So die zutreffende Bemerkung von Bydlinski, Privatrecht im Rechtssystem, S. 49. 177

42

§ 2 Theorie der Privatautonomie

freiheit - entsprechend den Erscheinungsformen des Eigentums, dessen Privatnützigkeit zugunsten eines - vermeintlich - gemeinnützigen Volkseigentums weitgehend aufgehoben wurde, abhängig von der „gesellschaftlichen Aufgabe" der am Vertrag beteiligten Parteien. 182 Diese fand ihren Ausdruck in einem werteabhängigen Stufenverhältnis der Vertragsformen, das von den Verträgen zwischen sozialistischen Wirtschaftseinheiten, über Außenhandelsverträge, Arbeitsverträge und Verträge, die der Befriedigung der Konsumbedürfnisse dienten, bis hinunter zu Verträgen führte, die die Tätigkeit des nicht vergesellschafteten Sektors betrafen. Charakteristisch für dieses Vertragsverständnis, das den Vertrag als Mittel zur Durchsetzung staatlicherseits definierter Wertvorstellungen und wirtschaftspolitisch motivierter Planvorgaben auffaßte („Prinzip der Einheit von Plan und Vertrag"), war § 6 Abs. 1 VertragsG-DDR, der für den Bereich der Wirtschaftsbeziehungen zwischen volkseigenen Wirtschaftseinheiten untereinander sowie zu wirtschaftsleitenden staatlichen Organen bestimmte: „Die Wirtschaftseinheiten haben in Vorbereitung und Durchführung der Volkswirtschaftspläne den Wirtschaftsvertrag zu nutzen, um in Übereinstimmung mit den staatlichen Interessen ihre Zusammenarbeit eigenverantwortlich zu organisieren." Parallel dazu formulierte § 2 ZGB-DDR die Funktion des Zivilrechts im Bereich individueller Konsumtion: „Das Zivilrecht fördert sozialistische Gemeinschaftsbeziehungen. Es hilft, die von den Anschauungen der Arbeiterklasse geprägten Grundsätze der sozialistischen Moral im Vorhaben und Handeln der Bürger sowie in ihren Beziehungen untereinander und mit Betrieben durchzusetzen. Es ist darauf gerichtet, die Übereinstimmung der individuellen und kollektiven Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen zu sichern." Abweichend von „privatautonomen" Rechtsordnungen, die dem Leitbild der Gleichheit der Privatrechtssubjekte folgen und sich eines einheitlichen Vertragssystems bedienen, werden heteronome Rechtsordnungen durch die unterschiedlichen sektoralen Funktionsbestimmungen des Vertrages geprägt. Rechtssystematische Folge dieses Vertragsverständnisses ist die Entstehung jeweils eigenständiger Kodifikationssysteme, die nur für bestimmte Verkehrsgeschäfte Geltung beanspruchen. 183 So existierten in der ehemaligen DDR neben dem Zivilgesetzbuch 184 als eigenständige Kodifikationen nicht nur ein Familiengesetzbuch 185 , sondern für den Bereich der Wirtschaftsbeziehungen iwS auch ein Arbeitsgesetzbuch 186 , das Ver-

182

Rudolph, RabelsZ 41 (1977), 669, 669 f., 676. Vgl. Pleyer, FS Rob. Fischer, S. 531,531 ff.; Ramm, JZ 1996,456,456 f.; Seiffert, RabelsZ 41 (1977), 515, 516f.; Westen, JZ 1993, 8, 9. 184 GBl. DDR 1975 I, S.465 185 Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik v. 20.12.1965, GBl. DDR 19661 Nr. 1, S.l 186 Arbeitsgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik v. 16.6.1977, GBl. DDR I Nr. 18, S. 185, zuletzt geändert dch. Gesetz v. 22.6.1990, GBl. DDR I Nr. 35, S.371. 183

II. Bedeutung für den Gestaltungsplan der Rechtsordnung

43

tragsgesetz 187 und das Gesetz über internationale Wirtschaftsverträge (GIW) 188 . Während das Zivilgesetzbuch der DDR die Rechtsbeziehungen auf der Ebene der individuellen Konsumtion zwischen Bürgern sowie Bürgern und Betrieben regelte, waren Regelungsgegenstand des Vertragsgesetzes, das insoweit zugleich als staatliches Leitungs- und Planungsinstrumentarium fungierte 189 , die innerstaatlichen Rechtsbeziehungen der Wirtschaftseinheiten. Das Arbeitsgesetzbuch wiederum hatte die Aufgabe, „die Beziehungen der Werktätigen im Arbeitsprozeß entsprechend dem sozialistischen Charakter der Arbeit und den von den Anschauungen der Arbeiterklasse bestimmten Prinzipien der sozialistischen Moral zu gestalten". 190 Entsprechend der den genannten Kodifikationen beigegebenen Funktionsbestimmungen unterschieden sich die Möglichkeiten der privatautonomen Ausgestaltung von Rechtsbeziehungen. Während für die den staatlichen Planvorgaben unterliegenden Rechtsbeziehungen eine weitgehende - inhaltlich an den Plan gebundene - Vertragsabschlußpflicht bestand (§11 Abs. 1 S. 1 VertragsG-DDR 191 ), galt für die individuellen Konsumtionsbeziehungen jedenfalls formal der Grundsatz der Vertragsfreiheit (§45 Abs. 3 ZGB-DDR). Das privatautonome Handeln war jedoch unter den weitgehenden Vorbehalt seiner Vereinbarkeit mit den staatlicherseits definierten Grundsätzen der sozialistischen Moral gestellt (vgl. § 2 ZGB-DDR). Realiter konnte daher von wirklicher Privatautonomie im Sinne des hier zugrunde gelegten Begriffsverständnisses nicht die Rede sein. 192 Eine Sonderrolle unter den Kodifikationen der ehemaligen DDR spielte insoweit das Gesetz über internationale Wirtschaftssysteme (GIW). Der DDR-Gesetzgeber wollte damit den Notwendigkeiten Rechnung tragen, die sich aus der Berührung verschiedener Rechtssysteme und damit aus dem Aufbau von Rechtsbeziehungen zwischen innerstaatlichen Wirtschaftseinheiten und ausländischen Rechtssubjekten ergaben. Bedingt durch diese „Brücken"-funktion bestand auch für die innerstaatlichen Wirtschaftseinheiten weitreichende vertragliche Abschluß- und Gestaltungsfreiheit (§4 GIW). 193 Die im GIW angelegte Gleichberechtigung und juristische Gleichstellung der Vertragspartner wurde damit ge-

187 GBl. DDR 1957 I, S.627; neu gefaßt GBl. DDR 1965 I, S. 107 nebst Durchführungsverordnungen. Vorläufer war die Verordnung über die Einführung des allgemeinen Vertragssystems für Warenlieferungen in der volkseigenen und ihr gleichgestellten Wirtschaft vom 6.12.1951, GBl. DDR I, Nr. 147, S. 1141. 188 GBl. DDR 1976 I, S.61; zuletzt geändert durch Gesetz v. 28.6.1990, GBl. DDR I Nr.38, S.483. 189 Drobnig, JZ 1960, 233 ff.; Heuer/Klinger/Panzer/Pflicke, S. 91 ff., 157 ff.; Rudolph, RabelsZ 41 (1977), 669, 677, 679ff. 190 Präambel zum AGB-DDR v. 16.6.1977, GBl. DDR I Nr. 18, S. 185. 191 Vgl. auch §§ 1 ff. VO über die Einführung des allgemeinen Vertragssystems (...) vom 6.12.1951, GBl. DDR I Nr. 147, S. 1141; dazu Rudolph, RabelsZ 41 (1977), 669, 679 ff., 687 ff. 192 Ebenso Görk, S. 126ff.; Pleyer, FS Rob. Fischer, S. 531, 540. 193 Vgl. auch Görk, S. 36f., 74 (b. Fn. 301), 130.

44

§ 2 Theorie der Privatautonomie

rechtfertigt, daß es einem allgemein anerkannten Prinzip internationaler Wirtschaftsverträge entspreche, unterschiedliche Eigentums- und Rechtssysteme gegenseitig anzuerkennen. 194 Aus diesem Grunde verbietet es sich allerdings auch, aus dem GIW Rückschlüsse auf die Strukturprinzipien heteronomer Zivilrechtsordnungen zu ziehen.

III.

Zusammenfassung

1. Der Rechtsbegriff der Privatautonomie bezeichnet in der Ableitung aus der vorrechtlichen Wesenheit des Individuums und der aus dem Selbstverwirklichungsbedürfnis geformten Wertidee der Selbstbestimmung einen Bereich individueller Gestaltungsvorrechte, den der Gesetzgeber mit den von ihm geschaffenen Einzelregelungen anerkennt. Das Selbstbestimmungsprinzip ist Ausdruck der Zweckmäßigkeit rechtlicher Ordnung von Lebensverhältnissen. Zweckmäßigkeit des Rechts, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit stellen Wertideen dar, die in ihrer Gesamtheit jene Rechtsidee verkörpern, aus der sich die im Recht positivierten Rechtswerte ableiten. Wertideen können daher als Rechtsprinzipien nur insoweit Geltung beanspruchen, als sie im Recht selbst reflektiert werden. 2. Der Begriff der Privatautonomie beschreibt eine der Rechtsordnung inhärente Regelungsmaxime, ohne zugleich auf einen bestimmten Bestand von Gestaltungsinstrumentarien oder einen bestimmten Umfang der Regelungsfreiräume hinzuweisen. Der Umfang individueller Gestaltungsvorrechte und damit der Bestand an subjektiven Privatrechten spiegelt in seiner instrumentalen Ausrichtung auf die personale Selbstbestimmung als Rechts(-gestaltungs-)idee den Typus der in der Rechtsordnung verwirklichten Privatautonomie wider. 3. Das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit enthält die verfassungsrechtliche Grundwertung zum Selbstbestimmungsrecht des Individuums. Neben seiner abwehrrechtlichen Funktion gegen staatliche Eingriffe in den geschützten Freiheitsraum enthält die Vorschrift einen durch Art. 1 Abs. 3 GG an alle staatliche Gewalt vermittelten Handlungsauftrag, in die Selbstbestimmung des einzelnen möglichst wenig einzugreifen, andererseits die Bedingungen der Freiheit zu schaffen und zu sichern. Mit der verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG abgesicherten Wertentscheidung für eine Garantie des Prinzips allgemeiner Handlungsfreiheit im geistig-sittlichen wie auch im wirtschaftlichen Bereich, die durchArt. 14Abs. 1,12Abs. 1 u n d 9 A b s . 1 GG konkretisiert und effektuiert wird, hat der Verfassungsgeber dem einfachen Gesetzgeber nicht nur den Auftrag zur Ausführung des Selbstbestimmungsprinzips durch einfachgesetzliche Normen erteilt, sondern die staatliche Gewalt insgesamt dem Gedanken der Privatautonomie verpflichtet. 194

Seiffert, RabelsZ 41 (1977), 515, 524.

III.

Zusammenfassung

45

4. Zwischen der Privatrechtsordnung und der Wirtschaftsverfassung besteht eine Interdependenz, da sich beide Regelungskreise um das Individuum als Entscheidungsträger gruppieren. Während in marktwirtschaftlichen Ordnungen der in privatautonomer Verantwortung wahrgenommenen Marktbetätigung einzelner Privatrechtssubjekte systembildende Bedeutung zukommt, vollziehen sich die Austauschprozesse in staatlich gelenkten Wirtschaftsordnungen entsprechend staatsinterventionistischer Vorgaben. Im Unterschied zu marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsverfassungen gilt nicht der Vorrang der Einzelsteuerung durch unabhängig voneinander handelnde Individuuen, vielmehr haben sich diese der Exekution des staatlichen Willens unterzuordnen. Von Privatautonomie kann, wenn überhaupt, nur in sehr begrenztem Umfang gesprochen werden.

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie Privatautonomie konstituiert sich aus den vier Wirkbereichen der Vertragsfreiheit, der Eigentumsfreiheit, der Testierfreiheit und der Vereinigungsfreiheit. 1 Im folgenden konzentriert sich die Abhandlung auf den Wirkbereich der Vertragsfreiheit, da Gegenstand dieser Studie allein die Grenzen der Privatautonomie auf dem Gebiete des Vertragsrechts sind, soweit sie sich aus einem die Vertragsfreiheit berührenden Kontrahierungszwang ergeben. Die anderen Säulen der Privatautonomie werden nur thematisiert, soweit das im Hinblick auf den Wirkbereich der Vertragsfreiheit erforderlich erscheint.

I. Historische Gestaltungselement

Annäherung an ein der Privatrechtsordnung

Das Prinzip der Vertragsfreiheit war der Sache nach bereits im klassischen römischen Recht verwurzelt. 2 Dort findet sich in den Zwölftafelgesetzen der Jahre 451/0 v. Chr. 3 die wohl erste Kodifikation des Grundsatzes der Vertragsfreiheit: „cum nexum faciet mancipiumque, uti lingua nucupassit, ita ius esto" 4 (VI,1). Während also die römische Rechtskultur mit dem Tatbestand der Vertragsfreiheit schon frühzeitig vertraut war, diesen jedoch auch mit manchen Schranken insbesondere formaler Art versah, bestanden im germanischen Rechtskreis keine expliziten Regeln über das, was heute mit dem Begriff der Vertragsfreiheit bezeichnet wird. Dies sicherte dem in jeder Beziehung weiter ausgebildeten römischen Recht, das als Rechtsquelle in vielfältiger Weise adaptiert wurde, einen großen Einfluß. So wurden im Gemeinen Recht die allgemeinen Grenzen der Vertragsfreiheit wie im römischen Recht in den Gesetzen und der Sittenmoral gesehen. 5 Auch bestanden im rechtsgeschäftlichen Verkehr zunächst mannigfaltige Formzwänge. Erst mit dem Aufschwung der Städte und der zwischen ihnen bestehen-

1 Vgl. nur Staudinger-Dilcher, BGB, 12. Aufl. 1980, Einl. zu §§ 104-185, Rn. 5; M. Wolf, in: Grundlagen, S. 19, 20. 2 Dazu Scherrer, S. 9ff. 3 Dazu Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 56 ff. 4 "Wird ein Darlehn versprochen oder ein Kauf, so gilt, was mündlich bedungen worden ist." 5 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts I § 81, II § 314.

I. Historische

Annäherung

47

den Handelsbeziehungen seit dem 11./12. Jahrhundert ergab sich die Notwendigkeit, das im römischen Geiste formalisierte Vertragsrecht jedenfalls für den Wirtschaftsverkehr zu liberalisieren. 6 Unter dem Einfluß der Kanonisten setzte sich im Gemeinen Recht allmählich das Konsensualprinzip und mit ihm die Lehre von der Klagbarkeit formloser Verträge durch. 7 Damit war zumindest im nichtagrarischen Bereich ein Zustand weitgehender Vertragsfreiheit hergestellt. 8 Das Zeitalter des Merkantilismus leitete ab Mitte des 17. Jahrhunderts zunächst eine gegenläufige Entwicklung ein, verhalf der Idee der Vertragsfreiheit dann aber im Ergebnis, wenn auch unbeabsichtigt, zum eigentlichen Durchbruch im 19. Jahrhundert. Zunächst allerdings wurde eine erfolgreiche Wirtschaftstätigkeit durch die Vorschriften des merkantilistischen Wirtschaftssystems regelrecht erdrosselt. Manche Geschäfte waren vollständig untersagt, andere nur bestimmten Personenkreisen vorbehalten; die vertragliche Abschluß-, Partner- und Inhaltsfreiheit existierte in weiten Bereichen praktisch nicht. 9 Dadurch war das Phänomen des Kontrahierungszwangs weit verbreitet: Handwerker mußten für jeden arbeiten, der es von ihnen forderte, Bäcker und Schankwirte hatten an jedermann Brot und Wein zu verkaufen, Fuhrleute die von ihnen gewünschten Fahrten auszuführen und Ärzte und Hebammen mußten jedermann helfen. Das durch staatliche Reglementierungen in seiner gewerblichen Entfaltung behinderte Bürgertum erhob schließlich die Forderung, der Staat möge sich aus der Lenkung der Wirtschaft zurückziehen, die er unter dem Eindruck der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges und der dadurch hervorgerufenen Verheerungen in der Wirtschaft an sich gezogen hatte. Nur der von bürokratischen Fesseln befreite Mensch galt in den Augen des Bürgertums als Garant wirtschaftlicher Prosperität. Ziel aller Forderungen wurde die „möglichste Entfesselung des Selbstinteresses" 10 . Dieses in Frankreich von den Physiokraten unter der Wortführerschaft von Francois Quesnay (1694-1774) aufgegriffene Ideengut entwickelte sich bei Adam Smith (1723-1823) und David Ricardo (1772-1823) zu einer allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Sie sahen in dem durch das Eigeninteresse des Individuums gespeisten, von staatlichen Eingriffen freien Wettbewerb die Grundvoraussetzung für die allgemeine Wohlfahrt des Landes. 11 Ganz in diesem Sinne lag dem 6

Dazu Kaiser, Verhältnis, S. 9 ff. Dazu Dernburg, Pandekten, II 7-8; Scherrer, S. 20ff., 73 ff. (Anm. 44); Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts II § 312. 8 Kaiser, S. 27. 9 Nachweise bei Schmelzeisen, S. 286ff., 380ff., 389f.; vgl. auch Basedow, Transportvertrag, S. 193; Nipperdey, Kontrahierungszwang, S.46 (Fn. 1); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 201 f.; auf Parallelen im anglo-amerikanischen Recht weist Köndgen, Selbstbindung, S. 32 ff., hin. 10 Wagner, S. 89. 11 Smith, Natur und Ursachen, Bd. II, S.556, schreibt dazu: „Jeder Mensch hat, solange er nicht die Gesetze der Gerechtigkeit verletzt, vollkommene Freiheit, sein eigenes Interesse auf seine eigene Weise zu verfolgen." 7

48

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

1804 in Kraft getretenen Code civil das Leitbild der persönlichen Freiheit und Gleichheit zugrunde, das sich in dem ausdrücklichen Schutz des persönlichen Eigentums, der Gewerbefreiheit und der Vertragsfreiheit widerspiegelte. Die Lehren der Physiokraten hatten ihre Wurzeln im individualistischen Ideengut der Naturrechtslehre, 12 deren dem Geiste der Aufklärung verpflichtete Vertreter die Vertragsfreiheit im 17. und 18. Jahrhundert auf ein neues theoretisches Fundament stellten, indem sie jedes legitime Recht als auf freier rationaler Vereinbarung wurzelnd ansahen. Namentlich Hugo Grotius (1583-1645) 1 3 faßte den Staat als vertraglichen Zusammenschluß der Individuen auf. Die maßgeblich von ihm geprägte Lehre vom Gesellschaftsvertrag beruhte auf der Annahme unverjährbarer Freiheitsrechte des Individuums, die ihm die Inanspruchnahme von Vertragsfreiheit erlaubten, soweit diese nicht in eine Beschränkung ihrer selbst mündete. 1 4 Die Idee des frei ausgehandelten, auf Leistungsaustausch gerichteten Vertrages gewann umso mehr an Bedeutung, als sich mit voranschreitender Arbeitsteilung der Übergang von einer in Statusbeziehungen verfangenen Feudalgesellschaft zu einer „modernen" Bürgergesellschaft vollzog. 15 Es handelt sich um den von Henry Maine beschriebenen Übergang „from Status to Contract". 1 6 Das aus England und Frankreich stammende Gedankengut eines liberalen ökonomischen Systems, basierend auf der Theorie der freien wirtschaftlichen Konkurrenz, verfehlte angesichts des Übergangs zu modernen Techniken und Wirtschaftsformen schließlich auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts nicht seine Wirkung auf die Wirtschafts- und Rechtsordnung. 1 7 Während die Wirtschaftsordnung wesentliche Impulse durch die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen im Jahre 1810 erfuhr, 1 8 sollten die Rechtsordnungen nach Vorstellungen aus dem Bürgertum durch Übernahme bzw. Adaption des Code civil modernisiert werden. 19 Zwar kam es dazu mit Ausnahme von Baden nicht; der Gedanke der Privatautonomie verschaffte sich jedoch durch die Lehren der Historischen Rechtsschule, die eine Rezeption des klassischen römischen Rechts den Freiheitsideen des Code civil vorzog, schließlich auch im deutschen Rechtskreis Gehör. 20 Das Bemühen um eine kodifikatorische Umgestaltung des Rechts in Richtung auf einen

12

Dazu Kaiser, S. 20 f. Zu seiner Lehre Dießelhorst, S. 34 ff. 14 Vgl. dazu Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Hbbd., S. 498. 15 Dazu Kötz, Europäisches Vertragsrecht I, S. 5 f. 16 Maine, S. 165. 17 Zur Entwicklung der Vertragsfreiheit in England, Frankreich und Preußen vgl. Grimm, in: La formazione storica del Dritto moderno in Europa, S. 1221, 1227 ff. 18 Andere Staaten wie Bayern, Hannover, Sachsen und die Hansestädte verharrten freilich zunächst noch im Zunftwesen oder führten wie Baden und Württemberg Konzessionssysteme ein; vgl. Kaiser, S. 40. 19 Dazu Kaiser, S. 101 ff. 20 Einzelne Schritte zur Verankerung der Vertragsfreiheit in der Rechtsordnung beschreibt rechtsvergleichend Hedemann, Fortschritte, S. 7 ff. 13

1. Historische

Annäherung

49

Vorrang der Vertragsfreiheit fiel zusammen mit Bestrebungen, für ganz Deutschland eine „gleiche bürgerliche Verfassung auf ewige Zeiten" zu schaffen. 21 Die maßgeblich durch Arbeiten von Blackstone und Burke beeinflußte und im deutschen Rechtskreis von Friedrich Carl von Savigny( 1779-1861), Georg Friedrich Puchta (1798-1846) und Friedrich Julius Stahl (1802-1861) getragene Historische Rechtsschule übertrug die durch weitgehende Vertragsfreiheit gekennzeichnete Rechtsordnung der entwickelten römischen Gesellschaft auf die deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die in mancher Beziehung, so auch in dem Übergang zu einer für ihre Zeit modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft den historischen römischen Verhältnissen vergleichbar erschien. 22 Dem Gedanken der Vertragsfreiheit kam dabei zweierlei Funktion zu: Einerseits erfüllte sie die Voraussetzungen, um gemäß liberalistischer Wirtschaftsauffassung einen unbeschränkten Güteraustausch zu gewährleisten; 23 andererseits bot sie individuelle Gestaltungsfreiheit, die dem Einzelnen im Sinne Rudolf von Iherings (1818-1892) 2 4 Willensmacht zur Interessenverwirklichung gewährte. 25 Angesichts der die Praxis der Vertragsfreiheit begleitenden Fehlentwicklungen wurden allerdings auch Gegenstimmen laut. Namhafte Nationalökonomen und Juristen jener Zeit bemängelten trotz unterschiedlicher theoretischer Ansätze übereinstimmend die fehlende reale Gleichheit der Vertragskontrahenten, die eine gerechte Vertragsgestaltung ausschließe. 26 Daraus resultierte die Forderung, der Staat könne sich nicht auf den Schutz der Rechte des einzelnen beschränken, 27 sondern habe bei Ungleichgewichtslagen zugunsten der Schwächeren und damit zugunsten der Vertragsgerechtigkeit und zum Schutz der bürgerlichen Gesellschaft in die Vertragsfreiheit einzugreifen. 28 Besonders augenfällig schienen die Fehlentwicklungen in der Wirtschaft durch die Vermachtung einzelner Märkte in Form von Kartellen, Syndikaten und Trusts und das Aufkommen sogenannter Einheits- oder Normverträge, die von dem wirtschaftlich schwächeren Teil um des Vertragsschlusses Willen zu akzeptieren waren. 29 Auf dem Gebiete des Arbeitsrechts offenbarte sich zusehends die übermächtige Stellung der Arbeitgeber gegenüber der Arbeitnehmerseite. 30 Gleichwohl fanden diese Problemfelder im kodifikatorischen Überbau des Bürgerlichen Gesetzbuches kaum Beachtung. Das BGB zeigt sich ganz in

21

Thibaut, Über die Notwendigkeit, S. 37, 47, 51. Dazu Kaiser, S. 107 ff, 113 ff. 23 Kessler, FS Martin Wolff, S. 67, 69. 24 Ihering, Geist III/l, S. 328, 339. 25 Dazu Hackl, S. 14. 26 Vgl. nur Wagner, S. 101, 163. 27 Fichte, S. 399 ff. 28 Gierke, Aufgabe, S.28f.; Menger, Recht, S.26, 153f.; Pappenheim, FS Cohn, S.289, 299ff.; Schmoller, Soziale Frage, S.208f.; ders., Grundfragen, S.43f.; Sohm, S. 15 ff.; Wagner, S.103. 29 Dazu Kaiser, S. 118 ff. 30 Kaiser, S. 181 ff., 197 ff. mwN.; Lambrecht, S. 15. 22

50

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

Privatautonomie

der Tradition der Historischen Rechtsschule und dem von ihr verfolgten Freiheitsideal. 31 Gierke veranlaßte dies zu der Bemerkung, im BGB-Entwurf sei „von einem Schutze der Schwachen gegen wirtschaftliche Übermacht weniger als in irgend einem anderen Gesetzbuch zu spüren", da „die Schranken der Vertragsfreiheit so viel wie möglich hinweggeräumt" seien. 32 Dies geschah allerdings nicht mit dem ausdrücklichen Ziel - jedoch mit der tolerierten Folge - einer wirtschaftlichen Begünstigung „stärkerer" Rechtssubjekte. 33 Das ursprüngliche Regelungskonzept des BGB ist von der Vorstellung eines sozial- und wirtschaftspolitisch „neutralen" Privatrechts geprägt, das den Schutz der Schwächeren grundsätzlich dem öffentlichen Recht zu überlassen hat 34 und selbst nur punktuelle äußere Grenzen 35 für das privatrechtliche Handeln setzen darf. 36 Leitbild der Väter des BGB ist die freie Privatrechtsgesellschaft, repräsentiert durch besitzende Bürger, kleine Unternehmer und Landwirte, die ihre Angelegenheiten in eigenverantwortlicher und gerechter Weise zu regeln in der Lage sind. 37 Der frei ausgehandelte Vertrag war nach diesem Verständnis mit der Errungenschaft höherer Rationalität ausgestattet, so daß sich der Staat auf die Funktion eines Notars zurückziehen kann, der sich auf die anerkennende Bestätigung des ausgehandelten Interessenausgleichs beschränkt. Im Vertrauen auf den mit dem Vertragskompromiß von selbst gegebenen Interessenausgleich spiegelt sich, wenn man so will, eine „formale" Vertragsethik 38 wider, die es dem Staat erlaubt, allein das für die rechtliche Anerkennung der Einigung erforderliche Instrumentarium zu regeln. 39 Andererseits ist es mißverständlich, wenn den Schöpfern des BGB ein rein formales Freiheitsverständnis im Sinne einer Blindheit vor den Ergebnissen vertraglicher Einigung unterstellt wird. Schließlich sollte sich nach der Vorstellung der Schöpfer des BGB der rationale Interessenausgleich im Regelfall schon durch die Verfahrensgewährleistung vollziehen, ohne daß es darüber hinaus noch verbindlicher materieller Leitlinien bedurfte. Nicht die Gleichgültigkeit vor den Ergebnissen des Vertragsprozesses ist daher für das partielle Versagen des Vertragsmechanismus verantwortlich, sondern die Überschätzung der Leistungsfähigkeit des Vertrages als Instrument privatautonomer Rechtsgestaltung. Das Verhängnis des 31

Dazu auch Rebe, S. 88 ff.; Raiser, Zukunft, S. 17. Gierke, Entwurf, S. 192. 33 Rebe, S. 93. 34 Planck, DJZ 1899,181: „Die Hauptaufgabe in dieser Richtung liegt außerhalb des Gebiets des Bürgerlichen Rechts." 35 Vgl. §§ 138,157,226,242,247 Abs. 1,310,343,571,618,624,626, 826 BGB; zum Schutz des wirtschaftlich Schwachen durch diese Normen Planck, DJZ 1899, 181 ff. 36 Dazu Rebe, S. 94 ff. 37 Limbach, JuS 1985, 10, 10f.; Schlosser, S. 165; Wieacker, in: Industriegesellschaft, S.9, 16. 38 Vgl. auch Hart, Die AG 1984, 66, 70. 39 Pflug, S.II. 32

I. Historische

Annäherung

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BGB und seiner Schöpfer besteht darin, daß das zugrunde gelegte Leitbild der in jeder Hinsicht freien Privatrechtsgesellschaft schon im Zeitpunkt des Inkrafttretens des BGB der Korrektur bedurfte. 40 Die Kodifikation wirkte schon damals wie eine „vergessene Festung",41 obgleich mit dem BGB doch gerade das Recht aufgezeichnet werden sollte, wie es sich unter dem Eindruck der Lebens- und Verkehrsverhältnisse entwickelt hatte. Die rechtstheoretische Modellvorstellung des BGB 42 ist heute an dem rechtstatsächlichen Befund der Gegenwart zu messen,43 der ungeachtet der von den Vätern des BGB vorgesehenen Möglichkeit zur privatautonomen Interessenverwirklichung wirtschaftliche und intellektuelle „Ungleichgewichte" zwischen den Privatrechtssubjekten offenbart, die der Tendenz nach einer Aushöhlung oder Aufhebung der universalen Vertragsfreiheit in Beziehung auf einzelne Rechtssubjekte Vorschub leisten. Die Behauptung, der Grundsatz der Vertragsfreiheit trage - sich selbst überlassen - die Tendenz zur Selbstaufhebung in sich,44 ist daher nicht von der Hand zu weisen. So gesehen erwiese sich die Vertragsfreiheit als untaugliches Mittel zur Verwirklichung universaler rechtlicher Selbstbestimmung. Es ist daher verständlich, wenn gefordert wird, die Vertragsfreiheit als Rechtsprinzip aufzugeben und anstelle dessen nach Kriterien und Verfahren für die Herstellung von „Vertragsgerechtigkeit" zu suchen.45 Robert Fischer, der frühere Präsident des Bundesgerichtshofes, hat im Hinblick auf wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen den Vertragsparteien vorsichtiger davon gesprochen, „daß es sich bei dem Prinzip der Vertragsfreiheit nicht um ein Idol handelt, das in jeder Weise unabdingbar und unwandelbar unsere Rechtsordnung bestimmen muß und als Prinzip freiheitlicher Betätigung schlechthin in jeder Hinsicht unverzichtbar ist."46 Die hierin zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber dem Funktionsprinzip der Vertragsfreiheit reflektiert die Erkenntnis, daß die Bändigung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht zum Schutz der Privatautonomie vor Erosion ein „Fundamentalproblem" der Rechtsordnung ist,47 dessen Lösung darin gesehen wird, die Privatautonomie durch „Beschränkung" ihrer selbst 40 Biedenkopf, FS Coing II, S.21, 24f.; Merz, S.6f.; J. Schmidt, Vertragsfreiheit, S. 18; exemplarisch zum Arbeitsvertrag Kindermann, Rechtstheorie 12(1981), 209, 214 ff. 41 Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 3. 42 Dazu auch Rob. Fischer, DRiZ 1974, 209, 210. 43 Zu dieser Aufgabe Kollmar, S. 118 ff. 44 Rob. Fischer, DRiZ 1974, 209; Laufke, FS Lehmann I, S. 145, 177; Steinbach, S.48. 45 Vgl. Zweigert, FS Rheinstein II, S. 493, 504, der Vertragsfreiheit „bei präziser Betrachtung (für) ein Traumschloß, eine Utopie und keine Realität" hält, „da eine Gesellschaft, in der Gleichheit besteht, nirgends existiert." (aaO., S. 503); zum Aspekt der Suche nach Vertragsgerechtigkeit in rechtsvergleichender Sicht Kotz, FS Mestmäcker, S. 1037, 1038. 46 DRiZ 1974, 209, 211. 47 Vgl. Hönn, Kompensation, S. 6 f.; Merz, FS Böhm, S. 227, 258 f.; Mestmäcker, FS Böhm, S. 383, 413; Raiser, in: Summum ius, summa iniuria, S. 145, 161; ferner Heck, Grundriß, S.6; Pappenheim, FS Cohn, S. 289, 292, mit der Warnung die Vertragsfreiheit werde ansonsten zur Vertragsknechtung (aaO., 294 f.).

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

vor Selbstzerstörung zu schützen. 48 Schließlich hat auch der dem Gedanken der Privatautonomie verpflichtete Gesetzgeber die Augen vor den Defiziten des Vertragsrechts nicht verschließen können, wie die Beispiele des Mietrechts, des Reisevertragsrechts, des Rechts der AGB und anderer, im weiteren Sinne verbraucherschützender Gesetze zeigen. 49 Die Rechtsprechung hat diese Entwicklung durch Mobilisierung der Grundsätze von Treu und Glauben und der guten Sitten in vielerlei Hinsicht - zumeist wegweisend - gefördert. Diese Reaktionsmechanismen sind freilich nicht als Abkehr vom Prinzip privatautonomer Rechtsgestaltung zu werten, sondern in ihrem Bemühen zu würdigen, die für das Funktionieren der Privatautonomie notwendigen Freiheitsräume (wieder-)herzustellen. Angesichts des Sozialbezugs individuellen Handelns kann der mit der Gewährung von Privatautonomie verbürgte Freiheitsraum kein individuell-absoluter sein, der jedem einzelnen Rechtssubjekt ein höchstmögliches Maß an Rechtsverwirklichung auf Kosten anderer Rechtssubjekte erlaubt. 50 Es geht vielmehr darum, für die einzelnen Interaktionsbeziehungen die Freiräume zu garantieren, die es ermöglichen, die Fähigkeit zur Selbstgestaltung in rechtlich relevanter Weise umzusetzen. Wenn in diesem Sinne von „Beschränkungen" der Vertragsfreiheit durch Maßnahmen der staatlichen Gewalt die Rede ist, bedeutet das nicht notwendig eine Einschränkung des Selbstbestimmungsprinzips, sondern kann im Gegenteil erst die Schaffung oder Sicherung jener Voraussetzungen zum Ziel haben, die jedem Rechtssubjekt und nicht nur einzelnen Rechtssubjekten die Benutzung des Vertrages zur individuellen Interessenwahrnehmung erlauben. 51 Der verbürgte Freiheitsraum ist nach diesem Verständnis also von vornherein objektiv-relativer Natur. 52 Nach dieser Sichtweise erscheint auch die eingangs skizzierte Annahme einer Antinomie zwischen den Prinzipien der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit auf der einen Seite und dem Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs auf der anderen Seite in einem anderen Licht. Eingriffe der staatlichen Gewalt in die privatrechtliche Regelungsautonomie können demnach um so weniger als Negierung des Selbstbestimmungsprinzips begriffen werden, um so mehr damit augenfällige Defekte bei der Umsetzung der Individualinteressen regulierend beseitigt werden sollen. Die zentrale Frage ist, welchen sachlichen Bindungen die staatliche Gewalt unterliegt, um vertragliche Interaktionsbeziehungen im Sinne einer Funktionsgewährleistung gestalten zu können. Die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Anordnung eines Kontrahierungszwangs ergibt sich damit aus der inhaltlichen Reichweite der Vertragsfreiheit. Diese ist als

48 v. Gierke, Aufgabe, S. 28; Rob. Fischer, DRiZ 1974, 209, 212; vgl. auch Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 3: „Im Namen der Vertragsfreiheit wird die Vertragsfreiheit sabotiert." 49 Zusammenfassend Preis, S.219ff.; vgl. mit kritischem Duktus auch Zöllner, JuS 1988, 329, 331 ff., 335. 50 Vgl. auch Rebe, S. 79. 51 M. Wolf, in; Grundlagen, S . 4 9 f . 52 Hesse, Grundzüge, Rn. 425; Roscher, S. 49.

II. Reichweite der Vertragsfreiheit

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Ausfluß des Selbstbestimmungsprinzips kein einseitiges Freiheitsrecht, sondern wegen der Notwendigkeit der Interaktion von Rechtssubjekten eine beid- oder mehrseitige Ausübungsform der Privatautonomie. 53

II. Reichweite

der

Vertragsfreiheit

1. Verankerung im Verfassungsrecht Anders als in der Weimarer Reichs Verfassung (WRV) v. 1.8.1919 54 , nach der die Vertragsfreiheit in Art. 152 ausdrücklich unter Schutz gestellt war, 55 wird der Grundsatz der Vertragsfreiheit im Grundgesetz nicht explizit erwähnt. 56 So gesehen liegt die Schlußfolgerung nahe, daß dem Grundgesetz ein von der Weimarer Reichsverfassung abweichendes Verfassungsverständnis zu eigen ist, das die Vertragsfreiheit jedenfalls nicht mit Grundrechtsqualität ausstattet. 57 Demgemäß wird ein Gegensatz zwischen der Vertragsfreiheit und den in der Verfassung benannten „wirklichen" Freiheitsrechten angenommen. 58 Dieser kann aber kaum darauf gegründet werden, daß die Vertragsfreiheit „erst noch vollzugsfähiger Ausgestaltung und Ausformung in subjektiv-rechtlich einklagbare Münze" durch unterverfassungsrangige Rechtsnormen bedarf, da dies auch auf die benannten Freiheitsrechte zutrifft. 59 Es ist nicht zu erkennen, daß etwa dem Eigentumsbegriff eine stärkere „inhaltsbestimmende Funktion" zukommt als der Vertragsfrei53

Hart, KritV 1986, 211, 240; Pflug, S. 64; Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 195. RGBl. S. 1383 55 Art. 152 WRV lautete: „Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze. Wucher ist verboten. Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, sind nichtig." 56 Lediglich in einigen Landesverfassungen ist die Vertragsfreiheit ausdrücklich garantiert: Vgl. für Bayern Art. 151 Bay Verf: „( 1) Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten. (2) Innerhalb dieser Zwecke gilt die Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze. Die Freiheit der Entwicklung persönlicher Entschlußkraft und die Freiheit der selbständigen Betätigung des einzelnen in der Wirtschaft wird grundsätzlich anerkannt. Die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls. Gemeinschädliche und unsittliche Rechtsgeschäfte, insbesondere alle wirtschaftlichen Ausbeutungsverträge sind rechtswidrig und nichtig."; für Rheinland-Pfalz Art. 52 Abs. 1 RheinlPfVerf: „Die Vertragsfreiheit, die Gewerbefreiheit, die Freiheit der Entwicklung persönlicher Entschlußkraft und die Freiheit selbständiger Betätigung des Einzelnen bleiben in der Wirtschaft erhalten."; für das Saarland Art. 44 SaarlVerf: „ Vertragsfreiheit und Gewerbefreiheit sind nach Maßgabe der Gesetze gewährleistet. Jeder Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung ist unzulässig." 54

57 H. Huber, Bedeutung, S. 18 ff., 30f.; Kreutz, S. 116ff.; Roscher, S. 55 f.; vgl. auch Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 149f.; Struck, DuR 1988, 39 ff. 58 Kreutz, S. 117 (Fn. 18); wohl auch Staudinger-Dilcher, 12. Aufl. 1980, Einl. zu §§ 104 185, Rn. 8. 59 Anders Roscher, S. 46 ff.; Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8, 14.

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

Privatautonomie

heit. Der Eigentumsfreiheit und der Vertragsfreiheit ist gemein, daß es sich nicht um a priori mit Rechtsgeltung ausgestattete Freiheiten handelt, sondern um „natürliche" Selbstbestimmungsinstrumentarien, die, soweit sie verfassungsrechtlich adaptiert sind, erst durch unterverfassungsrechtliche Normativakte konkretisiert und allgemeinverbindlich iSe rechtlichen Könnens konstituiert werden. 60 Auch Art. 152 WRV gewährleistete die Vertragsfreiheit nur „nach Maßgabe der Gesetze".61 Im übrigen liefe es auf einen Systembruch hinaus, die Selbstbestimmungsidee im wirtschaftlich-gesellschaftlichen Bereich als durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt anzusehen,62 die Vertragsfreiheit als Instrument der individuellen Entfaltung aber aus dem grundrechtlichen Schutz auszuklammern.63 Wie das Bundesverfassungsgericht schon in der Lüth-Entscheidung zutreffend festgestellt hat, entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen im Privatrecht gerade durch das Medium der dieses Rechtsgebiet bestimmenden Vorschriften.64 Mit der grundrechtlichen Verbürgung des Instituts der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG wird damit nicht nur die Selbstbestimmungsidee als solche geschützt, sondern sind ebenso die sie verwirklichenden privatrechtlichen Instrumentarien gewährleistet.65 60

Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 11; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 215 f.; Bülow, AcP 64 (1881), 1, 87 (Fn. 52); Diederichsen, in: Rangordnung, S.39, 62; Erichsen, Hdb. StR. VI, § 152 Rn. 57; Flume, FS DJTI, S. 135, 136; ders., Allgemeiner Teil II, S. 18 f.; Höfling, S. 21 ff.; H. Huber, Bedeutung, S. 18 ff.; Jellinek, System, S. 47 f.; Kelsen, Problem, S. 289 f.; Lorenz, Allgemeiner Teil, S. 141 f.; Lübbe-Wolff, S. 81 ff.; Manssen, S. 163; Stern/Sachs, Staatsrecht III/l, S. 604ff.; M. Wolf, in: Grundlagen, S. 19, 30; a.A. Bülow, S. 133; F. v. Hippel, Problem, S.98; Reinach, S. 685, 730ff.; Stern, VerwArch 49 (1958), 106, 122ff.; Husserl, S. 39, der anhand seines bekannten „Wüsten"-Falles nachzuweisen sucht, daß die Vertragsfreiheit naturrechtlich mit Rechtsverbindlichkeit ausgestattet ist. Er übersieht die mit dem Vertragsschluß im kodifikationsfreien Raum verbundene Unterwerfung der Parteien unter ein von ihnen ad hoc geschaffenes Ordnungsprinzip: Wer sich bar bestehender Rechtsregeln mit einem anderen Rechtssubjekt über den Austausch von Gütern einigt, organisiert gleichsam (stillschweigend) aus dem sozialen Kontakt heraus die Rechtsgemeinschaft. Geltungsgrund für den Vertrag ist nicht der intersubjektive Gesamtwille der Parteien als „lex contractus", sondern die der Rechtsgemeinschaft zugrunde gelegte Ordnung, die durch den Willen der Parteien gestaltet wird (anders F. v. Hippel, Problem, S. 98,102, der den Geltungsgrund der Vereinbarung in einem naturrechtlichen Gerechtigkeitspostulat sieht). Insoweit können auch hier Gesamtrechtsordnung und Teilrechtsordnung (Vertrag) geschieden werden. 61 Dazu Anschütz, Art. 152 Anm. 1; Höfling, S. 20. 62 So auch Kreutz, S. 118, Roscher, S. 55 f. 63 Im Ergebnis übereinstimmend Paschke, S. 40 f. 64 BVerfGE 7, 198, 205. 65 Vgl. insoweit auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 442 ff.; Höfling, S. 13 f., 28: „institutsvermittelte Kompetenz"; H. Huber, Bedeutung, S. 24; Kemper, S. 58 ff.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 328 f.: „Kompetenzerteilung"; Steinbeiß-Winkelmann, S. 116f., 119 f.; Stern/ Sachs, Staatsrecht III/l, S.604: „grundrechtsunmittelbare Bewirkungsrechte"; anders offenbar Roscher, S. 46 ff.; grundsätzl. abweichend Schwerdtner, S. 135, der nicht Art. 2 Abs. 1 GG als vorrangigen Ansatzpunkt für die Verbürgung der Vertragsfreiheit ansieht, „sondern die Staatszielbestimmung des Rechtsstaates, die in unmittelbarem Kontext mit dem Sozialstaatsprinzip zu sehen ist."

II. Reichweite der Vertragsfreiheit

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Allerdings ist bestritten, ob die Vertragsfreiheit als „unbenanntes Freiheitsrecht" (Innominatrecht)66 nur durch Art. 2 Abs. 1 GG oder auch durch andere Grundrechte geschützt ist.67 Damit ist die Frage der Normhierarchie zwischen Art. 2 Abs. 1 GG und den anderen im Grundrechtskatalog gewährleisteten Freiheitsrechten gestellt. Sie wird durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Sinne einer Spezialität der Einzelgrundrechte gegenüber dem bloßen Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG beantwortet. Das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG soll subsidiär nur dann zur Anwendung kommen, wenn die Betätigung des Grundrechtsträgers einen Freiheitsraum betrifft, der nicht von einem anderen Grundrecht erfaßt wird.68 Dies steht in Übereinstimmung mit dem instrumentellen Charakter der Vertragsfreiheit. Als Gestaltungsmittel zur Verwirklichung der Selbstbestimmungsidee besitzt sie überall dort Wirkkraft, wo es um die Inanspruchnahme von Freiräumen zu privatautonomer Rechtsgestaltung geht. Die Vertragsfreiheit ist also Teil der jeweiligen grundrechtlichen Betätigung 69 und mithin auch durch das jeweils in Frage stehende Grundrecht geschützt. Sie bleibt durch Art. 2 Abs. 1 GG aber stets geschützt, wenn nicht der Schutzbereich eines spezielleren Grundrechts betroffen ist. 70 Das trifft insbeson66

Vgl. zu Funktion und Voraussetzungen unbenannter Freiheitsrechte etwa Dirnberger, S. 270ff.; Manssen, S. 187 ff. 67 Für alleinigen Schutz nach Art. 2 Abs. 1 GG: BVerwGE 4, 24, 36 f.; 17, 306, 309; B A G A P § 620 BGB Nr. 1; BAG NJW 1957, 1688, 1689; BGHZ 70, 313, 324; Basedow, Wirtschaftsverfassung, S.24; Bleckmann, Staatsrecht II, §22 Rn. 32; Brox, in: Staatslexikon, 5. Bd., Sp. 723 (724); Contzen, S. 16; Diederichsen, in: Rangordnung, S.39, 79; Erman-Hefermehl, Vor § 145, Rn. 16; W. Geiger, Schranken, S.6f.; ders., Bedeutung, S. 12; Grossmann, S.37ff.; Grünhage, S. 15; Hamann, S.83; E.R. Huber, Verfassungsproblematik, S. 10; ders., Wirtschaftsverwaltungsrecht!, S. 388 (undeutlich S. 661); ders., Preisbindung, S. 22; Hübner, FS Steindorff, S. 589, 589; Ipsen, Preiskontrolle, S. 79; Kilian, AcP 180 (1980), 47,49; H. H. Klein, Teilnahme, S. 109; Krüger, Grundgesetz und Kartellgesetzgebung, S. 13 f., 26; Kunig, in: v. Münch/ Kunig, Art. 2, Rn. 16, 29; Larenz, Allgemeiner Teil, § 4 III (S. 85); Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 323; Lerche, Übermaß, S. 131 (Fn. 109), S. 275; Lorenz, S. 18 f.; Lübbe-Wolf, S.81; Nipperdey, Marktwirtschaft, S. 11; Raiser, JZ 1958, 1, 5 (aufgegeben in Verh. d. 46. DJT, 1966, B 1, B 18f.); Schlechtriem, Schuldrecht AT, Rn. 34; Staudinger-Dilcher, Einl. zu §§ 104 - 185, Rn. 8; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, Art. 2 Rn. 79. 68 BVerfGE 6,32,37; 9,338,343; 10,55,58; 19,206,225; 21,227,234; 30,292,336; 44,59, 69; 50, 290, 362; 58, 358, 363; 70, 115, 123; 74, 129, 151 f. 69 Höfling, S. 12ff.; vgl. allgemein zu Umfang und Inhalt grundrechtlicher Berechtigungen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 224 ff.; Stern/Sachs, Staatsrecht III/l, S. 587 f. 70 BVerfGE 8, 274, 328; 12, 341, 347; 70, 115, 123; 74, 129, 151 f.; vgl. auch BVerfGE 25, 371, 407; 73, 261, 270; BAG DB 1994, 1726-Ausbildungskosten; BVerwGE 45, 77, 79; Bettermann, JZ 1952, 65; Dürig, in: Maunz/ Dürig/ Herzog/ Scholz, Art. 2 Abs. 1, Rn. 53; Erichsen, in: Hdb. StaatsR VI, § 152 Rn. 59; Häberle, S. 13; Hamann/Lenz, Art. 2, Anm. B 3 d; Helm, S. 37 ff.; Laufke, FS Lehmann I, S. 145, 152; Lerche, DVB1. 1958, 524, 525 (Fn. 14); Merten, JuS 1976, 345, 348; Niebier, FS 125 Jahre Bay. Notariat, S. 131, 142 (mit Überblick über die Rspr. d. BVerfG); Ossenbühl, AöR 115 (1990), 1, 25; ders., ET 1991, 90; Papier, Hdb.VerfR, S.799, 832 f. (Rn. 75); Preis, S. 38; Rebe, S. 6 (Fn. 21); Säcker, Grundprobleme, S. 25; Schlechtriem, in: 40 Jahre GG, S. 39,40; Taupitz, AcP 192 (1992), 341, 342; Vykydal, S. 40f.; M. Wolf, in: Grundlagen, S. 30; im Ergebnis ebenso Richardi, Kollektivgewalt, S. 50f.; wohl auch Schopp, AcP 192

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

Privatautonomie

dere für die Berufsausübung (Art. 12) zu,71 also den Abschluß von Arbeits- und Dienstverträgen, aber auch für die Freiheit zur Bildung von Vereinen und Gesellschaften (Art. 9 Abs. 1 GG) und die Freiheit zur Bildung von Koalitionen (Art. 9 Abs. 1 und 3 GG) 72 sowie für Rechtsgeschäfte in bezug auf das Eigentum (Art. 14 (1992), 355, 382; Scholz, Konzentrationskontrolle, S. 39 f.; ders., AöR 100 (1975), 80, 124f. (anders aber ders., Koalitionsfreiheit, S. 10 f., 118: unselbständige Ausübungsgarantie als Annex zu Art. 12, 14 GG); differenzierend Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 150, der die Vertragsfreiheit nur als in der Privatautonomie angelegtes Ordnungsprinzip, nicht aber als rechtstechnisches Instrumentarium für den Vertragsschluß sieht; ähnlich schon ders., BB 1956, 473, 474 f. - AA. Hamel, S. 35, der die Vertragsfreiheit nur Art. 12, 14 GG zuordnet; ebenso Rüfner, Staat 7 (1968), 41, 51; undeutlich Contzen, S. 15 f. (mit Fn. 37). 71 BVerfGE 68,193,223 f.; 77, 84,118; 77, 308,339; Bieback, ZfA 1979,453,486 f:; Boemke, NZA 1993, 532, 534; Breuer, Hdb. StaatsR. VI, §147, Rn.63, 97 (S.951f.); Dürig, in: Maunz/ Dürig/ Herzog/ Scholz, Art. 2 I, Rn. 11; Erichsen, Hdb. StaatsR. VI, §152 Rn. 59 (S. 1210); Lecheler, VVDStRL43 (1985), 48, 55, 66; Ossenbühl, AöR 115 (1990), 1,25; Papier, Hdb. VerfR. S. 799, 833 (Rn. 75), S. 638; Schmidt/Bauer/Mögele, S. 162; Schmidt-Preuß, DÖV 1993, 236, 239; ders., Zentralfragen, S. 139; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 10f., 118; ders., AöR 100 (1975), 80, 128f.; ders., ZfA 1981, 265, 275ff.; Wittig, NJW 1967, 2185, 2188; wohl auch Söllner, MünchKomm BGB, § 611, Rn. 194, 274; undeutlich ders., RdA 1989, 144, 147 ff. 72 Zur gesellschaftsrechtlichen Vertragsfreiheit: Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 2 Abs. 1, Rn. 11; Höfling, S. 16f.; Laufke, FS Lehmann I, S. 145, \62U Papier, Hdb. VerfR., S. 799, 833 (Rn. 75); Scholz, AöR 100(1975), 80, 129; Schmidt/Bauer/Mögele, S. 162; zur vereinsrechtlichen Vertragsfreiheit van Look, WM-Festgabe Hellner, S.46; zur Koalitionsfreiheit: Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 2 Abs. l , R n . IV, Höfling, S. 17 f.; Scholz, AöR 100 (1975), 80, 129. - Mit der in Art. 9 GG verankerten Vereinigungsfreiheit erfährt das Recht des Individuums auf Selbstverwirklichung und freie Entfaltung der Persönlichkeit eine notwendige Erweiterung in Richtung auf eine optimierte Durchsetzung seiner Interessen. Tatsächliche Ungleichgewichtslagen zwischen den Individuen oder allgemein das Aufeinandertreffen der Einzelinteressen in einer staatlich verfaßten Gesellschaft stehen einer von Fremdeinflüssen unberührten Interessenverfolgung des einzelnen entgegen oder behindern diese jedenfalls. Der Schutz der individuellen Handlungsfreiheit wäre daher nur unvollkommen verwirklicht, wenn die Rechtsordnung das Betreben der Individuen nicht anerkennen würde, sich mit anderen zur Optimierung der individuellen Interessenverfolgung zusammenzutun (BVerfGE 50, 290, 353 f.; Konzen, AcP 177 (1977), 473, 494; Säcker, Grundprobleme, S.37; Reuter, MünchKomm BGB, Vor §21 Rn. 53). Diese individuelle Vereinigungsfreiheit wird in Art. 9 Abs. 1 und 3 GG von Verfassungs wegen anerkannt und findet ihre einfachgesetzliche Ausprägung in den verbandsrechtlichen Vorschriften des BGB (§§22ff.), in den gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen von BGB, HGB, AktG, GmbHG und GenG wie auch in den einschlägigen Kodifikationen des Öffentlichen Rechts. Mit der individuellen Vereinigungsfreiheit eröffnet die Rechtsordnung dem Individuum eine Möglichkeit zur verbesserten Rechtsdurchsetzung. Es steht den Begünstigten frei, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen oder nicht. Durch Art. 9 Abs. 1 und 3 GG wird daher ebenso die negative Koalitionsfreiheit geschützt (dazu BVerfGE 10, 89, 102; 50, 290, 354; differenzierend Säcker, Grundprobleme, S. 35 ff.). Von der individuellen Vereinigungsfreiheit zu unterscheiden ist die ebenfalls in Art. 9 Abs. 1 und 3 GG verankerte kollektive Betätigungsfreiheit der Vereinigung selbst, ohne die der individuellen Gewährleistung ihre eigentliche Verwirklichungsmöglichkeit abgeschnitten wäre (speziell zur Koalitionsfreiheit Konzen, ArbRGeg 18 (Dok 1980), 1981,19,20 f.; ders., AcP 177 (1977), 473,494). Je nach dem wie die inhaltlichen Akzente der kollektiven Betätigungsfreiheit gesetzt werden, läßt sich diese entweder als „summiert-individuelle Grundrechtsausübung" auffassen (Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 135 ff.; Konzen, AcP 177 (1977), 473, 494 ff.) oder als überindividuelles, sich aus dem Zusammenschluß selbst rechtfertigendes (Gruppen-)Freiheitsrecht mit der Folge der Anerkennung eines in Art. 9 Abs. 1 und 3

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GG).73 Für Geschäfte des Erb- und Familienrechts ist der Grundsatz der Vertragsfreiheit aus Art. 14 Abs. I 74 bzw. Art. 6 Abs. 1 GG zu entnehmen. Als alleinige Anwendungsfälle der von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Vertragsfreiheit verbleiGG verankerten Doppelgrundrechts des Individuums und der Koalition (BVerfGE 4, 96, 101 f., das das GG insoweit in der Verfassungstradition der WRV sieht (vgl. Art. 165 Abs. 1 WRV); std. Rspr, vgl. noch BVerfGE 13, 174, 175; 17, 319, 333; 19, 303, 312; 28, 295, 304; 36, 227, 241; 50, 290, 354. Aus dem Schrifttum: Däubler RdA 1973, 193, 194; Säcker, Grundprobleme, S. 35; W. Weber, S. 15.) - Das gegen die Lehre vom Gruppenfreiheitsrecht und die darin wurzelnde Theorie vom Doppelgrundrecht vorgebrachte Bedenken, dieses sei nicht nur Grundlage für eine „freiheitsverstärkende Grundrechtskorrespondenz", sondern auch Grundlage für eine „freiheitsbeschränkende Korrespondenz" (Scholz, Koalitionsfreiheit, S.62f.; ebenso Zöllner, AöR 98 (1973), 71, 80) verliert dadurch seine Überzeugungskraft, daß es sich bei der kollektiven Betätigung um eine Verselbständigung von Individualinteressen handelt, die aus diesem Grunde ebenso einem freiheitsgewährleistenden Verwirklichungsgebot unterliegt wie die Individualinteressen selbst. Aus dem Charakter von Art. 9 Abs. 1 und 3 GG als Doppelgrundrecht kann daher nicht auf eine Antinomie zwischen individueller und kollektiver Freiheitsgewährleistung geschlossen werden. Die kollektive Gewährleistung wird im Gegenteil aus dem individuellen Selbstsetzungsbedürfnis der Gruppenmitglieder gespeist. Unabhängig von dieser individuellen Wurzel stellt die kollektive Betätigungsfreiheit als Autonomie unterstaatlicher Verbände eine nur aus staatlichem Recht abgeleitete Autonomie dar. Das in der Vereinigung verfestigte Gruppeninteresse ist nicht (zwingend) identisch mit den jeweiligen Einzelinteressen der Verbandsangehörigen. Die ihrer Natur nach nie völlig gleichen Einzelinteressen verschmelzen im Gruppeninteresse lediglich zu einem „kleinsten gemeinsamen Nenner". Der Verbandszweck repräsentiert damit nur mehr oder weniger große Ausschnitte unterschiedlicher Einzelinteressen, die sich aus mannigfaltigen Motiven im Verband treffen. Aus dem daraus entstehenden Geflecht individueller Selbstsetzungsbedürfnisse definiert sich der Verbandszweck als neues Gruppeninteresse. Das Gruppeninteresse verkörpert also nicht schlechthin die Summe der vorrechtlichen Einzelinteressen aller in der Vereinigung zusammengeschlossenen Individuen, sondern bildet im Sinne eines Interessenkompromisses nur Ausschnitte davon ab. Mithin definiert sich das Betätigungsinteresse erst aus dem Zusammenschluß, der vorrechtlich nicht existent ist. Die Vereinigung kann ihre Selbstsetzungsbefugnis daher nur aus dem Recht beziehen. Sie wird nicht um ihrer selbst Willen geschützt, sondern als korporative Objektivation individueller Selbstsetzung (Zöllner, Schranken, S.23ff.; ders., AöR 98 (1973), 71, 79). Aus dieser Erkenntnis heraus verbindet sich allein mit der individuellen Vereinigungsfreiheit die Vorstellung privatautonomer Rechtsverwirklichung im eingangs beschriebenen Sinne, während die kollektive Vereinigungsfreiheit nicht auf einer Anerkennung vorstaatlicher Regelungsvorrechte beruht, sondern auf staatliche Ermächtigung zurückgeht. 73 Die im Grundsatz der Privatautonomie verwurzelte Rechtsidee der Selbstbestimmung des Individuums wäre nur unvollkommen verwirklicht, wenn dem einzelnen Rechtssubjekt nicht auch das Recht zustünde, Uber die nach den Grundsätzen der Vertragsfreiheit erworbenen Sachen und Rechte frei zu disponieren. Diese Dispositionsfreiheit garantiert das Recht auf Eigentum, das damit eine Komplementärstellung zum Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit wie auch zur Vertragsfreiheit einnimmt und deren Effektuierung dient (vgl. nur BVerfGE 24, 367, 389, 400; 31, 229, 239; 50, 290, 339; 68, 193, 222; Badura, Hdb. VerfR, § 10 Rn.2 (S.329f.); MeierHayoz, FG Oftinger, S. 171; Ossenbühl, AöR 115 (1990), 1, 26f.; Palandt-Bassenge, Überblick v. § 903 Rn. 3; Staudinger-Seiler, Vorbem. zu §§ 903 ff., Rn. 19); zur Deutung des Eigentums als Freiheitsgrundrecht in rechtshistorischer Sicht Hattenhauer, Grundbegriffe, S. 120 ff. 74 Aus Art. 14 GG leitet sich insoweit auch die Testierfreiheit als weitere Säule der Privatautonomie ab, die einfachgesetzlich in §§ 1937 bis 1941 BGB verankert ist (zum Inhalt der Testierfreiheit etwa Strothmann, Jura 1982, 349, 349; Palandt-Edenhofer, Überbl. v. §2064, Rn.3; Staudinger-Otte, Einl. zu §§ 1922 ff., Rn. 51; die historische Entwicklung der Testierfreiheit be-

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ben damit schuldrechtliche Verträge, die keinem speziellen Schutzbereich zugeordnet werden können. 75 Auch soweit die Vertragsfreiheit nicht ausschließlich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt ist, sondern zudem in den Schutzbereich eines spezielleren Grundrechts fällt, bleibt es dennoch bei dem aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleitenden Vorrang der Privatautonomie, die sich über das Instrumentarium des Vertragsrechts entfaltet. Die in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Grundaussage der allgemeinen Handlungsfreiheit strahlt insoweit in die sie effektuierenden spezielleren Grundrechtsgewährleistungen aus.

schreiben W. Hesse, Einfluß des wirtschaftlichen Fortschritts auf die Entstehung und Entwicklung der Testierfreihteit, 1980; Staudinger-Boehmer, 11. Aufl. 1954, Einl. ErbR §14.). Das Rechtsinstitut der Testierfreiheit verlängert die lebzeitige Dispositionsbefugnis des Eigentümers zu einem autonomen Gestaltungsrecht über den Tod hinaus (Ebenroth, Erbrecht, Rn. 182; Leipold, MünchKomm BGB, Einl. Erbrecht, Rn. 13), das Leisner (Grenzen, S. 55 f.; dort allerdings undeutlich auf das Erbrecht bezogen) treffend als „institutionalisierte Nachwirkung der menschlichen Persönlichkeit" beschrieben hat. Damit erkennt die Rechtsordnung an, daß das im Autonomieprinzip wurzelnde Selbstsetzungsbedürfnis des Menschen durch seinen Tod keine zeitliche Begrenzung erfährt. Die Ordnung des kraft privatautonomer Betätigung erworbenen Gutes über den Tod hinaus ist vielmehr ebenso Ausdruck der Wesenheit des Menschen wie das lebzeitige Handeln. Die Testierfreiheit stellt im Hinblick auf das Bedürfnis des Einzelnen, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, ein notwendiges Äquivalent zur Eigentumsfreiheit dar (Boehmer, in: Grundrechte II, S. 401,407; Leipold, Rn. 50; Leisner, Grenzen, S. 53 f.; Papier, in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz, Art. 14 Rn. 244; aA Soergel-Stein, Einl. ErbR, Rn. 4). Es ist daher nicht zufällig, daß der Verfassungsgesetzgeber beide Freiheiten in Art. 14 GG gewährleistet hat. Kontroverser Beurteilung unterliegt allerdings, ob die Testierfreiheit durch die Erbrechtsgarantie oder die Eigentumsgarantie gewährleistet wird. Überwiegend wird angenommen, die Testierfreiheit sei Ausfluß der Erbrechtsgarantie (BVerfGE 58, 377, 398; 67, 329, 341; BGHZ 111, 36, 39; BGH WM 1994, 251, 252; Boehmer, in: Grundrechte II, S. 401,418; Brox, Erbrecht, Rn. 24; Bryde, in: v. Münch/ Kunig, Rn. 45; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 179; Höfling, S. 16; Husmann, NJW 1971,404, 404; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14, Rn. 94; Leipold, Erbrecht, Rn. 54; ders., MünchKomm BGB, Einl. ErbR Rn. 18; Leisner, Grenzen, S.50; v. Lübtow, S. 19; Papier, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 14, Rn. 241; Rittstieg, in: AK-GG, Art. 14, Rn. 149; Schlüter, Rn. 7; Soergel-Stein, Einl. ErbR Rn.6; Staudinger-Boehmer, BGB, 11. Aufl. 1954, Einl. ErbR, § 23 Rn. 18; Staudinger-Otte, BGB, 12. Aufl. 1989, Einl. zu §§ 1922 ff., Rn. 56; wohl auch Battes, AcP 178 (1978), 337, 339 mit Fn. 4; nicht eindeutig Lange/Kuchinke, § 2 IV 2 c (m. Fn. 72)). Von der Sache her zutreffender erscheint es jedoch, die Testierfreiheit der Eigentumsgarantie zuzuordnen, da die Freiheit zu testieren, also das Recht, sein Vermögen zu vererben, dem im Institut Erbrecht garantierten Vermögensübergang von Todes wegen zeitlich vorgelagert ist. In concreto geht es um die lebzeitige Verfügungsbefugnis des Erblassers auf den Todesfall. Diese jedoch folgt aus dem Eigentum und ist als Testierfreiheit Voraussetzung für die Einrichtung Erbrecht (zutreffend OLG Hamm AgrarR 1980, 50; Stöcker, WM 1979, 214, 217; vgl. auch § 165 Abs. 1 S.l Paulskirchenverfassung: „Jeder Grundeigentümer kann seinen Grundbesitz unter Lebenden und von Todes wegen ganz oder teilweise veräußern."), die den Zuwachs an Vermögen auf Seiten des Erben schützt (anders Leisner, Grenzen, S. 50, der auch die Vermögensübernahme als Ausdruck der Testierfreiheit ansieht). 75 Erichsen, Jura 1987, 367, 370; Helm, S.42; Höfling, S. 18f.; Papier, Hdb. VerfR., S.799, 832f. (Rn. 75); wohl auch BVerwGE 1, 321, 323; 2, 114, 115; 2, 118, 120; 3, 303, 304; 4, 332, 336; Degenhart, JuS 1990, 161, 166; Schmidt-Preuß, DVB1. 1993, 236, 239; Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8, 10; Wittig, NJW 1967, 2185, 2188; krit. Nipperdey/Wiese, in: Die Grundrechte IV, S. 741, 886 (Fn. 594).

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2. Objektive Dimension der Grundrechte und Bipolarität der Vertragsrechtsbeziehung Die voranstehenden Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Verankerung der Vertragsfreiheit geben Anlaß, auf die Problematik der sog. Dritt- oder Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die bipolare Vertragsbeziehung unter Privatrechts Subjekten einzugehen. An dieser Stelle soll der nie vollständig beendete Streit, ob eine „unmittelbare" oder „mittelbare" Grundrechtswirkung anzunehmen ist, nicht im einzelnen nachgezeichnet werden.76 Soweit in Stellungnahmen zu dieser Problematik eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Privatrechtssubjekte angenommen wird,77 widerspricht diese Auffassung der Staatsgerichtetheit der Grundrechte.78 Deren objektive Dimension ist nicht anders als die („subjektive") abwehrrechtliche Seite die Folge einer staatlichen Gewährleistung. Der Staat erkennt die Freiheitsrechte der in ihm zusammengeschlossenen Individuen an.79 Infolgedessen hat der Staat die Freiheitsrechte der Individuen zu schützen, während sich das einzelne Individuum auf der anderen Seite solcher staatlicher Eingriffe erwehren kann, die der grundrechtlich verbürgten Freiheitsgewährleistung widersprechen. Damit ist es von vornherein ausgeschlossen, daß sich Privatrechtssubjekte in der bipolaren Vertragsbeziehung auf die grundrechtlich garantierten Freiheitsgewährleistungen berufen können. Das einzelne Privatrechtssubjekt kann also nicht unter Berufung auf die durch Art. 2 Abs. 1 GG und andere flankierende Grundrechte geschützte vertragliche Privatautonomie von einem anderen Privatrechtssubjekt den Abschluß eines Vertrages oder gar den Vertragsschluß zu bestimmten Bedingungen verlangen.80 Andererseits wirkt die objektive Dimension der Grundrechte sehr wohl „mittelbar" auf die privatrechtliche bipolare Vertragsbeziehung ein. Da der einfache 76 Vgl. dazu nur Bleckmann, Staatsrecht II, § 10 Rn. 68 ff.; Hager, JZ 1994, 373 ff.; K. Hesse, Grundzüge, Rn. 351 ff.; Oeter, AöR 119 (1994), 529 ff.; Rüfner, GS Martens, S. 215 ff Schwabe, AöR 100 (1975), 442ff.; Stern/Sachs, Staatsrecht HI/1, §76 II (S. 1538 ff.). 77 Vgl. nur BAGE 1, 185, 191 ff.; 4, 240, 242f.; 4, 274, 276f.; BAG NJW 1973,77f. mwN.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S.306ff. (insbes. S. 326ff.); Nipperdey, RdA 1950, 121, 125; ders., Grundrechte und Privatrecht, S. 13 ff.; ders., BB 1951, 282, 283; NipperdeyAViese, in: Grundrechte IV/2, S.741, 7 5 0 f „ 752ff.; vgl. jüngst auch Hager, JZ 1994, 373 ff. 78 Diederichsen, in: Rangordnung, S. 39, 46 ff. 79 Anders und insoweit konsequent Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 328 ff., der die Vertragsfreiheit als vom Staat abgeleitete Kompetenz zum „Eingriff in eigene und fremde Grundrechte" ansieht (aaO., S. 330) und auf diese Weise zwanglos zur unmittelbaren Grundrechtsbindung der Privatrechtssubjekte gelangt. 80 Im Ergebnis nicht haltbar daher BVerfGE 86, 122, 127 ff.(= NJW 1992, 2409, 2410 f.) Schülerzeitung, das der Sache nach einen Einstellungsanspruch unter Rückgriff auf Art. 5 Abs. 1 für möglich hält; zu Recht ablehnend Boemke, NJW 1993, 2083, 2084f.; Herrmann, ZfA 1996, 19, 57 f.; Hillgruber, ZRP 1995, 6, 8 f. (mit dem Resümee: „Die grundrechtlich geschützte Privatautonomie ist in höchster Gefahr, und diese Gefahr droht ihr ausgerechnet von dem Verfassungsorgan, das in besonderer Weise zu ihrem (...) Schutz aufgerufen ist."; aaO., S. 9); anders in der Bewertung offenbar Reuter, EzA Art. 5 GG Nr. 22, S. 10 f.

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

Gesetzgeber angehalten ist, die in den grundrechtlichen Freiheitsrechten errichtete Wertordnung zu verwirklichen, werden die dort statuierten Rechtsprinzipien durch die Arbeit des Gesetzgebers im einfachen Recht abgebildet. Erst dadurch wird es dem Individuum überhaupt möglich, von seiner auf verfassungsrechtlicher Ebene verbürgten Freiheit in rechtlich erheblicher Weise Gebrauch zu machen. Daher ist es auch nur folgerichtig, daß Art. 1 Abs. 3 GG die Gesetzgebung - wie im übrigen auch die Judikative und die Exekutive - an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht bindet. Damit ist freilich noch nichts darüber ausgesagt, in welcher Weise diese Bindung wirkt. Die Art und Weise der Bindung scheint in der Tat das eigentliche Problem zu sein, das im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zu lösen ist.81 Nicht zuletzt deshalb ist der Begriff der „mittelbaren Grundrechtswirkung" für sich genommen wenig aussagekräftig. 82 Die Freiheitsrechte geben in ihrer objektiven Dimension nur generelle Maßstäbe vor. Hinter dem Vertragsrecht, das hier zu betrachten ist, steht insoweit primär das Rechtsprinzip der Selbstbestimmung, das in dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit und anderen flankierenden Grundrechten seinen Niederschlag gefunden hat. Für die Tätigkeit des Gesetzgebers ist in diesem Zusammenhang entscheidend, daß jede Vertragsrechtsbeziehung mindestens eine bipolare Struktur aufweist. Aufgabe ist es also nicht nur, die Selbstbestimmung eines einzelnen Individuums zu sichern. Es gilt vielmehr, allen Beteiligten ein selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen. Das ist, wie bereits dargelegt wurde, nicht gleichbedeutend mit einer wechselseitigen Optimierung der Freiheitsbereiche, da Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, auch das Risiko des Fehlschlags oder des unvorteilhaften Geschäfts einschließt. Der aus Art. 2 Abs. 1 GG sprechende Vorrang des selbstbestimmten Handelns - auch auf dem Gebiete des Privatrechts - verlangt vom Gesetzgeber dementsprechend äußerste Zurückhaltung bei der Einwirkung in Privatrechtsverhältnisse,83 da der „durch die Garantie der Privatautonomie abgeschirmte Binnenbereich der Vertragsbeziehungen (...) im Grundsatz selbst gegen Eingriffe des Gesetzgebers grundrechtlich geschützt" ist.84 Es geht nicht an, das Selbstbestimmungsprinzip einerseits verfassungsrechtlich anzuerkennen, es aber andererseits unter Berufung auf die objektive Dimension der Grundrechte weitgehend zu relativieren.85 Für den Bereich des Vertragsrechts wird vom einfachen Gesetzgeber demnach nicht mehr, aber auch nicht weniger verlangt, als das Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, mit dem den Parteien die selbstbestimmte Interessenverwirklichung möglich wird. Selbstbestimmung in diesem 81 Vgl. auch Hönn, Kompensation, S. 55; Klein, NJW 1989, 1633, 1640; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 315 f., 326 ff.; Schwabe, Drittwirkung, S. 25. 82 Vgl. auch Rupp, AöR 101 (1976), 161, 168; Rüfner, GS Martens, S. 215, 219. 83 Klein, NJW 1989, 1633, 1640; Medicus, AcP 192 (1992), 35, 55,61 f. 84 So zutreffend Oeter, AöR 119 (1994), 529, 543. 85 Hönn, Jura 1984, 57, 63; Klein, NJW 1989, 1633, 1640.

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Sinne ist weder verbunden mit einer Interessendurchsetzungsgarantie für eine einzelne Partei, noch gleichbedeutend mit der Gewährleistung eines an überindividuellen Gerechtigkeitsvorstellungen orientierten materiellen Vertragskompromisses. Dort, wo der Gesetzgeber materielle Defizite des privatautonomen Vertragsprozesses erkennt, ist er selbstverständlich nicht gehindert, diese unter Einschränkung des Selbstbestimmungsprinzips zu beseitigen. Die dazu erforderliche gesetzliche Regelung bedarf der Legitimation aus einem anderen - nach Abwägung vorgängigen - Rechtsprinzip. In Übereinstimmung mit Franz Bydlinskfi6 muß „bei der juristischen, rationalen Arbeit de lege ferenda (...) der primäre Ansatz (...) bei den Prinzipien erfolgen (...)". Es „ist danach zu trachten, die Leitgedanken in den konkreten Regelungen möglichst konsequent und in möglichst optimaler Austarierung zur Geltung zu bringen." Anders als bei der Arbeit des Gesetzgebers ist dagegen bei der Arbeit de lege lata „primär von den konkreten positiven Regeln auszugehen, die gerade zu diesem Zweck unmittelbarer Anwendung existieren." 87 Eine Einschränkung des vertraglichen Selbstbestimmungsprinzips ist der durch Art. 1 Abs. 3 GG gebundenen Judikative nur möglich, soweit das anzuwendende Recht selbst reicht. 88 Fehlen gesetzliche Regelungen, die die Grenzen der Vertragsfreiheit ausdrücklich festlegen, können Grenzen der Vertragsfreiheit nur aus immanenten Bindungen der einfachgesetzlichen vertragsrechtlichen Werteordnung abgeleitet werden. Ein Rückgriff auf übergeordnete Prinzipienschichten ist methodisch nur dort zulässig, wo „Unklarheiten, Vagheiten und vermeidbare Widersprüche zu überwinden sind." 89 Die Bestimmung des Inhalts der Vertragsfreiheit, wie sie für das Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs von Bedeutung ist, hat also ihre Basis auf einfachgesetzlicher Ebene. 90 Berührungspunkte mit dem Verfassungsrecht ergeben sich erst über das Prinzipienmodell des Rechts, das sowohl die verfassungsrechtliche als auch die einfachgesetzliche Ebene des Rechts durchdringt. 91 Es besteht mit anderen Worten eine Werteidentität zwischen Verfassungsrecht und Privatrecht, die zugleich eine Präponderanz der Grundrechte bei der Lösung vertragsrechtlicher Probleme ausschließt. 92 Der Erkenntnisvorgang, der einer Inhaltsbestimmung der Vertragsfreiheit vorausgeht, ist vielmehr ein „gegenläufiger": 93 Primär geht es um eine Bestimmung des Inhalts der Vertragsfreiheit aus der Wertordnung des Vertragsrechts heraus. 94 Dadurch werden die Rechtsprinzipien aus ihren ein86

Bydlinski, Handels- oder Unternehmensrecht, S. 28. Bydlinski, Handels- oder Unternehmensrecht, S. 28; vgl. auch Lerche, FS Odersky, S. 215, 227, 229. 88 Vgl. Klein, NJW 1989, 1633, 1640. 89 Bydlinski, Handels- oder Unternehmensrecht, S. 28. 90 Diederichsen, in: Rangordnung, S. 39, 62. 91 Dazu Düng, FS Nawiasky, S. 157, 176 ff. 92 Vgl. Diederichsen, in: Rangordnung, S. 39, 70ff. 93 Vgl. Lorenz, Methodenlehre, S.475; Hönn, Kompensation, S. 63. 94 Bydlinski, System, S. 128; Schlechtriem, in: 40 Jahre GG, S. 39, 52. 87

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

Privatautonomie

fachgesetzlichen Normierungen aufgehellt, während diese wiederum als Abbild der verfassungsrechtlichen Prinzipienschicht erscheinen. Nur bei Unklarheiten, Vagheiten und Widersprüchen, die sich auf der einfachgesetzlichen Ebene der Gesetzesanwendung ergeben, ist ein Rückgriff auf die höherrangige verfassungsrechtliche Prinzipienschicht zulässig. Dagegen vermag eine isolierte verfassungsrechtliche Betrachtung nicht weiterzuführen. 95 Fritz Rittner betont zu Recht, daß die eigentliche Bedeutung des Rückgriffs auf die Verfassung darin liegt, den Vorrang der Privatautonomie - in der Bürger-Staat-Beziehung - vor hoheitlichem Zugriff zu schützen.96 Eine Lösung konkreter vertraglicher Interessenkonflikte zwischen Privaten ist dagegen nicht durch Verschiebung der Problematik auf eine höhere, dafür aber notwendig abstraktere Prinzipienebene zu erwarten, sondern nur durch eine Analyse der einfachgesetzlichen Konkretisierungen, freilich im Lichte des die gesamte Rechtsordnung bestimmenden Prinzipienmodells. Betrachtet man dagegen nur die verfassungsrechtliche Schicht der Rechtsordnung, ergeben sich daraus nicht zuletzt aufgrund ihrer eindimensionalen, abwehrrechtlichen Konzeption für den Gesetzesvollzug im bi- oder mehrpolaren Vertragsrechtsverhältnis keine hinreichend genauen Anweisungen: Schon der Kirchenrechtlicher Sohm, der das Privatrecht als „Magna Charta unserer öffentlichen Freiheit" bezeichnete,97 hat in den ersten Reichstagsberatungen zum BGB darauf aufmerksam gemacht, daß ein auf Verfassungsebene verbürgtes Selbstbestimmungsprinzip seiner Struktur und seinem Inhalt nach erst auf einfachgesetzlicher Ebene zur Entfaltung gelangt: „Weit mehr als auf der Staatsverfassung beruht auf dem bürgerlichen Recht das, was wir Freiheit nennen." 98 Uwe Diederichsen hat in diesem Zusammenhang mit Deutlichkeit ausgesprochen, daß die Privatautonomie des BGB durch die verfassungsrechtliche Gewährleistung des „Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit" keine andere geworden ist. In die Verfassung habe sie ebenso wie das Eigentum als Grundwert aus denselben Gründen Aufnahme gefunden, „die bereits maßgebend dafür waren, daß sie (Eigentum und Vertragsfreiheit; d. Verf.) Basis für die Gestaltung des Zivilrechts waren, nämlich deshalb, weil sie mit dem Anwachsen der Zivilisation deren allgemeinem Menschenbild" entsprachen.99

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So auch Diederichsen, in: Rangordnung, S. 39, 71, 81 f., 90. Rittner, AcP 188 (1988), 101, 129. Vgl. Mugdan, S. 909. Vgl. Mugdan, S. 909. Diederichsen, in: Rangordnung, S. 39, 72.

III. Objektivation

des Selbstbestimmungsprinzips

III. Objektivation

im Vertragsrecht

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des Selbstbestimmungsprinzips im Vertragsrecht

1. Ausübungsformen der Vertragsfreiheit a. Konzeption des BGB Die Vertragsfreiheit ist nicht nur zentraler Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung, sondern wird allenthalben als wichtigster Ausfluß der Privatautonomie angesehen. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der synonymen Verwendung der Begriffe „Privatautonomie" und „Vertragsfreiheit" wider, von der bereits die Rede war. Die auf einfachgesetzlicher Ebene ermöglichte vertragliche Selbstbestimmung bedeutet nichts anderes als die rechtlich anerkannte Durchsetzung individueller Interessen. 100 Die Rechtsordnung stellt dem Individuum einen Mechanismus zur Verfügung, mit dem es die aus seinem Selbstverwirklichungsbedürfnis heraus erwachsenen Interessen gegenüber anderen Individuen rechtsverbindlich formulieren und im Zusammenhang mit diesen in eine rechtsverbindliche Gestaltung umsetzen kann. Der Vertrag ist Mittel zur Selbstbestimmung und als solcher wichtigste Erscheinungsform des Rechtsgeschäfts. 101 Nach dem Zweck der rechtsverbindlichen Gestaltung können Verträge der Interessengleichrichtung (Gesellschaftsverträge), des Interessengegensatzes (Austauschverträge) und der Interessenwahrung (Treuhandverhältnisse) unterschieden werden. 102 Diese Unterscheidung bezeichnet das Ziel der Vertragsdurchführung, den damit bezweckten vertraglichen Erfolg. Von dieser inhaltlichen Dimension zu trennen ist das Interesse am Vertragsschluß. Gegenüber dem Interesse am Vertragsschluß verhält sich das Vertragsrecht „neutral" in dem Sinne, daß mit dem Vertrag beliebige Interessen verfolgt werden können. 103 Einer Kontrolle unterliegt erst das Ergebnis des Vertragsprozesses, der vertragliche Erfolg als Synthese des Interessen Verwirklichungsprozesses. Beides, das Interesse am Vertragsschluß und an einem konkreten vertraglichen Erfolg, ist allerdings aufs engste miteinander verzahnt.

100 Protokolle I, S. 281; vgl. auch Ihering, Zweck I, S. 107, der im Egoismus „die Triebfeder des gesamten Verkehrs" sieht; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, S . 7 7 ; Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), S. 1, 19, 21 (ihr Hinweis auf Schmidt-Rimpler, A c P 147 (1941), 130, 156, geht allerdings fehl); Danz, S. 7 f.: Der innere Wille beim Rechtsgeschäft geht regelmäßig auf einen wirtschaftlichen (od. gesellschaftlichen) Erfolg. 101 Das Wesen des Rechtsgeschäfts besteht nach den Motiven I, S. 126, darin, „daß ein auf die Hervorbringung rechtlicher Wirkungen gerichteter Wille sich betätigt, und daß der Spruch der Rechtsordnung in Anerkennung dieses Willens die gewollte rechtliche Gestaltung in der Rechtswelt verwirklicht." 102 Zur Einteilung von Verträgen nach der Interessenstruktur vgl. Beyerle, S. 46; Rumpf, A c P 119 (1921), 1, 53 ff.; Rittner, Ausschließlichkeitsbindungen, S. 112 ff. 103 Dazu auch Hart, Die A G 1984, 66, 70; Hillgruber, Schutz, S. 153; Schaack, S. 28.

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

Privatautonomie

Dies offenbart den eigentlichen instrumentalen Charakter der Vertragsfreiheit: Sie kann ohne die Rechtsidee der Selbstbestimmung nicht gedacht werden und dient dessen Verwirklichung in der Sphäre des Rechts. In ihrer Ausformung als Teil der Privatautonomie liegt zugleich die Anerkennung des Selbstbestimmungsprinzips und der autonomen Interessenverfolgung. Wie der einzelne seine Interessen durchzusetzen vermag, liegt dabei in seinen Händen. Vertragsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit einer rechtlichen Interessendurchsetzungsgarantie. 104 Das einzelne Rechtssubjekt trägt zunächst das Risiko eines für ihn günstigen Vertragsabschlusses: 105 Selbstbestimmte Interessenverwirklichung bedeutet immer auch Rechtsverwirklichung unter dem Eindruck von Motivationen, Irrtümern und Fehleinschätzungen (stat pro ratione voluntas! 106 ). Mit der Gewährung von Vertragsfreiheit scheint der Gesetzgeber insoweit nur das Instrumentarium bereitzustellen, das es dem Individuum ermöglicht, seine Interessen durchzusetzen. 107 Bei dieser Sicht der Dinge ist es daher durchaus richtig, wenn die Schöpfer des BGB ausweislich der Motive 108 die Funktion der Vertragsfreiheit in der Nutzbarmachung der Selbstbestimmungsidee sahen. 109 Begreift man Vertragsfreiheit dergestalt zunächst einmal als privatautonomes Funktionsprinzip, so fällt auf, daß dieses Funktionsprinzip in der Privatrechtsordnung wie auf der Ebene der Verfassungsrechtsordnung an keiner Stelle eine explizite Aufnahme gefunden hat. 110 Auch davon war bereits die Rede. Das mit dem Begriff der Privatautonomie bezeichnete Recht des Individuums, seine Angelegenheiten unbeeinflußt von öffentlichen oder privaten Drittinteressen indivividuell zu gestalten, ist jedoch verschiedentlich seinen Ausübungsformen nach einfachgesetzlich verankert. Als Ausübungsformen der Vertragsfreiheit im vorbenannten Sinne werden gemeinhin die Abschlußfreiheit, die Kontrahentenwahl104 Raiser, ZHR 111 (1948), 75, 93; Reuter, in: Grundlagen, S. 105, 118; zum Schweiz. Recht M. Fischer, S. 75 f. 105 B G H Z 107,92, 98; 106,269, 272; BGH NJW 1994, 1278, 1279; NJW 1994, 1341, 1342. 106 Canaris, AcP 184 (1984), 201, 210; Coester-Waltjen AcP 190 (1990), 1, 14f.; Flame, FS D J T I , S. 135, 141; ders., Allgemeiner Teil II, § 1, 5 (S. 6); Hillgruber, Schutz, S. 153 f.; Kempen, DZWir 1994,499, 503 f.; zu den sog. Bürgschaftsfällen vgl. B G H N J W 1994, 1278, 1279; N J W 1994, 1341, 1342 (jew. mwN).- Aus dem weiteren Schrifttum vgl. noch Gamillscheg, AcP 176 (1976), 197, 205; Kramer, ZHR 146 (1982), 105; H. P. Westermann, AcP 175 (1975), 375, 408 (zum Gesellschaftsrecht); ablehnend etwa Reuter, Die A G 1979, 321, 324f.; Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3, 22; Wiedemann, FS Rob. Fischer, S. 883, 896 f. 107 Böhm, O R D O XVII (1966), S. 75, 104, 138 ff., spricht davon, der Gesetzgeber habe sich auf die Pflege und Handhabung des Ordnungsrahmens zu beschränken; vgl. auch Erman-Hefermehl, Vor § 145, Rn. 16; Hart, Die A G 1984, 66, 71 \Raiser, ZHR 111 (1948), 75, 80. 108 Motive II, S.2; „Vermöge des Prinzips der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne absolute Gesetzesvorschriften entgegenstehen." 109 Zur Konzeption des BGB-Vertragsrechts als „interessenneutrales" Rechtsinstrumentarium vgl. Bydlinski, Privatautonomie, S. 103. 110 Anders etwa Art. 1134 des franz. Code civil; Art. 19 I des Schweiz. OR.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

65

freiheit, die Inhalts- und Gestaltungsfreiheit sowie die Abänderungs- und Auflösungs- bzw. Beendigungsfreiheit angesehen. 111 Darin eingeschlossen ist die negative Vertragsfreiheit, sich jeden oder eines bestimmten Vertragsschlusses zu enthalten. 112 Das BGB setzt die genannten Ausübungsformen der Vertragsfreiheit der Sache nach im Recht der Schuldverhältnisse eingangs des ersten und zweiten Abschnitts des Zweiten Buches in den §§ 241 und 305 voraus. 113 Die Ausübungsformen der vertraglichen Selbstgestaltungsfreiheit sind in ihrer positiven Dimension wichtigster Entstehungsgrund für Schuldverhältnisse (§ 305 BGB). Die Vorschrift des § 305 BGB baut insoweit auf den Regeln über den Vertragsschluß in §§ 145 ff. BGB auf. Mit § 305 BGB sind aber nicht nur die Ausübungsformen der Abschlußund Kontrahentenwahlfreiheit angesprochen, die in negativer Hinsicht ihre Bestätigung in § 154 Abs. 1 BGB erfahren, 114 sondern ausdrücklich auch das Recht, den Vertrag abzuändern, die Abänderungsfreiheit. Aus dem Recht, den Vertrag abzuändern, also mit einem neuen Inhalt zu versehen, ergibt sich - auch wenn dies in § 305 BGB nicht ausdrücklich gesagt wird - zugleich die Freiheit der Vertragspartner, das Schuldverhältnis im weiteren Sinne aufzulösen bzw. zu beenden. Das ist bei gegenseitigen Verträgen, bei denen ein Leistungsaustausch wenigstens zum Teil schon stattgefunden hat, ohne weiteres nachzuvollziehen, da der contrarius consensus das ursprüngliche Schuldverhältnis zu dessen Beendigung regelmäßig in ein Rückgewährschuldverhältnis umgestaltet. 115 Aber auch soweit ein Leistungsaustausch noch nicht erfolgt ist, handelt es sich bei der Vertragsaufhebung der Sache nach um nichts anderes als um eine Abänderung der ursprünglichen Leistungspflichten. 116 Die Auflösungs- bzw. Beendigungsfreiheit findet für die aus dem Vertrag erwachsenden Forderungen (Schuldverhältnisse im engeren Sinne) ihre Bestätigung in § 397 BGB. Während also § 305 BGB die Vertragsbegründungs-, -abänderungs- und -beendigungsfreiheit regelt, wird die Vertragsfreiheit in Gestalt der vertraglichen Inhaltsfreiheit in § 241 BGB statuiert, wonach sich der Schuldner zu einer beliebigen Leistung verpflichten kann. Zwischen den einzelnen Ausübungsfreiheiten 111 Fikentscher, Schuldrecht, Rn. 84ff.; M. Fischer, S. 31 f., 34ff.; Flume, Allgemeiner Teil II, S. 12; Hönn, Jura 1984, 57, 70; Kramer, MünchKomm BGB, Vor § 145, Rn. 8; Lorenz, Lehrbuch des Schuldrechts, S.41 f.; vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsproblematik, S. 10f.; H. H. Huber, Bedeutung, S. 11; Scherrer, S. 9; J. Schmidt, Vertragsfreiheit, S. 34, der zehn „Freiheitsbereiche" unterscheidet. 112 W. Geiger, Schranken, S. 7; ders., Grundrechte, S. 26; Grossmann, S. 16; E. R. Huber, Verfassungsproblematik, S. 11; Merten, JuS 1976, 345, 346; Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 4f.; vgl. auch BAG NJW 1957, 1688, 1689. 113 v. Tuhr, Allgemeiner Teil I, S. 25; ß«7ow, AcP64 (1881), 1,71 ff. 114 Dazu Kramer, MünchKomm. BGB, § 154, Rn. 1.; Leenen, AcP 188 (1988), 381,401,404; Lindacher, JZ 1977, 604. 115 Vgl. auch Motive II, S. 79. 116 M. Fischer, S. 39; Hönn, Jura 1984, 57, 70; ders., Kompensation, S. 134f.

66

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

ergeben sich allerdings Überschneidungen, da etwa die Abänderung von Verträgen notwendig in deren Inhalt eingreift, während die inhaltliche Gestaltungsfreiheit die vorherige oder gleichzeitige Begründung eines Schuldverhältnisses voraussetzt.117 Der Einteilung der vertraglichen Ausübungsfreiheiten haftet aus diesem Grunde ein Moment der Beliebigkeit an. Häufig wird die Vertragsfreiheit daher allein durch die Merkmale der Abschluß- und Gestaltungsfreiheit charakterisiert.118 Ihren Wert erhält eine genauere Umschreibung der Ausübungsmöglichkeiten vornehmlich für die Fälle, in denen es, wie beim Kontrahierungszwang, darum geht, Richtung, Inhalt und Grenzen von Beschränkungen der Vertragsfreiheit zu bestimmen. Es hieße, ein unzutreffendes Bild des Normenhaushalts zu zeichnen, wenn der durch §§241, 305 BGB markierte Rechtsgestaltungsspielraum als vollständiges Abbild des im BGB verankerten Vertragsrechts bezeichnet würde. Die in §§ 241, 305 BGB angelegten Ausübungsformen der Vertragsfreiheit unterliegen von vornherein rechtlichen Beschränkungen,119 so daß es nicht übertrieben erscheint, wenn gesagt wird, die Geschichte der Vertragsfreiheit sei eine Geschichte ihrer Beschränkungen.120 Das zeigt sich bereits an den Außenschranken der Vertragsfreiheit, die aus anderen Rechtsprinzipien als jenem der Selbstbestimmung folgen. Es handelt sich dabei insbesondere um Normen wie §§ 134, 138, 242 BGB, die als Ausdruck der im Vertragsrecht verwirklichten Gerechtigkeitsidee zu verstehen sind. Andere Außenschranken wie § 125 BGB folgen der Idee der Rechtssicherheit. Die Außenschranken veranschaulichen, daß sich das geltende Vertragsrecht aus verschiedenen Quellen speist, von denen das Selbstbestimmungsprinzip nur eine, 117

In diesem Sinne wohl auch Staudinger-Löwisch, 13. Bearb. 1995, § 305, Rn. 3. Vgl. nur Grossmann, S. 17; Laufke, FS Lehmann I, S. 146; Palandt-Heinrichs, Einl v § 241, Rn. 5. 119 Diese Aussage gilt nicht nur für die allgemeine Privatrechtsordnung des BGB, sondern mit den Modifikationen der §§ 343 ff. HGB dem Grunde nach ebenso für das Sonderprivatrecht der Kaufleute. Soweit die Beschränkungen der Vertragsfreiheit dort eine andere Qualität aufweisen als im allgemeinen Privatrecht, wird dies von den das Handelsrecht beherrschenden Prinzipien der Klarheit, Sicherheit und Schnelligkeit des Handelsverkehrs und der Verläßlichkeit des Kaufmanns beeinflußt (vgl. auch Heymann-Horn, Vor § 343, Rn. 3). Durchweg ist damit gegenüber der allgemeinen Privatrechtsordnung des BGB eine größere privatautonome Betätigungsfreiheit verbunden. Gemessen an dem auf Selbstsetzung des Einzelnen angelegten Typus privatautonomer Rechtsordnungen kommt das Sonderprivatrecht der Kaufleute damit dessen Idealtypus näher als das im BGB angelegte privatautonome Gestaltungsinstrumentarium. Dies kann seine Erklärung darin finden, daß der Gesetzgeber den an Handelsgeschäften beteiligten Personen eine ausgeprägtere Fähigkeit zur Selbststeuerung zutraut als anderen Privatrechtssubjekten. Die größere privatautonome Betätigungsfreiheit besteht andererseits nur für den Bereich der Inhaltsund Gestaltungsfreiheit, während bei der Abschlußfreiheit ein eher stärkerer Grad der Reglementierung vorzuherrschen scheint. 120 Hackl, S. 14; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S.323; in diesem Sinne auch Schwerdtner, S. 131: „Die Vertragsfreiheit hat sehr viel von einer vorgeblichen individuellen Freiheit an sich."; zum schweizerischen Recht M. Fischer, S. 74f. 118

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

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wenn auch eine für das Vertragsrecht sehr wesentliche ist. Mit Claus-Wilhelm Canaris121 läßt sich insoweit von einem Primat der Vertragsfreiheit sprechen, woraus folgt, daß die Außenschranken, da sie dem Primat der Selbstbestimmung im Vertragsrecht widersprechen, stets besonderer gesetzlicher Begründung und Anordnung bedürfen. 122 Inwieweit sich der Kontrahierungszwang in dieses Schrankensystem integrieren läßt, bedarf noch der Untersuchung. Grundlage dafür ist zunächst eine nähere Ausleuchtung einzelner Ausübungsformen der Vertragsfreiheit, um einen Eindruck vom Wirkbereich privatautonomer Selbstbestimmung auf dem Gebiete des Vertragsrechts zu gewinnen. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt insoweit auf der Vertragsbegründungsfreiheit, da der Kontrahierungszwang als Vertragsbegründungskontrolle in diese Ausübungsform der Vertragsfreiheit eingreift und nur über sie in andere Wirkbereiche, die Inhalts- und Gestaltungsfreiheit sowie die Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit, ausstrahlt. b. Inhalt einzelner

Ausübungsformen

aa) Vertragsbegründungsfreiheit

(Abschluß- und

Kontrahentenwahlfreiheit)

Der Vertrag bezieht seine Geltungskraft aus der im Recht verankerten Anerkennung privatautonomer Interessenverwirklichung durch die Vertragsparteien. Als Rechtskonstrukt setzt er nach außen hin erkennbare, vom Bewußtsein der beteiligten Rechtssubjekte getragene, in Bezug aufeinander abgegebene und inhaltlich übereinstimmende Willensbekundungen voraus. Der dem Ziel der Interessenverwirklichung korrespondierende und von dem einzelnen, am Vertrag beteiligten Rechtssubjekt bezweckte rechtliche Erfolg, der durch die inhaltliche Gestaltung der vertraglichen Vereinbarung beschrieben wird, kann allerdings nur eintreten, wenn die Rechtsordnung zunächst im umfassenden Sinne die Freiheit der Rechtssubjekte zum Abschluß vertraglicher Vereinbarungen anerkennt. Nur wenn jedes am Vertragsschluß beteiligte Rechtssubjekt in der Entscheidung über das Ob des Kontraktes und damit letztlich in der Wahl des Kontrahenten rechtlich nicht gebunden ist, wenn also Abschluß- und Kontrahentenwahlfreiheit besteht, 123 kann auch im Hinblick auf die für die Interessendurchsetzung bedeutsame Vertragsgestaltung von privatautonomer Rechtsverwirklichung die Rede sein. 124 Die in das Belieben des Individuums gestellte Entscheidung über das Ob des Vertragsschlusses charakterisiert das im privatautonomen Gestaltungsinstrumentarium

121

FS Lerche, S. 872, 886f. Fastrich, S. 23; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 III 3 a. 123 Die Kontrahentenwahlfreiheit wird allerdings häufig nur als Teil der Abschlußfreiheit angesehen; vgl. etwa Grossmann, S. 16; Hackl, S. 22; H. P. Westermann, Vertragsfreiheit, S. 24. 124 Vgl. auch BGH NJW 1994, 1278, 1280; NJW 1994, 1341, 1342; Contzen, S. 10; Hillgruber, ZRP 1995, 6, 7. 122

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

Privatautonomie

der Vertragsfreiheit verankerte Prinzip der Abschlußfreiheit. Jede rechtliche oder tatsächliche (wirtschaftliche) Bindung der Abschlußfreiheit zeitigt notwendig Rückwirkungen auf die in der Vertragsgestaltung zum Ausdruck kommende Art der Interessendurchsetzung und berührt damit die inhaltliche Vertragsgestaltungsfreiheit der Vertragschließenden. Wer gezwungen ist, mit einem anderen als dem von ihm ausgewählten Vertragspartner oder gegen seinen Willen überhaupt einen Vertrag abzuschließen, wird darauf durch eine entsprechende Vertragsgestaltung reagieren, soweit sie nicht bereits als Folge eines Abschlußzwangs vorgegeben ist. Umgekehrt reduzieren sich damit die Möglichkeiten des „begünstigten" Vertragsteils, auf den Vertragsinhalt gestaltend einwirken zu können. Das gilt zumal, wenn auch dem Begünstigten in Hinsicht auf den Vertragspartner keine Vertragsalternativen zur Verfügung stehen. Daraus ergibt sich, daß die vertragliche Abschlußfreiheit und die Gestaltungsfreiheit in einem Stufen Verhältnis zueinander stehen. Die rechtliche Anerkennung der Abschlußfreiheit ist schlechthin konstitutiv für die Verwirklichung privatautonomer Vertragsfreiheit: Ohne die Freiheit zur Begründung von Verträgen ist die Freiheit der inhaltlichen Gestaltung nicht oder doch zumindest nur sehr eingeschränkt denkbar. Hans-Carl Nipperdey125 hat die durch § 305 BGB anerkannte Abschlußfreiheit daher als „ursprünglichste" Form der Vertragsfreiheit bezeichnet, und auch historisch betrachtet ist die Vertragsfreiheit zunächst als Problem der Abschlußfreiheit aufgefaßt worden. Eingriffe in die Abschlußfreiheit bedeuten immer zugleich einen Eingriff in die vertragliche Gestaltungsfreiheit. 126 Wer zum Vertragsabschluß gezwungen ist, wird auch gezwungen, einen Vertragsinhalt durch Aushandlung mit dem Kontrahenten zu gestalten, wenn der Vertragsinhalt als solcher nicht bereits vorgegeben ist. Umgekehrt gilt das nicht: Wer „nur" in bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung des Vertrages gebunden ist, kann theoretisch immerhin noch entscheiden, ob er sich in dieser Weise gegenüber einem von ihm auszuwählenden Kontrahenten binden will. 127 Es ist allerdings nicht zu verkennen, daß diese Sichtweise in der Vertragspraxis aus der Sicht desjenigen Kontrahenten an Überzeugungskraft verliert, der auf die vertragliche Leistungserbringung durch die Gegenseite angewiesen ist. In diesem Fall ist die Vertragsbegründungsfreiheit zwar nicht ausdrücklich, aber faktisch aufgehoben. Das ist aber nicht Folge mangelnder Gestaltungsfreiheit, sondern Resultat des unabweisbaren Bedürfnisses des an der Leistungserbringung interessierten Individuums. Dieses wird einen Vertrag unabhängig davon schließen, ob das Rechtsgeschäft einer inhaltlichen Bindung unterliegt oder nicht. Wenn die Gestaltungsfreiheit beschränkt ist oder fehlt, so ist das jedenfalls nicht Ursache für die Begrenzung der Vertragsbegründungsfreiheit. Die Auf-

125 Kontrahierungszwang, S . 4 f . ; vgl. auch Rob. Fischer, D R i Z 1974, 209; Lorenz, S. 17; Merz, FS B ö h m , S. 227, 230. 126 Bydlinski, System, S. 180; Staudinger-Bork, 13. Bearb., Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 15. 127 Bydlinski, A c P 180 (1980), 1 , 4 f .

111. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

69

hebung der Vertragsbegründungsfreiheit resultiert vielmehr aus der fehlenden Kontrahentenwahlfreiheit, die zusammen mit der eigentlichen Abschlußfreiheit die Vertragsbegründungsfreiheit konstituiert. Die Kontrahentenwahlfreiheit ist demnach auf das Engste mit der Abschlußfreiheit verwoben. Ohne sie wäre die Freiheit zum Abschluß eines Vertrages in Hinsicht auf die damit bezweckte selbstbestimmte Interessenverwirklichung nur unvollkommen. 128 Kontrahentenwahlfreiheit setzt in diesem Sinne die Möglichkeit der Auswahl unter mehreren potentiellen Vertragspartnern und damit wettbewerbliche Strukturen voraus. Hier wird die Interdependenz zur Wirtschaftsverfassung und allgemein zur Wirtschaftsordnung faßbar, die dafür Sorge tragen muß, daß ein „Vertragswettbewerb" entstehen kann, der dem einzelnen Rechtssubjekt durch Auswahl des Kontrahenten eine möglichst günstige Interessenverfolgung verspricht. 129 Da sich in den Personen der Kontrahenten die Träger unterschiedlicher Interessen gegenübertreten, beeinflußt die Einschätzung der Interessen des in Aussicht genommenen Vertragspartners maßgeblich die Entscheidung der Gegenseite, ob ein Vertragsschluß mit Rücksicht auf die Verwirklichung eigener Interessen lohnend erscheint. 130 Mit der Freiheit zur Auswahl des Kontrahenten erfährt das Prinzip der Abschlußfreiheit also eine sachlich notwendige Effektuierung. Die Wahlfreiheit kann daher, wie Günther Hönnm treffend bemerkt hat, nicht nur als Wettbewerbsphänomen begriffen werden, ihr kommt vielmehr eine erhebliche gesellschaftspolitische Bedeutung für den Vertragsschluß zu. Eine um die Kontrahentenwahlfreiheit verminderte Vertragsbegründungsfreiheit wird dem vertraglichen Selbstbestimmungsprinzip nur in eingeschränktem Umfang gerecht. 132 Die Anerkennung der Vertragsbegründungsfreiheit durch den Gesetzgeber ist gleichbedeutend mit der Einräumung eines umfassenden Dispositionsschutzes zu Gunsten der Kontrahenten: Diese allein entscheiden über die Verfolgung ihrer autonomen Interessen und disponieren über deren Verwirklichung durch Eingehung vertraglicher Bindungen. Vertragsbegründungsfreiheit besteht daher nicht, wenn die Rechtsordnung einem oder allen Kontrahenten den Dispositionsschutz versagt, indem sie die Eingehung von Verträgen mit bestimmten Personen oder bestimmtem Inhalt verbietet oder gebietet. In die letztgenannte Fallgruppe rechtlich gebotenen Handelns ist der Kontrahierungszwang als Untersuchungsgegenstand einzuordnen. Allgemein kennzeichnend für diese Fälle des Vertragsbegründungszwangs ist die durch Gesetz vermittelte heteronome Einwirkung auf den Willen der Vertragsparteien. 128

Vgl. auch BGHZ 36, 91, 97 f. - Gummistrümpfe; 44, 279, 283 f. - Brotkrieg. Dazu bereits Raiser, Recht, S.277; vgl. auch Eichenhofer, JuS 1996, 857, 861; Grossmann, S. 25; Merz, FS Böhm, S. 227, 234. 130 Grossmann, S. 16. 131 Kompensation, S. 116. 132 Eichenhofer, JuS 1996,857,861. 129

70

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

bb) Vertragsabänderungs-

und

Privatautonomie

-beendigungsfreiheit

Das Gegenstück zur Vertragsbegründungsfreiheit bildet die Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit. Damit gilt: Dort, wo das Gesetz einen Kontrahierungszwang statuiert, ist zugleich die Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit beschränkt. 133 Es kann nicht sein, daß ein Rechtssubjekt einerseits zum Vertragsschluß verpflichtet wird, andererseits aber das Recht hat, sich nach allgemeinen Regeln wieder vom Vertrag zu lösen. Die Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit leitet sich wie die Vertragsbegründungsfreiheit aus § 305 BGB ab. Ebenso wie es dem Rechtssubjekt außerhalb des Kontrahierungszwangs im Rahmen staatlich anerkannter Vertragsfreiheit gestattet sein muß, darüber zu entscheiden, ob es überhaupt einen Vertrag eingehen will oder nicht, entspricht es dem Grundsatz der Selbstbestimmung, dem Rechtssubjekt zu ermöglichen, einmal eingegangene Vertragsverhältnisse inhaltlich abzuändern oder zu beenden. Der Grundsatz der Vertragsabänderungs- und -beendigungsfreiheit enthält insoweit allerdings nur die rechtliche Möglichkeit der Abänderung bzw. Beendigung des Vertragsverhältnisses. Soweit es um ihre inhaltliche Ausgestaltung geht, ist der Ausübungsbereich der Inhalts- und Gestaltungsfreiheit berührt. Hier zeigt sich, daß die Übergänge im Einzelfall fließend sind. cc) Inhalts- und

Gestaltungsfreiheit

Die in § 241 BGB angelegte Ausübungsform der Inhalts- und Gestaltungsfreiheit effektuiert nicht nur den mit der Freiheit zum Abschluß von Verträgen gegebenen Gestaltungsspielraum, sondern konstituiert einen neuen Freiheitsraum: Während die Vertragsbegründungsfreiheit gleichsam das Eingangsportal zum Gebäude der Vertragsfreiheit darstellt, symbolisiert die Gestaltungsfreiheit die von dort aus zugängliche Werkstatt, mit deren Hilfe die individuellen Gestaltungsinteressen in rechtliche Formen gegossen werden. Allein mit dem Instrumentarium der Vertragsbegründungsfreiheit ließe sich Vertragsfreiheit als Mittel privatautonomer Interessenwahrnehmung nicht verwirklichen. 134 Den Kontrahenten liegt nicht entscheidend an der Eingehung einer rechtlichen Bindung als solcher, sondern an der damit bezweckten Interessenverfolgung. 135 Die Bindung ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck der Gestaltung von der Rechtsordnung anerkannter autonomer Interessen. Ohne Vertragsbegründungsfreiheit bedeutet Vertragsfreiheit nichts; Vertragsbegründungsfreiheit ohne Gestaltungsfreiheit bedeutet jedoch noch keine Vertragsfreiheit.

133 134 135

Bülck, S. 6 f.; Contzen, S. 10; Hergt, S. 20 f. Wimpfheimer, KartRdsch. 1929, 1, 2. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 77.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

71

Ausfluß dieser Gestaltungsfreiheit ist der Grundsatz der Typenfreiheit 136 , der allerdings nur das Schuldrecht prägt, während das Recht zum Abschluß von Verträgen beliebigen Inhalts im Sachen-, Familien- und Erbrecht grundsätzlich nicht besteht. 137 Das wiederum bedeutet nicht, daß der Grundsatz der Vertragsgestaltungsfreiheit im Schuldrecht schrankenlos verwirklicht ist: Wird Verträgen oder einzelnen darin enthaltenen Abreden die rechtliche Anerkennung versagt, so kann die Ursache einerseits bereits darin zu suchen sein, daß die Vertragsbegründungsfreiheit mit dem Ziel der Durchsetzung einer bestimmten Vertragsgestaltung beschränkt ist. Andererseits können Beschränkungen der Gestaltungsfreiheit aus Inhaltsschranken der Privatrechtsordnung folgen, wie etwa den in §§ 134, 138, 242, 310 BGB statuierten Außenschranken der Vertragsfreiheit, den speziellen Außenschranken einzelner Vertragstypen (§§554 a, b; §536 a, §§617ff., §§651 äff. BGB u.a.) oder aus anderen Formen der Inhaltskontrolle. 138 c. Interdependenz von Vertragsbegründungsund Vertragsgestaltungsfreiheit Während die Vertragsfreiheit in Form der Begründungsfreiheit isoliert betrachtet nur der Verwirklichung autonomer Interessen der Beteiligten dient, anerkennt die Rechtsordnung mit dem Grundsatz der Gestaltungsfreiheit zugleich auch die aus dem Aufeinandertreffen der Einzelinteressen erwachsene Willensübereinstimmung als einen in seiner inhaltlichen Ausgestaltung für den Staat verbindlichen rechtlichen Erfolg, eben als „Vertrag".139 Im Gegensatz zum Interessenschutz durch Anerkennung der Vertragsbegründungsfreiheit vollzieht sich der Inhaltsschutz durch Anerkennung von Gestaltungsfreiheit von vornherein im mehrdimensionalen Bereich. Der Schutz der Einzelinteressen durch Anerkennung der Vertragsbegründungsfreiheit erscheint dagegen im Ausgangspunkt eindimensional, da Gegenstand der Vertragsbegründungsfreiheit der Interessenschutz einzelner Interessenträger ist. Auf der anderen Seite dient die Vertragsbegründungsfreiheit keinem Selbstzweck. Sie ist vielmehr auf die Zusammenführung des jeweiligen Einzelinteresses in einem Vertrag mit einem oder mehreren anderen Einzelinteressen angelegt. 140 Inwieweit sich die ursprünglichen Einzelinteressen später im Vertragsinhalt wiederfinden, folgt aus dem Ergebnis der Aushandlung zwi136

Dazu Dilcher, NJW 1960, 2040 ff. Zur partiellen Erweiterung der Vertragsfreiheit im Sachen-, Familien- und Erbrecht, die im Gegensatz zu gegenläufigen Tendenzen im Schuldrecht steht, vgl. Medicus, Abschied, S. 7 ff. 138 Zum Begriff der Inhaltskontrolle und seiner Verwendung in einem engeren und einem weiteren Sinne vgl. Fastrich, S. 5 f.; allgemein zu Schranken der Gestaltungsfreiheit auch Kramer, MünchKomm BGB, Vor § 145, Rn. 19ff. 139 M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 117 f., zieht aus den unterschiedlichen Freiheitsdimensionen der Vertragsbegründungs- und der Vertragsgestaltungsfreiheit den Schluß, daß der Inhalt der jeweils gegebenen Entscheidungsfreiheit verschieden zu bestimmen ist. 140 Hart, KritV 1986, 211, 240; Pflug, S. 64; Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 195. 137

72

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

sehen den Parteien. Aus diesem Grunde kann der durch die Vertragsbegründungsfreiheit bewirkte Interessenschutz kein absoluter sein. Die Vertragsbegründungsfreiheit enthält keine gesetzliche Garantie, daß die von dem jeweiligen Rechtssubjekt beabsichtigte Interessenverfolgung auch gelingt. Ihre inhaltliche Reichweite ist insoweit beschränkt, als sie nur die Möglichkeit der autonomen Interessenverfolgung verheißt. Es handelt sich für das einzelne Rechtssubjekt um eine infolge des Zusammentreffens mit parallelen Freiheiten anderer Rechtssubjekte gebundene Freiheit. Diese Bindung besteht in zweierlei Richtung: Zum einen wird die Vertragsbegründungsfreiheit des einen Rechtssubjekts anerkannt, weil die Vertragsbegründungsfreiheit auch für den potentiellen Kontrahenten besteht. Der eine Interessenträger ist auf den anderen angewiesen, da ohne die Gegenseite ein rechtlich verbindlicher Erfolg nicht zu erzielen ist. Zum anderen ist der dadurch vermittelte Interessenschutz ein relativer, weil der Umfang der singulären Interessenverwirklichung vom Ergebnis der Aushandlung zwischen den Parteien abhängt.

2. Begriffliche Konkretisierung der Vertragsfreiheit Für den Tatbestand der Vertragsfreiheit werden unterschiedliche Definitionsangebote gemacht: Eine begriffliche Umschreibung dessen, was Vertragsfreiheit ausmacht, lautet mit Blick auf die Ausübungsformen: „Der Ausdruck Vertragsfreiheit' formuliert das Prinzip, es dem Belieben der Partei zu überlassen, ob sie einen Vertrag eingehen will, mit wem, worüber, und ob oder wann der Vertrag wieder beseitigt oder wenigstens abgeändert werden soll." 141 Damit wird allerdings das soeben skizzierte Faktum außer acht gelassen, daß Vertragsfreiheit eine mehrdimensionale Freiheit aller am Vertrag beteiligten Parteien ist und nicht nur der Selbstbestimmung einer einzelnen Partei oder einzelner Parteien dient. Wolfram Höfling142 spricht daher in funktionaler Akzentuierung treffender von der „Befugnis, mit einem frei gewählten Partner eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung in thematischer Universalität und prozeduraler Beliebigkeit zu treffen." Andere sagen: Vertragsfreiheit beschreibe die „Befugnis, durch übereinstimmende Willenserklärungen Rechtswirkungen zu erzeugen" 143 , oder noch anders ausgedrückt: Verträge dienen „der rechtlichen Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen durch Selbstbestimmung der Beteiligten im herrschaftsfreien Raum." 144 141

Oftinger, in: Freiheit, S. 316. Vertragsfreiheit, S. 3; vgl. auch Taupitz, AcP 192 (1992), 341, 344. 143 M. Fischer, S. 27; vgl. auch Kaiser, S. 2; Menger, Recht, S.3: „Jedem Staatsbürger steht regelmäßig frei, sich einem anderen zur Leistung von Sachen und Handlungen mit der Wirkung zu verpflichten, daß er zur Erfüllung seines Versprechens gezwungen werden kann." 144 Raiser, FS DJT I, S. 101, 104; vgl. auch Habersack, S.42; v. Tuhr, Allgemeiner Teil I, S. 25. 142

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

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Freilich gehen auch diese Umschreibungen über eines hinweg: Die Vertragsfreiheit ist ihren rechtlich geschützten Ausübungsformen nach keine vollkommene Umsetzung des Selbstbestimmungsprinzips, sondern wie der - Einzelinteressen einfangende - Vertrag selbst ein Kompromiß unterschiedlicher Regelungsmaximen, der sich erst aus den verschiedenartigen Begrenzungen des Selbstbestimmungsprinzips erschließt. In den Motiven zum BGB heißt es daher klarer, wenngleich ohne Hervorhebung der einzelnen Ausübungsformen: 145 „Vermöge des Prinzipes der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne absolute Gesetzesvorschriften entgegenstehen.,"146 Damit ist das Wesentliche gesagt. Wir können an dieser Stelle daher noch einmal zusammenfassen: Die Vertragsfreiheit ist in personeller Hinsicht auf mehrdimensionale Interessenverwirklichung angelegt. Sie gewährleistet keine vollständige rechtliche Selbstbestimmung für jede der am Vertrag beteiligten Partei. Diese aus dem Vertrag als rechtlichem Selbstbestimmungsinstrumentarium folgende Einschränkung des Selbstbestimmungsprinzips wird ergänzt durch die benannten Außenschranken, die das Selbstbestimmungsprinzip mit Rücksicht auf andere Wertideen des Rechts zurücktreten lassen. Die Einschränkungen des Selbstbestimmungsprinzips führen nunmehr zu der Frage nach den Funktionsbedingungen vertraglicher Selbstbestimmung. Nur wer die Funktionsbedingungen kennt, vermag die Bedeutung der vielfältigen Einschränkungen des Selbstbestimmungsprinzips einzuordnen. Nur so wird erkennbar, ob Ziel die Sicherung oder die (partielle) Aufhebung der Vertragsfreiheit ist. Das gilt auch und gerade für die Grenzen, die der Vertragsbegründungsfreiheit durch den Kontrahierungszwang gezogen werden. Im folgenden sind daher zunächst einzelne vertragliche Funktionsmodelle zu skizzieren, zugleich aber auch im Hinblick auf ihre materielle Tragfähigkeit zu untersuchen, um im Anschluß daran, eine funktionsbestimmte Einordnung des Kontrahierungszwangs vornehmen zu können.

145 146

Vgl. insoweit Hergt, S. 18. Motive II, S.2 (Hervorhebung v. Verf.).

74

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

3. Funktionsmodelle vertraglicher Selbstbestimmung a. Formale aa.

Vertragsfreiheit

Leitgedanken

Die zuvor zitierten Begriffskonkretisierungen legen ein starkes Gewicht auf den instrumentalen Charakter der Vertragsfreiheit. 147 Dadurch entsteht der Eindruck, als bezeichne der Rechtsbegriff der Vertragsfreiheit ein wertfreies, rein formales Konstrukt, das lediglich den Bereich des technischen Vertragsschlusses rechtlich ordnet und die Vertragspartner ansonsten sich selbst überläßt. 148 Das entspricht dem paläo-liberalistischen Verständnis einer formalen Vertragsfreiheit, die sich allein über ihre Erscheinungs- und Ausübungsformen definiert. Vor diesem Hintergrund muß jeder durch Kontrahierungszwang vermittelte Eingriff in die Vertragsbegründungsfreiheit als partielle Aufhebung der Vertragsfreiheit erscheinen. Die Funktion des Kontrahierungszwangs wäre allein die eingangs beschriebene „Sozialisierung" des Vertragsrechts im Sinne einer Gemeinwohlbindung der vertraglichen Selbstbestimmung. bb. Kritik Zutreffend wäre die Kennzeichnung des BGB-Vertragsrechts mit dem Etikett „formale Vertragsfreiheit" freilich nur, wenn es sich dabei um ein Privatrechtssystem handelte, das sich gegenüber den in freier Aushandlung erzielten Vertragsergebnissen völlig indifferent verhielte. Schon ein flüchtiger Blick auf das BGB zeigt, daß dort ein in diesem Sinne formales Vertragsprinzip nicht durchgängig verwirklicht ist. Vorschriften wie §§ 134, 138 BGB setzen der Vertragsfreiheit äußere Schranken, die sich auf die Gestaltungsfreiheit beschränkend auswirken und als Ausdruck eines „materiellen Vertragsprinzips" verstanden werden können. Das Vertragsrecht des BGB bewegt sich mit Blick darauf zwischen zwei gegenläufigen Polen, wobei die Affinität zum „formalen Vertragsprinzip" stärker ausgeprägt zu sein scheint als zum „materiellen Vertragsprinzip". Wenn man so will, ist im BGB danach ein „formales" Vertragsrechtssystem mit singulären materiellen Korrekturen verwirklicht, die sich auf einige wenige Extremfälle beschränken. 149

147 Den instrumentalen Charakter der Vertragsfreiheit betonen - allerdings mit unterschiedlichen Akzentuierungen - insbes. Höfling, S. 48; Raiser JZ 1958, 1, 3 (Vertrag als „Instrument der Herrschaft über den anderen Vertragsteil"); Richardi, Kollektivgewalt, S. 42 f.; Scholz, AöR 100 (1975), S. 80, 128 f. („Ausübungsrecht"). 148 So die Analyse von Dauner-Lieb, S. 54 ff., 146; vgl. auch Singer, JZ 1995,1133, 1137, der seine Aussage im Hinblick auf § 138 Abs. 2 BGB aber sogleich relativiert. 149 So im Ergebnis Smger, JZ 1995, 1133, 1137, der meint, es bestehe „zweifellos ein Vorrang der formalen Vertragsfreiheit".

Hl. Objektivation

des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

75

Es ist offensichtlich, daß ein im dargelegten Sinne formales Verständnis von Vertragsfreiheit einerseits Eingriffe in die Vertragsfreiheit stets als partielle Aufhebung der Vertragsfreiheit erscheinen läßt, andererseits aber auch eine Indienstnahme des Vertrages für andere als Zwecke der Selbstbestimmung erleichtert. Wer Vertragsfreiheit nur als „technisches Konstrukt" zur Herstellung von Willensübereinstimmung begreift, nimmt in Kauf, daß dem äußeren Eindruck nach zwar eine Einigung der Parteien erfolgt, ohne zugleich zu hinterfragen, ob diese Einigung auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruht. Zwar enthält das Instrumentarium des Schuldvertragsrechts die bezeichneten äußeren Schranken, mit denen schlechthin unerwünschte Vertragsergebnisse korrigiert werden. Die rein „technische" Anwendung des Vertragsrechts unter Beachtung der Außenschranken ist jedoch offenbar, wie die Folgen unterschiedlicher Vertragsmächtigkeit der Privatrechtssubjekte zeigen, nicht in der Lage, ein in allen Belangen funktionsfähiges Selbstbestimmungsinstrumentarium zu gewährleisten, das zumindest einen willkürfreien Zugang zum Vertrag und den damit verbundenen Rechtsgestaltungschancen ermöglicht. Das ist - zumindest auf den ersten Blick - auch nicht weiter verwunderlich, weil die äußeren Schranken, wie bereits dargelegt, nicht Ausfluß des Selbstbestimmungsprinzips sind, sondern in den Wertideen der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit wurzeln. Überdies enthalten sie nur Bindungen der Gestaltungsfreiheit und richten keine Schranken dagegen auf, daß einzelne Rechtssubjekte von vornherein an der Ausübung ihrer Vertragsbegründungsfreiheit gehindert werden. Das Vorhandensein von Vertragsbegründungsfreiheit ist jedoch Voraussetzung dafür, um überhaupt gestaltend auf ein Vertragsverhältnis einwirken zu können. Es zeigt sich also, daß die rein mechanische Anwendung des Vertragsrechts nicht zu einer funktionsadäquaten Sicherung des Selbstbestimmungsprinzips führt. Die im BGB verwirklichte Vertragsfreiheit wird in unzulässiger Weise verkürzt, wenn in ihr nur die Verwirklichung eines „formalen Vertragsprinzips" gesehen wird. Es bedarf daher der Suche nach „materiellen" Grenzen der Vertragsfreiheit, die gegebenenfalls zu einer Funktionssicherung des Selbstbestimmungsprinzips im Vertragsrecht beitragen können. Zutreffend hat Franz Bydlinski]5° darauf aufmerksam gemacht, „daß eine theoretische Bewältigung der Verpflichtungsgeschäfte nicht möglich ist, wenn man nicht annähernd die Gründe aufweist, die die Rechtsordnungen veranlassen, den Verträgen verpflichtende Wirkungen beizulegen." Es kommt darauf an, „die innere Begründung" des Vertragsrechts und damit sein Verhältnis „zu den in der Rechtsgemeinschaft und Gesetzesordnung anerkannten Grundwerten zu erfragen", 151 um auf dieser Grundlage die Funk-

iso Privatautonomie, S. 67. 151 Bydlinski, Privatautonomie, S . 6 7 (Fn. 120); ablehnend dagegen F. v. Hippel, Problem, S. 91, der allein einen „im ganzen" gerechten gesellschaftlichen A u f b a u als Legitimation für einen verpflichtenden Rechtssatz ausreichen läßt.

76

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

tionsbedingungen „für die gesellschaftliche Ordnungskraft der Institution des Vertrages" 152 zu sichern. 153 b. Materielle

Vertragsfreiheit

aa) Heteronome

Vertragszielbestimmung

(1) Theorie der objektiven Richtigkeitsgewähr (et) Leitgedanken Der Begriff der Vertragsfreiheit wird aus den zuvor genannten Gründen regelmäßig mit dem Gedanken der „Vertragsgerechtigkeit" oder - synonym - der „Richtigkeitsgewähr des Vertrages" in Verbindung gebracht, 154 der zum Zwecke eines „sozialen Ausgleichs" zwischen den Vertragsparteien in vielfältiger Weise auch zur Begründung von Eingriffen in die private Sozialgestaltung herangezogen wird. 155 Diese Überlegung hat in der Privatrechtswissenschaft, aber nicht nur dort, Tradition, da die Herstellung einer gegen jedermann gerechten Ordnung seit jeher Gegenstand (rechts-)philosophischer, wirtschaftstheoretischer und rechtsdogmatischer Betrachtungen gewesen ist. 156 Da Vertragsfreiheit in historischer Sicht nur selten ein Mittel zu privatautonomer Gestaltung für die einzelnen Rechtssubjekte war, sondern vielmehr als Vehikel zur Durchsetzung staatlicher und nach ihrem eigenen Verständnis „gerechter" Ordnungsmodelle diente, 157 ist zwischen den Aspekten der Vertragsfreiheit und der Vertragsgerechtigkeit kein Widerspruch gesehen worden. So wurde in der Epoche des Vernunftrechts bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, daß Verträge nur dann bindend sind, wenn sie dem Erfordernis objektiver aequitas entsprechen. 158 152

Säcker, Gruppenautonomie, S. 211. Zu der über das jeweilige Individuum hinausgehenden Ordnungsfunktion privatrechtlicher Institutionen vgl. auch Großfeld, Zivilrecht, S. 82; Kramer, Krise, S. 35 f.; Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 238; Steindorff., FS Raiser, S. 621, 627 ff.; H. P Westermann, AcP 178 (1978), 150, 157; vgl. auch Säcker, Gruppenautonomie, S. 218 (Fn. 42). 154 Vgl. nur Canaris, Vertrauenshaftung, S. 436; Habersack, AcP 189 (1989), 403, 406ff.; M. Wolf, JZ 1976, 41, 41. 155 Dazu Limbach, JuS 1985, 10, 12, die exemplarisch auf die vielzitierte Passage in der Begründung des Regierungsentwurfs eines AGB-Gesetzes (BT-Drucks. 7/3919, S. 13) hinweist; „Das vorrangige rechtspolitische Ziel dieses Gesetzentwurfs liegt darin, bei der Verwendung von AGB im rechtsgeschäftlichen Wirtschaftsverkehr dem Prinzip des angemessenen Ausgleichs der beiderseitigen Interessen Geltung zu verschaffen, das nach den Grundvorstellungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Vertragsfreiheit legitimiert; denn deren Funktion besteht darin, durch freies Aushandeln von Verträgen zwischen freien und zur rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung fähigen Partnern Vertragsgerechtigkeit zu schaffen." - Vgl. auch Kramer, MünchKomm BGB, Vor § 145 Rn. 5 ff. 153

156 157 158

Dazu unter dem Aspekt des iustum pretium Bartholomeyczik, Vgl. dazu oben unter I. Dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 311 f.

AcP 166 (1966), 30, 39 ff.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

11

Walter Schmidt-Rimpler hat die Problematik für das BGB mit einer nicht nur rechtstheoretisch, sondern auch rechtspolitisch angelegten Arbeit aus dem Jahre 1941, die er seinerzeit als Gutachten für die Akademie für Deutsches Recht vorlegte, neu ausgeleuchtet. 159 Dort ist ausgeführt, daß der Vertrag als ordnender Mechanismus der Herbeiführung einer richtigen Regelung „auch gegen unrichtigen Willen" dient. 160 „Richtig" ist eine Regelung im so verstandenen Sinne, wenn sie einer gerechten und zweckmäßigen Gemeinschaftsordnung entspricht. 161 Schmidt-Rimpler sprach 1941 in der Terminologie jener Zeit davon, der Vertrag bedeute „volksgenössische Schaffung und Gestaltung von Rechtsverhältnissen". 162 Eine „richtige" Regelung sollte sich nach dem Verständnis Schmidt-Rimplers im Vertrauen auf die Wirkung des Vertragsmechanismus auch gegen unrichtigen Willen eines Kontrahenten einstellen, da „immer der durch die Unrichtigkeit Betroffene zustimmen muß". 163 Im Vertrag als dem auf inhaltlich übereinstimmenden Willenserklärungen beruhenden Rechtsakt treffen sich danach die Einzelinteressen der Vertragsbeteiligten zu einem sinnhaften, kompromißhaften Ganzen, das idealiter einer überindividuellen, gerechten Ordnung entspricht. Das deutet auf das Ziel der Verwirklichung objektiver Gerechtigkeitsvorstellungen hin. Es nimmt nicht Wunder, daß in dieser Konzeption dem Prinzip der Privatautonomie kein besonderer Stellenwert beigemessen wird 164 und dem Vertrag sogar der Sinn der Willensherrschaft und Selbstrechtsetzung abgesprochen wird. 165 SchmidtRimpler hat freilich später daraufhingewiesen, er habe die Vertragswirkung nicht von der Verwirklichung objektiver Gerechtigkeitsvorstellungen abhängig machen wollen. 166 „Objektive Gerechtigkeit" sei „für den Menschen mangels fester Kriterien nicht feststellbar", 167 so daß der Begriff der Richtigkeit in seinen späteren Schriften auch subjektive Wertungen der Parteien einschließt. 168 Ihm sei es, so Schmidt-Rimpler, mit dem Hinweis auf die Richtigkeitsgewähr des frei ausgehandelten Vertrages und seine Berührungspunkte mit Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaftsordnung vielmehr nur darum gegangen, das Institut des Vertra159

Zum rechtspolitischen Impetus seiner Überlegungen vgl. Schmidt-Rimpler,

FS Raiser,

S.3,9. 160

Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), S. 130, 156. Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), S. 130, 132. 162 Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), S. 130, 138; ähnlich zuvor bereits Bülck, S. 59: „Die Vertragsfreiheit ist somit ein Moment der persönlichen Rechtsgestaltung als der durch die Stellung des Volksgenossen im Recht begründeten und begrenzten Möglichkeit eigenverantwortlicher und pflichtgemäßer Gestaltung der Lebensverhältnisse im Rahmen und gemäß den Zielen der Gemeinschaft."; vgl. auch Nolte, DR 1941, 2389, 2391; Haupt, ZAkDR 1943, 84, 85.. 163 Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), S. 130, 156; ders., FS Nipperdey, S. 1, 6. 164 Vgl. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), S. 130, 159, 163 f. 165 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), S. 130, 155 f., 163. 166 Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3, 10 f. 167 Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3, 11. 168 Vgl. Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3, 15.; ders., FS Nipperdey, S. 1, 5 ff. 161

78

§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

ges vor einem Zugriff des totalitären Gesetzgebers zu schützen. 169 Wenn SchmidtRimpler insoweit der Verwirklichung gemeinschaftsbezogener Gerechtigkeitsvorstellungen auch keine Bedeutung für die Vertragswirkung als solche beimaß, so sah er sowohl in seiner Hauptschrift aus dem Jahre 1941 als auch bei der späteren Fortführung seiner Thesen die Richtigkeitsgewähr des Vertrages doch in der Erwartung begründet, daß der Vertragsinhalt der Gemeinschaftsordnung weitgehend entspricht. 170 Es ging ihm also offenbar darum, daß zumindest das „System" aller abgeschlossenen Einzelverträge mit „objektiven Gerechtigkeitsvorstellungen" korrespondiert. Die Grenzen dieses Vertragsmechanismus lagen für Schmidt-Rimpler dort, wo dessen Funktionsvoraussetzungen typisch oder im Einzelfall fehlen oder der Mechanismus versagt. In diesen Fällen ungenügender Richtigkeitsgewähr sei der Vertrag auszuschalten und durch hoheitliche Gestaltung der Lebensverhältnisse zu ersetzen. 171 Ein derartiges Bedürfnis hielt Schmidt-Rimpler insbesondere bei fehlender Vertragsparität für gegeben, also bei Machtungleichgewichten zwischen den Kontrahenten, die eine gerechte vertragliche Regelung nicht erwarten lassen, sondern im Ergebnis zu einer Bevorzugung der Interessen einer Vertragspartei führen. 172 Damit freilich steht die Selbstbestimmung der Parteien beim Einzelvertrag angesichts vielfältiger, rechtstatsächlich nachweisbarer Ungleichgewichtslagen von vornherein unter dem Vorbehalt, daß im „System aller Verträge" das objektive Gerechtigkeitsmodell nicht verfehlt wird. Mittelbar werden die Vertragsparteien also zur Beachtung der objektiven Gerechtigkeitsvorstellungen angehalten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, daß ihren Vereinbarungen die staatliche Anerkennung versagt bleibt. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Vertragslehre Schmidt-Rimplers eine starke Affinität zu heteronomen Vertragsrechtsordnungen aufweist, bei denen der Vertrag nicht in den Dienst der individuellen Interessenverfolgung gestellt ist, sondern der Durchsetzung staatlicherseits formulierter Zielvorstellungen dient. Umso erstaunlicher ist es, daß Walter Schmidt-Rimplers Lehre von der Richtigkeitsgewähr des Vertrages nach wie vor auf breite Zustimmung stößt und zuweilen unreflektiert in einen Zusammenhang mit dem Rechtsprinzip der Privatautonomie gebracht wird. 173

169 Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3,9; dazu Limbach, KritV 1986, 165, 176; Rüthers, Auslegung, S. 369. 170 Vgl. FS Raiser, S. 3, 16, wo es heißt: „Aber da beide Parteien bei ihrem Gerechtigkeitsurteil im allgemeinen natürlich von den in ihrer Gesellschaft und Rechtsgemeinschaft geltenden Wertungen ausgehen werden, höchstens unter Außerachtlassung gemeinschafts- oder drittbezogener, die aber auch oft hineinspielen werden, wenn sie einer Partei günstig sind, ist die Erwartung begründet, daß das Ergebnis auch der Gemeinschaftsordnung weitgehend entspricht, ohne daß dies aber natürlich Voraussetzung für die Vertragswirkung wäre."; dazu auch Pflug, S. 135 ff. 171 Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), S. 130, 157. 172 Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), 130, 157 f. (b. Fn. 34, Nr. 1,2). 173 Dazu auch Pflug, S. 132 f.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

im Vertragsrecht

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Eine intensivere Diskussion setzt allein bei der Frage ein, welchen Inhalts die mit der Vertragsfreiheit zu verwirklichende Vertragsgerechtigkeit zu sein hat. Während einige Autoren den Begriff der Vertragsgerechtigkeit im ursprünglichen Sinne Schmidt-Rimplers in einem objektiven Sinne verstehen, 174 diesen jedoch zumeist eigenständig interpretieren, 175 wollen andere den Gerechtigkeitsmaßstab im Hinblick auf die von den Parteien angestrebte Sozialgestaltung an deren subjektiven Vorstellungen festmachen 176 , womit letztendlich - entgegen der eigentlichen Intention Schmidt-Rimplers - die autonom handelnden Individuen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden. Eine vermittelnde Position nimmt Lorenz Fastrich ein, der zunächst den rechtstheoretischen Ausgangspunkt der Überlegungen Schmidt-Rimplers kritisiert und betont, daß die Selbstbestimmung „keineswegs nur instrumenteil als Mittel zur Gewährleistung objektiv richtiger Vertragsinhalte verstanden werden" darf. 177 Ihr komme „durchaus Eigenwert" zu, aber ihre Anerkennung beruhe „doch auch auf der Erwartung, daß sie gleichsam als selbstregulierendes System zu einer vernünftigen, funktionierenden und jeder heteronomen Regelung überlegenen Ordnung" führe, 178 also in der Lage sei, eine Ordnung zu entfalten, „deren Ausprägung nicht nur der subjektiv gewollte, sondern im großen und ganzen auch der objektiv gerechte Vertrag ist." 179 Damit gibt Fastrich in etwa die Position wider, die Schmidt-Rimpler in seinen späten Schriften eingenommen hat. (b) Kritik Die Rezeption der Thesen Walter Schmidt-Rimplers im Schrifttum hat dazu geführt, daß die funktionale Verknüpfung der Vertragsfreiheit mit dem Topos der Richtigkeitsgewähr des Vertrages mittlerweile zu einer allgemeinen Lehre geworden ist, 180 deren gedankliches Fundament allerdings zumeist nicht mehr wei174 So heißt es bei Großfeld, JZ 1968, 113, 116: „Die Privatautonomie hat nicht nur eine individuelle, sondern darüber hinaus eine soziale Funktion. Sie ist Mittel zur Herbeiführung einer überindividuellen, gerechten Ordnung. Die Rechtsgemeinschaft überläßt die Regelung der sozialen Verhältnisse den „Nächstbeteiligten", weil sie sich davon im Interesse aller eine zweckmäßige und gerechte Lösung erhofft." - Vgl. auch Raiser, FS DJTI, S. 101, 118 f. 175 So wird die vertragliche Selbstbestimmung etwa nur insoweit für beachtlich gehalten, als sie mit der „rechtlichen Vernünftigkeit", dem in der Rechtsordnung daseienden allgemeinen Willen, übereinstimmt; vgl. Bärmann, S. 90f.; Pawlowski, S. 232ff., 277 ff. 176 Flume, Allgemeiner Teil II, § 1 6 a(S.8); Säcker, MünchKomm BGB, Einl. Rn. 31; wohl auch Hübner, FS Steindorff, S. 589. 177 Fastrich, S. 54; vgl. auch Raiser, FS DJTI, S. 101, 119. 178 Fastrich, S. 54; vgl. auch Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 128 ff.; Mayer-Maly, FS Merkl, S. 247, 249. 179 Fastrich, S. 53. 180 Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 108; Bydlinski, Privatautonomie, S.62ff.; Habersack, AcP 189 (1989), 403, 406ff.; Haupt, ZAkDR 1943, 84, 86; Hönn, Kompensation, S. 12f.; v. Hoyningen-Huene, Billigkeit, S. 137; Köndgen, AcP 184 (1984), S. 600, 605; Lorenz, Lehrbuch des Schuldrechts, § 6 1 (S. 76 ff.); Medicus, Allgemeiner Teil, Rn. 472 ff.; Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler, S. 116f.; Säcker, Gruppenautonomie, S. 205 ff.; ders., MünchKomm BGB,

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

ter auf Tragfähigkeit untersucht wird. Die Begriffe haben sich im Laufe der Zeit verselbständigt, ohne daß eigentlich Klarheit über die damit bezeichneten Inhalte besteht. Insgesamt, so scheint es, sind die Wertungsgrundlagen der Vertragsfreiheit aus dem Blick geraten. Das Mißverständnis liegt darin begründet, daß Vertragsfreiheit mit dem Prinzip der Selbstbestimmung respektive mit dem Begriff der Privatautonomie gleichgesetzt wird. 181 Richtig an dieser Sichtweise ist, daß sich die Vertragsfreiheit aus dem Selbstbestimmungsprinzip ableitet. Allerdings bildet sie dieses nicht im absoluten Sinne ab. Sie kann es auch nicht, da im Vertrag die Freiheitsbereiche der Vertragsbeteiligten aufeinander treffen und sich zu einem gewissen Teil gegenseitig paralysieren. Darin liegt die immanent-funktionsbedingte Einschränkung des Selbstbestimmungsprinzips im Unterprinzip der Vertragsfreiheit. Wer dagegen - stillschweigend - annimmt, der Begriff der Vertragsfreiheit stehe für Selbstbestimmung schlechthin, wird angesichts der auf der Hand liegenden Erkenntnis, daß Selbstbestimmung schlechthin in einer Sozietät nicht möglich ist, nach Schranken der Vertragsfreiheit suchen und diese, da die immanenten Grenzen des im Vertragsrecht verwirklichten Selbstbestimmungsprinzips nicht erkannt werden, in anderen Rechtsprinzipien finden, mit denen das Selbstbestimmungsprinzip dann angereichert und umgewertet wird. So geschehen durch die Väter des BGB, die annahmen, das Selbstbestimmungsprinzip sei aufs Ganze gesehen schon in der Lage, für jedermann „gerechte" Vertragslösungen hervorzubringen. Diese Bewertung ist letztendlich erforderlich, um das „System", das auf einer unzutreffenden Erfassung des im Vertragsrecht verwirklichten Selbstbestimmungsprinzips beruht, vor dem - berechtigten - Angriff zu retten, es führe nicht notwendig zu „systemgerechten" Lösungen. Von der Gleichsetzung der Vertragsfreiheit bzw. Privatautonomie mit dem Prinzip der Selbstbestimmung ist es dann nicht mehr weit bis zu der Annahme, das Prinzip der Gerechtigkeit sei der Selbstbestimmung immanent. 182 Daraus erklärt sich dann auch, warum der Grundsatz der Privatautonomie mit dem Begriff der Vertragsgerechtigkeit in Verbindung gebracht wird. Wer dagegen annimmt, daß Vertragsfreiheit nur in dem Einl. Rn. 31; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 III 4 a; Zöllner, AcP 176 (1976), S. 221, 236ff., 246; krit. Kramer, Krise, S.40ff.; ders., MünchKomm BGB, Vor § 145, Rn.3; Schwerdtner, S. 136: „Die Aufgabe hat (...) es zu sein, ein Vertragssystem zu entwickeln, das die Herstellung der Vertragsgerechtigkeit zu einer uneingeschränkten Daueraufgabe macht."; ebenso Zweigert, FS Rheinstein II, S. 493, 503 f., unter Hinweis darauf, daß Vertragsfreiheit in Wahrheit eine Utopie sei; dagegen Flume, FS DJTI, S. 135, 142 f.; ders., Allgemeiner Teil II, § 1, 6 a (S. 7 f.); Pflug, S. 132ff.; Raiser, FS DJT I, S. 101, 119; Roscher, S.34ff.; Thiele, FS Larenz, 1973, S. 1043, 1052 f.; ders., Zustimmungen, S. 104 f.; E. Wolf, Allgemeiner Teil, S. 372. 181 Vgl. dazu auch Schopp, Grundfragen, S. 56; zur parallelen Problematik der Identifizierung von Privatautonomie und Willenserklärung siehe Säcker, JurA 1971, 509, 519 ff. 182 Vgl. nur M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 98 f., der zwar das Problem der immanenten Schranken sieht, jedoch meint, sie erhielten ihre inhaltliche Ausprägung erst durch die Ausrichtung auf die soziale Gerechtigkeit; Hönn, Kompensation, S. 103, meint, dem Prinzip der Privatautonomie entspreche die austauschende Gerechtigkeit.

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Rahmen besteht, der durch das Recht vorgegeben ist, daß also die Vertragsfreiheit das Selbstbestimmungsprinzip zwar zu wesentlichen Teilen, aber nicht vollständig abbildet, dem wird offenbar, daß es sich bei der Gerechtigkeit um ein neben dem Selbstbestimmungsgedanken stehendes Rechtsprinzip handelt, das mit ihm zwar im Vertragsrecht zur Entfaltung gelangen und dem Selbstbestimmungsprinzip dann „äußere" Grenzen setzen kann. 183 Diese äußeren Grenzen können freilich nur punktueller Natur sein, da ansonsten der Vorrang des Selbstbestimmungsprinzips verstellt wird. Dieser Vorwurf kann der Theorie der Richtigkeitsgewähr des Vertrages nicht erspart werden, soweit sie nämlich das Selbstbestimmungsprinzip gleichsam im Gerechtigkeitsprinzip gefangen sieht. Damit wird im Ergebnis der Weg geebnet, um vertragliche Vereinbarungen unter Hinweis auf die -angebliche - Verfehlung des Gerechtigkeitspostulats einer generellen Inhaltskontrolle unterwerfen zu können. Diese Konsequenz zeigt sich deutlich in der mittlerweile kaum noch in Frage gestellten Lehre, die eine vertragliche Inhaltskontrolle unter Hinweis auf den Ausgleich gestörter Vertragsparität rechtfertigt. 184 Der Begriff der gestörten Vertragsparität bezeichnet dabei nichts anderes als das Fehlen der Voraussetzungen für die (subjektive) Richtigkeitsgewähr des Vertrages. Bedenkt man die rechtspolitische Absicht Schmidt-Rimplers, den privatautonomen Vertrag unter Hinweis auf seine Richtigkeit vor dem Zugriff des - seinerzeit totalitären - Staates zu schützen, so wird der Vertrag mit der unkonturierten „ParitätsFormel" geradezu der heteronomen staatlichen Kontrolle preisgegeben. 185 Wer in der Herstellung von „objektiver" Vertragsgerechtigkeit die zielführende Funktion der Vertragsfreiheit sieht, verbindet die unter diesem Begriff zusammengefaßten Ausübungsformen vertraglicher Rechtsgestaltung weniger mit der Vorstellung eines Bereiches autonomer Selbstgestaltung, sondern sieht die Vertragsfreiheit vielmehr als Mittel zur Erreichung einer gerechten Ordnung. 186 Das aber bedeutet Fremdbestimmung statt Selbstbestimmung 187 und damit eine Verkehrung der Idee der Selbstbestimmung in ihr Gegenteil. Die Instrumentalisierung des Begriffs „Gerechtigkeit" im Rahmen einer Funktionsanalyse der Vertragsfreiheit führt insoweit notwendig zu einer Objektivierung des Vertragspro183 Das gilt ganz entsprechend für andere Rechtsprinzipien. Unzutreffend erscheint es daher etwa, wenn von einigen Autoren die „Selbstverantwortung" in den Begriff der Privatautonomie aufgenommen wird; vgl. nur Flume, Allgemeiner Teil II, § 4, 8 (S. 61 f.); Habersack, AcP 189 (1989), 403, 411; mißverständlich Canaris, Vertrauenshaftung, S.422, 433, 440 und SchmidtSalzer,, JR 1969, 281, 285, die von einer „Ergänzung" des Selbstbestimmungsprinzips durch den Grundsatz der Selbstverantwortung sprechen; vgl. auch Canaris, Systemdenken, § 2 II 2 b; krit. dazu Hönn, JuS 1990, 953, 961; Säcker, Gruppenautonomie, S. 166 ff. 184 Dazu noch unten bb) (2) (c). 185 Kritisch auch Huda, S. 138 f. 186 So ausdrücklich Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3, 10, 16 f. 187 Bydlinski, Privatautonomie, S. 133; Fastrich, S. 42; Flume, FS DJTI, S. 135, 141 ff.; Reuter,ZUR 140(1976),S. 128,129 („Wer die Inhalte von Freiheitspositionen vorweg normiert, hebt sie auf."); ders., Perpetuierung, S.32f.; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S.57; ähnlich Zöllner, AcP 176 (1976), 221, 246; vgl. auch Enderlein, RdA 1995, 264, 267.

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zesses. Nicht die Beliebigkeit individueller Rechtsgestaltung, wie sie in den Umschreibungen der Vertragsfreiheit allenthalben noch betont wird, bleibt als Funktion der Vertragsfreiheit, sondern die Schaffung einer in den Dienst des gesellschaftlichen Generalkonsenses gestellten Rechtsgestaltung. Dies zeigt, daß der Begriff der Vertragsgerechtigkeit, verstanden als Hinweis auf objektive Gerechtigkeitsvorstellungen, im Zusammenhang mit der aus der Privatautonomie abgeleiteten Vertragsfreiheit keine zielführende Funktionsbeschreibung ermöglicht, es sei denn, man leugnet schlechthin, daß „der Gedanke der Selbstbestimmung des Einzelnen (...) als solcher ein Prinzip einer Rechtsordnung sein" kann. 188 Dem dargestellten Dilemma entgeht letztendlich auch nicht, wer wie SchmidtRimpler in seinen späten Schriften eine vermittelnde Position einnimmt, 189 die Einhaltung objektiver Gerechtigkeitsvorstellungen nur für das „System aller Verträge" verlangt und den einzelnen Vertrag damit vermeintlich der privatautonomen Gestaltung überläßt. Wie bereits dargelegt, wird damit dennoch der Vorrang des Selbstbestimmungsprinzips verfehlt, da die Vertragsparteien im Hinblick auf die staatliche Anerkennung ihrer Vereinbarung nicht umhin können, das staatlicherseits präferierte Gerechtigkeitsmodell zu beachten. Eine solche „Autonomie" ist aber keine Selbstbestimmung. Aus diesem Grunde kann auch Fastrich nicht beigetreten werden, wenn er meint, ein Widerspruch zwischen den objektiven Ordnungsvorstellungen Schmidt-Rimplers und dem aus dem Selbstbestimmungsgedanken folgenden Vorrang der subjektiven Wertung bestehe nicht. 190 Vertragsfreiheit und Vertrags Gerechtigkeit stehen in einer auf dem Vorrang der Selbstbestimmung basierenden Privatrechtsordnung für unterschiedliche Wertideen des Rechts. 191 Auf der einen Seite steht die Selbstbestimmung und mit ihr die Idee der Zweckmäßigkeit des Rechts, auf der anderen Seite die Idee einer gegen jedermann gerechten Ordnung. Beide Ideen sind gleichrangig und speisen die Rechtsordnung aus unterschiedlichen Quellen. 192 Wenn aber Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit für unterschiedliche Wertideen stehen, dann kann nicht der eine Begriff zur Erklärung des anderen herangezogen werden. Die Vertragsfrei188

Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 159; ders., FS Raiser, S. 3, 22. Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 128 ff.; Fastrich, S. 54. 190 Fastrich, S. 53; zuvor bereits Steindorff.\ FS Raiser, S. 621, 625 ff. 191 Müller-Freienfels, FS Rittner, S.423, 440 (Fn.72), schreibt dazu: „(...) (E)ine der Privatautonomie unbeschränkte Freiheit lassende Rechtsordnung (entspräche) nicht der Rechtsidee, der Gerechtigkeit. Sie könnte also nicht als prinzipiell richtig, als grundsätzliches Ideal, hingestellt werden. Dies gilt aber auch für ihr Gegenstück, die keine Privatautonomie anerkennende Rechtsordnung. Sie könnte zwar richtig im Sinne der Gerechtigkeit sein, aber wäre das Ende der Persönlichkeit, weil sie alles erzwingen will, und vernichtete sich damit selbst." 192 Larenz, Geschäftsgrundlage, S. 162, spricht in diesem Zusammenhang von zwei Grundelementen; vgl. auch dens., Lehrbuch des Schuldrechts, S.77 f.; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1,8; Seebauer, S.49; Fastrich, S.43, beschreibt ein „Spannungsverhältnis" (vgl. auch dens., RdA 1997, 65, 67); Hueck, S. 107; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S.36, sieht einen „Widerspruch zwischen der Selbstbestimmung und der Vertragsgerechtigkeit", der „unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Aufgaben ausgetragen und einer Lösung zugeführt werden" muß. 189

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heit, verstanden als „zweckmäßiges" Funktionsprinzip der Privatautonomie, ist nicht darauf ausgelegt, per se „gerechte" Regelungen hervorzubringen. 193 Das schließt nicht aus, daß Verträge im Einzelfall einem höheren Gerechtigkeitsverständnis entsprechen. Bevor eine derartige Aussage getroffen werden kann, müßte allerdings zunächst ein objektives Wertesystem errichtet werden, das die Rechtsidee Gerechtigkeit für das Vertragsrecht konkretisiert. In einer auf dem Prinzip der Privatautonomie aufbauenden Rechts- und Wirtschaftsordnung stößt das an Grenzen, da es an generalisierungsfähigen Kriterien fehlt, um einen Maßstab für schlechthin „gerechte" vertragliche Regelungen entwickeln zu können. 194 Es gibt vielmehr, wie Franz Jürgen Säcker betont, „so viele Richtigkeiten, wie es Rechtssubjekte und Instanzen gibt, die über die Richtigkeit bestimmen." 195 Daher sind auch die Vorschläge nicht weiterführend, die darauf abzielen, das Vertragsrecht einem rechtsethischen Schrankenvorbehalt zu unterwerfen. 196 Abgesehen von dem Problem, die gerade herrschenden rechtsethischen Überzeugungen festzustellen, widerspricht eine Ethisierung des Privatrechts fundamental dem Selbstbestimmungsprinzip, das damit geradezu in sein Gegenteil verkehrt würde. 197 Der Gesetzgeber erkennt die Vertragsfreiheit nicht deshalb an, weil er von den Vertragspartnern die Hervorbringung ethisch fundierter, gerechter Regelungen erwartet. Die Vertragsparteien sind im Gegenteil, soweit ihnen privatautonomes Handeln möglich ist, nicht an bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen gebunden. Diese Bewertung wird durch die aus §§ 134, 138 BGB und § 242 BGB folgenden Beschränkungen der Vertragsfreiheit nicht widerlegt. Die Vertragsfreiheit wird insoweit nur durch flankierende Gerechtigkeitsvorstellungen unterfangen, in ihrer Leitbildfunktion aber nicht in Frage gestellt. Funktion der genannten Normen ist es, Auswüchsen der Vertragsfreiheit zu begegnen, die im Hinblick auf die Gesamtrechtsordnung schlechterdings nicht hinnehmbar sind. Es geht nicht darum, eine bestimmte „gerechte" Ordnung zu garantieren, 198 sondern um die Aufrichtung äußerer Grenzen der Vertragsfreiheit, j enseits derer eine autonome Rege193 Rittner, NJW 1994, 3330, 3330; für eine Entlastung des Privatrechts vom „Gerechtigkeitsproblem" durch Zuweisung in das öffentliche Recht plädiert Reuter, DZWir 1994, 45, 45 f. = ders., in: Grundlagen, S. 105, 107. 194 Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), S. 31, 51 (zur Bestimmung des „gerechten Preises"); Mayer-Maly, FS Demelius, S. 139 ff.; Oechsler, S. 8 ff.; Säcker, Gruppenautonomie, S. 207; Wieacker, Sozialmodell, S. 9. 195 Gruppenautonomie, S. 207 f. 196 Vgl. Derleder, FS Wassermann, S. 643 ff.; Huda, S. 141 ff., 188 ff., der im Anschluß an Schopp, Freiheit, S. 226 ff., 261 f., eine moralische Begrenzung der Vertragsfreiheit im Interesse des Vertragspartners annimmt; für das Unternehmens- und Gesellschaftsrecht auch Wiedemann, ZGR 1980, 147 ff.; zweifelnd Hönn, JZ 1983, 677, 680. 197 Vgl. auch Fastrich, S. 43; Lieb, DNotZ 1989, 274, 295 f. 198 Zu § 138 BGB Erman-Brox, BGB, § 138, Rn. 1; Fastrich, S. 20, 43; Fiume, Allgemeiner Teil II, § 18, 1 (S. 365); Mayer-Maly, MünchKomm BGB, § 138, Rn. 2; Medicus, Allgemeiner Teil, Rn. 680; Staudinger-Dilcher, § 138, Rn. 5; vgl. auch RGZ 130, 1, 5, wo davon die Rede ist, § 138 Abs. 1 BGB enthalte ebenso wenig wie § 826 BGB ein „Moralgesetz".

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

lung der Rechtsverhältnisse durch die Rechtssubjekte mit den Anforderungen des Zusammenlebens der Individuen im Staat schlechthin nicht mehr vereinbar ist. 199 Ziel ist es also nicht, „ungerechte" vertragliche Vereinbarungen zu unterbinden, um dadurch eine gerechte Regelung der Lebensverhältnisse zu erreichen. Ziel ist es vielmehr nur, den sozial schlechthin inadäquaten Vereinbarungen die staatliche Anerkennung zu versagen. 200 Die Theorie der Richtigkeitsgewähr berührt letzten Endes eine andere Betrachtungsebene als die Frage nach dem Funktionsprinzip der Vertragsfreiheit. Das hat Lorenz Fastrich201 deutlich herausgearbeitet: Während die Vertragsfreiheit als Erscheinungsform der Privatautonomie das geltende Vertragsrecht des BGB primär bestimmt, fragt die Theorie der Richtigkeitsgewähr nicht nach dem internen telos der Autonomie, sondern nach ihrer Fähigkeit „gerechte" Vertragsergebnisse hervorzubringen. Es handelt sich also um eine Form der Ergebniskontrolle, die als Ausgangsbefund für Korrekturen des Vertragsrechts dienen kann, wobei diese Korrekturen auf der Anwendung des Gerechtigkeitsprinzips und nicht auf dem Selbstbestimmungsprinzip beruhen. 202 Der Korrekturansatz beschränkt sich im übrigen auf die Kontrolle des Vertragsinhalts, ohne eine Antwort darauf zu geben, warum das einzelne Rechtssubjekt überhaupt Zugang zum Vertrag als Rechtsgestaltungsinstrumentarium erhalten soll. In der Zugangsmöglichkeit liegt jedoch die Basis vertraglicher Selbstbestimmung. Die Theorie der Richtigkeitsgewähr vermag daher, wenn man sie im rechtssoziologischen Sinne als Maßstab zur Bewertung des Vertragsergebnisses versteht, das Selbstbestimmungsprinzip nicht zu ersetzen, geschweige denn zu erklären. Insoweit bleibt ein Widerspruch, wenn man das Funktionsprinzip des Vertrages mit der Richtigkeitsgewähr im Hinblick auf die Zusammenführung unterschiedlicher Interessen im Vertragskonsens identifiziert. 203 Der Vertrag als Akt der Willkür der Parteien bezieht seine Verbindlichkeit nicht aus der Verwirklichung eines überindividuellen Gerechtigkeitsmaßstabes. 204 Einen objektiv-recht-

199

Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 60, 67; Fastrich, S.20; anders offenbar Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 107. 200 Zu § 138 BGB Fastrich, S. 20; Lorenz, Allgemeiner Teil, § 22 III a (S. 439); Mayer-Maly, MünchKomm BGB, § 138 Rn. 1. 201 S. 54; vgl. auch Habersack, AcP 189 (1989), 403, 408. 202 Die mit dem Selbstbestimmungsprinzip „konkurrierenden" Rechtsprinzipien sind insoweit, wie bereits dargelegt, ebenso wie das Selbstbestimmungsprinzip aus den Wertideen des Rechts ableitbar; die „Richtigkeitsgewähr des Vertrages" ist also entgegen Fastrich, S. 54, nicht ein dem Selbstbestimmungsprinzip übergeordnetes Ordnungsprinzip. 203 Adams, BB 1989, 781, 782; Flume, Allgemeiner Teil II, § 1 6 a (S.8); mißverständlich Coester-Waltjen AcP 190 (1990), S. 1, 15 f.; anders in der Bewertung Fastrich, S . 5 4 f . 204 Adomeit, NIW 1994, 2467, 2468; Burckhardt, Einführung, S.73; Canaris, FS Lerche, S. 872, 883 f.; ders., Bedeutung, S. 46, 55 f.; Esser, IZ 1956,555,557; Fastrich, S. 46; M. Fischer, S. 36 f.; Flume, Allgemeiner Teil II, § 1,5 (S. 6); Hackl, S. 16; Raiser, FS DITI, S. 101,118; Rebe, S. 54; Säcker, Gruppenautonomie, S. 208; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 29; E. Wolf, Allgemeiner

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

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lieh „richtigen" Vertrag kann es in einer auf dem Gedanken der Privatautonomie aufbauenden Rechtsordnung per definitionem nicht geben, da solchenfalls der Gesetzgeber sich an die Stelle der Rechtssubjekte setzte. Das ist auch der Grund, warum es methodisch ausgeschlossen ist, Gerechtigkeitsvorstellungen durch unmittelbare Instrumentalisierung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG in eine Rechtsbeziehung unter Privaten zu implementieren. 205 Es wäre unweigerlich das Ende der Privatautonomie. 206 Aufgabe der staatlichen Gewalt ist es, Hüter der Vertragsfreiheit zu sein und den Vorrang der individuellen Willensfreiheit im rechtsgeschäftlichen Bereich zu respektieren. Soweit das Selbstbestimmungsprinzip versagt, weil das gesetzlich ausformulierte Vertragsrecht des BGB auch bei einer am Selbstbestimmungsprinzip orientierten Auslegung zu keiner, dem Selbstbestimmungsgedanken adäquaten Lösung führt, ist der Gesetzgeber gehalten, das Vertragsrecht durch geeignete Vorschriften zu effektuieren. Fehlen solche ergänzenden Vorschriften, muß sich der Rechtsanwender aufgrund der Prärogative des Gesetzgebers damit begnügen, dem im Recht aktuell abgebildeten Selbstbestimmungsprinzip zu möglichst effektiver Durchsetzung zu verhelfen, selbst wenn das System als solches unvollkommen erscheint. Auch eine Korrektur des Vertragsrechts aus Gründen der „Gerechtigkeit" ist dem Rechtsanwender ohne erkennbare rechtliche Anknüpfungspunkte verschlossen, da derartige Wertungen dem Vertragsrecht nicht immanent sind. Beschränkungen der Vertragsfreiheit zur Verfolgung eines Gerechtigkeitszieles bedürfen angesichts des damit einhergehenden Paradigmenwechsels besonderer gesetzesförmiger Legitimation, die nur von der Legislative ausgehen kann. 207 Die Rechtsfortbildungskompetenz des Richters ist insoweit begrenzt. 208 Er hat, wie Lorenz Fastrich bemerkt, „keine Optimierungsaufgabe in dem Sinne, daß er die einfachgesetzlich nicht in der rechtspolitisch wünschenswerten Weise berücksichtigten Rechtsgedanken uneingeschränkt zur Geltung bringen dürfte (.. .)". 209 Dem Gesetzgeber steht es - anders als dem Rechtsanwender - grundsätzlich frei, ob er Fehlfunktionen des Vertragsrechtssystems allein mit einer Effektuierung des Selbstbestimmungsprinzips beseitigt oder ob er darüber hinaus eine EinTeil, S. 373, 376; vgl. auch Mayer-Maly, FS Merkl, S. 247, 251; Müller, S. 23; Zöllner, AcP 176 (1976), 221,246. 205 Dazu Bydlinski, FS Klecatsky, S. 129, 144; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 203 ff.; Hueck, S.98f.; vgl. auch Herrmann, ZfA 1996, 19, 25; RUfner, GS Martens, S.215, 223; aA Gerigk, S. 19 f.; Grossmann, S. 90f.; Lorenz, Lehrbuch des Schuldrechts, § 4 IV 3 (S. 65 f.); Raiser, ZHR 111 (1948), 74, 93f.; ders., in: Kartelle und Monopole II, S.523, 530ff.; Slupik, JR 1990, 317, 320, 323; M. Wolf, FS Raiser, S. 597, 611 ff. 206 Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 129 f.; Flume, Allgemeiner Teil II, § 1, 10 b (S. 21 f.); vgl. auch Classen, JZ 1996, 921, 930; U. Scholz, S. 221 f. 207 In diesem Sinne wohl auch Singer, S. 39. 208 Vgl. Lorenz, Methodenlehre, S.414. 209 Fastrich, S. 76; ders., RdA 1997, 65, 69.

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schränkung des Selbstbestimmungsprinzips zugunsten heteronomer Gerechtigkeitsvorstellungen präferiert. Unabhängig davon, welchem Regelungsansatz der Gesetzgeber letztendlich folgt, bleibt der für das Vertragsrecht maßgebende Vorrang der Selbstbestimmung zu beachten, so daß sich eine Vertragskontrolle zur Abwehr von Fehlfunktionen des Selbstbestimmungsprinzips, sei es in Form der Vertragsbegründungs- oder der -inhaltskontrolle, damit bescheiden muß, „besonders grobe Fehler zu verhindern". 210 (2) Soziale Vertragstheorien Auf einen Irrweg führen daher auch jene sozialen Vertragstheorien, die - zumeist unter dem Banner des Verbraucherschutzes 211 - einem sozialstaatlich legitimierten Wandel des Vertragsrechts das Wort reden, 212 um auf diese Weise gesellschaftspolitische und gesamtwirtschaftliche Ziele mit Hilfe des Vertragssystems zu verwirklichen. 213 Diese „Vergesellschaftung" 214 des Vertrages zur Herstellung materieller Vertragsgerechtigkeit bedeutet nichts anderes als die Abkehr vom Selbstbestimmungsprinzip und damit den Bruch mit der im BGB aufgerichteten Privatrechtsordnung, da die Bedeutung des Vertrages als Rechtsgestaltungsinstrumentarium einseitig auf seine soziale Dimension verkürzt wird. 215 Die sozialen Vertragstheorien können daher zur Erklärung der immanenten Funktionsbedingungen des geltenden Vertragsrechts nichts beitragen. Das wird von ihren Protagonisten allerdings auch nicht angestrebt, 216 da es ihnen gerade um die Überwindung eines auf dem Selbstbestimmungsprinzip aufbauenden Vertragsmodells geht. 217 Es wird also gar nicht der Versuch unternommen, die Funktionsgrundlagen des Vertragsrechts zu bestimmen.

210

Rittner, AcP 188 (1988), 101, 128; vgl. auch BVerfGE 81, 242, 255 - Handelsvertreter; Fastrich, S. 76; Lorenz, S. 27 f.; Singer, S. 34. 211 Zum Aspekt des Verbraucherschutzes als Gegenstand des Zivilrechts vgl. Esser/Schmidt, Schuldrecht I, §§ 1 II, 2 II; Gilles, JA 1980, 1 ff.; Reich, Markt und Recht, S. 192 ff.; Reich/ Tonner/ Wegener, Verbraucher und Recht, S. 11 f.; mit explizit marxistischem Ansatz Reiftier, S. 66ff.; zusammenfassend Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, 1981. 212 Assmann, in: Assmann/Brüggemeier/Hart/Joerges, S. 239, 251; Hart, KJ 1974, 274, 276f.; ders., AK-BGB, Vor § 145, Rn.27ff.; Reich, ZRP 1974, 187, 189. 213 Vgl. bereits Zweigert, FS Rheinstein II, S.493, 503, der ausgehend von der These, Vertragsfreiheit sei ein „Traumschloß, eine Utopie und keine Realität", die eigentliche Aufgabe darin sieht, Kriterien und Verfahren für Vertragsgerechtigkeit zu suchen. 214 So ausdrücklich Teubner, ZHR 146 (1982), S. 625,629; vgl. auch ders., AK-BGB, § 242, Rn. 19, 22; Hart, Allgemeine Geschäftsbedingungen, S. 114. 215 Ablehnend auch Lieb, AcP 183 (1983), 327, 351 ff.; Singer, S. 23; H. P. Westermann, Gutachten, S. 79 ff.; vgl. auch Lorenz, S. 6 f. 216 Vgl. auch Gilles, JA 1980, 1,6; Dauner-Lieb, S. 141 ff., 144 („Schrittmacher der Systemüberwindung"), 150; Lieb, AcP 183 (1983), 327, 349 (Verbraucherschutzidee als „systemsprengendes Postulat"). 217 Vgl. Hart, KJ 1974, 274, 276f.; Teubner, AK-BGB, § 242, Rn. 90; Zweigert, FS Rheinstein II, S.493, 502ff.

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Damit soll der Verbraucherschutzgedanke keineswegs diskreditiert werden. Nur muß eine vertragsrechtskonforme Lösung der Probleme gesucht werden. (3) Ergebnis Es kann im Ergebnis nicht weiter verwundern, daß eine heteronome Vertragszielbestimmung mit dem Leitgedanken einer privatautonom geprägten Vertragsrechtsordnung nicht in Einklang zu bringen ist. Die heteronome Vertragszielbestimmung kann zwar mit dem Ziel vertraglicher Selbstbestimmung im Einzelfall deckungsgleich sein. Das ist aber nicht der Regelfall, da die von außen an den Vertrag herangetragenen Zielbestimmungen nicht dem Selbstbestimmungsprinzip folgen, sondern zumeist Ausdruck einer „höheren" Gerechtigkeitsidee sind. Soweit es darum geht, die materiellen Funktionsbedingungen des Vertragsrechts zu ermitteln, die dessen Anwendung determinieren, kann das nur aus dem Vertragsrecht heraus geschehen, da es gilt, Reichweite und Inhalt des im Vertragsrecht verwirklichten Selbstbestimmungsprinzips festzustellen. bb) Autonome

Vertragszielbestimmung

(1) Theorie der subjektiven Richtigkeitsgewähr (a) Leitgedanken Bereits Schmidt-Rimpler, der das Gebäude der objektiven Richtigkeitsgewähr des Vertrages maßgeblich aufrichten half, hat in Auseinandersetzung mit seinen Kritikern 218 eingeräumt, daß die Anerkennung der Vertragsfreiheit durch den Hinweis auf objektive Gerechtigkeitsmodelle nicht befriedigend zu erklären ist, weil in den einzelnen Vertrag subjektive Wertungen der Parteien einfließen. Angesichts der Unvereinbarkeit heteronomer Vertragszielbestimmungen mit dem Leitgedanken vertraglicher Selbstbestimmung ist es daher naheliegend, den Zweck des Vertragsrechts allein in der rechtlichen Fixierung subjektiver Wertvorstellungen der Parteien zu sehen. Das klingt in jenen Stellungnahmen an, die den Begriff der Vertragsgerechtigkeit im Hinblick auf die von den Parteien autonom angestrebte Sozialgestaltung interpretieren und das Ziel des Vertragsprozesses in der Herstellung ausgleichender Gerechtigkeit bezogen auf unterschiedliche Vertragsinteressen sehen. Der Prozeß des „gegenseitigen Abschleifens entgegenstehender Interessen", so die prägnante Beschreibung des vertraglichen Einigungsprozesses durch Franz Bydlinski219, wird als subjektiver „Interessenausgleich" beschrieben, 220 der zu einem für die jeweilige Partei „richtigen" Ergebnis führt. 221 218 Vgl. Flume, FS DJTI, S. 135, 142 f.; ders., Allgemeiner Teil II, § 1, 6 a (S. 7 f.); Raiser, FS DJT I, S. 101, 118f.; Roscher, ZRP 1972, 111 ff.; Thiele, FS Larenz, S. 1043, 1052f. 219 Bydlinski, Privatautonomie, S.62. 220 Vgl. insoweit Bydlinski, System, S. 149 (m. Fn. 149); Grunsky, S. 16; Hackt, S. 16f.; v. Hoyningen-Huene, Billigkeit, S. 137; Kramer, MünchKomm BGB, Vor § 145, R n . 2 f . ; Larenz,

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(b) Kritik Jede Partei wird jedoch gerade jenes Ergebnis für richtig halten, das sich für sie besonders günstig, für die Gegenseite dagegen eher ungünstig darstellt. 222 Die aus Sicht der jeweiligen Partei für „richtig" gehaltene Entscheidung besagt daher noch nichts über den Gerechtigkeitsgehalt des Vertrages, 223 zumal die Einschätzung der Richtigkeit situationsabhängig ist. Wer nicht unter mehreren potentiellen Kontrahenten auswählen kann oder sich in einer Notlage befindet, wird das Ergebnis des Vertragsschlusses unter einem anderen Blickwinkel betrachten als derjenige, dem mehrere Vertragsangebote zur Auswahl stehen. Damit aber relativiert sich der „Richtigkeits-" und somit auch der „Gerechtigkeitsgehalt" des Vertrages und es fragt sich, welchen Erkenntnisgewinn die Verknüpfung des Vertragsschlusses mit dem Topos der „Richtigkeitsgewähr" überhaupt hat. Denn offenbar ist der Begriff der Richtigkeitsgewähr inhaltsleer. Er suggeriert die Hervorbringung gerechter Vertragsergebnisse, ohne daß selbst eine Vorstellung davon besteht, was Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang bedeutet. Vielmehr wird das als gerecht hingenommen, was die Parteien vereinbart haben. Überspitzt formuliert handelt es bei der Lehre von der Richtigkeitsgewähr des Vertrages um eine rechtsethisch überhöhte Falschbezeichnung. 224 Soweit mit der Formulierung von der „ausgleichenden Gerechtigkeit" des Vertrages eine Verpflichtung der Parteien zu gegenseitiger Interessenharmonisierung impliziert sein sollte, sind auch dagegen Bedenken anzumelden: Der homo oeco-

Lehrbuch des Schuldrechts, § 6 1 (S. 78); Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler, S. 115, 133 f.; Rittner, FS Müller-Freienfels, S. 509,514 f.; Säcker, Gruppenautonomie, S. 205; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 35; wohl auch Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 129 f. - In der ursprünglichen Bedeutung leitet sich der Vertrag von „pacem condere" („sich vertragen") ab (dazu Ihering, Geist I, § 11 a, Fn.45 (S.136)); die Wortbedeutung weist damit auf eine „Ausgleichung", einen „Vergleich" zwischen den Vertragsbeteiligten hin (F. Hofmann, S. 8; dem Sinn nach auch Blomeyer, AcP 154 (1955), 527,529, der als Zweck des Vertrages die Errichtung einer „richtigen Ordnung" iSe „vernünftigen Ausgleich(s) divergierender Interessen" ansieht; vgl. auch Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 14 f.). 221 BGHZ 101, 350, 354 - Freizeichnung in notariellem Individualvertrag; BGH WuW/E BGH 1192, 1194 - Stromversorgung für US-Streitkräfte; OLG Frankfurt/M - WuW/E OLG 1194, 1196 f. - Stromversorgung für US-Streitkräfte; Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 108; Rob. Fischer, DRiZ 1974, 209, 210; ders., FS Barz, S. 33, 37 f.; Habersack, AcP 189 (1989), 403, 411; Hart, KritV 1986, 211, 238; Hönn, Kompensation, S. 103; Kramer, ZHR 146 (1982), 105; Lorenz, Lehrbuch des Schuldrechts, § 6 I (S. 78f.); Mayer-Maly, FS Merkl, S. 247, 251; Picker, JZ 1988, 339, 341 f.; Rittner, AcP 188 (1988), 101, 128; Säcker, Gruppenautonomie, S. 205, 220, 226; Schopp, Grundfragen, S.55; Singer, JZ 1995, 1133, 1135; v. Stebut, S.248f., 269; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 3 f. 222

Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 58. Pawlowski, S. 168; Schopp, Grundfragen, S. 55 (Der Vertrag ist für die Vertragspartner keine richtige Ordnung an sich, sondern richtige Ordnung nur im Hinblick auf das, was er bewirken soll). 224 Schapp, Grundfragen, S. 90, spricht von einer Hypostatisierung des Begriffs der richtigen Ordnung. 223

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nomicus sucht nach einer für ihn vorteilhaften Lösung, nicht nach einer alle Vertragsbeteiligten zufriedenstellenden „gerechten" Regelung. Selbstbestimmung, die sich über die Bindung des einen Vertragsteils an die Interessen des Vertragsgegners definiert, mag Ausdruck eines sozial verpflichteten Gerechtigkeitsempfindens sein, ist jedoch der Sache nach keine Selbstbestimmung mehr. Wenn der Vertrag für das einzelne Rechtssubjekt einen Sinn als Selbstbestimmungsinstrumentarium haben soll, dann erfährt er diesen im Verhältnis zu anderen Rechtssubjekten durch das Aufeinanderprallen und gegenseitige Abschleifen unterschiedlicher Interessen, wie Bydlinski es beschrieben hat, nicht aber durch die Verpflichtung zur Interessenharmonisierung im Sinne der Aufnahme der Interessen der Vertragsgegenseite in den eigenen Willen. 225 Selbstbestimmung macht keinen Sinn, wenn sie das begünstigte Rechtssubjekt von vornherein zu einem für alle Beteiligten materiell gerechten Interessenausgleich verpflichtet, in dem die Interessen jedes einzelnen Beteiligten möglichst umfassend berücksichtigt sind. Das im Vertragsrecht abgebildete Selbstbestimmungsprinzip erschöpft sich vielmehr in seiner Ausrichtung auf die subjektive Interessenverfolgung. Bei Lichte betrachtet kann die Herbeiführung von individueller Vertragsgerechtigkeit - verstanden als Gewährleistung von gegenseitiger Austauschgerechtigkeit - nicht als zielführende Funktion der Vertragsfreiheit angesehen werden. Vorsichtiger wird daher zuweilen auch formuliert, der Vertragsprozeß berge die „Vermutung" oder „Chance" einer gerechten Regelung in sich. 226 Welcher Grad der „subjektiven Richtigkeitsgewähr" auch immer angenommen wird, die „Richtigkeit" des Vertrages iSd Erzielung eines für jede Partei „richtigen" Vertragsergebnisses ist nicht notwendiges Kennzeichen für Selbstbestimmung. Auch der Abschluß eines für die Partei „falschen", da nachteiligen, Vertrages kann Ausdruck vertraglicher Selbstbestimmung sein und wird von der Vertragsrechtsordnung in den Grenzen der äußeren Vertragsschranken als ein solcher Akt geschützt. Wer also von der ausgleichenden Gerechtigkeit und subjektiven Richtigkeitsgewähr des Vertrages spricht, um damit auf die Hervorbringung „richtiger" Vertragsergebnisse hinzuweisen, verkürzt den Umfang der nach dem Vertragsrecht vorgesehenen Selbstbestimmung auf „vorteilhafte" Geschäfte. Das Gebäude des Vertragsrechts wird mit einer Fassade versehen, die nach außen den Glanz subjektiver Richtigkeitsgewähr des Vertrages ausstrahlt, ohne daß das maßgeblich vom Selbstbestimmungsprinzip getragene Vertragsrecht die gewünschten Ergebnisse tatsächlich hervorzubringen vermag oder sich gar auf die

225

Vgl. auch Fastrich, S. 47. Canaris, Bedeutung, S. 49; Esser, Schuldrecht I, S. 82; Hönn, Kompensation, S. 94 f.; v. Hoyningen-Huene, Billigkeit, S. 137; Köhler, ZHR 137 (1973), 237, 246; Kramer, MünchKomm BGB, Vor § 145, Rn.2; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S.73f.; vgl. auch Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 110; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, § 6 I (S. 79); Preis, S. 136; Raiser, FS DJTI, S. 101, 118 f.; Soergel-Hönn, Vor § 145, Rn. 29. 226

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Anerkennung solcher Vertragsergebnisse beschränkt. 2 2 7 Damit ist der nächste Schritt zur Korrektur der Vertragsergebnisse vorgezeichnet. Die mißverständliche Formulierung von der „ausgleichenden Gerechtigkeit" 2 2 8 und „subjektiven Richtigkeitsgewähr" des Vertrages, mit der die gegenläufigen Prinzipien der Selbstbestimmung und der Gerechtigkeit scheinbar harmonisiert werden, enthalten insgesamt keine zutreffende Funktionsbeschreibung des Vertragsprozesses. 229 Mit einer Zielbestimmung des Vertrages, die in der Verwirklichung subjektiver Gerechtigkeitsvorstellungen gesehen wird, ist kein Erkenntnisgewinn verbunden. (2) Theorie der Vertragsparität (a) Leitgedanken Die autonome Vertragszielbestimmung wird der Sache nach auch von jenen Stimmen als Bedingung vertraglicher Selbstbestimmung angesehen, die in der Vertragsparität eine zwingende Funktionsvoraussetzung für vertragliche Selbstbestimmung sehen. 2 3 0 Der Gedanke der Vertragsparität klingt bereits in der Lehre Schmidt-Rimplers an, wird dort jedoch nur bei grober („typischer") Machtungleichheit als Begrenzung des Vertrages in seiner Funktion als Selbstbestimmungsinstrumentarium gesehen. 2 3 1 Diese Wurzel der Paritätslehre läßt es nicht verwunderlich erscheinen, daß Vertragsparität zumeist nur als Voraussetzung zur Herstellung eines (subjektiv) gerechten Interessenausgleichs verstanden wird. 232 Der Sache nach kommt dem Gedanken der Vertragsparität damit keine eigenständige Bedeutung zu, sondern nur eine Komplementärfunktion im Rahmen der Theorie von der subjektiven Richtigkeitsgewähr des Vertrages, die den bereits

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Vgl. auch Limbach, KritV 1986, 178 f.; Singer, S. 26. Fikentscher, Schuldrecht, Rn. 89. 229 In diesem Sinne Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 62f.; zurückhaltend auch Larenz, Geschäftsgrundlage, S. 161 f.; vgl. auch dens., Lehrbuch des Schuldrechts, S. 77 f. 230 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254 f. - Handelsvertreter; 89, 214, 233 (= NJW 1994, 36, 38) Bürgschaft I; BGH W M 1995, 237, 238; BAG AP Nr. 1 u. 2 zu § 305 BGB - Billigkeitskontrolle; Becker, DZWir 1994, 397, 400ff.; Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 108 f.; ders., FS Böhm, S. 113, 134•, Binder, Rz. 0906; Canaris, AP Art. 12 GG Nr. 65 (Bl. 459); Dieterich, RdA 1995, 129, 131; Eichenhofer, JuS 1996, 857, 862; Grunewald, AcP 182 (1982), 181, 186; Hönn, Kompensation, S. 92 ff.; ders., JZ 1983, 677, 683 ff.; Köhler, ZHR 137 (1973), 237, 246; Kohte, ZBB 1994, 172, 173ff.; Kronke, AcP 183 (1983), 113, 132; Larenz, Allgemeiner Teil, § 2 V (S.46); Mayer-Maly, FS Merkl, S. 247, 250; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 443; Pappenheim, FS Cohn, S. 289, 295 ff.; Paschke, S. 47 ff.; Preis/Rolfs, DB 1994, 261 ff.; Raiser, FS DJT I, S. 101, 118; Rebe, S. 176 f.; Reichold, in: Jahrbuch 1992, S. 67; RGRK-Piper, Vor § 145, Rn. 33; Säcker, Gruppenautonomie, S. 208 ff.; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 29; Vykydal, S. 43 f. 231 Vgl. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 157 f. (b. Fn. 34, Nr. 1, 2); ders., FS Raiser, S. 3, 13; ders., FS Nipperdey, S. 1, 8. 232 Ygl. etwa Hönn, Kompensation, S. 99: „Parität ist die vom positiven Recht dem Vertragspartner eingeräumte Rechtsstellung, welche ihnen einen Interessenausgleich in Selbstbestimmung mit der Chance der Äquivalenz eröffnet."; Köhler, ZHR 137 (1973), 237, 246. 228

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bezeichneten Einwänden ausgesetzt ist. Zu untersuchen bleibt, ob der Paritätsgedanke für sich genommen eine funktionssichernde Voraussetzung der Vertragsfreiheit ist. Vertragsparität ist dabei zu verstehen als das Vorhandensein einer Gleichgewichtslage zwischen den Vertragsparteien. Überwiegend wird insoweit auf ein wirtschaftliches Kräftegleichgewicht abgestellt. Unter dem Eindruck der sog. Bürgenrechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts, in der die Grenzen der privatautonomen Verpflichtung - geschäftsunerfahrener - Personen durch risikoreiche Bürgschaftsverträge ausgeleuchtet wurden, hat darüber hinaus die Frage an Aktualität gewonnen, ob zu den Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit auch ein bestimmter Grad intellektuellen Gleichgewichts zwischen den Vertragsparteien gehört. 233 (b) Kritik Bedenken gegen eine Heranziehung des Grundsatzes der Vertragsparität zur Legitimierung der Vertragsfreiheit ergeben sich zunächst aufgrund der Unschärfe des Paritätsbegriffs, der für sich genommen ebenso maßstabslos ist wie derjenige der „überlegenen Verhandlungsmacht", mit dem auf das Fehlen von Vertragsparität hingewiesen wird. 234 Beide Begriffe dienen zur Beschreibung eines rechtstatsächlichen Zustandes, ohne die Ursachen dieses Zustandes und deren Bedeutung für die Vertragsfreiheit weiter zu hinterfragen. 2 3 5 Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings auch, daß selbst verbindliche Kriterien dafür fehlen, unter welchen Voraussetzungen (Im-) Parität besteht, ob etwa wirtschaftliche Unterlegenheit durch intellektuelle Überlegenheit ausgeglichen werden kann. 2 3 6 Es verbietet sich daher auch, aus den Umständen, unter denen Verträge „typischerweise" geschlossen werden, auf das Bestehen einer Ungleichgewichtslage zwischen den Vertragsparteien zu schließen. 237 Da die Paritätskriterien selbst kaum zu ermitteln sind, hilft es auch nicht weiter, den Paritätsbegriff jenseits von mathematischer Exaktheit weit zu fassen. 2 3 8 Wenngleich ein weiter Paritätsbegriff der rechtsge233 Zur intellektuellen (Im-)Parität vgl. Raiser, JZ 1958, 1, 7; Säcker, Gruppenautonomie, S. 88 ff. 234 Vgl. Medicus, Schuldrecht AT, § 10 III (Rn. 73); M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 101 ff. 235 Dazu auch Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Hbbd., S. 38; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S.105. 236 Fastrich, RdA 1997, 65, 67; Limbach, JuS 1985, 10, 13; Medicus, Abschied, S. 19 ff.; Preis, S. 136;R/ifr«>r,NJW 1994, 3330; ders., ZHR 160(1996), 180, 196; ders., AcP 188 (1988), 101, 127; Roth, BB 1987,977,983; Schopp, Grundfragen, S. 95; Singer, S. 25; Zöllner, DB 1985, 2450, 2453; ders., FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, S. 85, 113 f.; ders., AcP 176 (1976), 221, 237. 237 So aber BVerfGE 81, 242, 255 - Handelsvertreter; BVerfG NJW 1994, 34, 36 - Bürgschaft I; NJW 1994, 2749, 2750 - Bürgschaft II; NJW 1996, 2021 - Bürgschaft III; Dieterich, RdA 1995, 129, 131 f.; Eichenhofer, JuS 1996, 857, 862, für die Beziehung zwischen „Mensch und Organisation". 238 So aber Hönn, Kompensation, S.92; ders., JuS 1990, 953, 956; Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3, 14;

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

schäftlichen Realität näher kommt als ein Paritätsverständnis, das auf exakte Grenzziehung angelegt ist, 239 so wird durch die Aufweichung des Begriffskerns doch nur die vollständige Konturenlosigkeit des Paritätsbegriffs für die Beschreibung der vertraglichen Funktionsvoraussetzungen eingestanden. Mangels konkreter Kriterien bleibt nach wie vor offen, wie „noch ausgewogene" von „nicht mehr ausgewogenen" Verträgen zu unterscheiden sind. Der Paritätsgedanke begünstigt damit nicht anders als die vorgestellten „Gerechtigkeitsmodelle" hoheitliche Eingriffe in privatrechtliche Verträge, ohne daß der Gesichtspunkt, unter dem auf die Privatautonomie gestaltend eingewirkt wird, klare materielle Grenzen für die Einwirkung erkennen läßt. 240 Unter diesen Vorzeichen erscheint es im Hinblick auf die von den Parteien angestrebte Interessenverfolgung vermessen, von der Anwendung des Paritätsgedankens die Hervorbringung „gerechter" vertraglicher Vereinbarungen zu erwarten; umgekehrt kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, daß „Imparität" notwendig zu ungerechten Lösungen führt. 241 Der BGB-Gesetzgeber hat daher mit guten Gründen davon abgesehen, eine wie auch immer geartete „materielle" Vertragsparität zur Voraussetzung für die Anerkennung vertraglicher Sozialgestaltung zu machen. Sie stünde letztendlich auch im Widerspruch zum Primat der Privatautonomie im Vertragsrecht. 242 Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen wird erst dann und nur dann als regelungsbedürftiger Faktor aufgegriffen, wenn die Entscheidungsfreiheit in einem Maße beeinträchtigt erscheint, daß eine autonome Willenssteuerung typischerweise nicht mehr gewährleistet ist. Ausdruck dieser Regelungstechnik sind die Vorschriften über die Nichtigkeit der Willenserklärungen geschäftsunfähiger und beschränkt geschäftsfähiger Personen (§§ 105, 107 BGB) wie auch die fehlende Anerkennung gesetzeswidriger und sittenwidriger Geschäfte (§§ 134,138 BGB). Damit werden bewußt nur äußere Grenzen markiert. Insbesondere die Vorschrift des § 138 Abs. 2 BGB, die in der Form von Regelbeispielen einzelne Fälle „rechtsgeschäftlicher Unterlegenheit" aufzählt, enthält keine verallgemeinerungsfähige Aussage des Inhalts, daß Rechtsgeschäfte bei jeder Form der „Unterlegenheit" eines Vertragspartners dem Vorbehalt rechtlicher Anerkennung unterliegen. 243 In Fällen, in denen die wirtschaftliche oder intellektuelle Entscheidungsfreiheit einer Vertragspartei nicht derjenigen der anderen Vertragspartei entspricht, ohne daß die 239

So die „konkrete Utopie" bei Kramer, Krise, S. 63 ff. Auf diesen Aspekt weist mit Recht Pawlowski, Folgen, S. 230 f., hin. 241 Fastrich, RdA 1997,65,67; Singer, JZ 1995, 1133, 1138; Wedemann, ]Z 1990,695,697; Zöllner, JuS 1988,329,335. 242 Zutreffend hebt Hille, S.99, hervor: „(...) eine Rechtsordnung (wird widersprüchlich), die einerseits trotz bekannter starker äußerer Einwirkungen streng an der persönlichen Verantwortung für die Beachtung von Sollensnormen festhält, andererseits im rechtsgeschäftlichen Bereich schnell eine rechtlich relevante Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit anzuerkennen bereit ist." 243 So lassen sich allerdings die Ausführungen des BVerfG in seiner ersten Bürgen-Entscheidung deuten; vgl. BVerfGE 89, 214, 233 f. (= NJW 1994, 34, 39) - Bürgschaft I. 240

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

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äußeren Schranken der Vertragsfreiheit durchbrochen werden, wird dieser rechtstatsächliche Umstand von der Vertragsrechtsordnung hingenommen. Die Erkenntnis, daß der Grad der Entscheidungsfreiheit nicht meßbar ist, wird durch die Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Formulierung entsprechender Wirksamkeitsvoraussetzungen des Vertrages zutreffend reflektiert. Wenn dennoch behauptet wird, für den Tatbestand der Privatautonomie und damit für die Gewährleistung der Vertragsfreiheit sei die Gleichheit der Privatrechtssubjekte schlechthin konstituierend, 244 so kann dem nur in einem formalen Sinne zugestimmt werden: 245 Gleichheit besteht, weil das Rechtsgestaltungsinstrumentarium des Vertrages jedem Privatrechtssubjekt zur Verfügung steht. Damit ist allerdings nur eine Gleichheit in der Ausgangslage verbunden, nicht jedoch die Gewähr für ein allen Vertragsbeteiligten am Ende gleichermaßen gerecht erscheinendes Vertragsergebnis. 246 Wenn sich dieses dennoch einstellt, so liegt das daran, daß der Vertragsinteressent in der Regel zwischen mehreren Vertragsgelegenheiten auswählen kann. Der Wettbewerb ist hier das Korrektiv für die fehlende Gewährleistung materiell „gerechter" Vertragsergebnisse durch Inanspruchnahme von Vertragsfreiheit. 247 Diese kann aber auch bei nur singulären Vertragsgelegenheiten gegeben sein. 248 Allerdings ist bei Fehlen einer Vertragsalternative die Gefahr größer, daß das Vertragsergebnis aus Sicht des Vertragsinteressenten als inhaltlich unangemessen bewertet wird. Dieses Risiko ist andererseits dem Selbstbestimmungsgedanken inhärent, soweit die „unangemessenen" Vertragsbedingungen nicht die Außenschranken des Vertragsrechts durchbrechen. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß der Gedanke der Vertragsparität keine zureichende Legitimationsbasis für die Anerkennung privatautonomer Vertragsfreiheit abgibt 249 und deshalb auch als Ausgangspunkt für Eingriffe in die Vertragsfreiheit ausscheidet. Vertragsparität im wörtlichen Sinne ist ein gedankliches Konstrukt, das in der Rechtswirklichkeit idealiter kaum anzutreffen ist und daher als Funktionsvoraussetzung für privatautonome Rechtsgestaltung nicht taugt. 250

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Blomeyer, Schuldrecht, S. 75; Grossmann, S. 47; Wagner, Grundlegung, S. 103. Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 238; Raiser, ZHR 111 (1948), 75, 93; Rittner, FS Müller-Freienfels, S. 509, 514; ders., AcP 188 (1988), 101, 132; Seebauer, S.51; Singer, S.40. 246 Erman-Hefermehl, Vor § 145, Rn. 26. 247 Vgl. auch Grunsky, S. 13 ff.; Bydlinski, System, S.627: „Der Wettbewerb dient also der Realisierung des Freiheitsprinzips dadurch, daß er in weitem Umfang „bloß formale" Privatautonomie durch Begründung, Aufrechterhaltung oder Verbesserung von realen Wahlmöglichkeiten zur zugleich „materiellen" Privatautonomie macht, dadurch einer auch rechtlich durchaus relevanten Schwäche entrückt und die durch diese gestellten besonderen Abwägungsprobleme vermeidet." 248 Bydlinski, System, S. 150f., 625. 249 Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 18 ff.; vgl. auch Boemke, NZA 1993, 532, 534; Hergenröder, DZWir 1994, 485, 491. 250 Ebenso im Ergebnis Bydlinski, System, S. 158 f. (anders offenbar ders., FS Klecatsky, S. 129, 138); Preis, S. 218; Richardi, NZA 1992, 769, 774; Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 30. 245

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der

Privatautonomie

Vertragsparität ist weder ein Maßstab für Gerechtigkeit, noch selbst für die Möglichkeit, eigene Interessen im Vertragsprozeß durchzusetzen. 251 (c) Exkurs: Folgerungen für die Inhaltskontrolle Die gedankliche Abschichtung der Vertragsfreiheit von den Begriffen der Vertragsgerechtigkeit und der Vertragsparität hat eine weitere Konsequenz, die mit Rücksicht auf den Gegenstand dieser Abhandlung nur kurz anzudeuten ist: Entgegen eines weit verbreiteten Ansatzes 252 kann die Inhaltskontrolle vorformulierter und einseitig - ohne Aushandlung - in den Vertragsprozeß eingeführter Vertragsbedingungen, die gemeinhin auf eine Fehlfunktion der Vertragsfreiheit zurückgeführt wird, nicht auf den Gedanken gestörter Vertragsparität bzw. fehlender Richtigkeitsgewähr gestützt werden. 253 Rechtstatsächlich wird diese Schlußfolgerung durch die Beobachtung bestätigt, daß das Moment fehlender Aushandlung auch jenseits der Verwendung von AGB viele Geschäfte des täglichen Lebens kennzeichnet und etwa auch im Gesellschaftsrecht vorzufinden ist. 254 Die fehlende Aushandlung, verbunden mit der Hinnahme „nachteiliger" Vertragsbedingungen, läßt in diesen Fällen nicht notwendig auf „Imparität" oder einen „ungerechten" Vertragsinhalt schließen, 255 sondern beruht auf Nachfragerseite häufig allein darauf, daß der Aufwand für das Führen von Verhandlungen, bedingt durch die Beschaffung der dafür erforderlichen Informationen, oftmals außer Verhältnis zu dem für den Nachfrager erreichbaren Vorteil steht. 256 Auch bei der Inhaltskontrolle kann es letztlich nur darum gehen, eine den Vertragskompromiß vereitelnde Unterdrückung der Interessen des einen Vertragsteils durch den anderen zu korrigieren. 257 Der Tendenz nach ist es daher richtig, wenn das Bundesverfassungsgericht 258 in sachlicher Übereinstimmung mit Stimmen in der Literatur 259 eine allgemeine 251 Canaris, FS Lerche, S. 872, 882; vgl. auch Reuter, in: Grundlagen, S. 105, 118; Kotz, FS Mestmäcker, S. 1037, 1040 f. 252 BVerfG NJW 1994, 34,38 f. - Bürgschaft I; BGHZ 101, 351, 354 (= NJW 1988, 135, 135) - Notarieller Individualvertrag mwN; Becker, DZWir 1994, 397, 400; Habersack, AcP 189 (1989), 403,416; Hildebrandt, S. 18 ff., 73 ff.; Hönn, JZ 1983, 677, 679 f.; Lieb, AcP 178 (1978), 196, 204; ders., DNotZ 1989, 274, 284 ff. 253 Fastrich, S. 220; v. Stebut, S. 245 ff.; Zöllner, AcP 176 (1976), 221, 236ff. 254 Dazu Grunewald, Ausschluß, S. 133; Reuter, Die AG 1979, 321, 322 f.; ders., DZWir 1994,45,49. 255 Adams, BB 1989,781,783; Coester-Waltjen AcP 190 (1990), S. 1, 21; vgl. auch Fastrich, S. 222; Oechsler, S. 146; aA Preis/Rolfs DB 1994, 261, 266. 256 Kötz, FS Mestmäcker, S. 1037, 1041; ders., Europäisches Vertragsrecht I, S. 212f.; vgl. auch Behrens, Grundlagen, S. 170 ff.; Schäfer/Ott, S. 420 ff. 257 In diesem Sinne auch Hillgruber, Schutz, S. 154. 258 BVerfGE 89, 214, 232 (= NJW 1994, 36, 38) - Bürgschaft I; BVerfG NJW 1994, 2749, 2750 - Bürgschaft II; vgl. auch BVerfGE 81, 242, 255 - Handelsvertreter; BVerfG NJW 1996, 2021 - Bürgschaft III. 259 Vgl. mit unterschiedlicher Terminologie Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 15 f.;

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vertragliche Inhaltskontrolle zum Schutze des individuellen Selbstbestimmungsrechts nur unter der Voraussetzung für geboten hält, daß der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend ist und einen offensichtlich unangemessenen Interessenausgleich darstellt. Die Inhaltskontrolle darf in einem der Selbstbestimmung verpflichteten Vertragsrechtssystem immer nur die Ausnahme darstellen, nie aber zu einer omnipotenten „Vertragsaufsicht" führen. Allein der vom Bundesverfassungsgericht gewählte gedankliche Ansatz der Vertragskontrolle ist zu kritisieren, da sich das Gericht auf die Figur der strukturell ungleichen Verhandlungsstärke stützt. 260 Dieser Begründungsansatz ist denselben Bedenken ausgesetzt wie der sachlich übereinstimmende Topos der „Vertragsparität", auf den das Bundesverfassungsgericht ebenfalls ausdrücklich rekurriert. 261 Klar umrissene Vorstellungen dafür, wann eine „strukturelle Ungleichgewichtslage" vorliegt, fehlen. 262 Das Bundesverfassungsgericht scheint in den bisher entschiedenen Fällen von einem wirtschaftlichen Machtgefälle auszugehen. 263 Die in der Diskussion befindlichen Fallgruppen (Arbeitsverträge 264 ; Mietverträge 265 ; Kreditbürgschaften von Privatpersonen 266 ) können insoweit nicht mehr als ein Indiz für mögliche Machtgefälle und Fehlfunktionen des Vertragsrechts sein. 267 Das Vorliegen einer dieser Fallgruppen entbindet daher nicht von einer am Selbstbestimmungsprinzip orientierten Einzelfallprüfung. Es mag in diesen Fällen sehr wohl strukturelle Ungleichgewichtslagen mit vertretbaren vertraglichen Ergeb-

Fastrich, S. 224ff.; Frey, WM 1996, 1612, 1614; Habersack, AcP 189 (1989), 403, 410; Hönn, GS Schultz, S.79, 90; Lieb, AcP 178 (1978), 196, 203. 260 Vgl. nur BVerfGE 89, 214, 232 ff. (= NJW 1994, 36, 39) - Bürgschaft I. 261 BVerfGE 89, 214, 233 (= NJW 1994, 36, 38f.) - Bürgschaft I; vgl. dazu die prägnante Kritik von Adomeit, NJW 1994, 2467, 2468; zustimmend Medicus, Schuldrecht AT, § 10 III (Rn. 74); vgl. auch Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 245 f.; Lorenz, S. 8 f.; Oechsler, S. 146 f.; Schapp, JZ 1998, 913, 915; anders in der Bewertung etwa Grün, WM 1994, 713, 721 („einigermaßen griffiges Kriterium für die Beurteilung einer Fremdbestimmung"); Hoffmann, DZWir 1998, 316ff.; Kothe, ZBB 1994, 172, 175 ff.; Wellenhofer-Klein, ZIP 1997, 774, 776, die den Begriff der strukturellen Ungleichgewichtslage für den Bereich des kaufmännischen Verkehrs durch die Fallgruppe der existentiellen Abhängigkeit konkretisieren will. 262 Deutlich Fastrich, RdA 1997, 65, 69 f. 263 So auch Grunsky, S. 14. 264 Vgl. dazu etwa BAG AP Nr. 18 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe (= DB 1994, 1726, 1727); Bengelsdorf, NZA 1997, 874ff.; Dieterich, RdA 1995, 129, 134ff.; Fastrich, S. 159ff.; ders., RdA 1997, 65, 72 ff.; Wiedemann, AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe (Bl. 674); Zwanziger, DB 1994, 982 ff. 265 Fastrich, S. 112ff.; Wellenhofer-Klein, ZIP 1997, 774. 266 Vgl. dazu BVerfGE 89, 214 ff. (= NJW 1994, 36 ff.) - Bürgschaft I; BVerfG NJW 1994, 2749 ff. - Bürgschaft II; NJW 1996, 2021 ff. - Bürgschaft III; Hommelhoff, Verbraucherschutz, S.13ff. 267 Wiedemann, JZ 1994,411,412 f., scheint dagegen allein schon aufgrund der Verfahrenssituation, in der die Verträge „geboren werden", strukturelle Ungleichgewichtslagen annehmen zu wollen und bezieht insoweit auch Verträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern (aaO., S.413) und Gesellschafterbeschlüsse (Unterlegenheit eines einzelnen Gesellschafters bei Mehrheitsbeschlüssen) ein.

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

nissen geben, andererseits sind auch außerhalb der bisher typisierten Fallgruppen Ungleichgewichtslagen mit unvertretbaren Ergebnissen denkbar. Treibt man die Typisierung auf die Spitze, dann besteht bei den weitaus meisten Geschäften des täglichen Lebens ein Machtgefälle zwischen den Anbietern und den nachfragenden Verbrauchern. Wollte man diese Fallgestaltungen jeweils zum Anlaß für eine vertragliche Inhaltskontrolle nehmen, so wäre das Ende der Vertragsfreiheit nahe. Die Inhaltskontrolle bezieht ihre Rechtfertigung jedoch nicht aus fehlender Vertragsparität, 268 sondern aus der fehlenden Möglichkeit einer Partei, ihre Interessen in den Vertrag einzubringen. 269 Dieser Umstand mag rechtstatsächlich im Einzelfall mit einem wirtschaftlichen oder intellektuellen Machtgefälle zwischen den Vertragsparteien einhergehen. Inhaltliche Unausgewogenheit im Sinne einer fehlenden Möglichkeit zur Interessenverwirklichung ist jedoch keine notwendige Folge eines wirtschaftlichen oder intellektuellen Machtgefälles zwischen den Vertragsparteien. Das zeigen gerade die Geschäfte des täglichen Lebens, die trotz häufiger Ungleichgewichtslagen in der Regel dennoch zu materiell angemessenen Ergebnissen führen, 270 weil der „unterlegene" Verbraucher die Wahl unter mehreren „Mächtigen" hat. Untragbare Ergebnisse sind damit zwar nicht ausgeschlossen, aber diese können, worauf Herbert Wiedemann zu Recht hinweist, auch bei „Gleichgewichtslagen" auftreten. 271 (3) Theorie des informationellen Gleichgewichts (a) Leitgedanken Während es nach der Theorie der Vertragsparität entscheidend darauf ankommt, für ein wirtschaftliches bzw. intellektuelles Gleichgewicht zwischen den Vertragsparteien zu sorgen, ist die von Barbara Dauner-Lieb im Rahmen ihrer Untersuchung zum Verbraucherschutz entwickelte Vertragslehre auf den Befund gegründet, daß das Verhältnis zwischen Verbrauchern und der Marktgegenseite durch ein typisches Informationsgefälle gekennzeichnet ist. 272 Dauner-Lieb sieht demgemäß die Vertragsfreiheit durch den Mangel an wirtschaftlichen und rechtli-

268 So allerdings auch die Richtlinie 93/13/EWG des Europäischen Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen v. 5.4.1993, ABl. Nr. L 95/29, Erwägungsgrund 16, wo auf das „Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien" abgestellt wird. 269 Zu diesem Aspekt etwa BGHZ 54, 106, 109; 60, 353, 356 f.; BGH WM 1976,960, 961: „Derjenige, der Verträge nur nach seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen abschließt, ersetzt das dispositive Recht durch eine von ihm geschaffene Regelung und verkürzt damit die Möglichkeit seines Vertragspartners, seine Interessen wahrzunehmen und auf den Inhalt des Vertrages Einfluß zu nehmen. Ihm bleibt nur noch die Abschluß-, nicht aber die Gestaltungsfreiheit."; vgl. auch Brandner, in: Ulmer/Brandner/Hensen, § 9 Rn. 59, 64; v. Stebut, S. 247 ff. 270 Grunsky, S. 12. 271 Wiedemann, JZ 1990,695, 697; vgl. auch Singer, JZ 1995, 1133, 1138; Zöllner, JuS 1988, 329, 335. 272 Dauner-Lieb, S. 67.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

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chen Kenntnissen auf Seiten der Verbraucher gefährdet. Daraus läßt sich die These formen: Vertragsfreiheit setzt ein informationelles Gleichgewicht zwischen den Vertragsparteien voraus. Bei Fehlen dieses Gleichgewichts nimmt Barbara Dauner-Lieb freilich keine Unwirksamkeit der vertraglichen Vereinbarung an, sondern plädiert neben der Inhaltskontrolle von AGB für eine Kompensation durch Aufklärung. 273 (b) Kritik Es fragt sich, ob der Gedanke des informationellen Gleichgewichts über den Verbraucherschutz hinaus einen verallgemeinerungsfähigen Ansatz erhält, der auf eine Funktionsvoraussetzung der Vertragsfreiheit hinweist und damit Anlaß und Grenzen für Eingriffe in die Vertragsfreiheit markiert. Dafür spricht, daß ein „Informationsgefälle" nicht nur zwischen dem „typischen" privaten Endverbraucher und dem ihm gegenüberstehenden gewerblichen Anbieter von Waren oder Dienstleistungen bestehen kann, sondern auch zwischen Gewerbetreibenden, wenn etwa Güter nachgefragt werden, die mit dem Gewerbebetrieb des Nachfragenden nicht in Verbindung stehen. 274 Andererseits mag es auch kundige „Verbraucher" geben, die aufgrund intensiver Befassung mit dem Gegenstand ihrer Nachfrage ein höheres Informationsniveau haben als der Anbieter, so daß sich das Informationsgefälle auch umkehren kann. Diese Überlegungen zeigen, daß es aufgrund der relativen Weite und Unbestimmtheit des Verbraucherbegriffs schon schwerfällt, auf ein in jeder Beziehung typisches Informationsgefälle zwischen Verbrauchern und der Marktgegenseite zu schließen. Unterstellt man dieses einmal, bleibt immer noch die Frage, ob es durch regulierende Eingriffe des Gesetzgebers beseitigt werden kann. Schließlich neigen Verbraucher zuweilen dazu, trotz Verfügbarkeit von Informationen auf deren Erlangung zu verzichten, da ihnen der Aufwand dafür zu groß erscheint. Das gilt insbesondere für Güter des kurz- und mittelfristigen Bedarfs. Darüber hinaus ist die Theorie des informationellen Gleichgewichts einem Einwand ausgesetzt, der bereits gegen die Theorie der Vertragsparität vorgebracht wurde: Ein Informationsgefälle ist ebensowenig verifizierbar wie sonstige Disparitäten. Selbst wenn das aber der Fall wäre, bliebe noch zu untersuchen, ob ein informationelles Ungleichgewicht notwendig zu Vertragsergebnissen führt, die mit dem vertraglichen Selbstbestimmungsprinzip unvereinbar sind. Jedenfalls wäre es mit dem Gedanken der vertraglichen Selbstbestimmung nur schwer in Einklang zu bringen, die Vertragsfreiheit der Anbieterseite von vornherein zugunsten der Nachfrager einzuschränken, um auf

273 Dauner-Lieb, S.63, 65, 69 ff., 104; zu Rechtsfolgen unterlassener Aufklärung Hommelhoff, Verbraucherschutz, S. 30 ff. 274 Dauner-Lieb, S. 106; Wellenhofer-Klein, ZIP 1997, 774, 777; zur Problematik der am eigentlichen Sachproblem vorbeigehenden „Personalisierung" des Verbraucherrechts vgl. auch Oechsler, S. 160 ff.

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

diese Weise ein mögliches Informationsgefälle auszugleichen. 2 7 5 Barbara Dauner-Lieb hat insoweit selbst den bereits angesprochenen sozialen Vertragslehren unter Hinweis auf ihre „systemverändernde Wirkung" eine Absage erteilt 276 und lediglich für eine flankierende Kompensation durch Aufklärung plädiert, die in der Tat dazu beitragen kann, etwaige Informationsdefizite auf der Nachfragerseite abzumildern. Damit wird zwar tendenziell die Möglichkeit der Interessendurchsetzung gefördert; andererseits handelt es sich um keine notwendige Bedingung für die Funktionsfähigkeit des Vertragsprozesses. Ein weiteres kommt hinzu: Die Theorie des informationellen Gleichgewichts setzt ähnlich wie die bereits skizzierten Gerechtigkeitsmodelle primär auf der Ebene der Vertragsgestaltungsfreiheit an. Sie bleibt sprachlos, soweit es um die Funktionsbedingungen der Vertragsbegründungsfreiheit geht. Jedenfalls würde die Vertragsfreiheit sinnentleert, wenn bereits jede Form eines informationellen Ungleichgewichts zum Anlaß für Eingriffe in die Vertragsbegründungsfreiheit genommen würde. (4) Theorie der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit (a)

Leitgedanken

Einen Standpunkt, der von den bisher unter dem Aspekt autonomer Vertragszielbestimmung aufgezeigten Ansätzen abweicht, nimmt Manfred Wolf ein. Wolf sieht die Möglichkeit zu vertraglicher Selbstbestimmung in Abhängigkeit von der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit des Individuums 2 7 7 und verweist zur Begründung auf die Regeln der Geschäftsfähigkeit und die Vorschriften der §§ 123 und 138 BGB. 2 7 8 Die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit ist nach WoZ/Voraussetzung dafür, daß der einzelne von der ihm nach der Rechtsordnung eingeräumten Vertragsfreiheit Gebrauch machen kann und „die Möglichkeit zu einer mit den Grundsätzen der Rechtsordnung übereinstimmenden Entscheidung" erhält. 279 Im Idealfall sollten die Parteien durch ihre rechtsgeschäftliche Entscheidung ihr Verhältnis so zu regeln vermögen, wie es der Gesetzgeber selbst regeln würde. 2 8 0 Erzielten die Vertragsparteien auf diese Weise einen nach objektiven Maßstäben gerechten Interessenausgleich, so entspreche das den die Rechtsordnung prägenden Gedanken der Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. Der Idealfall rechtsgeschäftlicher Entscheidungsbildung sei dadurch gekennzeichnet, daß „die in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Zweck der Regelung stehenden Interessen ausgeglichen und im Konfliktsfall ihrem Wert entspre275

Vgl. auch Bydlinski, System, S. 747 f., der selbst Aufklärungspflichten kritisch gegenüber-

steht. 276 277 278 279 280

Dauner-Lieb, S. 141 ff., 150. M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, M. Wolf, Entscheidungsfreiheit,

S. S. S. S.

101 f. 119 f., 121 f. 119; vgl. auch Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 29. 118.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

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chend gegeneinander abgewogen" werden. 281 Die Gültigkeit des vertraglich Vereinbarten sei freilich auch durch abweichende Vereinbarungen, die objektiv sachfremde Gesichtspunkte berücksichtigen, nicht in Frage gestellt, soweit sie in einer Situation erfolgten, die beiderseitige Entscheidungsfreiheit ermögliche. 282 Anderenfalls sei die abweichende Vereinbarung jedoch nicht tolerierbar. 283 Insoweit ist nach Wolf von Bedeutung, ob der Vertragsinteressent die Möglichkeit des Verzichts auf den Vertragsschluß hat und ob ihm dieser zumutbar ist. 284 Fehle auch nur einer Partei die Möglichkeit, zu einem in freier Entscheidung gefundenen gerechten Interessenausgleich zu gelangen, fällt diese Aufgabe nach Wolf der Rechtsordnung zu. Manfred Wolf sieht die Herbeiführung von Vertragsgerechtigkeit durch „Inhaltskontrolle" oder Anwendung „dispositiven" Rechts dabei nicht als einen mit dem Prinzip der Vertragsfreiheit unvereinbaren Eingriff in die Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien, sondern als systemgerechte Ergänzung einer lückenhaft gebliebenen Abrede. 285 Im Ergebnis beinhaltet die Lehre Manfred Wolfs, die auf Elemente des Paritätsgedankens und der Lehre von der subjektiven Vertragsgerechtigkeit zurückgreift, eine Erweiterung des Katalogs der rechtsgeschäftlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen um das Kriterium der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit. 286 (b) Kritik Die Überlegungen von Manfred Wolf haben zunächst vielfach Zustimmung erfahren, 287 sind allerdings auch auf dezidierte Kritik gestoßen. Den kritischen Stellungnahmen kann ihre inhaltliche Berechtigung im Ergebnis nicht abgesprochen werden. Die Hauptkritik läßt sich dahin zusammenfassen, daß die Lehre Wolfs in einem Wertungswiderspruch zu den §§ 123 Abs. 1 und 138 Abs. 2 BGB steht 288 und entgegen der gesetzlichen Regelung eine faktische bzw. wirtschaftliche Geschäftsfähigkeit zur rechtsgeschäftlichen Wirksamkeitsvoraussetzung erhebt. 289 281 M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 137; Schopp, Grundfragen, S. 59, stellt insoweit in Auseinandersetzung mit den Thesen Manfred Wolfs auf die Äquivalenz der Leistungen im Austauschvertrag ab. 282 M. Wolf Entscheidungsfreiheit, S. 137 f. 283 M. Wolf Entscheidungsfreiheit, S. 140; Schapp, Grundfragen, S.98, nimmt dagegen bei Verfehlung der vertraglichen Äquivalenz nur dann die Unwirksamkeit der vertraglichen Willensübereinstimmung an, wenn der Vertrags wille den Zweck des Vertrages als Austauschverhältnis in ungewöhnlich hohem Maße verfehlt. 284 M. Wolf Entscheidungsfreiheit, S. 126 ff. 285 M. Wolf Entscheidungsfreiheit, S. 293 f. 286 Vgl. M. Wolf Entscheidungsfreiheit, S. 123 ff. 287 Kramer, Krise, S. 58 f. (einschränkend jedoch ders., in: MünchKomm BGB, § 123 BGB, Rn. 45.); Lorenz, Allgemeiner Teil, § 2 V (S. 48 b. Fn. 25); Lüderitz, JZ 1972, 222 f. 288 Fastrich, S. 40. 289 Hönn, Kompensation, S.29; ders., JZ 1983, 677, 678; Singer, S. 19; Rebe, S. 173 (Fn. 512), spricht zurückhaltend von einer Überzeichnung der Bedeutung der Entscheidungsfreiheit; Kramer, MünchKomm BGB, § 123 Rn. 45, hält die Überlegungen Wolfs in vollem Umfang nur de lege ferenda für bedenkenswert.

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

In der Tat ist nicht zu verkennen, daß das Konzept der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit mit dem im BGB verankerten Grundsatz der vertraglichen Selbstbestimmung bricht, diesen jedenfalls im Umfang erheblich beschneidet, da das BGB die geschäftliche Unterlegenheit eines Vertragspartners nur unter erheblich engeren Voraussetzungen berücksichtigt. 290 Diese Beschneidung der Selbstbestimmung folgt aus der „Aufladung" des Selbstbestimmungsbegriffs mit Gerechtigkeitsvorstellungen, 291 mit der die vertragliche Selbstbestimmung letztendlich zur Disposition gestellt und in eine der Fremdbestimmung offene „rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit" umgedeutet wird. 292 Der Sache nach versucht Manfred Wolf den Begriff der Selbstbestimmung durch den Begriff der Gerechtigkeit zu erklären, ohne zu berücksichtigen, daß es sich nicht um inhaltsgleiche Prinzipien handelt. 293 Dazu ist das Nötige bereits gesagt worden. 294 Davon abgesehen bleibt freilich zu konstatieren, daß die Ausgangsüberlegung Manfred Wolfs den richtigen Weg weist: Es geht darum, daß das einzelne Rechtssubjekt kraft der ihm eingeräumten Vertragsfreiheit die Möglichkeit zu einer mit den Grundsätzen der Rechtsordnung übereinstimmenden Entscheidung erhält. Die „Möglichkeit der Selbstbestimmung" ist ein Begründungsansatz, der dem Vertrag in Übereinstimmung mit den eingangs getroffenen Überlegungen zur Vertragsbegründungs- und -gestaltungsfreiheit eine funktionsgerechte ganzheitliche „Inhaltsbestimmung" zuzuweisen vermag. Darauf ist zurück zu kommen. Zuvor ist noch ein Blick auf die Theorie der Selbstherrlichkeit zu werfen. (5) Theorie der Selbstherrlichkeit (a) Leitgedanken Insbesondere Werner Flume hat in seiner monographischen Darstellung des Rechtsgeschäfts betont, daß „Privatautonomie die Anerkennung der ,Selbstherrlichkeit' des einzelnen in der Gestaltung von Rechtsverhältnissen bedeutet". 295 Flume hat sich insoweit kritisch mit der von Walter Schmidt-Rimpler formulierten Lehre von der materiellen Richtigkeitsgewähr des Vertrages auseinanderge-

290 So auch Pflug, S. 182; Singer, S. 19; vgl. auch Gernhuber, JZ 1995, 1086, 1091 ff., in Auseinandersetzung mit der neueren „Bürgen"-Rechtsprechung des BGH, die er unter dem Aspekt der „Entscheidungsfreiheit als konstitutivem Element der Privatautonomie" deutet. 291 So treffend Pflug, S. 169. 292 Pflug, S. 186. 293 Daher kann es auch nicht überzeugen, wenn Larenz, Allgemeiner Teil, § 2 V (S.48 b. Fn. 25) meint, Wolf sehe das Verhältnis von Privatautonomie und „ausgleichender Vertragsgerechtigkeit" in vorbildlicher Weise. Larenz selbst weist an anderer Stelle (Geschäftsgrundlage, S. 162; Lehrbuch des Schuldrechts, S. 77 f.) ausdrücklich darauf hin, daß es sich bei den Prinzipien der Selbstbestimmung und der Gerechtigkeit um zwei unterschiedliche Grundelemente der Rechtsordnung handelt. 294 Vgl. oben aa) (1) (b). 295 Flume, Allgemeiner Teil II, § 1, 5 (S. 7).

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

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setzt 296 und gemeint, „(n)ur in Hinsicht auf die Art des Zustandekommens des Vertrages, daß nämlich die vertragliche Regelung in der Selbstbestimmung der Vertragspartner geschieht, kann man von der Regelung des Vertrages sagen, daß sie .richtig' ist". 297 Demzufolge habe die Rechtsordnung das vertraglich Vereinbarte, auch wenn es zum Nachteil eines Beteiligten gereicht, deshalb gelten zu lassen, „weil die Vertragschließenden, ein jeder in Selbstbestimmung", es so vereinbart haben. 298 Bei dieser Sicht der Dinge müssen Eingriffe in die vertragliche Abschluß- und Gestaltungsfreiheit von vornherein systemfremd erscheinen, da Selbstbestimmung als „Selbstherrlichkeit" jedweder Bindung entbehrt. Hier schließt sich der Kreis, wenn man einen Blick zurück auf das Funktionsmodell der formalen Vertragsfreiheit wirft. Es ist daher nur konsequent, wenn Flume ausführt: „Soweit Kontrahierungszwang besteht, wird in Wahrheit nicht „kontrahiert", sondern der Vertrag ist nur noch ein technisches Mittel des Gesetzesvollzugs." 299 Freilich lehnt Flume damit das Institut des Kontrahierungszwangs nicht ab; es ist eben nur ein Institut, das mit dem Axiom der Selbstherrlichkeit und damit mit dem Gedanken der Privatautonomie unvereinbar ist. (b) Kritik Die bei Flume skizzierte Position der „Selbstbestimmung in Selbstherrlichkeit", die das paläo-liberalistische Weltbild der Väter des BGB referiert, ist im Schrifttum nachhaltig kritisiert worden. Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, daß Vertragsfreiheit keine willkürliche oder selbstherrliche Freiheit, sondern eine ethisch fundierte Freiheit meine. 300 Bemängelt wird die fehlende Berücksichtigung der „sozialen" Gerechtigkeit in einer allein auf dem „stat pro ratione voluntas" beruhenden Vertragsdogmatik. 301 Die Kritik an der Gleichsetzung des Selbstbestimmungsbegriffs mit der Vorstellung selbstherrlichen Handelns wird insoweit vornehmlich von denjenigen Stimmen getragen, die es als Aufgabe der Selbstbestimmung ansehen, eine gegen jedermann gerechte Ordnung herzustellen. Damit allerdings kann die insbesondere von Flume akzentuierte „Theorie der Selbstherrlichkeit" nicht erschüttert werden, da das Prinzip Gerechtigkeit zur Erklärung des Selbstbestimmungsprinzips nichts beiträgt. Das wurde bereits ausgeführt. 302 296

Allgemeiner Teil II, § 1, 6 a (S. 7 f.). Allgemeiner Teil II, § 1, 6 a (S. 8). 298 Allgemeiner Teil II, § 1, 6 a (S. 7). 299 Allgemeiner Teil II, § 1, 7 (S. 10); vgl. auch § 33, 6 d (S. 611). 300 V g l e t w a Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3,22; Wiedemann, FS Rob. Fischer, S. 883, 897; im älteren Schrifttum bereits Gierke, Aufgabe, S. 23. 301 Vgl. nur Reuter, Die AG 1979, 321, 324, der sich jedoch nur in zweiter Linie für Ergebniskontrollen ausspricht und die Aufgabe eines sozialstaatlich verankerten Rechts in der Herstellung bzw. Sicherung von Bedingungen für tendenziell gerechte autonome Regelungen sieht (aaO., S. 324 f.). 302 Vgl. oben a a ) ( l ) ( b ) . 297

Fiume, Flume, Flume, Flume,

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§ 3 Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie

Die Kritik muß vielmehr an der monistischen Perspektive des „Selbstherrlichkeits"-Axioms ansetzen. Eine Gleichsetzung von Selbstbestimmung und Selbstherrlichkeit kommt nämlich im Anwendungsbereich des Vertragsrechts schon deshalb nicht in Betracht, weil der Vertrag als mehrseitiges Selbstbestimmungsinstrumentarium auf einen Konsens der Vertragsparteien angelegt ist. Der als „gegenseitiges Abschleifen" unterschiedlicher Interessen beschriebene Prozeß des Vertragsschlusses läßt es idealiter eben gerade nicht zu, daß auch nur ein einzelnes am Vertragsschluß beteiligtes Rechtssubjekt seine Interessen „selbstherrlich" verfolgt: Das Selbstbestimmungsprinzip wird im Vertragsrecht zwar abgebildet, aber nicht in vollkommener Weise, sondern modifiziert in Hinsicht auf die Funktionsweise des Vertrages, die es jedem und nicht nur einem einzelnen Rechtssubjekt ermöglichen soll, von dem Vertrag als Rechtsgestaltungsinstrumentarium Gebrauch zu machen. cc. Ergebnis und eigener Standpunkt: Theorie der vertragsrechtsgebundenen Selbstbestimmung Die vorstehenden Überlegungen, die im Ergebnis keines der vorgestellten Funktionsmodelle als vollauf systemgerecht erachtet haben, könnten vorschnell zu der Schlußfolgerung verleiten, daß es aussichtslos ist, dem allgemeinen Vertragsrecht eine in jeder Hinsicht tragfähige Funktionsbestimmung zuzuweisen. Damit wäre mangels anderer Alternative, jedoch wider besserer Erkenntnis der Rückzug auf das eingangs skizzierte „formale Vertragsprinzip" vorgezeichnet. Aus dieser bei den Vätern des BGB vorherrschenden Sicht wäre dann hinzunehmen, daß sich das in der Vertragsfreiheit angelegte Selbstbestimmungsprinzip - entgegen der seinerzeitigen Annahme - auf der Grundlage des „formalen Vertragsprinzips" nur höchst unvollkommen verwirklicht. Individuellen Selbstbestimmungsdefiziten, die aus der Anwendung des formalen Vertragsprinzips erwachsen, könnte nur mit ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen abgeholfen werden. Diese Sicht individueller Selbstbestimmung widerspräche grundsätzlich den bereits herausgearbeiteten Grundlagen vertraglicher Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmungsfunktion des Vertrages weist vielmehr auf die Werthaltigkeit des gesetzlichen Ordnungsrahmens hin, der es den einzelnen Vertragsbeteiligten gerade ermöglichen soll, ihre Interessen mit Hilfe des Vertrages zu verwirklichen. 303 Dann aber ist es verfehlt, in diesem Zusammenhang eine rein individualistische Betrachtungsweise zu wählen, die das einzelne Rechtssubjekt in jeder Beziehung seinem Schicksal überläßt. Die individualistische Betrachtungsweise ist zwar im Selbstbestimmungsprinzip idealiter angelegt; an anderer Stelle wurde allerdings bereits darauf hingewiesen, daß der auf eine Interessenzusammenführung angelegte Vertrag dem Ideal des Selbstbestimmungsprinzips nicht entspricht, es auch nicht kann, 303 Ebenso Hönn, Kompensation, S. 298; Zöllner, AcP 176 (1976), 211, 235; vgl. auch Kötz, FS Mestmäcker, S. 1037, 1039.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

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weil die Tatsache der Interessenzusammenführung die vollständige Selbstbestimmung jedes Vertragspartners ausschließt. Das einzelne Rechtssubjekt vermag von der ihm zustehenden Rechtsgestaltungsmacht keinen Gebrauch zu machen, wenn sich nicht ein anderes Rechtssubjekt findet, das sich zur Durchsetzung eigener Interessen ebenfalls des Vertragsinstrumentariums bedienen will. Den durch die Vertragsfreiheit anerkannten privatautonomen Rechtsgestaltungsfreiraum kann mit anderen Worten nur in Anspruch nehmen, wer respektiert, daß auch der Kontrahent Vertragsinteressen verfolgt. 304 Die Vertragsfreiheit, so wie sie durch das BGB konstituiert wird, hat also neben den bereits skizzierten Außenschranken auch immanente Schranken, die zwingend mit dem Rechtsinstitut des Vertrages verbunden sind. Das wird im Abschnitt über die Rechtsgeschäfte insbesondere anhand der §§ 145 und 157 deutlich: Nach § 145 BGB ist der Offerent, solange die Bindungswirkung gem. §§ 147, 148 BGB reicht, an seinen Vertrags an trag gebunden und kann ihn nicht wirksam widerrufen. 305 Diese Regelung ist Ausdruck der immanenten Bindung der Vertragsfreiheit, da sie darauf Rücksicht nimmt, daß der Empfänger der Vertragserklärung seine Interessenverfolgung an der einmal abgegebenen Offerte ausrichten kann. In den Motiven 306 heißt es dazu wörtlich: „Der Antragsempfänger bedarf eines sicheren Ausgangspunktes für die zu fassende Entschließung; er muß unter Umständen sofort die für den Fall des Zustandekommens des Vertrages erforderlichen Maßnahmen treffen; er wird andere Vertragsanträge in bezug auf den in Frage stehenden Gegenstand ablehnen und unterlassen, seinerseits Vertragsanträge hinsichtlich desselben zu stellen. Sollte ein Widerruf des an den Empfänger gelangten Antrages vor dem Wirksamwerden der Annahmeerklärung noch zulässig sein, so würde der Antragsempfänger nach Befinden schwer geschädigt werden." Die Rücksichtnahme auf den Erklärungsgegner und die immanente Bindung individueller vertraglicher Selbstbestimmung durch die Gegenseitigkeit des Vertragsprozesses wird darüber hinaus auch in der bereits eingangs thematisierten Regelung des § 157 BGB sichtbar. Diese zeigt, daß das allgemeine Vertragsrecht des BGB nicht das Instrumentarium zur vollkommenen rechtlichen Selbstbestimmung bereit hält. Die Reichweite der Selbstbestimmung hängt vielmehr davon ab, wie die Vertragserklärung als Ausdruck selbstbestimmter Interessenverfolgung vom Standpunkt eines „reasonable man" aus verstanden werden durfte. Vertragsfreiheit folgt also dem Selbstbestimmungsprinzip, verwirklicht dieses aber nicht vollständig. Es handelt sich ihrer mehrdimensionalen Struktur nach um 304 Vgl. auch Kliege, S. 90ff., der dies im Gegensatz zum „Sozialprinzip" als „Toleranzprinzip" bezeichnet: „Freiheit gegen Freiheit zu schützen ist Aufgabe des Tolerenzprinzips. Aufgabe des Sozialprinzips hingegen ist die Durchsetzung von Wohlfahrtsinteressen gegen die - schon gemilderten - Freiheitsrechte." (aaO„ S. 92). 305 Zur Dogmengeschichte vgl. Wahl, FS Hefermehl, S. 1, 4 ff. 306 Motive I, S. 165.

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eine gebundene Freiheit, 307 da sie nur mit Rücksicht auf die korrespondierende Freiheit des jeweiligen Vertragsgegners besteht. Jeder Partei soll eine angemessene Wahrnehmung ihrer Interessen möglich sein. 308 Manfred Wolf spricht treffend von der Vertragsfreiheit als einem „Institut zur Sicherung und Ermöglichung beiderseitiger Selbstbestimmung". 309 Eine Umschreibung der aus dem Rechtsinstitut des Vertrages folgenden Bindungen für die Selbstbestimmung des einzelnen am Vertrag beteiligten Rechtssubjekts kann damit wie folgt geschehen: In negativer Hinsicht schließt der Vertragsschluß eine „Selbstbestimmung in Selbstherrlichkeit", also eine vollständige Durchsetzung eigener Interessen ohne Berücksichtigung der Interessen der Vertragsgegenseite aus, da es unter diesen Umständen an einer Interessenzusammenführung fehlt. Es findet nur einseitige Selbstbestimmung statt, obwohl es sich bei dem Institut des Vertrages um ein mehrseitiges Selbstbestimmungsinstrumentarium handelt. Der eine Vertragsteil muß sich entgegen der Funktionsbestimmung des Vertrages dem Diktat der Gegenseite beugen. Auf der anderen Seite vermittelt das Institut des Vertrages in positiver Hinsicht die Möglichkeit zur rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung. Möglichkeit zur Selbstbestimmung bedeutet Möglichkeit zur Interessenverwirklichung innerhalb der durch die Außenschranken gezogenen Grenzen. Insoweit ist zu hinterfragen, welchen Umfang die durch das Vertragsrecht vermittelte Funktionsgewährleistung der Selbstbestimmung hat. Dabei ist eines zu bedenken: Der mehrdimensionale Charakter der vertraglichen Selbstbestimmung schließt es aus, die Möglichkeit zur Interessenverwirklichung mit einer Interessenverwirklichungsgarantie gleichzusetzen, weil damit den Vertragsbeteiligten die Vertragsbedingungen der jeweiligen Gegenseite diktiert werden. Das ist Fremdbestimmung, aber nicht Selbstbestimmung, die im Vertragsrecht ohne den Kompromiß des Vertragsschlusses und die damit einhergehende Möglichkeit zur Aushandlung der Vertragsbedingungen nicht denkbar ist. 310 In positiver Hinsicht vermag das Rechtsinstitut des Vertrages daher nicht mehr zu vermitteln als die Möglichkeit des Zugangs zum Vertrag als Selbstbestimmungsinstrumentarium, die jedem Rechtssubjekt zwecks eigener Interessenverfolgung offen stehen muß. Inwieweit es dem einzelnen Rechtssubjekt gelingt, seine Interessen tatsächlich zu verwirklichen, bleibt der autonomen Aushandlung mit dem Vertragspartner überlassen. Die Möglichkeit der individuellen Interessenverfol-

307

In diesem Sinne auch Hönn, Kompensation, S. 89, der von einem Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und Vertragsfreiheit spricht; ders., Jura 1984, 57, 61 f.; Kliege, S. 90 ff.; Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3, 19; vgl. auch Hart, AK-BGB, Vor § 145, Rn. 5, der die „Aufgabe der Ausbalancierung von Autonomiespielräumen" sieht; aus rechtsphilosophischer Sicht Dießelhorst, FS Michaelis, S. 63, 68 f., 74f. 308 M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 57, 59. 309 M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S.60 (Hervorh. v. Verf.); vgl. zur Vertragsanbahnung als wechselseitig institutionellem Prozeß auch M. Weber, AcP 190 (1990), 390,415,422 ff. 310 Vgl. auch Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 68; Flume, FS DJTI, S. 135, 168.

III. Objektivation des Selbstbestimmungsprinzips

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gung mit Hilfe des Vertrages stellt freilich eine materielle Klammer dar, die dem Vertragsrecht insgesamt - ohne Verengung auf den Aspekt der Vertragsbegründungsfreiheit oder der Vertragsgestaltungsfreiheit - eine einheitliche Funktionsbestimmung zuweist. Das Modell der vertragsrechtsgebundenen Selbstbestimmung unterscheidet sich insoweit von anderen Funktionsmodellen. Es ist also zusammenzufassen: Vertragsfreiheit als mehrseitiges Selbstbestimmungsinstrumentarium hat dort ihre immanenten Grenzen, wo einzelnen Rechtssubjekten die Möglichkeit des Zugangs zum Vertrag abgeschnitten wird oder wo die Interessen eines einzelnen Vertragsbeteiligten beim Vertragsschluß vollständig unberücksichtigt bleiben. Die letzte Alternative betrifft die vertragliche Gestaltungsfreiheit, die erste Alternative die Vertragsbegründungsfreiheit, damit aber zugleich auch die Gestaltungsfreiheit. Im Zweiten Teil der Untersuchung wird im Hinblick auf die Störung der Vertragsbegründungsfreiheit zu entwickeln sein, unter welchen Voraussetzungen sich für ein vertragsverweigerndes Rechtssubjekt aufgrund der Abschneidung eines Vertragsinteressenten vom Vertrag als Selbstbestimmungsinstrumentarium die Verpflichtung zum Vertragsschluß, also ein Kontrahierungszwang, ergibt. Mit der Ableitung einer derartigen Verpflichtung aus den immanenten Schranken des Vertragsrechts werden Überlegungen aufgegriffen, die in den Untersuchungen Ludwig Raisers zur Rolle des Rechtsinstituts und seinem Schutz als Ordnungsprinzip des Privatrechts angelegt sind 311 und gemeinhin unter dem Begriff „institutionelle Betrachtungsweise" oder „institutionelles Rechtsdenken" zusammengefaßt werden. 312 Ludwig Kaiser hat darauf aufmerksam gemacht, daß ein als Bündel subjektiver Rechte strukturiertes Privatrecht nur das Nebeneinander von Individuen durch Abgrenzung ihrer Machtsphären zu sichern vermag, während es Aufgabe der Rechtsinstitute sei, „den rechten Gebrauch der Macht zu organisieren, um aus dem bloßen Nebeneinander der Individuen ein fruchtbares Miteinander von Rechtsgenossen zu machen." 313 Die Rechtsordnung, so Raiser, gäbe sich selbst auf, wenn sie die einzelnen Subjekte ermächtigte, sich über das Recht hinwegzusetzen und die Privatautonomie zu schutzunwürdigen Zwecken zu mißbrauchen. 314 Dem wehre die institutionelle Betrachtungsweise, die mit der Ein311

Vgl. Raiser, Problem, S.282; ders., in: summum ius, summa injuria, S. 145, 161 ff. (m. Fn. 44). 312 Dem Ansatz Raisers grundsätzlich zustimmend etwa Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 67f.; Biedenkopf, FS Böhm, S. 113, 132f.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 321 ff.; ders., Schuldrecht I, § 6 II (S.34); ders., ZHR 135 (1971), 320, 329, 336ff.; Kramer, Krise, S.48ff.; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 442 ff.; Paschke, S. 56 ff.; Reuter, FS Mestmäcker, S. 271 ff.; Säcker, Gruppenautonomie, S. 217 ff. (m. umfangreichen Nachweisen zum Denken in Institutionen; vgl. S.218, Fn.42); Teichmann, Gestaltungsfreiheit, S. 17 ff.; vgl. auch Kötz, FS Mestmäcker, S. 1037, 1039, 1046; ablehnend etwa Fastrich, S.48ff.; Fikentscher, Methoden, Bd.I, S. 529ff., 536f.; Singer, S. 24; kritisch Rüthers, Rechtsdenken, S. 32ff.; 313 314

Raiser, in: Summum ius, summa iniuria, S. 145, 161 f. Raiser, in: Summum ius, summa iniuria, S. 145, 163 (Fn. 44).

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sieht ernst mache, daß das Handeln im Recht immer nur auf Rechtsinstitute bezogen und in sie eingebunden ist. 315 Demnach können sich für das einzelne Rechtssubjekt aus dem Inhalt des von ihm für Zwecke der Rechtsgestaltung in Anspruch genommenen Rechtsinstituts Schranken der individuellen Betätigungsfreiheit ergeben. 316 Das Rechtsinstitut des Vertrages vermittelt aufgrund seines mehrdimensionalen Charakters individuelle Vertragsfreiheit nur insoweit, als für alle Vertragsbeteiligten die Möglichkeit zu vertraglicher Selbstbestimmung besteht. Insoweit führt ein institutionelles Verständnis des Vertragsrechts einerseits zu einer Relativierung der individuellen Vertragsfreiheit; sie streicht daneben aber auch die Legitimationsbasis des Vertragsrechts deutlich heraus. 317 Die immanenten Schranken der Vertragsfreiheit kompensieren zwar nicht etwaige wirtschaftliche und intellektuelle Ungleichgewichte zwischen den Vertragsparteien, sie garantieren jedoch einen Mindeststandard vertraglicher Selbstbestimmung. Damit ist allerdings die Funktion des Rechtsinstituts „Vertrag" auch erschöpfend beschrieben: Seine Fundierung im Selbstbestimmungsprinzip schließt es aus, mit der Anerkennung der Vertragsfreiheit mehr als nur die substantielle Möglichkeit zu vertraglicher Selbstbestimmung zu verbinden. Die Betonung liegt freilich darauf, daß die Möglichkeit zur Selbstbestimmung substantiell sein muß im Sinne einer individuellen Interessenverfolgung mit Hilfe des von der Rechtsordnung bereitgestellten Vertragsrechts. Eine Vertragsverweigerung steht dieser Möglichkeit entgegen. Ob das allein allerdings ausreicht, um dem Vertragsverweigerer aus dem Rechtsinstitut des Vertrages heraus deswegen individuelle Betätigungsgebote - sprich: einen Kontrahierungszwang - aufzuerlegen, erscheint auf den ersten Blick zweifelhaft und wird im einzelnen auszuloten sein. Gegen ein institutionelles Vertragsverständnis, wie es hier zugrunde gelegt wird, sind eine Reihe von Einwänden zu erwarten. Der schwerwiegendste Einwand scheint derjenige, daß eine institutionelle Betrachtung den individuellen Interessenschutz vernachlässigt und zu einer sozialen Zweckbindung des Vertragsrechts führt. 318 In der Tat hat Ludwig Raiser angenommen, die Funktion des Vertrages als Institut der Gesamtrechtsordnung bestehe in der Herstellung einer gerechten Sozialordnung. 319 Diese weniger aus einer Normanalyse, sondern aus einer Gesamtschau und rechtssoziologischen Bewertung des Rechts gewonnene Funktionsbeschreibung weist auf den möglichen weiteren Einwand hin, daß ein institutionelles Vertragsverständnis leicht zu einer ungeprüften Übernahme 315

Raiser, in: Summum ius, summa iniuria, S. 145, 163. Raiser, in: Summum ius, summa iniuria, S. 145, 167; vgl. auch Kötz, FS Mestmäcker, S. 1037, 1039. 317 Vgl. auch Mestmäcker, RabelsZ 60 (1996), 68, 67. 318 Vgl. Flume, FS DJTI, S. 135, 168; Singer, S. 24. 319 Raiser, Problem, S. 282 f.; ähnlich ders., in: summum ius, summa iniuria, S. 145, 167: Institutionenmißbrauch als Grenze, die „dem Recht als einer sinn- und zweckhaften Gemeinschaftsordnung immanent ist." 316

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rechtstranszendenter Vorstellungen in die positive Rechtsordnung führen kann. 320 Namentlich Bernd Rüthers hat in Auseinandersetzung mit der Inanspruchnahme des Institutsbegriffs durch die nationalsozialistische Rechtslehre gemeint, das institutionelle Rechtsdenken werde der Realität des Rechts nicht gerecht, weil es die „tatsächlich lückenhafte und widerspruchsvolle Gesetzesordnung (...) im Rückgriff auf einen tieferen weltanschaulich begründeten Zusammenhang in eine idealistisch verklärte Einheit der Rechtsordnung" umdenke 321 und „im Sinne einer Leerformel mit auswechselbarem Inhalt" wirke. 322 Rüthers kritisiert in diesem Punkt zu Recht ein faktisches oder metaphysisches Verständnis der Institution, das sich vollständig von den normativen Grundlagen ablöst, diese geradezu überspielt. Dahinter ist die Befürchtung erkennbar, das Privatrecht könne durch politisch-programmatische Vorgaben pervertiert werden. Vor Augen stehen nicht nur die Verhältnisse während des sog. Dritten Reiches, sondern auch diejenigen in der DDR, wo zum Teil dasselbe Privatrecht unter verschiedenen politischen Vorzeichen ideologisch umgeformt wurde. Die bezeichneten Einwände wären beachtlich, wenn die institutionelle Betrachtungsweise notwendig zu einer funktionalen Rechtsanwendung führen würde, die losgelöst von tradierten Interpretationsmethoden das Recht nur nach außerrechtlichen Wertvorstellungen deutet. In diesem Fall wäre die Indienstnahme des Rechts für heteronome Ziele und damit das Ende der Privatautonomie nicht mehr fern. Dieses Szenario stimmt allerdings mit dem hiesigen Verständnis einer institutionellen Betrachtungsweise nicht überein. Die Erfassung des Vertrages als Rechtsinstitut muß auf normativer Grundlage erfolgen, da es darum geht, die Institution und ihre Funktion anhand des konkreten Normbestandes zu bestimmen. 323 Nur die Funktion kann mit dem geltenden Recht korrespondieren, die aufgrund einer Analyse der relevanten Normen gewonnen wurde. 324 Soweit aber die konkrete Normanbindung sichergestellt ist, kommen die genannten Einwände gegen ein institutionelles Vertragsverständnis nicht mehr zum Tragen. 325 Für den normativ-institutionellen Ansatz spricht darüber hinaus die ganzheitliche Betrachtung: Sie ermöglicht die Herausarbeitung der die gesamte Rechtsordnung durchziehenden leitenden Wertentscheidungen und Grundkonzeptionen, die Hinweise für eine umfassende und nicht nur punktuelle Funktionsbestimmung einzelner Normen und Normgruppen enthalten. 326 Es kommt also darauf an, wie die „institutionelle Betrachtungsweise" methodisch eingesetzt wird. 327 Dabei muß 320

Fastrich, S. 50; Wiethölter, FS Raiser, S. 645, 659 ff. Rüthers, Auslegung, S. 292. 322 Rüthers, Rechtsdenken, S. 63. 323 In diesem Sinne bereits Ph. Heck, AcP 112 (1914), 1, 54 f. 324 Esser, Grundsatz und Norm, S. 157; Horm, Kompensation, S. 22. 325 So im Ergebnis auch Rüthers, Rechtsdenken, S. 32 ff., der dem faktischen bzw. metaphysischen Institutionenbegriff den normativen Institutionenbegriff gegenüberstellt. 326 Hönn, Kompensation, S. 22. 327 So auch Reuter, FS Mestmäcker, S. 271,291. 321

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immer im Auge behalten werden, daß eine auf dem Prinzipienmodell der Rechtsordnung aufbauende institutionelle Betrachtung keine verbindliche Einzelfallentscheidung beinhaltet, sondern lediglich Argumente für die Einzelfallentscheidung liefert. 328

IV.

Zusammenfassung

1. Das Leitbild der Schöpfer des BGB ist die freie Privatrechtsgesellschaft, repräsentiert durch besitzende Bürger, kleine Unternehmer und Landwirte, die ihre Angelegenheiten in eigenverantwortlicher und gerechter Weise zu regeln verstehen. Das darauf aufbauende rechtstheoretische Modell des BGB ist heute an dem rechtstatsächlichen Befund zu messen, der ungeachtet der im BGB angelegten Möglichkeit zur privatautonomen Interessenverwirklichung wirtschaftliche und intellektuelle „Ungleichgewichte" zwischen den Privatrechtssubjekten offenbart, die der Tendenz nach einer Aushöhlung oder Aufhebung der universalen Vertragsfreiheit in Beziehung auf einzelne Rechtssubjekte Vorschub leisten. Eingriffe der staatlichen Gewalt in die privatrechtliche Regelungsautonomie können demnach um so weniger als Negierung des Selbstbestimmungsprinzips begriffen werden, um so mehr damit augenfällige Defekte bei der Umsetzung der Individualinteressen regulierend beseitigt werden sollen. Die zentrale Frage ist, welchen sachlichen Bindungen die staatliche Gewalt unterliegt, um vertragliche Interaktionsbeziehungen im Sinne einer Funktionsgewährleistung gestalten zu können. 2. Die Bestimmung des Inhalts der Vertragsfreiheit, wie sie für das Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs von Bedeutung ist, hat nur vermittelt über das grundrechtliche Prinzipienmodell, das im einfachen Recht fortwirkt, Berührungspunkte mit dem Verfassungsrecht. Der Erkenntnisvorgang ist ein gegenläufiger: Primär geht es um eine Bestimmung des Inhalts der Vertragsfreiheit aus der Wertordnung des Vertragsrechts heraus. Dadurch werden die Rechtsprinzipien aus ihren einfachgesetzlichen Normierungen aufgehellt, während diese wiederum als Abbild der Prinzipien erscheinen. 3. Die Vertragsfreiheit kann ohne die Rechtsidee der Selbstbestimmung nicht gedacht werden. Sie dient deren Verwirklichung in der Sphäre des Rechts. In der Ausformung der Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie liegt zugleich die Anerkennung des Selbstbestimmungsprinzips und der autonomen Interessenverfolgung. Vertragsfreiheit konstituiert sich aus den Ausübungsformen der Vertragsbegründungsfreiheit, der Vertragsabänderungs- und Beendigungsfreiheit sowie der Inhalts- und Gestaltungsfreiheit. Die Selbstbestimmungsfunktion des Vertrages weist auf die Werthaltigkeit des im BGB verwirklichten Ordnungsrahmens hin, der es den einzelnen Vertragsbeteiligten ermöglichen soll, ihre Interes328

Vgl. auch Kramer, Krise, S. 56.

IV.

Zusammenfassung

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sen rechtsgeschäftlich zu verfolgen. Das Rechtsinstitut des Vertrages vermittelt aufgrund seines mehrdimensionalen Charakters individuelle Vertragsfreiheit jedoch nur insoweit, als für alle Vertragsbeteiligten die substantielle Möglichkeit zu vertraglicher Selbstbestimmung besteht. Diese immanente Schranke der Vertragsfreiheit kompensiert zwar nicht notwendig etwaige wirtschaftliche und intellektuelle Ungleichgewichte zwischen den Vertragsparteien. Sie garantiert jedoch einen Mindeststandard vertraglicher Selbstbestimmung, der dem Rechtsinstitut des Vertrages immanent ist.

§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit durch Kontrahierungszwang Bevor mit der Untersuchung einzelner Erscheinungsformen des Kontrahierungszwangs und ihrer Einwirkung auf die Vertragsbegründungsfreiheit begonnen werden kann, bedarf es der weiteren Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes.

I. Kontrahierungszwang als Untersuchungsgegenstand in Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten 1. Begriff und Funktion des Kontrahierungszwangs Zur Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes ist das Rechtsinstitut „Kontrahierungszwang" zunächst von anderen Formen der „Bindung" der Vertragsbegründungsfreiheit abzugrenzen. Anknüpfungspunkt für die Abgrenzung sollen die gebräuchlichen Definitionen des Kontrahierungszwangs sein, aus deren Gesamtschau ein tragfähiges Kriterium zu entwickeln ist, das solche Bindungen der Vertragsbegründungsfreiheit ausgrenzt, denen das für den Kontrahierungszwang typische Merkmal der Bindung fehlt. Die am weitesten verbreitete Definition des Kontrahierungszwangs stammt von Hans Carl Nipperdey:1 „Kontrahierungszwang ist die auf Grund einer Norm der Rechtsordnung einem Rechtssubjekt ohne seine Willensbindung im Interesse eines Begünstigten auferlegte Verpflichtung, mit diesem einen Vertrag bestimmten oder von unparteiischer Seite zu bestimmenden Inhalts abzuschließen." 2 Mit 1 Kontrahierungszwang, S.7; vgl. auch Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil 1/2, § 162, F n . 4 0 ( S . 1000). 2 Diese Definition haben übernommen LG Stuttgart WM 1996, 1770, 1773 - Scientology; Biedermann, S. 34; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 3 f.; Bülck, S. 23; Callmann, S. 199; Contzen, S. 9; Dessau, S. 9; Medicus, Schuldrecht AT, § 11 I (Rn. 79); Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 15; Vykydal, S.28; Wehberg, S.43; Traugott, WuW 1997, 486, 487; ähnlich auch Bothe, S. 15; Grünhage, S. 14; Hergt, S. 24; E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, S. 486 f.; Mengelbier, S. 4ff.; Schweer, S. 9. - Für Österreich vgl. auch OGH ÖJZ EvBl. 1972/157 (S. 297).

I. Kontrahierungszwang

als

Untersuchungsgegenstand

111

diesem Definitionsansatz sind zunächst Mittel (Gesetzeszwang) und Zweck des Kontrahierungszwangs (Vertragsschluß im Interesse des Begünstigten) formuliert. Wolfgang Kilian3 hat der von Nipperdey formulierten Mittel-Zweck-Beziehung unter Hinweis auf Überlegungen Ludwig Raisers4 eine funktionale Deutung des Kontrahierungszwangs hinzugefügt: „Kontrahierungszwang ist aufzufassen als ein Korrektiv für das marktbedingte Fehlen einer zumutbaren Handlungsalternative für den Begünstigten beim Vertragsschluß über wichtige Güter und Leistungen." Zwischen den Definitionsansätzen von Nipperdey und Kilian vermittelt eine von Werner Mertens5 verwendete Beschreibung des Rechtsinstituts Kontrahierungszwang: „Kontrahierungszwang ist der zur Abwendung der Gefährdung lebenswichtiger Interessen der Einzelnen oder der Gesamtheit von der Rechtsordnung als sozialem Institut einem Rechtssubjekt auferlegte willensfremde Zwang zum Abschluß eines den Interessen der Gesamtheit entsprechenden Vertrages, dessen Inhalt feststehend ist." Trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze weisen die Begriffsdefinitionen den Kontrahierungszwang als ein Instrument der korrigierenden Einwirkung auf privatautonom handelnde Rechtssubjekte aus. Hans Carl Nipperdey und Werner Mertens verdeutlichen das durch den Hinweis auf die Fremdbestimmung des Willens, Wolfgang Kilian durch den Gebrauch des Begriffs „Korrektiv". Diese Beschreibung des Kontrahierungszwangs stimmt überein mit der Vorstellung vom Kontrahierungszwang als einem die Vertragsbegründungsfreiheit begrenzenden Rechtsinstitut des Privatrechts. Die korrigierende Einwirkung vermittels rechtlichen Zwangs auf den Willen der verpflichteten Vertragspartei vollzieht sich als obligatio ex lege, also eine vom Willen unabhängige Verpflichtung zur Vertragsbegründung mit einem bestimmten - vom Kontrahierungszwang begünstigten - Rechtssubjekt. In den spezialgesetzlich geregelten Fällen des besonderen Kontrahierungszwangs wird dieser Rechtszwang im Wortlaut der Normen entweder durch die an die Normadressaten gerichtete Verpflichtung zu einer bestimmten Handlung 6 oder dadurch ausgedrückt, daß dem begünstigten Vertragsinteressenten das Recht auf eine konkrete Leistung zugesprochen

3

AcP 180 (1980), 47, 52; zustimmend R. H. Weber, Wirtschaftsregulierung, S.477. Raiser, in: Kartelle u. Monopole II, S. 529, 530; dort Unterscheidung von drei Fallgruppen des Kontrahierungszwangs: 1. bei plötzlichem und unerwartetem Abbruch der geschäftlichen Beziehungen oder unerwarteter Absage im Widerspruch zu bisherigem Verhalten und zu selbst geweckten und genährten Erwartungen; 2. bei willkürlicher Benachteiligung eines einzelnen Abnehmers entgegen dem Gleichheitsgebot; 3. infolge Beschränkung des Abnehmers bei der Befriedigung seines wirtschaftlichen Bedarfs in einer Weise, die der durch das marktwirtschaftliche System zuerkannten Freiheit der Auswahl widerspricht. 5 Über Kontrahierungszwang, S. 5. 6 Vgl. §10 AEG; §§6 Abs. 1 S. 1, 10 Abs. 1 S. 1 EnWG; §21 Abs.2 S.2 LuftVG; § § 2 2 , 4 7 Abs. 4 PBefG; § 5 Abs. 2 iVm. § 1 PflVG; § 2 StrEG; §§ 33,35 f. TKG; § 61 Abs. 1 S. 1 UrhG; § 26 VerlG; § 11 Abs. 1 WahrnG. 4

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§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit

durch

Kontrahierungszwang

wird.7 Ein Rechtszwang zum Kontrahieren besteht nicht nur in diesen spezialgesetzlich geregelten Fällen, in denen die Verpflichtung zur Leistung oder zum Vertragsschluß ausdrücklich angeordnet ist, sondern auch in jenen Fällen, in denen die Verpflichtung zum Vertragsschluß sich erst als zwingende Folge einer Verpflichtung zum Schadensersatz oder zur Abkehr von einer mit dem Recht unvereinbaren Verhaltensweise ergibt. Die besondere Ausprägung des Rechtszwangs zum Vertragsschluß in Gestalt der „obligatio ex lege" enthält insoweit ein taugliches Abgrenzungskriterium, um die Erscheinungsformen des Kontrahierungszwangs vorerst von anderen Formen rechtlicher und tatsächlicher Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit zugunsten anderer Rechtssubjekte abgrenzen zu können. Der auf einer gesetzlichen Regelung beruhende Zwang zum Vertragsschluß mit einem Begünstigten unterscheidet Sachverhalte des Kontrahierungszwangs einerseits von Fällen der „freiwilligen" Vertragsbegründungsverpflichtung wie beim Vorvertrag; andererseits aber auch von Erscheinungsformen der Vertragsbegründung, die auf direkten Rechtszwang zurückgehen, ohne daß es - wie beim diktierten Vertrag - noch eines technischen Vertragsschlusses durch die Parteien bedarf. Entscheidend für die Abgrenzung ist die Art und Weise des Zwangs zur Vertragsbegründung. Auf die mit dem Vertragszwang verfolgten Ziele kommt es zunächst nicht an. Daher ist es unerheblich, wer aus dem Kontrahierungszwang wirtschaftliche Vorteile zieht.8 Schließlich markiert der privatrechtliche Charakter des Rechtszwangs die Grenzlinie zwischen dem Kontrahierungszwang und Formen öffentlich-rechtlichen Zwangs, die zur Begründung eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen dem Leistungsanbieter und dem Nachfrager nach dieser Leistung führen können, wie etwa aufgrund eines gesetzlichen Anschluß- und Benutzungszwangs, der in den Gemeindeordnungen der Länder verbreitet ist.9 Die Abgrenzungsproblematik wird nachfolgend noch einmal beispielhaft vertieft.

7

Vgl. § 14 AEG; § 19 Abs. 1, 2 bzw. § 97 TKG iVm. § 9 Abs. 1 TKV. Anders Vykydal, S. 125, der Fälle des (Haftpflicht-) Versicherungszwangs, wie er für einzelne Berufsgruppen besteht, nicht dem Kontrahierungszwang zurechnet, wenn die Versicherungsleistung Dritten zugute kommt, die nicht an dem unter Kontrahierungszwang stehenden Vertrag beteiligt sind. 9 Vgl. aber auch § 15 Abs. 1 S. 1 BNotO; der Notar wird auf der Grundlage eines öffentlichrechtlichen Justizgewährungsanspruches und nicht auf der Grundlage eines Vertrages tätig. 8

I. Kontrahierungszwang

als

Untersuchungsgegenstand

113

2. Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit außerhalb des Kontrahierungszwangs a. Vorvertrag und Option Nicht dem Kontrahierungszwang zugehörig sind rechtsgeschäftliche Verpflichtungen zum Abschluß eines Vertrages, wie sie im Rahmen eines Vorvertrages 10 zur Eingehung eines Hauptvertrages vorkommen können oder in der Form der Option 11 , also dem vertraglich begründeten Recht, einen (anderen) Vertrag zustande bringen zu können. 12 Die Verpflichtung zur Eingehung einer Verpflichtung wird nicht heteronom durch das Recht begründet; hier sind es die Vertragsinteressenten selbst, die in autonomer Entscheidung die Verpflichtung begründen. Es handelt sich nicht um einen den Vertragsinteressenten diktierten Abschlußzwang, sondern um eine privatautonom vereinbarte Abschlußpflicht. 13 b. Sittlich-moralische

Bindungen

Ebensowenig dem Kontrahierungszwang zuzurechnen sind sittlich-moralische Bindungen eines Rechtssubjekts, wie sie etwa im familiären oder gesellschaftlichen Bereich vorhanden sein können. Das Rechtssubjekt mag sich in diesen Fällen moralisch verpflichtet fühlen, auf Anforderung einen Vertrag - möglicherweise zu Vorzugskonditionen - abzuschließen; es fehlt jedoch an dem für den Kontrahierungszwang charakteristischen Rechtszwang. c. Wirtschaftliche

Bindungen

Keinen Anwendungsfall des Kontrahierungszwangs stellen des weiteren Normen dar, bei deren Nichtbefolgung dem Rechtssubjekt ein wirtschaftlicher Nachteil entsteht. Anders gewendet: Dem Verpflichteten wird aufgrund der in der Norm für den Fall der Nichtbefolgung ausgesprochenen Rechtsfolge ein Vertragsschluß wirtschaftlich nahegelegt; es fehlt jedoch an einem Rechtszwang zum Vertragsschluß. Wenn man so will, übt das Gesetz nur einen „verhaltenen" Zwang aus, der nicht notwendig zum Vertragsschluß führt. Typisches Beispiel für eine derartige Bindung ist § 5 Abs. 1 SchwBG, wonach private und öffentliche Arbeitgeber mit mindestens 16 Arbeitsplätzen auf wenigstens sechs vom Hundert der Arbeitsplätze Schwerbehinderte zu beschäftigen ha10

Zum Rechtsinstitut des Vorvertrages vgl. Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 51 ff. 11 Vgl. dazu Staudinger-Dilcher, 12. Aufl. 1980, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn.47ff.; Weber, JuS 1990, 249 ff. 12 Bülck, S.32f.; Grünhage, S. 12; Hergt, S.29f.; Loeber, S. 109; Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 15; Riezler, S.92f.; Vykydal, S. 29; aAMolitor, JherJb 73 (1923), 1, 16 ff. 13 Vgl. dazu die Beispiele bei Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 15 ff.

114

§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit

durch

Kontrahierungszwang

ben. Solange Arbeitgeber die vorgeschriebene Zahl Schwerbehinderter nicht beschäftigen, haben sie für jeden unbesetzten Pflichtplatz monatlich eine Ausgleichsabgabe zu entrichten (§ 11 Abs. 1 S. 1 SchwBG). Das Schwerbehindertengesetz spricht also insoweit keinen Kontrahierungszwang aus, 14 sondern statuiert lediglich eine Kompensationsverpflichtung bei Nichtbeachtung des Normbefehls. In den Sachzusammenhang der rein wirtschaftlichen Bindung gehört auch § 611 a Abs. 1 S. 1 BGB, wonach ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme, insbesondere bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses, beim beruflichen Aufstieg, bei einer Weisung oder einer Kündigung, nicht wegen seines Geschlechts behindern darf. Ein schuldhafter Verstoß gegen das geschlechtsbezogene Benachteiligungsverbot zieht lediglich einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf angemessene Entschädigung in Geld nach sich (§ 611 a Abs. 2 Hs. 1 BGB). Ein Anspruch auf Abschluß eines Arbeitsvertrages besteht nicht, wie §611 a A b s . 2 Hs. 2 BGB 1 5 ausdrücklich klarstellt. 16 Da es an einem Rechtszwang zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses fehlt, kann daher auch nicht von einem „indirekten" (wirtschaftlichen) Kontrahierungszwang die Rede sein, 17 auch wenn der Schadensersatzanspruch nach §611 a Abs. 2 Hs. 1 BGB das Erfüllungsinteresse des Arbeitnehmers partiell befriedigt und damit auf den Arbeitgeber eine Abschreckungswirkung ausübt. Es bleibt dabei, daß es sich lediglich um eine wirtschaftliche Bindung des Arbeitgebers handelt. d. Gesetzliche

Vertragsübernahme

An einem Rechtszwang, wie er für den Kontrahierungszwang charakteristisch ist, fehlt es auch in den Fällen der gesetzlichen Vertragsübernahme, wie sie etwa als Folge eines Betriebsübergangs (§ 613 a BGB) oder nach dem Grundsatz „Veräußerung bricht nicht Miete" als Folge der Veräußerung eines vermieteten Grundstücks (§ 571 BGB) eintritt. 18 Es liegt zwar ein Rechtszwang vor, da sich der zur 14 Vykydal, S. 33, 134f.; ders., JA 1996, 81, 84; vgl. auch Cramer, § 5, Rn. 18; Eichenhofer, JuS 1996, 857, 861 \ Neumann/Pahlen, § 5, Rn. 10; Ruprecht, GK-SchwBG, § 5, Rn. 24; SoergelWolf.i Vor § 145, Rn. 105; undeutlich BAG AP Nr. 2 zu § 17 BBiG (Bl. 936 R); Hönn, Kompensation, S. 185; aA offenbar Fikentscher, Schuldrecht, § 21 IV 2a (Rn. 86); Kühler, Pflicht, S. 17; Palandt-Heinrichs, Einf v § 145, Rn. 8; Medicus, Schuldrecht AT, § 11 II (Rn. 81); Schlechtriem, Schuldrecht AT, Rn.37 (m. Fn.4); Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 17. 15 IdF des Zweiten Gleichberechtigungsgesetzes v. 24.6.1994, BGBl. I, S. 1406; geänd. dch. Gesetz v. 29.6.1998, BGBl. I S. 1694. 16 Ein Kontrahierungszwang bestand auch nach § 611 a BGB aF nicht, da der benachteiligte Arbeitnehmer nach §611 a Abs. 2 S. 1 BGB aF lediglich einen Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens hatte; vgl. EuGH NJW 1984, 2021 f.; BAG NJW 1990, 65, 65 f.; aA EckertzHöfer, JuS 1987,611,616. 17 So aber Herrmann, ZfA 1996, 19, 30, 32; vgl. auch Greiner, S. 7 f. 18 Vergleichbare Fallgestaltungen regeln §§ 569 a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 2, 581 Abs. 2, 651 b

I. Kontrahierungszwang

als

Untersuchungsgegenstand

115

Vertragsübernahme Verpflichtete der Rechtsfolge nicht entziehen kann. Die durch den Rechtszwang herbeigeführte Verpflichtung des Vertragsübernehmers ist jedoch zugleich „Rechtsdiktat", während beim Kontrahierungszwang die Verpflichtung gegenüber einem Dritten voraussetzt, daß der zum Vertragsschluß Verpflichtete mit Vertragsinteressenten aufgrund des Kontrahierungszwangs selbst einen Vertrag schließt: Der Rechtszwang bezieht sich auf den Zielvertrag. In den Fällen der Vertragsübernahme gibt es in diesem Sinne keinen Zielvertrag; der Rechtszwang wirkt direkt durch gesetzliche Begründung eines Schuldverhältnis-

e. Ausübung eines einseitigen gesetzlichen

Gestaltungsrechts

Ein Bezug zum Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs fehlt darüber hinaus bei Vertragsschlüssen, die aufgrund der Ausübung eines einseitigen Gestaltungsrechts erfolgen. Derartige Fallgestaltungen finden sich in § 9 Abs. 2 BPersVG und in § 78 a Abs. 2 BetrVG. Danach kann ein Auszubildender, der Mitglied einer Personalvertretung bzw. eines Betriebsrates oder einer Jugend- und Auszubildendenvertretung ist, innerhalb der letzten drei Monate vor Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses schriftlich seine Weiterbeschäftigung verlangen, sofern der Arbeitgeber dem Auszubildenden nicht drei Monate vor Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses mitgeteilt hat, daß er ihn nicht in ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit übernehmen wird. Mit der Geltendmachung des Weiterbeschäftigungsverlangens gilt zwischen dem Auszubildenden und dem Arbeitgeber im Anschluß an das erfolgreiche Berufsausbildungsverhältnis ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit als begründet. Der Arbeitsvertrag kommt insoweit durch einseitigen Gestaltungsakt und die daran anschließende gesetzliche Fiktionswirkung zustande. 2 0 Damit unterscheidet sich die Vertragsbegründung vom Kontrahierungszwang, der einen Rechtszwang zum Abschluß eines Zielvertrages voraussetzt. 21

Abs.2, 1251 Abs. 2 S. 1 BGB; §§69 Abs. 1, 177 Abs. 1 S.2 VVG; §§ 16 Abs.2 S.l, 17 S. 1 VermG. 19 Für Kontrahierungszwang dagegen Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 105. 20 Kreutz, Gemeinschaftskommentar-BetrVG, §78 a, Rn. 55 mwN.; Vykydal, S. 135; Wiencke, S.65ff.; vgl. auch Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither/Engels, §78 a, Rn. 4 (Arbeitsverhältnis kraft gesetzlicher Fiktion). 21 Ebenso Vykydal, S. 135; ders., JA 1996, 81, 84 (Fn. 27); vgl. auch Herrmann, ZfA 1996, 19,55; aA Fikentscher, Schuldrecht, § 21 IV 2 a (Rn. 86); Gernhuber, Schuldverhältnis, § 7 II 4 (S. 133); Kilian, AcP 180 (1980), 47, 53; KüchenhoffAl% a, Anm. 11; Medicus, Schuldrecht AT, § 11 II (Rn. 81); Reuter, SAE 1979, 283, 284; U. Scholz, S. 217; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 105; Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 17; undeutlich Galperin/Löwisch, § 78 a, Rn. 1 (praktisch auf Kontrahierungszwang hinauslaufende Regelung); Wollenschläger, NJW 1974, 935, 936 (praktisch Kontrahierungszwang).

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§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit

durch

Kontrahierungszwang

f . Diktierter Vertrag Von dem Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs zu unterscheiden und daher nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind des weiteren die sog. diktierten Verträge. 22 Dabei handelt es sich um private Rechtsverhältnisse, die in ihren Wirkungen, nicht aber in ihrer Entstehung den Vertragsverhältnissen gleichstehen. 23 Nicht die Vertragsparteien sind es, die durch übereinstimmende Willenserklärungen den Vertragsschluß herbeiführen; der Vertrag wird vielmehr unmittelbar durch privatrechtsgestaltenden Hoheitsakt begründet. 24 Als Hoheitsakte kommen sowohl Verwaltungsakte 25 als auch gerichtliche Gestaltungsurteile 26 in Betracht. Der diktierte Vertrag ist ein typisches Instrument öffentlich-rechtlicher Inpflichtnahme von Privatrechtssubjekten. Dieses Instrumentariums bedient sich der Gesetzgeber regelmäßig, wenn sich gewünschte Marktergebnisse - etwa bei Mangellagen - nicht von selbst einstellen oder aber in privatautonomer Verantwortung nur mit nicht tolerabler Verzögerung. Während der diktierte Vertrag in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich bei der Wohnraumbewirtschaftung (Zwangsmietvertrag nach § 16 WBewG) Bedeutung erlangte, bedient sich in jüngerer Zeit § 6 a VermG der Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, um Alteigentümer, die in der DDR oder Ost-Berlin von Vermögensentziehung betroffen waren, schon vor Erlaß einer bestandskräftigen Restitutionsentscheidung mit schuldrechtlicher Wirkung vorläufig in ehedem entzogene Unternehmen einweisen zu können. 27 g. Vertragsschluß kraft Gesetzes Nicht als Erscheinungsform des Kontrahierungszwangs zu qualifizieren sind schließlich Verträge, die kraft Gesetzes zustande kommen. Das Gesetz beinhaltet insoweit keine - von den Parteien noch umzusetzende - Verpflichtung zum Vertragsschluß; der Vertrag wird vielmehr unmittelbar kraft Gesetzes perfektioniert. 22 Dazu BGH LM § 284 BGB Nr. 1 (= BGH MDR 1952, 155); OGHBrZ 2, 352, 355; 4, 188, 190; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil 1/2, § 162 Fn. 40; Fikentscher, Schuldrecht, §21 IV 2 d (Rn. 86); Hedemann, FS Nipperdey, S. 252 ff.; Kramer, MünchKomm. BGB, Vor § 145 Rn. 12; Loeber, S.205 ff., 231 ff.; Palandt-Heinrichs, Einf. v. § 145 Rn. 12; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 109; Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 35; Vykydal, S. 37. 23 Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 35; RGRK-Piper, Vor § 145, Rn.28; kritisch Gernhuber, Schuldverhältnis, §7 II 3 (S. 132f.); Soergel-Wolf, Vor §145, Rn. 109. 24 Kein diktierter Vertrag, sondern eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung entsteht etwa nach der im Notstandsrecht vorgesehenen Auferlegung einer Leistungspflicht nach §§2, 9, 17 BLG. 25 Vgl. § 97 Abs. 2 BauGB, § 6 a VermG; §§ 10, 13 ArbSichG. 26 Vgl. § 5 HausratsVO, § 24 Abs. 1 PatG, § 20 GebrMG. 27 Vgl. dazu Säcker/Busche, in: Säcker (Hrsg.), Vermögensrecht, § 6 a, Rn. 14 ff.

II. Terminologische Vorklärung

117

Beispielhaft sei die Regelung des Art. 1 § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG genannt, wonach ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer zu dem zwischen dem Entleiher und dem Verleiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeitpunkt als zustande gekommen gilt, wenn der Vertrag zwischen dem Verleiher und einem Leiharbeitnehmer nach Art. 1 § 9 Nr. 1 AÜG infolge fehlender Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung unwirksam ist.

II. Terminologische Vorklärung Nach der vorläufigen Konturierung des Kontrahierungszwangs in Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten ist vorab noch auf die im Zusammenhang mit dem Kontrahierungszwang gebräuchliche Terminologie einzugehen. Der Begriff „Kontrahierungszwang" als Bezeichnung für die rechtliche Begrenzung der Vertragsbegründungsfreiheit ist kein Ausdruck des geltenden Gesetzesrechts. Schon gar nicht handelt es sich um ein Rechtsinstitut, das bei näherem Hinsehen nach Voraussetzungen, Inhalt und Rechtswirkungen allgemein anerkannt ist, 28 wenngleich die eingangs genannten Definitionen das auf den ersten Blick nicht unbedingt vermuten lassen. Die Tatsache, daß der Begriff im juristischen Diskurs mit Selbstverständlichkeit gebraucht wird, verdeckt, daß die geläufigen Definitionen lediglich Formelkompromisse darstellen, hinter denen das Rechtsinstitut nur schemenhaft erkennbar ist. Schon die geläufige Einteilung des Kontrahierungszwangs nach seinen Erscheinungsformen zeigt, daß sich der nach klaren Strukturen Suchende auf unsicherem Terrain bewegt. Wer Klarheit sucht, stößt auf eine unübersichtliche Zahl von Begriffen, mit denen zum Teil identische Sachverhalte bezeichnet werden: So hat sich für den aus dem BGB abgeleiteten und dort zumeist auf § 826 BGB gestützten Kontrahierungszwang die Bezeichnung „allgemeiner" 29 , „mittelbarer" 30 28 Insoweit hat sich gegenüber dem Erkenntnisstand von 1920 wenig geändert; vgl. Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 6. 29 Vgl. RGZ 148, 326, 334 - Wasserlieferung II; BGH NJW 1990, 761, 762 - Krankenhausbehandlungsvertrag; Bothe, S. 23; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 5, 29; Lehnich, S. 298; Nipperdey, Stromsperre, S.24f.; Herrmann, ZfA 1996, 19, 59; Raiser, ZHR 111 (1948), 75, 87. - Für Österreich vgl. a u c h O G H W B l . 1991, 170, 171 - Badeanstalt. 30 Vgl. etwa RGZ 148,326,334 - Wasserlieferung II, das den Kontrahierungszwang als einen „durch die Verpflichtung zum Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung mittelbar wirkenden Zwang zu einem Abschluß unter den allgemeinen Bedingungen des Monopolinhabers" beschrieben hat; RG HRR 1935 Nr. 1125 - Stromlieferung II, dort als „indirekt" wirkender Zwang bezeichnet; OLG Karlsruhe OLG 1268, 1270 - Abbuchungsermächtigung; LG Stuttgart W M 1996, 1770, 1774 - Scientology; Baumbach-Hefermehl, §1 UWG, Rn.309f.; Fikentscher, Schuldrecht, §21 IV 2c (Rn.86); Fuld, Recht 1906, Sp. 1187, 1188; ders., Soz. Praxis 15 (1906), Sp. 1270; Hart, KritV 1986, 211, 216; Jauernig-Jauernig, Vor §145, Anm. 4 a cc; Kramer, Münch.Komm BGB, Vor § 145, Rn. 13; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 443; Palandt-Heinrichs, BGB, Vor § 145, Rn.9; Schweer, S. 15; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 106; Vykydal, S.34; R. H.

118

§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit

durch

Kontrahierungszwang

oder „relativer" 31 Kontrahierungszwang etabliert. Während die Kennzeichnung „allgemeiner Kontrahierungszwang" insbesondere eine Abgrenzung zu den spezialgesetzlich geregelten Formen des Kontrahierungszwangs enthält, sollen die Bezeichnungen „mittelbarer" und „relativer" Kontrahierungszwang darauf aufmerksam machen, daß die Verpflichtung zum Vertragsschluß keine originäre Rechtsfolge des BGB ist, sondern sich erst auf dem Umweg über andere Anspruchsziele ergibt. Im Falle des § 826 BGB wird die Verpflichtung zum Vertragsschluß insoweit aus der Verpflichtung zum Schadensersatz abgeleitet. Korrespondierend zu dem nicht ausdrücklich geregelten „allgemeinen", „mittelbaren" oder „relativen" Kontrahierungszwang des BGB werden insbesondere die Formen des spezialgesetzlich geregelten Kontrahierungszwangs zumeist mit den Begriffen „besonderer", 32 „unmittelbarer" 33 oder „absoluter" 34 Kontrahierungszwang belegt. Wenn von einem „besonderen" Kontrahierungszwang die Rede ist, soll damit die Abgrenzung zum allgemeinen Kontrahierungszwang des BGB gesucht werden. Die Kennzeichnung als „unmittelbarer" oder „absoluter" Kontrahierungszwang soll dagegen verdeutlichen, daß es sich um eine ausdrückliche Verpflichtung zum Vertragsschluß kraft besonderer gesetzlicher Anordnung handelt. Die letztgenannten Bezeichnungen sind als Beschreibungen des spezialgesetzlich geregelten Kontrahierungszwangs allerdings eher verwirrend. Schon ein flüchtiger Blick auf Vorschriften wie § 20 Abs. 1, 2 GWB, § 5 Abs. 2 PflVG und § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG, die allgemein als Anwendungsfälle des spezialgesetzlich geregelten Kontrahierungszwangs eingeordnet werden, zeigt, daß dort dem Wortlaut nach keineswegs eine Verpflichtung zum Vertragsschluß angeordnet ist, sondern eine Verpflichtung zur Erbringung von Leistungen. Insoweit könnten auch diese spezialgesetzlich geregelten Fälle des Kontrahierungszwangs als „mittelbarer" oder „relativer" Kontrahierungszwang bezeichnet werden. 35

Weber, Wirtschaftsregulierung, S. 482. - Anders Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 61 (Fn. 1), der auch insoweit von unmittelbarem Kontrahierungszwang spricht. - Manche Autoren verwenden die Bezeichnung „mittelbarer Kontrahierungszwang" für Bindungen der Vertragsbegründungsfreiheit aufgrund wirtschaftlicher oder sittlich-moralischer Umstände (vgl. Greiner, S. 7 f.; Herrmann, ZfA 1996, 19, 46; Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 17, zu §§ 5, 11, 68 SchwbHG), die nach hiesigem Verständnis nicht dem Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs zuzurechnen sind. 31 R. W. Müller, S. 54; Elster, Handwörterbuch, S. 700, 701. 32 Basedow, Transportvertrag, S. 202. 33 Vgl. Baumbach-Hefermehl, § 1 UWG, Rn. 308; Biedermann, S. 187; Fikentscher, Schuldrecht, § 21 IV 2a (Rn. 86); Kramer, MUnch.Komm BGB, Vor § 145, Rn. 10; Palandt-Heinrichs, Einf v § 145, Rn. 8; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 105; Staudinger-Bork, Vorbem. zu §§ 145 ff„ Rn. 17; Vykydal, S. 34; ders., JA 1996,81,82ff.; Ä. H. Weber, Wirtschaftsregulierung, S. 482; vgl. auch Hart, KritV 1986, 211, 216 (direkter gesetzlicher Kontrahierungszwang). 34 Elster, Handwörterbuch, S. 700. 701; R. W. Müller, S. 54. 35 Mit dieser Terminologie etwa Fikentscher, Schuldrecht, § 21 IV b (Rn. 86; zu § 26 Abs. 2 GWB); Staudinger-Bork, 13. Bearb. 1996, Vorbem. zu §§ 145, Rn. 18; Vykydal, JA 1996, 81 (Fn. 2; zu §26 Abs. 2 GWB).

III. Allgemeiner

und besonderer Kontrahierungszwang

im Verhältnis zueinander

119

Es empfiehlt sich daher, zumindest für die nachfolgenden Untersuchungsschritte eine erste begriffliche Klärung herbeizuführen. Entsprechend dem Untersuchungsprogramm, nach dem im Zweiten Teil zunächst der aus dem BGB abgeleitete Kontrahierungszwang thematisiert werden soll, um nachfolgend in eine Betrachtung spezialgesetzlich motivierter Formen des Kontrahierungszwangs einzutreten, soll fortan einstweilen nur nach der gesetzlichen Verortung des Kontrahierungszwangs differenziert werden, wobei für den „Kontrahierungszwang aus dem BGB" die Bezeichnung „allgemeiner" Kontrahierungszwang verwendet wird, während die insbesondere spezialgesetzlich motivierten Erscheinungsformen des Kontrahierungszwangs unter dem Sammelbegriff „besonderer Kontrahierungszwang" zusammengefaßt werden. Inwieweit die anderen genannten Begriffe sachlich weiterführende Charakterisierungen des Kontrahierungszwangs beinhalten, soll die Untersuchung im einzelnen zeigen. Damit hat die Unterscheidung zwischen „allgemeinem" und „besonderem" Kontrahierungszwang, die eine grobe Systematisierung des Untersuchungsgegenstandes ermöglicht, zunächst vorläufigen Charakter.

III. Allgemeiner

und besonderer Kontrahierungszwang im Verhältnis zueinander

Die bisher vorliegenden systematischen Untersuchungen zum Kontrahierungszwang verfolgen einen induktiven Methodenansatz, indem das Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs deskriptiv-analytisch von seinen Wirkungen her erfaßt wird. Eine am System des Privatrechts und an seinen konstituierenden Rechtsprinzipien orientierte Analyse des Kontrahierungszwangs tritt dabei in den Hintergrund. Die Beschäftigung mit den besonderen Ausformungen des Kontrahierungszwangs in Spezialgesetzen, ihren Voraussetzungen und Wirkungen, mündet in die Beschreibung eines rechtstatsächlichen Phänomens, klärt aber nicht, in welchem Verhältnis dieses Phänomen zu den das Rechtssystem beherrschenden Prinzipien steht. Der Eingriff in die vertragliche Abschlußfreiheit durch Anordnung eines Kontrahierungszwangs ist andererseits nur zu rechtfertigen, wenn der Kontrahierungszwang aus einem die Rechtsordnung beherrschenden Strukturprinzip folgt. Die Kontroverse darüber, ob sich der Kontrahierungszwang mit dem Prinzip der Vertragsfreiheit und damit der Privatautonomie vereinbaren läßt oder aber als „Fremdkörper" anzusehen ist, zeigt die Zweifel, die sich mit dieser Frage nach wie vor verbinden. Eine Analyse der spezialgesetzlichen Ausprägungen des besonderen Kontrahierungszwangs in der Hoffnung, daraus eine allgemeinverbindliche Definition eines gleichnamigen Rechtsinstituts abzuleiten, setzt voraus, daß es ein einheitliches Rechtsinstitut gibt, das darüber hinaus auf ein dann näher zu bezeichnendes Strukturprinzip der Rechtsordnung rückführbar ist. Diese Sichtweise ist

120

§ 4 Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit

durch

Kontrahierungszwang

überzeugend, wenn der spezialgesetzlich angeordnete Kontrahierungszwang trotz seiner Verankerung in unterschiedlichen Kodifikationen einem einheitlichen Wertungsprinzip folgt, das zugleich für die Herleitung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs aus den Vorschriften des BGB fruchtbar gemacht werden kann. 36 Dem steht die durch die Kodifikationsgeschichte des Kontrahierungszwangs belegbare Beobachtung entgegen, daß sich der Kodifikationsprozeß außerhalb des BGB vollzogen hat. Das legt die Vermutung nahe, daß der spezialgesetzlich ausgeformte Abschlußzwang in bewußter Abkehr von den das Vertragsrecht des BGB prägenden Strukturprinzipien anderen Wertungsmaximen folgt. Wenn sich diese Arbeitshypothese erhärten läßt, kann an einem einheitlichen Rechtsinstitut des Kontrahierungszwangs nicht festgehalten werden. Dies schließt dann auch aus, einen allgemeinen Kontrahierungszwang in Rechtsanalogie zu den spezialgesetzlichen Einzelregelungen abzuleiten. Jedenfalls können die spezialgesetzlichen Ausformungen des Kontrahierungszwangs nicht ohne vorherige Analyse der darin enthaltenen Wertungsprinzipien zum Ausgangspunkt einer Erörterung des „allgemeinen" Kontrahierungszwangs im BGB genommen werden. Anderenfalls besteht die Gefahr einer Inpflichtnahme des BGB für gesetzesfremde Ziele. Die hinter den spezialgesetzlichen Regelungen stehenden Wertungsmaximen können, müssen aber nicht notwendig mit denen des BGB-Vertragsrechts übereinstimmen. Es erscheint daher verfehlt, diese unbesehen in das BGB zu implementieren. Das wäre nur dann möglich, wenn die sondergesetzlichen Regelungen ebenso wie das BGB-Vertragsrecht dem Primat der Privatautonomie folgen.

IV. Zusammenfassung 1. Der Kontrahierungszwang in seinen Erscheinungsformen als allgemeiner Kontrahierungszwang des BGB und als besonderer Kontrahierungszwang beinhaltet rechtsdogmatisch eine obligatio ex lege, einen Rechtszwang zum Abschluß eines schuldrechtlichen Vertrages. Darin unterscheidet sich der Kontrahierungszwang von anderen Formen der Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit. Nicht dem Kontrahierungszwang zuzurechnen sind die Vertragsbegründung aufgrund Vorvertrages oder Ausübung eines Optionsrechts, aufgrund sittlich-moralischer oder wirtschaftlicher Bindung, aufgrund gesetzlicher Vertragsübernahme, aufgrund Ausübung eines einseitigen gesetzlichen Gestaltungsrechts und durch privatrechtsgestaltenden Hoheitsakt (diktierter Vertrag). 2. Die Tatsache, daß neben dem allgemeinen Kontrahierungszwang spezialgesetzliche Formen des Kontrahierungszwangs ausgebildet wurden, läßt erwar-

36

In diesem Sinne etwa Mestmäcker,

JZ 1964, 441, 445; Hackl, S. 64.

IV.

Zusammenfassung

121

ten, daß diese Formen des Kontrahierungszwangs anderen Wertungsmaximen folgen als der allgemeine Kontrahierungszwang. Die hinter den spezialgesetzlichen Regelungen stehenden Wertungsmaximen können, müssen aber nicht notwendig mit denen des allgemeinen Kontrahierungszwangs übereinstimmen. Daher sind beide Erscheinungsformen des Kontrahierungszwangs getrennt zu untersuchen.

Zweiter Teil

Der allgemeine Kontrahierungszwang

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Präponderanz vertraglicher Selbstbestimmung Die Untersuchung der Erscheinungsformen des Kontrahierungszwangs beginnt mit dem allgemeinen Kontrahierungszwang (§§5 bis 7). Bezug nehmend auf die einleitenden Überlegungen zur Vertragsfreiheit (§§ 2 und 3) wird dabei zunächst die Funktion des allgemeinen Kontrahierungszwangs in einem vom Vorrang der Selbstbestimmung geprägten Vertragsrechtssystem zu klären sein. Nachfolgend ist auf die Verankerung des allgemeinen Kontrahierungszwangs im Anspruchssystem des BGB einzugehen. Die Untersuchung des besonderen Kontrahierungszwangs ist späteren Abschnitten vorbehalten (§§ 8 bis 12).

I. Funktionssicherung der Vertragsbegründungsfreiheit bei Vertragsverweigerung Das vom Vorrang der Privatautonomie getragene Vertragsrecht des BGB ist Mittel zur individuellen Rechtsgestaltung und setzt voraus, daß die am Vertragsprozeß beteiligten Rechtssubjekte eigenverantwortlich über den Gebrauch des Vertrages zur Durchsetzung ihrer Interessen entscheiden können. Voraussetzung für diese rechtlich anerkannte Form der Selbstbestimmung natürlicher Personen ist deren Geschäftsfähigkeit. Das BGB umschreibt den Kreis geschäftsfähiger Personen anhand eines Negativkatalogs in den §§ 104 ff. und nennt damit die intellektuellen Voraussetzungen für eine Teilnahme am Rechtsgeschäftsverkehr. 1 Rechtserhebliche Willensbekundungen dieses Personenkreises werden nach Maßgabe der Normen über die Willenserklärung (§§ 116 ff.) und den Vertrag (§§ 145 ff.) geschützt, wobei das Gesetz im Hinblick auf die Bindung an Tatbestand und Erklärungswert der Willenserklärung einen an den Verkehrsbedürfnissen orientierten Ausgleich zwischen dem Selbstbestimmungsprinzip und dem Bedürfnis des Erklärungsempfängers nach Vertrauensschutz sucht. 2 Diese zentralen Aspekte der Rechtsgeschäftsordnung kommen beim Vertrag in zwei- oder

1

Säcker, MünchKomm. BGB, Einl. Rn. 30; Schwimann, S. 97 ff. Zur Bedeutung von Selbstbestimmungsprinzip und Vertrauensschutz für die Rechtsgeschäftsordnung vgl. auch Bydlinski, AcP 180(1980), 1, 39. 2

I. Funktionssicherung

der

Vertragsbegründungsfreiheit

125

mehrfacher Weise zum Tragen, weil es sich dabei nicht um einen einseitigen Rechtsgestaltungsvorgang handelt, sondern um ein Rechtsgestaltungsinstrumentarium, das prozeßhaft per se gleichrangige Interessen der Vertragsprätendenten zu einem beiderseits akzeptierten Rechtserfolg zusammenführt. Der Vertragsinteressent ist also jeweils darauf angewiesen, daß sein Interesse am Vertragsschluß in der Person eines anderen Vertragsinteressenten eine Entsprechung findet. Ist das nicht der Fall, kommt es nicht zum Vertragsschluß: Die Interessenverwirklichung mit Hilfe des Vertragsrechts scheitert. Diese - für sich genommen - banale Feststellung weist doch auf ein grundlegendes Funktionsprinzip der im BGB angelegten Rechtsgeschäftsordnung hin: Dem Vertragsinteressenten wird von der Rechtsordnung kein erzwingbares Recht auf Abschluß eines bestimmten Vertrages eingeräumt, sondern mit dem Instrumentarium des Vertrages allein die Möglichkeit zur Interessendurchsetzung bereitgestellt. Das Gebrauchmachen von diesem Instrumentarium wie auch die Herbeiführung des Vertragserfolges liegt ausschließlich in der Hand der potentiellen Vertragspartner. Der Vertragsprozeß ist daher durch das gegenseitige Angewiesensein der Vertragsprätendenten gekennzeichnet. Eine durch das Recht anerkannte Interessenverwirklichung ist einerseits ohne den jeweils anderen Teil nicht möglich, andererseits durch die Rechtsordnung nicht garantiert. Auf diese Zusammenhänge wurde bereits hingewiesen. Die Rechtsordnung muß jedoch, wenn sie den Rechtssubjekten den Vertrag als Rechtsgestaltungsinstrumentarium zur Verfügung stellt und damit das Selbstbestimmungsprinzip anerkennt, für die Funktionsfähigkeit dieses Instrumentariums sorgen. Das schließt ein, daß dem einzelnen - unter noch näher zu definierenden Voraussetzungen - die Möglichkeit eröffnet wird, die Befriedigung seines Vertragsinteresses von einem anderen Rechtssubjekt zu fordern, da mit dem Rechtsinstitut des Vertrages zugleich die Möglichkeit des Zugangs zum Vertrag als Selbstbestimmungsinstrumentarium anerkannt ist. 3 Das erscheint unproblematisch und ist hier nicht weiter zu diskutieren, wenn der andere Teil von vornherein zum Vertragsschluß bereit ist und sich im Hinblick auf eine bestimmte Leistung dem Vertragspartner gegenüber verpflichtet. Hier geht es allein noch darum, den durch den Vertrag begründeten Erfüllungsanspruch durchzusetzen. Der eigentlich problematische Fall ist derjenige, in dem sich der andere Teil dem auf Gegenseitigkeit angelegten Vertragsprozeß gerade gegenüber dem Vertragsinteressenten verweigert. Diese verweigernde Haltung kann als Mißbrauch der Vertragsfreiheit angesprochen werden, 4 sofern darin eine Abkehr vom Grundsatz der Vertragsfreiheit als immanent gebundener Freiheit erblickt werden muß. Die Inanspruchnahme der negativen Vertragsbegründungsfreiheit verstößt sodann gegen den Zweck

3 4

151 f.

Vgl. oben § 21, § 3 III 1. Z u m institutionellen Rechtsmißbrauch Raiser,

in: s u m m u m ius, s u m m a iniuria, S. 145,

126

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Präponderanz

der Vertragsfreiheit. Wenn die Rechtsordnung als Reaktion darauf dem Vertragsinteressenten einen Anspruch auf Vertragsschluß einräumt und den verweigernden Teil spiegelbildlich einem Kontrahierungszwang unterwirft, geht es der Sache nach nicht um die Aufhebung der Vertragsfreiheit, sondern um die Funktionssicherung des Instituts Vertragsfreiheit und damit um die Durchsetzung des Selbstbestimmungsprinzips. 5 Es kommt darauf an, die eingetretene Funktionsstörung auf eine Weise zu beseitigen, die es ermöglicht, „auf Umwegen wenigstens die mit der Einräumung von Privatautonomie verfolgten Zwecke möglichst weitgehend zu realisieren." 6 Dazu bedarf es, ausgehend von einer Funktionsanalyse des Vertragsrechts, der Herausarbeitung materieller Strukturen des Kontrahierungszwangs, die sich an dem Rechtswert der vertragsrechtlichen Privatautonomie zu orientieren haben. 7 Der allgemeine Kontrahierungszwang gründet sich insoweit allein auf das Selbstbestimmungsprinzip. 8 Es geht um die Feststellung der inneren Bindungen der Vertragsfreiheit und nicht um die Festlegung der ihr durch andere Rechtsprinzipien vermittelten äußeren Schranken. Auch aus ihnen kann ein Kontrahierungszwang folgen. Dieser dient dann jedoch als besonderer Kontrahierungszwang nicht oder nicht nur der Funktionssicherung der Vertragsfreiheit, sondern anderen Zielen. 9 Die Gerechtigkeitsidee ist daher entgegen verbreiteter Ansicht 10 ebensowenig wie die Idee der Rechtssicherheit geeignet, den zur Funktionssicherung der Vertragsfreiheit eingesetzten allgemeinen Kontrahierungszwang zu begründen. Dessen Voraussetzungen und damit die immanenten Grenzen der Vertragsfreiheit ergeben sich allein aus dem Selbstbestimmungsprinzip. Um die immanenten Grenzen der Vertragsfreiheit zu ermitteln, ist es notwendig, die durch das Aufeinandertreffen von Interessen geprägte Vertragssituation in den Blick zu nehmen. Auszugehen ist dabei von dem die Vertragsfreiheit konstituierenden Aspekt der Vertragsbegründungsfreiheit, die sowohl die Freiheit zum Abschluß eines 5

Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 39; Raiser, in: Kartelle und Monopole II, S. 523, 534. Säcker, Gruppenautonomie, S. 7 (Hervorh. im Original). 7 Vgl. auch Reinhardt, FS Schmidt-Rimpler, S. 115, 133, der hervorhebt, daß sich die bei Versagen des Vertragsmechanismus zu ergreifenden Maßnahmen „nicht mit den Ordnungsprinzipien in Widerspruch setzen (dürfen), die den Sinn haben, die persönliche Freiheit in der Rechtsordnung zu verankern und zu sichern" (Hervorh. im Original); die von Reinhardt präferierte Lösung über das Wertungsmodell der Vertragsgerechtigkeit ist freilich nicht systemadäquat. 8 Anders Hönn, JuS 1990, 953, 961, der meint, daß beim Vertragsschluß kraft Kontrahierungszwangs die Legitimation durch die Privatautonomie des diesem Unterworfenen überhaupt irrelevant ist. - Ebenso Flume, Allgemeiner Teil II, § 33,6 d (S. 611): „Der Vertrag ist seines Charakters als einer Institution der Privatautonomie entkleidet, soweit ein Rechtszwang zu seinem Abschluß besteht."; im Widerspruch dazu stehen freilich Flumes Ausführungen, aaO, S.613: „Ein (...) Kontrahierungszwang des Monopolunternehmens entspricht der Ordnung der Privatautonomie." 9 Dazu im einzelnen unten §§ 8 ff. 10 Auf die Gerechtigkeitsidee und auf den Gleichbehandlungsgrundsatz als dessen Ausformung stellen etwa ab Raiser, ZHR 111 (1948), 93 f.; M. Wolf, FS Raiser, S. 597, 599 ff., 609. 6

II. Voraussetzung des allgemeinen

Kontrahierungszwangs

127

Vertrages mit einem beliebigen Kontrahenten (positive Vertragsbegründungsfreiheit) wie auch die Abstandnahme vom Vertragsschluß (negative Vertragsbegründungsfreiheit) unter den Schutz der Rechtsordnung stellt. 11 Die Situation der Abschlußverweigerung ist nun durch den Konflikt zwischen beiden Erscheinungsformen der Vertragsfreiheit gekennzeichnet: Der Vertragsinteressent wünscht positiv den Abschluß eines Vertrages; der Vertragsverweigerer will dagegen von der negativen Vertragsfreiheit Gebrauch machen. Da im Ausgangspunkt weder die positive Vertragsbegründungsfreiheit des Vertragsinteressenten noch die negative Vertragsbegründungsfreiheit des Vertragsverweigerers vorrangig ist, kann der infolge der Vertragsverweigerung entstehende Konflikt nicht einfach zu Lasten des Verweigerers und damit durch dessen Verpflichtung zum Vertragsschluß gelöst werden. Ein Kontrahierungszwang kann, wenn überhaupt, nur im Falle einer „qualifizierten" Vertragsverweigerung in Betracht gezogen werden. Zu der eigentlichen Vertragsverweigerung müssen also weitere Umstände hinzutreten, die eine Suspendierung der negativen Vertragsbegründungsfreiheit des Anbieters im Einzelfall interessengerecht erscheinen lassen.

II. Voraussetzung des allgemeinen Kontrahierungszwangs: Qualifizierte Vertragsverweigerung 1. Verfolgung rechtlich geschützter Interessen durch den Vertragsinteressenten a. Ausdrückliche gesetzliche

Schranken

Betrachtet man zunächst die Person des Vertragsinteressenten, so verlangt der dem Funktionsprinzip der Vertragsfreiheit inhärente Selbstbestimmungsgedanke nur dann nach einem Eingriff in die Vertragsbegründungsfreiheit, wenn dem Vertragsinteressenten die Verfolgung rechtlich geschützter Interessen gerade infolge der Abschlußverweigerung eines potentiellen Vertragspartners unmöglich ist. 12 Hierzu ist es erforderlich, zunächst das Interesse oder - anders ausgedrückt - das Bedürfnis zu formulieren, das der Vertragsinteressent durch den angestrebten Vertragsschluß befriedigen will. Systemimmanente Grenze für die Anordnung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs ist insoweit die Anerkennung des Vertragsziels durch die Rechtsordnung. Diese erkennt das Selbstverwirklichungsbedürfnis des Individuums zwar dem Grunde nach an, definiert den Umfang der Pri11

Dazu bereits oben § 3 III 1 b aa). Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 33 f., sieht als Begründung und Begrenzung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs insoweit die Funktionsfähigkeit der Rechtsgeschäftsordnung; ähnlich, allerdings bezogen auf das „marktwirtschaftliche System", bereits Raiser, in: Kartelle und Monopole II, S. 523, 530, 532ff.; vgl. auch Kilian, AcP 180 (1980), 57, 76. 12

128

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Präponderanz

vatautonomie und damit der Vertragsfreiheit jedoch notwendig enger, da es sich einerseits nicht um eine egozentrische Freiheit handelt, sondern um eine auf Gegenseitigkeit angelegte Gewährleistung, die andererseits auch Einschränkungen durch andere Rechtsprinzipien unterliegt. Auf die Einschränkung des vertragsrechtlichen Selbstbestimmungsprinzips durch andere Rechtsprinzipien, insbesondere das Gerechtigkeitsprinzip, weisen im BGB etwa die Vorschriften der §§ 134,138 hin. Die Vorschriften sind, wie bereits dargelegt wurde, Teil des äußeren Schrankensystems, das in negativer Hinsicht abgrenzt, in welchem Umfang eine privatautonom formulierte Interessenverfolgung von der Rechtsordnung legitimiert wird. Die Legitimationsbasis für die Errichtung dieses Schrankensystems bildet die in der Verfassung konstituierte Werteordnung, in der die im Staat zusammengeschlossene Sozietät nicht als Ansammlung autonomer Einzelwesen beschrieben ist, sondern als ein Organismus, der von den Individuen wechselseitige Respektierung fordert. 13 Aufgabe der einfachen Gesetze wie des Rechts insgesamt ist es, zumindest den für das staatliche Zusammenleben unabdingbaren Grundkonsens zu formulieren. Für die Vertragsrechtsordnung bedeutet das, jene Bereiche individueller Selbstbestimmung zu bezeichnen, in denen eine individuelle Interessenverfolgung mit den Anforderungen an das staatliche Zusammenleben unvereinbar ist. Diese Funktion erfüllen die äußeren Schranken des Vertragsrechts. Schon aus dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung folgt dabei zwingend, daß solche Interessen einer privatautonomen Regelung nicht zugänglich sind, die von Normen außerhalb der Rechtsgeschäftsordnung als mit der allgemeinen Werteordnung unvereinbar angesehen werden. Dementsprechend führt § 134 BGB zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts, wenn dessen Vornahme auf einen rechtlich mißbilligten Erfolg gerichtet ist. 14 Nichtig sind nach § 138 BGB auch solche Rechtsgeschäfte, die zwar nicht gegen ein positiv normiertes Verbot verstoßen, wohl aber gegen (verfassungsrechtlich aufgerichtete) Grundwertungen der Rechtsgemeinschaft. 15 Es handelt sich dabei um jene Grundwertungen, die von anderen Rechtsprinzipien als von jenem, das Vertragsrecht prägenden Prinzip der Selbstbestimmung getragen werden. Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang insbesondere das bereits erwähnte Gerechtigkeitsprinzip. Exemplarisch hinzuweisen ist auf die anläßlich der sogenannten Bürgen-Rechtsprechung des BGH aufgeflammte Diskussion, inwieweit 13 Zum notwendigen Scheitern einer allein auf dem Gedanken der „Präferenzautonomie" aufbauenden Sozietät aus wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Sicht Eidenmüller, Effizienz, S. 335 ff. - Der Begriff der „Präferenzautonomie" ist dabei zu verstehen als Kennzeichnung für die „autonome Gestaltung des eigenen Lebens schlechthin", während mit dem Begriff „Privatautonomie" ein Teilaspekt der Präferenzautonomie, die privatautonome Gestaltung rechtlicher Verhältnisse, erfaßt wird (aaO., 332). 14 Vgl. dazu nur Mayer-Maly, MünchKomm. BGB, § 134 Rn. 1. 15 Auch dazu Mayer-Maly, MünchKomm. BGB, § 138, Rn. 1.

II. Voraussetzung des allgemeinen

Kontrahierungszwangs

129

das Vertragsrecht der Herbeiführung „gerechter" Lösungen zu dienen hat. Der BGH hat die Problematik nach der im wahrsten Sinne wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 19.10.1993 16 durch den Rückgriff auf §138 BGB gelöst 17 und damit die in der Vertragsfreiheit angelegte Möglichkeit zum Abschluß auch unvorteilhafter Verträge durch den Gerechtigkeitsgedanken korrigiert. In eine andere Richtung weist die Regelung des § 611 a Abs. 2 Hs. 2 BGB, die für die Sondermaterie des Arbeitsvertragsrechts den Rahmen der Vertragsbegründungsfreiheit positiv absteckt. Danach hat ein Arbeitnehmer im Falle einer geschlechtsbezogenen Benachteiligung bei Vertragsbegründungsverhandlungen oder im Rahmen des beruflichen Aufstiegs wegen dieser Benachteiligung keinen Anspruch auf Vertragsschluß gegen den diskriminierenden Arbeitgeber, sondern nur einen Anspruch auf Ersatz des entstandenen Vermögensschadens (§611 a Abs. 2 Hs. 1 BGB). Hierin liegt eine Begrenzung der positiven Vertragsbegründungsfreiheit des Arbeitnehmers. 1 8 b. Immanente

Bindungen

Den ausdrücklichen gesetzlichen Grenzen der Interessenverfolgung stehen jene aus dem Funktionsprinzip des Vertrages folgenden Beschränkungen gegenüber, die hier als immanente Bindungen der Vertragsfreiheit bezeichnet werden sollen. Das aus dem Vertrags Schluß entstehende Schuldverhältnis verpflichtet die Parteien zur Erfüllung der Hauptleistungspflichten, gegebenenfalls treffen die Parteien auch Nebenleistungspflichten, die der Vorbereitung, Durchführung und Sicherung der Hauptleistung dienen. Daneben bestehen regelmäßig weitere Nebenpflichten in Form verhaltensbedingter Schutz- und Sorgfaltspflichten. Soweit der Vertrags Schluß allein auf privatautonomer Entschließung der Parteien beruht, tragen diese das Risiko dafür, daß der angestrebte Interessenausgleich gelingt. Es ist Sache der Vertragsparteien, im Rahmen ihrer Kontrahentenwahlfreiheit darüber zu entscheiden, mit welchem Partner sie kontrahieren wollen. Es liegt also in ihrer Hand, denjenigen Vertragspartner auszuwählen, der in ihren Augen die Gewähr für die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen gibt. Diese Wahlfreiheit ist bei Auferlegung eines Kontrahierungszwangs nicht gegeben. Dem Anbieter wird im Gegenteil kraft Gesetzes ein Vertragspartner zugewiesen, mit dem er ohne Ausübung dieses Zwanges gerade nicht kontrahieren würde. Unter diesem Aspekt erscheint die vertragliche Interessenverfolgung durch den Vertragsinteressenten rechtlich nur dann legitim, wenn dieser zu vertragstreuem Verhalten gewillt und in der Lage ist. Die zu erwartende Vertragstreue des 16

BVerfGE 89, 214 ff. = NJW 1994, 36 ff. - Bürgschaft I. B G H Z 125, 2 0 7 f f . = N J W 1994, 1278 - Kinderbürgschaft I; 128, 2 3 0 f f . = N J W 1995, 592 ff. - Ehegattenbürgschaft; BGH N J W 1994, 1341 - Kinderbürgschaft II. 18 Dazu noch ausführlicher unten § 6 1 3 a bb) (1); § 8 III, IV 2. 17

130

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Präponderanz

Vertragsinteressenten bildet die immanente Grenze der Interessenverfolgung. Diese ist als Anknüpfungspunkt eines Kontrahierungszwangs nur rechtlich legitim, wenn der Begünstigte des Kontrahierungszwangs im Zeitpunkt seines Ausspruchs zur Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen bereit ist und diese ihm tatsächlich und rechtlich möglich ist. Das im Vertragsrecht angelegte Selbstbestimmungsprinzip gebietet es nicht, kraft gesetzlicher Anordnung einen Vertragspartner zu Lasten des anderen zu begünstigen. Der Eingriff in die Kontrahentenwahlfreiheit des Anbieters und damit in die Möglichkeit privatautonomer Risikosteuerung erfordert vielmehr einen schonenden Ausgleich der Vertragsinteressen unter Beachtung der im Rechtsinstitut des Vertrages enthaltenen Wertungsgesichtspunkte. Der Interessenausgleich ergibt sich insoweit aus dem Erfordernis der Vertragstreue des Vertragsinteressenten. Dabei ist eine ex-ante-Betrachtung anzulegen. Zu fragen ist, ob der Vertragsverweigerer - nach normalen kaufmännischen Überlegungen - mit dem Vertragsinteressenten abgeschlossen hätte. 19 Im Hinblick auf die Hauptleistungspflicht des Vertragsinteressenten, bei der es sich regelmäßig um die Verpflichtung zur Entgeltzahlung für die nachgefragte Ware oder Leistung handeln wird (vgl. dazu etwa § 433 Abs. 2, § 535 S. 2, § 611 Abs. 1 2. Alt., § 631 Abs. 1 2. Alt. BGB), ergeben sich Anhaltspunkte für das Fehlen der notwendigen Vertragstreue, wenn der Begünstigte von vornherein zu erkennen gibt, daß er nicht gewillt oder in der Lage ist, das zu vereinbarende Entgelt zu bezahlen. Soweit der Kontrahierungspflichtige eine Gegenleistung nicht erwarten kann, ist es nicht Aufgabe der Rechtsordnung, ihm einen Vertragspartner aufzudrängen. Der nachfragende Vertragsinteressent kann andererseits infolge der Wechselseitigkeit des Vertragsprozesses eine rechtliche Anerkennung seiner Vertragsinteressen nur erwarten, wenn er selbst die von der Rechtsordnung vorausgesetzte Gegenleistung erbringt. 20 Eine Verpflichtung zum Vertragsschluß besteht ebensowenig bei zu erwartenden Nebenpflichtverletzungen durch den Vertragsinteressenten. Zu denken ist etwa an die im vorvertraglichen Stadium abgegebene Ankündigung des Vertragsinteressenten, sich an die vom Anbieter dem Vertragsschluß regelmäßig zugrunde gelegten Vertragsbedingungen nicht halten zu wollen. Solche Vertragsbedingungen können in Gestalt von Allgemeinen Verkaufsbedingungen, Benutzungsbedingungen oder Transportbedingungen vorliegen. Verweigert der Vertragsinteressent von vornherein eine darin vorgesehene Pflicht zur Aufklärung, Auskunft, Anzeige, Mitwirkung oder Unterlassung bestimmter Handlungen, zeigt sich darin dessen fehlender Wille zur Vertragstreue. Das gleiche gilt für ein vorvertragliches Verhalten, das auf die künftige Nichtbeachtung sonstiger Schutzpflichten seitens des Vertragsinteressenten hindeutet. Der Kontrahierungspflichtige muß eine Ge-

19 20

Vgl. auch Gleiss, MDR 1952, 498, 500. Zum Aspekt der Zahlungsfähigkeit auch Hönn, Kompensation, S. 245.

II. Voraussetzung des allgemeinen

Kontrahierungszwangs

131

fährdung seiner sonstigen Rechtsgüter bei Abwicklung des Vertragsverhältnisses nicht hinnehmen. Unter den vorgenannten Voraussetzungen scheidet eine von der Rechtsordnung mit dem Mittel des Kontrahierungszwangs zu schützende Interessenverfolgung durch den Vertragsinteressenten aus. Der in der Person des Vertragsinteressenten vorhandene Wille zur Vertragstreue markiert die sachimmanente Grenze einer rechtlich zu legitimierenden, zwangsweisen Durchsetzung von Vertragsinteressen.

2. Abhängigkeit des Vertragsinteressenten von einem Anbieter a. Abhängigkeit im allgemeinen Das zu befriedigende und von der Rechtsordnung gebilligte Vertragsinteresse muß im Leistungsangebot des potentiellen Vertragspartners eine Entsprechung finden. Ob das Leistungsangebot dem zu befriedigenden Interesse entspricht, ist aus der Warte des Vertragsinteressenten zu beurteilen. Dazu bedarf es jedoch regelmäßig keiner weiteren Feststellung, wenn der Vertragsinteressent gerade wegen eines bestimmten Leistungsgegenstandes mit einem von ihm ausgewählten Anbieter kontrahieren will. Der Wunsch zu kontrahieren beinhaltet zugleich die Erklärung, daß Leistungsinteresse und Leistungsangebot aus Sicht des Vertragsinteressenten deckungsgleich sind. Allein die Möglichkeit zur Leistung und damit zur Befriedigung eines nachgefragten Vertragsinteresses kann jedoch den Eingriff in die Vertragsbegründungsfreiheit des Anbieters nicht rechtfertigen. Deren Suspendierung steht unter dem Vorbehalt der Funktionssicherung des Vertragsprozesses. Das verlangt von der Rechtsordnung, mit geringstmöglichen Eingriffen in den privatautonomen Rechtsgestaltungsfreiraum das notwendige Maß an privatautonomer Betätigung zu gewährleisten. 21 Da die Anordnung eines Abschlußzwanges der Sache nach der Sicherung der rechtlichen Betätigungsfreiheit des begünstigten Vertragsteils dient, 22 muß sie im Hinblick auf diese Zwecksetzung erforderlich sein. Es fragt sich also, ob der begünstigte Vertragsteil zur Befriedigung seines Leistungsinteresses zwingend auf den Vertragsschluß mit dem von ihm ausgewählten Vertragspartner angewiesen ist, also von ihm abhängig ist. Soweit das Vertragsinteresse in gleicher Weise durch Vertragsschluß mit einem anderen abschlußbereiten Anbieter befriedigt werden kann, widerspricht die Anordnung eines Kontrahierungszwangs dem Grundsatz der Funktionssicherung. Wer nicht bereit ist, mit einem abschlußbereiten Anbieter zu kontrahieren, weil die Marktbedingungen ungün-

21 22

Vgl. auch Kilian, AcP 180 (1980), 47, 80; Mestmäcker, JZ 1964, 441, 444. M. Wolf, JZ 1976, 41,43.

132

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Präponderanz

stig erscheinen, dem wird von der Vertragsrechtsordnung der Verzicht auf den Vertragsschluß zugemutet. 23 Die Sicherung der privatautonomen Betätigungsfreiheit des Vertragsinteressenten verlangt nur dann die Inpflichtnahme eines Anbieters, wenn die Inanspruchnahme der Vertragsfreiheit durch den Interessenten gerade an der fehlenden individuellen (konkreten) Leistungsbereitschaft des potentiellen Vertragspartners scheitert. Es geht um die Beschränkung der für den Anbieter real bestehenden Freiheit auf das Maß der von der Rechtsordnung zugestandenen Freiheit, um dem Vertragsinteressenten das von der Vertragsrechtsordnung als notwendig vorausgesetzte Maß an Freiheit zu gewährleisten. 24 Notwendig ist insoweit die Verschaffung von Vertragsmöglichkeiten, da ansonsten vertragliche Selbstbestimmung in einem dezentral-privatrechtlichen System nicht funktionieren kann. Der von der Anordnung eines Kontrahierungszwangs begünstigte Vertragsinteressent darf mithin zur Befriedigung seines Vertragsinteresses keine Ausweichmöglichkeit auf andere Anbieter haben. 25 Die Voraussetzungen, unter denen eine Ausweichmöglichkeit besteht, können angesichts des auf eine individuelle Bedürfnisbefriedigung zugeschnittenen Vertragsrechts nur anhand einer Einzelfallprüfung bestimmt werden. Dabei ist generell zwischen einer sachlichen (inhaltsbezogenen), einer räumlich-zeitlichen und einer konditionalen (entgeltbezogenen) Betrachtung zu unterscheiden. Die Abhängigkeit eines Vertragsinteressenten von einem Anbieter läßt sich insoweit mit hinreichender Gewißheit zumeist nur aufgrund einer statischen Betrachtung bezogen auf den Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs auf den Vertragsschluß konstatieren. Damit lassen sich jene Fälle vernünftig erfassen, in denen der Vertragsinteressent einen isolierten Vertragsabschluß begehrt. Vorsicht ist geboten, wenn in die Zukunft gerichtet fortlaufend Vertragsschlüsse verlangt werden. Da sich die tatsächlichen Umstände im Laufe der Zeit ändern können, wird die Feststellung der Abhängigkeit des Vertragsinteressenten mehr und mehr mit Prognoserisiken belastet. Je weiter der Vertragsanspruch in die Zukunft gerichtet und je unsicherer die Kontinuität der tatsächlichen Umstände ist, desto weniger wird sich eine Abhängigkeit für die Zukunft bejahen lassen.

23

Hönn, Kompensation, S. 117. Hönn, Jura 1984, 57, 69, spricht insoweit von einer Transferierung von Freiheitssphären. 25 Diesem Ansatz folgend auch Basedow, Transportvertrag, S.206; Grunewald, AcP 182 (1982), 181, 191, 194ff.; Hopt, S.375; Mertens, AcP 178 (1978), 227, 247; Rittner, AcP 188 (1988), 101, 132; U. Scholz, S. 270; ähnlich Bothe, S. 28; Müller, S. 45. 24

II. Voraussetzung des allgemeinen

Kontrahierungszwangs

133

b. Einzelne Formen der Abhängigkeit aa) Sachliche

Abhängigkeit

In sachlicher Hinsicht mögen neben dem Vertragsverweigerer andere abschlußwillige Anbieter mit gleichem Leistungsangebot vorhanden sein (Anbieter B bietet die von Anbieter A verweigerte Ware ebenfalls an) oder Anbieter, deren Angebot gleichwertig erscheint (Ware Y des Anbieters B ist der Ware X des vertragsverweigernden Anbieters A gleichwertig). Grundsätzlich gilt: Die Leistungen dieser Anbieter müssen unter Zugrundelegung des auf Nachfragerseite vorhandenen Leistungsinteresses austauschbar sein. 26 Stellt man allein auf die Beschaffenheit der Leistung ab, ist eine Ausweichmöglichkeit sowohl bei Gleichartigkeit der Angebote alternativer Anbieter gegeben (Ware X ist bei Anbieter A und B erhältlich) als auch bei Gleichwertigkeit der Angebote (Ware Y des Anbieters B befriedigt das Leistungsinteresse ebenso wie Ware X des Anbieters A). Diese eindimensionale Betrachtung kann sich durch Einbeziehung der räumlich-zeitlichen Nachfragesituation ändern. bb) Räumlich-zeitliche

Abhängigkeit

Bei räumlicher Betrachtung kommt es darauf an, ob eine vertragliche Ausweichmöglichkeit aus Sicht des am Vertragsschluß interessierten Nachfragers auch bei räumlich entfernten Anbietern gegeben ist. Diese Fragestellung läßt sich ebenfalls nicht von dem nachgefragten Vertragsgegenstand lösen und kann daher jeweils nur in bezug auf das konkret zu befriedigende Leistungsinteresse beantwortet werden. Bedeutsam ist insoweit die Art des geltend gemachten Vertragsinteresses. Zu fragen ist, ob das Vertragsinteresse auch bei räumlicher Entfernung eines alternativen Anbieters befriedigt werden kann. Eine Ausweichmöglichkeit auf räumlich entfernte Anbieter ist dem Grundsatz nach umso weniger anzunehmen, je bedeutsamer das nachgefragte Gut für die unmittelbare Lebensführung des am Vertragsschluß gehinderten Vertragsinteressenten ist. Generalisierende Aussagen lassen sich hier nur in sehr eingeschränktem Umfang treffen, da die Möglichkeit des Ausweichens im Einzelfall nicht nur davon abhängt, an welchem Ort der Schuldner seine Leistung zu erbringen hat, sondern auch davon, ob der Gläubiger die nötige Mobilität besitzt, um sich die Leistung gegebenenfalls bei einem Alternativanbieter zu besorgen. Bei lebensnotwendigen Gütern, die der Befriedigung unabweisbarer Bedürfnisse dienen, spielt zudem die Zeitspanne, binnen derer das nachgefragte Gut erlangt werden kann, neben der räumlichen Entfernung zu alternativen Anbietern eine wichtige Rolle für die Beurteilung der Ausweichmöglichkeit. Für den „berühmten" Lehrer im abgeschiedenen Gebirgs26 Auf das Leistungsinteresse des Nachfragers abstellend Bothe, S. 28; anders offenbar Nipperdey, Stromsperre, S.31, der objektivierend eine Bewertung der Bedürfnisse anhand wirtschaftlicher, kultureller und hygienischer Erfordernisse vornimmt.

134

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Präponderanz

tal, der von dem ortsansässigen Metzger nicht beliefert wird, 27 stellt die Möglichkeit des Vertragsschlusses mit einem anderen Metzger in der nur binnen Tagesfrist zu erreichenden nächsten Ortschaft keine Vertragsalternative dar. Das gilt jedenfalls für den Regelfall, in dem ein derartiges Schuldverhältnis als Holschuld ausgestaltet ist. Anders mag der Sachverhalt zu beurteilen sein, wenn die Anbieter ihre Leistungen durch Versendungskauf zu erbringen pflegen oder eine Bringschuld vereinbart wird und die rechtzeitige Erbringung der Leistung sichergestellt ist. Handelt es sich dagegen um Vertragsinteressen, deren Befriedigung für die unmittelbare Lebensführung nicht essential ist, so spielen längere Beschaffungswege und -Zeiten für den Vertragsinteressenten keine oder eine nur stark untergeordnete Rolle. Das gilt insbesondere für Luxusgüter, die für die Lebensführung an sich überflüssig sind, in eingeschränktem Umfang aber auch für Güter, die zwar nicht lebensnotwendig sind, aber für die Lebensführung als üblich angesehen werden. cc) Konditionale

Abhängigkeit

Schließlich ist zu bedenken, daß die Abhängigkeit eines Nachfragers von einem bestimmten Anbieter nicht nur durch sachliche und räumlich-zeitliche Aspekte ausgelöst wird, sondern auch durch die Konditionen, zu denen mögliche Vertragsalternativen zu erlangen sind. Die Vertragsalternativen werden dabei von unterschiedlichen Faktoren bestimmt. Zu nennen ist zunächst das vertragliche Entgelt, das als Gegenwert für die Ware oder Leistung selbst zu entrichten ist. Immer dann, wenn das nachgefragte Gut bei einem alternativen Anbieter zu erwerben ist, der jedoch einen höheren Preis verlangt als sonst regelmäßig der Vertragsverweigerer, oder wenn zwar nicht das nachgefragte Gut aber doch ein gleichwertiges Gut zu einem im Vergleich zum eigentlich nachgefragten Gut höheren Preis angeboten wird, stellt sich die Frage, ob trotz sachlicher Austauschbarkeit der Angebote dennoch eine Abhängigkeit von dem günstiger anbietenden Vertragsverweigerer besteht. Daneben können sonstige Vertragskosten (Wegekosten, Frachtkosten, Informationskosten) entstehen, die das Alternativangebot auch bei sonst identischem Preis ungünstiger erscheinen lassen. Je niedriger der Preis für die nachgefragte Leistung selbst ist, umso mehr fallen die bei Vertragsdurchführung entstehenden Vertragskosten ins Gewicht. Während für die Klärung der sachlichen Austauschbarkeit aufgrund des vom Vertragsinteressenten formulierten Vertragsinteresses relativ abgesicherte Kriterien zur Verfügung stehen, ergeben sich bei der Prüfung der konditionalen Ausweichmöglichkeit stärker noch als bei der räumlich-zeitlichen Betrachtung erhebliche Wertungsspielräume. Abgesehen davon, daß auch insoweit immer nur eine Einzelfallbetrachtung möglich ist, sind die Kriterien dafür aus der Funktion des 27

So das bekannte Beispiel von Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 61.

II. Voraussetzung

des allgemeinen

Kontrahierungszwangs

135

allgemeinen Kontrahierungszwangs im Gesamtgefüge der Vertragsrechtsordnung abzuleiten. Es geht dabei, wie an anderer Stelle schon dargelegt, um die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rechtsgeschäftsordnung. Diese enthält für das einzelne Rechtssubjekt jedoch keine materielle Interessendurchsetzungsgarantie. Die Rechtsordnung beschränkt sich vielmehr darauf, das technische Instrumentarium bereitzustellen, mit dessen Hilfe der Einzelne seine Interessen in rechtlich anerkannter und substantieller Form wahrnehmen kann. Inwieweit das gelingt, hängt von der Aushandlung der Vertragsbedingungen mit dem Kontrahenten ab. Funktion des Kontrahierungszwangs ist es insoweit allein, die Verweigerung des Vertragsabschlusses durch den potentiellen Kontrahenten zu überwinden. Mit dem allgemeinen Kontrahierungszwang werden nur Inhalt und Grenzen der negativen Vertragsfreiheit konkretisiert, jedoch keine zwingenden inhaltlichen Vertragsfestlegungen getroffen. Daraus folgt für die Feststellung der konditionalen Ausweichmöglichkeit, daß diese nicht notwendig deshalb entfällt, weil die von einem Anbieter verweigerte Leistung oder eine gleichwertige Leistung von einem anderen Anbieter nur zu einem höheren Preis offeriert wird. Aus dem vertraglichen Selbstbestimmungsprinzip läßt sich ein Anspruch auf Abschluß eines Vertrages zu ganz bestimmten Bedingungen, etwa denjenigen, die der Vertragsverweigerer ansonsten regelmäßig vereinbart, nicht ableiten. Die Aushandlung des Vertragsinhalts wird lediglich durch die äußeren Grenzen der Vertragsfreiheit beschränkt. Diese sind allerdings für die Frage, ob in konditionaler Hinsicht eine Ausweichmöglichkeit besteht, ohne Aussagekraft. Wie eine Betrachtung des zu § 138 Abs. 2 BGB vorliegenden Fallmaterials zeigt, 28 werden von Nachfragern offenbar selbst Leistungen zu Preisen, die in einem auffälligen Mißverhältnis zur Gegenleistung stehen, als Vertragsalternativen wahrgenommen, ohne daß insoweit ein subjektiver Defekt iSv. § 138 Abs. 2 BGB vorliegt. Die Rechtsordnung respektiert dies vielmehr im Hinblick auf die Privatautonomie der Vertragssubjekte. Es ist dem einzelnen Rechtssubjekt unbenommen, etwa aufgrund eines irrationalen Affektionsinteresses einen überhöhten Preis zu zahlen. Auch aus diesem Grunde verbietet sich eine generalisierende, von dem Begehren des Vertragsinteressenten losgelöste Betrachtungsweise. Andererseits wird ein im Vergleich zur verweigerten Leistung gleichartiges oder gleichwertiges Angebot auch diesseits der Schwelle zu einem auffälligen Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung häufig schon nicht mehr als alternatives Angebot wahrgenommen werden. Das ist der Fall, wenn der Nutzen des zu erlangenden Gutes dem Nachfrager im Verhältnis zu der dafür aufzubringenden Gegenleistung derart gering 28 Vgl. nur BGH DNotZ 1977, 102 (Liebhaberpreis für Grundstück in Naturschutzgebiet); BGH NJW-RR 1990, 950 (Verkaufeines Grundstücks im Wert von 64.480,- für 138.000,- DM); BGH DB 1976, 573 f. (Fünffaches der üblichen Maklerprovision); BGH NJW 1979, 758f. (Spielgerät für 2 1/2-faches des Verkehrswertes); LG Nürnberg-Fürth BB 1973, 777 f. (Dreifaches des üblichen Werklohns); LG Trier, NJW 1974,151 f. (Übersteigung des üblichen Kaufpreises um 300 bzw. 155 %).

136

§ 5 Allgemeiner

Kontrahierungszwang

und

Präponderanz

erscheint, daß er seine ursprüngliche Vertragspräferenz zugunsten der Befriedigung eines anderen Bedürfnisses aufgibt. Das auf den subjektiven Bedürfnispräferenzen basierende Kriterium der Nutzenmaximierung gibt insoweit einen tragfähigen Beurteilungsmaßstab dafür ab, ob aus Sicht des Nachfragers ein sachlich austauschbares Angebot auch in konditionaler Hinsicht als alternatives Angebot angesehen wird. dd) Folgerungen Zusammenfassend gilt, daß eine Abhängigkeit des Vertragsinteressenten von einem bestimmten Anbieter immer dann besteht, wenn es an einer zureichenden Ausweichmöglichkeit auf ein alternatives Angebot fehlt. Dazu muß eine Vertragsalternative in sachlicher, räumlich-zeitlicher und konditionaler Hinsicht bestehen. Für die Praxis ist insoweit die Feststellung der sachlichen Ausweichmöglichkeit von wesentlicher Bedeutung. Auf sie kommt es zunächst an, da Aussagen zur räumlich-zeitlichen und konditionalen Ausweichmöglichkeit nur im Hinblick auf eine konkrete sachliche Vertragsalternative getroffen werden können. Ohne sachliche Vertragsalternative bedarf es einer Erörterung der anderen Gesichtspunkte nicht. Soweit eine sachliche Ausweichmöglichkeit besteht, also regelmäßig auf nicht-monopolisierten Märkten, wird diese im übrigen auch in räumlichzeitlicher und konditionaler Hinsicht eine Vertragsalternative darstellen. Gegenteiliges kann für sachliche Märkte gelten, die der Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse dienen. Hier kann trotz sachlicher Ausweichmöglichkeit eine Vertragsalternative zu verneinen sein, sofern die räumliche Entfernung zwischen Alternativanbieter und Nachfrager eine zeitnahe Bedürfnisbefriedigung ausschließt. Praktisch am wenigsten bedeutsam erscheint der Aspekt konditionaler Abhängigkeit, da es von vornherein nicht im Interesse möglicher Alternativanbieter liegt, ihren Markterfolg durch eine prohibitiv hohe Preisstellung zu schmälern. Allerdings ist es in Ausnahmefällen denkbar, daß bei räumlich entfernten Anbietern die Höhe der „sekundären" Vertragskosten zu einer Verneinung der Ausweichmöglichkeit führt.

3. Vertragsgeneigtheit des Anbieters Dem inhaltlich konkretisierten Vertragsinteresse des abgewiesenen Nachfragers steht das jedenfalls für den konkret nachgefragten Vertragsschluß fehlende Vertragsinteresse des Anbieters gegenüber. Im Hinblick auf eine an der Funktionssicherung der Vertragsfreiheit orientierte Bewertung dieser gegenläufigen Interessen ist, wie bereits ausgeführt, zunächst davon auszugehen, daß diese weder zu einer vollständigen Aufhebung der positiven Vertragsfreiheit des Nachfragers noch zu einer gänzlichen Suspendierung der negativen Vertragsfreiheit des

11. Voraussetzung des allgemeinen

Kontrahierungszwangs

137

Anbieters führen darf. Für die Anbieterseite bedeutet das: Diejenigen Rechtssubjekte, die das nachgefragte Interesse an sich befriedigen können, aber keine Vertragsinteressen verfolgen wollen und daher generell nicht abschlußwillig sind, dürfen unter dem Primat der Privatautonomie nicht in einen Vertrag gezwungen werden. Es ist mit der dem Gedanken der Privatautonomie verpflichteten Vertragsrechtsordnung des BGB nicht vereinbar, Personen, die in keiner Beziehung abschlußwillig sind, einen Kontrahierungszwang aufzuerlegen und sie damit für Fremdinteressen des Vertragskontrahenten in Anspruch zu nehmen. Die negative Vertragsbegründungsfreiheit genießt insoweit absoluten Schutz, da die Rechtsordnung das in jeglicher Hinsicht fehlende Vertragsinteresse zu respektieren hat und abschlußwillige Vertragsinteressenten für die Verwirklichung ihrer Vertragsziele auf vertragsgeneigte Anbieter verweisen muß. Die dem Gesetzgeber und Rechtsanwender obliegende Aufgabe der Funktionssicherung der Vertragsfreiheit greift erst dann ein, wenn es allseitig durch das Recht zur Geltung zu bringende Vertragsinteressen gibt. Gerade daran fehlt es, wenn ein Rechtssubjekt generell abschlußunwillig ist, also nicht bereit ist, dem Publikum überhaupt Leistungen anzubieten. Die Vertragsverweigerung als solche vermag als Ausfluß der negativen Vertragsfreiheit einen Kontrahierungszwang nicht auszulösen. Anders verhält es sich allerdings, wenn ein Rechtssubjekt zwar grundsätzlich zum Abschluß von Rechtsgeschäften geneigt ist, es jedoch ablehnt, mit einem ganz bestimmten Vertragsinteressenten zu den üblichen oder anderen Bedingungen abzuschließen. Ausschlaggebend für die abweichende Behandlung dieser Fälle ist, wie Franz Bydlinski zutreffend bemerkt, „daß ein bestimmter Wille generell geäußert und zur Grundlage von generellen Erwartungen anderer Verkehrsteilnehmer wird." 29 Bei der Vertragsgeneigtheit des Anbieters handelt es sich insoweit um eine subjektive Voraussetzung des allgemeinen Kontrahierungszwangs, auf deren Vorliegen anhand des anbieterseitigen Verhaltens zu schließen ist. Die Vertragsgeneigtheit darf daher nicht mit dem objektiven Erklärungstatbestand einer Willenserklärung gleichgesetzt werden. Schon gar nicht resultiert aus der Vertragsgeneigtheit des Anbieters eine unmittelbare Bindung gegenüber einzelnen Vertragsinteressenten. Das ist auch deshalb ausgeschlossen, weil der allgemeine Kontrahierungszwang nicht allein durch das Merkmal der Vertragsgeneigtheit konditioniert ist. Die subjektive Vertragsgeneigtheit des Anbieters kann sich insoweit nach außen hin in der Eingehung gleichartiger Verträge mit anderen Vertragsinteressenten, in der Aufforderung, Angebote abzugeben, dem Angebot von Waren oder Dienstleistungen oder im Abbruch vorangegangener Vertragsverhandlungen ma29 Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 39 (Hervorhebung im Original); vgl. auch dens., FS Klecatsky, S. 129, 139; dens., System, S. 180; Basedow, Transportvertrag, S. 206; Medicus, Schuldrecht AT, § 11 IV (Rn. 84); Otto, S. 151.

138

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Präponderanz

nifestieren. Dagegen reicht die bloße Eröffnung eines Geschäftsbetriebs regelmäßig nicht aus, da insoweit zwar möglicherweise das Güter- und Leistungsangebot der Gattung nach festgelegt ist, aber für den konkreten Vertragsschluß, den es zu betrachten gilt, noch unbestimmt bleibt. Die Bestimmtheit des Leistungsangebots ist für die Feststellung der Vertragsgeneigtheit jedoch schon deshalb von Bedeutung, weil der Kontrahierungszwang immer nur im Hinblick auf ein nachgefragtes und somit fest umrissenes Leistungsinteresse ausgesprochen werden kann. Trifft dieses auf einen diesbezüglich vertragsgeneigten Anbieter, sind allseitige Vertragsinteressen vorhanden, die von den beteiligten Rechtssubjekten kraft ihres rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmungsrechts nur deshalb nicht in einen konkreten Vertragserfolg umgesetzt werden können, weil sich die eine Person gerade der anderen verweigert. Das Vorhandensein allseitiger Vertragsinteressen berechtigt die Rechtsordnung nach dem Inhalt des vertraglichen Selbstbestimmungsprinzips „optimierend" auf den „gehemmten" Vertragsprozeß einzuwirken: Die Vertragsfreiheit konstituiert nicht allein den privatautonomen Betätigungsrahmen für einzelne Rechtssubjekte, sondern dient der Zusammenführung der Interessen verschiedener Rechtssubjekte. Diese immanente Bindung ist der Vertragsfreiheit als solcher, aber ebenso ihren einzelnen Ausübungsformen zu eigen und beherrscht folglich auch die Vertragsbegründungsfreiheit. Diese Bindung hat allerdings Grenzen, die sich ebenfalls aus der Vertragsfreiheit ergeben. Danach muß jedem Rechtssubjekt trotz der immanenten Bindung jedenfalls ein Kernbereich privatautonomer Betätigung verbleiben. Für die Vertragsbegründungsfreiheit bedeutet das mit anderen Worten: Dem einzelnen Rechtssubjekt dürfen keine Vertragsinteressen aufgezwungen werden, wohl aber darf die Rechtsordnung mehrseitig vorhandene Vertragsinteressen gestalten, wenn das im Interesse einer Funktionssicherung der Vertragsfreiheit notwendig ist, wenn also der Nachfrager auf andere Weise (fehlende Ausweichmöglichkeit) sein Vertragsinteresse nicht zu befriedigen vermag. Unter diesen Umständen ist es hinnehmbar, das die Rechtsordnung unter Anordnung eines Kontrahierungszwanges die Verpflichtung zum Vertragsschluß im Interesse der Vertragsinteressenten anordnet. Es geht um die Einengung des Verhaltensspielraums des einen Teils auf das gesetzlich vorgesehene Maß, um den Verhaltensspielraum der anderen Partei zu sichern. 30 Der allgemeine Kontrahierungszwang ist ultima ratio für den Fall, daß die Privatrechtssubjekte zu gegenseitiger Interessenverfolgung eigenverantwortlich nicht in der Lage sind. Insoweit gilt auch im Vertragsrecht das „Subsidiaritätsprinzip" als Ausdruck umfassender Gewaltenteilung in der Sozietät. 31 30 M. Wolf, JZ 1976,41, 43, spricht diesbezüglich von einer „Verlagerung von Freiheitsspielräumen"; ebenso Kilian, AcP 180 (1980), 47, 67; unpräzise Zürcher, S. 74, da Ziel entgegen seiner Auffassung nicht die Einengung der nur wechselseitig garantierten Vertragsfreiheit ist, sondern deren Sicherung. 31 Dazu Bydlinski, Privatrecht im Rechtssystem, S. 68 f.

III. Zusammenfassung

139

4. Leistungsfähigkeit des Anbieters Unabhängig von der Bedeutung des Vertragsinteresses ist die vertragsrechtliche Inpflichtnahme eines zwar generell vertragsgeneigten, aber im konkreten Fall nicht abschlußbereiten Anbieters mit dem Institut der Vertragsfreiheit jedoch nur vereinbar, wenn dieser zugleich auch leistungsfähig ist. 32 Sowenig es der Struktur eines allgemeinen, die Grundsätze der Vertragsfreiheit optimierenden Kontrahierungszwangs entspricht, nicht vertragsgeneigte Rechtssubjekte gegen ihren von der Rechtsordnung anerkannten Willen in einen Vertrag zu zwingen, so widerspricht dem ein Abschlußzwang bei fehlender Leistungsfähigkeit des Anbieters. Die Vertragsgeneigtheit eines Anbieters basiert regelmäßig auf seiner Leistungsfähigkeit. Die Verpflichtung zum Vertragsschluß ist daher jeweils durch die Leistungsfähigkeit des Anbietenden begrenzt. Regelmäßig wird dieser daher nur aus einem vorhandenen Vorrat zu leisten haben, es sei denn, er läßt eine weitergehende Leistungsfähigkeit erkennen.

III.

Zusammenfassung

1. Unter den vorangestellten Prämissen ist ein gesetzlich vermittelter allgemeiner Kontrahierungszwang, der auf die Begründung eines Schuldverhältnisses durch Privatrechtssubjekte gerichtet ist, nicht nur mit dem im Vertragsrecht herrschenden Gedanken der Selbstbestimmung vereinbar, sondern im Interesse der Funktionssicherung der Vertragsfreiheit von der Rechtsordnung geboten. Es trifft daher nicht zu, wenn ohne weitere Differenzierung behauptet wird, die Vertragsfreiheit werde „durch das Gebot des Vertragszwanges in vollem Umfange ausgeschlossen." 33 Diese Sichtweise vernachlässigt, daß es sich bei der in Gestalt der Vertragsfreiheit von der Rechtsordnung anerkannten Privatautonomie von vornherein um eine gebundene Freiheit handelt. Die Inanspruchnahme der Vertragsfreiheit durch den einen Vertragsteil ist bedingt durch die Inanspruchnahme eben dieser Vertragsfreiheit durch den anderen Vertragsteil, da der Vertrag als Ausdruck zwei- oder mehrseitiger Willensübereinstimmung keine einseitige Selbstbestimmung eines Vertragspartners zuläßt. 34 Die aus dem Selbstverwirklichungsbedürfnis des Individuums abgeleitete Rechtsidee der Selbstbestimmung ist der Natur der Sache nach im Vertragsrecht nicht in absoluterWeise verwirklicht, sondern nur auf Gegenseitigkeit verbürgt. Soweit daher der gesetzlich vermittelte allgemeine Kontrahierungszwang der Sicherung der Vertragsfreiheit dient, optimiert er das Vertragsrecht im Sinne des Gedankens allseitiger Selbstbestimmung. 32 33 34

Hönn, Kompensation, S. 188; M. Wolf, JZ 1976, 41, 42. R. W. Müller, S.53. Becker, DZWir 1994, 397, 401.

140

§ 5 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Präponderanz

Allein dieser nachfolgend sogenannte freiheitssichernde Kontrahierungszwang ist mit dem System des BGB-Vertragsrechts vereinbar, das von dem Vorrang der Selbstbestimmung beherrscht wird. Mit der Anordnung des Kontrahierungszwangs soll die auf den Vertragsprozeß angewiesene Interessenverwirklichung der Parteien gegenseitig gesichert werden. Es handelt sich nicht eigentlich um eine Begrenzung der Vertragsfreiheit, sondern vielmehr um eine inhaltliche Konkretisierung des Vertragsbegriffs 35 und damit um die Sicherung des Vertrages als Rechtsinstitut. Aus den Voraussetzungen des allgemeinen Kontrahierungszwangs ergeben sich Inhalt und Grenzen der negativen Vertragsbegründungsfreiheit. 2. Das allgemeine Vertragsrecht des BGB trägt dagegen keinen Kontrahierungszwang, über den Drittinteressen in den Vertrag eingeführt werden, soweit deren Berücksichtigung nicht auf den Willen der Vertragsparteien zurückgeht (vgl. § 328 BGB). Drittinteressen können dabei solche von Individuen sein, die außerhalb des Vertrages stehen, aber auch solche, die sich als staatliche Interessen bezeichnen lassen (Gemeinwohl, Volksgesundheit, Daseins Vorsorge). Die Form des Kontrahierungszwangs, der einer Inpflichtnahme der Vertragschließenden für außerhalb ihrer Interessen liegende Ziele dient, kann als „gemeinwohlverpflichteter" Kontrahierungszwang bezeichnet werden. Der gemeinwohlverpflichtete Kontrahierungszwang folgt nicht der Rechtsidee der Selbstbestimmung, sondern ist vornehmlich Ausdruck des Prinzips der Gerechtigkeit. Soweit es die Vertragsfreiheit anbetrifft, ist diese aus dem Prinzip der Selbstbestimmung abgeleitet und nicht aus der Gerechtigkeitsidee. Beide Prinzipien schließen sich nicht notwendig gegenseitig aus, jedoch wird die Anwendung des einen Prinzips die Verwirklichung des anderen regelmäßig erschweren und dessen Durchsetzung beeinträchtigen. Die Anwendung des gemeinwohlverpflichteten Kontrahierungszwangs geht daher regelmäßig mit einer Beschränkung, im äußersten Fall mit einem Ausschluß der Vertragsfreiheit einher. Das hängt jeweils davon ab, inwieweit sich die Vertragsparteien mit dem ihnen oktroyierten Vertragsziel noch identifizieren können. Jedenfalls steht der gemeinwohlverpflichtete Kontrahierungszwang im Gegensatz zum Prinzip vertraglicher Selbstbestimmung. Er kann daher aus dem allgemeinen Vertragsrecht des BGB, das auf diesem Prinzip aufbaut, nicht erklärt werden. Die Erscheinungsform des gemeinwohlverpflichteten Kontrahierungszwangs bedarf daher eines besonderen gesetzlichen Fundaments. Mit den Begriffen des „freiheitssichernden" und des „gemeinwohlverpflichteten" Kontrahierungszwangs ist ein erster Ansatz für eine Funktionsanalyse des Kontrahierungszwangs basierend auf der Zuordnung der Rechtsfigur zur Rechtsidee der Selbstbestimmung bzw. zur Rechtsidee der Gerechtigkeit gefunden. 3. Als Ergebnis der vorstehenden Überlegungen bleiben vier strukturbestimmende Voraussetzungen für die Anordnung eines allgemeinen freiheitssichernden Kontrahierungszwangs festzuhalten: Zu ihnen gehören 35

Zürcher, S. 97.

III.

Zusammenfassung

141

- die Verfolgung rechtlich geschützter Interessen durch den Vertragsinteressenten - die Abhängigkeit des Vertragsinteressenten von einem Anbieter - die Vertragsgeneigtheit des Anbieters und - die Leistungsfähigkeit des Anbieters. Um deutlich zu machen, daß eine individuelle Vertragsverweigerung den allgemeinen Kontrahierungszwang nur bei Vorliegen aller vier genannten Strukturmerkmale auszulösen vermag, werden diese fortan unter dem Begriff „qualifizierte Vertragsverweigerung" zusammengefaßt. Der allgemeine Kontrahierungszwang ist die Antwort der Vertragsrechtsordnung auf eine qualifizierte Vertragsverweigerung; ein allgemeiner Kontrahierungszwang wird nicht schon durch „erstes Anfordern" des Vertragsinteressenten ausgelöst.

§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang und Anspruchssystem des BGB Nachdem es zuvor darum ging, die Strukturen eines freiheitssichernden Kontrahierungszwangs aufzuzeigen, gilt es nunmehr, die Herleitung dieses allgemeinen Kontrahierungszwangs aus den Normen des Zivilrechts zu untersuchen. Die Überlegungen zu den Strukturen eines vertragsoptimierenden Kontrahierungszwangs haben bisher nur gezeigt, daß eine derartige Form der Verpflichtung zum Vertragsschluß trotz der damit verbundenen Beschränkung der Vertragsbegründungsfreiheit einzelner Privatrechtssubjekte mit dem Prinzip der Privatautonomie und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Vertragsfreiheit in Einklang gebracht werden kann. Es hat sich zugleich aber auch bereits gezeigt, daß ein allgemeiner Kontrahierungszwang unter dem Primat der Privatautonomie nur unter eng begrenzten Voraussetzungen überhaupt in Betracht kommt. Das besagt allerdings noch nichts darüber, ob ein derartiger Kontrahierungszwang tatsächlich auch de lege lata im Anspruchssystem der Privatrechtsordnung positiv verankert ist. Die geltende Vertragsrechtsordnung wie auch die allgemeine Privatrechtsordnung insgesamt enthält sich zumindest der ausdrücklichen Anordnung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs. Eine primäre Rechtspflicht zum Kontrahieren wie umgekehrt ein Primäranspruch auf Vertragsschluß existiert nicht, da dies, wie bereits ausgeführt wurde, mit dem Grundsatz der Vertragsbegründungsfreiheit nicht vereinbar ist. Der allgemeine Kontrahierungszwang folgt vielmehr erst aus dem Fehlschlagen einer vorangegangenen Vertragsanbahnung, wenn diese die Merkmale einer qualifizierten Vertragsverweigerung aufweist. Damit trägt der allgemeine Kontrahierungszwang nach überkommener Vorstellung Züge der Schadenswiedergutmachung und ist als solcher ultima ratio der durch das Recht vermittelten Selbstbestimmung, wenn von der dadurch anerkannten Form der Interessenwahrnehmung in anderer Form nicht Gebrauch gemacht werden kann. Zu untersuchen sind im folgenden mögliche rechtliche Anknüpfungspunkte des allgemeinen Kontrahierungszwangs in der Privatrechtsordnung. Dabei geht es zunächst - im Lichte der Überlegungen zu den vertragsrechtsimmanenten Strukturen eines allgemeinen Kontrahierungszwangs - um eine kritische Bestandsaufnahme der tradierten Lösungsvorschläge, ausgehend von der Herleitung des Kontrahierungszwangs aus dem System des Schadensersatzrechts.

I. Kontrahierungszwang

I. Kontrahierungszwang

im System des

Schadensersatzrechts

im System des

143

Schadensersatzrechts

1. Kontrahierungszwang aufgrund der Verletzung vorvertraglicher Pflichten a. Voraussetzungen und Rechtsfolgen der c.i.c. Aus dem Grundsatz der Vertragsbegründungsfreiheit folgt, daß jeder Vertragsinteressent mit anderen Vertragsinteressenten in Vertragsverhandlungen eintreten kann. Das Eintreten in Vertragsverhandlungen begründet per se weder einen Anspruch auf Abschluß eines bestimmten Vertrages, 1 noch kann ein Vertragsinteressent daraus im Falle des Scheiterns der Verhandlungen einen Anspruch auf Schadensersatz ableiten. Dies folgt aus dem Umstand, daß die Vertragsrechtsordnung des BGB mit dem Institut des Vertrages zwar ein Mittel zur rechtlich geordneten Interessenverfolgung bereitstellt, damit aber nur die Möglichkeit zur Interessendurchsetzung schafft. Es ist daher nur folgerichtig, wenn das BGB im Gegensatz zum Allgemeinen Preußischen Landrecht keine ausdrückliche Vorschrift über die Haftung für Verschulden bei Vertragsschluß enthält. 2 Andererseits resultiert aus dem sozialen Kontakt anläßlich von Vertragsverhandlungen, der in der Struktur des Vertrages als mehrseitigem Interessenverfolgungsmechanismus begründet liegt, eine vorvertragliche Interessenstruktur, die von den Vertragsprätendenten gegenseitige Respektierung und Rücksichtnahme fordert. 3 Über die reine Sozialbeziehung hinaus besteht insoweit ein Verkehrsbedürfnis, den geschäftlichen Kontakt auch rechtlich zu schützen. Eine etwaige Haftung aus geschäftlichem Kontakt kann jedoch nur unter Beachtung des Vorrangs vertragsrechtlicher Selbstbestimmung etabliert werden und darf nicht zu einer Aufhebung der Vertragsbegründungsfreiheit, zu einem „wirtschaftlichen Kontrahierungszwang", führen. 4 Das BGB selbst enthält eine Reihe von Vorschriften (§§ 122, 179, 307, 309, 463 S. 2, 663, 694), die in anderem Zusammenhang eine Haftung für die Inanspruchnahme von Vertrauen bei Vertragsschluß anordnen, ohne daß es in allen Fällen zwingend zu einem wirksamen Vertragsschluß gekommen sein muß. Diese Vorschriften bestätigen, daß dem auf privatautonome Betätigung angelegten Vertragsrecht der Gedanke des Vertrauensschutzes an sich nicht fremd ist. Rechtsprechung und Rechtslehre waren daher nicht gehindert, in Ergänzung des geschriebenen Rechts eine Haftung für Verschulden bei Vertragsschluß (culpa in contra1

Dazu etwa Flume, Allgemeiner Teil II, § 15 III 4 c dd (S. 283). Nach A L R I , 5 § 284 war bestimmt, daß „was wegen des bei Erfüllung des Vertrages zu geltenden Grades der Schuld Rechtens ist, auch für den Fall gilt, wenn einer der Kontrahenten bei Abschließung des Vertrages die ihm obliegenden Pflichten vernachlässigt hat." 3 Vgl. nur Küpper, S. 144 f.; Lorenz, Lehrbuch des Schuldrechts, S. 106. 4 Kotz, Europäisches Vertragsrecht I, S. 51. 2

144

§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Anspruchssystem des BGB

hendo) zu entwickeln, die auf der Aufnahme von Vertragsverhandlungen und der Verletzung verkehrsüblicher Sorgfalt im Verhalten gegenüber dem Geschäftsgegner beruht. 5 Mit Recht hat das Reichsgericht ausgeführt, es sei „kein stichhaltiger Grund erkennbar, weshalb die Vertragsparteien beim Vertragsschluß einander zu einer geringeren Sorgfalt verpflichtet sein sollten als nach Vertragsabschluß." 6 Das durch die Aufnahme geschäftlichen Kontakts begründete und mittlerweile gewohnheitsrechtlich anerkannte gesetzliche Schuldverhältnis der c.i.c. führt einerseits zu einer Haftung auf das Integritätsinteresse bei Verletzung von Schutzund Erhaltungspflichten. Andererseits besteht entsprechend seiner Ableitung aus vertrauensschützenden Vorschriften des BGB bei pflichtwidriger Veranlassung zum Vertragsschluß oder Enttäuschung von Vertrauen in das Zustandekommen eines Vertrages regelmäßig eine Haftung auf das Vertrauensinteresse, 7 die nach im einzelnen bestrittener Auffassung jedoch der Höhe nach nicht notwendig auf das Erfüllungsinteresse begrenzt ist. 8 Dem je nach dem haftungsbegründenden Tatbestand unterschiedlichen Haftungsumfang, entweder auf das Integritätsinteresse oder das Vertrauensinteresse, korrespondieren unterschiedliche Verhaltensanforderungen. Während ein Vertrauen der Verkehrsbeteiligten in die Beachtung von Schutz- und Erhaltungspflichten regelmäßig bereits durch die Eröffnung eines Geschäftsverkehrs wie etwa den Betrieb eines Ladenlokals oder durch externe gewerbliche Betätigung begründet wird, verlangt die Haftung bei pflichtwidriger Veranlassung zum Vertragsschluß oder Enttäuschung von Vertrauen in das Zustandekommen eines Vertrages nach einem engeren geschäftlichen Kontakt. Das die Haftung begründende Vertrauen kann sich in diesem Zusammenhang nur aus vorangegangenen Vertragsverhandlungen ergeben, die selbst wiederum eine bestimmte Intensität erreicht haben. Hieraus mag der eine Vertragsteil entweder seinen - später - enttäuschten Entschluß zum Vertragsschluß bezogen oder die sichere Erwartung eines dann doch nicht zustande gekommenen Vertragsschlusses abgeleitet haben. In die zuletzt beschriebene Fallgruppe des enttäuschten Vertrauens in das Zustandekommen eines Vertrages gehören jene Sachverhalte, die durch den abrupten („willkürlichen") Abbruch von Vertragsverhandlungen gekennzeichnet sind. 5

Vgl. RGZ 95, 58, 60; 107, 357, 362; 120, 249, 251; 162, 129, 156; B G H Z 6 , 330, 333; 66, 51, 54; anders noch RGZ 88, 103, 1 0 5 ; R G J W 1916, 116 Nr. 3; mit Begrenzung auf die Fälle eines unwirksamen Vertragsschlusses bereits Ihering, IherJb 4 (1861), 1 ff.; aus dem Schrifttum vgl. noch Stoll, LZ 1923, Sp. 532 ff. 6 RGZ 95, 58, 60. 7 RGZ 120,249,251. 8 RGZ 151, 357, 359 f.; BGHZ 57, 191, 193; 69, 53, 56; Geratener, Schuldverhältnis, § 8 I V 2 (S. 202 ff.); Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, S. 112; Palandt-Heinrichs, § 276, Rn. 100; Reinicke, DB 1967, 109, 110; aA für die Fälle der Enttäuschung von Vertrauen in das Zustandekommen des Vertrages etwa Emmerich, Münch.Komm BGB, Vor § 275 Rn. 165; Freudling, JuS 1984, 193, 196; Kaiser, JZ 1997, 448, 453; Reinicke/Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1096; StaudingerLöwisch, 13. Bearb. 1995, Vorbem. zu §§ 275 ff., Rn. 76.

I. Kontrahierungszwang

im System des

Schadensersatzrechts

145

b. Kontrahierungszwang als Folge willkürlichen Abbruchs von Vertragsverhandlungen Die Fallgruppe des willkürlichen Abbruchs von Vertrags verhandlungen weist auf den ersten Blick Parallelen zu den im vorangegangenen Kapitel (§ 5) herausgearbeiteten Strukturen eines allgemeinen Kontrahierungszwangs auf. Der Abbruch von Vertragsverhandlungen ist nichts anderes als die Verweigerung eines Vertragsschlusses, die von einem offenbar potentiell vertragsgeneigten und leistungsfähigen Anbieter ausgeht. Das NichtZustandekommen des Vertrages bedeutet für den Vertragsinteressenten darüber hinaus nicht nur die Enttäuschung von Vertrauen, sondern auch den Verlust einer Möglichkeit, seine Vertragsinteressen gerade in einem Vertrag mit dem „Verweigerer" zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst plausibel, wenn in diesen Fällen enttäuschten Vertrauens auch eine Haftung auf Vertragsschluß und damit auf Erfüllung 9 oder jedenfalls doch auf das Erfüllungsinteresse befürwortet wird, vorausgesetzt, der Vertrag wäre ohne das zum Schadensersatz verpflichtende Verhalten zustande gekommen. 10 Diese Betrachtungsweise führt über die Verpflichtung zur Naturalrestitution nach § 249 S. 1 BGB zumindest „wirtschaftlich" zur Annahme eines Kontrahierungszwangs aus culpa in contrahendo. 11 c. Kritik So plausibel eine Schadensersatzhaftung auf den Vertragsschluß unter den genannten Voraussetzungen zunächst auch erscheinen mag, so wenig steht dieses Ergebnis doch vollends in Übereinstimmung mit der Struktur des allgemeinen Kontrahierungszwangs. Soweit nämlich eine Haftung auf den Vertragsschluß allein aufgrund des willkürlichen Abbruchs von Vertragsverhandlungen befürwortet wird, beinhaltet das eine gesetzliche Verpflichtung unabhängig davon, ob der Vertragsinteressent überhaupt auf den Vertragsschluß mit dem „Vertragsverweigerer" angewiesen ist. Damit wird auf das Element der Abhängigkeit des Vertragsinteressenten verzichtet, das nach dem Ergebnis der Überlegungen im vorangegangenen Kapitel (§5) zwingende Voraussetzung einer immanenten Bindung der Vertragsbegründungsfreiheit ist.

9 Für den Fall vorsätzlicher Enttäuschung von Vertrauen v. Craushaar, JuS 1971, 127, 129 ff.; Hackl, S. 51; vgl. auch BAG AP Nr. 8 zu § 1 BeschFG 1985 (Bl. 876 R); Küpper, S. 272; Schlechtriem, Schuldrecht AT, Rn. 23, 39; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 108. 10 Für Haftung auf das Erfüllungsinteresse etwa BGH NJW 1965, 812, 814; BB 1974, 1039, 1040; W M 1983,1385, 1386;BB 1998, 1710,1711; OLG Düsseldorf NJW-RR 1986,508, 510; v. Craushaar, JuS 1971, 127, 129 ff.; Fikentscher, § 20 VII 4; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, S. 113; Palandt-Heinrichs, § 276, Rn. 101. 11 So dezidiert Hackl, S. 51; im Ergebnis zuvor bereits v. Craushaar, JuS 1971, 127, 128 ff.; vgl. auch BGH NJW 1996, 1884, 1885; Soergel-Wolf, Vor § 145, Rn. 108; kritisch v. Bar, JuS 1982, 637, 638.

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§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Anspruchssystem des BGB

Die Vertragsverweigerung eines Anbieters gibt nur dann Anlaß für die Auferlegung eines allgemeinen Kontrahierungszwangs, wenn der Vertragsinteressent ein von ihm formuliertes, rechtlich geschütztes Interesse nur durch Vertragsschluß mit jenem Anbieter verfolgen kann, der den Vertragsschluß verweigert. Ohne diese Abhängigkeit kann der Vertragsinteressent zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf andere Anbieter ausweichen. Das Vertragsrecht schützt bei bestehender Kontrahentenwahlfreiheit nicht das Interesse eines Rechtssubjekts, mit einem bestimmten Anbieter abschließen zu können. Der Vertragsverweigerer ist dem Nachfrager mit anderen Worten allein zum Ersatz des aus dem enttäuschten Vertrauen in das Zustandekommen des Vertrages entstandenen Schadens verpflichtet. Der Umstand, daß durch Vertragsverhandlungen ein geschäftlicher Kontakt hergestellt und damit ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, begründet für sich genommen weder eine Primärpflicht noch eine Sekundärpflicht auf Abschluß eines Vertrages.12 Abgesehen davon, daß von einem Vertrauenstatbestand in das Zustandekommen des Vertrages erst bei einem gesteigerten sozialen Kontakt die Rede sein kann, der jedenfalls die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, notwendig aber auch die Annahme voraussetzt, es werde mit Sicherheit zu einem Vertragsschluß kommen, ergibt sich selbst aus einem solchen Vertrauenstatbestand keine Verpflichtung zum Abschluß eines Vertrages. Im Gegenteil: Der im Vertragsrecht geltende Grundsatz der Vertragsbegründungsfreiheit läßt an sich einen willkürlichen, nicht besonders gerechtfertigten Abbruch von Vertragsverhandlungen zu. 13 Das folgt bereits daraus, daß jede Vertragsverhandlung mit dem Risiko des Scheiterns geführt wird. Die Entschließungsfreiheit eines Vertragsinteressenten wird nicht bereits durch die Tatsache der Verhandlung beeinträchtigt, sondern erst dann, wenn der andere Teil durch sein Verhalten pflichtwidrig das Vertrauen geweckt oder genährt hat, der Vertrag werde mit Sicherheit zustande kommen. 14 Die Pflichtwidrigkeit liegt also nicht in dem „willkürlichen" Abbruch von Vertragsverhandlungen,15 sondern in der Hervor-

12 Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 32; vgl. auch dens., FS Klecatsky, S. 129, 141 f.; Kaiser, JZ 1997, 448, 453; Müller, DB 1997, 1905, 1905f.; Otto, S. 17; Staudinger-Bork, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 28. 13 BGH NJW 1996, 1884, 1885; NJW 1975, 1774; Gottwald, JuS 1982, 877, 879; Grunewald, JZ 1984, 708, 710; Hart, KritV 1986, 211, 219; Kaiser, JZ 1997, 448, 449; Küpper, S. 147f.; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, S. 108; Müller, DB 1997, 1905, 1907; Reinicke/ Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1094, 1096, 1097; M. Weber, AcP 190 (1990), 390, 398; vgl. auch BGHZ 76,343,346 f. (dort allerdings Überlagerung des Privatrechts durch das öffentlich-rechtliche Erschließungsrecht). 14 BGH NJW 1967, 2199; Flume, Allgemeiner Teil II, § 15 III 4 dd (S. 283), § 33, 8 (S. 617); Grunewald, JZ 1984, 708, 710; Kaiser, JZ 1997, 448, 449; Medicus, Gutachten, S. 479, 494ff.; Reinicke/Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1097 ff. 15 So aber BGH LM Nr. 28 zu §276 BGB (Fa); WM 1974, 508, 509; ZIP 1989, 514, 517; Emmerich, MünchKomm. BGB, Vor § 275, Rn. 164; Fikentscher, Schuldrecht, Rn. 72; Gottwald,

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Schadensersatzrechts

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rufung eines - tatsächlich nicht gerechtfertigten - Vertrauens.16 Sofern der Vertragsinteressent im Hinblick darauf Dispositionen getroffen oder unterlassen hat, wird er nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo geschützt. 17 Es geht also um Vertrauensschutz im Vorfeld des Vertragsschlusses. Der Vertrag selbst kann nicht erzwungen werden, da durch das Institut der culpa in contrahendo nicht die negative Vertragsbegründungsfreiheit desjenigen in Frage gestellt wird, der die Vertragsverhandlungen abbricht; es wird vielmehr nur eine Verhaltenshaftung anläßlich der Vertragsverhandlungen statuiert, die auf dem Vertrauen in die Redlichkeit des Verhandlungspartners basiert. 18 Über die daran anschließende Verpflichtung zum Schadensersatz kann der Geschädigte letztlich nicht mehr erhalten, als er nach allgemeinen Vertragsgrundsätzen erlangen kann. 19 Diese vermitteln jedoch nur im Falle einer qualifizierten Vertragsverweigerung einen Anspruch auf Vertragsschluß. Besonders augenfällig wird die dem Institut der culpa in contrahendo inhärente „Rechtsfolgenbeschränkung" in den Fällen der Vereitelung eines formgerechten Vertragsschlusses, in denen der eine Vertragsteil beim anderen die irrige Vorstellung hervorruft, der Vertrag bedürfe keiner besonderen Form oder ihn Glauben macht, dem Formerfordernis werde jedenfalls später noch Genüge getan.20 Entsprechendes gilt für die Fallgruppe des Abbruchs von Vertragsverhandlungen über formbedürftige Verträge.21 Die Einhaltung von Formvorschriften hat typischerweise den Zweck, den Erklärenden vor der übereilten Eingehung besonders riskanter oder wirtschaftlich bedeutsamer Geschäfte zu schützen.22 Neben diese sog. Warnfunktion können im

JuS 1982, 877, 879; Staudinger-Löwisch, Vor §§ 275 ff., Rn. 66; Stoll, FS v. Caemmerer, S. 435, 449; vgl. auch Küpper, S. 173 ff., 202 ff. 16 Flume, Allgemeiner Teil II, § 15 III 4 dd (S. 283), § 33, 8 (S. 617); Grunewald, JZ 1984, 708,710; Kaiser, JZ 1997,448,449; Medicus, Gutachten, S. 479,494 ff.; Müller, DB 1997, 1905, 1907; Reinicke/Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1097 ff.; für den Fall des Abbruchs von Verhandlungen über formbedürftige Verträge auch BGH NJW 1975, 43, 44; WM 1979, 458, 462; WM 1982, 1436f.; dem Sinn nach auch BGH NJW 1996, 1884, 1885. 17 Vgl. nur B G H Z 7 6 , 3 4 3 , 349; BGH NJW 1996,1884, 1885; WM 1969,595,597; Reinicke/ Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1094. 18 So auch Kaiser, JZ 1997, 448, 450; Müller, DB 1997, 1905, 1907. 19 Vgl. auch Medicus, Gutachten, S. 479,498; „Warum soll sich der eine Verhandlungspartner auf einen Vertragsschluß verlassen dürfen, obwohl er diesen noch nicht soll verlangen dürfen?" 20 Vgl. BGHZ 6, 330, 332, 334 f.; BGH NJW 1965, 812, 814; WM 1965, 674, 675; 1966, 89, 91; 1968, 1038, 1040; zu einem Fall beiderseitiger Unkenntnis des Formerfordernisses vgl. BGH NJW 1992, 1037, 1038 f. 21 Vgl. BGHZ 92, 164ff.; BGH WM 1965, 1115, 1116; W M 1979, 458, 460f.; ferner Gehrlein, MDR 1998, 445 ff.; Küpper, S. 318 ff. mwN; Medicus, Gutachten, S. 479, 498 f. 22 Vgl. etwa §313 BGB; dazu BGHZ 29,6,11; 53, 189,195; 56,159,163; 58,386,394; BGH NJW 1992, 1037, 1039; Förschler, MünchKomm. BGB, § 125 Rn. 3; Palandt-Heinrichs, § 125 Rn. 1; - Allgemein zur Ordnungsfunktion der Form Häsemeyer, Form, S. 164 ff.; ders., JuS 1980, 1 ff.; Heldrich, AcP 147 (1941), 89, 91 ff.

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§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Anspruchssystem des BGB

Einzelfall andere Formzwecke treten wie die Beweis- 23 , Beratungs- 24 und Kontrollfunktion 25 . Da es sich um abstrakt-generelle Regelungen handelt, deren Eingreifen nicht von der individuellen Schutzbedürftigkeit einzelner Vertragschließender abhängt, sind sie auch dann zu beachten, wenn ihre Schutzfunktion auf andere Weise erfüllt ist oder der Erklärende des Schutzes im Einzelfall nicht bedarf. 26 Der Erklärende soll sich angesichts des Formzwangs zur besonnenen Reflexion der rechtlichen und sozialen Bedeutung seiner Willenserklärung veranlaßt sehen. Dieser, dem Schutz des Erklärenden dienende Formzweck würde jedoch vereitelt, wenn dem geschädigten Vertragsinteressenten, der aufgrund der Vertragsverhandlungen auf die Gültigkeit eines (zunächst) formlos geschlossenen Vertrages vertraut, nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo ein Anspruch auf Ersatz des Schadens durch Abschluß eines formwirksamen Vertrages oder auf Ersatz des Erfüllungsinteresses in Geld zugebilligt würde. 27 Ein solchermaßen auf Erfüllung 28 oder das Erfüllungsinteresse 29 gerichteter Schadensersatzanspruch verkennt nicht nur die Bedeutung der Abschlußfreiheit, sondern verfehlt zudem den Schutzzweck der Formvorschriften, indem den Parteien die Möglichkeit zur Reflexion über die Bedeutung ihres rechtsgeschäftlichen Handelns genommen wird. 30 Das aber ist Zweck der Formvorschriften, die äußere Schranken der Vertragsfreiheit aufrichten und damit die positive Vertragsbegründungsfreiheit einschränken, aber zugleich auch die negative Vertragsbegründungsfreiheit stärken. 31 Die Einhaltung der Formvorschriften ist eben nicht nur eine bloße „Formalität". 32 Der Erklärende soll vielmehr veranlaßt werden, von seiner Entschließungs- und Gestaltungsfreiheit erst nach gründlicher Überlegung Gebrauch zu machen und gegebenenfalls von einem Vertragsschluß Abstand zu nehmen. Ein über die Grundsätze der culpa in contrahendo vermittelter Kontrahierungszwang, der die gesetzlichen Formvorschriften ihres freiheitssichernden Charakters entkleidet, negiert im Ergebnis die Grenzen der Privatautonomie und gibt dem ge-

23

Vgl. zu §313 BGB: BGHZ 29, 6, 11; 56, 159, 163; 58, 386, 394; zu § 566 BGB BGH LM §566 Nr. 6 (Bl. 1168). 24 Vgl. zu §313 BGB BGHZ 29,6,11; 53,189,195; 58, 386,394; zu §§ 1410,2276 BGB vgl. auch Förschler, MünchKomm. BGB, § 125 Rn. 5. 25 Vgl. zu § 34 GWB aF. BGHZ 53, 304, 307; BGH NJW 1978, 822. 26 BGHZ 16,334, 335; 53, 189, 194 f.; Merz, AcP 163 (1964), 305, 314ff. 27 Lorenz, Lehrbuch des Schuldrechts, S. 113 f. 28 Marschall v. Bieberstein, NJW 1965, 1014, 1015 f.; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil 1/2, § 154 III 4 (m. Fn. 18); Esser-Schmidt, Schuldrecht 1/2, § 29 II 6 a; Gernhuber, FS Schmidt-Rimpler, S. 151, 165; Reinicke, Rechtsfolgen, S. 129 f.; ders., DB 1967, 109, 113; differenzierend Küpper, S. 268 ff./325; M. Weber AcP 190 (1990), 390, 428 ff. 29 BGH NJW 1965, 812, 814; NJW 1992, 1037, 1039; OLG Hamm MDR 1969, 306, 307; Förschler, MünchKomm. BGB, § 125 Rn. 48; Gernhuber, Schuldverhältnis, § 8IV 2 c (S. 203 f.); Gottwald, JuS 1982, 877, 880. 30 Vgl. auch v. Bar, JuS 1982, 637, 639. 31 Ebenso Küpper, S. 321. 32 Häsemeyer, Form, S. 72.

1. Kontrahierungszwang

im System des

Schadensersatzrechts

149

schädigten Vertragsinteressenten mehr als er unter Umständen bei regulärem Lauf der Dinge erhalten hätte, da nicht auszuschließen ist, daß er sich unter dem Eindruck einer durch den Formzwang vermittelten Bewußtseinsschärfung von vornherein gegen den Vertragsschluß entschieden hätte. 33 Im übrigen deutet das Verhalten der Gegenseite, das die Nichtbeachtung des Formerfordernisses zur Folge hat, zumeist auf deren latente Bindungsunwilligkeit hin, etwa weil sie auf eine noch bessere Geschäftschance hofft oder selbst nicht leistungsbereit ist. 34 Es ist also höchst ungewiß, ob überhaupt Bindungswilligkeit besteht. Die Rechtsordnung kann daher mit dem Institut der culpa in contrahendo allenfalls das Vertrauen in das Zustandekommen des Vertrages schützen, nicht aber das Interesse des Geschädigten an der Vertragsdurchführung. 35 Soweit in Rechtsprechung und Lehre bei Scheitern des Vertragsschlusses infolge Formmangels bzw. bei Abbruch von Verhandlungen über formbedürftige Verträge im Einzelfall dennoch ein „Kontrahierungszwang" in Erwägung gezogen wird, beruht diese Rechtsfolge nicht auf der Anwendung der Grundsätze über die culpa in contrahendo, sondern auf der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB), mit dem einer treuwidrig handelnden Partei die Berufung auf die Formnichtigkeit des Vertrages abgeschnitten wird. 36 Es geht also gar nicht um die Bewältigung der Folgen pflichtwidriger Verhandlungsführung, sondern darum, ob die Rechtsordnung die Rechtsfolge des Vertragsschlusses auch ohne Einhaltung des Formerfordernisses tolerieren kann. 37 Im Hinblick darauf wird in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes insoweit zu Recht betont, daß eine Korrektur der Formnichtigkeit unter Rückgriff auf § 242 BGB nur in „besonderen Ausnahmefällen" in Betracht kommt, die im Fall der Existenzgefährdung des einen Teils oder bei besonders schwerer Treuepflichtverletzung des anderen Teils angenommen werden. 38 Damit berücksichtigt diese Judikatur den Vorrang vertragsrechtlicher Selbstbestimmung, der eine Einschränkung der Vertragsbegründungsfreiheit durch die Außenschranken der Vertragsrechtsordnung nur im begründeten Ausnahmefall zuläßt.

33

In diesem Sinne auch Häsemeyer, Form, S. 66. Vgl. etwa BGHZ 6, 330, 332; Ihering, IherJb 4, 1, 15ff„ 18f.; Reichel, AcP 104 (1909), S. 1,46 ff. 35 BGH LM Nr. 3 (Fa) zu § 276 BGB (Bl. 491 R); Emmerich, MünchKomm. BGB, Vor § 275, Rn. 162; Häsemeyer, Form, S. 70 f. 36 Vgl. mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Wertungen BGHZ 16, 334ff.; 29, 6ff.; 48, 396ff.; 85, 315ff.; 92, 164ff.; BGH NJW 1996, 1884, 1885; Canaris, Vertrauenshaftung, S. 354ff.; Erman-Brox, § 125, Rn.23ff.; Förschler, MünchKomm. BGB, § 125, Rn.49ff.; dazu auch Küpper, S. 317 mwN.; ablehnend etwa Gernhuber, FS Schmidt-Rimpler, S. 151,159; Häsemeyer, Form, S. 291 ff.; ders., JuS 1980, 1, 8; Reinicke/Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1100; E. Wolf, Allgemeiner Teil, § 7 e 2 cc. 37 Vgl. auch Kaiser, JZ 1997, 448, 451. 38 Vgl.BGHZ 16,334,336f.; 2 9 , 6 , 1 0 f . ; 4 8 , 3 9 6 , 3 9 7 f . ; 85,315,318f.;92,164, 171f.;BGH NJW 1996, 1884, 1885. 34

150

§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Anspruchssystem des BGB

Eine derartige Situation ist in den „schlichten" Fällen des „willkürlichen" Abbruchs von Vertragsverhandlungen (noch) nicht gegeben. Der auf einer Enttäuschung von Vertrauen basierende Schadensersatzanspruch wegen culpa in contrahendo geht daher bei Scheitern des Vertragsschlusses nicht auf das Erfüllungsinteresse, sondern auf Ersatz des Vertrauensschadens, den der geschädigte Vertragsinteressent infolge seines Vertrauens auf das wirksame Zustandekommen des Vertrages erlitten hat. 39 Dem Vertragsrecht ist eine Vertragserzwingung durch Vertragsverhandlungen fremd. Die Rechtsordnung schützt im Regelfall allein die Möglichkeit der Interessendurchsetzung mittels des Vertrages, nicht aber die Interessendurchsetzung mittels eines zu erzwingenden Vertrages: Der Abbruch von Vertragsverhandlungen, gleich aus welchen Gründen, ist damit an sich nicht „rechtsfeindlich", sondern Ausdruck der negativen Vertragsbegründungsfreiheit. 40 Dem geschädigten Vertragsinteressenten bleibt der auf das Gerechtigkeitsprinzip zurückgehende Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens. Während also die Enttäuschung von Vertrauen durch Abbruch von Vertragsverhandlungen - für sich genommen - einen Zwang zum Kontrahieren nicht auszulösen vermag, ist ein Kontrahierungszwang nach den aus dem Rechtsinstitut des Vertrages abgeleiteten Strukturmerkmalen des allgemeinen Kontrahierungszwangs bei Hinzutreten weiterer Umstände nicht ausgeschlossen. 41 Die Vertragsrechtsordnung läßt, wie bereits beschrieben, unter engen Voraussetzungen einen vertragsoptimierenden, der Funktionssicherung des Vertrages als Selbstbestimmungsinstrumentarium dienenden Kontrahierungszwang zu. Dieser setzt aber notwendig das zwingende Angewiesensein des Vertragsinteressenten auf den Vertragsschluß zur Verwirklichung seiner Vertragsinteressen voraus. Liegt diese Voraussetzung vor und ist der Anbieter, wie in den Fällen des willkürlichen Abbruchs von Vertragsverhandlungen zu vermuten, vertragsgeneigt und leistungsfähig, kann die Rechtsordnung dem geschädigten Vertragsinteressenten ausnahmsweise einen Anspruch auf Vertragsschluß zur Verfolgung rechtlich geschützter Interessen einräumen, da die negative Vertragsbegründungsfreiheit des verweigernden Anbieters nicht unbedingt ist, sondern durch den Grundsatz der Funktionssicherung des Vertrages konditioniert wird. Der Adressat des Kontrahierungszwangs wird dabei nicht zu mehr verpflichtet, als nach dem Inhalt der Vertragsrechtsordnung von ihm erwartet wird. Die Rechtsfolge des Kontrahierungs39 BGH DB 1988, 223; W M 1981, 787, 788; WM 1968, 1402, 1403; Bydlinski, FS Klecatsky, S. 129,141; Emmerich, MünchKomm. BGB, Vor § 275, Rn. 165; Flume, A llgemeiner Teil II, § 15 III 4 c dd (S. 283 f.); Kaiser, JZ 1997, 448, 453; Müller, DB 1997, 1905, 1907; StaudingerLöwisch, 13. Bearb. 1995, Vorbem. zu §§ 275 ff., Rn. 74. Stoll, FS v. Caemmerer, S. 435, 445 ff.; M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 428; ablehnend für die Fälle des Abbruchs von Verhandlungen über formbedürftige Verträge Medicus, Gutachten, S. 479, 498 f. 40 Erman, AcP 139(1934), S. 273, 2741; Häsemeyer, Form, S. 69 i.;Reinicke, DB 1967,109, 111. 41 In diese Richtung scheinen auch die Überlegungen von M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 429 f., zu gehen.

I. Kontrahierungszwang

im System des

Schadensersatzrechts

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zwangs ergibt sich insoweit jedoch nicht aus dem bloßen Vertrauen in einen als sicher geglaubten Vertragsschluß, das durch willkürlichen Abbruch von Vertragsverhandlungen enttäuscht wird, sondern unter zusätzlichen Voraussetzungen aus dem Mißbrauch der im Vertrag als Rechtsinstitut angelegten negativen Vertragsbegründungsfreiheit, der im konkreten Fall mit dem Tatbestand der Pflichtverletzung bei Vertragsverhandlungen zusammentrifft. Es bleibt damit festzuhalten, daß ein lediglich auf die gewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsätze des Verschuldens bei Vertragsschluß gestützter Kontrahierungszwang mit der geltenden Vertragsrechtsordnung nicht vereinbar ist. 42 Ein allgemeiner Kontrahierungszwang besteht nur unter den bereits beschriebenen Voraussetzungen einer qualifizierten Vertragsverweigerung.

2. Kontrahierungszwang aufgrund eines Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 826 BGB) a. Deliktsrechtliches

Korrelat der

Rechtsgeschäftsordnung

Die Diskussion zur Herleitung eines „allgemeinen" Kontrahierungszwangs wird weitestgehend geprägt durch Erörterungen zur Vorschrift des § 826 BGB, aus der unter der Voraussetzung eines im einzelnen noch näher zu beleuchtenden Sittenverstoßes die „mittelbare" oder „relative" Verpflichtung des Schädigers zum Vertragsschluß mit einem geschädigten Vertragsinteressenten abgeleitet wird. Die Verpflichtung zum Vertragsschluß wird danach entweder auf das in §249 S. 1 BGB angelegte Prinzip der Naturalrestitution 43 oder auf einen daraus entwickelten Anspruch auf „Naturalprästation" gestützt. 44 Sie entspricht der in den gebräuchlichen Definitionen zum Kontrahierungszwang zu Tage tretenden MittelZweck-Relation, die den Kontrahierungszwang als „willensfremden", „gesetzlichen" Zwang zum Vertragsschluß beschreibt. Da die zum Kontrahierungszwang 42

Bydlinski, FS Klecatsky, S. 129, 142, bezeichnet den Kontrahierungszwang deutlich als eine „vom Grundgedanken der Rechtsfigur nicht gedeckte (...) Superwirkung." 43 Für eine deliktsrechtliche Herleitung des allgemeinen Kontrahierungszwangs aus §§ 826, 249 S. 1 BGB etwaRGZ 148, 326, 334-Wasserlieferung II; RG HRR 1935 Nr. 1125 - Stromlieferung II; BGHZ 21, 1, 7f. - Darm-Importeure; 36, 91, 100 - Gummistrümpfe; 44, 279, 283 Brotkrieg; 49, 90, 98 f. - Jägermeister; Baumbach-Hefermehl, § 1 UWG, Rn. 310; Bothe, S. 46; Gleiss, MDR 1952, 398, 399; Hackl, S. 38 f.; Hueck, S. 322; Jauernig-Jauernig, Vor § 145, Anm. 4 a cc; Leidinger, WRP 1975, 462, 465f.; Medicus, Schuldrecht AT, § 11 V (Rn.85); Planck, §145 Vorbem. 4; RGRK-Piper, Vor §145, Rn.23; Rittner, Wirtschaftsrecht, §21 Rn.24; Schlechtriem, Schuldrecht AT, Rn.39; Scholz-Hoppe, FS Pfeiffer, S.785, 788; vgl. auch OLG Karlsruhe, BB 1977, 1112; Emmerich, Die AG 1976, 92, 99; Erman-Hefermehl, Vor §145 Rn. 19; Wehberg, S. 30, 47. 44 Grundlegend Nipperdey, S.96, 99; ihm folgend Belke, Geschäftsverweigerung, S.426; Bothe, S.46; Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 13; Hergt, S.55ff.; Mertens, S.29f.; R. W. Müller, S. 61 ff.; Pabst, S. 21 f.; Schenk, S. 29 f.; ähnlich zuvor bereits Fürst, LZ 1910, Sp. 177, 185.

152

§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Anspruchssystem des BGB

führende Handlungsweise des vertragsverweigernden Rechtssubjekts zudem regelmäßig als Mißbrauch der ihm zustehenden Vertragsfreiheit aufgefaßt wird, nimmt es nicht Wunder, daß die Vorschrift des § 826 BGB zum Inbegriff für einen im Privatrecht verorteten „allgemeinen" Kontrahierungszwang geworden ist. In dem Lehrbuch des Schuldrechts von Larenz/Canaris wird die Vorschrift daher nicht ohne Grund als „das wichtigste deliktsrechtliche Korrelat der Rechtsgeschäftsordnung" bezeichnet. 45 Hinzu scheint eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit des Kontrahierungszwangs in seiner rechtstatsächlichen Umschreibung mit dem Normgefüge des Deliktsrechts zu kommen, die in der Kompensation eines vorangegangenen „schädigenden" Verhaltens gesehen wird. Gleichwohl gemahnt diese Feststellung bereits an dieser Stelle zur Vorsicht. Bei näherer Betrachtung erscheint es nämlich keineswegs selbstverständlich, daß § 826 BGB als Norm des Deliktsrechts ein taugliches vertragsrechtliches Korrektiv abgibt. Während es sich bei den deliktsrechtlichen Normen um Verhaltensnormen handelt, die natürliche Handlungsweisen bewerten und steuern, geht es im Vertragsrecht um die Anerkennung natürlicher Handlungen (sprechen, schreiben, körperlicher Ausdruck etc.) als rechtlich erhebliche Willensbekundungen. Die Steuerungsleistung des Vertragsrechts ist daher eine andere als diejenige des Deliktsrechts. Beide Systeme können nicht beliebig gegeneinander ausgetauscht werden. Schließlich fehlen im Deliktsrecht Vorschriften, die eine Bewertung natürlicher Handlungen im Hinblick auf ihre vertragsrechtliche Erheblichkeit erlauben. Andererseits bestehen doch auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Regelkreisen, da das Rechtskonstrukt des Vertrages ebenso wie deliktisches Handeln auf natürlichen Handlungen der beteiligten Rechtssubjekte beruht. Wenn es also darum geht, einen vertragsrechtlich nicht erwünschten Zustand mit Hilfe des Deliktsrechts zu korrigieren, kommt als Ansatzpunkt für ein derartiges deliktsrechtliches Korrektiv nur das tatsächliche Handeln der beteiligten Rechtssubjekte in Betracht. Unter dieser Prämisse ist es dann allerdings nicht von vornherein ausgeschlossen, die Steuerungsleistung des Deliktsrechts zur Abwendung vertragsrechtlich unerwünschter Zustände in Dienst zu nehmen. 4 6 Es kommt insoweit entscheidend auf den Maßstab an, der an die Bewertung vertragsrechtlich erheblicher Handlungsweisen angelegt wird.

45 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts U/2, § 78 I 1 c (S. 448). - Kübler, Pflicht, S. 27, spricht in diesem Zusammenhang von einem Wandel der Zweckbestimmung der auf die guten Sitten abstellenden Generalklauseln des Privatrechts, da sie im Hinblick auf die Auferlegung eines Abschlußzwangs nicht mehr so sehr Ausdruck einer sittlichen Pflicht seien, sondern mit ihrer Hilfe „vielmehr die Regelungsmuster des geltenden Rechts anhand der ihm zugrundeliegenden >public policies< weiterentwickelt und verfeinert" werden. 46 Ablehnend J. Schmidt, FS Lukes, S.793, 797ff.; im Ergebnis wohl auch Blumenthal, S. 53 f.

I. Kontrahierungszwang

b. Ansätze zur Konkretisierung aa) Kritische

im System des

Schadensersatzrechts

153

des Tatbestands der guten Sitten

Bestandsaufnahme

Zur Konkretisierung des Begriffs der „guten Sitten" wird in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung des Reichsgerichts 47 und ihm nachfolgend des Bundesgerichtshofs 48 auf das „Anstandsgefühl aller gerecht und billig Denkenden" abgestellt. 49 Diese regelmäßig nicht weiter erläuterte und bereits von der 2. Kommission im Zusammenhang mit § 826 BGB verwendete Umschreibung, 50 die kaum mehr als eine Leerformel darstellt, 51 indem sie einen unbestimmten Rechtsbegriff durch andere wertausfüllungsbedürftige Begriffe zu deuten versucht, vermag im Ergebnis ebensowenig zu einer überzeugenden und die Rechtssicherheit befördernden Inhaltsbestimmung des Sittenbegriffs beizutragen wie andere dem Sinn nach gelegentlich auch die Rechtsprechung prägende Deutungsversuche, die mit den guten Sitten „gesellschaftlich nützliche" soziale Normen rezipiert sehen, 52 den Rechtsbegriff durch die herrschende Sozialmoral (kollektive Wertvorstellungen) auffüllen wollen 53 oder darin ein Synonym für „Sittlichkeit" im Sinne der Verwirklichung „eines Rechts höherer Ordnung" erblicken. 54 Allen diesen Konkretisierungsbemühungen 55 haftet ein Moment der Beliebigkeit an, da sie ob ihrer Unbestimmtheit regelmäßig geeignet sind, beliebigen Ergebnissen zu scheinbar teleologisch fundierten Begründungen zu verhelfen. In der „Offenheit" dieses Begründungssystems liegt zwar einerseits die Chance, einer Erstarrung der Rechtsordnung durch rechtsfortbildendes Richterrecht entgegenzuwirken, ande-

47 RGZ 48, 114, 124 (dort als „herrschendes Volksbewußtsein" bezeichnet); vgl. auch RGZ 60, 94, 105; 103, 82, 84. 48 BGHZ 17, 327, 332. 49 Soweit es, wie etwa im Handelsverkehr, allein auf die Anschauungen bestimmter Verkehrskreise ankommt, berücksichtigt die Rechtsprechung dies durch Rückgriff auf die Figur des „ehrbaren Kaufmanns" (RGZ 48, 114, 125) oder, in einer moderneren Formulierung, das „Anstandsgefühl des verständigen und gerecht denkenden Durchschnittsgewerbetreibenden" (BGHZ 13, 33, 36 - Kreditschecksystem; 15, 356, 364 - Progressive Kundenwerbung; BGHZ 23, 365, 373 - SUWA; BGH GRUR 1957, 558, 559 f. - Bayern-Expreß; GRUR 1960, 558, 560 - Eintritt in Kundenbestellung; vgl. auch RGZ 148, 364, 369: „Anschauungen des anständigen Durchschnittskaufmanns"). 50

Vgl. Motive II, S. 727; dazu Schricker, Gesetzesverletzung, S. 187; K. Simitis, Gute Sitten,

S.8. 51

Arzt, S. 25 ff.; Haberstumpf.\ S. 73 ff.; Sambuc, S. 31; zurückhaltender Haubelt, S. 75. Ihering, Zweck II, S. 166, 199; in diesem Sinne, wenn auch ohne Beschränkung auf die gesellschaftliche Nützlichkeit, Droste, WRP 1966, 323, 327 (Verstoß gegen „Konventionsnormen"); Haubelt, S. 77 f.; E. E. Hirsch, JZ 1962, 329, 333; dagegen Teubner, Standards, S. 65 ff. 53 Hedemann, FS Nipperdey, S.251, 255; Henkel, S.91; Nipperdey, Kontrahierungszwang, S. 60f.; ders., Stromsperre, S. 29; Soergel-Hönn, § 826, Rn. 8; Wieacker, Zeitenwende 1969, 244, 251; vgl. auch Lorenz, JJb 1966/67, S. 98, 119. 54 BGHZ 17, 327, 332. 55 Zu deren Verankerung in der Rechtsprechung vgl. die Untersuchung von Haberstumpf, S.42ff. 52

154

§ 6 Allgemeiner Kontrahierungszwang

und Anspruchssystem des BGB

rerseits aber auch die Gefahr, das geschriebene Recht mit systemfremden Wertungen zu überfrachten, schlimmstenfalls es gar auszuhöhlen. 56 Diese Gefahr wiegt umso schwerer, wenn die die Begründung tragenden Wertmaßstäbe nicht offen liegen wie bei der formelhaften Wiederholung jener Wendung vom „Anstandsgefühl aller gerecht und billig Denkenden" oder beim Rückgriff auf die traditionellen Anschauungen der herrschenden Sozialmoral als „normativ gewordene Übung des Gruppenverhaltens". 57 Weder wird deutlich, welches Maß sittlicher Verhaltensanforderung das Anstandsgefühl aller gerecht und billig Denkenden bestimmt, noch läßt sich eine herrschende Sozialmoral als „breitester innerhalb einer Rechtsordnung erreichbarer ethischer Konsens" 58 oder „Inbegriff der sittlichen Verhaltensanforderungen, die von der Sozietät an ihre Mitglieder gestellt werden", 59 hinreichend verifizieren. Es fragt sich, ob es realiter überhaupt (noch) eine Sozietät mit übereinstimmenden sittlichen Grundanschauungen gibt und gegebenenfalls, wie diese zu ermitteln sind. 60 Vollends der Beliebigkeit des Rechtsanwenders anheimgegeben wird die Rechtsordnung, wenn die guten Sitten im Sinne Iherings allein als Inbegriff gesellschaftlich nützlicher Sozialnormen aufgefaßt werden. Selbst wenn man den Aspekt der gesellschaftlichen Nützlichkeit zunächst ausklammert, bleibt offen, welche Bezugsgruppen für die Geltung sozialer Normen maßgebend sein sollen und welcher Akzeptanzwert als Grad der Normdurchsetzung in diesen Gruppen zu fordern ist. 61 Wer andererseits wie Konstantin Simitis62 die Gute-Sitten-Klauseln lediglich als Synonym für die Gesamtheit des geltenden Rechts versteht, indem sie kurzerhand als Inbegriff der zwingenden und dispositiven Gesetzesbestimmungen sowie der von Rechtsprechung und Rechtslehre entwickelten Regeln zur Erläuterung, Ergänzung, Vervollkommnung der Gesetze und ihrer Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse gedeutet wird (ordre-public-Gedanke), bleibt die Antwort darauf schuldig, welche Steuerungsleistung für das System der Rechts-

56 Der Große Senat für Zivilsachen des Reichsgerichts hat etwa in einem Beschluß vom 13.3.1936 - RG Nr. 558 - V 184/35, ausgeführt, daß „der Begriff eines >Verstoßes gegen die guten Sittenj ese Auffassung ist jedoch angesichts der Ergebnisse der bisherigen

374

Die Schutzgesetzqualität ist jeweils im Hinblick auf einzelne Normen festzustellen (vgl. Art. 2 EGBGB); fehl gehen daher die Versuche (vgl. etwa Koch, S. 19 f.; Lukes, Kartell vertrag, S. 185), dem GWB insgesamt den Charakter eines Schutzgesetzes zuzusprechen; dazu etwa Flume, WuW 1956,457,467; Mailänder, S. BOf.jÄ". Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 364; ders., Aufgaben, S. 20. 375 Vgl. Carlhoff, Frankfurter Kommentar, § 26 GWB, Rn. 90, 397; Emmerich, in: Immenga/ Mestmäcker, § 35, Rn. 60; v. Gamm, Kartellrecht, § 26, Rn. 74; Greiner, S. 54 f.; Loewenheim, in: Loewenheim/Belke, § 26, Rn. 209; Markert, in: Immenga/Mestmäcker, § 26, Rn. 299; Möschel, Recht, Rn. 667; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 373; Seebauer, S. 75; Schultz, in: Langen/ Bunte, GWB, §26, Rn.213; Staudinger-Bork, BGB, Vorbem. zu §§ 145 ff., Rn. 19. Witthuhn, S. 61 f. mwN. 376 BGHZ 36,91,100 - Gummistrümpfe; vgl. ferner BGHZ 41,271, 280 - Werkmilchabzug;

IV. Kontrahierungszwang

als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot

393

Untersuchung nicht unzweifelhaft. Zweifel an der Schutzgesetzfunktion von § 20 Abs. 1, 2 GWB lassen sich daraus ableiten, daß der Schutz privater Interessen an den Maßstab der im GWB aufgerichteten wettbewerblichen Werteordnung gebunden ist. Der Schutz einzelner Rechtssubjekte erfolgt nur im Interesse der Wettbewerbsordnung und nicht im Interesse einer davon unabhängigen individuellen Interessenverfolgung. Dieses Ergebnis scheint auf den ersten Blick mit der zu § 823 Abs. 2 BGB entwickelten, aber für § 33 S. 1 GWB ebenso geltenden Schutzgesetzdogmatik zu konfligieren, 377 wenn man fordert, daß Schutzgesetze als imperative Ge- oder Verbotsnormen ihrem Inhalt nach neben anderen Zwecken zumindest auch einem gezielten Individualzweck zu dienen bestimmt sein müssen. 378 Es stellt sich allgemein die Frage, welche Bedeutung das Verhältnis des Individualschutzes zum Institutionenschutz für die Schutzgesetzeigenschaft einer Norm hat. Es ist mit anderen Worten eine Antwort darauf zu suchen, ob die Schutzgesetzeigenschaft einer Norm von einer besonderen Intensität des Individualschutzes oder gar von weiteren Umständen abhängig ist. Die Frage ist, wie „gezielt" der Individualschutz sein muß. Diese Fragestellung ist schon deshalb veranlaßt, weil im Grunde kaum Normen anzutreffen sind, die im Sinne der gängigen Definition des Schutzgesetzes nicht zumindest auch Individualinteressen schützen. Das wird man selbst von Normen sagen können, die gemeinhin „allein" dem Institutionenschutz zugeordnet werden. Mit dem Schutz der Institution ver49, 90, 98 - Jägermeister; 51, 61, 67 - Taxiflug; BGH WuW/E BGH 2341, 2342 - Taxizentrale Essen; WuW/E BGH 2647, 2652 - Nora-Kunden-Rückvergütung. 377 Zur Wertungsparallelität des Schutzgesetzbegriffs in § 823 Abs. 2 BGB und § 33 GWB vgl. nur BGHZ 64, 232, 237 - Krankenhaus-Zusatzversicherung; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, § 35, Rn. 18; Jörißen, Schutzgesetzeigenschaft, S. 18 ff.; Mailänder, Folgen, S. 169; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 356, 362; Schmiedel, Deliktsobligationen I, S. 1 ff.; Witthuhn, S. 37 ff.; vgl. auch Begr. z. Entw. e. GWB, BT-Drucks. 1/3462, S. 38 (zu § 28 d. Entw.); aA offenbar nur Leo, WuW 1959, 485, 487. 378 Vgl. nur BGHZ 100, 13, 14 f. - Urkundenfälschung; 116, 7, 13 - Prospekthaftung, mwN.; Erman-Schiemann, § 823, Rn. 157; Mertens, MünchKomm. BGB, § 823, Rn. 140; Palandt-Thomas, § 823, Rn. 41; Witthuhn, S. 33, mwN.; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 356 ff., spricht insoweit von einem „rechtserheblichen Betroffensein". - Nach verbreiteter Ansicht (vgl. etwa BGHZ 84, 312, 314 - Angestelltenversicherungsgesetz; RGZ 119, 435, 437 - Kraftfahrliniengesetz; 128, 298, 300 - ArzneimittelVO; 138, 165, 168 - Reichsversicherungsordnung; Palandt-Thomas, aaO.; Schmiedel, Deliktsobligationen I, S. 215, 224, 231 ff.; undeutlich BGHZ 40, 306 - Reichsgaragenordnung, wo der historischen Sicht des Gesetzgebers offenbar Vorrang vor anderen Interpretationsmethoden eingeräumt wird) soll für die Ermittlung der Schutzgesetzeigenschaft einer Norm entscheidend auf den Willen des Gesetzgebers abzustellen sein. Das begegnet Bedenken (krit. auch Buxbaum, Klage, 1972, S.44; Knöpfte, NJW 1967, 697, 699; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S.358; Witthuhn, S. 191), da der Wille des Gesetzgebers niemals das allein maßgebliche Auslegungskriterium sein kann. Maßgebend ist eine wertende Gesamtbetrachtung (Müller-Laube, S. 14, 20 ff., 25), bei der die Anschauungen des historischen Gesetzgebers neben der semantischen, systematischen und teleologischen Normauslegung nur ein Kriterium unter mehreren darstellt (vgl. insoweit BGHZ 12,146,148 - Preisstopverordnung; 116,7, 13 - Prospekthaftung).

394

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung

bindet sich nämlich regelmäßig auch ein Schutz der im Rahmen der Institution handelnden Rechtssubjekte. Keine Institution wird schließlich um ihrer selbst Willen geschützt. Wenn das richtig ist, muß der Individualschutz einer Norm jedoch eine besondere Qualität aufweisen, um diese als Schutzgesetz ansehen zu können. 379 Ansonsten wäre der Schutzgesetzbegriff entgegen der Intention der jeweiligen Vorschriften uferlos. Das zeigt gerade § 33 GWB: Die Vorschrift bezweckt ersichtlich nicht, die Verletzung beliebiger Vorschriften des GWB durch die Zuerkennung von Individualansprüchen zu sanktionieren, obwohl auch der Schutz des Wettbewerbs als Institution nur Sinn macht, wenn dieser im Hinblick auf die im Wettbewerb handelnden Personen erfolgt. Die Aussage, Schutzgesetz sei eine Norm, die zumindest auch Individualinteressen schützt, bedarf daher einer Ergänzung. Robert Knöpfle hat diese Ergänzung iSe. objektiven Betrachtung dahingehend vorgenommen, daß Gegenstand des Schutzes „wirkliche Individualinteressen" sein müssen und nicht Belange, die „primär auf der Ebene der Gesamtheit gegeben sind". 380 Die Schutzgesetzeigenschaft von Normen ist damit von vornherein für solche Normen abzulehnen, die gegenüber einem einzelnen Rechtssubjekt oder einem bestimmten Personenkreis lediglich einen reflexiven Schutz entfalten, wenn dieser von der ratio legis nicht zugleich auch bezweckt ist. Das entspricht einhelliger Auffassung. 381 Zu klären bleibt das Verhältnis der zumindest mitgeschützten Individualinteressen zu dem Schutz von Interessen der Allgemeinheit. Fordert man mit Knöpfle den Schutz „wirklicher Individualinteressen", so reicht die materielle Konvergenz der geschützten Individualinteressen mit den Interessen der Allgemeinheit offenbar nicht aus, um die Schutzgesetzeigenschaft einer Norm annehmen zu können. Vielmehr ist dann zu fordern, daß sich die Individualinteressen von den Gemeinwohlbelangen ablösen lassen, also unabhängig von diesen Schutz genießen. Diesen Anforderungen genügt § 20 Abs. 1, 2 GWB nicht. Damit bleibt jedoch unberücksichtigt, daß das Verbot des § 20 Abs. 1, 2 GWB sowohl seinem Wortlaut als auch seiner ratio nach darauf angelegt ist, die wettbewerbliche Entfaltungsfreiheit einzelner Marktteilnehmer (wieder)herzustellen. Eine Aufgabe, die zwar im Interesse der Allgemeinheit liegt, die aber mit den beschränkten Mitteln der staatlichen Aufsichtsbehörden nicht effektiv bewältigt werden kann. Eine Überwachung der in Betracht kommenden Austauschbeziehungen ist praktisch ausgeschlossen. Der Schutz der von § 20 Abs. 1, 2 GWB erfaßten Marktbeziehungen ist nicht anders zu organisieren als durch die Aktivierung privater Interessen. 382 Um noch einmal das geflügelte Wort zu benutzen: 379

Vgl. auch Hönn, Kompensation, S. 121. Knöpfle, NJW 1967, 697, 700; zustimmend Mertens, MünchKomm. BGB, §823, Rn. 144; Witthuhn, S. 218 ff. 381 Vgl. nur BGHZ 100, 13, 14f. - Urkundenfälschung; Staudinger-Schäfer, § 823, Rn. 580. 382 Zur Bedeutung der Privatklage im Kartellrecht vgl. Mailänder, S. 12 f.; Linder, S. 37 ff. (mit rechtsvergleichendem Blick auf die USA); speziell zum US-amerikanischen Recht auch 380

IV. Kontrahierungszwang

als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot

395

Dem individuell Betroffenen ist nach der ratio legis des § 20 Abs. 1, 2 GWB die Rolle eines „Funktionärs der Gesamtrechtsordnung" zugedacht. Das bedingt notwendig, daß die Rechtsordnung dem einzelnen Rechtssubjekt einen individuellen Anspruch zur Durchsetzung der in § 20 Abs. 1,2 GWB geschützten wettbewerblichen Interessen zuwendet. Insoweit ist § 20 Abs. 1,2 GWB Schutzgesetz iSv. § 33 S. 1 GWB. Der Praxistest anhand des kartellrechtlichen Diskriminierungsverbots zeigt also, daß die Schutzgesetzeigenschaft des § 20 Abs. 1, 2 GWB deshalb besteht, weil die Norm im Interesse des gemeinwohlverpflichteten Wettbewerbsschutzes individuelle Interessen gerade durch Zuwendung individueller Ansprüche an die Interessenträger schützen will. Für § 20 Abs. 1,2 GWB kommt es nicht darauf an, ob es sich bei den Individualinteressen um „wirkliche Individualinteressen" im Sinne unabhängig von dem geschützten Allgemeininteresse bestehenden Interessen handelt. Dieses Ergebnis läßt sich verallgemeinern: Nicht der Schutz „wirklicher" Individualinteressen kennzeichnet eine Ge- oder Verbotsnorm als Schutzgesetz; maßgebend ist vielmehr, ob die Norm neben den Interessen der Allgemeinheit zumindest auch beliebige individuelle Interessen schützt und zugleich deren autonome Durchsetzung durch die jeweiligen Interessenträger bezweckt. 383 Dieser gedankliche Ansatz scheint auch der Rechtsprechung des BGH zu § 823 Abs. 2 GWB zugrundezuliegen, wenn dies auch nicht immer mit der wünschenswerten Klarheit zum Ausdruck kommt, wie der BGH selbst einmal bemerkt hat. 384 Der BGH hat wiederholt betont, die Antwort, ob im Einzelfall ein Schutzgesetz vorliege, sei nicht aus abstrakten Betrachtungen über den Gesetzeszweck zu gewinnen, sondern anhand einer wertenden Betrachtung, „ob die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruches, auch soweit sie nicht schon erkennbar vom Gesetz erstrebt wird, in diesen Fällen sinnvoll und im Lichte des haftpflichtrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheint." 385 Besonders klar kommt dieser Gedanke in einer Entscheidung vom 27. November 196 3 386 zum Ausdruck. Dort heißt es, dem einzelnen müsse „selbst die Rechtsmacht in

Buxbaum, S. 35; vgl. ferner Raiser, in: Summum ius, summa iniuria, S. 145, 157 f.; Vollmer, JA 1979, 84, 86; Witthuhn, S . 8 6 f f „ 98ff. 383 Mertens, MiänchKomm. BGB, § 823, Rn. 141; Müller-Laube, S. 14, bezeichnet ein solches Konzept als „programmatische Funktionsbestimmung", die anhand der ordnungspolitischen Rolle des Individualrechtsschutzes neben der öffentlich-rechtlichen Marktkontrolle zu ermitteln sei; vgl. auch Mestmäcker, DB 1968, 787, 790; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 356, spricht insoweit von einer „Selektionsaufgabe" und sieht diese in der „Ermittlung subjektiv-rechtlich durchsetzbarer Normen, subktivrechtlich sanktionierbarer Normverstöße und derjenigen Rechtssubjekte, denen ggf. das subjektive Drittrecht zusteht."; vgl. auch Vollmer, JA 1979, 84, 87. 384 BGHZ 66, 388, 390 - Landesbauordnung. 385 BGHZ 66, 388, 390 - Landesbauordnung; vgl. auch BGHZ 12, 146, 148 - Preisstopverordnung; 84, 312, 314-Angestelltenversicherungsgesetz. 386 BGHZ 40, 306, 307 - Reichsgaragenordnung.

396

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung

die Hand gegeben" sein, seinen Interessenbereich „mit Mitteln des Privatrechts gegen denjenigen zu schützen, der das Verbot übertritt und sein Rechtsinteresse beeinträchtigt." Ein Gebot oder Verbot sei deshalb „auch nur dann als Schutzgesetz geeignet, wenn das geschützte Interesse, die Art seiner Verletzung und der Kreis der geschützten Personen hinreichend klargestellt und bestimmt ist." Damit wird das eigentliche Ziel der Schutzgesetzformel deutlich: Es geht um die Beschränkung deliktischer Abwehr- und Ersatzansprüche 387 oder anders gewendet: um den Ausschluß der Popularklage. 388

2. Rechtsdogmatische Herleitung des Kontrahierungszwangs Eine Verletzung des individualschützenden Diskriminierungsverbots in § 20 Abs. 1,2 GWB berechtigt den Betroffenen nach dem Ergebnis des voranstehenden Abschnitts zur autonomen Interessendurchsetzung, die sich nach dem Wortlaut des § 33 GWB entweder in Form der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches (S. 1 Alt. 2) oder eines Unterlassungsanspruches (S. 1 Alt. 1) vollzieht. 389 Der durch § 33 GWB vermittelte deliktische Schutz behinderter Unternehmen ist zugleich die rechtliche Basis für die Anerkennung eines quasinegatorischen Beseitigungsanspruchs. Insoweit gilt im ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Deliktsschutz nichts anderes als nach allgemeinem Deliktsrecht: Jede deliktsrechtlich geschützte Position begründet schon bei bloßen rechtswidrigen Eingriffen eines Dritten einen Abwehranspruch des Betroffenen. 390 Dieser kann entweder in einem Anspruch auf Unterlassung zukünftiger Beeinträchtigungen bestehen, wie er in § 33 S. 1 Alt. 1 GWB ausdrücklich normiert ist, oder auf Beseitigung bestehender Beeinträchtigungen gerichtet sein. Während die Grundzüge dieses bereits im Zusammenhang mit dem allgemeinen Kontrahierungszwang beschriebenen Anspruchssystems, soweit ersichtlich, nicht in Zweifel gezogen werden, sind im Hinblick auf die konkrete Herleitung eines Kontrahierungszwangs unterschiedliche Positionen anzutreffen. In der älteren BGH-Rechtsprechung ist die Ansicht vorherrschend, daß sich eine Verpflichtung zum Vertragsschluß als Folge eines Anspruches auf Schadens387 K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S.357; Schmiedel, Deliktsobligationen I, S.23 (Fn.74); Witthuhn, S.217. 388 Müller-Laube, S. 21, 25; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 357; Witthuhn, S. 36. 389 Im älteren Schrifttum ist zum Teil die Auffassung vertreten worden, § 26 Abs. 2 GWB aF enthalte unmittelbar eine Verpflichtung zum Vertragsschluß (Hennig-Sauter, S. 115; Lehning, WuW 1966, 3, 4 (Fn. 3); vgl. aus jüngerer Zeit auch OLG München WuW/E OLG 5032, 5033 Wartung von Reanimationsgeräten; Kilian, ZHR 142 (1978), 453,482). Aus dem Behinderungsund Diskriminierungsverbot folgt jedoch nur das Verbot eines bestimmten wettbewerbs widrigen Verhaltens, nicht jedoch das Gebot zu einem konkreten Vertragsschluß. 390 OLG Düsseldorf WuW/E OLG 3709, 3713 - Taxizentrale Essen; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, § 35, Rn. 100.

IV. Kontrahierungszwang

als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot

397

ersatz (§ 26 Abs. 2 GWB aF iVm. §§35 Abs. 1 S. 1 GWB aF, 249 S. 1 BGB) ergeben kann. 391 Im Schrifttum ist diese Rechtsprechung teilweise auf ausdrückliche Kritik gestoßen,392 die im Ergebnis bis zur vollständigen Ablehnung eines Kontrahierungszwangs reicht.393 Mehrheitlich tendiert das Schrifttum zur Annahme eines auf Vertrags Schluß gerichteten Unterlassungsanspruchs;394 vereinzelt wird der Kontrahierungszwang als Folge eines Beseitigungsanspruchs gesehen,395 andere Autoren legen sich nicht fest, 396 wiederum andere nehmen im Anschluß an Hans Carl Nipperdey einen positiven Handlungsanspruch auf „Naturalprästation" an.397 Neben eher rechtsdogmatisch angelegten Stellungnahmen finden sich auch kritische Stimmen, die der Heranziehung des Schadensersatzrechts deshalb widersprechen, weil das Verschuldenserfordernis in § 33 GWB anspruchsbegrenzend wirkt und damit eine effektive Beseitigung eingetretener Wettbewerbsbeein-

391

BGHZ 36, 91, 100 - Gummistrümpfe; 41, 271, 280 - Werkmilchabzug; 49, 90, 98 - Jägermeister; 6 9 , 5 9 , 6 0 - Medizinischer Badebetrieb; BGH WuW/E BGH 1238,1245 - Registrierkassen; WuW/E BGH 1391,1395-Rossignol; WuW/E BGH 1587-Modellbauartikel I; WuW/E BGH 1629, 1634 - Modellbauartikel II; WuW/E BGH 2584, 2587 - Lotterievertrieb; BB 1998, 2332, 2333 - Depotkosmetik; vgl. auch OLG Düsseldorf WuW/E OLG 2274, 2281 - Errichtung von Fernmeldetürmen; OLG Koblenz WuW(E OLG 4733, 4734, 4736 - Aktuelle Tips; zustimmend Biedermann, S. 187; Börner, in: Probleme, S. 77, 123 f.; Ewald, WRP 1957, 252, 254; Fikentscher, Schuldrecht, § 21 IV 2 b (Rn. 86); v. Gamm, Kartellrecht, § 26 GWB, Rn. 76; Gerigk, S. 25; Hennig, in: Langen/Bunte, § 35, Rn. 30; Leidinger, WRP 1995, 462, 463f.; Möhring, DB 1974, 223, 227; Sandrock, JurA 1970, 48, 67; Schwaiger, Kontrahierungszwang, S. 142; Schweer, S. 106; Tetzlaff, S. 144; Traugott, WuW 1997, 486, 488 ff.; Wehberg, S.49. - Vgl. zur Herleitung eines Belieferungsanspruchs aus Art. 85 EG-V aF iVm. §823 Abs. 2, 249 ff. BGB auch BGH BB 1998, 2332, 2333 - Depotkosmetik; Haslinger, WuW 1998, 456 ff. 392 Kilian, ZHR 142 (1978), 453, 481 f.; Markert, in: Immenga/Mestmäcker, §26, Rn.301; Möschel, Recht, Rn. 667. 393 Kahrs, S. 171 ff; Greiner, S.87f. (der eine Abschlußpflicht nicht schon durch die Vertragsverweigerung begründet sieht, sondern erst anhand zukünftiger Vertragsabschlüsse überprüfen will, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt; dann fehle dem Diskriminierten jedoch infolge Zeitablaufs das Interesse an einem Vertragsschluß); vgl. zu § 25 Abs. 1 GWB aF auch Belke, Geschäftsverweigerung, S.439ff.; Klaue, ZHR 129 (1967), 159, 166ff. 394 Baumbach-Hefermehl, § 1 UWG, Rn. 309 (für die Vergangenheit auch Schadensersatzanspruch); Derleder, S.225; Ehlers, S. 195ff.; Markert, in: Immenga/Mestmäcker, §26, Rn.301; Möschel, Recht, Rn.667; K. Schmidt, DRiZ 1977, 97, 98; ders., Kartellverfahrensrecht, S.341 (Fn.90); U. Scholz, S. 106ff„ 113; Staudinger-Bork, Vorbem. zu §§145ff., Rn.20; Vykydal, S. 216 ff.; im Ansatz auch Kahrs, S. 175; undeutlich Palandt-Heinrichs, Einf v § 145, Rn. 9. 395 Grupp, S. 176f.; Kilian, ZHR 142 (1978), 453, 482. 396 Carlhoff, Frankfurter Kommentar, §26 GWB, Rn. 398 (Schadensersatz- oder Unterlassungsanspruch); Contzen, S. 124ff. (Schadensersatz- oder Unterlassungsanspruch); Ebel, Kartellrecht, § 26, Rn. 71 (Schadensersatz-oder Unterlassungsanspruch); Emmerich, Die AG 1976, 92, 99 (Beseitigungs- oder Schadensersatzanspruch); Ernestus, S. 270 (quasinegatorische Abwehrklage); Fikentscher, WuW 1958, 257, 265 (Schadensersatz- oder Unterlassungsanspruch); Loewenheim, in: Loewenheim/Belke, §26, Rn. 211; Mandel, S. 103; Schultz, in: Langen/Bunte, §26, Rn. 213 f. (Schadensersatz- oder Beseitigungsanspruch); Schwaiger, S. 142 (Schadensersatz- bzw. quasinegatorischer Abwehranspruch). 397 Vgl. etwa Bydlinski, Ac?\%0(\9W), 1, 13.

398

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung

trächtigungen tendenziell behindert. 398 Diese „praktische" Hürde, die angesichts des vorliegenden Rechtsprechungsmaterials 399 kaum als gravierend angesehen werden kann, vermag jedoch für sich genommen kein Argument für eine bestimmte rechtsdogmatische Einordnung des Kontrahierungszwangs zu liefern. Derartige Einwendungen können daher im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden. Auch in der Rechtsprechung der Instanzgerichte finden sich Entscheidungen, die in Abweichung von der BGH-Rechtsprechung einen auf das Schadensersatzrecht gestützten Kontrahierungszwang entweder vollständig ablehnen 400 oder eine Ableitung der Verpflichtung zum Vertragsschluß aus einem quasinegatorischen Unterlassungsanspruch befürworten. 401 Die neuere Rechtsprechung des BGH 4 0 2 scheint in Anknüpfung an ein älteres Judikat 403 dahin zu tendieren, den Kontrahierungszwang - jedenfalls auch - aus einem Beseitigungsanspruch heraus zu begründen. Zur rechtsdogmatischen Herleitung der Verpflichtung zum Vertragsschluß ist bereits im Zusammenhang mit dem allgemeinen Kontrahierungszwang eingehender Stellung genommen worden. Die dort getroffenen Überlegungen sind im Ergebnis auch auf das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot des § 20 Abs. 1,2 GWB übertragbar: Die Vertrags- und Lieferverweigerung hat eine Beeinträchtigung der gesetzlich ausgeformten Wettbewerbsfreiheit des abgewiesenen Nachfragers zur Folge. Die aus der Verweigerungshaltung des Anbieters resultierende Rechtsbeeinträchtigung bedarf zu ihrer Aufhebung eines actus contrarius seitens des Anbieters. Diese Rechtsfolge kann der abgewiesene Nachfrager mit Hilfe eines quasinegatorischen Beseitigungsanspruchs analog §33 S. 1 GWB durchsetzen. Das scheint, wie bereits angedeutet, nunmehr auch der BGH in seiner jüngeren Rechtsprechung zum Diskriminierungsverbot so zu sehen. Dagegen führen die Wege über einen infolge der Vertragsverweigerung entstehenden Schadensersatzanspruch von vornherein nicht zu dem gewünschten Ergebnis der Verpflichtung zum Vertragsschluß. Auch das hat bereits die Untersuchung des allgemeinen Kontrahierungszwangs ergeben, 404 der von seiner Struktur her - als Reaktion auf 398 Ygj exemplarisch Marken, in: Immenga/Mestmäcker, § 26, Rn. 301. 399 Vgl. nur BGH WuW/E BGH 2341, 2344 ff. - Taxizentrale Essen, gegen OLG Düsseldorf WuW/E OLG 2167, 2171 - Nordmende; OLG Karlsruhe WuW/E BGH 2217, 2224 - AllkaufSABA. 400 In diesem Sinne etwa LG Frankfurt/M., WuW/E LG/AG 243, 245 - Rückvergütung. 401 OLG Düsseldorf WUW/E OLG 3708, 3713 - Taxizentrale Essen (Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch); OLG Karlsruhe WuW/E OLG 2085, 2091 f. - Multiplex; WuW/E OLG 2217, 2223 - Allkauf-SABA; LG Dortmund NJW 1973, 2212, 2212f. - Inseratensperre; vgl. auch KG Wuw/E OLG 2210 - Rote Liste; ferner der BGH selbst in WuW/E BGH 2683, 2687 Zuckerrübenanlieferungsrecht. 402 BGH RdE 1993, 72, 75 - Stromeinspeisung I (zur Verweigerung angemessener Vertragsbedingungen); WM 1995, 1600, 1600 f. - Laufwasserkraftwerke. 403 BGHZ 29, 344, 352 - Sanifa. 404 Vgl. oben § 6 1 4 .

IV. Kontrahierungszwang

als Rechtsfolge

eines Verstoßes

gegen das Diskriminierungsverbot

399

eine Vertragsverweigerung - dem Diskriminierungsverbot des §20 Abs. 1, 2 GWB ähnlich ist.

3. Rechtsfolge: Wettbewerbliche Gleichbehandlung mit gleichartigen Unternehmen Die Untersuchung des allgemeinen Kontrahierungszwangs hatte überdies gezeigt, daß der aus der qualifizierten Vertragsverweigerung resultierende quasinegatorische Beseitigungsanspruch unmittelbar einen Kontrahierungszwang auslöst. Auf den ersten Blick läßt die rechtstatsächliche Ausgangslage beim Behinderungs- und Diskriminierungsverbot des § 20 Abs. 1, 2 GWB, die derjenigen beim allgemeinen Kontrahierungszwang ähnlich ist, auch eine Parallelität der Rechtsfolgen erwarten. Andererseits bestehen zwischen den tatbestandlichen Voraussetzungen des Behinderungs- und Diskriminierungsverbots und des allgemeinen Kontrahierungszwangs nicht zu übersehende Unterschiede, die Zweifel am Gleichlauf der Rechtsfolgen auslösen: Während es beim allgemeinen Kontrahierungszwang allein um die Funktionssicherung des Vertragsrechts und damit um individuelle Interessenverfolgung im Zwei-Personen-Verhältnis geht, basiert das wettbewerbsrechtliche Behinderungs- und Diskriminierungsverbot auf dem Gedanken der „wettbewerblichen Gleichbehandlung" eines Unternehmens im Verhältnis zu anderen gleichartigen Unternehmen. Es geht um die Sicherung des Wettbewerbs als für alle Beteiligten geltendes Ordnungsprinzip. Das muß notwendig Rückwirkungen auf die Rechtsfolge aus dem Beseitigungsanspruch haben. Im bipolaren Zwei-Personen-Verhältnis hat der Vertragsverweigerer zur Beseitigung der eingetretenen Störung keine andere Möglichkeit, als den zunächst verweigerten Vertrag abzuschließen, da nur so ein Zustand wiederhergestellt werden kann, der dem freiheitssichernden Postulat der allgemeinen Vertragsrechtsordnung gemäß ist. Dagegen verpflichtet das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot den Vertragsverweigerer zwar auch zur Beseitigung der eingetretenen Wettbewerbsstörung, aber nur durch die in die Zukunft gerichtete Verpflichtung zur wettbewerblichen Gleichbehandlung mit gleichartigen Unternehmen. Der Verpflichtung zur Beseitigung der Wettbewerbsstörung kann der Vertragsverweigerer also nicht nur durch Vertragsschluß mit dem nachfragenden Unternehmen nachkommen; die wettbewerbliche Gleichbehandlung kann auch durch Änderung des Angebotsverhaltens gegenüber anderen Abnehmern wiederhergestellt werden, indem diese beispielsweise wie der abgewiesene Kunde künftig nicht mehr beliefert werden. Diese Handlungsalternative zur Beseitigung der eingetretenen Wettbewerbsstörung hat im Vergleich zur - ebenfalls noch gegebenen - Möglichkeit der Aufgabe des Leistungsangebots einen ungleich größeren Realitätsbezug. Sie kann daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Soweit aber dem Normadressaten

400

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung

zur Beseitigung der Wettbewerbsstörung neben dem Vertragsschluß mit dem Nachfrager auch die Möglichkeit der Änderung seines Angebotsverhaltens gegenüber anderen Nachfragern zu Gebote steht, folgt der Kontrahierungszwang nicht mehr unmittelbar aus dem Beseitigungsanspruch. Der Rechtszwang zum Kontrahieren trifft den Vertragsverweigerer hier nur, wenn er eine andere Möglichkeit zur Beseitigung der Wettbewerbsstörung aus wirtschaftlichen Überlegungen nicht ergreifen will. Es liegt nurmehr ein „mittelbarer" Rechtszwang vor. 405 Die aus dem Behinderungs- und Diskriminierungsverbot des § 20 Abs. 1, 2 GWB folgende Verpflichtung zum Vertragsschluß bewegt sich in diesen Fällen auf der Grenze zum wirtschaftlichen Zwang. Im Sinne der Ausgangsdefinition, die den Rechtszwang zum Vertragsschluß als konstitutives Merkmal des Rechtsinstituts Kontrahierungszwang bezeichnet, 406 handelt es sich also bereits um einen Grenzfall des Kontrahierungszwangs. 407 Qualitativ unterscheidet sich die Sachlage nicht entscheidend von derjenigen bei Untersagung eines behindernden oder diskriminierenden Verhaltens durch die Kartellbehörden nach § 32 GWB. 4 0 8 Die Untersagung beschränkt sich regelmäßig auf das Verbot eines bestimmten rechtsmißbräuchlichen Verhaltens, ohne daß es möglich ist, ein Gebot zu einem bestimmten Verhalten auszusprechen, es sei denn, es handelt sich um die einzige Handlungsmöglichkeit. Ansonsten verbleibt dem Anbieter die Entscheidungsfreiheit darüber, wie er dem Verstoß gegen § 20 Abs. 1, 2 GWB abhelfen will. Gelegentlich wird gegen einen möglichen Kontrahierungszwang wegen Verstoßes gegen das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot der Einwand erhoben, es handele sich um eine unangemessene Rechtsfolge. Zur Begründung wird angeführt, eine ursprünglich rechtswidrige Vertragsverweigerung könne im Laufe der Zeit infolge Änderung der tatsächlichen Verhältnisse den Charakter der Rechtswidrigkeit verlieren, so daß es unangemessen sei, auf die ursprüngliche Verweigerung mit dem Kontrahierungszwang zu reagieren. Damit wird der Sache nach jedoch der Kontrahierungszwang als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Behinderungs- und Diskriminierungsverbot nicht in Frage gestellt. Die Fälle, in denen der Sachverhalt nach der ursprünglichen Vertragsverweigerung „umschlägt", berühren vielmehr die Voraussetzungen des Kontrahierungszwangs. 409 Über den Anspruch auf Vertrags Schluß ist nach allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen aufgrund des Sachstandes am Ende der mündlichen Verhandlung zu entscheiden. 410 Sofern also die Voraussetzungen der Behinderung oder Diskrimi-

405 Vgl. auch BGH WuW/E BGH 759, 763 - Pharmazeutische Großhandlung, sowie zu Art. 85 Abs. 1 EG-V aF EuG Slg. 1992 II, 2223, 2268, Tz. 51 f. - Automec; BGH BB 1998,2332, 2333 - Depotkosmetik. 406 Vgl. oben § 4 1 1 . 407 Vgl. auch Belke, Geschäftsverweigerung, S. 432. 408 Ebenso Markert, in: Immenga/Mestmäcker, § 26, Rn. 301. 409 Vgl. auch Derleder, S. 224f.; Vykydal, S. 219f. 410 Vgl. nur Zöller-Vollkommer, § 300 Rn. 3.

IV. Kontrahierungszwang

als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot

401

nierung iSv. § 20 Abs. 1, 2 GWB seit dem erstmaligen Ausspruch der Vertragsverweigerung entfallen sind, ist das ohnehin anspruchshindernd zu berücksichtigen. Ändern sich die tatsächlichen Verhältnisse nach einer Verurteilung zur Belieferung, kann der Normadressat überdies gemäß § 323 ZPO auf Abänderung klagen, sofern er zur wiederkehrenden Leistung verurteilt wurde, oder Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) bzw. negative Feststellungsklage erheben. 411 Der durch § 33 GWB vermittelte Anspruch des Vertragsinteressenten auf Beseitigung der infolge der Vertrags- und Lieferverweigerung eingetretenen Wettbewerbsstörung verpflichtet den Normadressaten dazu, den Vertragsinteressenten diskriminierungsfrei zu stellen. Soweit das nicht durch Abbruch der Geschäftsbeziehungen zu gleichartigen Unternehmen geschieht, hat der abgewiesene Vertragsinteressent einen Anspruch auf Vertragsschluß und damit auf Belieferung zu diskriminierungsfreien Bedingungen. Aus dem in § 20 Abs. 1,2 GWB angelegten Grundsatz der wettbewerblichen Gleichbehandlung folgt damit freilich nicht, daß dieser Anspruch notwendig auf konditionale Gleichbehandlung mit anderen, gleichartigen Unternehmen gerichtet ist. Die Gleichartigkeit der Unternehmen besagt nur etwas über den von ihnen angesprochenen Kundenkreis. 412 Sie gibt nicht den Maßstab für die mit dem Vertragsinteressenten auszuhandelnden Vertragskonditionen vor, in dem Sinne, daß der Normadressat zur konditionalen Gleichbehandlung verpflichtet wäre. 413 Das widerspräche den Grundsätzen wettbewerblicher Preis- und Konditionenbildung, da sich die gleichartigen Unternehmen, unabhängig von dem gemeinsamen Kundenkreis, sehr wohl von ihrer Unternehmens- und Nachfragestruktur her unterscheiden werden. Dem Normadressaten kann es daher nicht verwehrt sein, darauf mit einer differenzierten Preis- und Konditionenpolitik zu reagieren. Das Diskriminierungsverbot soll allein verhindern, daß dabei von seiten des Normadressaten Kriterien angewandt werden, die der Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit als Ordnungsprinzip widerstreiten. 414 Wie der BGH in der Entscheidung „Pay-TV-Durchleitung" 415 zu Recht betont, enthält das Diskriminierungsverbot keineswegs eine „allgemeine Meistbegünstigungsklausel, die das marktbeherrschende Unternehmen generell zwingen soll, allen die gleichen - günstigsten - Bedingungen, insbesondere Preise, einzuräumen." Dem Normadressaten ist es daher unbenommen, bei den Vertragskonditionen gegenüber gleichartigen Unternehmen zu differenzieren, solange die Diffe-

411

OLG Frankfurt WuW/E OLG 4233, 4236 - Postalia-Frankiermaschinen; Vykydal, S. 220. Vgl. dazu oben III 4 b aa). 413 In diesem Sinne Hart, KritV 1986, 211, 217; wie hier BGH WuW/E BGH 3058, 3064 f. Pay-TV-Durchleitung; Gotting, JZ 1997, 565, 567; Hübschle, WuW 1998, 146, 146f. 414 BGH WuW/E BGH 1405, 1410 - Grenzmengenabkommen; WuW/E BGH 3058, 3065 Pay-TV-Durchleitung; Carlhoff, Frankfurter Kommentar, § 26 GWB, Rn. 320; vgl. zur Preismißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Energieversorgungsunternehmen nach §103 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 GWB aF auch BGH WuW/E BGH 2967, 2971 - Weiterverteiler. 415 BGH WuW/E BGH 3058, 3065. 412

402

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung

renzierung wettbewerbskonform ist. 416 Insoweit ist von ihm eine „wettbewerbliche Gleichbehandlung" gefordert. Die Konditionen, die der Normadressat „gleichartigen Unternehmen" abverlangt, bilden nur einen materiellen Bezugspunkt für die Beurteilung, ob eine wettbewerbsfremde Differenzierung gegenüber dem Vertragsinteressenten vorliegt. Ansatzpunkte für wettbewerbskonforme Differenzierungen bei Preisen und Konditionen können sich beispielsweise aus unterschiedlichen Abnahmemengen der betroffenen Unternehmen und aufgrund der Übernahme besonderer Handelsfunktionen für den Normadressaten ergeben. 4 1 7 Derartige Differenzierungen sind selbst dann nicht von vornherein wettbewerbsfremd, wenn der Normadressat im übrigen eine Mischkalkulation betreibt, die wirtschaftlich relevante Unterschiede zwischen den Nachfragern unberücksichtigt läßt. Allerdings bedarf eine Preis- und Konditionenabweichung gegenüber dem Vertragsinteressenten in diesem Fall einer höheren Sachlegitimation als bei einer Geschäftspolitik, die durchgängig auf dem Prinzip individueller Vereinbarung der Vertragskonditionen beruht. Festzuhalten bleibt, daß der aus einer Verletzung des Behinderungs- und Diskriminierungsverbots folgende quasinegatorische Beseitigungsanspruch nur dann zu einem Kontrahierungszwang führt, wenn dem Normadressaten außer dem vom abgewiesenen Nachfrager begehrten Vertragsschluß keine andere Handlungsalternative zur Beseitigung der eingetretenen Wettbewerbs Störung zur Verfügung steht. Das Gegenteil wird aber zumeist der Fall sein. Dann besteht nur ein „mittelbarer" Rechtszwang zum Kontrahieren, wenn der Vertragsverweigerer andere Handlungsalternativen aus wirtschaftlichen Gründen nicht ergreift. In jedem Fall ist der Normadressat verpflichtet, den Normbegünstigten diskriminierungsfrei zu stellen. Konditionendifferenzierungen sind dadurch nicht ausgeschlossen, soweit sie sich im Rahmen wettbewerblicher Gleichbehandlung bewegen.

VI.

Zusammenfassung

1. Das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot aus § 2 0 Abs. 1, 2 G W B dient dem Schutz des Wettbewerbs als Institution und in diesem Rahmen reflexiv auch dem Schutz der normbegünstigten Wettbewerbsteilnehmer. Diese werden davor geschützt, daß die Normadressaten ihre herausgehobene Marktstellung dazu ausnutzen, die Unternehmen der Marktgegenseite in ihrer Wettbewerbsfähigkeit untereinander zu beeinträchtigen. Die individualschützende Wirkung des Diskriminierungsverbots dient der Verstärkung des institutionellen Wettbewerbsschutzes;

416 Vgl. auch BGH WuW/E BGH 1429, 1435 - Asbach-Fachgroßhändlervertrag; Knöpf Je, BB 1981, 1733, 1736; v. Ungern-Sternberg, FS Odersky, S. 987, 991. 417 Nachweise der umfangreichen Kasuistik bei Carlhoff, Frankfurter Kommentar, § 26 GWB, Rn. 322 ff.

VI.

Zusammenfassung

403

der Individualschutz besteht also allein um des Institutionenschutzes willen. Dieser ist gleichbedeutend mit der Gewährleistung wettbewerblicher Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen der gesetzlich normierten Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit. Für die Normbegünstigten des Diskriminierungsverbotes heißt das: Bereits auf einem Markt tätigen Unternehmen sind wettbewerbsgerichtete Entfaltungsmöglichkeiten offen zu halten; neu auf einen Markt strebenden Unternehmen ist der Marktzugang grundsätzlich zu eröffnen. Auf der anderen Seite ist aber auch das Interesse der Normadressaten anzuerkennen, ihren Geschäftsbetrieb so zu organisieren, wie sie es für richtig und wirtschaftlich sinnvoll halten, solange dabei wettbewerbskonforme Mittel eingesetzt und die herausgehobene Marktposition nicht zum Nachteil der Normbegünstigten ausgenutzt wird: Das Diskriminierungsverbot ist ein Instrument der Wettbewerbsverhaltenskontrolle, das einen wettbewerbswidrigen Einsatz der auf der Normadressatenseite vorhandenen Angebots- bzw. Nachfragemacht verhindern soll. Das Diskriminierungsverbot vermittelt darüber hinaus keine Möglichkeit zur Marktstrukturkorrektur, es sei denn, die Diskriminierung betrifft eine wesentliche Einrichtung iSv. § 19 Abs.4Nr.4GWB. 2. Der Diskriminierungsschutz des § 20 Abs. 1, 2 G W B kann sich demgemäß regelmäßig nur dort entfalten, wo der Normadressat selbst einen Geschäftsverkehr eröffnet hat. Dem wird eine Betrachtung am Maßstab dessen, was sich innerhalb der beteiligten Verkehrskreise als allgemein geübt und als angemessen empfunden herausgebildet hat, nicht gerecht. Der Geschäftsverkehr muß zudem gegenüber Unternehmen eröffnet sein, die dem normbegünstigten Unternehmen gleichartig sind. Da das Diskriminierungsverbot verhindern soll, daß der Normadressat die wettbewerbliche Entfaltung eines Unternehmens der Marktgegenseite gegenüber gleichartigen Unternehmen sachwidrig behindert, sind gleichartig alle Unternehmen, die untereinander im (potentiellen) Wettbewerb um einen bestimmten Kundenkreis stehen. Es geht darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Normbegünstigten auf dem von ihnen gewählten Geschäftsfeld zu sichern, so daß sie aus Sicht der auf dem relevanten Markt auftretenden Nachfrager als Bezugsalternativen angesehen werden. 3. Die Wettbewerbswidrigkeit einer vom Normadressaten ausgesprochenen Vertrags- und Lieferverweigerung ist anhand einer Abwägung seiner Interessen mit denjenigen des normbegünstigten Vertragsinteressenten zu ermitteln. Dazu bedarf es eines dreistufigen Abwägungsverfahrens: Auf der ersten Stufe sind die abwägungsfähigen Interessen der Beteiligten zu ermitteln; auf der zweiten Stufe erfolgt die eigentliche (normative) Abwägung. Das daraus gewonnene Abwägungsergebnis ist sodann auf einer dritten Stufe des Abwägungsverfahrens am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. 4. Das Diskriminierungsverbot des § 20 Abs. 1, 2 GWB ist Schutzgesetz iSv. § 33 S. 1 GWB, da dem Normbegünstigten nach der ratio legis die Rolle eines

404

§ 9 Verbot der Behinderung und Diskriminierung

Funktionärs der Rechtsordnung zugedacht ist. Mit dem in § 20 Abs. 1, 2 GWB angelegten und an den institutionellen Wettbewerbsschutz gebundenen Individualschutz der Normbegünstigten ist zugleich die autonome Rechtsdurchsetzung durch die jeweiligen Träger des Individualinteresses bezweckt. Eine nur auf die Ressourcen der Kartellbehörden gestützte Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes ist unpraktikabel und ließe die Norm weitgehend leerlaufen. 5. Als Folge eines Verstoßes des Normadressaten gegen das Diskriminierungsverbot steht dem abgewiesenen Vertragsinteressenten neben dem Anspruch auf Schadensersatz (§33 S. 1 Alt. 2 GWB) und auf Unterlassung (§33 S. 1 Alt. 1 GWB) analog dazu ein Anspruch auf Beseitigung der eingetretenen Wettbewerbsstörung zu, der eine Verpflichtung des Normadressaten zum Vertragsschluß mit dem Vertragsinteressenten beinhalten kann: Der Normadressat ist allerdings nur verpflichtet, den Vertragsinteressenten diskriminierungsfrei zu stellen, so daß ein Kontrahierungszwang nur ausgelöst wird, wenn der Normadressat die Diskriminierung aus tatsächlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht auf andere Weise abstellt. Eine Verpflichtung zum Vertragsschluß besteht also in jedem Fall nur „mittelbar". Soweit der Normadressat die Diskriminierung durch einen Vertragsschluß mit dem Vertragsinteressenten abstellt, ist er zur „wettbewerblichen" Gleichbehandlung des Vertragsinteressenten mit gleichartigen Unternehmen verpflichtet. Der im Diskriminierungsverbot angelegte Grundsatz der wettbewerblichen Gleichbehandlung verpflichtet dabei nicht notwendig zur Anwendung gleicher Vertragskonditionen, da sich der Vertragsinteressent von seiner Unternehmens- und Nachfragestruktur her von „gleichartigen" Unternehmen unterscheiden kann. Diese sind nur im Hinblick auf die angesprochenen Abnehmerkreise gleichartig, nicht jedoch auch ansonsten dem Normbegünstigten „gleich".

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht (§ 10 EnWG) Die Energiewirtschaft gehört zu jenen Wirtschaftssektoren, die traditionell einer staatlichen Regulierung unterliegen. Nachdem der Gesetzgeber zunächst in anderen Bereichen, etwa auf dem Gebiet des Transportwesens und der Telekommunikation, erste gesetzgeberische Schritte zur Deregulierung unternommen hatte, trägt der Deregulierungsgedanke seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsgesetzes am 29.4.1998 auch im Sektor der Energiewirtschaft Früchte. 1 Gleichwohl zeigt das Energierecht derzeit noch das typische Bild eines von staatlichen Eingriffen geprägten Wirtschaftsbereiches. Diese Eingriffe finden in der Einflußnahme des Gesetzgebers auf die vertraglichen Beziehungen zwischen den Energielieferanten und ihren Abnehmern und in der Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 EnWG (= § 6 EnWG aF) ihren sinnfälligen Ausdruck. 1 Zu einzelnen Deregulierungs vorschlägen vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts, BR-Drucks. 806/96 (dazu: Lindemann/Köster, DVB1. 1997, 527 ff.; die Entwicklung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung dokumentieren: Referentenentwurf des BMWi für ein Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts (III B 1 - 105108) v. 15.2.1994, abgedruckt in: Hojfmann-Riem/Schneider (Hrsg.), Umweltpolitische Steuerung in einem liberalisierten Strommarkt, 1995, S. 275; Referentenentwurf des BMWi für ein Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts (III B 1 - 105108) v. 30.4.1996); Arbeitsdokument der EG-Kommission „Der Binnenmarkt für Energie" v. 2.5.1988 (Dok. KOM (88) 238 endg.); Richtlinie (90/377/EWG) des Rates v. 29.6.1990 zur Einführung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Gewährleistung der Transparenz der vom industriellen Endverbraucher zu zahlenden Gasund Strompreise, ABl. Nr. L 185/16; Richtlinie (90/547/EWG) des Rates v. 29.10.1990 über den Transit von Elektrizitätslieferungen über große Netze, ABl. Nr. L 313/30; Richtlinie (91/296 EWG) des Rates v. 31.5.1991 Uber den Transit von Erdgas über große Netze, ABl. Nr. L 147/37; Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. 1997 Nr. L 27/20 (die Entwicklung zur Richtlinie dokumentieren Abgeänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (KOM (93) 643 endg. - COD 384) v. 11.2.1994, ABl. Nr.C 123/1; Abgeänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (KOM (93) 643 endg. - KOD 385) v. 11.2.1994, ABl. Nr. C 123/26; Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr.... /96 des Rates vom 25.7.1996 im Hinblick auf den Erlaß der Richtlinie 96/. ./EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, abgedruckt in : RdE- Sonderbeil. 1996, S.3ff.); zur Energiepolitik der Europäischen Gemeinschaft vgl. Jarass, Energierecht, S. 13 ff.; Tettinger, FS Everling, S. 1529 ff.

406

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

I. Bedeutung der Anschluß- und Versorgungspflicht Die volkswirtschaftliche Dimension der Anschluß- und Versorgungspflicht eröffnet sich, wenn man dazu die Aussage des Bundesverfassungsgerichts in Beziehung setzt, die Sicherung der Energieversorgung sei ein Gemeinschaftsinteresse höchsten Ranges.2 In tatsächlicher Hinsicht ist insoweit zunächst von Bedeutung, daß der Gesetzgeber Konzessionsverträgen, mit denen kommunale Wegerechtsinhaber einzelnen Energieversorgungsunternehmen das ausschließliche Recht zur Verlegung der bei leitungsgebundener Energieversorgung notwendigen Transportmedien einräumten, bis zum Inkrafttreten der Energierechtsnovelle 1998 ebensowenig die Anerkennung versagt hat wie Demarkations Verträgen, die zu einer Aufteilung von Versorgungsgebieten unter den vertragschließenden Energieversorgungsunternehmen führten. Beide Vertragstypen waren im Wege der Freistellung nach § 103 Abs. 1 GWB aF vom Kartellverbot des § 1 GWB ausgenommen und nur einer Mißbrauchsaufsicht (§ 103 Abs. 5 GWB aF) unterworfen. Das führte im Ergebnis zu einem System geschlossener Versorgungsgebiete, in denen sich die Abnehmer von Energie, typischerweise also die Endverbraucher, jeweils nur einem Anbieter gegenübersahen. Mit den eingangs beschriebenen Prinzipien einer auf der Handlungsfreiheit des einzelnen Wirtschaftssubjektes beruhenden Marktwirtschaft hatte diese staatliche Ordnung der Energiewirtschaft nur noch wenig gemein. Volker Emmerich hat es daher aus der Sicht des Jahres 1982 als „Segen" bezeichnet, „daß offenbar die Regelungskapazitäten unseres politischen Systems noch nicht ausreichen, um sich gleichzeitig allen deutschen Märkten mit der gleichen Liebe und Fürsorge wie den Energiemärkten zuzuwenden, da anderenfalls die Marktwirtschaft wohl schon längst nur noch ein Gegenstand für Wirtschaftsund Rechtshistoriker wäre."3 Die Deregulierung des Energiemarktes ändert freilich nichts daran, daß sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Energieverbrauchern und Energieversorgungsunternehmen auch unter den heutigen Bedingungen, wonach Marktaufteilungen durch Konzessions- und Demarkationsverträge dem Kartellverbot unterliegen, nicht ohne weiteres verringern wird, soweit nämlich die Energieversorgung wie bei Strom und Gas leitungsgebunden ist. Da zu erwarten ist, daß von der Aufhebung der Gebietsausschließlichkeit und der daraus folgenden Wettbewerbsinitiierung durch Öffnung vorhandener Netze oder parallelen Leitungsbau primär Großabnehmer profitieren werden,4 dürfte die mit der Deregulierung bezweckte Verbesserung der Nachfrageposition für das Gros der Kleinverbraucher wohl erst in mittelfristiger Perspektive Wirklichkeit wer-

2

BVerfGE 25, 1, 16; 30, 292, 323 f. Emmerich, JZ 1982, 496. 4 Vgl. auch das Konzept der stufenweise Marktöffnung nach Art. 19 RL 96/92/EG v. 19.12.1996, ABl. 1997, Nr. L 27/20. 3

/. Bedeutung der Anschluß- und

Versorgungspflicht

407

den. Das Abhängigkeitsverhältnis der Nachfrageseite von den Anbietern leitungsgebundener Güter ist jedenfalls schon wegen der Eigenart der gehandelten Güter wesentlich intensiver als auf anderen Märkten. Das gilt nicht nur für die Energiewirtschaft, sondern in vergleichbarer Weise auch für Telekommunikationsleistungen über feste Netze oder den Transport auf Eisenbahnen. Mehr noch als diese Leistungen, die aus Sicht der Nachfrager zumeist anderweitig substituierbar sind, ist der Einsatz von Energie in Haushalt und Gewerbe aus dem Leben moderner Industriegesellschaften nicht mehr hinwegzudenken, auch wenn etwa der stromverbrauchende Haushaltskunde die Möglichkeit hat, auf Petroleumlampen, Kerzen, Gaslicht, batteriebetriebene Transistorradios und zur Kühlung auf Trokkeneis auszuweichen, wie das Landgericht Freiburg 5 mit dem Sinn für die Romantik vergangener Tage festgestellt hat. Teilt man die Auffassung des Landgerichts, mag es überspitzt erscheinen, wenn das Hanseatische OLG Hamburg in seinem Hafenstraßen-Beschluß aus dem Jahre 1988 die Abhängigkeit plastisch so umschrieben hat, daß der moderne Mensch auf die Lieferung elektrischer Energie ebenso angewiesen sei wie auf die Luft zum Atmen 6 , oder wenn das Bundesverfassungsgericht meint, das Interesse an einer Stromversorgung sei heute so allgemein wie das Interesse am täglichen Brot. 7 Gleichwohl gehört die Versorgung mit leitungsgebundener Energie zum Standard heutiger Lebensführung und deren Vorenthaltung bedeutet eine empfindliche Einbuße an „Lebensqualität". 8 Der um Versorgung nachsuchende Verbraucher kann aufgrund der Leitungsgebundenheit der Energieversorgung bei Strom und Gas nicht ohne weiteres auf andere Anbieter ausweichen. Er ist, da er zumeist nicht die Möglichkeit der Eigenerzeugung hat, darauf angewiesen, über das bestehende Leitungsnetz eines Versorgungsunternehmens mit Energie versorgt zu werden. In diese rechtstatsächliche Ausgangslage ist die Vorschrift des § 10 EnWG eingebettet. Danach wird für Energieversorgungsunternehmen, die ein bestimmtes Gemeindegebiet versorgen, eine Anschluß- und Versorgungspflicht gegenüber jedermann zu den öffentlich bekanntgegebenen Bedingungen und Tarifpreisen statuiert. Aus ihr ergibt sich für die Energieversorgungsunternehmen eine Pflicht zur Leistung, die im Unterschied zu den Fällen des allgemeinen Kontrahierungszwangs nicht von einer vorherigen qualifizierten Vertragsverweigerung abhängig ist. Dem Wortlaut der Vorschrift nach besteht die Anschluß- und Versorgungspflicht sogar unabhängig von einem vorherigen Vertragsschluß zwischen dem Gebietsversorgungsunternehmen und dem begünstigten Abnehmer. Daher mag sogar zweifelhaft erscheinen, ob es sich bei § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG überhaupt um eine Form des spezialgesetzlich geregelten Kontrahierungszwangs handelt. 5 LG Freiburg RdE 1981, 30, 32 - Stromzahlungsboykott; vgl. auch AG Syke RdE 1989, 85, 86 - Zahlungsrückstand. 6 Hans. OLG Hamburg RdE 1988, 140 - Hafenstraße. 7 BVerfGE 91, 186, 206 (= NJW 1995, 381, 383) - Kohlepfennig. 8 LG Freiburg RdE 1981, 30, 31 - Stromzahlungsboykott.

408

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Davon geht allerdings das Schrifttum aus, wenn dort nachzulesen ist, § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG aktualisiere lediglich eine nach allgemeinen zivilrechtlichen Bestimmungen bereits bestehende Verpflichtung des Gebietsversorgungsunternehmens gegenüber seinen Abnehmern zum Abschluß eines Versorgungsvertrages. 9 Nach dieser Auffassung hat § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG keine eigenständige materiellrechtliche Bedeutung, sondern eine allein klarstellende Funktion. Insoweit soll angedeutet werden, daß sich die Aussage des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG auf die kodifikatorische Umsetzung der vor Inkrafttreten des EnWG ergangenen reichsgerichtlichen Rechtsprechung zu § 826 BGB beschränkt. Das Reichsgericht hatte, wie bereits dargelegt, in einer Reihe von Entscheidungen die allgemeine Verpflichtung zum Vertragsschluß dem Grunde nach als Folge einer sittenwidrigen Vertragsverweigerung iSv. § 826 BGB angesehen. Als notwendige, wenngleich wohl nicht hinreichende Bedingung für die Auferlegung des Kontrahierungszwangs hat das Gericht dabei die Monopolstellung der Kontrahierungspflichtigen vorausgesetzt. 10 Daneben hat das Reichsgericht - so auch in den die Energieversorgung betreffenden Judikaten - zumeist eine willkürliche Vertragsverweigerung verlangt 11 oder auf die „öffentliche Zweckbestimmung" des Angebots abgestellt. 12 Jedenfalls wurde die Bedeutung der von den Energieversorgungsunternehmen wahrgenommenen Versorgungsaufgabe in der Befriedigung eines allgemein als lebensnotwendig anerkannten Bedürfnisses gesehen. 13 Forsthoff glaubte daher auch, in § 6 Abs. 1 EnWG aF ein Paradebeispiel für die rechtliche Ordnung der Daseinsvorsorge zu erkennen. 1 4 Die Reduzierung von § 10 Abs. 1 S. 1 E n W G auf eine klarstellende Beschreibung der nach § 826 BGB ohnehin bestehenden Verpflichtung zum Vertragsschluß, so wie sie im Schrifttum anzutreffen ist, fordert zum Widerspruch heraus. Zweifel an einer inhaltlichen Kongruenz von allgemeinem Kontrahierungszwang und spezialgesetzlicher Verpflichtung nach § 10 Abs. 1 S. 1 E n W G ergeben sich nicht nur aus den bereits angesprochenen Unterschieden in der Regelungstechnik, sondern dem Wortlaut der Vorschrift nach auch aus den andersartigen Vorausset9

Feuerborn, S.85; Fischerhof, DÖV 1957, 305, 307; Gerigk, S.8, 13; Niederleithinger, S.96f.; Püttner, Recht, S. 127; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, R n . 3 , 9 , 102; vgl. auch Budenbender, ZUR 1998,641,648. 10 Vgl. zur Energieversorgung RG JW 1920, 1402, 1403 - Stromsperre I; RGZ 132, 273, 276 - Stromsperre II; RG HRR 1935 Nr. 1125 - Stromlieferung II; aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung OLG Stettin LZ 1929, Sp. 851, 853 - Ergänzungsstrom; OLG Hamm, JW 1931, 3139, 3140 - Reservestrom; JW 1930, 1426 - Stromlieferungsvertrag; LZ 1913, Sp. 251, 253 Gas- und Wasserlieferung. 11 RG JW 1920, 1402, 1403 - Stromsperre I; aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung OLG Hamm JW 1931, 3139, 3 1 4 0 - Reservestrom; LZ 1913, Sp. 251,253 - Gas- und Wasserlieferung. 12 In diesem Sinne wohl RGZ 132, 273, 276 - Stromsperre II. 13 RGZ 143, 24, 32 - Stromlieferung I; vgl. noch aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung OLG Frankfurt/M. LZ 1929, Sp. 854, 855. 14 Forsthoff, Lehrbuch, S. 370; ders., Verwaltung, S. 33 ff., 49.

II.

Entstehungsgeschichte

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zungen der allgemeinen Anschluß- und Versorgungspflicht, die jedenfalls nicht ausdrücklich auf die Monopolstellung der Energieversorgungsunternehmen rekurriert. Darüber hinaus hatte das Reichsgericht den allgemeinen Kontrahierungszwang aus dem Allgemeininteresse am Zustandekommen eines bestimmten Vertrages abgeleitet, während sich der allgemeine Kontrahierungszwang nach hiesiger Auffassung allein aus dem Individualinteresse des Begünstigten an der Befriedigung eigener Bedürfnisse erklären läßt. Es wird daher zu untersuchen sein, wie sich der Normzweck des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG dazu verhält.

II.

Entstehungsgeschichte

Die Vorschrift des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG (= § 6 Abs. 1 EnWG aF) wie auch das Energiewirtschaftsgesetz insgesamt verdankt seine Entstehung dem Bemühen des Staates, lenkenden Einfluß auf die privatrechtlich organisierte Energiewirtschaft zu gewinnen. Forderungen nach staatlicher Regulierung der Energiewirtschaft sind nicht erst unter dem NS-Gesetzgeber laut geworden, der das Energiewirtschaftsgesetz im Jahre 1935 erlassen hat, 15 sondern wurden bereits vor dem Ersten Weltkrieg erhoben, 16 nachdem der Sektor der Energiewirtschaft seit der Jahrhundertwende zunehmend an Bedeutung gewonnen hatte und insbesondere für die Tätigkeit der Industrie und der anderen Wirtschaftssektoren unerläßlich geworden war. Das mit dem Gesetz betreffend die Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft vom 31.12.1919 17 zunächst verfolgte Ziel, die bis dahin noch weitgehend in Privateigentum befindliche Energiewirtschaft zu Gunsten des Reiches zu enteignen, scheiterte, da die nach dem Gesetz erforderlichen Durchführungsbestimmungen in der Folgezeit nicht mehr erlassen wurden. 18 Mit dem Energiewirtschaftsgesetz des Jahres 1935 wurde das Sozialisierungsgesetz aus dem Jahre 1919 förmlich aufgehoben (§ 17 EnWG 1935) und das Ziel einer Verstaatlichung der Energiewirtschaft endgültig aufgegeben. An dessen Stelle trat das bis in die heutigen Tage fortwirkende Konzept einer weitgehenden staatlichen Kontrolle der Energieversorgungsunternehmen. Mit diesem „System der staatsgebundenen Wirtschaft mit privatwirtschaftlicher Substruktur" 19 sollte die Energieversorgung

15 RGBl. I S . 1454 (= BGBl. III, S. 752/1). - Das Gesetz ist von der Reichsregierung aufgrund des sog. Ermächtigungsgesetzes (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich) v. 24. 3. 1933, RGBl. I S. 141, erlassen worden; die Entstehungsgeschichte wird detailliert nachgezeichnet bei Kehrberg, S. 131 ff.; vgl. auch Evers, in: Energiewirtschaftsgesetz im Wandel, S. 15, 26 f. mwN.; Wesener, S. 38 ff. 16 Dazu Evers, Recht, S. 32; Gröner, S. 238 ff. 17 RGBl. 1920, S. 19; dazu Evers, Recht, S. 33; Gröner, S. 243 ff.; Jonghaus, S. 63 ff.; Kirchhoff, S. 50f.; Wesener, S. 33 f. 18 Dazu Evers, in: Energiewirtschaftsgesetz im Wandel, S. 15, 21 (b. Fn. 12). 19 So treffend Evers, in: Energiewirtschaftsgesetz im Wandel, S. 15, 20, 25.

410

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

im Interesse der Allgemeinheit „so sicher und billig" (in der heutigen Terminologie: preisgünstig) wie möglich gestaltet werden, wie es in der die gesetzgeberischen Motive reflektierenden Präambel des EnWG 1935 hieß. Parallel dazu hatten das Reich aber auch die Gemeinden, Gemeindeverbände und Kreise seit der Jahrhundertwende unter Hinweis auf das Gemeinwohl ihren Einfluß auf die Energiewirtschaft durch kapitalmäßige Beteiligung an bestehenden Unternehmen oder durch Neugründungen abzusichern versucht. Privatrechtssubjekte zogen sich angesichts der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusehends aus dem Bereich der Energiewirtschaft zurück,20 so daß ausschließlich mit privatem Kapital betriebene Energieversorgungsunternehmen im Laufe der Zeit immer seltener wurden.21 Der technisch-wirtschaftlichen Expansion der Branche folgte zugleich ein Konzentrationsprozeß, in dem kleinere - gerade auch kommunale - Unternehmen ihre Selbständigkeit verloren. Im Gefolge neuer Kraftwerkstechnik und der Diskussion um eine möglichst umweltschonende Energieversorgung konnte zwischenzeitlich wieder eine Tendenz zur ReKommunalisierung städtischer Versorgungsgebiete beobachtet werden,22 die freilich im Zuge der Wettbewerbseröffnung einem erneuten Konzentrationsprozeß weichen dürfte.

III. Regelungszweck

aus historischer

und heutiger

Sicht

Erklärtes Ziel des Energiewirtschaftsgesetzes sollte nach der seinerzeitigen Vorstellung des Gesetzgebers eine zweckmäßige Lenkung der Kapitalinvestitionen der Energieversorgungsunternehmen wie auch der Verbraucher sein.23 Als zweckmäßig wurden dabei alle Maßnahmen erachtet, die im Interesse einer gemeinnützigen Wirtschaftsgestaltung von volkswirtschaftlichem Vorteil sind. Die Energiewirtschaft sollte insbesondere „drei Grundforderungen der Volkswirtschaftspolitik" erfüllen: Eine möglichst wirtschaftliche Produktion, eine möglichst soziale Verteilung des Produktionsertrages und die möglichste Sicherstellung der Energieversorgung.24 20

Zur Entwicklung der Elektrizitätswirtschaft bis zum Jahr 1933 umfassend und instruktiv Jonghaus, S. 12ff.; Kirchhoff, S. 19ff., 52ff.; vgl. auch Evers, Recht, S . 2 4 f f „ 31; Fischerhof, Rechtsfragen II, S. 34ff.; Gröner, S. 46 ff., 86ff.; Hermes, S. 292 ff.; Wesener, S. 24ff. 21 Zur heutigen Eigentumsstruktur der Elektrizitätsversorgungsunternehmen vgl. Schiffer, S. 141 ff. 22 Die Rekommunalisierung wird vielfach durch die Erstellung kommunaler Energieversorgungskonzepte begleitet, in denen Leitlinien für die Koordinierung des Ausbaus leitungsgebundener Energie aufgestellt werden; vgl. dazu Dehmer, S.4ff.; Domke, S. 1 ff.; Wesener, S. 194 ff. 23 Vgl. Amtliche Begründung z. EnWG (RAnz Nr. 297 v. 20.12.1935), abgedruckt bei Tegethoff/Büdenbender/Klinger, Präambel EnergG, S. 1 3 , 1 6 . 24 Amtliche Begründung z. EnWG (RAnz Nr. 297 v. 20.12.1935), abgedruckt bei Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, Präambel EnergG, S. 13.

III. Regelungszweck aus historischer und heutiger Sicht

411

Schon vor Inkrafttreten der Energierechtsnovelle 1998 war fragwürdig, inwieweit die genannten Postulate noch zielführend für die Anwendung des Energiewirtschaftsgesetzes und damit auch für die Interpretation des § 6 Abs. 1 EnWG aF sein konnten, zumal die Entstehung des Gesetzes weitgehend von dem Gedanken der „Wehrhaftmachung der deutschen Energiewirtschaft" beeinflußt war.25 Streitig war in diesem Zusammenhang insbesondere, ob die seit dem Inkrafttreten unverändert gebliebene Präambel zum EnWG 1935 für die Gesetzesauslegung noch herangezogen werden konnte. Dies war deshalb von Bedeutung, weil das Energiewirtschaftsrecht traditionell mit einer Reihe wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe arbeitet. Zur Konkretisierung dieser Rechtsbegriffe bot sich vor Inkrafttreten der Energierechtsnovelle 1998 der Rückgriff auf die Präambel an, weil in dieser die Motive des Gesetzgebers gleichsam zusammengefaßt waren.26 Dort hieß es: „Um die Energiewirtschaft als wichtige Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Zusammenwirken aller beteiligten Kräfte der Wirtschaft und der öffentlichen Gebietskörperschaften einheitlich zu führen und im Interesse des Gemeinwohls die Energiearten wirtschaftlich einzusetzen, den notwendigen öffentlichen Einfluß in allen Angelegenheiten der Energieversorgung zu sichern, volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern, einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern und durch all dies die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten, hat die Reichsregierung das folgende Gesetz beschlossen, ( . . . ) : "

Nicht zu verkennen ist, daß sich gerade die im Zeitpunkt der Entstehung des EnWG herrschenden wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen grundsätzlich von einer Wirtschaftsordnung marktwirtschaftlicher Prägung unterschieden: Daher waren auch die gesetzgeberischen Ziele des Jahres 1935 einer Neubewertung im Lichte der in der Bundesrepublik Deutschland geltenden wirtschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen zu unterziehen; teilweise mußten sie als durch die geltende Verfassungsordnung derogiert angesehen werden. Das galt etwa für die aus der Präambel ersichtliche Überbetonung der volkswirtschaftlich schädlichen Auswirkungen des Wettbewerbs und die Forderung nach einheitlicher Führung der Energiewirtschaft, die ersichtlich nationalsozialistischer Ideologie entstammte.27 Im Zusammenspiel mit der in der Begründung zum Energiewirtschaftsgesetz 1935 betonten Notwendigkeit der staatlichen Lenkung der Energiewirtschaft schien die Präambel insbesondere eine mehr oder weniger starke staatliche Einwirkung auf das Tagesgeschäft der Energieversorgungsunternehmen nicht auszuschließen;28 diese war im Gegenteil von den Gesetzesverfassern sogar gewollt.29 Hans-Ulrich 25

Dazu instruktiv Kehrberg, S. 167 f.; vgl. aus zeitgenössischer Sicht noch Jonghaus, S. 70 ff. Zur Bedeutung von Gesetzespräambeln für die historische Auslegung vgl. nur BVerfGE 11, 168, 184; 14,263, 265 f. 27 Kehrberg, S. 136f„ 147, 164ff.; vgl. auch Grabosch, S. 64f., 65 f.; Knöchel, S. 92f. 28 Vgl. Begründung z. EnWG, abgedruckt bei Tegethoff/Büdenbender/Klinger, S. I 3,16. 29 Kehrberg, S. 132. 26

412

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Evers sprach daher treffend von dem Modell einer „Krypto-Staatswirtschaft". 3 0 Diese hatte mit einem marktwirtschaftlichen System heutiger Prägung im Ausgangspunkt wenig gemein. Das zuvor Ausgeführte galt jedoch nicht für die aus dem Motivbündel der Präambel herausgehobenen Leitmotive der sicheren und billigen Energieversorgung. 31 Der Gesetzgeber hatte schon vor Inkrafttreten der Energierechtsnovelle 1998 durch die Aufnahme dieser Ziele in neuere Kodifikationen mit energiewirtschaftlichem Bezug gezeigt, daß die rechtliche Gestaltung der Energiewirtschaft nach wie vor von diesen Motiven geprägt wird. Das verdeutlichte einerseits § 103 Abs. 5 GWB aF: Mit dieser Norm des Energiekartellrechts wurde die Mißbrauchsaufsicht über Energieversorgungsunternehmen insbesondere der Zielsetzung einer möglichst sicheren und preiswürdigen Versorgung verpflichtet. Darüber hinaus wurden Gebietsversorgungsunternehmen nach § 4 StrEG aF von der Verpflichtung zur Abnahme von Strom aus regenerativen Energiequellen befreit, wenn ihnen die Einhaltung der Verpflichtungen aus der Bundestarifordnung Elektrizität (BTOElt) ansonsten unmöglich wurde. 3 2 In § 1 Abs. 1 dieser Tarifordnung wird als Ziel der Tarifbildung unter anderem auch das Erfordernis „einer möglichst sicheren und preisgünstigen Energieversorgung" genannt. Die Leitziele der möglichst sicheren und preisgünstigen Versorgung hat der Gesetzgeber mit der Energierechtsnovelle 1998 ausdrücklich auch in der Zweckbestimmung des § 1 EnWG verankert und durch das gleichrangige Ziel der umweltverträglichen Versorgung ergänzt. 33 Der Gesichtspunkt der Umweltverträglichkeit der Energieversorgung war freilich auch schon vor Inkrafttreten des EnWG 1998 bei der Auslegung des Gesetzes zu berücksichtigen, allerdings über den „Umweg" einer verfassungskonformen Auslegung der Leitziele Versorgung sSicherheit und Preisgünstigkeit anhand der Staatszielbestimmung des Art. 20 a GG. 3 4 Insgesamt zeigt sich damit, daß die Zweckbestimmung des § 1 E n W G 1998 eine kontinuierliche Fortentwicklung der seit jeher im Energierecht geltenden Leitziele beinhaltet, allerdings mit stärkerer Akzentuierung im Bereich des Umweltschutzes. Für das Prinzip der Versorgungssicherheit bedeutet das zwingend, daß nicht nur eine ausreichende, jederzeit bereite und technisch vollkommene Versorgung der Allgemeinheit mit den vom Gesetz erfaßten Energiearten zu gewährleisten ist, 30

Evers, in: Energiewirtschaftsgesetz im Wandel, S. 15, 25. Knöchel, S. 94. - Das Ziel einer sicheren und preisgünstigen Energieversorgung steht auch mit den EG-Marktregeln in Einklang; vgl. dazu Art. 3 Abs. 2 RL 96/92/EG v. 19.12.1996, ABl. 1997 Nr. L 27/20. 32 Dazu unten § 10 V 2 b. 33 Zur Aufnahme umweltpolitischer Steuerungsziele in das EnWG vgl. Schröder, DVB1. 1994, 835 ff. 34 Vgl. U. Scholz, S.49. 31

III. Regelungszweck aus historischer und heutiger Sicht

413

sondern auch die natürlichen Grundlagen der Energieerzeugung zu sichern sind. Es geht also nicht nur um die Sicherstellung der individuellen Energieversorgung einzelner Abnehmer. 35 Versorgungssicherheit bedeutet auch Sicherung der natürlichen Grundlagen der Energieversorgung im Sinne von Ressourcenschonung, Energieeinsparung und möglichst rationeller Energieverwendung. 36 Preisgünstigkeit der Versorgung ist nunmehr im Kontext der wettbewerblichen Öffnung der Energiemärkte als Versorgung zu möglichst wettbewerbsnahen Preisen zu verstehen. Das alte System der Energiepreiskontrolle, das mangels Wettbewerbs um die Letztverbraucher eine Kontrolle der Preisbildung allein anhand der Kostenstruktur der Versorgung vorsieht, kann nur noch für eine Übergangszeit hingenommen werden bis sich für alle Abnehmergruppen wettbewerbliche Strukturen herausgebildet haben. Daneben gilt - unabhängig von dem anzulegenden Preisüberprüfungsmaßstab - die Aussage, daß das Energieversorgungsunternehmen unter mehreren gleich sicheren Versorgungsalternativen die für den Energieverbraucher kosten- und preisgünstigste zu wählen hat. 37 Bezogen auf die Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG und die Tarifüberwachung nach § 11 EnWG soll die Umsetzung der Leitprinzipien der Sicherheit und Preisgünstigkeit der Versorgung nach tradierter Auffassung dem Schutz der Gesamtheit der Energieverbraucher vor einem Mißbrauch der wirtschaftlichen Machtstellung des Gebietsversorgungsunternehmens dienen. 38 Der historische Gesetzgeber hat die Mißbrauchsmöglichkeit darin gesehen, daß die „Abnehmergruppen, die auf die allgemeinen Versorgungsbedingungen angewiesen sind, (...) zum weitaus größten Teil einem Versorgungsmonopol gegenüber(stehen)". 39 Der sich daraus ergebende Interessenkonflikt zwischen den Gebiets Versorgungsunternehmen und den Letztverbrauchern soll durch § 10 EnWG und die ergänzenden Tarifregeln (§11 EnWG iVm BTOElt) gelöst werden. 40 Dagegen werden die Rechtsbeziehungen zwischen Erzeugerunternehmen und Zwischenlieferanten, Erzeugerunternehmen und Verteilerunternehmen sowie zwischen Zwischenlieferanten und Verteilerunternehmen durch das EnWG

35 Das entspricht allerdings der herkömmlichen Interpretation; vgl. nur Büdenbender, Energierecht, Rn.70; Danner, in: Obernolte/Danner, Vorb. EnWG, S.I 14 cf.; Evers, Recht, S.99; Knöchel, S. 94; Tegethoff, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, Präambel EnWG, S I 21, Rn. 2. 36 Dazu bereits Wesener, S. 185f.; vgl. auch Falk, S. 119ff.; B. Herrmann, S. 133ff.; Pohlmann, S. 205 ff.; U. Scholz, S. 45 f., 48; Weigt, ET 1996, 251, 251 f., der zwar Energieinsparung und Ressourcenschonung als von den Zielen des EnWG umfaßt ansieht, das aber für den Umweltschutz verneint. 37 Knöchel, S.95; U. Scholz, S.46f. 38 Vgl. Gerigk, S. 12, 28; Immenga, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 217; Miksch, S. 147 f. 39 Amtliche Begründung z. EnWG, (RAnz Nr. 297 v. 20.12.1935), abgedruckt bei Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, Präambel EnergG. S. 17. 40 Ebenso Büdenbender, Energierecht, Rn. 758; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 Anm. 2 a (S. I 144); Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 Rn. 1; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 Rn. 15.

414

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

nicht erfaßt.41 Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts wird dies nunmehr auch im Wortlaut des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG klargestellt, der auf die „allgemeine Versorgung von Letztverbrauchern" abstellt.42 Dem Inhalte nach ist § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG - in den Worten Forsthoffs ein Mittel der staatlichen Daseinsvorsorge, mit dem das individuelle Versorgungsinteresse einzelner zum Gemeinwohlinteresse erhoben wird. Herbert Diekmann43 hat insoweit in Anlehnung an eine pathetische Formulierung Adolf Webers gemeint, der Gesetzgeber habe die Anschluß- und Versorgungspflicht in seiner Funktion als Schutzpatron der Rechtsgemeinschaft geschaffen. Richtig daran ist, daß die Energieversorgung nicht im Individualinteresse einzelner Verbraucher, sondern im Interesse der Gesamtheit der Verbraucher (sprich: der Allgemeinheit) gewährleistet wird.44 Für die Energieversorgungsunternehmen erwächst daraus die Verpflichtung, die Versorgung der schutzbedürftigen Letztverbraucher im Interesse der Allgemeinheit sicherzustellen.45 Inwieweit die Deregulierung daran etwas ändert, bleibt noch zu untersuchen.

IV. Grundlagen

der Anschluß-

und

Versorgungspflicht

1. Normadressaten a. Energieversorgungsunternehmen iSv. §2 Abs. 3 EnWG Nach dem Blick auf das überlieferte sachliche Fundament des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG sollen im folgenden zunächst die einzelnen Voraussetzungen der Anschluß- und Versorgungspflicht näher beleuchtet werden. Die Anschluß- und Versorgungspflicht besteht nach dem Wortlaut von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG nicht für alle Energieversorgungsunternehmen iSd. Legaldefinition des § 2 Abs. 3 EnWG, sondern nur für solche, die ein bestimmtes Gebiet versorgen. Der Adressatenkreis der Anschluß- und Versorgungspflicht ist also ein anderer als derjenige, der durch den Begriff „Energieversorgungsunternehmen" 41

Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 Rn. 15. - Der Fall des § 6 Abs. 3 EnWG spricht nicht dagegen, da der Eigenerzeuger dort auf der Letztverbraucherstufe als Nachfrager auftritt. 42 Art. 1 § 4 Abs. 1 S. 1 d. Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts, BR-Drucks. 806/96, S. 3. 43 Die Rechtsnatur des Energielieferungsvertrages, S. 60. 44 Vgl. auch BVerfGE 91, 186 (= NJW 1995, 381, 382) - Kohlepfennig; Hueck, S. 164; Niederleithinger, S. 89 ff.; Tegethoff, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 2 EnergG, Anm. 3 f., Rz. 5 (S. 1104); aA Nonhoff, S. 64. 45 Evers, in: Energiewirtschaftsgesetz im Wandel, S. 15, 29, spricht in diesem Zusammenhang von der „Gemeinwohlbindung der EVU für den Alltag der Versorgungsbeziehungen"; vgl. auch Dickmann, S. 60.

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

415

bezeichnet wird. 46 Zum Zwecke der Abgrenzung ist zunächst der Bedeutungsgehalt dieses Rechtsbegriffs aufzuhellen. Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 3 EnWG sind Energieversorgungsunternehmen im Sinne des Energiewirtschaftsgesetzes „alle Unternehmen und Betriebe, die andere mit Energie versorgen oder ein Netz für die allgemeine Versorgung betreiben". Ein Unternehmen oder Betrieb wird damit zum Energieversorgungsunternehmen, sofern es die Versorgung anderer mit Elektrizität oder Gas aufnimmt bzw. ein dafür bestimmtes Netz betreibt. Zur Aufnahme der Versorgung ist eine Genehmigung erforderlich (§ 3 EnWG), für deren Erteilung die nach dem Organisationsrecht der Länder zu Energieaufsichtsbehörden berufenen Verwaltungsstellen zuständig sind (Art. 74 Nr. 11, 83 ff. GG). 47 Aus dem Wortlaut von § 2 Abs. 3 EnWG (Versorgung anderer „mit Energie") ergibt sich nicht eindeutig, ob die Eigenschaft „Energieversorgungsunternehmen" von der Versorgung anderer mit beiden dem Energiewirtschaftsgesetz unterfallenden Energiearten (Elektrizität und Gas) abhängig ist. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 EnWG aF war dies nicht der Fall. Das Gesetz sprach von der Versorgung anderer „mit elektrischer Energie oder Gas." 48 Der geänderte Normwortlaut dürfte freilich an der bisherigen Rechtslage nichts geändert haben, da es Unternehmen gibt, die nur in einer Energiesparte tätig sind, aber gleichwohl selbstverständlich Energieversorgung iSv. § 2 Abs. 3 EnWG betreiben. Auf der anderen Seite nimmt ein Unternehmen oder Betrieb durch die Aufnahme der Versorgung anderer mit einer der beiden Energiearten die Eigenschaft „Energieversorgungsunternehmen" auch nur für die Energieart an, mit der es tatsächlich andere versorgt. 49 Dem EnWG liegt daher ein „partieller" EVU-Begriff zugrunde. Die von einer verbreiteten Gegenmeinung 50 gezogene Schlußfolgerung, die Versorgung anderer mit einer der beiden Energiearten begründe zugleich die Eigenschaft „Energieversorgungsunternehmen" für die andere Energieart ist vor dem Hintergrund der Aufgaben des Energieaufsichtsrechts nicht überzeugend. Es sind keine Gründe ersichtlich, warum das Energiewirtschaftsgesetz ein Unternehmen, das in bezug auf eine Energieart tatsächlich keine Versorgung betreibt, dennoch als Energieversorgungsunternehmen im Hinblick auf diese Energieart ansehen sollte. Hinzu kommt, daß nur ein „partielles" Verständnis des Begriffs „Energieversorgungsunternehmen" eine sinnentsprechende Anwendung von § 3 EnWG zuläßt, wonach für die Aufnahme der Versorgung anderer mit 46

Vgl. auch OLG Karlsruhe RdE 1995, 206, 209 - Stromeinspeisung. Zur Rechtslage nach § 5 EnWG aF vgl. noch Danner, in: Obernolte/Danner, § 5 EnWG, Anm. 5 a (S. 1138); § 1 EnWG, Anm. 2 c ( S . 4) mwN. 48 Hervorh. v. Verf. 49 Danner, in: Obernolte/Danner, § 5 EnWG, Anm. 4 a (S. I 136 f.); Wehberg, S. 162. 50 Büdenbender, Energierecht, Rn. 139; Hüttl, NJW 1954, 1635, 1635 f.; Ludwig/Cordt/ Stech/Odenthal, § 2 EnergG Anm. 3 Rn. 14, § 5 EnergG Anm. 4 Rn. 13; Tegethoff, in: Tegethoff/ Büdenbender/ Klinger, § 2 EnergG, Anm. 3 b, Rn. 10; Thiele, ET 1982, 340, 341. 47

416

§10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Energie eine Genehmigung erforderlich ist: Die vom Energiewirtschaftsgesetz erfaßten Energiearten Gas und Elektrizität unterliegen völlig anderen technischen und wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die im Rahmen der Genehmigungspraxis nach § 3 EnWG zu berücksichtigen sind. Aus diesem Grunde sind auch an die Leistungsfähigkeit der um Genehmigung nachsuchenden Unternehmen unterschiedliche Anforderungen zu stellen. Nur wenn sich die Unternehmen im Hinblick auf die jeweilige Energieart als versorgungswirtschaftlich zuverlässig erweisen, sind die Grundvoraussetzungen für eine sichere und preisgünstige Versorgung im Sinne des Energiewirtschaftsgesetzes gegeben. Die hinreichende Leistungsfähigkeit eines Unternehmens für die Versorgung mit einer Energieart indiziert also nicht zwangsläufig die Leistungsfähigkeit für die spätere Übernahme der öffentlichen Versorgung mit der anderen Energieart. 51 Ein Energieversorgungsunternehmen, das nur mit einer Energieart versorgt, benötigt also für die Aufnahme der Versorgung mit der anderen Energieart eine gesonderte Genehmigung nach § 3 EnWG. 5 2 Es bleibt festzuhalten, daß der Begriff des Energieversorgungsunternehmens iSv. § 3 EnWG, der im Sinnzusammenhang des Energiewirtschaftsgesetzes kein anderer sein kann als derjenige in § 2 Abs. 3 EnWG, 5 3 spartenabhängig ist: Energieversorgungsunternehmen ist ein Unternehmen oder Betrieb nur im Hinblick auf die von ihm betriebene Versorgung anderer mit einer bestimmten Energieart. Dem Energiewirtschaftsgesetz liegt also im Hinblick auf den Terminus „Energieversorgungsunternehmen" ein partielles Begriffsverständnis zugrunde. b. Begrenzung auf aa)

Gebietsversorgungsunternehmen

Regelungskontext

Der zuvor skizzierte Inhalt des Begriffs „Energieversorgungsunternehmen" wird nun durch § 10 Abs. 1 S. 1 E n W G insoweit modifiziert, als der Anwendungsbereich dieser Vorschrift erst durch das Merkmal der „allgemeinen Versorgung" eines „Gemeindegebietes" eröffnet wird. Energieversorgungsunternehmen, die 51

VG Braunschweig RdE 1986, 85, 86 - Betriebsaufnahmegenehmigung. Vgl. VG Braunschweig RdE 1986, 85, 85 f. - Betriebsaufnahmegenehmigung; Danner, in: Obernolte/Danner, § 5 EnergG, Anm. 4 a) (S. I 137); Darge/Melchinger/RumpfWß, § 5, Anm. 1 b; Evers, Recht, S. 104; Fischerhof., Energiewirtschaftsrecht, S.357; v. Turegg, NJW 1954, 861, 864; BMJ RBeil. 1954, 88; Wehberg, S. 164; aA Badenbender, Energierecht, Rn. 139; Ludwig/ Cordt/Stech/Odenthal, §5 EnergG, Rn. 13; Tegethoff, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 5 EnergG, Anm. 4a Rn. 2ff.; Thiele, ET 1982, 340, 340f. 53 So auch Büdenbender, Energierecht, Rn. 139; Tegethoff, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 5 EnergG, Anm. 4 a, Rn. 1; vgl. auch OLG Karlsruhe RdE 1995, 206, 208 - Stromeinspeisung; aA VG Braunschweig RdE 1986, 85, 85 f., das nur für § 5 EnWG aF von einem partiellen EVU-Begriff ausgeht (Die Annahme, daß ein Begriff in einzelnen Vorschriften eines Gesetzes in unterschiedlichem Sinn verwandt wird, bedarf jedoch der Begründung. Das gilt umso mehr, wenn das Gesetz wie in § 2 Abs. 3 EnWG für diesen Begriff eine Legaldefinition enthält.). 52

IV. Grundlagen

der Anschluß-

und

Versorgungspflicht

417

nach dem Begriffsverständnis des § 2 Abs. 3 E n W G zwar die öffentliche Energieversorgung durch Abgabe von Energie an Dritte („andere") betreiben, jedoch kein „Gemeindegebiet" versorgen, werden von der spezialgesetzlichen Anschluß- und Versorgungspflicht von vornherein nicht erfaßt. Für sie kann sich eine Versorgungspflicht, soweit § 19 und § 20 Abs. 1, 2 GWB nicht einschlägig sind, daher allenfalls nach den Grundsätzen des allgemeinen Kontrahierungszwangs ergeben. Das Konkurrenzverhältnis von § 10 Abs. 1 S. 1 E n W G zum Institut des allgemeinen Kontrahierungszwang wird später noch zu erörtern sein. Im folgenden ist zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen eine Gebietsversorgung iSv. § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG vorliegt, die nach dem Wortlaut der Vorschrift automatisch eine Leistungsverpflichtung des betroffenen Energieversorgungsunternehmens gegenüber jedermann zur Folge hat, wenn ein Abnehmer die Versorgung nach Tarifgrundsätzen begehrt. Der Wortlaut des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG läßt offen, was unter einem „Gemeindegebiet" im Sinne der Bestimmung zu verstehen ist, und fordert vom Normanwender zudem eine Konkretisierung des Begriffs „allgemeine Versorgung". Beide Merkmale werden durch die Norm in eine Beziehung zueinander gesetzt und können daher nicht isoliert interpretiert werden. Nach dem Gesetzeswortlaut kommt dabei dem Tatbestand der „allgemeinen Versorgung" entscheidende Bedeutung für die daran anknüpfende Pflichtenbindung der Energieversorgungsunternehmen zu, während das Erfordernis der Versorgung eines „Gemeindegebietes" darüber hinaus nur die Funktion hat, den Kreis der aufgrund ihrer Versorgungstätigkeit rechtlich gebundenen Unternehmen zu begrenzen.

bb)

Begriffskonkretisierung

(1) Allgemeine Versorgung (a)

Fremdversorgung

Der inhaltlichen Konturierung bedarf daher zunächst, was das Gesetz unter der Tätigkeit der „allgemeinen Versorgung" versteht. Im Zusammenhang mit einer unternehmerischen Betätigung im Bereich der Energiewirtschaft deutet der Begriff „Versorgung" auf die Notwendigkeit einer konkreten Betätigung im Außenverhältnis zu Dritten hin. Diese ist in der Energieübertragung an Letztverbraucher zu sehen, da nur sie und nicht auch andere Energieversorgungsunternehmen in den Genuß einer tarifmäßigen Versorgung nach § 10 Abs. 1 S. 1 E n W G kommen. Das Erfordernis einer „außengerichteten" Versorgung gegenüber Letztverbrauchern spiegelt sich darin wider, daß sich die Versorgung auf ein konkretes Gebiet beziehen muß. Die Vorschrift weist damit inhaltliche Parallelen zu dem Tatbestand der allgemeinen Versorgung in § 2 Abs. 3 EnWG auf. Danach ist - in Abgrenzung zur Eigenversorgung (vgl. auch § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 EnWG) - eine drittgerichtete Versorgung gegeben, wenn eine Versorgung „anderer" mit Energie

418

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

stattfindet. Unternehmen, die keine Fremd-, sondern nur eine Eigenversorgung betreiben, die Energie also nur zum Eigenverbrauch produzieren, sind daher weder Adressaten von § 3 EnWG noch von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG. (b) Geschäftseröffnung

durch

Versorgungsbereitschaft

Die in § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG beschriebene Versorgungstätigkeit der Energieversorgungsunternehmen ist nach isoliertem Wortverständnis bereits bei der Belieferung eines einzelnen Abnehmers gegeben. Diese Deutung des Versorgungsbegriffs hatte sich im Anwendungsbereich von § 2 Abs. 2 S. 1 EnWG aF etabliert.54 Allerdings war dort, wie nunmehr auch in § 2 Abs. 3 EnWG, nicht von der Versorgung eines bestimmten Gebietes die Rede, sondern als Hinweis auf die „Öffentlichkeit" der Betätigung von der Versorgung „anderer", womit letztendlich nur eine Abgrenzung von der reinen Eigenversorgung getroffen wird. Demgegenüber zeigt das in § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG statuierte Erfordernis der flächendeckenden Versorgung eines „Gemeindegebietes", daß der Fremdbezug der Versorgungstätigkeit nicht schon durch die Versorgung eines einzelnen - juristisch selbständigen - Abnehmers hergestellt wird. Eine flächendeckende Versorgung, zumal wenn diese nach Tarifgrundsätzen durchgeführt werden soll, ist gedanklich mit der Vorstellung einer Mehrzahl letztverbrauchender Abnehmer verbunden.55 Die Belieferung eines einzelnen Abnehmers durch ein Energieversorgungsunternehmen macht aus diesem noch kein Gebietsversorgungsunternehmen, das im Interesse der Allgemeinheit besonderen Versorgungspflichten unterworfen ist. Andererseits widerspräche es der Gemeinwohlorientierung des Gesetzes, das auch ausweislich der Materialien auf eine gleichmäßige Versorgung aller potentiellen Abnehmer eines Versorgungsgebietes abzielt, die flächendeckende Aufnahme der Versorgungstätigkeit in einem Gebiet zur Voraussetzung der Anschlußund Versorgungspflicht zu machen.56 In diesem Fall fielen einzelne Abnehmer, die in bisher nicht versorgten Räumen eines (Gemeinde-) Versorgungsgebietes ansässig sind, aus dem Schutzbereich der Norm heraus, wenn sie vor Aufnahme einer flächendeckenden Gebietsversorgung für sich selbst Anschluß und Versorgung begehren. Ihnen bliebe unter der Voraussetzung einer qualifizierten Vertragsverweigerung durch das Energieversorgungsunternehmen allein die Möglichkeit, ihre Vertragsinteressen unter Berufung auf die Grundsätze des allgemei54 Zu § 2 Abs. 2 S. 1 EnWG aF vgl. nur Danner, in: Obernolte/Danner, § 2 EnWG, Anm. 4 b (S. I 173); Tegethoff, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 2 EnergG, Anm. 3 b, Rn. 1; aA Taegen, DVB1. 1994, 1146, 1147. 55 Gerigk, S.9. 56 So aber OLG Hamm, RBeil. 32 (1971), 20, 21 - Gasversorgung, und im Ansatz Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 60, der verlangt, daß „die Versorgung wenigstens in gewissem Umfang bereits erfolgt"; zu § 2 EnWG aF auch Büdenbender, Energierecht, Rn. 102.

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

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nen Kontrahierungszwangs bzw. nach §§ 19, 20 Abs. 1, 2 GWB durchzusetzen. Intention des Gesetzgebers war es aber offenbar, den Zugang zur Energieversorgung gegenüber der allgemeinen Gesetzeslage zu verbessern und eine Leistungsverpflichtung des Energieversorgungsunternehmens bereits auf erstes Anfordern zu begründen, sofern es in einem Gemeindegebiet „versorgt". Für eine teleologische Reduktion dieser Verpflichtung auf Teilgebiete des Versorgungsgebiets, in denen die Versorgungsstrukturen bereits „verdichtet" sind, fehlt unter diesen Umständen die Grundlage. Die von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG vorausgesetzte energiewirtschaftliche Betätigung ist nach Sinn und Zweck der Norm schon dann gegeben, wenn das Energieversorgungsunternehmen die Versorgung eines bestimmten Gemeindegebietes tatsächlich zwar noch nicht oder noch nicht vollständig aufgenommen hat, wenn es sich jedoch zur Versorgung dieses Gebietes zumindest bereit erklärt hat. Nicht erforderlich ist nach Sinn und Zweck der Norm, daß sich die Versorgungsbereitschaft notwendig mit den politischen Grenzen einer Gemeinde deckt. Die Gemeinden sind nicht gehindert, Vereinbarungen über die Versorgung ihres Gemeindegebietes mit verschiedenen Anbietern zu treffen und insoweit das Gebiet der politischen Gemeinde in verschiedene Versorgungsgebiete aufzuteilen. Die Versorgungsbereitschaft des Energieversorgungsunternehmens setzt im übrigen nicht notwendig ein bestehendes Leitungsnetz voraus. Es genügt die Kundgabe der Geschäftseröffnung gegenüber Dritten, die auch konkludent möglich ist.57 Soweit kein ausdrückliches Anerbieten zur Übernahme der Energieversorgung vorliegt,58 können sich Indizien dafür aus der in § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG angesprochenen öffentlichen Bekanntgabe der Versorgungsbedingungen und -tarife, aus dem Abschluß eines Wegeleitungsvertrages mit der jeweiligen Gebietskörperschaft 59 oder aus der Erteilung einer Betriebsaufnahmegenehmigung gemäß § 3 EnWG ergeben. Eine auf ein bestimmtes Gebiet bezogene Versorgungstätigkeit liegt demzufolge schon vor, wenn sich aus dem außenwirksamen Handeln des Energieversorgungsunternehmens die grundsätzliche Bereitschaft zur Versorgung aller potentiellen Abnehmer ergibt, die als Nachfrager innerhalb bestimmter oder zumindest bestimmbarer räumlicher Grenzen auftreten.60 Das ist nicht der Fall, wenn lediglich ein einzelner oder einzelne Abnehmer versorgt werden, ohne 57 BGH WuW/E BGH 3079, 3086 - Stromeinspeisung II; in diesem Sinne auch Immenga, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 220. 58 Ähnlich wohl Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 18: „durch eine an die Öffentlichkeit gerichtete Erklärung"; bei Obernolte, in: Obernolte/Danner, § 6 EnerG, Anm. 2 b (S. 1145) heißt es, das Energieversorgungsunternehmen müsse sich zur Versorgung bereit erklärt haben; so auch Erlaß des RWM v. 21.5. 1937 - IV 17088/37, abgedruckt bei Darge/ Melchinger/Rumpf, II. Teil, Bd. 1, Textteil 58. 59 Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1,5; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 18; Vykydal, S.91. 60 J. F. Baur, RdE 1996,173,179; Fischerhof, Energiewirtschaftsrecht, S. 361; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 18; Vykydal, S. 91.

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daß ein darüber hinausgehendes Anerbieten des Energieversorgungsunternehmens zur Versorgung aller, in dem Gebiet vorhandenen (potentiellen) Abnehmer erkennbar ist. 61 (2) Versorgungsgebiet (a)

Abgrenzungskriterien

Es bleibt die Frage zu klären, wie das Versorgungsgebiet iSd. § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG, für das die Anschluß- und Versorgungspflicht gilt, räumlich abzugrenzen ist. Gefragt ist also nach den Kriterien, anhand derer zu bestimmen ist, welches „Gemeindegebiet" der Adressat von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG „versorgt". Möglich erscheint es, für die Bestimmung des Versorgungsgebietes rechtliche und tatsächliche Kriterien heranzuziehen. In tatsächlicher Hinsicht wäre im Anschluß an die Ausführungen zum Versorgungsbegriff darauf abzustellen, für welche räumlich abgrenzbare Fläche das Energiewirtschaftsunternehmen die Geschäftseröffnung zum Zwecke der Fremdversorgung entweder durch Aufnahme der Versorgung Dritter oder durch Erklärung der Versorgungsbereitschaft kundgetan hat. 62 Daraus ergibt sich, daß das Versorgungsgebiet nicht notwendig auf den Bereich tatsächlicher Versorgung begrenzt ist, diese nicht einmal notwendig voraussetzt, wenn jedenfalls eine flächenbezogene Versorgungsbereitschaft erkennbar ist. Ein geeignetes rechtliches Kriterium zur Abgrenzung des mit der Anschluß- und Versorgungspflicht „belasteten" Versorgungsgebietes kann in bestehenden Wegenutzungsrechten gesehen werden, wie sie den Energieversorgungsunternehmen in Konzessionsverträgen eingeräumt werden. 63 Stellt man allein auf die rechtliche Abgrenzung des Versorgungsgebietes ab, dann beschränkt sich die Anschluß- und Versorgungspflicht auf das rechtlich definierte Gebiet, unabhängig davon, ob das Energieversorgungsunternehmen tatsächlich noch andere Bereiche versorgt oder dazu bereit ist. Diese Betrachtungsweise ist allerdings mit dem Wortlaut des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG kaum in Einklang zu bringen, da dort dem Sinn nach zumindest auch auf das tatsächliche Moment der „Versorgung" abgestellt wird. Dem scheinen Stimmen in der Literatur Rechnung tragen zu wollen, die als bestimmtes Gebiet iSv. § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG den Bereich ansehen, für den sich 61

In diesem Sinne offenbar auch BGH WuW/E BGH 3079, 3086 - Stromeinspeisung II; OLG Hamm RBeil. 32 (1971), 20, 21 - Gasversorgung; Büdenbender, Energierecht, Rn. 757; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 5; vgl. auch RegBegr z. Entw eines Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts, BT-Drucks. 13/7274, S.9., 16f.; aA B. Herrmann, S. 93 f.; Jockel, in: Deregulierung, S. 31, 38 f. 62 Vgl. BGH RdE 1996, 191, 193 - Interimsversorgung; J. F. Baur, RdE 1996, 173, 179; Evers, Recht, S. 129; Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1, 5; Ritter, S. 35; Büdenbender, Energierecht, Rn. 757, der allerdings die Anschluß- und Versorgungspflicht auf Gebiete mit bereits aufgenommener Versorgung beschränken will. 63 Vgl. Fischerhof, Rechtsfragen, S. 101; Schulz-Jander, in: Ablauf, S. 67,76; Wehberg, S. 64.

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das Energieversorgungsunternehmen zur Versorgung der letzten Verbraucher allgemein bereit erklärt hat und in dem es rechtlich, etwa durch Innehaben eines Wegebenutzungsrechts, auch dazu in der Lage ist. 64 Konsequenz dieser rechtliche und tatsächliche Kriterien vereinigenden Betrachtungsweise ist es, daß sich die Anschluß- und Versorgungspflicht einerseits immer auf das rechtlich markierte Gebiet beschränkt, andererseits innerhalb dieses Gebietes nur für den Bereich besteht, für den das Unternehmen seine Versorgungsbereitschaft kundgetan hat. Danach bestimmt sich der Umfang der Anschluß- und Versorgungspflicht - in den Grenzen eines bestehenden Wegebenutzungsrechts - maßgeblich nach der tatsächlichen Versorgungsbereitschaft. Zweifel sind jedoch angebracht, ob diese Gesetzesinterpretation dem in § 1 EnWG postulierten Zweck des Energiewirtschaftsgesetzes, die Sicherheit der Versorgung mit Energie zu gewährleisten, wirklich hinreichend gerecht wird. Der Grundsatz der Versorgungssicherheit besagt unter anderem, daß das Versorgungsbedürfnis der Abnehmer durch ein ausreichendes, jederzeit bereites und technisch vollkommenes Energieangebot sicherzustellen ist. Es geht also um die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung der begünstigten Abnehmerkreise, deren rechtliche Entsprechung die Verpflichtung zur unmittelbaren Leistungserbringung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG ist. Die Bedürfnisbefriedigung ist nun aber - und insoweit ist die Beschränkung der Anschluß- und Versorgungspflicht auf ein rechtlich markiertes Versorgungsgebiet abzulehnen - unabhängig von einer rechtlichen Markierung des Versorgungsgebietes möglich, sofern nur ein Anbieter zur Versorgung eines bestimmten Gebietes bereit ist. Wer ein Gebiet tatsächlich versorgt oder sich dazu bereit erklärt, ist im Interesse der Allgemeinheit an der Sicherstellung der Versorgung ohne weiteres zum Abschluß und zur Versorgung der begünstigten Abnehmerkreise verpflichtet. Das entspricht dem Zweck des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG, die Versorgungsbedürfnisse potentieller Abnehmer überall dort zu schützen, wo deren Befriedigung tatsächlich möglich erscheint. Der Energielieferant kann sich also gegenüber einzelnen Versorgungsinteressenten nicht unter Hinweis auf eine fehlende Betriebsaufnahmegenehmigung oder das Fehlen einer Wegerechtseinräumung durch die Kommune der Anschluß- und Versorgungspflicht entziehen, wenn er ansonsten die Versorgung tatsächlich durchführt oder dazu bereit ist. 65 Das Vorhandensein einer öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Befugnis zur Energieversorgung begründet allein die widerlegliche Vermutung, daß das Energieversorgungsunternehmen den in den Erlaubnissen bezeichneten Bereich auch tatsächlich versorgt. Die Anschluß- und Versorgungspflicht knüpft dagegen an die Bereitschaft zur tatsächlichen Versorgung eines 64 Vgl. Bartsch/Dingeldey, ET 1995, 249, 251; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 2 b (S. 1145); Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 3 f.; Vykydal, S. 91; vgl. auch OLG Hamm RBeil. 32 (1971), 20, 21 - Gasversorgung; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/ Klinger, § 6 EnergG, Rn. 22. 65 B G H R d E 1996, 191, 193 - Interims Versorgung.

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Gebietes an und nicht an diesbezügliche Erlaubnisse. Die Erlaubnisse ermöglichen es lediglich, den Umfang der tatsächlichen Versorgung im Hinblick auf deren Sicherstellung zu steuern. Besondere Bedeutung kommt insoweit den Wegerechtseinräumungen in Konzessionsverträgen zu. 66 Die rechtliche Befugnis zur Ausübung der Versorgungstätigkeit, die das Rechtsverhältnis des Energielieferanten zur Energieaufsichtsbehörde und zum Eigentümer der Leitungswege betrifft, ist für die an die tatsächliche Versorgungsbereitschaft anknüpfende Anschluß- und Versorgungspflicht gegenüber dem Letztverbraucher nur insoweit von Bedeutung, als dem Energieanbieter die Erfüllung seiner aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG folgenden Leistungsverpflichtung infolge der fehlenden rechtlichen Befugnis zur Versorgung unmöglich sein kann. Stellt sich nach Entstehen der Leistungsverpflichtung heraus, daß dem Anbieter von Energie die Versorgung des Abnehmers von Anfang an rechtlich oder tatsächlich unmöglich war, so ist der Anbieter nach den Grundsätzen der Garantiehaftung analog § 325 BGB dem Nachfrager zum Schadensersatz verpflichtet. Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Das „Gemeindegebiet" iSv. § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG ist nicht nach rechtlichen Kriterien abzugrenzen, sondern nach dem räumlichen Umfang der Versorgung oder Versorgungsbereitschaft seitens des Energieversorgungsunternehmens. Dieses hat es damit - unbeschadet etwaiger rechtlicher Beschränkungen oder Verpflichtungen gegenüber Dritten - in der Hand, den räumlichen Bereich der Anschluß- und Versorgungspflicht durch entsprechende Eröffnung des Geschäftsverkehrs („Versorgungsbereitschaft") selbst festzulegen; auf der anderen Seite kann es einen einmal eröffneten Geschäftsverkehr grundsätzlich auch wieder aufgeben. Darin spiegelt sich wider, daß die Betätigung auf dem Gebiet der Energieversorgung nach der Anlage des Energiewirtschaftsgesetzes der Privatinitiative überlassen bleibt. Das Energiewirtschaftsgesetz enthält kein Instrumentarium, um Privatrechtssubjekte, die sich bisher nicht als Gebietsversorgungsunternehmen betätigt haben, zur Aufnahme der Energieversorgung zu zwingen. Hat ein Unternehmen allerdings die Energieversorgung aufgenommen oder sich zur Versorgung eines Gebietes bereit erklärt, so folgt daraus im Interesse der Allgemeinheit die gesetzliche Anschluß- und Versorgungspflicht gegenüber potentiellen Abnehmern, die von den Energiebehörden durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen durchgesetzt werden kann (vgl. § 18 Abs. 1 EnWG). Entsprechende aufsichtsrechtliche Maßnahmen sind etwa in dem genannten Fall der Aufgabe der Versorgungstätigkeit zu ergreifen, wenn die Anschluß versorgung für das entsprechende Versorgungsgebiet nicht sichergestellt ist. Eine andere - später im Zusammenhang mit § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG noch zu erörternde - Frage ist, unter welchen Voraussetzungen die dem Grunde nach bestehende Anschluß- und Versorgungspflicht im Einzelfall entfällt. 66

Büdenbender, Energierecht, Rn.491; Hempel, RdE 1993, 55, 58; vgl. auch BGH WuW/E BGH 2247, 2249 - Wegenutzungsrecht I; RdE 1986, 118, 120 - Wegenutzungsrecht II.

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(b) Tarifeinheit versus Preisgünstigkeit der Versorgung Rechtsfolge der Versorgung eines bestimmten Gemeindegebietes ist die gesetzliche Verpflichtung zu Anschluß und Versorgung, wenn für das Gebiet allgemeine Bedingungen und allgemeine Tarifpreise öffentlich bekanntgegeben sind. Dem Gesetz liegt damit die Vorstellung zugrunde, daß ein bestimmtes Versorgungsgebiet zu einheitlichen Tarifpreisen zu versorgen ist. Innerhalb der einzelnen Tarifgruppen gilt das Solidarprinzip. 67 Folge dieses Solidarprinzips ist die Quersubventionierung einzelner Tarifabnehmer durch andere Tarifabnehmer, da Tarifsysteme nicht auf individuelle Zuordnung der Kosten zu einzelnen Verbrauchern angelegt sind, sondern notwendig mit Pauschalierungen arbeiten, indem eine Mehrzahl von Verbrauchern, deren individuelle Kostenverursachung vergleichbar ist, einzelnen Tarifgruppen zugeordnet werden (Prinzip formeller Tarifgerechtigkeit). 68 Bei größeren Versorgungsgebieten, die sowohl städtisch als auch ländlich strukturierte Räume umfassen, führt die Bildung von Tarifgruppen dazu, daß die jeweiligen Tarifentgelte der ländlichen Abnehmer von den städtischen Kunden subventioniert werden: Aufgrund der günstigeren energiewirtschaftlichen Struktur der städtischen Versorgungsräume zahlen die städtischen Kunden gemessen an den Kosten der Versorgung relativ zu viel, während die Verbraucher in ländlich strukturierten Räumen umgekehrt die tatsächlichen Kosten der Versorgung mit der Zahlung der Tarifentgelte nicht abdecken. Aus strukturpolitischer Sicht wird die Bildung großflächiger Versorgungsräume unter Hinweis auf die Tarifeinheit zumeist begrüßt, da auf diese Weise ein zu starkes wirtschaftliches Gefälle zwischen Stadt und Land vermieden werden könne. 69 Dieses soll zu befürchten sein, weil Energiepreisdisparitäten die Tendenz zur wirtschaftlichen Entleerung ländlicher Räume in sich bergen. Daran ist richtig, daß die Höhe der Energiepreise die Standortentscheidungen von Unternehmen beeinflussen. Andererseits handelt es sich nur um einen Kostenfaktor unter mehreren, wobei ländliche Wirtschaftsräume gegenüber städtischen Gebieten zumeist den Kostenvorteil der niedrigeren Grundstückspreise und Gewerbesteuerbelastung haben. Das Energiepreisargument darf daher - zumal unter Wettbe67 Vgl. auch OLG Celle NJW-RR 1993, 630, 631 - Tarifpreisgestaltung; Fikentscher, AisOb-Wettbewerb, S. 29, der den - mißverständlichen - Begriff der „Abnehmergemeinschaft" verwendet. 68 Ballerstedt, FS Gieseke, S. 311, 320; Lukes, BB 1985, 2258, 2263 ff.; vgl. auch R. H. Weber, Monopol, S. 244. - Aus dem Prinzip formeller Tarifgerechtigkeit folgt, daß die Tarifgenehmigungen der Energiebehörden nicht die individuellen Interessen einzelner Tarifkunden berücksichtigen (vgl. auch Knöchel, S. 106), sondern nur die typischen Interessen der vom Tarif erfaßten Abnehmer; dem einzelnen Tarifabnehmer steht damit keine Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) gegen die an das Gebietsversorgungsunternehmen gerichtete Genehmigungsentscheidung der Energiebehörde zu (BVerwG RdE 1994, 230 ff. - Klagebefugnis gegen Tarifgenehmigung). 69 Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1,10; Löwer, Energieversorgung, S. 245; Tegethoff, in: Tegethoff/ Büdenbender/ Klinger, § 5 EnergG, Anm. 2 Rn. 4; zu Post und Telekommunikation vgl. auch Oettle, in: Wettbewerb, S. 80, 91.

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werbsbedingungen - nicht überbewertet werden. Nicht vergessen werden darf auch, daß es sich um eine strukturpolitische Begründung handelt, die nicht notwendig mit den Zielen des Energiewirtschaftsgesetzes konform geht. Aus dem Leitziel des Energiewirtschaftsgesetzes, die Energieversorgung so preisgünstig wie möglich zu gestalten, ist im Gegenteil abzuleiten, daß zwar keine individuelle, wohl aber eine möglichst verursachungsgerechte Zuordnung der Versorgungskosten zu bestimmten Verbrauchern (Verbrauchergruppen) erfolgen soll. Dies harmoniert nicht nur mit dem gesetzlichen Leitbild wettbewerbsoffener Energiemärkte, sondern entsprach auch schon vor Inkrafttreten der Energierechtsnovelle 1998 dem seinerzeitigen System der Preisbildung, nach dem die Angemessenheit der Preise mangels Wettbewerbs um die Letztverbraucher allein anhand der Kostenstruktur der Versorgung zu überprüfen war.70 Eine preisgünstige Versorgung ist danach gegeben, wenn sich der Preis (Tarif) in Abhängigkeit von den Kosten der Versorgung einzelner Verbrauchergruppen bildet. Bei großflächigen Versorgungsgebieten mit stark voneinander abweichenden Versorgungsstrukturen ist das regelmäßig nicht der Fall. Dieser Umstand spricht angesichts der energierechtlichen Vorgabe einer möglichst preisgünstigen Versorgung gegen die Bildung großer Versorgungsgebiete, um auf diese Weise die Preise in ungünstig strukturierten Versorgungsräumen eines Gebietes niedrig zu halten.71 Die strukturpolitische Interessenlage, möglichst großflächig eine Gleichpreisigkeit der Energieversorgung zu sichern, ist also nicht zwingend identisch mit den Zielen des Energiewirtschaftsgesetzes. Eine Interessenkonvergenz ist lediglich in den auch energierechtlich unproblematischen Fällen strukturell einheitlicher Versorgungsgebiete gegeben. Angesichts des Massencharakters der Tarifkundenversorgung darf aufgrund des Postulats der preisgünstigen Versorgung nun allerdings nicht auf die Unzulässigkeit einer tarifgebundenen Gebietsversorgung geschlossen werden. Die Vorschrift des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG schreibt den Energieversorgungsunternehmen vielmehr ein „Gebietsdenken" vor.72 Eine individuelle Kostenzurechnung und Preisvereinbarung wäre angesichts der Vielzahl der Versorgungsfälle aufwendig und würde die Versorgung insgesamt verteuern. Das Instrument der tarifgebundenen Versorgung ist vielmehr wegen der dabei eintretenden Rationalisierungs70 Vgl. dazu nur Hoven/Schulz, ZfE 1988, 221 ff.; Schwaiger, S. 135 f.; Weigt, in: Obernolte/ Danner, § 12 BTOElt, Anm. 2.2. 71 Vgl. etwa Püttner, Recht, S. 134; für das schweizerische Recht auch R. H. Weber, Monopol, S. 244, der das Prinzip der Tarifeinheit im Raum insoweit im Hinblick auf Art. 36 Abs. 3 Schweiz. Bundesverfassung für verfassungswidrig hält; anders Löwer, Energieversorgung, S.245, der meint, das Postulat der möglichst preisgünstigen Versorgung wirke in Richtung tendenzieller Gleichpreisigkeit, die nur bei entsprechender Durchmischung „guter" und „schlechter" Risiken innerhalb eines großflächigen Versorgungsgebietes zu erreichen sei. Konsequenz dieser Auffassung ist ein faktisch weitreichender Bestandsschutz für großflächige Versorgungsgebiete. 72 So plastisch Fikentscher, Als-Ob-Wettbewerb, S. 28 f.; vgl. auch J. F. Baur, Widerspruchstatbestand, S. 18; Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1, 6f.; U. Scholz, S. 59.

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effekte durchaus geeignet, das Ziel einer preisgünstigen Versorgung zu fördern. 73 Im Zusammenspiel mit der Anschluß- und Versorgungspflicht trägt die Tarifversorgung zur jederzeitigen Verfügbarkeit leitungsgebundener Energie bei, da sich für den Letztverbraucher unter Umständen langwierige Verhandlungen über die Versorgungskonditionen erübrigen. Aus dem Leitziel der möglichst preisgünstigen Versorgung, das insoweit zur möglichst verursachungsgerechten Zuordnung der Versorgungskosten zu einzelnen Abnehmergruppen verpflichtet, 74 ergibt sich jedoch das Erfordernis, die Tarifgebiete so abzugrenzen, daß eine unnötige Quersubventionierung unterbleibt. Nur so läßt sich für den Energieverbraucher hinreichende Kosten- und Preistransparenz erreichen, die spätestens seit der Liberalisierung der Energiemärkte zu fordern ist. Eine wirtschaftspolitisch gewünschte Besserstellung einzelner Versorgungsräume oder Abnehmer ist dagegen mit dem Instrumentarium der Wirtschaftsförderung zu bewerkstelligen und nicht unter dem Deckmantel des Energiewirtschaftsrechts. 75 Es kann insoweit nicht Aufgabe einzelner Stromverbraucher sein, indirekt andere Letztverbraucher wirtschaftlich zu fördern. Das Solidarprinzip findet dort seine Grenze, wo eine Quersubventionierung energiewirtschaftlich nicht mehr zu rechtfertigen ist, sondern nur noch regionalpolitisch motiviert ist. Es sei noch einmal betont, daß damit nicht der Abschaffung der Tarifgebiete und der Quersubventionierung das Wort geredet werden soll. In beiden Fällen handelt es sich um sinnvolle Instrumentarien zur Umsetzung der energierechtlichen Leitziele der Sicherheit und Preisgünstigkeit der Versorgung, nur müssen diese Instrumentarien auch zweckentsprechend eingesetzt werden und dürfen nicht für sachfremde Zwecke mißbraucht werden. Zu fordern ist also ein räumlicher Zuschnitt der Tarifgebiete, der eine möglichst optimale Umsetzung der Leitziele des Energiewirtschaftsgesetzes ermöglicht. Der dargestellte Ansatz muß nicht notwendig zu einer strikten Trennung städtischer und ländlicher Versorgungsgebiete führen. Auch eine gegengewichtige Verteilung unterschiedlicher Strukturen (Zahl der Abnehmer / Abnehmerschichtung / Leitungslänge) kann eine in sich ausgewogene preisgünstige Versorgung zur Folge haben, wenn die Abnahmespitzen ungleichgewichtig verteilt sind und sich dadurch eine Verstetigung der Nachfrage und eine gleichmäßigere und kostengünstigere Auslastung vorhandener Erzeugungskapazitäten einstellt. 76 Insoweit ist stets zu bedenken, daß sich die kostenrelevante Versorgungsstruktur nicht nur monokausal aus der Zahl und Verteilung der Abnehmer ergibt, sondern auch aus deren Abnahmeverhalten.

73

Vgl. auch BVerwG RdE 1994, 230, 231 - Klagebefugnis gegen Tarifgenehmigung. Vgl. J. F. Baur, ET 1996, 587, 589; Hermann, in: Hermann/Recknagel/Schmidt-Salzer, § 9 AVBV, Rn. 5; Immenga, Strompreise, S. 21 ff. 75 Ebenso Schäfer, RdE 1990, 167, 168. 76 Vgl. dazu J. F. Baur, Widerspruchstatbestand, S. 17 f. Büdenbender, Energierecht, Rn. 34. 74

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(c) Gebietsaufspaltung zur Tarifpreisdifferenzierung als Folge des Wettbewerbs um Versorgungsgebiete Vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen stellt sich die Frage, ob Gebietsversorgungsunternehmen ihre bisher einheitlichen Versorgungsgebiete zum Zwecke der Tarifpreisdifferenzierung in mehrere eigenständige Versorgungsgebiete mit unterschiedlichen Tarifstrukturen aufteilen dürfen. Anlaß dazu kann der Wettbewerb um Versorgungsgebiete geben, 77 den der Gesetzgeber zunächst durch die mit der Vierten Kartellnovelle in das GWB eingefügte Vorschrift des § 103 a GWB aF ermöglichen wollte. Die danach eingeführte Laufzeitbegrenzung für Konzessions- und Demarkationsverträge hatte im wesentlichen eine Rekommunalisierung von Versorgungsgebieten zur Folge. Mit der Liberalisierung der Energiemärkte, die zu einer Beseitigung der geschlossenen Versorgungsgebiete geführt hat, wird sich der Wettbewerbsprozeß zwischen den Energieversorgungsunternehmen weiter intensivieren. 78 Der Wettbewerb um die Versorgungszuständigkeit konzentriert sich in aller Regel jedoch auf günstig strukturierte und damit besonders lukrative städtische Versorgungsräume, die herausgelöst aus dem sie umgebenden Versorgungsgebiet zumindest aufgrund ihrer energiewirtschaftlichen Struktur eine günstigere Versorgung der Letztverbraucher erwarten lassen als in einem einheitlichen Versorgungsgebiet mit divergierenden Strukturen. 79 Das macht es gerade auch für Kommunen attraktiv, zur Eigenversorgung überzugehen, oder ruft Wettbewerber des bisherigen Versorgers auf den Plan. Soweit es sich bei dem bisherigen Versorgungsunternehmen um einen Regionalversorger handelt, wird dieser zumeist nur dann im Wettbewerb um städtische Versorgungsgebiete bestehen können, wenn er in der Lage ist, dort ähnlich attraktive Tarifpreise anzubieten. Diese müssen sich zumindest auf dem Preisniveau bewegen, das sich mutmaßlich in dem städtischen Versorgungsgebiet nach 77 In diese Richtung gehen auch die Überlegungen von J. F. Baur, RdE 1992, 165, 168 f., der mit Recht davon ausgeht, daß unter einem Wettbewerbsregime das Rechtsinstitut der Versorgungspflicht für ein Gebiet zu gebietseinheitlichen Tarifpreisen nicht zu halten sein wird; vgl. auch dens. ET 1996, 587, 591. 78 Vor diesem Hintergrund kann der in der amtl. Begründung zum EnWG 1935 (abgedruckt bei Obernolte/Danner, S. 125) erhobenen Forderung, die Energietarife dahin zu beeinflussen, daß sie sowohl den Bedürfnissen der Verbraucher angepaßt als auch zunächst in einzelnen Wirtschaftsgebieten und weiterhin im gesamten Reichsgebiet möglichst angeglichen und volkswirtschaftlich zweckmäßig gestaltet werden (aaO, S. I 28; Hervorh. v. Verf.), nur noch historischer Wert zukommen (ebenso U. Scholz, S.59ff.). Gleichwohl argumentiert Weigt, in: Obernolte/ Danner, § 12 BTO Elt, Anm. 2.7 (S. 20f.), mit dieser Stelle der Begründung, um eine Spaltung von Versorgungsgebieten abzulehnen; vgl. auch dens., ET 1996, 251,253; Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. l , 4 f . 79 Der Vorteil der günstigeren energiewirtschaftlichen Strukturierung dieser städtischen Gebiete, der sich an sich in einer reduzierten Preisstellung gegenüber den Letztverbrauchern niederschlagen müßte, wird jedoch in der Realität zumeist durch hohe Netzentflechtungs- und Netzeinbindungskosten zunichte gemacht, die sich notwendig infolge der Herauslösung des städtischen Versorgungsgebietes aus dem bisherigen Versorgungsgebiet ergeben.

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dessen Ausgliederung einstellt. Sofern die künftigen Versorgungspreise im städtischen Versorgungsgebiet unterhalb des bisher im Regionalversorgungsbereich geltenden Preisgefüges liegen, müßte der Regionalversorger, um den Wettbewerb um den städtischen Versorgungsraum für sich entscheiden zu können, in diesem Teilversorgungsgebiet andere Tarifpreise fordern können als in seinem übrigen Versorgungsgebiet. Nach dem in § lOAbs. 1 S. 1 En WG angelegten Grundsatz der Tarifeinheit ist das Regional Versorgungsunternehmen jedoch an einer Tarifspaltung in einem bestehenden Versorgungsgebiet gehindert. 80 Mit dem Inkrafttreten der Energierechtsnovelle 1998 hat der Gesetzgeber das Verbot der Tarifspaltung nunmehr auch ausdrücklich in § 10 Abs. 1 S. 3 EnWG geregelt. Danach sind unterschiedliche Allgemeine Tarife für verschiedene Gemeindegebiete im Grundsatz unzulässig. Als Ausweg bietet sich an, die Versorgung im städtischen Versorgungsraum über eine neu zu gründende Tochter- oder Beteiligungsgesellschaft fortzuführen, die dann das Stadtgebiet als eigenes Versorgungsgebiet mit eigenem Tarifgefüge übernimmt. Denkbar ist aber auch eine Aufspaltung des bisher einheitlichen Regionalversorgungsgebietes, so daß in dem umworbenen städtischen Versorgungsraum künftig zu anderen - günstigeren - Tarifen versorgt wird als in dem verbleibenden Restversorgungsgebiet, das aufgrund der Herauslösung des städtischen Versorgungsbereiches dann regelmäßig von Tariferhöhungen betroffen sein wird. Im Ergebnis führt das aufgrund der Entkoppelung der unterschiedlich strukturierten Versorgungsbereiche zu einer individuelleren Zuordnung der tatsächlichen Versorgungskosten zu den einzelnen Abnehmern. Das widerspricht, wie bereits aufgezeigt, dem Leitziel einer möglichst preisgünstigen Versorgung nicht unmittelbar. Die Frage ist, ob die Spaltung eines bestehenden Versorgungsgebietes zum Zwecke der Tarifpreisdifferenzierung mit dem Ordnungsrahmen des Energiewirtschaftsrechts vereinbar ist.81 Vom Wortlaut her schließt § 10 Abs. 1 S. 3 EnWG die Aufspaltung eines ursprünglich einheitlichen Versorgungsgebietes in mehrere einzelne Versorgungsgebiete nicht aus. Die Vorschrift ordnet lediglich an, daß in einem erkennbar abgegrenzten Versorgungsgebiet einheitliche Tarifregeln zur Anwendung kommen müssen. Abgrenzungskriterium ist insoweit die tatsächliche Versorgungstätigkeit oder -bereitschaft eines Versorgungsunternehmens in einem Gemeindegebiet. Über die Größe eines Versorgungsgebietes bestimmt § 10 Abs. 1 EnWG nichts; 82

80 Knöchel, S. 88; Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1, 5 f.; Püttner, Recht, S. 134; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/ Klinger, § 6 EnergG Rn.23; Weigt, ET 1996, 251, 253; aA Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG Anm. 2 b; Obernolte, in: Obernolte/Danner, § 2 BTOElt, Anm. 2 (S. III 103 d). 81 An der eigentlichen Problematik vorbei gehen daher Untersuchungen, die eine Tarifspaltung mit dem Hinweis auf den Grundsatz der Tarifeinheit im bestehenden Versorgungsgebiet ablehnen; vgl. exemplarisch Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1 ff. 82 J. F. Baur, ET 1996, 587, 590; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 2 b (S. I 146); Püttner, Recht, S. 134; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/ Klinger, § 6 EnergG Rn. 24.

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insbesondere folgt aus dem Zweck der Anschluß- und Versorgungspflicht nicht, daß das „Gemeindegebiet" iSv. § 10 Abs. 1 EnWG zwingend mit dem Gebiet einer politischen Gemeinde identisch sein muß. Es muß sich lediglich um eine räumlich abgrenzbare Fläche handeln. Mehrere zusammenhängende Versorgungsgebiete eines Versorgungsunternehmens lassen sich danach anhand der jeweils zur Anwendung kommenden Tarifpreise unterscheiden, sofern das Versorgungsunternehmen seinen potentiellen Abnehmern jeweils zu erkennen gibt, daß bestimmte Tarife nur in bestimmten räumlich abgrenzbaren Gebieten gelten. Die einzelnen zur Anwendung gelangenden Tarifsysteme müssen sich insoweit nicht notwendig unterscheiden, wenn etwa die aneinandergrenzenden Versorgungsgebiete ähnlich strukturiert sind. Daher ist eine Aufteilung nicht nur bei unterschiedlich strukturierten Versorgungsräumen möglich. 83 Da in den jeweiligen Versorgungsgebieten in jedem Fall nur ein bestimmtes Tarifsystem zur Anwendung kommt, ist der Grundsatz der Tarifeinheit unter keinen Umständen verletzt. Demnach ist die Aufspaltung eines Versorgungsgebietes zum Zwecke der Tarifpreisdifferenzierung grundsätzlich möglich. 84 Der das Energiewirtschaftsgesetz prägende Grundsatz der möglichst preisgünstigen Versorgung schließt eine Gebietsaufspaltung nicht aus, setzt ihr aber zugleich auch eine inhaltliche Grenze: Durch die Aufspaltung des Versorgungsgebietes darf sich die Versorgung in dem bisher einheitlichen Versorgungsgebiet eines Versorgungsunternehmens insgesamt nicht verteuern, 85 da ansonsten die Energieversorgung nicht mehr so preisgünstig „wie möglich" erfolgt (vgl. auch § 3 Abs. 2 Nr. 2 EnWG). Unter engeren Voraussetzungen, nämlich unter der Bedingung, daß sich für keinen Kunden eine Preiserhöhung ergibt und daß die Preisunterschiede für alle Kunden zumutbar sind, läßt § 10 Abs. 1 S. 3 EnWG ausnahmsweise auch eine Tarifspaltung zu. Gegen die Möglichkeit der Gebietsaufspaltung wird eingewandt, Kostenunterschiede in der Versorgung zwischen unattraktiven und attraktiven Versorgungsräumen im Gesamtversorgungsgebiet eines Flächenversorgers seien allein durch die Einforderung von Baukostenzuschüssen nach §§9 AVBEltV/AVBGasV 86 bzw. mit den Mitteln des Konzessionsabgabenrechts (§ 4 Abs. 2 KAV) auszugleichen. 87 Der Hinweis auf die angeblich abschließende Regelung des § 4 Abs. 2 KAV trägt jedoch das Ergebnis nicht. In § 4 Abs. 2 KAV ist lediglich die Herabsetzung der allgemeinen Tarifpreise für einzelne Gemeinden vorgesehen, soweit bei 83 U. Scholz, S.63f.; anders offenbar Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 26. 84 Ebenso zur alten Rechtslage nach § 6 EnWG aF J. F. Baur, ET 1996, 587, 590 f.; Jacob RdE 1991, 55, 60; Püttner, Recht, S. 134; SchäferRdE 1990, 167, 168; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 26; vgl. auch Fischerhof, Energiewirtschaftsrecht, S. 361 ; U. Scholz, S. 61 f. 85 In diesem Sinne auch Schäfer RdE 1990, 167, 168. 86 Weigt, in: Obernolte/Danner, § 12 BTOElt, Anm. 2.7 (S. 21); ders., ET 1996, 251, 254. 87 Riechmann RdE 1995, 97, 99 f.; Weigt, in: Obernolte/Danner, §12 BTOElt, Anm. 2.7 (S. 21 f.); vgl. auch Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1, 7 f.

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

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Versorgungsgebieten mit mehreren Gemeinden das Versorgungsunternehmen und eine einzelne Gemeinde vereinbaren, daß für die Belieferung von Stromtarifabnehmern keine Konzessionsabgaben oder niedrigere als die nach §§2 und 8 KAV zulässigen Beträge zu zahlen sind. Die Vorschrift durchbricht also das im Energiewirtschaftsrecht herrschende Prinzip der Tarifeinheit im Versorgungsgebiet. Auch die Baukostenzuschußregelung in §§ 9 AVBEltV/AVBGasV dient lediglich der Wahrung der Kostenzuordnungsgerechtigkeit in einem bestehenden Versorgungsgebiet. 88 Materiellrechtlich wird dadurch die Aufteilung eines einheitlichen Versorgungsgebietes zum Zwecke der Tarifpreisdifferenzierung nicht gesperrt. Das folgt für das Konzessionsabgabenrecht auch aus dem Fehlen einer inhaltlichen Verknüpfung zwischen der Höhe der Konzessionsabgabe und den eigentlichen Versorgungskosten, so daß die Vorschrift dem Versorgungsunternehmen gegenüber dem Wegerechtsinhaber keinen Anspruch auf Änderung der Konzessionsabgabe zum Zwecke der Tarifpreisdifferenzierung vermittelt. Eine gewisse Verhandlungsbereitschaft des Wegerechtsinhabers zur Reduzierung einer Konzessionsabgabe ist im übrigen nur bei ungünstig strukturierten Gebieten zu erwarten, die im Zweifel nicht umworben sind. Das Konzessionsabgabenrecht ist daher schon aus diesem Grunde völlig ungeeignet, um als Instrumentarium im „Kampf um Konzessionsgebiete" eingesetzt zu werden. 89 Dasselbe gilt für die Möglichkeit der Einforderung von Baukostenzuschüssen. Diese können nach §§9 AVBEltV/AVBGasV nur einmalig und nur unter bestimmten Voraussetzungen für Anlagenaufwendungen erhoben werden. Es ist daher ausgeschlossen, mit diesem Instrumentarium ungünstige Versorgungsstrukturen eines gesamten Versorgungsgebietes dauerhaft auszugleichen, um auf diese Weise im Wettbewerb mit einem Konkurrenten um das Versorgungsgebiet bestehen zu können. Schließlich können aus methodischen Gründen weder die Konzessionsabgabenverordnung noch die AVBEltV/AVBGasV, die sich normhierarchisch aus dem EnWG ableiten, zu einer Korrektur des durch Auslegung von § 10 Abs. 1 EnWG gewonnenen Ergebnisses führen, wonach eine Gebietsaufteilung unter Beachtung des Grundsatzes der Preisgünstigkeit der Versorgung zulässig ist. Der Gedanke der Mischkalkulation wird entgegen anderslautender Auffassung 90 dadurch nicht in Frage gestellt, da Folge der Gebietsaufteilung nicht die Aufgabe der Tarifeinheit und damit der Mischkalkulation in einem Versorgungsgebiet ist, sondern die Bildung neuer Versorgungsgebiete, in denen die Grundsätze der Tarifeinheit und Mischkalkulation jeweils gesondert zur Anwendung kommen. Mit der Aufspaltung von Tarifgebieten in solche, in denen

88

J. F. Baur, ET 1996, 587, 590. Anders Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1, 8; Riechmann RdE 1995, 97, 100. 90 Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1, 6; Riechmann, RdE 1995, 97, 100; Weigt, in: Obernolte/Danner, § 12 BTOElt, Anm. 2.7 (S. 21 f.); vgl. auch dens., ET 1996, 251, 253 f. 89

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

„Wettbewerbspreise" gelten, und andere, in denen nach wie vor Kostenpreise gelten, hat das nichts zu tun. 91 (d) Versorgungszuständigkeit

in der

Interimsphase

(aa) Adressat der Anschluß- und Versorgungspflicht. Die Abgrenzung des Versorgungsgebietes bereitet in der Rechtspraxis keine größeren Schwierigkeiten, solange die - regelmäßig in Konzessionsverträgen enthaltene - Wegerechtsgestattung mit dem Gebiet der tatsächlichen Versorgung identisch ist. Dieser Sachverhalt dürfte in der überwiegenden Zahl der Fälle vorliegen. 92 Zu Problemen kann die Feststellung der Versorgungszuständigkeit allerdings im Falle eines Versorgerwechsels führen. Dazu war es zunächst verstärkt im Gefolge der durch die 4. GWB-Novelle 93 eingeführten Laufzeitbegrenzung für Konzessionsverträge gekommen, mit der jedenfalls in größeren zeitlichen Abständen ein Wettbewerb um die Versorgungszuständigkeit in den seinerzeit geschlossenen Versorgungsgebieten ermöglicht werden sollte. Die Laufzeitbegrenzung hatte freilich weniger zu einer Wettbewerbsbelebung beigetragen als vielmehr - faktisch - einer Rekommunalisierung der Energieversorgung mit durchaus ambivalenten Folgen für die Angebotsstruktur Vorschub geleistet. 94 Mit der vollständigen Öffnung des Elektrizitätsmarktes durch die Energierechtsnovelle 1998 hat das Problem der Versorgungszuständigkeit im Falle eines Versorgerwechsels eine neue Dimension erhalten, da sich der Wettbewerb von einer Konkurrenz um Versorgungsgebiete zu einer Konkurrenz um einzelne Abnehmer via Durchleitung von Energie entwickeln wird. Das vermindert das Interesse an der Übernahme kompletter Netze nach Auslaufen von Konzessionsverträgen. Da die Anschluß- und Versorgungspflicht, wie bereits dargestellt, durch die auf ein bestimmtes Gebiet bezogene tatsächliche Versorgung oder Versorgungs91

Anders Riechmann RdE 1995,97, 100. Vgl. dazu Evers, Recht, S. 177 f. 93 Viertes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26.4.1980, BGBl. I S . 4 5 8 . 94 Vgl. Marken, RdE 1996, 45 ff., und aus der Praxis des Bundeskartellamtes BKartA WuW/ E BKartA 2701 - Stadtwerke Garbsen, als Fall der Neugründung eines Stadtwerks unter Beteiligung zuliefernder Energieversorgungsunternehmen, die durch ihre Beteiligung die Rechtsstellung eines qualifizierten Minderheitsgesellschafters bzw. einen einem qualifizierten Minderheitsaktionär vergleichbare Stellung erlangen; das BKartA hat hierin die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung der Vorlieferanten durch langfristige Stabilisierung der Beziehungen zwischen Lieferanten und Abnehmer und dauerhaften Ausschluß der Wettbewerbsmöglichkeiten Dritter gesehen (WuW/E BKartA 2701, 2707 ff.) - Vgl. auch BKartA WuW/E BKartA 2713 - Stromversorgung Aggertal (Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens zwischen bisherigem Energieversorger und mehreren Gebietskörperschaften auf der Regional verteilerebene); in dem dortigen Verfahren hat die Landesenergiebehörde Nordrhein-Westfalen in einer Stellungnahme die Einschätzung abgegeben, daß der Wechsel der Versorgungszuständigkeit infolge der Laufzeitbegrenzung nach § 103 a GWB aF nach praktischer Erfahrung unrealistisch sei (WuW/E BKartA 2713,2716). 92

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

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bereitschaft eines Energieversorgungsunternehmens ausgelöst wird, ändert das Auslaufen eines Konzessionsvertrages für sich genommen zunächst nichts am Fortbestand der Verpflichtung aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG für das bisherige Versorgungsunternehmen. 95 Setzt das bisherige Versorgungsunternehmen die gebietsbezogene Versorgung in der Interimsphase bis zur Aufnahme der Versorgungstätigkeit durch ein anderes Unternehmen fort, so bleibt es bis zu diesem Zeitpunkt aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG verpflichtet. 96 Für seine Versorgungsbereitschaft spricht insoweit die Innehabung des Leitungsnetzes. Stellt es dagegen die Versorgung mit Auslaufen der Wegerechtsgestattung ausdrücklich ein, ohne die Versorgungsanlagen auf einen Nachfolger zu übertragen oder diesem Nutzungsrechte einzuräumen, wird dadurch nicht automatisch die Anschluß- und Versorgungspflicht für den potentiellen Nachfolger ausgelöst: Ohne Herrschaftsbefugnis über die Versorgungsanlagen ist dieser einerseits zur tatsächlichen Versorgung nicht in der Lage; andererseits wird er seine Versorgungsbereitschaft nicht öffentlich erklären, da ihm die tatsächlichen Voraussetzungen zur Aufnahme der Versorgung fehlen. In einem solchen Fall ist es Aufgabe der Landesenergiebehörden, die Versorgung der Letztverbraucher durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen nach § 18 EnWG sicherzustellen.97 Erst mit der Erklärung der Versorgungsbereitschaft oder der tatsächlichen Aufnahme der Versorgung durch ein neues Gebietsversorgungsunternehmen geht die gesetzliche Verpflichtung auf dieses über. In der Praxis sind insoweit zeitliche Verzögerungen an der Tagesordnung, da die Bewertung der zu übertragenden Anlagen häufig Schwierigkeiten bereitet und Rechtsstreitigkeiten zwischen den Parteien provoziert.98

95 BGH RdE 1996, 191, 193 - Interimsversorgung; Büdenbender, Energierecht, Rn. 761; Hempel, RdE 1993, 55, 61; Jacob, RdE 1991, 55, 59; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/ Klinger, § 6 EnergG, Rn. 29f.; vgl. auch BGH RdE 1991, 104, 106 - Borkum I; RdE 1994, 194, 195 f. - Borkum II; LG Hannover RdE 1996, 31, 36 - Sachzeitwert; Braun, ET 1988, 472, 474; krit. J. F. Baur, RdE 1992, 165, 168; aA Wehberg, S.64, der das Versorgungsgebiet nur nach rechtlichen Kriterien abgrenzen will. 96 Ebenso Krebs, S. 244; Ritter, S. 35. 97 Ebenso J. F. Baur, RdE 1992, 165, 168; Braun, ET 1978, 250, 253 / 300, 306; Hempel, RdE 1993,55,61; U. Scholz, S. 66. 98 Zur Bewertung von Versorgungsanlagen OLG Celle WuW/E OLG 5815,5817 ff. - Stromverteilungsanlagen Walsrode; OLG München RdE 1997, 201, 201 ff. - Sachzeitwert; WuW/E OLG 5864, 5865 ff. - Kaufering; LG Dortmund RdE 1997, 37, 38 f. - Taxwert; LG Hannover RdE 1996, 31, 32ff. - Sachzeitwert; LG Kassel RdE 1996, 76, 78 - Wiederbeschaffungswert; Böwing, RdE 1995, 219 ff.; ders., RdE 1996, 15 ff.; Braun, ET 1988,472, 488 f f . ; Busse von Cölbe, S. 19 ff.; Hüffer, FS Rittner, S. 211 ff.; Hüffer/Tettinger, Rechtsfragen, S. 55 fi.;dies., Konzessionsvertrag, S.47ff.; Klaue, BB 1995, 989 ff.; Marken, ET 1993, 486 ff.; Schäfer, RdE 1993, 185 ff.; vgl. auch die Stellungnahme des Nds. Ministeriumf. Wirtschaft, Technologie und Verkehr, zugleich auch im Namen der Kartellreferenten der Länder, abgedruckt in: RdE 1993, 80 f.

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

(bb) Exkurs: Wegenutzungsentgelt in der Interimsphase. Die vorangegangenen Ausführungen betrafen die Auswirkungen des Wechsels der Versorgungszuständigkeit auf die Anschluß- und Versorgungspflicht gegenüber den Letztverbrauchern. Nur am Rande sei noch auf die damit im Zusammenhang stehende Problematik eingegangen, ob das bisherige Versorgungsunternehmen im Falle der Weiterversorgung der Letztverbraucher in der Interimsphase nach Auslaufen eines Konzessionsvertrages gegenüber der Gebietskörperschaft zur Zahlung eines Entgeltes für die Benutzung der Leitungswege verpflichtet ist. Während der Laufzeit eines Konzessionsvertrages wird die Benutzung öffentlicher Grundstücke zur Verlegung von Versorgungsleitungen von dem Versorgungsunternehmen regelmäßig durch die Zahlung einer im Konzessionsvertrag festgesetzten Konzessionsabgabe abgegolten (§ 1 Abs. 2 KAV 99 ). 100 Für die Zeit nach Auslaufen des Konzessionsvertrages können die Parteien vereinbaren, daß das Versorgungsunternehmen im Falle der übergangsweisen Weiterversorgung weiterhin ein Wegenutzungsentgelt an die Kommune zu zahlen hat. Anstelle dessen ist für den Fall einer späteren Übernahme des Versorgungsnetzes durch die Kommune auch eine Regelung vorstellbar, die zum Ausgleich für die Weiterbenutzung kommunaler Leitungswege eine Ermäßigung des für die Versorgungsanlagen seitens der Kommune zu zahlenden Übernahmepreises vorsieht, indem als Kaufpreis etwa der Sachwert im Zeitpunkt der Übergabe bestimmt wird. 101 Häufig wird die Entgeltregelung für die Benutzung der Leitungswege in der Interimsphase im Konzessionsvertrag jedoch nicht explizit bedacht sein. Vor Inkrafttreten des EnWG 1998, mit dem eine fragwürdige gesetzliche Zahlungsverpflichtung begründet wurde (§ 14 Abs. 4 EnWG), stellte sich die Frage, aus welchem Rechtsgrund ein Zahlungsanspruch der Kommune bestehen konnte. Zu denken war zunächst an einen vertraglichen Anspruch, wenn in der Weiterversorgung durch den bisherigen Gebietsversorger eine Willensübereinstimmung zur entgeltlichen Gebrauchsüberlassung der Leitungswege zu sehen war. Aus der Tatsache der - vom Wegerechtsinhaber geduldeten - Weiterversorgung durch den bisherigen Versorger nach Auslaufen eines Konzessionsvertrages kann im Zusammenhang mit einem von der Gebietskörperschaft angestrebten Versorgerwechsel regelmäßig jedoch nicht auf die stillschweigende Verlängerung des ursprünglichen Konzessionsvertrages oder den Neuabschluß eines entspre-

99 VO über Konzessionsabgaben für Strom und Gas (Konzessionsabgabenverordnung KAV) v. 9.1.1992, BGBl. I S. 12. 100 Da die Konzessionsabgabe von den Versorgungsunternehmen durch Überwälzung auf die Letztverbraucher erwirtschaftet und an die konzessionierenden Gemeinden abgeführt wird („durchlaufender Posten"), wirkt sie de facto wie eine gemeindliche Sondersteuer auf den Energieverbrauch; zu Recht kritisch insoweit Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, Tz. 305; Monopolkommission, Hauptgutachten 1(1973/75), 1977, Tz.739ff.; Gröner, S. 305 f.; Löwer, in: Zukunftsperspektiven, S. 29,41 ff. 101 BGH RdE 1991, 104, 1 0 7 - B o r k u m I.

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chenden Vertrages zur Interimsversorgung 102 geschlossen werden. 103 Die Nichtverlängerung des Konzessionsvertrages mit dem bisherigen Versorgungsunternehmen mit dem Ziel des Versorgerwechsels zeigt aus Sicht des Versorgungsunternehmens gerade den gegenteiligen Willen der Gebietskörperschaft, keine weiteren vertraglichen Bindungen mit dem alten Gebietsversorgungsunternehmen eingehen zu wollen. Der BGH hat in der „Borkum I"- Entscheidung in Übereinstimmung mit der Vorinstanz aus der im Interimsverhältnis fortbestehenden Anschluß- und Versorgungspflicht des Energieversorgungsunternehmens gegenüber dem Letztverbraucher auch auf einen fehlenden Vertragswillen des Energieversorgungsunternehmens geschlossen, da dieses die Versorgung wegen § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG nicht „freiwillig" weiterbetreibe. 104 Die im Verhältnis des Versorgungsunternehmens zu den Letztverbrauchern bestehende Verpflichtung aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG besagt jedoch nichts über den Vertragsbindungswillen des EVU gegenüber der kommunalen Gebietskörperschaft. Im Gegenteil könnte aus der fortbestehenden Anschluß- und Versorgungspflicht gerade auf das Interesse an einer vertraglichen Regelung im „Grundverhältnis" zur Gemeinde zu schließen sein. Entscheidend ist daher, daß aus der Duldung der Weiterversorgung seitens der Kommune nicht auf die Erneuerung eines vertraglichen Bindungswillens gegenüber dem Energieversorgungsunternehmen geschlossen werden kann. Abzulehnen ist auch der Versuch, in einem Fall wie dem beschriebenen, für das Zustandekommen eines Vertrages ersatzweise das „sozialtypische Verhalten" der Parteien ausreichen zu lassen. 105 Die Rechtsfigur des sozialtypischen Verhaltens, die für die - hier im übrigen nicht vorliegenden - Fälle des „modernen Massenverkehrs" entwickelt wurde, ist mit dem Grundsatz der Privatautonomie nicht vereinbar, 106 da sie für das Zustandekommen des Vertrages auf das die Selbstsetzung des Individuums konstituierende Element der Willenserklärung verzichtet. Esser107 hat insoweit völlig zu Recht von einer „Kapitulation normativen Rechtsdenkens vor dem politisch-sozialen Faktum" gesprochen. 102 Zum Interimsvertrag vgl. nur Fischerhof, Rechtsfragen, 1956, S.95ff.; Quack, AöR 91 (1966), S. 355, 366 ff. 103 Anders mag die Rechtslage sein, wenn ein Versorgerwechsel nicht angestrebt wird, sondern lediglich die Versorgungsbedingungen neu ausgehandelt werden sollen; vgl. BGH RdE 1991, 104, 106 - Borkum l\ Büdenbender, Energierecht, Rn.503. 104 BGH RdE 1991, 104, 106 - Borkum I; vgl. auch OLG Schleswig WRP 1997, 231, 236 Konzessionsabgabe. 105 So im Ergebnis auch BGH RdE 1991, 104, 106 f . - B o r k u m I; RdE 1996, 191, 1 9 2 - I n t e rimsversorgung; anders unter Berufung auf die Lehre vom faktischen Vertragsverhältnis Stech, S. 16 ff., der ein faktisches Vertragsverhältnis annimmt, weil den Vertragspartnern infolge ihrer Monopolstellung ein Ausweichen unmöglich ist (dagegen Wehberg, S. 72 ff.); undeutlich Münch, S. 53 f.; vgl. auch BGHZ 21, 319, 333 ff. - Parkplatz; 23, 175, 177 f. - Stromversorgung; 23, 249, 261 - Hoferbfolge. 106 Offen gelassen von BGH, LM Vorbem. z. § 145 BGB Nr. 7; NJW 1965, 387 - Omnibusbahnhof; WM 1968, 115, 117 - Stromversorgungsvertrag. 107 AcP 157 (1958/59), 86,91.

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Andererseits schließt die Duldung der Weiterversorgung seitens der Kommune einen nach vertraglichen Zahlungsanspruch in analoger Anwendung von § 557 Abs. 1 S. 1 BGB aus, wonach der Vermieter bei Nichtrückgabe der vermieteten Sache vom Mieter für die Dauer der Vorenthaltung der Mietsache als Entschädigung den vereinbarten Mietzins verlangen kann. Die Anwendung des Rechtsgedankens aus § 557 Abs. 1 S. 1 BGB setzt eine Vorenthaltung gegen den Willen des Eigentümers voraus. Im Falle des Einverständnisses des die Nutzungsmöglichkeit einräumenden Eigentümers mit der Weiternutzung trifft gerade das nicht zu. 108 Für den BGH hatte sich daher in der „Borkum I"- Entscheidung die weitere Frage gestellt, ob sich die Entgeltverpflichtung des Versorgungsunternehmens gegebenenfalls bereits aufgrund einer ergänzenden Auslegung (§§ 133, 157 BGB) des ursprünglichen Konzessionsvertrages ergibt. Das setzt allerdings voraus, daß der von den Parteien getroffene Regelungsplan unvollständig ist. In dem vom BGH zu entscheidenden Fall hatte ein Gas Versorgungsunternehmen die Versorgung nach Ablauf des Konzessionsvertrages mit Zustimmung der kommunalen Wegerechtsinhaberin, die die Versorgung selbst übernehmen wollte, zunächst fortgesetzt, ohne daß die Vertragspartner des Konzessionsvertrages die Regelungsbedürftigkeit der Entgeltfrage für den Fall einer Interimsversorgung bedacht hatten. Der BGH ist in diesem Fall aufgrund ergänzender Auslegung des ursprünglich geschlossenen Konzessionsvertrages zu dem Schluß gelangt, daß dem öffentlichen Wegerechtsinhaber auch nach Beendigung des Konzessionsvertrages ein Anspruch auf Zahlung eines Entgeltes für die Wegebenutzung bis zur Höhe der bisher gezahlten Konzessionsabgabe zustehen kann. 109 Die Ausfüllung der vertraglichen Regelungslücke, so wie sie der BGH vorgenommen hat, erscheint interessengerecht, da nicht anzunehmen ist, daß die Parteien in Kenntnis des zu regelnden Sachverhalts eine kostenlose Weiternutzung der Leitungswege vereinbart hätten. Auf der anderen Seite ist in solchen Fällen zu berücksichtigen, daß die Konzessionsabgabe häufig auch ein Entgelt für das langfristige Recht zur Wegenutzung enthält, das mit Vertragsbeendigung entfällt. Dann dürfte es den Interessen der Parteien entsprechen, daß für die Wegenutzung in der Interimsphase ein geringeres Entgelt als nach der ursprünglichen Konzessionsabgabe zu zahlen ist. 110 Dem steht § 2 KAV nicht entgegen: Zwar differen-

108

Vgl. nur BGHZ 90, 145, 148; BGH NJW 1960, 909, 910; WM 1982, 1333, 1334; RdE 1991, 104, 107 - Borkum I; OLG Schleswig WRP 1997, 231, 236 - Konzessionsabgabe. 109 Zu den Voraussetzungen einer ergänzenden Vertragsauslegung vgl. BGHZ 90, 69, 73 ff.; BGH WM 1990, 1202, 1204. 110 OLG Naumburg RdE 1995, 21, 22 f. - Vertragsloser Zustand; OLG Schleswig WRP 1997, 231, 238-Konzessionsabgabe; LG Kiel RdE 1996, 116, 119-Vertragsloser Zustand; LG Magdeburg RdE 1994, 247, 248 - Vertragsloser Zustand; Wehberg, S. 189ff.; aA unter Hinweis auf die faktisch weiterbestende Ausschließlichkeit Hempel, RdE 1993, 55, 63; vgl. auch LG Chemnitz RdE 1994, 245, 246 - Vertragsloser Zustand.

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ziert die Norm nicht danach, wie das Wegenutzungsrecht des Energieversorgungsunternehmens beschaffen ist und läßt damit auch für ein kurzfristiges Nutzungsrecht die Vereinbarung des höchstzulässigen Konzessionsabgabensatzes zu (vgl. auch § 13 Abs. 1 S. 3 EnWG); 111 andererseits wird dadurch eine abweichende privatautonome Regelung nicht ausgeschlossen (§ 14 Abs. 4 EnWG). Da der Rechtsgrund für die Entrichtung eines Wegenutzungsentgeltes in der Interimsphase demnach regelmäßig vertraglicher Natur ist, bleibt für einen ansonsten in Betracht zu ziehenden bereicherungsrechtlichen Interessenausgleich kein Raum. An diesen wäre jedoch zu denken, wenn weder eine ausdrückliche vertragliche Regelung vorliegt, noch eine ergänzende Auslegung des ursprünglichen Konzessionsvertrages mangels vertraglicher Regelungslücke möglich ist. 112 Der infolge der Interimsversorgung erlangte bereicherungsrechtliche Vorteil ist in der Nutzung der gemeindlichen Wege für Zwecke der Energiefortleitung zu sehen. Die Wegenutzung stellt, wie § 1 Abs. 2 KAV bestätigt, einen konkreten Vermögenswerten Vorteil dar, 113 der zu einem Wertersatzanspruch der Gemeinden führt (§§812 iVm. 818 Abs. 2 BGB). 114 Durch § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG wird die Verpflichtung zum Ersatz des Nutzungsvorteils nicht ausgeschlossen, da die Anschluß- und Versorgungspflicht nur die Rechtsbeziehung der Gebietsversor111

B G H R d E 1996, 191, 194 - Interims Versorgung. Z u m bereicherunsrechtlichen Ausgleich bei Versorgung ohne Konzessionsvertrag BGH RdE 1 9 9 6 , 1 9 1 , 1 9 2 ff. - Interimsversorgung; OLG Schleswig W R P 1 9 9 7 , 2 3 1 , 237 ff. - Konzessionsabgabe; LG Kiel RdE 1996, 116 ff. - Vertragsloser Zustand; vgl. auch OLG Naumburg RdE 1995, 21, 22 f. - Vertragsloser Zustand; LG Chemnitz RdE 1994, 245 ff.- Vertragsloser Zustand; KrG Meiningen RdE 1994,34, 35 ff. - Vertragsloser Zustand; aA Salje, E T 1 9 9 4 , 5 6 , 5 8 ff.. - Die vom LG Chemnitz (aaO.) zu entscheidende Fallgestaltung betraf ein Sonderproblem, das in den neuen Bundesländern häufig anzutreffen ist: In der DDR gestatteten §§ 29, 48 EnergieVO v. 1.6.1988 (GBl. DDR I Nr. 10 S.89; zul. geänd. GBl. D D R I 1990 Nr. 46 S. 812) iVm. §§ 19, 20 der 2. Durchführungsbestimmung zur EnergieVO v. 1.6.1988 (GBl. DDR I Nr. 10 S. 110; geänd. GBl. DDR 19901 Nr. 58 S. 1423) die unentgeltliche Mitbenutzung kommunaler Grundstücke für Zwecke örtlicher Energiefortleitungsanlagen. Die §§ 2 9 , 4 8 EnergieVO galten jedoch nach Maßgabe der Anl. II Kap. V Sachgeb. D Abschn. III Nr.4 b z. EVertr. nur bis zum 31.12.1991 fort. Soweit bis dahin kein die Vorschriften ablösender Konzessionsvertrag geschlossen worden war, erfolgte die Benutzung der öffentlichen Wege ab 1.1.1992 rechtsgrundlos, so daß eine Entgeltverpflichtung nur nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen bestand. 112

113 Das übersieht Päez-Maletz, RdE 1995, 2 3 , 2 3 f.; wie hier B G H RdE 1996, 191, 192, 1 9 3 Interimsversorgung. 114 Etwas anderes gilt nur für die Fälle, in denen der Verordnungsgeber durch das Verbot der Erhebung vertraglicher Wegenutzungsentgelte die Benutzung öffentlicher Wege gemeinfrei gestellt hat (vgl. § 1 KAE 1941: Verbot der Neueinführung von Konzessionsabgaben, zur Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung vgl. BVerwGE 87, 133 ff.); zum Recht der D D R vgl. noch §§ 2 9 , 4 8 EnergieVO DDR (GBl. 11988 Nr. 10 S. 89; zul. geänd. GBl. DDR 11990 Nr. 46 S. 812; gegenstandslos nach § 6 0 Abs. 1 KommVerf.DDR v. 17.5.1990, GBl. DDR I Nr. 28 S.255, die nach Anl. II Kap. II Sachgeb. B Abschn. I EinigungsV bis zum Inkrafttreten eigener Gemeindeordnungen der neuen Bundesländer fortgalt). Während der Geltungsdauer dieser Bestimmungen erlangte Nutzungsvorteile haben keinerlei Vermögenswert und führen daher auch nicht zu einem bereicherungsrechtlichen Ausgleichsanspruch der Gemeinden (vgl. OLG Naumburg RdE 1995, 21 - Vertragsloser Zustand; KrG Meiningen RdE 1994, 34, 35 - Vertragsloser Zustand).

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gungsunternehmen zu ihren Endverbrauchern regelt, aber keinen Rechtsgrund für eine unentgeltliche Nutzung des Gemeindeeigentums darstellt. 115 Insoweit enthält § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG keine Regelung, die eine „unentgeltliche" Neuordnung der „materiellen Nutzungsbefugnisse" am Straßengrund entgegen der Eigentumslage bezweckt. 116 Gegenteiliges läßt sich auch nicht daraus ableiten, daß die Gemeinde aus Rechtsgründen daran gehindert ist, dem Energieversorgungsunternehmen die Inanspruchnahme gemeindeeigener Grundstücke zu Zwecken der Stromversorgung nach § 1004 Abs. 1 BGB in der Interimsphase zu untersagen. 117 Sofern sich eine Duldungspflicht aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG ergibt, 118 ist diese nur Reflex der im Verhältnis zwischen dem Energieversorgungsunternehmen und den Tarifabnehmern bestehenden Versorgungspflicht, die von der Gemeinde aufgrund ihrer aus Art. 28 Abs. 2 GG ableitbaren Verpflichtung zur Sicherstellung der örtlichen Energieversorgung nicht vereitelt werden darf. 119 Das bisherige Gebietsversorgungsunternehmen, das in der Interimsphase die Versorgung aufgrund seiner Verpflichtung aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG fortführt, ist also entweder schon vertraglich oder bei Fehlen einer ausdrücklichen Vereinbarung, die nicht durch ergänzende Vertragsauslegung kompensiert werden kann, nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen zur Zahlung eines Wegenutzungsentgeltes verpflichtet. § 14 Abs. 4 EnWG ist daher überflüssig. (3) Marktstellung Aus der Formulierung des Gesetzes, wonach ein bestimmtes Gemeindegebiet zu versorgen ist, ergibt sich nicht zweifelsfrei, ob danach eine Monopolstellung des Energieversorgungsunternehmens gegenüber seinen Abnehmern erforderlich ist, um die Anschluß- und Versorgungspflicht auszulösen. Dem reinen Wortlaut nach scheint das nicht der Fall zu sein, da eine Gebietsversorgung auch durch konkurrierende Energieversorgungsunternehmen möglich ist. Betrachtet man allerdings die rechtstatsächliche Situation bei Erlaß des EnWG im Jahre 1935, die aufgrund der damals üblichen Konzessions- und Demarkationsverträge zur fast vollständigen Ausbildung von Anbietermonopolen auf dem Energiemarkt geführt hatte, 120

115

OLG Naumburg RdE 1995, 21, 22 - Vertragsloser Zustand; vgl. auch LG Kiel RdE 1996, 116, 118 - Vertragsloser Zustand. 1,6 BGH RdE 1996, 191, 194 - Interimsversorgung; aA Päez-Maletz, RdE 1995, 23, 24f.; widersprüchlich Salje, ET 1994, 56, 58/62. 117 So aber Salje, ET 1994, 56, 62. 118 Im Ergebnis bejahend BGH WuW/E BGH 1051,1054 - Überlandwerk II; Salje, ET 1994, 56, 58; wohl auch Schulz-Jander, in: Ablauf, S.67, 76; offen gelassen von BGH RdE 1996, 191, 193 - Interims Versorgung. 119 BGH RdE 1996, 191, 193 - Interimsversorgung; zur Planungs-und Ordnungskompetenz der Gemeinden im Hinblick auf die örtliche Energieversorgung vgl. Säcker/Busche, NVwZ 1992,330, 332 f. 120 Dazu auch Evers, Recht, S. 26.

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so scheint es gerade diese seinerzeit auch in den Materialien verlautbarte Situation zu sein, die den Gesetzgeber ursprünglich zur Schaffung der gesetzlichen Regelung bewogen hat. Die Monopolstellung der Energieversorgungsunternehmen wurde dabei keineswegs als „unnatürlich" empfunden. Im Gegenteil: Die Monopolstellung wurde zumeist als unabdingbar für die leitungsgebundene Energiewirtschaft angesehen, 121 da es sich insoweit um ein „natürliches Monopol" handele. 122 Damit war die vermeintliche ordnungspolitische Rechtfertigung dafür gefunden, daß ein einzelnes Unternehmen die Nachfrage besser befriedigen kann als eine Mehrzahl von Wettbewerbern. 123 Diese Vorstellung lag auch dem Konzept geschlossener Versorgungsgebiete zugrunde, das der Gesetzgeber bis zur Energierechtsnovelle 1998 mit dem kartellrechtlichen Freistellungsbereich für die Energiewirtschaft (§§103 ff. GWB aF) verfolgt hat. Ein immer wiederkehrendes, insbesondere in der Energiewirtschaft vor Inkrafttreten der Energierechtsnovelle 1998 verbreitetes Argument war in diesem Zusammenhang, brancheninterner Wettbewerb sei volkswirtschaftlich unerwünscht, da er wegen der Notwendigkeit zur Verlegung paralleler Leitungsnetze und der Gefahr mangelnder Auslastung dieser Netze die Sicherheit und Preisgünstigkeit der Versorgung beeinträchtige. 124 Die Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 6 Abs. 1 EnWG aF wurde insoweit als notwendige Kehrseite der Monopolstellung angesehen bzw. hingenommen. 125 Es ist daher nicht verwunderlich, daß im Zusammenhang mit der Öffnung der Energiemärkte die Ansicht vertreten wird, die Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG bestehe nur dann, wenn ein Energieversorgungsunternehmen ohne Wettbewerber sei. 126 121

Dagegen etwa Eckstein, S. 151 ff. Zur Einordnung von Leitungsmonopolen als natürliche Monopole Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, Tz. 11; Durach, S. 39 f.; Fesenmair, S. 154 ff.; Gassner, S. 222; Gröner, in: Wege, S. 243, 247; Kronberger Kreis, Privatisierung, S. 19 (Tz. 19). 123 Vgl. J. Kruse, S. 19 ff.; Windisch, in: Privatisierung, S.41 ff. 124 Vgl. etwa Hermann, RdE 1979, 2, 3 ff.; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 8; U. Scholz, S. 68 f.; Scholz/Langer, S. 261; Tegethoff, in: Problematik, S. 51, 54. 125 BGH WM 1960, 1410, 1414-Sonderabnehmerkonkurs I; OLG Hamm RBeil. 32 (1971), 20, 21 - Gasversorgung; LG Dortmund RdE 1981, 3, 6 - Stromzahlungsboykott; Bala, S. 155; J. F. Baur, RdE 1992, 165, 168 f.; ders., ET 1995, 395, 398; ders., Diskriminierungsverbot, S. 39; J. F. Baur/Moraing, S. 88 ff.; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 1 (S. I 142); Ehmer/ Moraing, S. 68; Feist, RdE 1995, 186,190; Gerigk, S. 9, 11; Hermann, RdE 1979, 2, "i'Jmmenga, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 220; Knöchel, S. 87; Kühne, BB-Beil. 14 zu H. 36/1996, S. 1, 3; Langer, ET 1994, 158, 160; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 8; Matthiesen, S. 92; Niederleithinger, S. 96; Nonhoff, S. 60; U. Scholz, S. 52 f., 67 ff.; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 33; Tegethoff, in: Problematik, S. 51, 54; Vykydal, S. 62; BKartA RdE 1995, 31,33 (= WuW/E BKartA 2701,2707) - Stadtwerke Garbsen; zur Parallelproblematik in § 10 AEG vgl. nur Vykydal, S. 111, 120; zum Kontrahierungszwang nach § 11 Abs. 1 WahrnG Reinbothe, in: Schricker, § 6 WahrnG, Rn. 1; Vykydal, S. 132; vgl. auch Nordemann, in: Fromm/ Nordemann, § 11 WahrnG, Rn. 1; Vogel, GRUR 1993, 513, 526 (lex specialis zu §26 Abs.2 GWB). 122

126

Langer, ET 1994, 158, 160.

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Demgegenüber betont die Regierungsbegründung zum EnWG 1998 zu Recht, daß die Anschluß- und Versorgungspflicht nicht Kehrseite einer Monopolstellung des Anbieters ist, sondern allein auf dem Umstand der Gebietsversorgung beruht. Es geht hier nicht nur darum, dem Abnehmer die einzig bestehende Angebotsquelle offen zu halten, sondern darüber hinaus auch darum, im Interesse der Allgemeinheit eine möglichst sichere und preisgünstige Energieversorgung sicherzustellen. Sofern mehrere konkurrierende Anbieter vorhanden sind, muß der potentielle Abnehmer die Auswahlfreiheit haben und vor allem die Gewißheit, von dem von ihm gewünschten Versorgungsunternehmen auf erstes Anfordern beliefert zu werden. 127 Die Sicherstellung der Energieversorgung erfordert die Anschluß- und Versorgungspflicht bei mehreren konkurrierenden Anbietern nicht anders als bei einem Monopolanbieter. Dem steht auch nicht das Argument entgegen, die Versorgungspflicht könne wegen der Leitungsgebundenheit der Strom- und Gasversorgung nur mit einem zuverlässig verfügbaren räumlichen Bereich und mit einem innerhalb dieses Gebietes abschätzbaren Bedarf korrespondieren. 128 Das Problem der Mengensteuerung des Angebots löst sich in einem wettbewerblich strukturierten Energiemarkt nicht anders als in anderen Wirtschaftsbereichen über den Markt. Insoweit stellen die hohe Fixkostenbelastung und die lange Ausreifungszeit für Investitionen, die eine schnelle Anpassung des Angebots an Nachfrageveränderungen erschweren, keine Besonderheiten der Energiewirtschaft dar, sondern sind ebenso in anderen Wirtschaftsbereichen wie der Chemischen Industrie und der Automobilindustrie anzutreffen. 129 An die Qualität unternehmerischer Entscheidungen werden damit zwar hohe, aber nicht unlösbare Anforderungen gestellt. Das schließt selbstverständlich die Gefahr von Fehlentscheidungen nicht aus. Selbst eine zu geringe Vorhaltung von Kraftwerkskapazität durch ein einzelnes Energieversorgungsunternehmen bedeutet jedoch noch keine Gefährdung der Versorgungssicherheit, da in einem vermaschten Netz regelmäßig Reserven an Erzeugungskapazität aus einem großen Einzugsbereich mobilisiert werden können. 130 Die Energieversorgungsunternehmen sind also zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit nicht auf die Vorhaltung dafür notwendiger Erzeugungskapazitäten verwiesen, sondern können durch wechselseitigen Rückgriff auf bestehende Reserven die Investitionen in Eigenversorgungskapazitäten in einem wirtschaftlich vertretbaren Rahmen halten. Allerdings ist es irreal anzunehmen, die Versorgungspflicht aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG verlange auch unter Wettbewerbsbedingungen von jedem An127 AA U. Scholz, S. 281; Ehmer/Moraing, S. 69, zu Art. 16 d. Vorschlags für eine Richtlinie des Rates betr. gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, KOM (91) 548 endg. - SYN 384, ABl. Nr. C 65/4 v. 14.3.1992. 128 Tegethoff, in: Problematik, S. 51, 54. 129 Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, Tz. 276. 130 Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, Tz. 288; vgl. auch Durach, S. 15 ff.; Gröner, in: Wege, S. 243, 247; Matthiesen, S. 92.

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bieter die Vorhaltung einer Kraftwerkskapazität, die eine Versorgung aller im Versorgungsgebiet ansässigen Abnehmer in jedem nur denkbaren Fall, also auch bei außergewöhnlichen Nachfragespitzen, sicherstellt. Dazu kann nur ein Monopolist verpflichtet sein, während sich unter Wettbewerbsbedingungen regelmäßig eine Aufteilung der Marktanteile unter den Wettbewerbern einstellt. Damit sinken auch die Anforderungen an die von jedem einzelnen Anbieter zu gewährleistende Versorgungssicherheit. Dem einzelnen Versorgungsunternehmen muß insoweit bei Erschöpfung seiner Kraftwerkskapazität und fehlender Zukaufsmöglichkeit auch eine Verweigerung der Versorgung unter Berufung auf deren wirtschaftliche Unzumutbarkeit zugestanden werden. 131 Adressaten der Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG sind demnach unabhängig von ihrer Marktstellung alle Energieversorgungsunternehmen, die eine gebietsweise Versorgung betreiben. Nicht die Möglichkeit der kompensatorischen Bildung von Monopolrenten durch Ausschluß von Wettbewerb, sondern die Sicherstellung der Energieversorgung im Interesse der Allgemeinheit rechtfertigt den Anschluß- und Versorgungszwang. 132 c. Durchführung einer

Tarifversorgung

aa) Bedeutung Die Anschluß- und Versorgungspflicht besteht gegenüber „jedermann", ist jedoch begrenzt auf eine Versorgung zu den allgemein bekanntgegebenen Bedingungen und Tarifpreisen. Daraus folgt im Umkehrschluß, daß eine Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG entfällt, wenn für die nachgefragte Versorgungsleistung keine Tarifbedingungen und -preise bekanntgegeben sind. 133 Demnach könnten sich die Gebietsversorgungsunternehmen, an die sich § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG richtet, von der Anschluß- und Versorgungspflicht selbst „befreien", indem sie keine tarifmäßige Versorgung durchführen, sondern sämtliche Versorgungsbedingungen und -tarife mit ihren Abnehmern individuell aushandeln. Eine derartige Geschäftspolitik, die auf eine tarifmäßige Versorgung verzichtet, erscheint jedoch angesichts des Massencharakters der Energieversorgung von vornherein irreal. Sie liefe wegen des erforderlichen Verwaltungsaufwandes zudem dem Ziel einer möglichst preisgünstigen Energieversorgung zuwider. Die Vielzahl der nachgefragten Versorgungsleistungen zwingt die Energieversor-

131 Das deutet auch F. Baur, RdE 1992, 165, 168, an, der in diesem Zusammenhang von einem neuen „wettbewerblich orientierten Inhalt" von § 6 Abs. 2 EnWG aF spricht; vgl. auch dens., FS Börner, S. 487, 492. 132 Ebenso Krebs, S. 244; Rinne, S. 88 ff. 133 Vgl. auch U. Scholz, S. 80f.; aADanner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 4 a c) cc) (S.I 157 a).

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gungsunternehmen schon im eigenen Interesse, für bestimmte, nach Abnehmergruppen und Abnahmecharakteristik (Abnahmemenge, Spannungsebene, Belastungskurve) unterscheidbare Lieferbeziehungen schematisierte Tarifbedingungen und -entgelte einzuführen. Das gilt insbesondere für private Haushaltskunden, da die von ihnen jeweils nachgefragten Energiemengen auf sachlich übereinstimmenden Abnahmebedürfnissen beruhen und im Verhältnis zum Gesamtabsatz eines Energieversorgungsunternehmens gering sind. Durch die normative Kraft des Faktischen wird allerdings keineswegs die vom Gesetzgeber erstrebte Sicherstellung der Energieversorgung garantiert. Die Tarife können so zugeschnitten sein, daß gerade wirtschaftlich schwache Abnehmer, die eigentlich besonders schutzbedürftig sind, die aber dem Energieversorgungsunternehmen als Kunden wenig attraktiv erscheinen müssen, von der Tarifversorgung ausgenommen bleiben. Durch den Ausschluß dieser Abnehmer oder durch Einführung prohibitiv hoher Tarife könnte die Anschluß- und Versorgungspflicht bei wirtschaftlich schlechten Risiken vermieden werden. Aus der Vorschrift des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG läßt sich keine Verpflichtung zur Einbeziehung der genannten Abnehmerkreise in die Tarifversorgung entnehmen. Die Norm dient zwar der Sicherstellung einer ununterbrochenen Versorgung, entbindet aber in Satz 2 gerade bei wirtschaftlicher Unzumutbarkeit von der Anschluß- und Versorgungspflicht. Hier zeigt sich, daß das Energiewirtschaftsgesetz im Hinblick auf die Gegengewichtsbildung zur relativen Angebotsmacht der Energieanbieter nur eine erste Grobsteuerung besorgt. Die eigentliche Feinsteuerung muß durch flankierende Tarifregelungen erfolgen, die über § 11 Abs. 1 EnWG mit der Anschluß- und Versorgungspflicht verknüpft sind. 134 Für den Bereich der Elektrizität ist dies die BTOElt; dagegen wurde die BTOGas im Rahmen der Energierechtsnovelle 1998 aufgehoben. 135 Eine ergänzende Steuerung durch Tarifordnungen ist deshalb erforderlich, weil die tarifliche Versorgung eines Gebietes für sich genommen als kodifikatorischer Anknüpfungspunkt für die allgemeine Anschluß- und Versorgungspflicht viel zu ungenau ist, um darauf eine schutzzweckadäquate Vertragsbegründungs- und Inhaltskontrolle unter Berücksichtigung der Belange der Letztverbraucher aufzubauen. Ohne eine verbindliche Normierung bestimmter Tarife, an die dann die Leistungspflicht anknüpft, läßt sich die Versorgung bestimmter, als schutzwürdig anzusehender Energieverbraucher nicht sicherstellen. Vor diesem Hintergrund ist das in der BTO Elt normierte System unterschiedlicher Tarifformen zu sehen.

134

Dazu auch U. Scholz, S. 80f. Vgl. Art. 5 Abs. 2 Nr. 4 d. Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsgesetzes v. 24.4.1998,BGBl. I S . 7 3 0 . 135

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bb) Tarifformen Die aufgrund § 7 EnWG aF (= § 11 EnWG) als Rechtsverordnung erlassene Bundestarifordnung Elektrizität (BTOElt) 136 verpflichtet die Gebietsversorgungsunternehmen zum Angebot bestimmter Pflichttarife (vgl. §§ 1 Abs. 2,4 BTOElt), für die ein Preisgestaltungsrahmen verbindlich vorgegeben ist (vgl. §§ 3 - 9 BTOElt). Dieser ist an dem Prinzip der Ist-Kostendeckung orientiert (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 BTOElt) und soll zugleich sicherstellen, daß einzelne Kundengruppen nicht zu Lasten anderer einen besonders günstigen Energietarif erhalten. 137 Es soll insbesondere vermieden werden, daß private Kleinverbraucher im Verhältnis zu Großabnehmern mit einem unverhältnismäßig hohen Kostenanteil belastet werden. Die Energieversorgungsunternehmen werden durch die Vorgabe von Pflichttarifen nicht gehindert, daneben andere Tarife anzubieten. Dabei handelt es sich regelmäßig um Zusatztarife für Abnahmeverhältnisse, die von den Pflichttarifen nicht erfaßt werden. Außerdem wird den Elektrizitätsversorgungsunternehmen in § 2 BTOElt ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, alternativ zum Pflichttarif auch Wahltarife einzuführen. Das Instrumentarium der Pflicht-, Wahl- und Zusatztarife führt zu einem insgesamt ausgewogenen Interessenausgleich zwischen den Energieversorgungsunternehmen und ihren Abnehmern: Aus der Vorgabe verbindlicher Pflichttarife, die bei der Gebietsversorgung anzuwenden sind, ergibt sich für die Gebietsversorgungsunternehmen gegenüber dem begünstigten Abnehmerkreis einerseits die zwingende Verpflichtung zu Anschluß und Versorgung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG, wenn nicht ein Ausnahmefall iSv. § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG vorliegt. Gleichzeitig verbleibt den Versorgungsunternehmen aber andererseits durch die Möglichkeit zur Versorgung nach Wahltarifen ein Minimum an wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit, die sich auf der Marktgegenseite in einer Erweiterung der Auswahlfreiheit widerspiegelt. Das Versorgungsinteresse der Marktgegenseite wird in jedem Fall zu den vom Verordnungsgeber im Interesse der Begünstigten vorgegebenen Tarife befriedigt. Auf der anderen Seite kann das Versorgungsunternehmen dort, wo es dies aus den dargelegten Gründen für wirtschaftlich vernünftig hält, Zusatztarife anbieten und sich damit freiwillig der Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG unterwerfen. Die sondergesetzliche Anschluß- und Versorgungspflicht besteht also im Ergebnis für jede Form der tarifmäßigen Versorgung, unabhängig davon, ob es sich um Pflicht-, Wahl- oder Zusatztarife handelt. 138 In allen Fällen liegt ein allgemeiner Tarif iSv. § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG vor.139 Lediglich die Verbindlichkeit der Tarife und der daran an136

Bundestarifordnung Elektrizität (BTOElt) v. 18.12.1989, BGBl. I S . 2255. Vgl. Begründung zu § 1 Abs. 1 BTO-Elt, BR-Drucks. 493/89, abgedruckt bei Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, III B, S. 2. 138 Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 10. 139 Eckert, RuS 1979, 41, 42; Klinger, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 1 BTOElt, Rn. 63; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 77. 137

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schließenden Leistungsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG ist graduell verschieden. Im Falle der Pflichttarife ist sie normativ zwingend, in den anderen Fällen nur voluntativ gegeben. Einen absoluten Versorgungsschutz genießen lediglich die von den Pflichttarifen begünstigten Energieverbraucher. Außerhalb der Pflichttarife ist der Schutz nur relativ gegeben. Er hängt von der Existenz entsprechender Tarifbestimmungen ab, durch deren freiwillige Schaffung die Gebietsversorgungsunternehmen eine eigene rechtliche Bindung auslösen. cc) Tartfbekanntmachung Die Tarife sind öffentlich bekanntzumachen, da es sich begriffsimmanent um ein an die Allgemeinheit gerichtetes Anerbieten zur Versorgung nach einem feststehenden Preisgefüge handelt. 140 Werden hingegen standardisierte Angebotspreise nicht öffentlich bekanntgemacht, sondern nur im Einzelfall den Nachfragern mitgeteilt, so handelt es sich nicht um Tarife iSv. § 10 Abs. 1 S. lEnWG. Die häufig mit Sonderabnehmern 141 abgeschlossenen sog. Normverträge, 142 die dem einzelnen Abnehmer keine Einflußmöglichkeit auf die Gestaltung der Vertragsbedingungen geben, sind daher ohne Veröffentlichung keine Tarife, 143 auch wenn sie an eine tarifmäßige Versorgung stark angenähert sind. Erst mit einem etwaigen Veröffentlichungsakt werden sie von dem Energieversorgungsunternehmen willentlich aus dem bilateral-einzelvertraglichen Bereich herausgehoben und im Lichte der Öffentlichkeit zu einem allgemeinen Tarif, an den die Abschluß- und Versorgungspflicht anknüpft. 144 Eine Verpflichtung zur tarifmäßigen Versorgung und damit zur Veröffentlichung standardisierter Tarife und Bedingungen besteht jedoch außerhalb der in der BTOElt vorgesehenen Pflichttarife nicht. 145 Die in § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG statuierte Verpflichtung zur öffentlichen Bekanntmachung bezieht sich nicht nur auf allgemeine Tarife, sondern auch auf die allgemeinen Versorgungsbedingungen. Gleichwohl ist diese Verpflichtung aufgrund der tatsächlichen Entwicklung weitgehend obsolet geworden. Die allge140 In diesem Sinne auch BGH RdE 1985, 101,102-Tarif; Obernolte, in: Obernolte/Danner, § 1 BTOElt, Anm. 1.3.2 (S.III98 a). 141 Sonderabnehmer sind alle Kunden, die sich nach Leistungsbedarf, Verbrauchsmenge, Benutzungsdauer und Belastungskurve von Tarifabnehmern unterscheiden; dazu Evers, Recht, S. 132. 142 Dazu gehören zum weit überwiegenden Teil die Lieferverträge mit Weiterverteilerunternehmen sowie mit Industriebetrieben, Handel und Gewerbe (dazu Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 4 a b), S.I 155), deren Versorgung auf weitgehend gleichen technisch-wirtschaftlichen Sachverhalten beruht. 143 BGH RdE 1985, 101, 102 - T a r i f ; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 4 a b) (S. I 155 a); aA Feuerborn, S . 9 0 f . 144 U. Scholz, S. 74; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 77. 145 Ebel, Energielieferungsverträge, S.47; Gerigk, S.20ff.; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 10; Püttner, Recht, S. 154; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 76, 78; aA Feuerborn, S. 87 ff.

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meinen Versorgungsbedingungen werden schon lange nicht mehr wie noch zu Zeiten des Inkrafttretens des Energiewirtschaftsgesetzes individuell von den Energieversorgungsunternehmen gestaltet. Die Ende der 30er bzw. Anfang der 40er Jahre von der Versorgungswirtschaft entwickelten Musterbedingungen für die Versorgung mit elektrischer Energie und mit Gas hatte der Generalinspektor für Wasser und Energie bereits mit Anordnung vom 27.1.1942 146 für allgemeinverbindlich erklärt. Sie nahmen dadurch den Charakter von Rechtsverordnungen an, 147 so daß die Veröffentlichungspflicht hinsichtlich solcher Bedingungen, die durch die Verordnungen der individuellen Gestaltung der Energieversorgungsunternehmen entzogen waren, bereits dadurch entfallen war. 148 Seit dem 1.4.1980 ergeben sich die Versorgungsbedingungen weitgehend verbindlich aus den als Rechtsverordnung ergangenen AVBEltV 149 und AVBGasV 150 . Auch hier gilt: Nur soweit diese den Energieversorgungsunternehmen einen Gestaltungsspielraum lassen wie bei Baukostenzuschußregelungen (§§9 AVBEltV/AVBGasV) und den technischen Anschlußbedingungen (§§ 17 AVBEltV/AVBGasV) bedürfen die Versorgungsbedingungen noch einer gesonderten Veröffentlichung. 151 d.

Fazit

Damit läßt sich zu den die Anschluß- und Versorgungspflicht auslösenden Normadressateneigenschaften eines Energieversorgungsunternehmens folgendes feststellen: Normadressaten des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG sind alle Unternehmen, die sich zur Versorgung einer Mehrzahl von Abnehmern in einem räumlich abgegrenzten Gemeindegebiet bereit erklären, sofern die Versorgung nach öffentlich bekanntgemachten Tarifbedingungen erfolgt. Das der Anschluß- und Versorgungspflicht unterliegende Gebiet ist anhand der erkennbaren Versorgungsbereitschaft des Unternehmens abzugrenzen.

146

RAnzNr.39undNr.46. BGHZ 9, 390, 393; 23, 175, 179; BGH MDR 1962, 209 - AVB-Bekanntmachung; Evers, Recht, S. 145. 148 Vgl. BGH MDR 1962, 209 - AVB-Bekanntmachung; Büdenbender, Energierecht, Rn.786. 149 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) v. 21.6.1979, BGBl. I S.684. 150 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV) v. 21.6.1979, BGBl. I S . 676. 151 Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 3 (S. I 148). 147

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2. Normbegünstigte a. Letztverbrauchende aa)

Tarifkunden

Versorgungsbedürfnis

Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG verpflichteten Normadressaten ermittelt wurden, ist im folgenden ein Blick auf die Normbegünstigten zu werfen. Der Gesetzeswortlaut besagt, daß „jedermann", der zu dem Kreis der tariflich erfaßten Abnehmer gehört, zu den allgemeinen Tarifen anzuschließen und zu versorgen ist. Begünstigter Tarifkunde ist danach jeder Energieverbraucher, dessen Abnahmeverhältnisse durch einen allgemeinen Tarif erfaßt werden. Wie die Normzwecküberlegungen gezeigt haben, regelt § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG ausschließlich die Energieversorgung auf dem Endverbrauchermarkt, so daß allein nach Tarif zu versorgende Letztverbraucher durch die Anschluß- und Versorgungspflicht begünstigt werden. Als Letztverbraucher kommen alle natürlichen und juristischen Personen in Betracht, die in dem Versorgungsgebiet ein Versorgungsbedürfnis geltend machen. 1 5 2 Die Gruppe der Letztverbraucher ist in sich nicht homogen. Dazu gehören Haushaltskunden ebenso wie Gewerbetreibende, deren Marktmacht - insbesondere wenn sie kleineren Gebietsversorgungsunternehmen gegenüberstehen durchaus beträchtlich sein kann. Während Haushaltskunden wegen ihres verhältnismäßig geringen Nachfragevolumens ausnahmslos als besonders schutzwürdig anzusehen sind, besteht bei größeren Gewerbebetrieben an sich keine Veranlassung zur Statuierung einer Anschluß- und Versorgungspflicht, zumal deren Belange auch durch die kartellrechtlichen Mißbrauchsvorschriften der §§19, 20 Abs. 1, 2 GWB gewahrt werden. Der Gesetzgeber hat die Anschluß- und Versorgungspflicht im Gegensatz zur Regelung in § § 1 9 , 2 0 Abs. 1,2 GWB jedoch unabhängig von einer Einzelfallprüfung des konkreten Versorgungsinteresses statuiert und damit bewußt eine „Streuwirkung" des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG in Kauf genommen. Das steht im Einklang mit der Zielbestimmung der Sicherstellung der Energieversorgung. Eine Diskussion über die individuelle Schutzbedürftigkeit der Versorgungsbedürfnisse einzelner Normbegünstigter würde sich damit schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht vertragen. Da allein das normativ anerkannte Versorgungsbedürfnis, konkretisiert auf eine bestimmte Entnahmestelle im Versorgungsgebiet für die Normbegünstigung ausschlaggebend ist, spielen andere Umstände wie die Wohnsitznahme des Normbegünstigten im Versorgungsgebiet, der Nachweis ordnungsgemäßer Meldung, der Ort des Sitzes eines zu versorgenden Unternehmens, die bauordnungsrechtliche Zulässigkeit des zu

152

Rinne, S. 86.

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

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versorgenden Gebäudes oder die Wohnungsinhaberschaft des Letztverbrauchers für die Anschluß- und Versorgungspflicht keine Rolle. 153 Das Gesetz reagiert durch Gegengewichtsbildung zur Angebotsmacht der Energieversorgungsunternehmen allein auf das typischerweise die Letztverbraucherstufe prägende und regelmäßig nur von der Anbieterseite zu befriedigende Versorgungsbedürfnis. Dieses „Machtungleichgewicht" ist angesichts der relativ hohen technischen und finanziellen Hürden für einen Übergang zur Eigenversorgung unabhängig von einer monopolistischen Angebotsstruktur. Die in dieser Weise zu typisierenden Abnahmeverhältnisse lassen die Anschluß- und Versorgungspflicht nach dem gesetzesimmanenten Regelungsprogramm allein aufgrund des Versorgungsbedürfnisses und unabhängig von weiteren rechtlichen oder tatsächlichen Eigenschaften der Letztverbraucher eingreifen. bb) Einzelfälle Die Anschluß- und Versorgungspflicht besteht daher entgegen anderslautender Ansicht auch für den vieldiskutierten Fall des Untermieters. Der Umstand, daß der Untermieter gegenüber dem Eigentümer keine eigene Rechtsstellung hat, 154 spielt insoweit keine Rolle, da das Versorgungsbedürfnis davon völlig unabhängig ist. 155 Ein ähnliches Versorgungsbedürfnis wie bei Untermietern liegt auch bei Hotel- und Pensionsgästen oder Mietern von Ferienwohnungen vor. Es versteht sich daher nicht von selbst, wie Wolfgang Straßburg156 meint, daß diese Personen als Berechtigte iSv. § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG von vornherein ausscheiden. Eine bisweilen zum Beleg für die Gegenansicht herangezogene Entscheidung des AG Säckingen 157 besagt nur, daß ein Vertragsabschluß zwischen Untermieter und Energieversorgungsunternehmen nicht allgemein üblich ist, jedoch nichts über die Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG. Das Versorgungsbedürfnis ist selbst dort anzunehmen, wo die zu versorgende Person, wie in dem vom OLG Karlsruhe entschiedenen Kühlhaus-Fall, 158 keine bestimmten Räumlichkeiten nutzt, sondern wo sich die Nachfragesituation aufgrund geschäftlichen Kontakts mit einem Dritten ergibt. Das OLG Karlsruhe hatte in der genannten Entscheidung darüber zu befinden, ob der Einlagerer von 153 Ebenso Büdenbender, Energierecht, Rn. 766f.; Evers, Recht, S. 129; Ludwig/Cordt/ Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 19. 154 BGHZ 70, 327, 329 f. 155 AG Hamburg RdE 1987, 76, 77 - Untermieter; aA LG Wuppertal RdE 1986, 18 - Untermietverhältnis II; RdE 1985, 47 - Untermietverhältnis I; VG Schleswig RBeil. 1965, 9; Büdenbender, Energierecht, Rn. 768; Fischerhof., Rechtsfragen, S.60; Grüne, RdE 1985, 48; Ludwig/ Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 16f.; Püttner, Recht, S. 131; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/ Klinger, § 6 EnergG, Rn. 45. 156 In Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 45. 157 RBeil. 1971, 35 f. 158 Urt. v. 30.6.1983 - 9 U 278/81, RdE 1983, 215 f.

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§10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Waren in einem Kühlhaus im Falle der Verhängung einer Stromliefersperre gegenüber dem Eigentümer des Kühlhauses einen eigenen Versorgungsanspruch aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG hat. Ähnliche Fragestellungen ergeben sich bei Bauhandwerkern, die zur Erbringung ihrer Leistungen auf die Lieferung von Baustrom angewiesen sind. Das nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG vorausgesetzte Versorgungsbedürfnis ist ohne Unterschied gegeben. Andererseits gilt auch im Energieversorgungsrecht der Grundsatz „impossibilium nulla est obligatio". Auf die „Jedermann"-Pflicht des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG gewendet bedeutet dieses, daß eine Verpflichtung zu Anschluß und Versorgung nur besteht, wenn sie jeweils rechtlich und tatsächlich möglich ist. Sie scheidet daher aus, wenn der Grundstückseigentümer oder sonstige Rechtsinhaber die Verlegung von Leitungen verweigert oder die Anbringung von Zählern nicht gestattet. 159 Im Ergebnis wohl zu Recht hat das OLG Karlsruhe daher im „Kühlhaus"Fall eine aus § 10 EnWG abzuleitende Pflicht des Energieversorgungsunternehmens zur Versorgung des Einlageres von Kühlwaren verneint, wenngleich mit der den Normzweck des § lOAbs. 1 S. 1 EnWG verfehlenden Begründung, der potentielle Kunde müsse Eigentümer, Mieter oder Pächter des zu versorgenden Grundstücks sein. 160 Eine weitere Einschränkung der Anschluß- und Versorgungspflicht kann sich schließlich aus § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG bei wirtschaftlicher Unzumutbarkeit der Versorgung ergeben. Darauf wird noch ausführlicher einzugehen sein. An dieser Stelle sei nur soviel gesagt, daß sich die Frage der Zumutbarkeit insbesondere bei Nachfragern stellt, die wie Untermieter, Pensionsgäste, Mieter von Ferienwohnungen oder Bauhandwerker am jeweiligen Ort nur ein zeitlich begrenztes Nachfragebedürfnis haben. In der Praxis wird sich die Problematik des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG bei diesen Personengruppen nur selten stellen, da regelmäßig eine Mitversorgung durch Vermieter oder Auftraggeber vorliegt, 161 die in rechtlicher Hinsicht insoweit selbst Letztverbraucher bleiben und nicht etwa infolge der Weiterleitung von Energie zu Versorgungsunternehmen werden. 162 Anderenfalls ist im Einzelfall zu prüfen, ob dem Versorgungsunternehmen die dem Grunde nach ge-

159 Ein derartiger Fall lag LG Aachen RdE 1982, 141 f . - Hausbesetzer, zugrunde; vgl. auch AG Köln RdE 1984, 193 - Mieter. - Dem Nachfrager bleibt in diesen Fällen gegebenenfalls nur der Weg, zunächst gegen den Grundstückseigentümer oder sonstigen Rechtsinhaber aus Vertrag auf Duldung der Leitungsverlegung und Zählerinstallation zu klagen. 160 OLG Karlsruhe RdE 1983, 215, 216 m. zust. Anm. Jockel; vgl. auch LG Wuppertal RdE 1985, 47 - Untermietverhältnis I. 161 Vgl. nur OLG Saarbrücken NJW-RR 1994,436 f. - Wasserversorgungsvertrag; LG Berlin RdE 1973, 30, 31 f. - Kommune; LG Frankfurt/M. RdE 1989, 165 f. - Faktisches Vertragsverhältnis. 162 Zum Erfordernis der Zustimmung des Energieversorgungsunternehmens zur Weiterleitung vgl. § 22 Abs. 1 AVBEltV/AVBGasV.- Aufgrund der Weiterleitung der Energie an Verbraucher, die zu dem Energieversorgungsunternehmen keine eigenen vertraglichen Beziehungen unterhalten, wird der weiterleitende Hauseigentümer oder Hauptmieter nicht selbst zum Anbieter

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

447

gebene Versorgungspflicht gegenüber den bezeichneten Personengruppen zumutbar ist. Unzumutbar ist sie jedenfalls dann nicht, wenn die Nachfrager ansonsten infolge der Sperrung der Energieversorgung gegenüber einer üblicherweise als Mitversorger auftretenden Person von der Versorgung abgeschnitten würden. Die temporären Nachfrager sind in diesen Fällen ebenso zu behandeln wie Hauptmieter. Diesen steht gegenüber dem mitversorgenden Eigentümer als Folge einer von ihm zu vertretenden Verletzung der mietvertraglichen Nebenpflicht auf Energielieferung nur ein Sekundäranspruch auf Schadensersatz zu, so daß die Hauptmieter für die Weiterbelieferung auf das Energieversorgungsunternehmen angewiesen sind. 163 b.

Sonderabnehmer

aa)

Meinungsstand

Ein im Energierecht immer wieder diskutiertes Problem ist, ob auch Sonderabnehmer der Anschluß- und Versorgungspflicht nach § lOAbs. 1 S. 1 EnWGunterfallen. Der in dieser Frage bestehende Meinungsstreit erscheint auf den ersten Blick paradox, da Sonderabnehmer nach der im Energierecht gebräuchlichen Definition gerade solche Letztverbraucher sind, die nicht nach Tarifgrundsätzen versorgt werden, sondern sich nach ihren Abnahmeverhältnissen (Leistungsbedarf, Verbrauchsmengen, Benutzungsdauer, Belastungskurven) von diesen unterscheiden. 164 Gleichwohl hat der Bundesgerichtshof in zwei obiter dicta festgestellt, daß auch Sonderabnehmer der Anschluß- und Versorgungspflicht unterfallen. 165 Die Formulierung des Gesetzes, wonach „jedermann" begünstigt ist,

einer Energieversorgung. Er ist daher weder nach § 10 Abs. 1 EnWG noch nach allgemeinen Grundsätzen den Unterabnehmern gegenüber zum Abschluß eines auf Energieversorgung gerichteten Vertrages verpflichtet (Bartholomeyczik, Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwirtschaft, S. 5 f.; anders LG Oldenburg, MDR 1949, 303 f. - Unterabnehmerverhältnis, für den ungewöhnlichen Fall der Mitversorgung eines von Stromsperre betroffenen Hauptmieters durch den Untermieter). Die Weiterleitung der Energie beruht allein auf der mietvertraglichen Verpflichtung, dem Unterabnehmer die Benutzung der Leitungen zum Energiebezug zu ermöglichen (Beitzke, MDR 1949, 304; Bartholomeyczik, Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwirtschaft, S. 5 f.). 163 Zur Anschluß- und Versorgungspflicht gegenüber Mietern vgl. BGH RdE 1993, 232, 234 - P r i v a t e Stromversorgung; AG Hamburg RdE 1987,148,149-Mieter; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn.45; ablehnend Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn.54ff.; undeutlich LG Aachen NJW-RR 1988, 1522 (in der Entscheidung wird § 6 EnWG aF nicht angesprochen, dafür aber eine besondere quasivertragliche Schutzpflicht auch und gerade gegenüber den Mietern als den eigentlichen Endabnehmern der Energielieferungen angenommen); AG Wuppertal GuS 1989, 7 f. - Strom- und Wassersperre, das i.ü. fehlerhaft annahm, auch die Wasserversorgung sei von § 6 EnWG aF erfaßt gewesen. 164

Vgl. Gerigk, S. 1. BGH WuW/E BGH 1192, 1194 - Stromversorgung für US-Streitkräfte; WuW/E BGH 1195, 1196 - Vertragsloser Zustand; zustimmend Bala, S. 158 f.; Köhler, ZHR 137 (1973), 237, 248. 165

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

spricht zunächst einmal nicht gegen eine Leistungsverpflichtung auch gegenüber Sonderabnehmern. Im Gegenteil enthält der weitere Wortlaut der Vorschrift einen systematischen Anhaltspunkt dafür, daß auch Sonderabnehmer unter die Anschluß- und Versorgungspflicht fallen können. Die Vorschrift des § 10 Abs. 2 S. 1 EnWG, wonach Eigenanlagenbetreibern, die typischerweise zu den Sonderabnehmern gehören, die Berufung auf die Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG versagt ist, macht nur dann Sinn, wenn andere Sonderabnehmer grundsätzlich in den Genuß der Anschluß- und Versorgungspflicht kommen können. 166 Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus § 10 Abs. 3 S. 1 EnWG iVm. § 11 Abs. 2 und Abs. 1 der 5. DVO zum EnWG 1 6 7 , der den Versorgungsanspruch der Eigenanlagenbetreiber nach § 10 Abs. 2 S. 2 EnWG konkretisiert und wonach Eigenanlagenbetreibern als Sonderabnehmern kein klagbarer Anspruch auf Anschluß und Versorgung zu günstigeren Bedingungen und Preisen als den allgemeinen Bedingungen und Tarifpreisen zusteht. Damit ist nur gesagt, daß Eigenanlagenbetreiber keinen Anspruch auf Besserstellung gegenüber den tariflichen Bedingungen und Entgelten haben. Aussagen über andere Sonderabnehmer trifft die Vorschrift nicht. Sie ordnet allein die mit Eigenanlagenbetreibern abzuschließenden Verträge den Sonderabnehmer Verträgen zu, enthält also keine Legaldefinition des Begriffs „Sonderabnehmer" 168 und schließt schon gar nicht deren Anschluß und Versorgung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG aus, 169 freilich zu Tarifkonditionen und nicht zu Sonderkonditionen. 170 Darin scheint auch das eigentliche Mißverständnis zu liegen: Wenn gesagt wird, die Anschluß- und Versorgungspflicht bestehe nur gegenüber Tarifkunden, 171 so ist das richtig, wenn gemeint ist, daß eine Anschluß- und Versorgungspflicht nur zu Tarifkonditionen besteht. Damit ist jedoch die Anwendung des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG auf (bisherige) Sonderkunden nicht von vornherein ausgeschlossen. 172 Zur Klärung der Frage, ob Sonderabnehmer von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG erfaßt werden, bedarf es in jedem Fall einer näheren Betrachtung der konkreten Versor-

166

Gerigk, S. 13; U. Scholz, S. 83; Vykydal, S.92f. Fünfte VO zur Durchführung des Gesetzes zur Förderung der Energiewirtschaft - 5. EnergDVO - v. 21.10.1940, RGBl. I S . 1391; BGBl. III 752 - 1- 5. 168 Gerigk, S. 3ff.; aAEbel, Energielieferungsvertrage, S. 46f. 169 Anders Recknagel, in: Hermann/Recknagel/Schmidt-Salzer, § 1 AVBEltV/GasV, Rn.20; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/ Klinger, § 6 Rn. 85. 170 BGH WM 1960, 1410, 1413 - Sonderabnehmerkonkurs I; BGHZ 81, 90, 93, 93 f. - Sonderabnehmerkonkurs II; OLG Oldenburg, RdE 1989, 138, 140 - Sonderabnehmervertrag; Ebel, Energielieferungsverträge, S.44, 45f.; Gerigk, S. 15; Krebs, S.242f.; Ludwig/Cordt/Stech/ Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 23, 29; Jungtäubl, S. 15; Vykydal, S. 93, 228; aA BGH RdE 1983, 4, 6 - Baukostenzuschuß; WuW/E 1192, 1194 - Stromversorgung für US-Streitkräfte; WuW/E BGH 1195, 1196 - Vertragsloser Zustand I; J. F. Baur, Diskriminierungsverbot, S. 20, 58. 171 Vgl. nur Evers, Recht, S. 71, 133; Malzer, WuW 1959,780, 785 f. 172 Dies betont Büdenbender, Energierecht, Rn. 769, zu Recht (mißverständlich jedoch ders., aaO., Rn. 821); vgl. auch Eckert, RuS 1979, 41; Evers, Recht, S. 133; U. Scholz, S. 83. 167

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

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gungsverhältnisse. 173 Da ist zum einen der Fall, daß der bisherige Sonderabnehmer von dem Energieversorgungsunternehmen die Vollversorgung nach Tarifbedingungen begehrt. Erfüllt der Abnehmer die Kriterien einer Tarifversorgung, besteht Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG. Es handelt sich fortan um einen Tarifabnehmer. Fällt der Abnehmer aufgrund seines Leistungsbedarfs, seiner Verbrauchsmenge, der Benutzungsdauer und der Belastungskurve nicht unter einen bestehenden Tarif, bleibt er auf eine Versorgung aufgrund eines Sonderabnehmervertrages angewiesen und kann sich nicht auf die Anschluß- und Versorgungspflicht des Energieversorgungsunternehmens berufen. 174 Ihm gegenüber kann das Energieversorgungsunternehmen nur aus §§ 19, 20 Abs. 1, 2 GWB bzw. nach den Grundsätzen des allgemeinen Kontrahierungszwangs verpflichtet sein. 175 Der zweite zu betrachtende Fall ist derjenige, daß sich die Abnahmeverhältnisse eines bisher als Sonderabnehmer versorgten Abnehmers mit der Zeit ändern und dadurch die Voraussetzungen einer Tarifversorgung vorliegen: Der bisherige Sonderabnehmer kann sich damit auf die Anschluß- und Versorgungspflicht des Energieversorgungsunternehmens nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG berufen, wenn er einen Übergang zur Tarifversorgung wünscht. Schließlich ist in diesem Zusammenhang das Begehren auf Teil- oder Zusatzversorgung zu erwähnen. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, daß ein Sonderabnehmer, der beispielsweise für Gewerbezwecke mit elektrischer Energie versorgt wird, zusätzlich eine Versorgung nach allgemeinem Tarif wünscht. Auch hier gilt: Erfüllt er für die nachgefragte Teil- oder Zusatzversorgung die Kriterien der Tarifversorgung, so besteht gegenüber diesem Sonderabnehmer diesbezüglich eine Anschluß- und Versorgungspflicht zu Tarifkonditionen. Festzuhalten bleibt, daß der in Rechtsprechung und Schrifttum ausgetragene Disput um die Anschluß- und Versorgungspflicht gegenüber Sonderabnehmern begriffsjuristisch geprägt ist. Er leidet darunter, daß die vorstehend aufgeführten Fallgestaltungen nicht unterschieden werden. 176 Daraus resultieren holzschnittartige Betrachtungen, die im Ergebnis die Einbeziehung der Sonderabnehmer in die 173 Das übersehen Emmerich, Ausnahmebereich, S. 88; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 85. 174 Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn.85; aA BGH WuW/E BGH 1195,1196-Vertragsloser Zustand I; WuW/E BGH 1192, 1194-Stromversorgung für USStreitkräfte; wohl auch Ritter, S. 34; offen gelassen von OLG Hamm RBeil. 32 (1971), 20, 21 Gasversorgung. 175 Vykydal, S. 250 f.; widersprüchlich ders., S. 229 (Fn. 6), 246, mit der Annahme, daß sich das „Ob" des Vertragsschlusses stets aus § 6 EnWG ergibt, während hinsichtlich des „Wie" des Vertragsschlusses Vertragsfreiheit bestehe. Insoweit übersieht Vykydal, daß nach dem Sinnzusammenhang des § 6 EnWG aF eine Anschluß- und Versorgungspflicht nur zu Tarifkonditionen besteht. 176 Siehe etwa Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 85; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 4 a c) bb) (S. I 156/156 a).

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG entweder pauschal befürworten oder eine Ausschließlichkeit zwischen beiden Versorgungsformen annehmen. Das wird den Lebenssachverhalten nicht gerecht. Richtig ist vielmehr: Eine materielle Ausschließlichkeit zwischen Tarifabnehmer- und Sonderabnehmerversorgung existiert dem Grunde nach nicht, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Die Energieversorgungsunternehmen sind nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit auch nicht gehindert, mit potentiellen Tarifabnehmern einen Sonderabnehmervertrag zu vereinbaren, sofern diese es wünschen. 1 7 7 Mit der energiewirtschaftlichen Verpflichtung zum Angebot von Pflichttarifen soll lediglich ein Mindestschutz der begünstigten Abnehmerkreise gewährleistet werden, so daß der Inhalt der Energieversorgungsverträge dadurch nicht in jeder Hinsicht zwingend festgelegt wird. Die Abnehmer können auf eine Versorgung nach dem Pflichttarif verzichten. Das wird regelmäßig bei der Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer günstigeren Sonderabnehmerversorgung der Fall sein, schließt andererseits aber auch die Vereinbarung ungünstigerer Konditionen nicht aus. 178 Grenzen für den inhaltlichen Gestaltungsspielraum werden diesbezüglich nur durch die allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften gezogen. bb) Versorgung in der Insolvenz Virulent wird die vorbezeichnete Problematik vornehmlich im Falle der Insolvenz von Unternehmen, die aufgrund ihrer Abnahmeverhältnisse häufig aus der Tarifabnehmerstruktur herausfallen und damit zu den Sonderabnehmern zählen. Der Insolvenzverwalter hat zumeist ein Interesse daran, die Energieversorgung des Unternehmens aufrechtzuerhalten, um den Geschäftsbetrieb wenigstens vorübergehend fortführen zu können. Das ist sachgerecht, wenn beabsichtigt ist, das Unternehmen im Interesse einer optimalen Verwertung der Insolvenzmasse als funktionsfähige Einheit zu veräußern. Verlangt der Verwalter allerdings Weiterbelieferung mit Energie, so hatte das unter dem Regime der bis zum 1.1.1999 geltenden Konkursordnung nach bis dahin verbreiteter Auffassung zur Folge, daß auch Zahlungsansprüche des Energieversorgungsunternehmens für die vor Konkurseröffnung erfolgten Lieferungen gem. § 59 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. KO zur bevorrechtigten Masseschuld wurden. 1 7 9 Zur Begründung wurde auf die Regelung des § 17 Abs. 1 KO verwiesen. Aus ihr wurde entnommen, daß das Weiterbelieferungsbegehren des Konkursverwalters als Verlangen der Erfüllung eines bisher nicht oder nicht vollständig erfüllten zweiseitigen Vertrages anzusehen sei. U m dieses Ergebnis zu vermeiden, ist seinerzeit vornehmlich für die Versorgungsverträge über Strom, Gas und Wasser die Rechtsfigur des Wiederkehrschuldverhält177

Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 4 a c) dd) (S. I 158). Undeutlich Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 4 a c) dd) (S. I 158 a). 179 Vgl. nur BGHZ 81, 90,91 - Sonderabnehmerkonkurs II; 83, 359, 363 f. - Tarifabnehmerkonkurs; 89, 189, 194. 178

IV. Grundlagen der Anschluß- und Versorgungspflicht

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nisses entwickelt worden, 1 8 0 die dadurch gekennzeichnet sein soll, daß die einzelnen Leistungen fortwährend aufgrund jeweils erneuerter Vertragsabschlüsse erbracht werden; umstritten ist insoweit, ob die einzelnen Verträge daneben noch durch einen Grund- oder Rahmenvertrag verbunden sein müssen. 1 8 1 Inwieweit es sich bei Versorgungsverträgen - und hier insbesondere bei Energielieferungsverträgen - um Wiederkehrschuldverhältnisse handelt, ist im Ausgangspunkt allerdings keine Frage rechtskonstruktiver Betrachtung, sondern primär ein Problem des Vertragsinhalts bzw. der Auslegung der jeweiligen Willenserklärungen. 182 Insoweit sind Energielieferungsverträge überwiegend darauf gerichtet, den Gesamtbedarf des Abnehmers für einen bestimmten Zeitabschnitt zu einem einheitlich festgelegten Preis zu decken. Jedenfalls für Sonderabnehmerverträge ist daher mittlerweile anerkannt, daß es sich nicht um Wiederkehrschuldverhältnisse, sondern um Sukzessivlieferungsverträge, also wechselseitig verpflichtende Einheitsverträge, handelt. 183 Mit dieser Begründung, die durch § § 3 2 AVBEltV/AVBGasV gestützt wird, können freilich auch Tarifkundenverträge als Sukzessivlieferungsverträge angesehen werden. 1 8 4 Das führte jedoch zur Anwendung von § 17 KO und damit nach bis dahin verbreiteter Auffassung zu der Rechtsfolge, daß die Zahlungsansprüche des Energieversorgungsunternehmens für die vor Konkurseröffnung erfolgten Lieferungen gem. § 59 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. KO zur bevorrechtigten Masseschuld wurden, falls der Konkursverwalter aus den bereits dargelegten Gründen Weiterbelieferung begehrte. Dieses Ergebnis war allerdings schon für die Anwendung der Konkursordnung nicht zwingend. Das hat bereits Hartmut Oetker185 mit überzeugenden Erwägungen nachgewiesen. Oetker plädierte - unter analoger Anwendung von § 17 KO für eine am Normzweck des § 59 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. KO orientierte Lösung der Konkursproblematik und kam zu dem Ergebnis, daß die Gläubigerforderungen nur hinsichtlich der nach Konkurseröffnung erbrachten Leistungen als privilegierte Masseschulden anzusehen sind. Für die in § 59 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. KO angeordnete Sonderstellung einzelner Forderungen (Durchbrechung des Grundsatzes

180

Grundlegend Jaeger, LZ 1912, Sp. 286, 294 ff.; vgl. auch RGZ 148, 326, 330ff. Dazu umfassend Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 125 ff. 182 Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 127. 183 Vgl. aus der Rspr. RGZ 148, 326, 331 - Wasserlieferung II; BGH WM 1960, 1410, 1411 Sonderabnehmerkonkurs I; BGHZ 70,132,135 - Energie- u. Wasserversorgungsvertrag; 81, 90, 91 - Sonderabnehmerkonkurs II; 83, 359, 362 - Tarifabnehmerkonkurs. 184 Vgl. Hermann, in: Hermann/Recknagel/Schmidt-Salzer, § 32 AVBV Rn. 4; Horn, in: Gutachten I, S. 551, 561 ; Larenz, Schuldrecht I, § 2 VI Fn. 45 (S. 31 ); Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 129 (mit Fn. 143); Palandt-Heinrichs, Einf v §305, Rn. 30; ähnlich Büdenbender, DZWir 1994, 315, 320; ders., Energierecht, Rn.848 (Dauerschuldverhältnis eigener Art); Fischerhof, Rechtsfragen II, S. 12 f. (Dauerschuldverhältnis eigener Art); aA RGZ 148, 326, 332 f. - Wasserlieferung II; Fuchs-Wissemann, NJW 1984, 27, 28; offen gelassen von BGHZ 83, 359, 362f. Tarifabnehmerkonkurs. 185 Dauerschuldverhältnis, S. 129 ff. 181

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

der Gläubigergleichbehandlung) vermochte Oetker nur im Hinblick auf die Vermehrung der Konkursmasse, nicht aber im Hinblick auf die bereits vor Konkurseröffnung durch Teilleistungen eingetretene Vermehrung des „Gemeinschuldner"vermögens eine Rechtfertigung zu erkennen. Diese Lösung war wertungskongruent mit der jüngeren BGH-Rechtsprechung zur Konkursordnung. Darin hatte der BGH angenommen, daß ein gegenseitiger Vertrag, der zur Zeit der Eröffnung des Konkursverfahrens noch nicht (vollständig) erfüllt ist, durch die Verfahrenseröffnung umgestaltet wird: Der Erfüllungsanspruch erlischt; an seine Stelle tritt der einseitige Anspruch des Gläubigers auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung (§ 26 KO). Der Konkursverwalter konnte durch sein Erfüllungsverlangen im Sinne von § 17 KO den untergegangenen Anspruch gegen den Vertragspartner allerdings wieder zur Entstehung bringen und mit dem bisherigen Inhalt neu begründen. 186 Folgerichtig zu Ende gedacht waren damit aufgrund der Novation des bisherigen Schuldverhältnisses nur solche (Teil-)Leistungen des Vertragspartners aus der Masse zu begleichen, die nach Eröffnung des Konkursverfahrens erfolgten. 187 Zahlungsansprüche des Vertragspartners für Leistungen aus der Zeit vor Eröffnung des Konkursverfahrens wurden durch die Verfahrenseröffnung zu Konkursforderungen. Mit dieser Judikatur hat sich der Bundesgerichtshof im Ergebnis der alten Lehre vom Wiederkehrschuldverhältnis angenähert, 188 die damit freilich als Rechtskonstrukt endgültig überflüssig war. Die vom BGH vorgenommene rechtliche Aufspaltung eines einheitlichen Vertragsverhältnisses war schon dem seinerzeit geltenden „Insolvenz"-Recht nicht unbekannt. Eine ausdrückliche Regelung für Fälle der beschriebenen Art enthielt §36 Abs. 2 S. 1 VerglO. 189 Seit Inkrafttreten der Insolvenzordnung ist dieser Rechtsgedanke in § 105 InsO für das gesamte Insolvenzrecht ausdrücklich normiert. Demnach ist es nicht mehr erforderlich, daß der Insolvenzverwalter die weitere Erfüllung eines Sonderabnehmervertrages ablehnt, um damit eine Privilegierung der Zahlungsforderungen des Energieversorgungsunternehmens für Energielieferungen aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu verhindern. Im Einzelfall wird der Insolvenzverwalter freilich abzuwägen haben, ob das Verlangen auf Fortsetzung der Sonderabnehmerversorgung - wie im Regelfall bei Fort-

186 BGHZ 106, 236, 242 f.; 116, 156, 158; 129, 336, 338; im Ansatz auch schon BGHZ 103, 250, 252. 187 Kreft, ZIP 1997, 865, 870. - Der 9. Zivilsenat des BGH hat das in seinem Urteil vom 4.5.1995 - IX ZR 256/93 (= BGHZ 129, 336, 343) ausdrücklich offen gelassen, dort jedoch ausgesprochen, daß im spiegelbildlichen Fall einer Teilleistung des „Gemeinschuldners" vor Konkurseröffnung die Gegenleistung des Vertragspartners durch die Verfahrenseröffnung nicht berührt wird (aaO, S. 340). 188 Vgl. nur Jaeger, LZ 1912, Sp. 286, 295 f. 189 Für § 9 GesO auch OLG Dresden ZIP 1995, 2001, 2002 f.

V. Anschluß und Versorgung von

Letztverbrauchern

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führung des Geschäftsbetriebs anzunehmen - wirtschaftlich sinnvoll ist oder ob gegebenenfalls eine Tarifabnehmerversorgung des Gemeinschuldners in Betracht kommt. 190 Es hängt daher von den Umständen des Einzelfalles ab, ob in dem bloßen Weiterbezug von Energie nach Insolvenzeröffnung die konkludente Fortsetzung des bisherigen Sonderabnehmervertrages oder das stillschweigende Verlangen auf Neuabschluß eines Tarifabnehmervertrages zu sehen ist. 191 Freilich stellt sich insoweit die Frage, ob die Insolvenz die wirtschaftliche Unzumutbarkeit der Weiterversorgung begründet. Darauf ist noch zurückzukommen. 192 Macht der Insolvenzverwalter im Hinblick auf den alten Sonderabnehmervertrag kein Fortsetzungsverlangen geltend und besteht auch kein Anspruch auf Tarifversorgung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG, so kann die Belieferung dennoch nach §§ 19,20 Abs. 1,2 GWB bzw. nach den Grundsätzen des allgemeinen Kontrahierungszwangs zustande kommen. Die Energiebezugsbedingungen können allerdings negativ von den Bezugspreisen des Sonderabnehmervertrages und der Tarifversorgung abweichen, da weder das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot noch das Rechtsinstitut des allgemeinen Kontrahierungszwangs einen Anspruch auf Belieferung zu den bisherigen Sonderabnehmerpreisen bzw. denen der Tarifversorgung vermittelt. 193

V. Anschluß und Versorgung von Letztverbrauchern als Folge der Gebietsversorgung 1. Verpflichtung zur möglichst sicheren und preisgünstigen Versorgung: Ein Zielkonflikt Die Vorschrift des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG statuiert ihrem Wortlaut nach eine Rechtspflicht für Gebietsversorgungsunternehmen, den begünstigten Abnehmerkreis unter bestimmten Voraussetzungen an sein Versorgungsnetz anzuschließen und zu versorgen. Anschluß und Versorgung haben sich, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, an der allgemeinen Zielsetzung des Energierechts auszurichten, eine möglichst preisgünstige, sichere und umweltverträgliche Energieversorgung des Abnehmers zu gewährleisten. Zur Sicherheit der Versorgung im individuellen Sinne gehört im Kontext des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG der Anschluß an das Versor-

190

Diese generell ablehnend LG Mannheim, ET 1953/54, 179; Dickmann, S. 68 f., die einem Weiterbelieferungsverlangen nach Tarifkonditionen unter dem Eindruck der alten Rechtsprechung zu § 17 KO die Arglisteinrede entgegenhalten wollen; vgl. auch Böhm, NJW 1953, 1699, 1700. 191 BGHZ 83, 359, 363 f. - Tarifabnehmerkonkurs. 192 Dazu unten V 4 c aa). 193 Vgl. auch OLG Karlsruhe RdE 1998, 26, 28 - Stromlieferung im Konkurs.

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

gungsnetz, die permanente Vorhaltung der Energie und die Ermöglichung des Energieverbrauchs im Rahmen der tariflichen Versorgungsbedingungen. Das Energieversorgungsunternehmen ist zur möglichst rationellen Darbietung dieser Versorgungsleistungen verpflichtet. Auf diese Weise übt das Gesetz Druck auf die Versorgungsunternehmen aus, notwendige Energiebezugsverträge möglichst preiswert abzuschließen und alle internen Rationalisierungsmöglichkeiten auszuschöpfen, um die Kosten der Energieerzeugung und -Versorgung so niedrig wie möglich zu halten. Die Verpflichtung zur Kostendegression findet ihre Grenze allerdings dort, wo das Ziel der sicheren und umweltverträglichen Energieversorgung gefährdet wird. 194 Dieses verpflichtet das Energieversorgungsunternehmen dazu, die für die Versorgung der Tarifabnehmer notwendigen Leistungen bereitzustellen, Ersatzinvestitionen für technisch veraltete bzw. nicht mehr umweltgerechte Anlagen zu tätigen und Verstärkungen oder Erweiterungen des Versorgungsnetzes vorzunehmen, wenn sich erhöhter Energiebedarf abzeichnet. 195 Aus der Anschluß- und Versorgungspflicht resultiert damit eine „mittelbare Investitionspflicht" für das Energieversorgungsunternehmen, die unter Wettbewerbsbedingungen allerdings begrenzt ist. 196

2. Anspruch auf Anschluß und Versorgung: Gemeinwohlgeleitete Selbstregulierung Die Verpflichtung des Normadressaten zu Anschluß und Versorgung wäre in ihrer praktischen Wirksamkeit nur begrenzt, wenn sie nicht jeweils für eine bestimmte Versorgungssituation durch einen individuell durchsetzbaren Anspruch des Normbegünstigten aktualisiert werden könnte. Das wird, soweit ersichtlich, nicht in Frage gestellt. Zweifel an der Anspruchsqualität von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG entstehen allerdings im Hinblick auf den bereits skizzierten Schutzzweck der Norm, nach dem die Anschluß- und Versorgungspflicht im Allgemeininteresse an einer Sicherung der Energieversorgung besteht. Im Privatrecht wird mit dem Begriff des Anspruchs entsprechend der Legaldefinition in § 194 BGB das Recht bezeichnet, von einem Anderen ein Tun oder ein Unterlassen verlangen zu können. Ansprüche wurzeln in Rechtsverhältnissen; sie setzen also eine rechtliche Sonderbeziehung zwischen dem Berechtig194

Knöchel, S. 96, 106. - Zu den inhaltlichen Anforderungen an eine sichere Energieversorgung vgl. näher Büdenbender, Energierecht, Rn. 70; Evers, Recht, S. 99; Tegethoff, in: Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, Präambel EnergG Anm. 3 a, Rn. 2ff. (S. I 21 f.). 195 Dazu Evers, Recht, S.68; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/ Klinger, § 6 EnergG, Tz. 20. 196 Dazu oben IV 1 b bb) (3); zu möglichen Aufsichtsmaßnahmen Büdenbender, Energierecht, Rn.825f.; Gerigk, S. 17; Schmidt-Preuß, RdE 1996, 1, 5.

V. Anschluß und Versorgung von

Letztverbrauchern

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ten und dem Verpflichteten voraus, 197 aus der sich für den Berechtigten ein subjektives Recht oder zumindest ein rechtlich geschütztes Interesse ergibt. 198 Der Berechtigte darf also nicht nur schlichtweg reflexiv begünstigt werden. Ein Blick auf § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG zeigt, daß die Norm dem einzelnen Letztverbraucher einen Anspruch auf Versorgung jedenfalls nicht ausdrücklich zuwendet. Das Gesetz legt es vielmehr in die Hand des einzelnen Abnehmers, die in § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG angelegte allgemeine Anschluß- und Versorgungspflicht durch sein Versorgungsverlangen zu aktualisieren und auf einen bestimmten Versorgungsfall zu projezieren. 199 Mit Geltendmachung des Versorgungsverlangens entsteht zwischen den Beteiligten aufgrund des im Gesetz angeordneten Kontrahierungszwangs ein vorvertragliches gesetzliches Schuldverhältnis, aus dem sie, vergleichbar dem durch Eintritt in Vertragsverhandlungen entstehenden gesetzlichen Schuldverhältnis, zu gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet sind. Das gilt insbesondere für den Austausch von Informationen, die für die künftige Vertragsdurchführung erforderlich sind. 200 Bedeutung hat das vorvertragliche gesetzliche Schuldverhältnis für die Fälle, in denen der Versorgungsanschluß erst noch hergestellt werden muß oder die Leitung zur Entnahme der Energie noch der Freischaltung bedarf. Steht die Energie dagegen schon am Entnahmepunkt zur Verfügung, ist das vorvertragliche Schuldverhältnis der Entnahme der Energie und dem Abschluß des Energielieferungsvertrages dagegen regelmäßig nur für die Dauer einer logischen Sekunde vorgelagert. Das Anfordern der Leistung durch den begünstigten Endabnehmer, das ein vorvertragliches gesetzliches Schuldverhältnis zwischen den Beteiligten zur Entstehung gelangen läßt, ist Voraussetzung der konkreten Anschluß- und Versorgungspflicht. Damit regelt § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG die Beziehung bestimmter Berechtigter, der zukünftigen Tarifabnehmer, zu bestimmten Verpflichteten, den Gebietsversorgungsunternehmen. Ohne diese im Gesetz angelegte Sonderrechtsbeziehung ist die Anschluß- und Versorgungspflicht nicht praktikabel. Die Anschluß- und Versorgungspflicht besteht zwar im Interesse der Allgemeinheit an der Sicherstellung der Energieversorgung; dem einzelnen Letztverbraucher wird jedoch stellvertretend für die Allgemeinheit das Recht eingeräumt, seine Versorgungsinteressen unmittelbar gegenüber dem Gebietsversorgungsunternehmen geltend zu machen. Das Gesetz weist mithin den zukünftigen Tarifabnehmern bestimmte Rechte zu und stattet sie mit einem eigenen Versorgungsanspruch gegenüber den Gebietsversorgungsunternehmen aus. 201

197

Vgl. nur Staudinger-Dilcher, § 194 Rn. 6. Dazu etwa Erman-Hefermehl, § 194 Rn. 2; ausführlich Okuda, AcP 164 (1964), 536 ff. 199 Vgl. auch Büdenbender, Energierecht, Rn. 829. 200 Vgl. auch BGH WuW/E BGH 3099, 3103 - Stromveredelung (zu § 26 Abs. 2 GWB aF). 201 Ebenso unter Hinweis auf den Normzweck Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 96; vgl. auch Büdenbender, Energierecht, Rn. 93. 198

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§10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Durch die staatliche Aufsicht über die Energiewirtschaft wird die Anspruchsqualität von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG nicht in Frage gestellt. Die staatliche Aufsicht endet dort, wo es nicht mehr um die Durchsetzung des eigentlichen Allgemeininteresses an einer sicheren und preiswürdigen Versorgung geht, sondern um das Interesse an der individuellen Durchsetzung von Anschluß und Versorgung. Die dem Allgemeinwohl verpflichtete staatliche Energieaufsicht überwacht lediglich das Verhalten der auf dem Endverbrauchermarkt tätigen Anbieter und ist nur im Ausnahmefall der Gefährdung des Allgemeininteresses berechtigt, in konkrete Versorgungsverhältnisse regelnd einzugreifen (vgl. § 18 EnWG). Der konkrete Leistungsanspruch des Normbegünstigten entsteht nicht erst mit dem Abschluß eines Zielvertrages wie beim allgemeinen Kontrahierungszwang, sondern unmittelbar aufgrund Gesetzes mit der Geltendmachung des Versorgungsbegehrens. Das ist der Sache nach folgerichtig, da die begünstigten Abnehmer nur Versorgung zu feststehenden Tarifbedingungen verlangen können. Der zwischen den Parteien abzuschließende Versorgungsvertrag aktualisiert lediglich die gesetzliche Leistungsverpflichtung. Kommt das Gebietsversorgungsunternehmen seiner Anschluß- und Versorgungspflicht nicht nach, so liegt darin zugleich eine pflichtwidrige und damit schuldhafte Verletzung des aufgrund des Versorgungsbegehrens entstandenen vorvertraglichen gesetzlichen Schuldverhältnisses. Der Versorgungsinteressent kann daher neben dem Anspruch auf Leistung und Vertragsschluß auch einen Anspruch auf Schadensersatz aus dem gesetzlichen Schuldverhältnis des Vorkontrakts geltend machen. 202 Ersatzfähig ist insoweit der Schaden, den der Letztverbraucher im Vertrauen auf die Gesetzestreue des Gebietsversorgungsunternehmens erlitten hat.

3. Inhalt des Anspruchs Korrespondierend zum Umfang der Anschluß- und Versorgungspflicht des Gebietsversorgungsunternehmens ist der Anspruch auf Abschluß eines Anschlußund Versorgungsvertrages begrenzt: Nicht möglich ist es, das Vertragsverlangen auf Anschluß oder Versorgung zu beschränken. Dieses im Gesetzeswortlaut des § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG durch die Konjunktion „und" vorgegebene Ergebnis wird durch den Gesetzeszweck bestätigt, der in der Sicherstellung der tatsächlichen Versorgung der Letztverbraucher zu sehen ist. Wer Versorgung begehrt, ist im

202 BGH ET 1994, 77,78 - Netzanschlußkosten; NJW 1974, 1903, 1904-Verkehrsflughafen II; LG Oldenburg NJW-RR 1992, 53, 54 - Zwangsverwaltung; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil 1/2, § 162IV 2 (Fn.40); Erman-Hefermehl, Vor § 145 Rn. 21; Gernhuber, Schuldverhältnis, § 7 II 7 a (S. 138 f.); Kramer, MünchKomm. BGB, Vor § 145, Rn. 1 2 N i p p e r d e y , Kontrahierungszwang, S. 131 f.; Soergel-Wolf, Vor § 145 Rn. 104.

V. Anschluß und Versorgung von

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Bereich der leitungsgebundenen Energieversorgung notwendig zugleich auf den Anschluß an das bestehende Leitungsnetz angewiesen. Wer dagegen keinen aktuellen Versorgungsbedarf hat, gehört schon nicht zum Kreis der von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG begünstigten Abnehmer. Ein Anspruch auf isolierten Anschluß ohne Abnahme von Energie wird von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG nicht vermittelt. 203 Das spiegelt sich in den Tarifpreisen wider, die auf eine Amortisation der Leitungsund Anschlußkosten angelegt sind, soweit keine individuelle Kostenzuordnung über die Einforderung von Baukostenzuschüssen (vgl. §§9, lOAbs. 5 AVBElt/ 10 Abs. 5 AVBGas) erfolgt. Ein vom Normzweck nicht gedecktes Verlangen auf isolierten Anschluß, quasi auf „Vorrat", ist daher geeignet, dem Tarifsystem seine Kalkulationsbasis zu entziehen. Generell gilt, daß Anschluß und Versorgung nur verlangen kann, wer zum Kreis der vom Tarif begünstigten Abnehmer zählt und wer darüber hinaus bereit und in der Lage ist, die in den AVBElt und AVBGas festgeschriebenen Lieferbedingungen zu akzeptieren. Anschluß und Versorgung kann nur zu den öffentlich bekanntgegebenen Tarifpreisen und Bedingungen verlangt werden. 204 Die damit einhergehende Beschränkung der vertraglichen Gestaltungsfreiheit des Abnehmers ist die Kehrseite der vom Gesetz intendierten Sicherstellung einer preisgünstigen Versorgung der Allgemeinheit mit Energie. Dabei haben die Belange des Einzelnen hinter das Gemeinwohlinteresse an einer geregelten Grundversorgung zurückzutreten. Der in § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG angelegte Interessenausgleich erfordert die Einhaltung des Tarifsystems und läßt Ausnahmen zugunsten einzelner Abnehmer nicht zu, da anderenfalls das Ziel der näherungsweisen Kostendekkung innerhalb der Tarifgruppen nicht zu erreichen ist. Um Versorgung nachsuchende Vertragsinteressenten, die von vornherein zu erkennen geben, daß sie nicht gewillt sind, sich vertragstreu zu verhalten, haben daher keinen Anspruch auf Anschluß und Versorgung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG. Markante Fälle aus dem reichhaltigen Rechtsprechungsmaterial sind die sog. Stromboykott-Entscheidungen, in denen sich die Gerichte mit einseitigen Kürzungen der Versorgungsentgelte durch einzelne Abnehmer auseinanderzusetzen hatten. 205 Ziel der Kürzungen war es regelmäßig, die Energieversorgungsunternehmen zu einem Verzicht auf die Erzeugung von Atomstrom zu bewegen. Ein Anspruch auf Anschluß und Versorgung muß angesichts möglicher Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungssicherheit auch dann ausscheiden, wenn der potentielle Kunde nicht bereit oder in der Lage ist, seine zur Verwendung der Energie bestimmten Anlagen ordnungsgemäß zu errichten oder zu unterhalten (vgl. §§ 12 AVBElt / 12 AVBGas). 206 203 Büdenbender, Energierecht, Rn. 774; Feuerborn, S. 84; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 26. 204 Sachs, in: Perspektiven, S. 7 7 , 7 7 f . 205 Vgl. stellvertretend nur OLG Hamm RdE 1981, 199, 201 - Stromzahlungsboykott. 206 Zu einem derartigen Fall vgl. AG Peine RuS 1985,6 - Heizungsanlage; die Anschluß- und

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Festzuhalten bleibt, daß ein Anspruch nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG immer dann nicht besteht, wenn der Begünstigte einzelne ihn nach dem abzuschließenden Versorgungsvertrag treffende Pflichten bestreitet.207 Vor Aufnahme der Erstversorgung schließt das einen Kontrahierungszwang nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG aus; im laufenden Versorgungsverhältnis ist das Energieversorgungsunternehmen unter den Voraussetzungen der §§ 33 AVBElt / 33 AVBGas zur Einstellung der Versorgung und außerordentlichen Kündigung des Versorgungsvertrages berechtigt. Inhaltlich ist der Anspruch aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG, wie bereits dargelegt, auf Anschluß an das Versorgungsnetz, permanente Vorhaltung von Energie und Ermöglichung des Energieverbrauchs im Rahmen der tariflichen Versorgungsbedingungen gerichtet. In Hinsicht auf die Koordinaten der sicheren, preisgünstigen und umweltverträglichen Versorgung schreibt das Energiewirtschaftsgesetz dem Gebietsversorgungsunternehmen allerdings nur vor, daß es den Letztverbraucher anzuschließen und zu versorgen hat, nicht aber wie es diese Verpflichtung konkret zu erfüllen hat. Aus der Verpflichtung zur umweltverträglichen Versorgung resultiert jedenfalls keine Verpflichtung zur Darbietung von Energie bestimmter Erzeugungsqualität. Der Letztverbraucher hat keinen gesetzlichen Anspruch auf Lieferung von Energie bestimmter Herkunft oder auf Vorhaltung bestimmter Erzeugungsanlagen. Es bleibt dem Versorgungsunternehmen überlassen, Energie welcher Qualität und welchen Ursprungs es anbietet.208 Das Gesetz soll allein das Ob der Versorgung sicherstellen, während es die individuelle Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtung zu Anschluß und Versorgung in die Freiheit der unternehmerischen Betätigung stellt. Der Letztverbraucher hat also keinen Anspruch darauf, nur mit Erdgas aus einem bestimmten Ursprungsland oder elektrischer Energie ausschließlich aus regenerativen Energiequellen beliefert zu werden. 209 Da andererseits die Anschluß- und Versorgungspflicht ausschließlich im Allgemeininteresse besteht, kann der einzelne Abnehmer nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG auch nicht den Zubau von Versorgungskapazitäten verlangen.210 Der Anspruch nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG besteht nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten211 und schlägt gegebenenfalls in einen Sekundäranspruch auf Schadensersatz um, falls das Energieversorgungsunternehmen seine Verpflichtung zur sicheren Versorgung nicht oder schlecht erfüllt. Soweit die Versorgungssicherheit durch fehlende Kapazitäten gefährdet ist, kann dieser Aspekt nach der Systematik des Ener-

Versorgungspflicht wird dort allerdings mit der zweifelhaften Begründung abgelehnt, das Versorgungsunternehmen sei nicht verpflichtet, die Begehung einer Ordnungswidrigkeit zu fördern bzw. zu ermöglichen. 207 Ebenso OLG Hamm RdE 1981, 199, 201 - Stromzahlungsboykott. 208 Vgl. auch BGH NJW 1954, 1323 - Umstellungskosten. 209 Im Ergebnis auch LG Essen RdE 1982, 11, 13 - Atomstrom. 210 Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 4 b) cc) (S. I 154). 211 BGH RBeil. 32 (1971), 17, 20 - Vollelektrifizierung; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 65.

V. Anschluß und Versorgung von

Letztverbrauchern

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giewirtschaftsgesetzes nur durch die zuständige Energiebehörde im Wege einer Aufsichtsmaßnahme nach § 18 EnWG moniert werden.

4. Wirtschaftliche Unzumutbarkeit der Verpflichtung a. Konkretisierung der Leistungsverpflichtung durch §10 Abs. 1 S. 2 EnWG Den Gebietsversorgungsunternehmen steht nach § 1 0 Abs. 1 S . 2 E n W G das Recht zu, die Erbringung der Leistungen nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG abzulehnen, wenn die Anschluß- und Versorgungspflicht für das Unternehmen wirtschaftlich unzumutbar ist. Von der Regelungstechnik her ist damit in § 10 EnWG ein RegelAusnahme-Tatbestand formuliert: Im Regelfall ist das Energieversorgungsunternehmen zur Leistung verpflichtet, es sei denn, ausnahmsweise liegt ein Fall wirtschaftlicher Unzumutbarkeit vor. Das skizzierte Regel-Ausnahme-Verhältnis deutet darauf hin, daß § 10 Abs. 1 5. 2 E n W G in negativer Hinsicht eine materiell selbständige Konkretisierung der Leistungsverpflichtung aus § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG enthält. 212 Dagegen spricht allerdings, daß der Gedanke der wirtschaftlichen Zumutbarkeit der Versorgung der Sache nach bereits in der von § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG geregelten Versorgung nach Tarifgrundsätzen angelegt ist. Mit der Verpflichtung zur Tarifversorgung soll die normale Grundversorgung sichergestellt werden, wobei innerhalb der Tarifgruppen die Kalkulation der Tarife auf dem Solidarprinzip beruht: 2 1 3 Da die Abnahmeverhältnisse niemals völlig gleichförmig sind und in den Tarifen daher in einem gewissen Rahmen auch an sich Ungleiches als gleich eingestuft werden muß, werden durch einzelne Letztverbraucher systemimmanent Deckungsbeiträge zur Tarifversorgung anderer Nachfrager erbracht. 214 Die Gesamtheit der Tarifabnehmer soll dagegen nicht mit solchen Kostenfolgen belastet werden, die aus atypischen Versorgungssituationen resultieren und deshalb aus dem Kalkulationsrahmen der Tarife herausfallen. Eine über den Tarifpreis vermittelte anteilige Belastung mit solchen Kosten widerspräche dem im Energieversorgungsrecht geltenden Grundsatz einer möglichst preisgünstigen Energieversorgung. Dieser erfordert zwar keine individuelle „Kostenechtheit" der Preise, die bei einer Versorgung nach Tarifen auch nicht zu erreichen ist, 215 immerhin aber doch eine näherungsweise Kostengerechtigkeit und läßt daher nur die Bildung von Tarifgruppen mit im wesentlichen ähnlichen

212 213 214 215

Vgl. OLG Hamm RdE 1981, 199, 201 - Stromzahlungsboykott; Hempel RdE 1989, 58. Vgl. auch BGH WuW/E BGH 1648, 1648 f. - Braunlage. Niederleithinger, S. 133 f. Dazu auch Beierstedt, FS Gieseke, S. 311, 319 f.

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

Abnahmeverhältnissen zu. 216 Daraus folgt aber, daß die Versorgungsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG nur besteht, wenn erstens die Abnahmeverhältnisse des Letztverbrauchers durch die Tarifmerkmale erfaßt werden und zweitens die Durchführung der Versorgung keine ungünstigere Kostenstruktur aufweist als nach der Tarifkalkulation vorgesehen ist. Der letztgenannte Punkt ist der Sache nach deckungsgleich mit dem Merkmal der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit in § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG. Eine Kontrollüberlegung soll dieses Ergebnis bestätigen: Wenn § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG den Regeltatbestand enthält und § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG einen Ausnahmefall bildet, dann besteht die Notwendigkeit zur Prüfung des Ausnahmefalls erst nach Bejahung des Regeltatbestandes. Ergibt aber bereits die Prüfung des Regeltatbestandes, daß dessen Rechtsfolge aus den im Ausnahmetatbestand genannten Gründen nicht eintritt, dann verbleibt für den vermeintlichen Ausnahmetatbestand kein selbständiger Anwendungsbereich: In § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG ist daher lediglich eine unselbständige Klarstellung des Umfangs der Leistungsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG zu sehen. b. Steuerung der wirtschaftlichen

Risikoverteilung

Die eigentliche Problematik besteht darin, wo innerhalb der Tarifgruppen die Grenze der wirtschaftlichen Zumutbarkeit zu ziehen ist. Bezugspunkte für die Klärung dieser Frage können sowohl das konkrete Einzelgeschäft 217 als auch die Auswirkungen des Einzelgeschäfts auf die Rentabilität des Versorgungsunternehmens 218 insgesamt abgeben. Gegen den Maßstab der Unternehmensrentabilität spricht allerdings, daß es nicht Aufgabe des § 10 EnWG ist, den Gebietsversorgungsunternehmen einen angemessenen Erlös/Gewinn aus ihrer Versorgungstätigkeit zu sichern. 219 Die Anschluß- und Versorgungspflicht besteht nicht im Interesse der auf den Märkten für leitungsgebundene Energie tätigen Unternehmen, deren Solvenz im übrigen durch Vertragsverletzungen eines einzelnen Kunden kaum je gefährdet sein dürfte, sondern dient dem Gemeinwohl. 220 Daran haben sich die Tarifstrukturen auszurichten. Der Gemeinwohlbezug der Energieversor-

216

Zur ökonomischen Fragwürdigkeit der Tarifbildung Röder, S. 38. So BGH WuW/E BGH 1648, 1649 - Braunlage; AG Hamburg RdE 1987, 148, 149 - Mieter; Büdenbender, Energierecht, Rn. 793; Straßburg, in: Tegethoff/Btidenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 115; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, §6 EnergG, Rn.35; U. Scholz, S . 8 6 f f „ 91; Schwaiger, S. 129; vgl. auch OLG Hamm RdE 1981, 199, 202 - Stromzahlungsboykott. 218 In diesem Sinne BGH RBeil. 1961, 9; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 Anm. 5 a) aa) (S.I 159 a); Evers, Recht, S. 131. 219 So aber OLG Hamburg NJW 1988, 1600 - Praxisversorgung, und im Anschluß daran Huba/Burmeister, NJW 1989, 1675, die den Zweck von § 33 Abs. 2 AVBEltV in der Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Energieversorgungsunternehmens sehen; wie hier Rottnauer, RdE 1991, 168, 171. 220 Evers, in: Energiewirtschaftsgesetz im Wandel, S. 15, 29. 217

V. Anschluß und Versorgung von

Letztverbrauchern

461

gung ergibt sich aus der Verpflichtung zu einer möglichst sicheren, preisgünstigen und umweltverträglichen Versorgung aller Abnehmer, die auch und gerade für die Pflichtversorgung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG gilt. Energieversorgungsunternehmen, die sich als Gebietsversorgungsunternehmen betätigen wollen, finden diesen durch das Allgemeininteresse definierten Handlungsrahmen des § 10 EnWG vor und haben ihre Unternehmenstätigkeit daran auszurichten. Das Unternehmensinteresse ist dabei naturgemäß auf eine Maximierung der Erlöse gerichtet. Daraus ergibt sich jedenfalls dann ein Spannungsverhältnis zu den gesetzlich definierten Zielen einer sicheren und preisgünstigen Versorgung, wenn das Versorgungsgebiet besonders ungünstig strukturiert ist und dadurch die Gruppenkalkulation der Tarife negativ beeinflußt wird. Die vom BGH in seiner „Netzumstellung"-Entscheidung aus dem Jahre 1957 getroffene Feststellung, die Interessen der Energieversorgungsunternehmen liefen mit denjenigen der Allgemeinheit gleich, 221 trifft daher nicht zu. Das gilt erst recht, wenn im gleichen Atemzug ausgeführt wird, bei der Prüfung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit der Versorgung nach § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG hätten die Belange des einzelnen Abnehmers grundsätzlich hinter dem - das Allgemeininteresse repräsentierenden - Interesse des Energieversorgungsunternehmens zurückzutreten. Damit wird das Regelungsgefüge des § 10 EnWG gleichsam auf den Kopf gestellt. Die im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung vorzunehmende Interessenabwägung ist nicht auf eine Abwägung der Unternehmens- und Allgemeininteressen einerseits gegen die Abnehmerinteressen andererseits angelegt, sondern erfordert eine Abwägung des reflexiv die Letztverbraucher begünstigenden Allgemeininteresses an einer sicheren, preisgünstigen und umweltverträglichen Versorgung gegen das Unternehmensinteresse am Abschluß möglichst erlösmaximierender Versorgungsverträge. Das Allgemeininteresse ist dahin zu definieren, daß für möglichst viele Letztverbraucher eine Pflichtversorgung nach Tarifbedingungen sichergestellt wird. Dagegen liegt es im Interesse des Gebietsversorgungsunternehmens, die Anschluß- und Versorgungspflicht für solche Letztverbraucher auszuschließen, die aufgrund ihrer Abnahmeverhältnisse oder ihrer wirtschaftlichen Lage „schlechte Risiken" darstellen und damit bei Versorgung unter Tarifbedingungen eine in der Gruppenkalkulation nicht berücksichtigte Erlösminderung bewirken. Die konkrete Grenzziehung zwischen dem noch zumutbaren und dem nicht mehr tolerablen wirtschaftlichen Risiko muß sich an dem Zweck der an ein Tarifsystem gebundenen Pflichtversorgung orientieren. Die Kalkulation der Preise innerhalb bestimmter Tarifgruppen beruht, wie schon dargelegt, auf der Annahme gruppenspezifischer „normaler" Absatzverhältnisse mit einer gewissen Bandbreite der Kostenverursachung nach unten und nach oben. Mit Hilfe der Schwankungsbreite wird dem Umstand Rechnung getragen, daß die individuellen Abnahmeverhältnisse der Gruppenabnehmer nicht in allen Fällen mit dem idealiter zu221

BGHZ 24, 148, 152 - Netzumstellung; ebenso Luhes, BB 1985, 2258, 2262.

462

§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

gründe gelegten Normalabsatzverhältnis identisch sind. Das führt aufgrund der anzulegenden Mischkalkulation notwendig zu einer Quersubventionierung innerhalb der Tarifgruppen, da Nachfrager mit günstigen Abnahmeverhältnissen in Relation zu der ihnen erbrachten Versorgungsleistung zu viel zahlen und damit das Verbleiben ungünstiger Risiken in der Tarifversorgung sicherstellen. Allein aus der Tatsache, daß die Versorgung einzelner Kunden zu Tarifbedingungen nur durch Subventionsleistungen anderer Verbraucher ermöglicht wird, läßt sich daher nicht auf die Unzumutbarkeit der Versorgung nach § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG schließen. 222 Die Anschluß- und Versorgungspflicht nach § 10 Abs. 1 S. lEnWG entfällt nicht schon bei jeder negativen Abweichung der Kostenstruktur des nachgefragten Versorgungs Vertrages von dem gedachten Idealabnahme Verhältnis. Es muß vielmehr eine deutliche Abweichung von den typisierten Verhältnissen vorliegen, die das Allgemeininteresse an einer Tarifversorgung des Nachfragers dem Unternehmensinteresse weichen läßt. 223 Das ist im Hinblick auf den konkreten Versorgungsvertrag zu untersuchen. Hier zeigt sich die nur reflexive Schutzwirkung des § 10 Abs. 1 EnWG gegenüber dem Letztverbraucher: Die Norm gewährt dem individuellen Abnehmer nur Schutz, wenn sich durch seine Einbeziehung in die Tarifversorgung die Versorgungskonditionen der übrigen Abnehmer nicht negativ verändern. 224 Das Allgemeininteresse an einer sicheren, preisgünstigen und umweltverträglichen Versorgung aller Abnehmer bestimmt also, welchen Abnehmern ein individueller Anspruch auf Anschluß und Versorgung nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG zusteht. 225 c.

Fallgruppen

aa) Person des

Abnehmers

Im einzelnen sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden, die eine Anschluß- und Versorgungspflicht wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit der Versorgung ausschließen und das Energieversorgungsunternehmen bei bestehenden Abnehmerverhältnissen zur Einstellung der Versorgung sowie unter bestimmten Umständen auch zur fristlosen Kündigung des Versorgungsvertrages berechtigen (vgl. §§ 33 AVBEltV/AVBGasV): Die Unzumutbarkeit der Versorgung kann ihre Ursache 222 Anders wohl Büdenbender, Energierecht, Rn. 791; Eckert, RuS 1979, 41, 42; Ludwig/ Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG Rn. 35; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, §6, Rn. 106. 223 Besonders deutlich KG RdE 1997,239,244 - Gaspreis; AG Hamburg RdE 1987, 148,149 - Mieter; vgl. auch LG Hamburg RdE 1987, 170 - Hausbesetzung; Büdenbender, Energierecht, Rn. 792; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 32 Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 106. 224 Vgl. auch BGH WuW/E BGH 1648, 1648 f. - Braunlage; Danner, in: Obernolte/Danner, § 6 EnWG, Anm. 5 a) aa) (S. I 158 b/159); Vykydal, S. 95. 225 Deutlich AG Hanau RdE 1990, 175, 176 - Zahlungsrückstand.

V. Anschluß und Versorgung von

Letztverbrauchern

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sowohl in der Person des Abnehmers als auch in anderen Gründen haben (so ausdrücklich noch § 6 Abs. 2 Nr. 1 EnWG aF). Was die Person des Abnehmers angeht, können sich Anhaltspunkte für die Unzumutbarkeit weiterer oder künftiger Versorgung insbesondere aus der Nichtoder Schlechterfüllung anderweitig bestehender oder vorzeitiger Versorgungsverträge ergeben.226 In der Praxis spielen vornehmlich solche Fälle eine Rolle, in denen Zahlungsrückstände des jeweiligen Abnehmers vorliegen. Die Häufung dieser Fallgestaltungen beruht auf den tatsächlichen Verhältnissen des Leistungsaustausches zwischen Energieversorgungsunternehmen und Abnehmer, die regelmäßig zu einer Vorleistung des Versorgungsunternehmens führen, wenn bereits eine Leitungsverbindung zur Verbrauchsstelle des Abnehmers besteht: Ein Versorgungs vertrag, zu dessen Abschluß das Gebietsversorgungsunternehmen im Grundsatz nach § 10 Abs. 1 S. 1 EnWG verpflichtet ist, kommt in diesem Fall regelmäßig bereits durch Entnahme von Strom aus dem Versorgungsnetz zustande (vgl. §§ 2 Abs. 2 AVBEltV/AVBGasV)227, ohne daß das Versorgungsunternehmen notwendig Kenntnisse über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Abnehmers hat. Sofern andere Anhaltspunkte fehlen, ergeben sich Hinweise auf die Zahlungsunfähigkeit des Kunden daher zumeist erst während der Abwicklung des Vertragsverhältnisses. Dieser Besonderheit trägt die Regelung der §§33 Abs. 2 AVBEltV/ AVBGasV Rechnung, 228 die den Grundsatz der Unzumutbarkeit für bestehende Abnahmeverhältnisse konkretisiert229 und das Energieversorgungsunternehmen 226 In Rechtsprechung und Schrifttum wird beispielhaft auf die Tatbestände der Zahlungsunfähigkeit (LG Bochum RdE 1986, 165, 166 - Zahlungsrückstand I; RdE 1986, 167, 168 - Zahlungsrückstand II; AG Mannheim RBeil. 34 (1973), 61, 61 f.; AG Merzig RdE 1989, 86, 87 Zahlungsrückstand; Büdenbender, Energierecht, Rn. 799; Evers, Recht, S. 130; Ludwig/Cordt/ Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 36; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 124), der Zahlungsverweigerung ( LG Bochum RdE 1986, 165, 166 - Zahlungsrückstand I; RdE 1986, 167, 168 - Zahlungsrückstand II; AG Merzig RdE 1989 86, 87 - Zahlungsrückstand; Büdenbender, Energierecht, Rn. 799, 836; Evers, Recht S. 130; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 36; Straßburg, in; Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG Rn. 124), des Zahlungsrückstands (LG Kassel RdE 1987, 105, 106; LG Saarbrücken NJW-RR 1986, 674 Zahlungsrückstand; vgl. auch LG Ravensburg RdE 1994, 152 f. - Zahlungsverzug; AG Fulda RdE 1979, 37, 38 - Zahlungsrückstand; AG Hanau RdE 1990, 175, 176 - Zahlungsrückstand; AG Erfurt RdE 1995, 169 - Hotelbetrieb; AG Pforzheim RdE 1995, 30 f. - Notlage), der Kreditunwürdigkeit (AG Merzig RdE 1989, 86, 87 - Zahlungsrückstand; Evers, Recht, S. 130; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 124; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 36), der vorschriftswidrigen Errichtung und Bedienung von Energieanlagen (AG Peine RuS 1985, 6f.; Büdenbender, Energierecht, Rn. 799; Evers, Recht, S. 130; Straßburg, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 120, 126) und des Stromdiebstahls (Evers, Recht, S. 130; Ludwig/ Cordt/ Stech/ Odenthal, § 6 EnergG, Rn. 36; Straßburg, in: Tegethoff/ Büdenbender/Klinger, § 6 EnergG, Rn. 125) hingewiesen. 227

Dazu unten VI 2 b. Eckert, in: Tegethoff/Büdenbender/Klinger, §33 AVBGasV, Rn.2; Hempel, NJW 1989, 1652, 1653; Ludwig/Cordt/Stech/Odenthal § 33 AVBEltV, Rn. 4. 229 AG Merzig RdE 1986, 190, 191 - Unzumutbarkeit; Büdenbender, Energierecht, Rn. 799 f. 228

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§ 10 Anschluß- und Versorgungspflicht im Energierecht

nach §§33 Abs. 2 S. 2, 3 AVBEltV/AVBGasV bei Nichterfüllung einer Zahlungsverpflichtung trotz Mahnung berechtigt, die Versorgung zwei Wochen nach Androhung einzustellen, es sei denn, der Kunde legt dar, daß die Folgen der Einstellung außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung stehen und daß er seinen Verpflichtungen in Zukunft mit hinreichender Sicherheit nachkommt. 230 Der Umstand, daß das Energieversorgungsunternehmen nur bei wiederholter Nichteinhaltung der Zahlungsverpflichtung seitens des Abnehmers zur Kündigung berechtigt ist (vgl. §§ 33 Abs. 4 S. 2 AVBEltV/AVBGasV), spricht nicht dagegen, in § 33 Abs. 2 eine Konkretisierung des Grundsatzes der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit zu sehen. 231 Die Schwelle der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit liegt in bestehenden Abnahmeverhältnissen nicht anders als bei Neubegründung von Versorgungsverträgen. Allerdings ergeben sich aus der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit der Belieferung im Rahmen bestehender Abnahmeverhältnisse andere Rechtsfolgen als bei Neubegründung von Versorgungsverträgen. Während auf die Neubegründung eines Versorgungsvertrages bei wirtschaftlicher Unzumutbarkeit der Belieferung von vornherein kein Anspruch besteht, führt sie bei bestehenden Abnahmeverhältnissen im Interesse der Versorgungssicherung zunächst nur zu einem Recht auf Einstellung der Belieferung und erst bei wiederholten Vertragsverstößen zum Kündigungsrecht des Versorgers. Würde sich das Energieversorgungsunternehmen bereits nach einmaligem Zahlungsverzug des Abnehmers vom Vertrag lösen können, so hätte der Abnehmer bei fortdauernder Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit wegen § 10 Abs. 1 S. 2 EnWG keinen Anspruch auf Neuabschluß eines Versorgungsvertrages. Im Interesse des schutzwürdigen Abnehmers muß sich das Energieversorgungsunternehmen daher zunächst am Vertrag festhalten lassen. 232 Seinem Interesse, keine weiteren Einnahmeausfälle durch fortlaufenden Energiebezug des säumigen Kunden zu erleiden, wird durch das Recht zur Versorgungseinstellung nach §§ 33 Abs. 2 AVBEltV/AVBGasV Rechnung getragen. 233 Die §§ 33 AVBEltV/AVBGasV treten insoweit nicht an die Stelle der allgemeinen Leistungsverweigerungsrechte nach §§ 273 und 320 BGB, sondern modifizieren diese im Interesse des Kundenschutzes lediglich dergestalt, daß außer den dort genannten Voraussetzungen zusätzlich noch eine Mahnung und Androhung der Versorgungseinstellung seitens des Versorgungsunternehmens vorliegen muß. 234 Die Mahnung ist 230 Dazu BGH NJW-RR 1989, 1013, 1014 - Fernwärmeversorgung; LG Saarbrücken RdE 1996, 119, 119 f.-Versorgungsunterbrechung. 231 So aber OLG Hamm RdE 1981, 199, 201 - Stromzahlungsboykott; Hempel, RdE 1989, 58; Ludwig/Cordt/Stech/Odentahl, § 6 EnergG, Rn. 40. 232 Den Gesichtspunkt des Kundenschutzes betont auch Hempel, RdE 1989,58, 59. 233 Da das Vertragsverhältnis zum Kunden weiterbesteht, bleibt dieser freilich auch im Zeitraum der Versorgungseinstellung zur Entrichtung des Grundpreises verpflichtet; das Versorgungsunternehmen hält seine Leistung weiterhin vor und trägt insoweit auch weiterhin das wirtschaftliche Risiko der Realisierung seiner Forderung gegenüber dem Kunden. 234 BGH RdE 1991, 193, 194 - Zahlungsrückstand; NJW-RR 1989, 1013, 1014 - Fernwär-

V. Anschluß und Versorgung von

Letztverbrauchern

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im Interesse des Kundenschutzes auch dann erforderlich, wenn sie nach § 284 Abs. 2 BGB an sich entbehrlich ist. 235 Mit dem zwingenden Erfordernis der Mahnung und unmißverständlichen Androhung der Versorgungseinstellung sollen dem Kunden die Konsequenzen seiner vertraglichen Verpflichtungen eindringlich vor Augen geführt werden. Der Kunde kann dann binnen zwei Wochen die Versorgungseinstellung abwenden. Durch § 33 Abs. 2 AVBEltV/AVBGasV kommen insoweit die für den Tarifkundenbereich, aber nicht nur für diesen bestehenden besonderen Wertungen des Energievertragsrechts zur Geltung, die sich aus den im Energiewirtschaftsgesetz enthaltenen Zielvorgaben der sicheren, preisgünstigen und umweltverträglichen Versorgung ableiten. Für die Geltendmachung eines Leistungsverweigerungsrechts seitens des Versorgungsunternehmens bedeutet das zunächst, daß eine Versorgungseinstellung bei Zahlungsrückständen entweder nur in Betracht kommt, wenn der Versorgungsanspruch und die nicht erfüllte Zahlungsverpflichtung wie im Falle des § 320 BGB auf ein und demselben gegenseitigen Vertrag beruhen oder wenn diese wie im Falle des § 273 BGB wenigstens aus demselben rechtlichen Verhältnis stammen, also Konnexität zwischen den Ansprüchen besteht. 236 Die höchstrichterliche Rechtsprechung läßt für den letztgenannten Fall des Zurückbehaltungsrechts aus § 273 BGB ein „innerlich zusammenhängendes einheitliches Lebensverhältnis" genügen, das es als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen läßt, wenn der eine Anspruch ohne Rücksicht auf den anderen geltend gemacht und durchgesetzt werden könnte. 237 Das Vorliegen eines derartigen Lebensverhältnisses kann nur für den Einzelfall festgestellt werden. Gesichtspunkte, die dabei eine

meversorgung; LG Aachen NJW-RR 1988, 499 - Liefersperre; Hempel, NJW 1989, 1652, 1652f.;