Porträts von Tilla Durieux: Bildnerische Inszenierung eines Theaterstars [1 ed.] 9783737006347, 9783847106340


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German Pages [340] Year 2016

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Porträts von Tilla Durieux: Bildnerische Inszenierung eines Theaterstars [1 ed.]
 9783737006347, 9783847106340

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Hannah Ripperger

Porträts von Tilla Durieux Bildnerische Inszenierung eines Theaterstars

Mit 24 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0634-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Die Arbeit wurde im Jahr 2015 von der FakultÐt fþr Philosophie-, Kunst-, Geschichtsund Gesellschaftswissenschaften der UniversitÐt Regensburg als Dissertation angenommen. D355 Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Richard Stury Stiftung und der Frauenbeauftragten der FakultÐt fþr Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften im Rahmen des Finanziellen Anreizsystems zur Fçrderung der Gleichstellung an der UniversitÐt Regensburg.  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Emil Orlik, Tilla Durieux als Potiphar, Bl. 6 aus der Mappe »Spielen und Tr Ðumen«, 1922, Radierung, 24,7 x 18,8/31,6 x 23 cm, Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.Nr. 19270. Foto: Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg.

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1 Die »meistgemalte Frau ihrer Epoche« . . . . . . . . . . . . . I.2 Vorgehen und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 15

II.

Quellenlage und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1 Tilla Durieux, eine »Fanatikerin des Theaters« . . . . . . . . III.2 Paul Cassirer, Durieux’ »Lehrer und Führer durch Literatur und Kunst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37

IV.

Tradition des Schauspielerporträts vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1 Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.1 Schauspielerporträt . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.2 Schauspielerrollenporträt . . . . . . . . . . . . . . IV.2 Anfänge und Entwicklung des Schauspielerporträts in England und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3 Entwicklung des Schauspieler- und Schauspielerrollenporträts in Deutschland . . . . . . . . IV.3.1 Das 18. und 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . IV.3.2 Die Situation Anfang des 20. Jahrhunderts . . . . . IV.3.3 Neuerungen im Schauspielerporträt zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4 Fotografisches Schauspielerporträt . . . . . . . . . . . . . IV.4.1 Geschichte und Entwicklung . . . . . . . . . . . . IV.4.2 Stilistische Veränderungen um 1900 . . . . . . . .

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6 V.

Inhalt

»ich möchte so gern gesehen werden, wie ich wirklich bin.« – Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts . . . . . . . . . . . V.1 Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹ . . . . . . . . . . V.1.1 Begriffsklärung ›Femme fatale‹ . . . . . . . . . . . . . V.1.2 Eugen Spiro, Tilla Durieux als Salome, 1905 . . . . . . V.1.2.1 Bildbeschreibung und Analyse . . . . . . . . . V.1.2.2 Dramatische Vorlage und Inszenierung bei Max Reinhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.2.3 Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.2.4 Salome-Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . V.1.2.5 Einordnung in Spiros Gesamtwerk . . . . . . . V.1.2.6 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.3 Lovis Corinth, Tilla Durieux als spanische Tänzerin, 1908 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.3.1 Bildbeschreibung und Analyse . . . . . . . . . V.1.3.2 Werkentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.3.3 Die Seguidilla: Symbiose von Tanz und Spanienmode in der Kunst der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.3.4 Darstellungen spanischer Tänzerinnen . . . . V.1.3.5 Einordnung in Corinths Gesamtwerk . . . . . V.1.3.6 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.4 Franz von Stuck, Tilla Durieux als Circe, 1912 . . . . . V.1.4.1 Bildbeschreibung und Analyse . . . . . . . . . V.1.4.2 Werkentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.4.3 Dramatische Vorlage und Inszenierung am Münchner Künstlertheater . . . . . . . . . . . V.1.4.4 Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.4.5 Circe-Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . V.1.4.6 Einordnung in Stucks Gesamtwerk . . . . . . . V.1.4.7 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.5 Max Slevogt, Tilla Durieux als Weib des Potiphar, 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.5.1 Bildbeschreibung und Analyse . . . . . . . . . V.1.5.2 Werkentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.5.3 Dramatische Vorlage und Inszenierung an der Preußischen Staatsoper . . . . . . . . . . . . . V.1.5.4 Potiphars Frau-Darstellungen . . . . . . . . . . V.1.5.5 Einordnung in Slevogts Gesamtwerk . . . . . . V.1.5.6 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7

Inhalt

V.2

V.3

V.4

Auftragsporträts: Durieux als »Dame der Gesellschaft«? . . . V.2.1 Oskar Kokoschka, Bildnis Tilla Durieux, 1910 . . . . . V.2.2 Ernst Barlach, Bildnis Tilla Durieux I–IV, 1912/1930 . V.2.3 Auguste Renoir, Tilla Durieux, 1914 . . . . . . . . . . V.2.3.1 Bildbeschreibung und Analyse . . . . . . . . . V.2.3.2 Werkentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.3.3 Das Bühnenkostüm von Paul Poiret . . . . . . V.2.3.4 Einordnung in Renoirs Gesamtwerk . . . . . . V.2.3.5 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.4 Hans Purrmann, Bildnis Tilla Durieux, 1916 . . . . . V.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Porträts der 1920er Jahre: Durieux als ›Neue Frau‹ . . . . . . V.3.1 Begriffsklärung ›Neue Frau‹ . . . . . . . . . . . . . . . V.3.2 Charley Toorop, Tilla Durieux, 1927 . . . . . . . . . . V.3.3 Martel Schwichtenberg, Tilla Durieux, 1930 . . . . . . V.3.4 Fotografinnen: Frieda Riess, Tilla Durieux, 1921 und Lotte Jacobi, Tilla Durieux, 1927 . . . . . . . . . . . . V.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Massenmediale Porträts: Durieux als Medienfigur . . . . . . V.4.1 Karikaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.1.1 Begriffsklärung Porträtkarikatur . . . . . . . . V.4.1.2 Die Kunstzeitschriften Simplicissimus und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.1.3 Die »Jagow-Affäre« . . . . . . . . . . . . . . . V.4.1.4 Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.1.5 Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.2 Fotografische Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . V.4.2.1 Theaterstar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.2.2 »Dame der Gesellschaft« . . . . . . . . . . . . V.4.2.3 Modeikone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.2.4 ›Neue Frau‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.2.5 »Erotikmodell« . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.2.6 Privatperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.3 Porzellanfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI. Zeitgenössische Präsenz der Porträts in der Öffentlichkeit . VI.1 Teilnahme bei Kunstausstellungen . . . . . . . . . . . VI.2 Galerie und Verlag Paul Cassirer als Publikationsforen VI.3 Reproduktionen in Zeitschriften . . . . . . . . . . . .

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8

Inhalt

VII. Durieux und ihre Porträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII.1 Selbstäußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII.2 Porträts aus Durieux’ Besitz . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267 267 276

VIII. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283

IX.

Anhang . . . . . . . . . . . . . . IX.1 Literaturverzeichnis . . . . IX.1.1 Quellen . . . . . . . IX.1.2 Sekundärliteratur . IX.1.3 Internetdokumente IX.2 Abbildungsverzeichnis . . IX.3 Abbildungen . . . . . . . . IX.4 Katalog . . . . . . . . . . .

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Danksagung

An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei allen Personen zu bedanken, die mich im Laufe meiner Promotion unterstützt haben. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner 2015 an der Universität Regensburg eingereichten Dissertation. Zuallererst bedanke ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Albert Dietl, der meine Arbeit in allen Entstehungsphasen stets mit gutem Rat begleitet hat. Er hatte immer ein offenes Ohr für meine Anliegen und die vielen Gespräche mit ihm waren eine wertvolle Bereicherung für meine Arbeit. Darüber hinaus geht die finanzielle Bezuschussung der Publikation auf seinen Einsatz zurück. Auch meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Hans-Christoph Dittscheid sei herzlich für die Übernahme der Betreuung gedankt. Der Richard Stury Stiftung in München, insbesondere Herrn Dr. Helmut Hess, gilt mein Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, der eine große Hilfe für die Realisierung meines Buchprojekts bedeutet. Ebenso bedanke ich mich sehr bei den Frauenbeauftragten der Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Regensburg, hier vor allem bei Frau Dr. Heike Wolter, für die Verleihung des Förderpreises für studentische Abschlussarbeiten mit genderbezogenen Themen sowie für einen Zuschuss zur Drucklegung. Des Weiteren gibt es eine Vielzahl von Museen und Institutionen, deren Beschäftigte sehr hilfsbereit bei meinen Recherchen waren und mir bereitwillig Auskunft und ergiebige Hinweise gegeben haben. Außerdem hat der Großteil auf eine Reproduktionsgebühr verzichtet, wofür ich hiermit meinen Dank ausspreche. Auch der Kontakt mit Fachkollegen, die ich im Rahmen meiner Dissertation kennengelernt habe, darunter vor allem Frau Dr. Carola Schenk, eröffnete neue Perspektiven auf die von mir behandelten Themenbereiche. Mein größter Dank gilt meinen Eltern Ralf und Angelika Ripperger, ohne deren moralische und finanzielle Unterstützung meine Promotion nicht möglich gewesen wäre. Meine Mutter hat mir darüber hinaus beim Korrekturlesen geholfen. Auch bei meinem Mann Thomas Reisinger bedanke ich mich für seine

10

Danksagung

Geduld und seinen Zuspruch vor allem in der Endphase der Arbeit. Ebenso bin ich meinen beiden Schwestern Mona und Jana sowie all meinen Studienfreundinnen und Weißt-du-noch-Freundinnen dankbar, die mich in den Promotionsjahren nicht nur mit geistigem Austausch und motivierenden Worten, sondern vor allem mit ihrer Freundschaft begleitet haben.

I.

Einleitung

I.1

Die »meistgemalte Frau ihrer Epoche«

»Zunächst fand die ›öffentliche Meinung‹ sie so ›häßlich‹, daß sie doch auf der Bühne unerträglich sei. Es dauerte kaum drei Jahre, da war Tilla Durieux die am meisten gezeichnete, gemalte, modellierte Person Berlins – ihr Bild war auf allen Kunstausstellungen zu sehen –, offenbar fand man ihren Typus jetzt ›schön‹ – nachdem er nämlich als Träger eines starken Ausdrucks siegreich in Erscheinung getreten war! Es wurde geradezu Mode, so auszusehen wie die Durieux!«1

Mit diesen Worten fasst der Kritiker Julius Bab (1880–1955) rückblickend den Ruf der Schauspielerin Tilla Durieux (1880–1971) als »meistgemalte Frau ihrer Epoche«2 zusammen und bestätigt damit ihren Status als Kultmodell. Das häufige Porträtiertwerden ist Teil von Durieux’ Selbstdarstellung und wurde bereitwillig von Kritikern, Journalisten und Biographen aufgegriffen und über Jahrzehnte hinweg tradiert. Bab bringt außerdem die Vorbildfunktion der Schauspielerin und die große Präsenz ihrer Porträts in der Öffentlichkeit zur Sprache. Zur Entstehungszeit der Porträts waren diese häufig in Ausstellungen vertreten und wurden in Zeitungen und Zeitschriften reproduziert. Kritiken und Berichte über Durieux in der Tagespresse wurden zusammen mit Fotografien und Karikaturen abgedruckt und Fotopostkarten der Schauspielerin in großen Mengen hergestellt. Damit waren Durieux’ Bildnisse bereits in den Jahren ihrer Entstehung omnipräsent und begegnen uns bis heute in Ausstellungen und Publikationen. Diese immense Bildnispräsenz vermehrte Durieux’ Bekanntheitsgrad, festigte ihren Starstatus und trägt mit dazu bei, dass die Faszination für Tilla Durieux ungebrochen ist. So bezeichnet die Theaterwissenschaftlerin Renate Möhrmann Durieux als einen der »glanzvollen Namen« von Schau1 Bab, Julius: Die Tilla Durieux spielt wieder, in: New Yorker Staats-Zeitung und Herold, 12. Oktober 1952, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 582.1. 2 Schaumann, Lore: Eine Hirschkuh, die Paprika gefressen hat. Gespräch mit Tilla Durieux, in: Rheinische Morgenpost, 3. November 1967, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 582.4.

12

Einleitung

spielerinnen, die immer noch im kollektiven Gedächtnis verankert sind.3 Der Restitutionsfall von Oskar Kokoschkas (1886–1980) Durieux-Porträt im Jahr 2013 hätte andernfalls wohl kaum so viel Medienpräsenz gehabt, um nur ein Beispiel zu nennen.4 Die 1880 in Wien geborene Schauspielerin Tilla Durieux war einer der größten Stars der deutschen Bühne im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Durch ihre Zusammenarbeit mit bedeutenden Regisseuren wie Max Reinhardt (1873–1943), Otto Brahm (1856–1912), Leopold Jessner (1878–1945) und Erwin Piscator (1893–1966) an ihrem Hauptwirkungsort Berlin wurde sie zu einer zentralen Figur der Theatermoderne. Ein Charakteristikum des Starwesens ist das Bedürfnis des Publikums nach »Abbildern« des Stars. Seit Beginn ihrer Karriere interessierten sich bildende Künstler für Durieux, wie das früheste bekannte Porträt von 1901 von dem in Wien tätigen tschechischen Künstler Jan Vil&mek (1860–1938) beweist. Zusammen mit den Porträts ihres ersten Ehemanns, des Künstlers Eugen Spiro (1874–1972), der sie ab 1903 mehrfach darstellte, markiert es den Anfang einer äußerst dichten Bildnisreihe. Die durch die politische Situation erzwungene Zäsur in Durieux’ Theaterlaufbahn ab 1933 bedeutete ein vorläufiges Ende ihrer Funktion als Künstlermodell. Mit ihrer Rückkehr auf die Bühne nach ihrer endgültigen Re-Immigration nach Deutschland 1955 entstand noch einmal eine ganze Reihe von »Alters-Bildnissen«. Das späteste bekannte Porträt schuf Fritz Schweitzer (*1935) 1971 in Durieux’ Todesjahr. Zwischen dem ersten und dem letzten bekannten Porträt liegen annähernd 200 Porträts in den Techniken Malerei, Graphik, Plastik und nicht kommerzielle Fotografie, die von knapp 70 verschiedenen Künstlern und Künstlerinnen geschaffen wurden. Einige waren Auftragsporträts, andere entstanden aus eigenem Antrieb der Künstler. Die Porträts konzentrieren sich auf den Zeitraum von Durieux’ schauspielerischem Durchbruch im Jahr 1903 bis 1933, als sie Deutschland verlassen musste und ins Exil nach Zagreb ging. Diese Porträts aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Unter den Porträtisten des Untersuchungszeitraums befinden sich bedeutende Exponenten der deutschsprachigen Kunst der Jahrhundertwende genauso wie internationale, klangvolle Namen. In ihrer Autobiographie zählt das Modell nicht ohne Stolz eine Reihe der namhaftesten Porträtisten auf: 3 Möhrmann, Renate: Einleitung, in: Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, hg. v. ders., Frankfurt am Main 1989, S. 7–23, hier : S. 7. 4 2013 wurde Kokoschkas, seit 1976 im Kölner Museum Ludwig befindliche, Durieux-Porträt an die Erben von Alfred Flechtheim restituiert. Deutsche Bundesregierung Pressemitteilung, 9. April 2013: http://www.lostart.de/Content/06_Kommission/13-04-09 BerKomm zu Flecht heim-Köln.pdf ?__blob=publicationFile, Stand vom 11. 11. 2014. In der FAZ erschienen diverse Artikel zu dem Restitutionsfall.

Die »meistgemalte Frau ihrer Epoche«

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»Abgesehen von dem herrlichen Porträt, das Renoir von mir gemacht, malten mich Liebermann, Kokoschka, Corinth, Slevogt, Purrmann, von Kardorff, Gulbransson, Max Oppenheimer, Mopp genannt, Orlik und andere mit weniger bekannten Namen. Dazu kamen noch die Bildhauer Barlach, Hugo Lederer und Hermann Haller.«5

Aber auch heute weniger bekannte Künstler und Künstlerinnen, unter letzteren z. B. Charley Toorop (1891–1955), Martel Schwichtenberg (1896–1945) sowie die Fotografinnen Frieda Riess (1890–1955) und Lotte Jacobi (1896–1990), stellten die Schauspielerin dar. So facettenreich wie Durieux’ Schauspielkunst war, fallen auch die bildnerischen Formulierungen der Porträtisten und Porträtistinnen aus. Es gibt diverse Gründe für die außergewöhnlich große Anzahl von Porträts von Durieux. Der Motor für die gesteigerte Porträtproduktion seit den 1910er Jahren war ihre Beziehung zu dem Berliner Galeristen und Verleger Paul Cassirer (1871–1926), mit dem sie seit 1904 liiert war und den sie 1910 heiratete. Paul Cassirer war einer der Protagonisten des deutschsprachigen Kunsthandels und Verlagswesens im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Über 20 Durieux-Porträtisten standen mit ihm in geschäftlichen Beziehungen. Gerade unter den Künstlern aus dem Cassirer-Kreis bildete sich ein regelrechter Modellkult um Durieux heraus, so dass die vielen Bildnisse immer noch mehr Bildnisse nach sich zogen. Durieux-Porträts waren in Cassirers Galerie ausgestellt und erschienen in Publikationen seines Verlags. Wegen seiner engen Verbindung zur ›Berliner Secession‹ stammen viele Porträtisten aus den Secessionsreihen. Die Secessionen, die den Beginn der Moderne in Deutschland einläuteten, bilden folglich den künstlerischen Hintergrund für den Großteil von Durieux’ Porträtisten.6 Die Modellwahl der Künstler begründet sich nicht ausschließlich durch ihre Geschäftskontakte und Freundschaften zu Paul Cassirer, sondern beruht auch auf deren hohen Wertschätzung Durieux gegenüber. Sie war mit vielen ihrer Porträtisten befreundet und unterstützte sie z. T. durch eigene Ankäufe. Zahlreiche ihrer Porträts gehörten zu ihrer privaten Kunstsammlung. Daher spielte die persönliche Faszination der Künstler eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der Bildnisse. Einige Porträtisten wählten sie mit großer Intensität und Beständigkeit als Modell. In Hinblick auf die mediengeschichtliche Einordnung von Durieux’ Porträts kann man von einer »Mode« sprechen. Viele von Durieux’ Porträtisten beschäftigten sich in ihrem Werk intensiv mit dem Theater, porträtierten sie 5 Durieux, Tilla: Meine ersten neunzig Jahre. Erinnerungen, Die Jahre 1952–1971 nacherzählt von Joachim Werner Preuß, 5. Aufl., Berlin/München 1979, S. 301. 6 Das Porträt war für moderne Künstler in Deutschland weiterhin eine wichtige Aufgabe bei der »neue stilistische Ansätze« entwickelt wurden. Vgl. Muysers, Carola: Das bürgerliche Portrait im Wandel. Bildnisfunktionen und -auffassungen in der deutschen Moderne 1860–1900, Diss., Hildesheim 2001, S. 118.

14

Einleitung

mehrfach und arbeiteten mitunter als Bühnen- und Kostümgestalter. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete »Theatromanie«7 spiegelt sich in der bildenden Kunst nicht zuletzt in der Beliebtheit von Schauspielerporträts wider. Vergleicht man Durieux’ Porträts mit denjenigen gleichzeitig tätiger Schauspielerinnen, wird jedoch in verschiedener Hinsicht die herausragende Stellung und Einzigartigkeit der Porträts von Tilla Durieux erkennbar. Da Zeitgenossen die Schauspielkunst von Durieux und Gertrud Eysoldt (1870–1955) gegenüberstellten, bietet diese sich als Vergleichsperson an.8 Als Durieux in das Ensemble von Max Reinhardt eintrat, war Eysoldt dort bereits etabliert. Auch Eysoldt war mit einem Künstler, Benno Berneis (1883–1916), verheiratet, der sie porträtierte.9 Es gibt einige hochwertige Porträts von Eysoldt, zahlenmäßig machen sie allerdings einen Bruchteil von Durieux’ Porträts aus. Außerdem sind es hauptsächlich Graphiken und es gibt kaum Porträts, die sie in einer Rolle darstellen. Ähnlich ist die Situation bei anderen Schauspielerinnen, die zeitgleich mit Durieux auf den Berliner Bühnen, aber auch vor der Filmkamera, standen. Von Lucie Höflich (1883–1956), Käthe Dorsch (1890–1957), Agnes Sorma (1862–1927), Helene Thimig (1889–1974), Fritzi Massary (1882–1969), Camilla Eibenschütz (1884–1959), Asta Nielsen (1881–1972) oder Henny Porten (1890–1960) gibt es zwar einzelne Porträts, aber keine kontinuierlich geführte und in der Qualität ebenbürtige »Porträtgalerie« wie von Tilla Durieux. Dasselbe gilt für Porträts von männlichen Kollegen. Keine andere Schauspielerin und auch kein Schauspieler des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde über einen so langen Zeitraum hinweg – Durieux’ Porträts erstrecken sich über 70 Jahre – von so vielen bedeutenden Künstlern porträtiert. Auch die große Anzahl an Rollenporträts, die gut ein Drittel aller Durieux-Porträts ausmachen, ist einzigartig. Der singuläre Charakter von Durieux’ Bildnissen bezieht sich folglich auf deren Quantität, Qualität und Kontinuität und ist auf ihre besondere Verbindung zur zeitgenössischen Kunstszene zurückzuführen.

7 Der Begriff »Theatromanie« wurde 1931 von Julius Bab geprägt. Bab, Julius: Das Theater im Lichte der Soziologie. In den Grundlinien dargestellt, Leipzig 1931, S. 130. 8 1911 hält Erich Mühsam in seinem Tagebuch fest: »Diese Frau hat sich allmählich zu einer Künstlerin entwickelt, neben der alle andern völlig verschwinden. Die Eysoldt hat wohl noch mehr eigentliche Genialität, nicht aber diese überlegte Kraft, vor allem nicht die äußeren Wirkungsmittel, die die Durieux raffiniert bändigt.« Tagebucheintrag vom 16. 5. 1911. http:// www.muehsam-tagebuch.de, Stand vom 10. 01. 2013. 9 Benno Berneis, Gertrud Eysoldt, 1908, Öl auf Leinwand, 62 x 46,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität Köln, Inv.Nr. 41165. Das Bildnis war 1909 im Kunstsalon von Paul Cassirer ausgestellt. Vgl. Echte, Bernhard/Feilchenfeldt, Walter (Hg.): Kunstsalon Paul Cassirer. Die Ausstellungen 1908–1910: »ganz eigenartige neue Werte«, Bd. 4, Wädenswil 2013b, S. 137.

Vorgehen und Fragestellung

I.2

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Vorgehen und Fragestellung

Als Grundlage für die Ausführungen zu dem Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, den Porträts von Tilla Durieux, wird in dem vorangestellten biographischen Teil neben Durieux’ Lebensstationen auch ihre Schauspielkunst vorgestellt. Aufgrund der großen Bedeutung Paul Cassirers für die Entstehung der Porträts wird anschließend auch auf seine Person und sein Wirken eingegangen. Beide Biographien werden in den zeithistorischen Kontext eingebunden. Infolge ihres Berufs sind Durieux’ Porträts als Schauspielerporträts zu bezeichnen. Mit dem Ziel, die Charakteristika dieser Sondergattung des Porträts aufzuzeigen, ist ihnen ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Anschluss an die Begriffsklärungen »Schauspielerporträt« und »Schauspielerrollenporträt« wird anhand eines kurzen Abrisses über die Entwicklung des Schauspielerporträts vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts dargelegt, in welcher kunstgeschichtlichen Tradition Durieux’ Porträts stehen.10 Das abschließende Unterkapitel legt dar, wie sich Durieux’ Porträts von früheren Schauspielerporträts unterscheiden bzw. welche Darstellungsmodi der Gattung über die Jahrhunderte hinweg tradiert wurden. Aufgrund der großen Anzahl an Fotografien von Durieux ist dem fotografischen Schauspielerporträt ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Hierauf folgt der eigentliche Hauptteil, der die Analyse der Porträts im Hinblick auf die Themenstellung der Arbeit, der Inszenierung Durieux’ in ihren Porträts, beinhaltet. Aus der Fragestellung ergibt sich die Auswahl der zu analysierenden Werke. Der Untersuchungszeitraum umfasst die »Hauptphase« von Durieux’ Bildnisproduktion von 1903 bis 1933. Die danach entstandenen Porträts werden für diese Forschungsarbeit ausgeklammert, da ihnen veränderte Entstehungsbedingungen zu Grunde liegen. Zur Darlegung der Inszenierungsformen in den Porträts werden in Ergänzung zum Bildmaterial Selbstäußerungen und Aussagen von Zeitgenossen, die Durieux’ Image belegen, herangezogen. Infolge der Fragestellung bildeten sich vier Porträtgruppen heraus, innerhalb derer Durieux auf verschiedene Weise inszeniert wird. Die Analyse der Bildbeispiele fällt, angepasst an das jeweilige Werk, individuell aus und variiert in Aufbau und Umfang. Die erste Gruppe beinhaltet Rollenporträts, die mit ihrem Bezug zu einer (tatsächlichen oder imaginierten) Bühnenrolle von Durieux eine Zwitterstellung zwischen dem Porträt und anderen Gattungen der bildenden Kunst einnehmen. Die zweite Gruppe ist denjenigen Porträts ge10 Es werden Schlaglichter auf bedeutende Beispiele europäischer Schauspielerporträts im Laufe der Jahrhunderte geworfen. Der Überblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern konzentriert sich auf die »Hauptschauplätze« des europäischen Schauspielerporträts, England und Frankreich sowie die Entwicklung der Gattung im deutschsprachigen Raum.

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widmet, die als Auftragsarbeiten entstanden und daher eine ganz spezielle Funktion erfüllen. Als nächste Gruppe werden Porträts von der Hand weiblicher Künstlerinnen, in den 1920er Jahren entstanden, vorgestellt und somit die »weibliche« Perspektive auf die Schauspielerin erforscht. In der vierten und letzten Gruppe folgen die massenmedialen Porträts von Durieux, die die Funktion der Schauspielerin als Medienfigur und Leitbild ihrer Zeit nachweisen. Die kunsthistorische Kontextualisierung der Porträts wird durch das Aufzeigen von Bezügen zu damals aktuellen künstlerischen Positionen sowie durch die Einordnung in das Schaffen der einzelnen Porträtisten ermöglicht. Zum besseren Verständnis der Genese der Porträts werden die in ihrem Entstehungszeitraum vorherrschenden, aber auch die jeweiligen, individuell die Werke betreffenden, geistesgeschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen und Anschauungen beachtet. Voraussetzung für eine wirksame Inszenierung von Durieux’ Porträts war deren Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit, die durch stetige Reproduktion und Re-Inszenierung gewährleistet wurde. In einem eigenen Kapitel werden daher die diversen zeitgenössischen Verbreitungsformen erläutert. In den Blick genommen werden die renommierten Ausstellungen der Zeit in Berlin und anderen deutschen Städten, in denen Durieux-Porträts präsentiert wurden sowie deren historische Rezensionen. Eine Sonderrolle nehmen der Kunsthandel und -verlag von Paul Cassirer ein, die er zur Lancierung von Porträts seiner Frau nutzte. Ein weiterer Faktor für die Verbreitung waren Abbildungen von Porträts in den damaligen Kunstzeitschriften und Gesellschaftsblättern. Ergänzend dazu wird im letzten Kapitel darauf eingegangen, inwieweit Durieux ihre Porträts zur Selbstinszenierung nutzte. Darüber geben einerseits Nachweise in ihren eigenen Texten Aufschluss und andererseits die Liste der Porträts, die sich nachweislich in ihrem Besitz befanden. Zum Abschluss der Arbeit werden die Erkenntnisse aus den Unterkapiteln im Hinblick auf die Themenstellung zusammengefasst und die Ergebnisse zusammengeführt. Obwohl die Forschungsarbeit partiell in die Bereiche der Theaterwissenschaft, der Kulturwissenschaft und der Gender Studies hineinreicht, handelt es sich um eine kunsthistorische Arbeit. Daher bildet die ikonographische Analyse den methodologischen Hauptteil. Mit Blick auf die Fragestellung werden ergänzend dazu Textanalysen durchgeführt. Historische Kontextualisierungen erweitern den Fragehorizont des Forschungsvorhabens. Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit ist ein Katalog, der alle, in langwieriger Recherchearbeit, ermittelten Porträts von Durieux auflistet.11 Neben den Recherchen vor Ort in

11 Ausgenommen sind die Fotopostkarten und andere kommerzielle Fotografien von Durieux,

Vorgehen und Fragestellung

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Zagreb, Wien, Berlin und München sowie der Erfassung der existenten Forschungsliteratur wurde das Material über einen mehrjährigen Schriftverkehr mit deutschsprachigen und internationalen Museen, Auktionshäusern, Sammlungen und Forschern zusammengetragen. Im Fokus der Dissertation steht die Frage nach der bildnerischen Inszenierung von Tilla Durieux in und mittels ihrer Porträts. So weit wie möglich, muss die Beantwortung der Themenstellung aus historischer Perspektive geschehen. Dazu ist ein Abgleich des Bildmaterials mit dem anhand von schriftlichen Quellen gewonnenen Fremd- und Selbstbild der Schauspielerin sowie eine Einordnung in die Entstehungszeit der Werke und das jeweilige Schaffen der Porträtisten nötig. In der Fragestellung dieser Forschungsarbeit wird der Begriff »Inszenierung« nicht im ursprünglichen, theaterbezogenen Sinn als »Gesamtheit aller Materialien bzw. Zeichensysteme, die in einer Aufführung Verwendung finden« verstanden, sondern als »allgemeine[s] kulturerzeugende[s] Prinzip«12 nach der Definition von Fischer-Lichte: »Als ästhetische und zugleich anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird […].«13

Demnach ist Inszenierung ein Aspekt der »zunehmenden Bedeutung theatraler Prozesse für die europäische Kultur«14. Der Begriff »Inszenierung« bezieht sich auf unterschiedlichen Ebenen auf Durieux’ Porträts. Auf der Bühne wie im »Privatleben« setzte der Theaterstar Durieux sich in Szene. Dabei standen ihr diverse Mittel zur »Erregung von Aufmerksamkeit« und zur Steuerung der Fremdwahrnehmung zur Verfügung. Sie umfassen autobiographische Texte, Zeitungsbeiträge, Rollenwahl, Rollengestaltung, öffentliche Auftritte15 und nicht

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die so zahlreich sind, dass eine vollständige Erfassung nicht möglich und auch nicht im Sinne der vorliegenden Arbeit ist. Fischer-Lichte, Erika: Theatralität und Inszenierung, in: Inszenierung von Authentizität, hg. v. Erika Fischer-Lichte und Isabel Pflug, Tübingen/Basel 2000, S. 11–27, hier: S. 18. Der Begriff »Inszenierung« leitet sich aus dem Französischen »mise en scHne«, übersetzt »in die Szene setzen«, ab und ist seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen gebräuchlich. Vgl. FischerLichte 2000, S. 14. Fischer-Lichte 2000, S. 22. Ähnlich definiert auch Thorun Inszenierung: »Der Begriff der Inszenierung verweist auf das Moment des Künstlichen und Hergestellten und hebt die ästhetischen und performativen Gestaltungsmöglichkeiten von Kulturtechniken hervor.« Thorun, Claudia: Sarah Bernhardt. Inszenierungen von Weiblichkeit im Fin de siHcle, Diss., Hildesheim 2006, S. 1. Fischer-Lichte 2000, S. 11. Else Lasker Schüler schildert solch einen effektvollen Auftritt Durieux’: »Auf dem Sezessionsfest im Februar teilte sich die Menge in zwei Flittergitter, als sie den Saal betrat. Sie trug ein dunkles Spitzenkleid und eine hängende Nelke im Haarknoten. Ich fragte den Rektor in ›Frühlingserwachen‹ an unserm Tisch, wer die schwarze Leopardin mit dem Blutstropfen im

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Einleitung

zuletzt das Mittel der Porträts.16 Voraussetzung für eine wirkungsvolle Inszenierung ist die Rezeption durch ein Publikum.17 Ein Kritiker formulierte Durieux’ Selbstdarstellung 1922 folgendermaßen: »Sie gibt sich selbst auf und spielt doch sich selbst. Ist ihr eigener Bildner.«18 Den »Aspekt eines kreativen und transformierenden Umgangs des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt«19 erkennt Fischer-Lichte als wichtige Intention von Inszenierung.20 Die Inszenierung ist gelungen, wenn sie nicht als Inszenierung wahrgenommen wird: »Der Eindruck von Authentizität entsteht gerade als Ergebnis einer besonders sorgfältigen Inszenierung.«21 In anderen Fällen ist die Erkenntnis, dass es sich um eine Inszenierung handelt, durchaus beabsichtigt.22 Im Bereich der bildenden Kunst ist der Aspekt der Inszenierung nicht nur in der PerformanceKunst von Bedeutung, auch Werke in den traditionellen Gattungen werden in bestimmter Weise »auf die Bühne gebracht«23. Was Fischer-Lichte in Bezug auf das Theater postuliert, ist auf das Porträt übertragbar : »Denn es ist die Inszenierung, die jeweils auch spezifische Strategien zur Erregung und Lenkung von Aufmerksamkeit entwirft.«24 Die Fragestellung der Arbeit nach der Inszenierung der Schauspielerin Tilla Durieux in und mittels ihrer Porträts entspricht dem kunsthistorischen For-

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Nacken sei. Prangende Schlichtheit, geschmeidiger Charme, in ihrem Herzen blühen feine Nerven schmerzvoll auf.« Lasker-Schüler, Else: Frau Durieux, in: Das Theater, Jg. 1, Heft 10, 1910, S. 233–234. Blank belegt die Funktion von Porträts als wichtigen Bestandteil der Starkonzeption. Vgl. Blank, Claudia: Meisterinnen der Selbstinszenierung. Beispiele weiblicher Tanz- und Schauspielstars im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Grotjahn 2011, S. 58–73, hier : S. 73. Auch Thiele kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Bedeutung des Stars entscheidend über die »bildhaften Inszenierungsformen« herausbildet. Vgl. Thiele, Jens: Künstlerisch-mediale Zeichen der Starinszenierung, in: Faulstich/Korte, München 1997, S. 136–145, hier : S. 136. Nach Früchtl und Zimmermann vollzieht sich eine Inszenierung »mit Absicht, ist für ein Publikum bestimmt und auf Auffälligkeit oder Wirkung bedacht.« Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens, in: dies. 2013, S. 9–47, hier : S. 21. Dworczak, Karl Heinz: Die Durieux. Zum Grazer Gastspiel Der Schatten am 3. November 1922, in: Montagszeitung, 6. November 1922, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 581. Fischer-Lichte 2000, S. 22. Analog deuten Früchtl und Zimmermann die »menschliche Zur-Schaustellung einer Selbstauslegung für andere« als anthropologisches Verhalten. Früchtl/Zimmermann 2013, S. 19. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 331. Die Dialektik von »Authentizität« und »Inszenierung« trifft Nietzsches Feststellung »nur in der Maske ist der Mensch ganz echt«, was laut Früchtl so viel bedeutet wie »hinter der Rolle bzw. der Maske verbirgt sich nicht das Echte, vielmehr ist die Maske das Echte«. Früchtl/Zimmermann 2013, S. 11. Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 331. So hieß es 1997 in der Präambel des 24. Kunsthistorikerkongresses mit dem Titel Die Inszenierung des Kunstwerks. Vgl. Früchtl/Zimmermann 2013, S. 39. Fischer-Lichte 2004, S. 330.

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schungsinteresse an der Gattung Porträt in den letzten zwei Jahrzehnten25, wie Köstler Ende der 1990er Jahre formuliert: »Statt der Individualität eines Porträtierten rückt nun die Funktion eines Bildnisses, seine Wirkung, seine Adressatenschaft, seine Botschaft in den Mittelpunkt.«26 Die »Wechselwirkung der Intention des Porträtierten und der Erwartung des Rezipienten«27 wird, so Köstler weiter, zum Untersuchungsgegenstand. An Stelle des Begriffs Inszenierung verwendet Köstler den Begriff Image28, mit dem sich seiner Meinung nach eine nützliche Fragestellung für die Untersuchung von Bildnissen entwickeln lässt. Sie ist auf die vorliegende Arbeit übertragbar : »Gemeint ist die Frage nach den Entstehungsbedingungen von Bildnissen, den unterschiedlichen Ansprüchen und Vorstellungen, die als bildprägende Kräfte von Seiten des Bestellers wie auch von Seiten des Rezipienten in die Formulierung von Bildnissen eingehen können.«29

Zur Beurteilung der Inszenierungsabsichten ist entscheidend, welches Bild die Zeitgenossen und damit auch die Porträtisten von Durieux hatten und wie sie selbst wahrgenommen werden wollte.30 Porträts und Vorstellungsbilder bedingen sich dabei gegenseitig, da Durieux’ Porträts einerseits die Vorstellungsbilder der Schauspielerin transportieren, andererseits gleichzeitig von ihnen beeinflusst werden. Deshalb stehen die Bildanalyse und die Analyse schriftlicher Quellen, die Theaterkritiken und Berichte von Zeitgenossen genauso wie Durieux’ Selbstzeugnisse umfassen, in enger Wechselbeziehung. Das Fremd- und Selbstbild einer Person wird mit dem Begriff »Image« umfasst. Starimages nehmen Bezug auf soziokulturelle Diskurse der Zeit, d. h. der Star dient als kulturelles Zeichen. Er wird zur kollektiven Projektionsfläche und spiegelt ge25 Auch in der Untersuchung von Schauspielerporträts spielt der Aspekt der Inszenierung eine Rolle: Kreutler, Frauke: Charlotte Wolter Superstar. Zur Inszenierung des Rollenporträts im 19. Jahrhundert, in: Doppler/Lindinger/Kreutler 2006, S. 104–119; Balk, Claudia: Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit. Clara Ziegler, Sarah Bernhardt, Eleonora Duse, Ausst.kat., Frankfurt am Main 1994. 26 Köstler, Andreas: Das Portrait. Individuum und Image, in: Köstler/Seidl 1998, S. 9–14, hier : S. 13. 27 Köstler 1998, S. 14. 28 Unter »Image« versteht Köstler »die Ganzheit aus Informationen, Vorstellungen und Wertungen, die mit einem Gegenstand oder einer Person verknüpft werden.« Köstler 1998, S. 14. Grotjahn definiert Image als »ein öffentliches, durch die Medien (bzw. durch Interaktion von Medien und Mediennutzern) produziertes Bild.« Grotjahn, Rebecca: »The most popular woman in the world«. Die Diva und die Anfänge des Starwesens, in: ders. 2011, S. 74–97, hier : S. 81. 29 Köstler 1998, S. 14. 30 »Stars […] sind auf Techniken der Inszenierung angewiesen, zu denen auch die des Theaters gehören. Ihre Medialität, die Herausbildung eines bestimmten von der Person des Stars unabhängigen Bildes von ihm ist ihre Besonderheit, die sie von anderen Formen personeller Prominenz abgrenzt.« Hickethier 1997, S. 32.

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sellschaftliche Zustände wieder.31 Durieux vereint verschiedene, mitunter gegensätzliche, Vorstellungsbilder in ihrer Person, die von der ›Femme fatale‹ über die »Dame der Gesellschaft« und ›Neue Frau‹ bis hin zur Exotin und zum Medienstar reichen und teilweise parallel existieren. Fremd- und Selbstbild sind eng miteinander verwoben. Aus der Themenstellung ergeben sich verschiedene Fragen, denen bei der Analyse der Porträts nachgegangen wird. Zuerst ist von Interesse, ob der Theaterstar Durieux eine gezielte Selbstvermarktungsstrategie mit den Porträts verfolgte. Parallel dazu rücken die Porträtisten in das Forschungsblickfeld. Wurden die Künstler zu »Werkzeugen« der Schauspielerin oder verfolgten sie eigene Interessen und wenn ja, welche? Waren die Inszenierungsabsichten der Porträtierten und ihrer Porträtisten also gleichgerichtet oder gegenläufig? In einem 2003 in der FAZ erschienenen Artikel beschreibt der Autor die abwechslungsreiche Inszenierung Durieux’ durch ihrer Porträtisten mit den Worten: »Liebermann sah sie als Delilah, Kokoschka als Sylphide, Barlach und Gulbransson erkannten ›Mutter Erde‹ in ihr, Stuck den Vamp, Renoir eine scheue junge Frau mit Kirgisengesicht.«32 Diese Formulierung enthält die Frage nach der Herausbildung einer spezifischen Durieux-Ikonographie. Stellen die Porträtisten die Schauspielerin einheitlich dar oder wird ein vielgestaltiges »Bild« erzeugt? Imiela hebt in seiner Slevogt-Monographie die Heterogenität von Durieux’ Porträts hervor, die, seiner Meinung nach, nicht nur auf die Verschiedenheit der Porträtisten zurückzuführen ist: »Den Unterschieden der gestaltenden Persönlichkeiten entspricht eine solche Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten der einen Physiognomie, daß es häufig schwer wird, zu entscheiden, wie die individuellen Eigenschaften proportioniert sind.«33

Die Beantwortung dieser Fragen ergibt die Aufgabenstellung für die folgenden Ausführungen.

31 Nach Bronfen besitzt der Star zwei Körper, den realen Körper und den Kunstkörper, das Image. Der Starkörper löst sich von der realen Person ab und wird mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen. Vgl. Bronfen, Elisabeth: Zwischen Himmel und Hölle – Maria Callas und Marilyn Monroe, in: Bronfen/Straumann 2002, S. 43–67, hier : S. 46. 32 Unbekannt: TILLA DURIEUX – Die Vergessene, in: FAZ, 4. August 2003, S. 40. 33 Imiela, Hans-Jürgen: Max Slevogt. Eine Monographie, Karlsruhe 1968, S. 85.

II.

Quellenlage und Forschungsstand

Die anhaltende Bekanntheit und Präsenz von Durieux und ihren Porträts hängt eng mit ihrer wiederholt aufgelegten, bebilderten Autobiographie34 zusammen. Mit ihr setzte sie sich selbst ein Denkmal und trug damit zur Festigung ihres Nachruhms bei. Durieux begann im Zagreber Exil ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben, die erstmals 1954 unter dem Titel Eine Tür steht offen. Erinnerungen im Herbig-Verlag publiziert wurden.35 Das große Interesse an Durieux’ Autobiographie zeigt sich darin, dass es immer wieder Neuauflagen gab.36 Verschiedene Tageszeitungen druckten beim Erscheinen der Autobiographie Auszüge daraus ab.37 Als zusätzliche Werbung für ihr Buch unternahm Durieux 1954 eine zweiwöchige Lesetournee durch deutsche Großstädte.38 Ab der ersten Ausgabe wurden zahlreiche Abbildungen beigefügt, hauptsächlich Rollenfotografien aber auch Reproduktionen von anderen Bildnissen Durieux’.39 1971 folgte die erweiterte Autobiographie Meine ersten neunzig Jahre. Erinnerungen im Herbig-Verlag, die größtenteils Eine Tür steht offen wiedergibt und von Joachim Werner Preuß um Durieux’ Lebensjahre bis zu ihrem Tod 1971 ergänzt

34 In dieser Arbeit wird ausschließlich der Begriff »Autobiographie« verwendet. Vgl. dazu: Landgrebe, Klaus Peter : Die Lebenserinnerungen deutscher Schauspieler. Die Gründe für ihre Entstehung, ihr Inhalt und seine Auswertung für die Theaterwissenschaft, Diss., Berlin 1956, S. 19. 35 Auf dem Cover ist ein Durieux-Porträtkopf von Gerhard Kreische abgebildet. 36 Die 2. Auflage erschien 1966 und die 5. Auflage 1971 im Henschel-Verlag. 37 Durieux, Tilla: Der amputierte Arzt am Scheideweg, in: Wiesbadener Kurier, 4. Mai 1963, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 585. 1–7.3; Durieux, Tilla: In der Theaterschule, in: Stuttgarter Nachrichten, 17. August 1965, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 585. 1–7.4. 38 Davon haben sich Fotografien im Tilla Durieux Archiv in Berlin erhalten, AdK, Berlin, TillaDurieux-Archiv, Nr. 585. 1–11. 39 Laut Landgrebe war die Illustration von Schauspieler-Autobiographien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dank der verbesserten Reproduktionstechniken üblich: »Oft wurden Bilder – Stiche, Reproduktionen, Zeichnungen oder Photos zwischengeschaltet, um die Lektüre zu beleben und aufzulockern. Zumeist sind es Rollenbilder der Verfasser, die des Schauspielers Art deutlicher machen als der gesamte Text.« Landgrebe 1956, S. 107–108.

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wurde.40 Einige Passagen aus Eine Tür steht offen wurden in Meine ersten neunzig Jahre gekürzt. Das erste Kapitel daraus mit dem Titel Spielen und Träumen war schon 1922 als Graphikmappe mit fünf Radierungen und einer Lithographie von Emil Orlik im Verlag der Galerie Flechtheim veröffentlicht worden.41 Die Schilderung ihrer ersten großen Liebe, die Durieux 1968 für den Band Die erste Liebe. Prominente Deutsche erzählen verfasste42, erschien zusätzlich in der Zeitung.43 1970 wurde ihr Beitrag Ein selbsterzähltes Leben in einem biographischen Sammelband44 und 1980 Auszüge aus Meine ersten neunzig Jahre in einer Publikation mit Schauspieler-Biographien45 veröffentlicht. Bereits 1928 war Durieux’ Roman Eine Tür fällt ins Schloß im Horen-Verlag erschienen. Noch im Erscheinungsjahr gab es eine zweite Auflage des aufsehenerregenden Bestsellers.46 Der Berliner Börsen-Courier druckte bereits einen Tag nach dem Erscheinen des Romans einige Passagen daraus ab.47 In den Rezensionen wurde sowohl über den autobiographischen Anteil des Romans spekuliert als auch der literarische Wert diskutiert.48 Zusätzlich zu den Veröffentlichungen in Buchform erschienen eigene Texte von Durieux in Zeitungen und Zeitschriften der damaligen Zeit. Viele davon sind in den unten aufgeführten Archiven mit Durieux-Beständen erhalten und z. T. in den entsprechenden Archiv-Publikationen enthalten. Mit dem Verfassen ihrer Autobiographie befand sich Durieux in bester 40 Es folgten mehrere Neuauflagen. 1979 erschien die 5. Auflage im Herbig-Verlag, 1980 eine neue Auflage im Henschel-Verlag und 1991 eine im Ullstein-Verlag. 41 Durieux, Tilla: Spielen und Träumen. Mit fünf Radierungen und einer Lithographie von Emil Orlik, Berlin 1922. 42 Durieux, Tilla: Die erste Liebe, in: Die erste Liebe. Prominente Deutsche erzählen, hg. v. Uta Witzleben, Hamburg 1968, S. 57–61. 43 Durieux, Tilla: An ihre erste Liebe erinnert sich Tilla Durieux, in: Hannoversche Presse, 30. November 1968, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 585.5. 44 Durieux, Tilla: Ein selbsterzähltes Leben, in: Das bin ich. Ernst Deutsch, Tilla Durieux, Willy Haas, Daniel-Henry Kahnweiler, Joseph Keilberth, Oskar Kokoschka, Heinz Tietjen, Carl Zuckmayer erzählen ihr Leben, hg. v. Hannes Reinhardt, München 1970, S. 35–53. 45 Durieux, Tilla: Mein Leben wurde in andere Bahnen gelenkt, in: …gelebt für alle Zeiten. Schauspieler über sich und andere, hg. v. Renate Seydel, 3. Aufl., Berlin 1980, S. 169–189. 46 In sechs Wochen wurden 22.000 Exemplare verkauft. Vgl. Vogt-Praclik, Kornelia: Bestseller in der Weimarer Republik, 1925–1930. Eine Untersuchung, Herzberg 1987, S. 91. Der Roman wurde danach nicht mehr zu Durieux’ Lebzeiten aufgelegt. Erst 1989 gab es eine Neuauflage im Verlag Silver u. Goldstein, Berlin und 1992 im Deutschen Taschenbuch-Verlag. 47 Vgl. Walach, Dagmar (Hg.): Über den Tag hinaus. Notizen von Tilla Durieux 1920–1933, Kommentarband, Berlin 2009b, S. 42. 48 Behls Urteil in Die Literatur fällt nicht gut aus:«[…] wenn Tilla Durieux aus ihrem großen schauspielerischen Instinkt und Intellekt heraus mehr über Bühnendinge gesagt hätte, statt hier ein peinliches publicum über privatissima abzuhalten – mit einem bestenfalls durchschnittlichen Roman als Ergebnis.« Behl, Carl F. W.: Eine Tür fällt ins Schloß. Roman von Tilla Durieux, in: Die Literatur, Jg. 31, 1928, S. 170, zit. nach: Walach 2009a, S. 93–94.

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schauspielerischer Gesellschaft. Schauspieler-Autobiographien besitzen eine lange Tradition in Deutschland sowie in anderen europäischen Ländern mit einer langen Theaterkultur.49 Sie tragen zur Festigung des Starimages und zur Steigerung des Bekanntheitsgrads bei. Gleichzeitig ist der Starstatus der Schauspieler die Voraussetzung für die Verkäuflichkeit der Autobiographien.50 Die Bekanntheit der Verfasser ist dabei ein größerer Kaufanreiz als die schriftstellerische Qualität. Das Publikum erhofft sich intime Enthüllungen über das Privatleben der Schauspieler und über bekannte Personen aus ihrem Umfeld.51 Nach Landgrebe ist die Leserschaft darüber hinaus daran interessiert, anhand der Autobiographie einen Vergleich von Rolle und Charakter anzustellen, sprich hinter die Maske des Mimen zu schauen.52 Die Textgattung Autobiographie ist grundsätzlich quellenkritisch zu betrachten.53 Gerade bei Durieux’ Autobiographie in Buchform ist zu beachten, dass sie mit dem zeitlichen Abstand von mehreren Jahrzehnten verfasst wurde. Geschichten, die im Laufe eines Lebens immer wieder – selbst und von anderen – erzählt werden, verändern sich mit der Zeit. Bei der Aufzeichnung von Erinnerungen selektiert der Verfasser, gibt einigen Ereignissen mehr Bedeutung, lässt andere weg. Das Geschehene wird subjektiviert und unbewusst oder bewusst verfälscht. Die Autobiographie schreibt der Autor nicht für sich, sondern sie ist an eine Leserschaft adressiert. Wie Hügel am Beispiel von Sarah Bernhardts Autobiographie Ma double vie54 feststellt, sind Autobiographien ein wichtiges Mittel zur Selbstinszenierung von Schauspielern.55 Es ist eine Möglichkeit, Einfluss auf das Fremdbild zu nehmen. Autobiographisches Schreiben kann verschiedene, sehr unterschiedliche Funktionen und Intentionen, von der Chronik über die Rechtfertigungsschrift bis zum Medium des Selbstgesprächs56, haben. Des Weiteren bezeugen Schau49 Um 1800 erschienen nach Landgrebe die ersten Schauspielerbiographien. Vgl. Landgrebe 1956, S. 24. Bis ins späte 19. Jahrhundert stammten die meisten weiblichen Autobiographien von Schauspielerinnen. Vgl. Asleson, Robyn: Introduction, in: ders. 2003, S. 1–21, hier : S. 16. 50 Vgl. Landgrebe 1956, S. 94. 51 Der Schriftsteller Paul Kornfeld urteilte über Durieux’ Roman: »[…] er ist als Roman nicht interessant genug, daß man über ihn sprechen müßte, doch ist die Verfasserin interessant genug, daß man ihr ihn gerne verzeiht.« Kornfeld, Paul: Revolution mit Flötenmusik und andere kritische Prosa 1916–1932, hg. v. Manon Maren-Grisebach und Hans-Joachim Weitz, Heidelberg 1977, S. 67–68. 52 Vgl. Landgrebe 1956, S. 96. 53 Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung, Freiburg im Breisgau 1982. 54 Bernhardt, Sarah: Ma double vie, Paris 1907. 55 Vgl. Hügel, Hans-Otto: Das selbstentworfene Bild der Diva. Erzählstrategien in der Autobiographie von Sarah Bernhardt, in: Grotjahn 2011, S. 37–57. 56 »In ihr lassen sich die Entscheidungen eines unruhigen, entscheidungsreichen Lebens nachvollziehen, bewerten, erklären und kritisieren. Die Selbstverdopplung ermöglicht es, sich zur eigenen Person der Vergangenheit ins Verhältnis zu setzen.« Geitner, Ursula/

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spieler-Autobiographien den Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung.57 Über diese Motivationen hinaus, diente Eine Tür steht offen Durieux sicherlich dazu, sich dem Theaterpublikum im Nachkriegsdeutschland wieder ins Gedächtnis zu rufen und damit eine zweite Schauspielkarriere zu fördern.58 Mit den in der Zeit des Zagreber Exils begonnenen Aufzeichnungen wollte sie sich wohl auch selbst an ihre glanzvollen Zeiten erinnern.59 Möglicherweise spielten ebenso finanzielle Gründe eine Rolle. Durieux’ Selbstzeugnisse werden in dieser Forschungsarbeit nicht als harte Fakten verwendet, sondern geben Auskunft über das subjektive Empfinden in diversen Lebenssituationen, über persönliche Ansichten sowie über das Selbstbild der Autorin. Sie werden mit anderen zeitgenössischen Quellen und Sekundärliteratur ergänzt. In der vorliegenden Arbeit verwendete zeitgenössische Quellen sind Theaterkritiken und Artikel über Durieux, die in Publikationen, Tageszeitungen, Theaterzeitschriften, Kunst- und Kulturmagazinen und Illustrierten erschienen. Die Schauspielerin wurde gleichermaßen gelobt und verrissen von den angesehenen Kritikern Kurt Tucholsky (1890–1935), Alfred Kerr (1867–1948), Walter Turszinsky (1874–1915), Herbert Ihering (1888–1977), Julius Bab, Alfred Polgar (1873–1955), Siegfried Jacobsohn (1881–1926), Carl von Ossietzky (1889–1938) und Weiteren. In Aufzeichnungen, Briefen und Veröffentlichungen von Zeitgenossen wie Erich Kästner (1899–1974), Julius Meier-Graefe (1867–1935), Harry Graf Kessler (1868–1937), Erich Mühsam (1878–1934), Ernst Barlach (1870– 1938) sowie von Zeitgenossinnen wie Tilly Wedekind (1886–1970), Thea Sternheim (1883–1971) oder Claire Goll (1891–1977) finden Durieux’ Person und ihre Schauspielkunst Erwähnung. Nicht zuletzt wurde Durieux nicht nur zu einem bildkünstlerischen, sondern auch zu einem literarischen Motiv, z. B. für Else Lasker-Schüler (1869–1945) und Heinrich Mann (1871–1950).60

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Findeisen, Britta: Schauspielerinnen. Der theatralische Eintritt der Frau in die Moderne, Bielefeld 1988, S. 274. Vgl. Goodman, Kay : Weibliche Autobiographien, in: Gnüg/Möhrmann 1985, S. 289–299, hier : S. 289. Die Zeit des Nationalsozialismus stellte eine Zäsur im Schaffen von Durieux dar, da sie sich schauspielerisch für viele Jahre nicht weiterentwickeln konnte. Nach ihrer Rückkehr begann die Suche nach einem Anknüpfungspunkt an ihr früheres Schaffen. Sie kehrte als vollkommen andere Schauspielerin auf die deutschen Bühnen zurück. Dies ist nicht nur ihrem Alter geschuldet. Viele Zeitungen nahmen das Erscheinen des Buchs zum Anlass für Berichte über Durieux’ Anfänge und Entwicklung als Schauspielerin sowie ihr Privatleben. Vgl. dazu: AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 585.1–11. Vgl. Landgrebe 1956, S. 2. Nach Hämmerle besteht ein Zusammenhang von Krisenerfahrung und autobiographischer Produktion: »Gerade Situationen der existentiellen Bedrohung und der Angst, ebenso wie die Erfahrung mit Flucht, Trennung und Einsamkeit verstärken allgemein das Bedürfnis nach autobiographischer Selbstreflexion.« Hämmerle, Christa: Nebenpfade – Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtsvergleichender Perspektive, in: Winkelbauer 2000, S. 135–168, hier : S. 160. Die Quellen werden an den entsprechenden Stellen der vorliegenden Arbeit zitiert.

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Es existieren diverse Publikationen mit Quellensammlungen zu Durieux, die alle mit Fotografien, Karikaturen und anderen Porträts bebildert sind. Fast alle diese Materialsammlungen beinhalten Kritiken zu Durieux’ Stücken, die eine wertvolle Grundlage für diese Forschungsarbeit bilden.61 Zu ihrem 80. Geburtstag gaben einige »Freunde« ein Heft mit Beiträgen heraus, die sich an Durieux’ Anfänge und Karriere erinnern.62 Joachim Werner Preuß, der an Durieux’ Meine ersten neunzig Jahre mitarbeitete, veröffentlichte 1965 eine Quellensammlung mit einer einleitenden Biographie von ihm sowie Beiträgen von Durieux selbst und von Zeitgenossen aus unterschiedlichen Entstehungsjahren. Darin gibt es außerdem eine chronologische Zusammenstellung von Kritiken, z. T. leider ohne genaue Herkunfts- und Zeitangabe.63 1997 erschien begleitend zur Ausstellung Dame, Kaiserin, Luder : die Rollen der Tilla Durieux der Theaterwissenschaftlichen Sammlung in Köln ein fotografisch bebildertes Heft mit einer Einleitung von Renate Möhrmann, eigenen Texten von Durieux und Kritiken.64 Auf der Basis der Sammlung des Tilla-Durieux-Archivs (TDA) der Akademie der Künste in Berlin wurde 2004 der Band Tilla Durieux – »Der Beruf der Schauspielerin« publiziert.65 Das Archiv besitzt die umfangreichste Sammlung von Dokumenten und Materialien über Durieux, die hauptsächlich auf die Erbin des Durieux-Nachlasses, Erika Dannhoff, zurückgeht. Die meisten Archivalien im TDA stammen aus Durieux’ Besitz, nur wenige wurden angekauft. Dazu zählen Fotografien, Alben mit Zeitungskritiken, Programmhefte, persönliche Dokumente, Vortragsmanuskripte, Typoskripte eigener Texte, Karikaturen und weitere Porträts. Das Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin besitzt 31 Tagesnotizkalender von 1920 bis 1971 und weitere Dokumente aus Durieux’ Besitz. 2009 gab Dagmar Walach Tagebuchaufzeichnungen aus dem Zeitraum von 1920 bis 1933 und Texte von Durieux aus dem 61 Was Holschbach für zwei Schauspielerinnen des 19. Jahrhunderts, Charlotte Wolter und Clara Ziegler festgestellt hat, gilt auch für Durieux: Die Theaterkritiken geben zwar einen Eindruck von der Schauspielerei, sind jedoch »als eine Konstruktion aus kanonisierten kritischen Diskursen, ästhetischen Idealen bzw. Vorurteilen und nicht zuletzt Gender-Zuschreibungen zu werten«. Holschbach, Susanne: Vom Ausdruck zur Pose. Theatralität und Weiblichkeit in der Fotografie des 19. Jahrhunderts, Diss., Berlin 2006, S. 181. Da die Kritiken von Durieux in dieser Arbeit nicht zur Bewertung ihres Schauspielstils verwendet werden, ist ihre »Objektivität« belanglos. Stattdessen interessieren hier die Formen von Selbst- und Fremdinszenierung, die über die Kritiken zum Ausdruck kommen, bzw. durch die Kritiken hervorgebracht und gefestigt werden. 62 Haas, Willy (Hg.): Tilla Durieux zum 80. Geburtstag am 18. 8. 1960. Gewidmet von ihren Freunden, Berlin 1960. 63 Preuß, Joachim Werner (Hg.): Tilla Durieux. Porträt der Schauspielerin. Deutung und Dokumentation, Berlin 1965. 64 Hellhammer, Anja/Müller, Hedwig (Hg.): Dame, Kaiserin, Luder : Die Rollen der Tilla Durieux, Ausst.kat., Köln 1997. 65 Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004.

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Besitz des Instituts heraus.66 Dazu erschien ein Kommentarband mit nützlichen Informationen zu genannten Personen und Ereignissen.67 Nach diesem Überblick über die in meiner Arbeit herangezogenen Quellen, folgt eine Darlegung der verwendeten Sekundärliteratur. In Bezug auf das Bild, das die Zeitgenossen von Durieux hatten, hat Ruff mit ihrer kulturhistorischen Diplomarbeit Tilla Durieux. Selbstbilder und Images der Schauspielerin von 2007 Vorarbeit geleistet.68 In der vorliegenden Dissertation werden die von Ruff, anhand von Selbstzeugnissen und Kritiken, herausgearbeiteten Images von Durieux durch eigene Quellenarbeit erweitert und spezifiziert. In der vorliegenden kunsthistorischen Arbeit sind die Bildnisse Ausgangspunkt und Gegenstand der Untersuchung. Über die von Ruff dargelegte Medienberichterstattung hinausgehend werden die Vorstellungsbilder von Durieux als »tatsächliche« Bilder in Form von bildkünstlerischen Porträts behandelt. Durieux’ Darstellungsstil wurde bisher keine monographische Arbeit gewidmet. Eine Analyse der von ihr verkörperten Rollenfiguren, wie sie Niemann beispielsweise für Gertrud Eysoldt geschrieben hat69, steht noch aus. Die bereits genannte Publikation zur Ausstellung Dame, Kaiserin, Luder : die Rollen der Tilla Durieux beinhaltet keine Rollenanalyse.70 Die einzige umfangreichere Annäherung an Durieux’ Darstellungsstil gibt Viering in einem Aufsatz, in dem er Durieux als Beispiel für seine Abhandlung über das Bild der modernen Schauspielerin in der zeitgenössischen Theaterkritik, unter Verwendung von Äußerungen Heinrich Manns, heranzieht.71 Krahmers Beitrag Gefühl und Technik. Tilla Durieux und das Paradox des Schauspielers in der Festschrift für Konrad Feilchenfeldt bezieht sich auf Tagebuchaufzeichnungen des mit Durieux bekannten Kunstschriftstellers Julius Meier-Graefe.72 Meier-Graefe nahm eine, seinen Worten nach »entsetzliche« Aufführung mit Durieux zum Anlass für sein negatives Urteil über das Theaterschaffen der Zeit, das sich in die damalige Debatte um konträre Positionen der darstellenden Kunst einreiht. 66 Walach 2009a. 67 Walach 2009b. 68 Ruff, Melanie: Tilla Durieux. Selbstbilder und Images der Schauspielerin, Dipl., Wien 2007, Elektronische Ressource. 69 Niemann, Carsten: Die Schauspielerin Gertrud Eysoldt als Darstellerin der Salome, Lulu, Nastja, Elektra und des Puck im Berliner Max-Reinhardt-Ensemble, Diss., Frankfurt am Main 1993. 70 Hellhammer/Müller 1997. 71 Viering, Jürgen: Die Schauspielerin als Vertreterin der Modernität. Über die Darstellung der Schauspielerin im Frühwerk Heinrich Manns und das Bild der modernen Schauspielerin in der zeitgenössischen Theaterkritik, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jg. 18, 1986, S. 8–75. 72 Krahmer, Catherine: Gefühl und Technik. Tilla Durieux und das Paradox des Schauspielers, in: Feilchenfeldt/Christophersen/Wiedenmann 2004, S. 359–363.

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Biographische Texte über Durieux sind zahlreich vorhanden. Es gibt diverse Kurzbiographien in Sammelbänden, die alle auf ihrer Autobiographie basieren und z. T. schlichtweg Auszüge daraus sind. Die meisten Texte sind mit Fotografien, einige auch mit anderen Porträts von Durieux bebildert. Als Repräsentantin einer »Berlinerin« wird Durieux bei Sichelschmidt73, Wirth74, Hildebrandt75 und Freydank76 aufgeführt. Unter diesen ist Freydanks reflektierende und kontextualisierende Zusammenfassung von Durieux’ Lebensstationen hervorzuheben. In dem 1989 erschienenen Nachdruck zu Große Schauspieler um Max Reinhardt mit 24 Schauspielerporträts von Klaus Richter, herausgegeben von Marcus Bier, geht Völker in dem Beitrag über Durieux auch auf ihre Schauspielerei ein.77 Im Zusammenhang mit Durieux’ Emigration wird das Leben und Wirken der Schauspielerin in einem Beitrag von Pohl in einem Sammelband von 2002 über Schauspielerinnen im Exil gut recherchiert behandelt.78 Ebenso wird Durieux als Beispiel einer Exilantin in Wenigers Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 194579 angeführt sowie in Moses fotografischem Bildband Deutschlands Emigranten80. Auch in Zusammenstellungen über bedeutende Schauspieler kommt Durieux vor. In Steegmanns/Kaechs Frauen im Rampenlicht folgen nach einer Einleitung Auszüge aus Durieux’ Autobiographien Eine Tür steht offen und Meine ersten neunzig Jahre unter der Überschrift Kampf auf allen Linien.81 Ebenso handelt es sich in Struckmeyers »Auf einmal war ich berühmt…« Große Schauspieler er73 Sichelschmidt, Gustav : Große Berlinerinnen. 16 biographische Porträts, Berlin 1972, S. 115– 121. 74 Wirth, Irmgard: Berlinerinnen. Bekannte und unbekannte Frauen in Berlin aus drei Jahrhunderten, Ausst.kat., Berlin 1975, S. 9. 75 Hildebrandt, Irma: Acht Jahrzehnte Theater. Tilla Durieux (1880–1971), in: Zwischen Suppenküche und Salon. Achtzehn Berlinerinnen, hg. v. ders., Köln 1987, S. 99–106. Der Text Acht Jahrzehnte Theater basiert auf Auszügen aus Durieux’ Autobiographien und ist einige Jahre später identisch veröffentlich worden: Hildebrandt, Irma: Acht Jahrzehnte Theater. Tilla Durieux (1880–1971), in: Große Frauen. Porträts aus fünf Jahrhunderten, hg. v. ders., München 2008, S. 299–308. 76 Freydank, Ruth: Tilla Durieux, in: Stadtbild und Frauenleben. Berlin im Spiegel von 16 Frauenporträts, hg. v. Henrike Hülsbergen, Berlin 1997, S. 315–334. 77 Völker, Klaus: Tilla Durieux, in: Schauspielerportraits von Klaus Richter. Grosse Schauspieler um Max Reinhardt, Nachdruck, hg. v. Marcus Bier, Berlin 1989, S. 32–40. 78 Pohl, Astrid: Salom8 auf der Flucht. Tilla Durieux und das Exil deutschsprachiger Schauspielerinnen in der Schweiz, in: Flucht durch Europa. Schauspielerinnen im Exil, hg. v. Jürgen Felix, Marburg 2002, S. 71–107. 79 Weniger, Kay : »Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben …«. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht, Hamburg 2011, S. 144–146. 80 Moses, Stefan: Deutschlands Emigranten, Passau 2013, S. 72–73. 81 Steegmann, Monica/Kaech, Ingrid: Tilla Durieux, 1880–1971 – Kampf auf allen Linien, in: Lebensberichte berühmter Schauspielerinnen von Eleonora Duse bis Marlene Dietrich, hg. v. dies., Frankfurt am Main 2004, S. 97–160.

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innern sich an ihre Erfolge um Auszüge aus Meine ersten neunzig Jahre.82 Die neueste, eigenständige Zusammenfassung der Vita der »Grande Dame des Theaters« in Aufsatzform gibt Unger 2009 in ihrem Buch Faszinierende Frauen.83 Es gibt nur zwei monographische Biographien über Durieux. Möhrmanns Doppelbiographie des Paares Durieux-Cassirer mit dem Untertitel Bühnenglück und Liebestod von 1997 ist bei leichter Lesbarkeit informativ und enthält einige gute Interpretationen der Autorin.84 Nicht viel Neues bietet die acht Jahre später erschienene Durieux-Biographie von Rai, die sich fast ausschließlich auf die Autobiographie der Schauspielerin stützt und kaum Nachweise anführt.85 Zu den Porträts von Durieux gibt es zwar einzelne Publikationen, in ihrer Gesamtheit sind sie jedoch bisher nicht behandelt worden. Ebenfalls ist noch keine umfassende Einordnung in den kunst- und theaterhistorischen Kontext erfolgt. Diese Lücke in der bisherigen Forschung möchte die vorliegende Arbeit schließen, indem sie die erste Monographie zu den Porträts von Tilla Durieux darstellt. Quellen für Porträts von Durieux sind historische Zeitschriften86, Auktionskataloge87 und die großen Berliner Tageszeitungen88. Eine erste Zusammenstellung von Hinweisen auf Bildnisse der Tilla Durieux veröffentlicht Imiela 1968 in seiner Slevogt-Monographie.89 Die am tiefsten gehende Untersuchung zu Durieux’ Porträts gibt Vogelberg in ihrer Dissertation, in der sie Durieux als eines von drei Beispielen für ein »Kultmodell« an der Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert anführt. Sie behandelt Durieux’ Porträts von Ernst Barlach, Hermann Haller, Olaf Gulbransson, Oskar Kokoschka, Auguste Renoir, Max Oppenheimer, Franz von Stuck, Felix Albrecht Harta und Emil Orlik.90 82 Struckmeyer, Bernhard (Hg.): »Auf einmal war ich berühmt…« Große Schauspieler erinnern sich an ihre Erfolge, München 2004, S. 11–27. 83 Unger, Petra: Grand Dame des Theaters. Tilla Durieux (1880–1971), in: Mut zur Freiheit. Faszinierende Frauen, bewegte Leben, hg. v. ders., Wien 2009, S. 21–31. 84 Möhrmann, Renate: Tilla Durieux und Paul Cassirer. Bühnenglück und Liebestod, Berlin 1997. 85 Rai, Edgar : Tilla Durieux. Eine Biografie, Berlin 2005. 86 Vgl. dazu das Kapitel VI dieser Arbeit. Von den deutschen Kunstzeitschriften sind Kunst und Künstler, Die Kunst für Alle, Deutsche Kunst und Dekoration, Kunstchronik, Jugend und Simplicissimus zu nennen. Auch die illustrierten Kunst- und Kulturmagazine Der Querschnitt und Der Sturm, das Gesellschaftsblatt Sport im Bild sowie Theaterzeitschriften, z. B. Das Theater, halten Informationen über Porträts von Tilla Durieux bereit. 87 Bei dem Projekt »Kunst – Auktionen – Provenienzen. Der deutsche Kunsthandel im Spiegel der Auktionskataloge der Jahre 1901 bis 1929« wurde begonnen, die zwischen 1901 und 1929 in Deutschland, Österreich und der Schweiz erschienenen Auktionskataloge zu digitalisieren und online zugänglich zu machen. Es gibt zahlreiche Treffer im Zeitraum von 1917 bis 1944 zu »Tilla Durieux«. http://artsales.uni-hd.de, Stand vom 13. 04. 2014. 88 Von den Tageszeitungen hatte vor allem der Berliner Börsen-Courier eine gute Berichterstattung über Ausstellungen in der Hauptstadt. 89 Vgl. Imiela 1968, FN 29, S. 375. 90 Vgl. Vogelberg, Gabriele Maria: Künstler und Modell. Zwischen Imagination und Wirk-

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Vogelberg hat außerdem einen hilfreichen Katalog mit den ihr bekannten Porträts von Durieux erstellt.91 Auch wenn die Betrachtung der Porträts von Durieux unter dem Aspekt »Kultmodell« sinnvoll ist, sind Vogelbergs Werkinterpretationen zu frei angelegt und ihre Aussagen tendieren stellenweise zu Generalisierungen. Ein relativ unvollständiges Porträt-Verzeichnis, im Vergleich zu Vogelberg, stellt Prescher unter der Überschrift Hinweise auf Tilla Durieux in der bildenden Kunst in der sonst ausgezeichneten Publikation des Archivs der Akademie der Künste zusammen.92 Preschers Liste wird von Perlhefter in einem Aufsatz von 2006 übernommen, in dem diese Durieux’ Ruf als »meistporträtierte Frau ihrer Zeit« und Cassirers Rolle bei der Entstehung der Bildnisse thematisiert.93 Anders als der Titel erwarten lässt, ist es weniger ein kunsthistorischer als ein historischer Aufsatz, der nicht über Aufzählungen einiger Porträts hinausgeht, aber dennoch einige Anregungen für die vorliegende Arbeit enthält. In der Veröffentlichung Tilla Durieux und ihre Kunstsammlung im Museum der Stadt Zagreb stellt Sˇterk überblicksweise verschiedene Porträts von Durieux vor, allerdings steht der kunsthistorische Aspekt nicht im Zentrum.94 Seine Zusammenstellung ist – neben einer unveröffentlichten Liste aus dem Museum der Stadt Zagreb und Dokumenten aus Durieux’ Nachlass im TDA – eine der ergiebigsten Informationsquellen über die Porträts aus Durieux’ Besitz. Bei Ruff gibt es einen sehr kurzen Abschnitt zum Mythos der »meist gemalte[n] Künstlerin«, in dem sie Durieux’ Porträts von Renoir und Corinth erwähnt.95 In Monographien, Werkverzeichnissen und anderen Publikationen über einzelne Porträtisten finden Durieux’ Porträts Erwähnung. Wegen der Vielzahl der Künstler können diese hier jedoch nicht alle aufgeführt werden. In etlichen Ausstellungen der letzten Jahre wurden Porträts von Durieux gezeigt und in den zugehörigen Katalogen besprochen. Im Folgenden wird eine Auswahl von Beispielen genannt, um die Gegenwärtigkeit von Durieux’ Porträts anzudeuten. Durieux-Porträts von Barlach, Gulbransson, Haller und Orlik waren 2003 in der

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lichkeit: Untersuchung zum Modellkult zwischen 1860 und 1920, Diss., Frankfurt am Main 2005, S. 256–344. Vogelberg 2005, S. 368–373. Prescher, Ina: Hinweise auf Tilla Durieux in der bildenden Kunst, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 150–151. Mittlerweile gibt es neue Erkenntnisse, z. B. das Porträt von Julie Wolfthorn (AdK, Kunstsammlung, Inv.Nr. MA 256), das Prescher als Porträt von Tilla Durieux als Judith in Anlehnung an das Werkverzeichnis von Carstensen aufführt (Carstensen 2011, WV Nr. 153), stellt nicht Durieux, sondern Käthe Parsenow dar, wie Silke Helling im Rahmen ihrer bisher unpublizierten Dissertation über Else Frobenius herausgefunden hat. Telefonische Auskunft der Autorin. Perlhefter, Verena: »Andere halten sich Rennpferde…«: Tilla Durieux. Schauspielerin und meistporträtierte Frau ihrer Zeit, in: Belvedere, Jg. 12, Heft 1, 2006, S. 32–45. Sˇterk 2006. Vgl. Ruff 2007, S. 101–103.

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Ernst Barlach Stiftung zu sehen.96 2006 zeigte die Ausstellung Ein Fest der Künste – Paul Cassirer, der Kunsthändler als Verleger im Berliner Max-LiebermannHaus Durieux-Porträts von Barlach, Oppenheimer, Haller und Slevogt.97 2002 war Kokoschkas gemaltes Bildnis Tilla Durieux bei der Kokoschka-PorträtAusstellung in New York und Hamburg vertreten.98 Das Jüdische Museum Wien präsentierte 1994 Oppenheimers gemaltes Bildnis Tilla Durieux.99 Renoirs Durieux-Porträt ist in dem Katalog des New Yorker Metropolitan Museums von 2007 enthalten.100 2008 war Riess’ Fotografie von Durieux in einer Ausstellung des Verborgenen Museums in der Berlinischen Galerie zu sehen.101 Stucks Mischtechnik-Version auf Pappe von Tilla Durieux als Circe wurde 2008/2009 in der Villa Stuck102, 2009 im Max Liebermann Haus103 und 2016, zusammen mit der Pastellkreidezeichnung, im Wiener Belvedere104 gezeigt. 1999 war Stucks Berliner Gemäldeversion bei der Ausstellung Kampf der Geschlechter im Münchner Lenbachhaus vertreten.105 In dem Katalog zur Ausstellung Franz von Stuck und die Photographie sind seine vorbereitenden fotografischen Aufnahmen für die Rollenporträts enthalten.106 Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin war 2008 eines der Exponate in der Wanderausstellung Lovis Corinth und die Geburt der Moderne. Ebenso präsentierte es 2007 die Ausstellung Tänzerinnen um Slevogt zusammen mit Slevogts Tilla Durieux als Weib des Potiphar.107 Letzteres war 1992 zusammen mit Slevogts Porträtkopf Tilla Durieux 96 Thieme, Helga/Probst, Volker (Hg.): Berlin SW – Victoriastraße 35. Ernst Barlach und die Klassische Moderne im Kunstsalon und Verlag Paul Cassirer, Ausst.kat., Güstrow 2003, Kat.Nr. 10, 11, 30. 60, 61, 91, 92. 97 Feilchenfeldt, Rahel E./Raff, Thomas (Hg.): Ein Fest der Künste. Paul Cassirer, der Kunsthändler als Verleger, München 2006. 98 Natter, Tobias G. (Hg.): Oskar Kokoschka. Das moderne Bildnis 1909 bis 1914, Ausst.kat., Köln 2002, S. 146. 99 Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.): MOPP. Max Oppenheimer 1885–1954, Ausst.kat., Wien 1994, S. 104–105. 100 The Metropolitan Museum of Art: The Clark Brothers Collection. Impressionist and Early Modern Paintings, Ausst.kat., New York 2007, Nr. 346. 101 Beckers, Marion/Moortgat, Elisabeth/Ehrsam, Thomas (Hg.): Die Riess. Fotografisches Atelier und Salon in Berlin 1918–1932, Berlin/Tübingen 2008, S. 66. 102 Brandlhuber, Margot: Katalog, in: Brandlhuber/Buhrs 2008, S. 9–99, hier: S. 91. 103 Stiftung Brandenburger Tor (Hg.): Künstlerfürsten. Liebermann. Lenbach. Stuck, Ausst.kat., Berlin 2009, S. 149. 104 Husslein-Arco, Agnes/Klee, Alexander (Hg.): Sünde und Secession. Franz von Stuck in Wien, Ausst.kat., Wien 2016. 105 Eschenburg, Barbara/Friedel, Helmut (Hg.): Der Kampf der Geschlechter. Der neue Mythos in der Kunst 1850–1930, München/Köln 1995, Kat.Nr. 62, S. 162. 106 Birnie-Danzker, Jo-Anne/Pohlmann, Ulrich/Schmoll gen Eisenwerth, Josef A. (Hg.): Franz von Stuck und die Photographie. Inszenierung und Dokumentation, Ausst.kat., München/ New York 1996, Kat.Nr. 82–85, S. 151–152. 107 Paas, Sigrun: Katalogbeitrag über Tilla Durieux, in: Frankhäuser/Krischke/Paas 2007, S. 88–93.

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bei einer umfangreichen Slevogt-Wanderausstellung zu sehen.108 In ihrem Katalogbeitrag Max Slevogt und das Theater. Die Entwicklung des SchauspielerRollenporträts zur Ausstellung Max Slevogt – Die Berliner Jahre von 2005 stellt Schenk mehrere Rollenporträts von Slevogt, u. a. von Durieux, vor und ordnet sie in das Schaffen des Malers ein.109 In der Ausstellung des Landesmuseums Mainz von 2014, Max Slevogt. Neue Wege des Impressionismus, wurde Slevogts Gemälde Till Durieux als Weib des Potiphar und eine vorbereitende Skizze präsentiert.110 Das Schauspielerporträt als Sondergattung des Porträts spielt in der kunsthistorischen Forschung eine untergeordnete Rolle. Es gibt keine kunsthistorische, monographische Abhandlung über deutsche Schauspielerporträts des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die meisten Arbeiten über Schauspielerporträts stammen aus dem Bereich der Theaterwissenschaft und behandeln diese als Bilddokumente für diverse Aspekte der Theatergeschichte. Alle Forscher sind sich einig, dass sie quellenkritisch zu betrachten sind. Auch die theaterwissenschaftlichen Arbeiten beinhalten jedoch Informationen und Beispiele über und für die Geschichte und Entwicklung der Bildnisgattung »Schauspielerporträt«. Die Untersuchungen nehmen v. a. bestimmte Länder und Epochen, bzw. beide Kategorien kombiniert, in den Blick. Es überwiegen das 18. Jahrhundert und die Länder England, Frankreich und Deutschland. Eine der frühen theaterwissenschaftlichen Publikationen zu deutschen Schauspielerdarstellungen des 18. Jahrhunderts ist die Dissertation von Klara.111 Vom Kostüm ausgehend ordnet er die Theaterkleidung in den Kontext der theatralischen Darstellungsweise ein. Ebenso behandelt Klara in einem Manuskript, das erst 2005 posthum herausgegeben wurde, Theaterbilder allgemein, ohne spezielle Hervorhebung des Schauspielerporträts.112 Auch Kelchs theaterwissenschaftliche Arbeit Theater im Spiegel der bildenden Kunst bezieht sich auf das 18. Jahrhundert.113 Obwohl er einen Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich anstrebt, führt er weitaus mehr französische Beispiele an. Den Erkenntniswert der von ihm 108 Güse, Ernst-Gerhard/Imiela, Hans Jürgen/Roland, Berthold: Max Slevogt. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Ausst.kat., Stuttgart 1992, Nr. 74, S. 444, Nr. 157, S. 462. 109 Schenk, Carola: Max Slevogt und das Theater. Die Entwicklung des Schauspieler-Rollenporträts, in: Fehlemann/Hartje 2005, S. 146–155. 110 Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz (Hg.): Max Slevogt. Neue Wege des Impressionismus, Ausst.kat., München 2014, S. 166–167. 111 Klara, Winfried: Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung. Entwicklungsfragen des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert, Diss., Berlin 1931. 112 Klara, Winfried: Theaterbilder. Ihre grundsätzliche Bedeutung und ihre Entwicklung bis auf Jacques Callot, hg. v. Antonius Jammers, Ingolf Lamprecht und Dagmar Walach, Berlin 2005. 113 Kelch, Werner : Theater im Spiegel der bildenden Kunst. Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1938.

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analysierten »theaternahen Bilder« für die Theaterwissenschaft beurteilt er positiv. In seiner opulenten kunstgeschichtlichen Untersuchung Barocktheater und barocke Kunst behandelt Tintelnot in einem Kapitel malerische Schauspielerporträts aus Italien, Frankreich, England und marginal aus Deutschland. Es ist Tintelnots Verdienst, erstmals so viele Beispiele aus verschiedenen Ländern gesammelt zu haben, auch wenn er sie nur überblicksweise vorstellt.114 20 Jahre später erschien die Dissertation des Kunsthistorikers Lemmer Schauspieler und Schauspielkunst als Motiv in der Malerei, die besonders das Rollenporträt in den Blick nimmt.115 Er zieht Werke in Form von Stichen nach Gemälden des 18. Jahrhunderts aus Frankreich, Deutschland und England heran. Die dort angekündigten zukünftigen Publikationen über das deutsche Schauspielerporträt sind nie herausgekommen.116 Der Panofsky-Schüler Wind veranschaulicht 1930/31 in seinem Aufsatz Humanitätsidee und heroisiertes Porträt in der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts die unterschiedliche künstlerische Auffassung von Reynolds und Gainsborough u. a. anhand von Schauspielerporträts von David Garrick und Sarah Siddons.117 Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich durch die übereinstimmenden Stile von Künstler und Schauspieler eine fruchtbare Zusammenarbeit ergab. Auch die jüngere Kunst-, Kultur- und Theaterwissenschaft leistet ihren Beitrag zur Erforschung der Geschichte und Entwicklung des Schauspielerporträts. Von ähnlichen Überlegungen wie Wind ausgehend zeigt Busch in seiner vergleichenden Analyse zweier Porträts von David Garrick von den, mit dem Schauspieler befreundeten, Künstlern Hogarth und Reynolds, wie stark die Porträts von den jeweiligen »künstlerischen und kunsttheoretischen Positionen« ihrer Schöpfer beeinflusst sind.118 Aufbauend auf Wind und Busch weist Gockel die gegensätzlichen 114 Tintelnot, Hans: Barocktheater und barocke Kunst. Die Entwicklungsgeschichte der Festund Theater-Dekoration in ihrem Verhältnis zur barocken Kunst, Diss., Berlin 1939. 115 Lemmer, Klaus Joachim: Schauspieler und Schauspielkunst als Motiv in der Malerei. Ein Beitrag zur Geschichte des Porträts unter besonderer Berücksichtigung des Rollenbildes dargestellt am Beispiel Frankreichs und Deutschlands in der Periode des Barock und Rokoko und Englands zur Blütezeit der englischen Malerei, Diss., Berlin 1957. Lemmers Definition des »Rollenbilds«, wonach der Schauspieler »in Kostüm und Pose« in einer tatsächlichen Rolle dargestellt sein muss, ist meiner Meinung nach zu eng gefasst. 116 Lemmer veröffentlichte nach seiner Dissertation zwei darauf aufbauende Arbeiten, die einmal französische Schauspielerporträts des 18. Jahrhunderts und das andere Mal englische Schauspieler-porträts vom 17. bis zum 19. Jahrhundert thematisieren. Lemmer, Klaus Joachim: Französisches Barocktheater im Bild, Berlin 1963; Lemmer, Klaus Joachim: Englisches Theater. Bilder aus drei Jahrhunderten, Berlin 1962. 117 Wind, Edgar : Humanitätsidee und heroisiertes Porträt in der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts, in: ders. 2009, S. 112–236. Der Auszug über »Schauspielerporträts« ist abgedruckt in: Wind, Edgar : Schauspielerporträts, in: Möhrmann 1990, S. 107–128. 118 Busch, Werner : Hogarths und Reynolds’ Porträts des Schauspielers Garrick, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Jg. 47, 1984, S. 82–99.

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Imagebildungen in Gainsboroughs und Reynolds’ Bildnissen des Schauspielers David Garrick nach.119 Sie schlussfolgert, dass die Porträts nicht nur das künstlerische Selbstverständnis der Maler und den kunsttheoretischen Diskurs der Zeit widerspiegeln, sondern auch die Bewertung des »künstlerischen und sozialen Status« von Garrick durch die Porträtisten. Einen Einblick in die speziell weiblichen Ausprägungen des Schauspielerporträts gibt Möhrmann in ihrem Beitrag in einem Sammelband über die Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Für die Porträts englischer und französischer Schauspielerinnen des 18. Jahrhunderts konstatiert sie keine Herausbildung einer spezifischen Schauspielerinnen-Ikonographie.120 Die Differenzierung zwischen Rollen- und Zivilporträts von Schauspielern, die in der vorliegenden Arbeit angewendet wird, geht auf Balks beispielreiche Darstellung der Geschichte der Theaterfotografie zurück.121 Der ausführlichste Beitrag zum deutschen Schauspielerrollenporträt ist die nach wie vor maßgebende Dissertation von Schartner Die Geschichte des Rollenporträts in Deutschland von 1962, die Graphiken und Gemälde vorstellt und auch Beispiele des beginnenden 20. Jahrhunderts anführt.122 Mit Schartners sinnvoller Einteilung der Untergattung stellt sie das Handwerkszeug zur Analyse von Schauspielerrollenporträts (Vgl. Kapitel IV.1.2) bereit. Kluxen sieht die Gründe für die englischen Impulse für das deutsche Schauspielerrollenporträt, die sie exemplarisch für den Einfluss des englischen Porträts auf das deutsche Porträt von 1760 bis 1848 heranzieht, – genauso wie Schartner – in der dort früher einsetzenden Wertschätzung der Schauspieler.123 Die opulenten Bestandskataloge zwei der bedeutendsten Sammlungen mit Schauspielerporträts in Deutschland, das Deutsche Theatermuseum München124 und die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln125, sind durch Auflistung und Abbildung der Schauspielerporträts aus den Be119 Gockel, Bettina: »Ich bin nicht, was ich spiele.« Gainsboroughs und Reynolds’ Bildnisse des Schauspielers David Garrick, in: Köstler/Seidl 1998, S. 215–234. 120 Möhrmann, Renate: Die Dame mit der Maske. Schauspielerinnen in der Malerei des 18. Jahrhunderts, in: ders. 1989b, S. 117–126. 121 Balk, Claudia: Theaterfotografie. Eine Darstellung ihrer Geschichte anhand der Sammlung des Deutschen Theatermuseums, Ausst.kat., München 1989. 122 Schartner, Marianne: Die Geschichte des Rollenporträts in Deutschland. Ein Beitrag zur Ikonographie der Schauspielkunst, Diss., München 1962. 123 Kluxen, Andrea M.: Das Ende des Standesporträts. Die Bedeutung der englischen Malerei für das deutsche Porträt von 1760 bis 1848, Diss., München 1989. 124 Schöne, Günther (Hg.): Porträtkatalog des Theatermuseums München. Die graphischen Einzelblätter A–L, Bd. 1,1, Wilhelmshaven 1978; Schöne, Günther (Hg.): Porträtkatalog des Theatermuseums München. Die graphischen Einzelblätter M–Z, Bd. 1,2, Wilhelmshaven 1978; Schöne, Günther (Hg.): Porträtkatalog des Theatermuseums München. Die graphischen Serien, Bd. 2, Wilhelmshaven 1981. 125 Flatz, Roswitha: Theaterhistorische Porträtgraphik. Ein Katalog aus den Beständen der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln, Berlin 1995.

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ständen sehr aufschlussreich für die Genese der Gattung.126 Die Einführungen der Kataloge sowie beschreibende und einordnende Texte zu den Bildbeispielen bieten weiteres Material. Das Theatermuseum München veröffentlichte außerdem 1998 einen reich bebilderten Katalog zur Ausstellung Bühnenstars. Bilder von Schauspielern, Sängern und Tänzern aus vier Jahrhunderten, in dem u. a. Schauspielerporträts aus verschiedenen Ländern von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert versammelt sind.127 Es gibt diverse Einzeluntersuchungen zu Porträts bestimmter Schauspieler und Schauspielerinnen, von denen einige den Aspekt der Inszenierung fokussieren. Die interdisziplinäre Ausrichtung der vorliegenden Dissertation führt dazu, dass auch Arbeiten relevant sind, die nicht aus dem Fach Kunstgeschichte kommen, solange die Porträts als Teil der Inszenierung behandelt werden. Seewalds 2007 erschienene kunsthistorische Dissertation Theatrical Sculpture über die Skulpturen von David Garrick und Sarah Siddons (darunter auch Selbstporträts von Siddons) bietet in Bezug auf die Porträtfunktionen eine strukturelle Orientierungsmöglichkeit für die vorliegende Arbeit.128 Seewald belegt, auf welche Weise die Porträts der beiden englischen Schauspieler Garrick und Siddons ihnen zur Selbstinszenierung dienten und spricht die Nutzung von Schauspielerporträts als Massenware an. Der Katalog zu drei Ausstellungen im Deutschen Theatermuseum München Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit von Balk behandelt Porträts von Clara Ziegler, Sarah Bernhardt und Eleonora Duse. Balk verdeutlicht darin, dass sich die bildliche Inszenierung der drei Schauspielerinnen jeweils an einem anderen Weiblichkeitstypus orientierte.129 Die königlich bayerische Hofschauspielerin Clara Ziegler ist außerdem, zusammen mit der Wiener Burgschauspielerin Charlotte Wolter, Gegenstand in einem Kapitel von Holschbachs Dissertation Theatralität und Weiblichkeit in der Fotografie des 19. Jahrhunderts.130 Bei beiden Schauspielerinnen weist Holschbach das Vorhandensein eines festen Kanons an fotografischen Inszenierungsformen nach. Fotografien des Wiener »Superstars« Wolter werden 126 Eine Zusammenstellung von Bildmaterial gibt außerdem die seit 2006 als CD-ROM erhältliche Datenbank Dionysos. Archivio di iconografia teatrale der Universität Florenz mit 21.000 europäischen Theaterdarstellungen von der klassischen Antike bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 127 Schöne, Günther : Bühnenstars. Bilder von Schauspielern, Sängern und Tänzern aus vier Jahrhunderten, Ausst.kat., Wilhelmshaven 1998. 128 Seewald, Jan: Theatrical Sculpture. Skulptierte Bildnisse berühmter englischer Schauspieler und Schauspielerinnen (1750–1850), insbesondere David Garrick und Sarah Siddons, Diss., München 2007. 129 Balk 1994. 130 Holschbach 2006. Bereits zwei Jahre vorher veröffentlichte Holschbach einen Aufsatz zu dem Thema. Holschbach, Susanne: Fotografisches Rollenporträt und medialer Transfer – Schauspielerinnen im Atelier des 19. Jahrhunderts, in: Falkenhausen 2004, S. 205–215.

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ebenfalls in dem Katalogbeitrag von Kreutler Zur Inszenierung des Rollenporträts im 19. Jahrhundert thematisiert.131 Angelehnt an Holschbachs Argumentation betont Kreutler die durch entsprechende Bühnenrollen legitimierte erotische Inszenierung der großen Tragödin in Rollenfotografien und den Einfluss der heroischen Bühnenposen auf das Posieren vor der Fotokamera in Wolters Zivilaufnahmen. Für die Untersuchung der Selbstdarstellung von Tilla Durieux eignet sich die Französin Sarah Bernhardt als Vergleichsfigur. Thoruns theaterhistorische Studie Sarah Bernhardt. Inszenierungen von Weiblichkeit im Fin de siHcle mit gendertheoretischem Schwerpunkt behandelt Porträts ausschließlich als Bildquellen, ist aber wegen der Darlegung der verschiedenen Inszenierungsstrategien der Aktrice für die vorliegende Arbeit ergiebig.132 Ausgewählte Porträts von Bernhardt werden auch in der bereits erwähnten Dissertation von Vogelberg Künstler und Modell unter dem Aspekt »Kult« behandelt.133 Vogelberg veranschaulicht die Übereinstimmung der intendierten Selbstinszenierung der Kunstfigur Bernhardt mit der bildlichen Inszenierung durch die z. T. von ihr beauftragten Porträtisten. Ebenfalls mit Blick auf den Modellkult werden u. a. die Porträts der englischen Tragödin Sarah Siddons in der Dissertation von Gold mit dem Titel Der Modellkult um Sarah Siddons, Emma Hamilton, Vittoria Caldoni und Jane Morris analysiert. Besondere Erwähnung verdient der von der Verfasserin zusammengestellte Werkkatalog der bestehenden Porträts von Siddons, der auch ihre Karikaturen beinhaltet.134

131 Kreutler 2006. 132 Thorun 2006. Zwei Jahre später erschien ein Aufsatz von Thorun mit demselben Inhalt. Thorun, Claudia: Die Schauspielerin Sarah Bernhardt. Inszenierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Fin de siHcle, in: Oster/Ernst/Gerards 2008, S. 285–295. 133 Vogelberg 2005. 134 Gold, Amrei I.: Der Modellkult um Sarah Siddons, Emma Hamilton, Vittoria Caldoni und Jane Morris. Ikonographische Analyse und Werkkatalog, Diss., Münster 2009, Elektronische Ressource.

III.

Biographisches

III.1 Tilla Durieux, eine »Fanatikerin des Theaters« Tilla Durieux wurde am 18. August 1880 als Ottilie Helene Angela Godeffroy in Wien geboren und evangelisch getauft.135 Ihr Vater Dr. phil. Richard Max Viktor Godeffroy (1847–1895) von hugenottischer Herkunft136 war Chemieprofessor an der Wiener Universität. Die aus Ungarn stammende Mutter Adelheid Ottilie Augustine Godeffroy (1847–1920, geb. Hrdliczka) hatte bei Teodor Leszetycki (1830–1915) Pianistin gelernt.137 Das Verhältnis zur Mutter war bis zu deren Tod im Jahr 1920 von großen Differenzen geprägt. Der frühe Tod des Vaters im Jahr 1895 machte es für Durieux notwendig, die Familie zu unterstützen.138 Da ihre Mutter befürchtete, dass Ottilie wegen ihres »unschönen« Aussehens keine Ehe zur finanziellen Absicherung eingehen könne, sollte Durieux, wie sie selbst, den Beruf der Pianistin erlernen.139 Diese wollte aber seit ihrer Kindheit zur Bühne.140 Am Anfang war die Mutter gegen die Entscheidung der Tochter für die Schauspielerei, ließ sich dann jedoch überzeugen.141 Die anfängliche Ablehnung des Berufswunschs erklärt Durieux in ihrer Autobiographie in ironischem Unterton mit den vorgeschriebenen Geschlechterrollen ihrer Zeit: »Wenn einen Beruf auszuüben an sich schon damals für ein Mädchen eine Degradierung bedeutete, wieviel mehr stellte sich eine werdende Schauspielerin abseits von allem Erlaubten und Hergebrachten. Ein junges Mädchen durfte wohl malen, Klavier 135 Vgl. Loeper, Heidrun: Tilla Durieux – Daten zu Leben und Werk, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004b, S. 144–147, hier : S. 144. 136 Aus der Redereifamilie Godeffroy in Hamburg. 137 Vgl. Loeper 2004b, S. 144. 138 Vgl. Durieux 1979, S. 18. 139 Vgl. Durieux 1969, S. 91. 140 Vgl. Durieux 1979, S. 18. 141 Vgl. Durieux 1979, S. 19. Schauspielerinnen wurde noch zu Durieux’ Zeit ein lockerer Lebenswandel nachgesagt, der den bürgerlichen Idealen widersprach. Vgl. Helleis, Anna: Faszination Schauspielerin. Von der Antike bis Hollywood. Eine Sozialgeschichte, Wien 2006, S. 4.

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Biographisches

spielen, singen, nur Gott behüte nicht mit künstlerischem Anspruch, das sah schon verdächtig nach Beruf aus. Sie hatte auf den Mann zu warten, dem sie, liebend oder nicht, beglückt in eine Ehe folgte […].«142

Um dem guten Namen der Familie nicht zu schaden, änderte sie mit Beginn ihrer Bühnenlaufbahn ihren Nachnamen in Durieux, inspiriert von dem Mädchennamen ihrer Großmutter väterlicherseits, Gabrielle Josepha du Rieux.143 Durieux’ Aufstieg zum Theaterstar144 kam nicht über Nacht, sondern war ein beschwerlicher Weg. Seit 1898 besuchte sie die Theaterschule von Karl Arnau (1843–1910) in Wien und bekam 1901 ihr erstes Engagement am Königlich Städtischen Theater Olmütz, wo sie für einen Hungerlohn kleine Nebenrollen spielte.145 1902 erhielt sie einen Vertrag am Breslauer Stadttheater und machte dort die Bekanntschaft ihres ersten Ehemanns, des Malers Eugen Spiro.146 1903 begann ihr beruflicher Aufstieg, als Max Reinhardt sie ans Kleine Theater nach Berlin holte.147 Zusammen mit Spiro zog sie in »das harte, blankgeputzte Ungeheuer«148, wie sie die Hauptstadt anfangs empfand. Nach ihrem Debüt in Berlin in der Rolle der Wassil&ssa in Nachtasyl149 war sie zunächst nur eine von vielen Nachwuchsschauspielerinnen im Ensemble von Max Reinhardt.150 Ihren Durchbruch hatte sie noch in ihrem Debütjahr in der Titelrolle von Wildes Salome151, die sie als Ersatz für die erkrankte Gertrud Eysoldt übernahm. Dieses Ereignis wurde von Durieux und ihren Zeitgenossen sowie später von ihren

142 Durieux 1979, S. 20–21. 143 Vgl. Durieux 1979, S. 21. 144 Hickethier definiert einen »Theaterstar« folgendermaßen: »Als Star ist dabei eine Person zu verstehen, die durch ihre körperliche Präsenz, ihr Auftreten, ihre Gestik und Mimik nicht nur eine Rolle glaubhaft verkörpern kann, sondern darüber hinaus auch noch ein Publikum zu faszinieren und auf seine Person zu fixieren weiß.« Der Star wird zur Projektionsfläche wie er weiter ausführt: »Zum Star wird […] eine Person erst dann, wenn das Publikum in ihm auf idealisierte, überhöhte Weise Eigenschaften wiedererkennt, die es sich selbst zuschreibt.« Hickethier, Knut: Vom Theaterstar zum Filmstar. Merkmale des Starwesens um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, in: Faulstich/Korte, München 1997, S. 29–47, hier : S. 31. 145 Vgl. Durieux 1979, S. 32–33. 146 Vgl. Durieux 1979, S. 37–52. 147 Vgl. Durieux 1979, S. 44. 148 Durieux 1969, S. 23. 149 Nachtasyl von Maxim Gorki, Berlin: Kleines Theater, Premiere: 6. September 1903, Regie: Max Reinhardt, Rolle: Wassil&ssa. Alle Angaben zu Durieux’ Rollen wurden inhaltlich und formal übernommen von Loepers »Rollen-Verzeichnis Tilla Durieux«. Loeper, Heidrun: Rollen-Verzeichnis Tilla Durieux, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004a, S. 152–174. 150 Vgl. Durieux 1979, S. 45. 151 Salome von Oscar Wilde, Berlin: Neues Theater, Premiere: 29. September 1903, Regie: Max Reinhardt, Ausstattung: Max Kruse, Lovis Corinth, Rollen: Herodias/Salome.

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Biographen zum Mythos stilisiert, denn wie sie es selbst formulierte: »von diesem Tag an war ich in Berlin bekannt.«152 1903 heiratete Durieux Eugen Spiro, nach eigener Aussage auch, um dem Einfluss ihrer Mutter zu entkommen.153 Von Spiro stammen einige der frühesten Porträts von Durieux und die Schauspielerin machte mit ihm ihre ersten Erfahrungen im Modellstehen, das schnell zu einem festen Bestandteil ihres Alltags wurde. Bereits ein Jahr nach der Hochzeit kam es zur Trennung von Spiro, da Durieux den Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer, der im Jahr 1910 ihr zweiter Ehemann wurde, kennen lernte.154 1911 führten mehrere Ursachen zu Durieux’ Wechsel von Max Reinhardt zu Otto Brahm.155 Brahm, der Wegbereiter des deutschen Naturalismus, war von 1890 bis 1905 Direktor des Deutschen Theaters und bis zu seinem Tod 1912 Direktor des Lessing-Theaters.156 Ein Grund für Durieux’ Entscheidung, das Reinhardt-Ensemble zu verlassen, war das Ausbleiben neuer Aufgaben dort. Ihrer eigenen Aussage nach nahm sie Anstoß daran, dass Reinhardt nach der Premiere sein Interesse an den Stücken verlöre und die Aufführungen danach von zweitrangigen Regisseuren weiterführen ließe.157 Durieux verließ Reinhardts Ensemble auch wegen der Konkurrenz der Schauspielerinnen untereinander, vor allem mit Gertrud Eysoldt, die wegen ihrer Liaison mit Max Reinhardts Bruder und Geschäftspartner Edmund einen Vorteil gegenüber Durieux besaß.158 In einem Zeitungsartikel von 1926 wird der Einfluss von Paul Cassirer, der eine Abneigung gegen Max Reinhardt hatte, als Grund für Durieux’ Ausstieg aus dem Reinhardt-Ensemble genannt.159 Nach ihrer kurzen Episode bei Brahm 152 Durieux 1979, S. 63. 153 Vgl. Durieux 1979, S. 67. 154 Ob die Scheidung von Durieux und Spiro 1904 oder 1906 stattfand kann nicht nachgewiesen werden. In der Literatur variieren die Jahresangaben zu Heiratsschließung und Scheidung, da sich keine amtlichen Urkunden erhalten haben. Die Zeitangaben in der Autobiographie von Durieux sind oft nicht exakt. 155 Max Reinhardt war als Schauspieler von 1894 bis 1903 bei Otto Brahm engagiert und verdankte ihm die Grundlagen seiner Regieführung. Vgl. Rose, Paul: Berlins große Theaterzeit. Schauspieler-Porträts der 20er und 30er Jahre, Berlin 1969, S. 107. 156 Vgl. Loeper 2004b, S. 144. Schöne bezeichnet die 1889 erfolgte Gründung der Freien Bühne, deren Vorsitzender Otto Brahm war, als »Beginn der Moderne […] für das deutschsprachige Theater«. Schöne, Lothar : Neuigkeiten vom Mittelpunkt der Welt. Der Kampf ums Theater in der Weimarer Republik, Darmstadt 1994, S. 25. 157 Vgl. Durieux 1979, S. 119, 137. 158 Vgl. Durieux 1979, S. 138. 159 Laut dem Verfasser des Artikels Die Ehe der Durieux, der 1926 in Die Stunde erschien, habe Cassirer seine Frau zur Verbreitung seiner künstlerischen Vorstellungen genutzt und sei sogar der Grund für Durieux’ Austritt aus dem Reinhardt-Ensemble gewesen: »Die paradoxe Anschauung Paul Cassirers über neues Theater marschiert im Triumph der Tilla Durieux voran. Diese Schülerin Reinhardts sollte dem Hasse Cassirers gegen Reinhardt dienen. Paul Cassirer konnte den Leuten einreden, daß mit seiner Tilla die Reaktion gegen

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begann 1913 Durieux’ langjährige Zusammenarbeit mit Victor Barnowsky (1875–1952), der das Lessing-Theater nach Brahms Tod im Jahr 1912 übernommen hatte.160 Durieux wirkte nicht nur auf der Theaterbühne, sondern auch vor der Filmkamera.161 Den Großteil ihrer Film- und Fernsehrollen spielte sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. 1914 trat sie erstmals als Filmschauspielerin in den Stummfilmen Die Launen einer Weltdame und Der Flug in die Sonne hervor. 1915 und in den 1920er Jahren spielte sie in einigen weiteren Stummfilmen, u. a. 1929 als eines der fünf »Gehirne und Scheckbücher« in Fritz Langs Science-Fiction-Melodrama Frau im Mond. Die Doppelbetätigung bei Bühne und Film war für Schauspieler in der Anfangszeit des neuen Mediums üblich. In Anbetracht dessen war Durieux verhältnismäßig selten auf der Leinwand zu sehen.162 Ihrer Meinung nach gab es dafür u. a. äußerliche Gründe: »Noch mehr als jetzt verlangte man zu dieser Zeit schöne, junge Menschen auf der Leinwand, jung war ich, aber schön? Ich gefiel dem Kinopublikum nicht, und mir gefiel die ganze Filmarbeit nicht. Mein Gesicht eignete sich nicht, ich war kein Schönheitsideal. […] Meine Gagen waren inzwischen zu einer solchen Höhe gestiegen, daß auch der Anreiz zu Übereinnahmen durch den Film fehlte.«163

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Krankenschwester im Lazarett, während sich Paul Cassirer freiwillig an die Front gemeldet hatte. Die Zeit vom Winter 1917 bis zum Januar 1919 verbrachte das Ehepaar im Exil in der Schweiz. Durieux konnte dort nicht als Schauspielerin arbeiten, hielt aber im privaten Kreis Lesungen ab.164 1920 und 1929 war sie unter Leopold Jessner tätig, der 1919 Intendant am Preußischen Staatstheater wurde.165 Außerdem gab sie unzählige Gastspiele an Theatern im In- und Ausland, 1923 hatte sie z. B. ihr erstes Engagement in den USA, wo sie in deutscher Sprache spielte.166 Seit 1927 unter-

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die, seiner Meinung nach falsche und kitschige Reinhardt-Manier ausgebrochen sei. Nach den hysterischen Heroinen, so meinte Cassirer, die nicht deklamieren können, käme da eine Frau, die die echte, alte, aber zur Manier erstarrte Überlieferung mit Leben und Blut erfüllt. Gehen wir diesem Cassirerschen ApperÅu [sic] auf den Grund, so bleibt nur sein artistischer, aber gewiß ungerechter Zorn auf Reinhardt übrig.« Ides 1926, Österreichische Nationalbibliothek, Inv.Nr. Pf 13896:C(8). Vgl. Loeper 2004b, S. 144. Zu Durieux’ Filmrollen siehe: Kinematheksverbund (Hg.): Die deutschen Filme: Deutsche Filmografie 1895–1998 (CD-Rom), Berlin 1999. Vgl. Pohl 2002, S. 77. Durieux 1979, S. 300–301. Vgl. Durieux 1979, S. 267. Claire Goll berichtet in einem Artikel für die Neue Zürcher Zeitung über einen Vortragsabend von Durieux des Rascher-Verlags im Jahr 1918. Vgl. Goll, Claire: Der gläserne Garten. Prosa 1917–1939, Berlin 1989, S. 59–60. Vgl. Loeper 2004b, S. 145. Vgl. Loeper 2004a, S. 165.

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stützte sie Erwin Piscators politisches Theater finanziell und trat 1927 und 1928 an der Piscator-Bühne am Nollendorfplatz auf.167 In dritter Ehe war sie seit 1930 mit dem jüdischen Industriellen Ludwig Katzenellenbogen, den sie 1925 kennen gelernt hatte, verheiratet. Ihre Hoffnung auf ein harmonisches Eheleben sollte sich nicht erfüllen.168 1932 wurde Katzenellenbogen in seiner Funktion als Vorstand der Schultheiss-Patzenhofer Brauerei wegen Bilanzfälschung angeklagt und verlor bei dem Prozess fast sein gesamtes Vermögen.169 Der Nationalsozialismus beendete Durieux’ Karriere als Schauspielerin in Deutschland. Sie wurde wegen ihrer linkspolitischen Einstellung170 diffamiert und musste schließlich mit ihrem jüdischen Ehemann das Land verlassen. In den Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit finden sich wiederholt suizidale Gedanken. Die politische sowie die berufliche, finanzielle und private Situation war »hoffnungslos«171 geworden. Zusammen mit Katzenellenbogen emigrierte Durieux 1933 zunächst in die Schweiz, danach nach Italien und 1938 auf Umwegen nach Zagreb. Bei dem Versuch des Paares nach Amerika auszureisen, wurde Katzenellenbogen 1941 von der Gestapo in Saloniki verhaftet, in das KZ Sachsenhausen gebracht und starb zwei Jahre später in einem jüdischen Krankenhaus in Berlin-Moabit.172 1933 unternahm Durieux eine Tournee durch die Schweiz, war 1934 als Lehrerin am Mozarteum in Salzburg angestellt und gab noch bis zum Kriegsbeginn vereinzelt europäische Gastspiele.173 Einen Teil ihrer Kunstsammlung, darunter auch Porträts von ihr, konnte sie bei der Emigration 167 Vgl. Preuß, Joachim Werner : Einleitung, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 7–11, hier: S. 8. 168 Anfang des Jahres 1933 notiert Durieux nach einer depressiven Phase hoffnungsvoll in ihr Tagebuch: »Ist die Büchse der Pandora leer. Werde ich nun Ruhe finden? Wie glücklich wäre ich auch für Lutz, wenn wir nun bescheiden glücklich sein dürften!«. Tagebucheintrag vom 1. 1. 1933. Walach 2009a, S. 110. 169 Inwieweit antisemitische Motive dahinter steckten, Katzenellenbogen tatsächlich die alleinige Schuld trug oder zum Sündenbock des Unternehmens gemacht wurde, ist nicht mehr zu beurteilen. Vgl. Walach 2009b, S. 44–45. Zum Prozessverlauf vgl.: Durieux 1979, S. 327–332. Zum »Katzenellenbogen-Skandal« siehe auch: Kennert, Christian: Paul Cassirer und sein Kreis. Ein Berliner Wegbereiter der Moderne, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 217–218. 170 Max Beckmann hielt das linkspolitische Engagement von Durieux in einer Graphik fest. Durieux ist mit Schriftstücken von Karl Marx, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht dargestellt: Max Beckmann, Die Enttäuschten II, Bl. 6 der Mappe »Berliner Reise«, 1922, Lithographie, 47,6 x 38,7 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.Nr. 126.6–1924. Abb. in: Hofmaier 1990, Nr. 218 B. 171 »Alles zum Kotzen. Was soll man machen? Theater hoffnungslos. Alles hoffnungslos.« Tagebucheintrag vom 15. 6. 1932. Walach 2009a, S. 104. 172 Das Bundesarchiv : Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. http://www.bundes archiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/adr/getPPN/116067780/, Stand vom 05. 07. 2013. 173 Vgl. Loeper 2004b, S. 146.

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mitnehmen. Einige Kunstwerke verkaufte sie davor bzw. später vom Ausland aus.174 Im Exil in Zagreb beteiligte sich Durieux während der nationalsozialistischen Besatzung am antifaschistischen Widerstand175 und arbeitete von 1946 bis 1951 als Schneiderin am Zagreber Puppentheater.176 In Zagreb begann sie, unter Verwendung von Tagebucheinträgen, mit dem Schreiben einer Autobiographie, die erstmals 1954 veröffentlicht wurde.177 Ihr »zweites Theaterleben« begann, als sie 1952 zum ersten Mal wieder in Deutschland auf der Bühne stand. Ihr »Comeback« als Schauspielerin mit ihrer endgültigen Rückkehr nach Berlin 1955, verdankte sie sicher der Tatsache, dass sie ein Sinnbild der glanzvollen Theaterepoche der Vorkriegszeit, besonders der »Goldenen Zwanziger«, war.178 Das deutsche Publikum begrüßte sie begeistert und sie konnte erneut große Erfolge feiern.179 Sie galt nun als junggebliebene »Grande Dame« des Theaters. Sie erhielt jedoch nie wieder ein festes Engagement und spielte bis zu ihrem Tod als Gast an vielen Bühnen im In- und Ausland.180 Außerdem trat sie seit 1954 in diversen Film- und Fernsehproduktionen181, u. a. in Schauspielverfilmungen, auf und übernahm einige Hörspielrollen182. Im Alter von 85 Jahren ist Tilla Durieux am 21. Februar 1971, wie Max Reinhardt es ausgedrückt haben könnte, »von der Bühne des Lebens abgegangen, und ihr einst so beredter Mund ist für immer verstummt.«183 Da es in der vorliegenden Arbeit vor allem um die Schauspielerin Tilla Durieux geht, wird der Blick im Folgenden auf ihre Schauspielkunst gerichtet. In ihren über 60 Jahren als Schauspielerin arbeitete Durieux mit Regisseuren verschiedener Stilrichtungen zusammen und wurde laut Bab zur »glänzends-

174 Vgl. Walach 2009a, S. 119. 175 Diese Zeit behandelt Durieux in dem von ihr verfassten Theaterstück Zagreb 1945, das 1946 mit ihr in der Hauptrolle in Luzern uraufgeführt wurde. Durieux, Tilla: Zagreb 1945. Schauspiel in drei Akten, Neuauflage, Zagreb 2005. 176 Vgl. Loeper 2004b, S. 146. 177 Vgl. Preuß, Joachim Werner : Tilla Durieux, Porträt und Deutung, in: ders. 1965b, S. 9–36, hier : S. 12. 178 Durieux’ Schicksal steht stellvertretend für viele darstellende Künstler im Nationalsozialismus: »Während der Herrschaft der Nationalsozialisten waren schätzungsweise 4000 deutschsprachige Theaterleute in mehr als 40 Asylländer geflohen. Etwa 60 Prozent von ihnen sind zurückgekommen, von den Prominenten die meisten, von den anderen die wenigsten.« Michael/Daiber 1989, S. 136. 179 Sie erhielt Ehrungen durch deutsche Theaterinstitutionen und Akademien und wurde ein Jahr vor ihrem Tod zum Ehrenmitglied des Deutschen Theaters ernannt. Vgl. Loeper 2004b, S. 146–147. 180 Vgl. Loeper 2004b, S. 146–147. 181 Vgl. Loeper 2004a, S. 171–173. 182 Vgl. Loeper 2004a, S. 173–174. 183 Reinhardt, Max: Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern, hg. v. Hugo Fetting, Berlin 1989, S. 432.

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te[n] Könnerin der deutschen Schauspielbühne«184. Rollen wurden ihr von den Dramatikern auf den Leib geschrieben und sie entwickelte eigene Ideen für Rollen.185 Die Bandbreite der von ihr verkörperten Figuren ist enorm. Von den deutschen Klassikern und Shakespeare, Hauptmann und Gorki, Hofmannsthal und Heinrich Mann über Wilde und Shaw bis hin zu Ibsen, Wedekind und Strindberg spielte sie alle großen Frauenrollen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Bei allen Interpretationen kam es ihr darauf an, die Menschlichkeit der Figuren aufzuzeigen.186 Ihr Darstellungsstil wurde zum Vorbild für Schauspielerinnen nachfolgender Generationen.187 Die Kritiken umfassen Lobeshymnen genauso wie Verrisse, die ihr auch nach langjähriger Berufserfahrung noch nahegingen. Die Fähigkeit zur Polarisierung des Publikums, die Durieux sich selbst bescheinigt, gilt noch heute als Starqualität: »Die einen fanden mich außerordentlich, die anderen verwirrend, und die dritten konnten mich einfach nicht leiden. Dabei bin ich mit all dem Widerstreit, oder gerade deshalb, viele Jahre eine Zugkraft der deutschen Bühne gewesen.«188

Durieux begann ihre Bühnenlaufbahn in einer Umbruchzeit des Theaters, die alle Möglichkeiten für eine junge, talentierte Schauspielerin bereithielt. Als Mitglied des Reinhardt-Ensembles war sie bei einem der großen Theaterreformer189 der damaligen Zeit engagiert, der den Schauspieler für den »natürliche[n] Mittelpunkt des Theaters«190 hielt. Durieux’ Loslösung von Reinhardt 1911 zeigt, 184 Bab, Julius: Das Theater der Gegenwart. Geschichte der dramatischen Bühne seit 1870, Leipzig 1928, S. 129. 185 Zusammen mit Walter Steinthal arbeitete Durieux z. B. an einem Drehbuch für einen Film, in dem sie die Hauptrolle spielen sollte. Die Idee wurde nicht realisiert und schließlich schrieb Artur Landsberger das Drehbuch für Das Blut: Landsberger, Artur : Das Blut. Abenteuer-Roman nach einer Idee von Tilla Durieux, Berlin 1921. 186 »Es ist meine Überzeugung, daß auf der Bühne kein Stil und keine Methode wesentlich ist, sondern nur die klare Menschlichkeit, die siegreich über allem stehen muß.« Durieux, Tilla: Der Kampf mit der Rolle, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, 18. Juni 1961, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 583.16. 187 Julius Bab bezeugt ihre Vorbildfunktion: »Sie bedeutete einen neuen Typus in ihrer elastischen Geschmeidigkeit und der aggressiven Heftigkeit ihres Mienenspiels, einen Typus, der Anpassungen erzeugte wie ein halbes Menschenalter vorher jener der Duse.« Bab 1928, S. 129. Siegfried Jacobsohn benennt Durieux und Eysoldt in seiner Kritik zu Stramms Drama Kräfte von 1921 als Vorbilder für Agnes Straubs Spielweise: »Agnes Straub aber legt einen Birch-Pfeiffer-Zyklus hin, der durch einen kühnen Vorstoß in die zeichnerischen Anfänge der Eysoldt und Durieux modernisiert wird.« Jacobsohn, Siegfried: Kräfte, in: Die Weltbühne, Jg. 17, Heft 15, 1921, S. 436–437, hier : S. 437. 188 Durieux 1979, S. 151. 189 Für Fetting ist Max Reinhardt der »bedeutendste Theatermann seiner Zeit«: »Wo immer man zu dieser Zeit in Deutschland auch Theater machte, es war von ihm beeinflußt oder entstand in Opposition zu ihm.« Fetting, Hugo (Hg.): Von der Freien Bühne zum Politischen Theater. Drama und Theater im Spiegel der Kritik, Bd. 1, Leipzig 1987, S. 11. 190 Reinhardt, Max: Über ein Theater wie es mir vorschwebt, in: Max Reinhardt in Berlin, hg. v.

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dass sie ihren eigenen beruflichen Weg verfolgte. Zusätzlich zu ihrer Zusammenarbeit mit verschiedenen Regisseuren engagierte sie sich mit ihrer Kunst auch politisch, so z. B. bei ihren gemeinsamen Auftritten mit Leo Kestenberg in den Berliner Arbeitervierteln vor dem Ersten Weltkrieg oder durch die Mitwirkung bei den Proletarischen Feierstunden 1920.191 Ihr Name steht für das Berliner Theater der 1920er Jahre, in denen sie sich für die fortschrittlichen Theatertendenzen von Leopold Jessner192 und Erwin Piscator193 offen zeigte und im Bereich der Bühne auch mäzenatisch tätig war. Mit den Theaterreformen des beginnenden 20. Jahrhunderts war der Schauspieler nicht länger auf ein einziges Rollenfach festgelegt. Die Charaktere, die Durieux auf der Bühne zur Darstellung brachte, veränderten sich im Lauf ihrer Karriere. Am Anfang übernahm sie hauptsächlich Aufgaben im Rollenfach der ›Femme fatale‹: »Sie war früher die Repräsentantin der nur instinktgeleiteten, nur gefühlsmäßig bestimmten Frauen, an ihren Namen knüpft sich der Begriff des Weibchen, der reinen und entfesselten Triebwesen, sie hat das psychologische und biologische Rätsel Weib in den Gestalten, die sie verkörperte, erschütternd eindringlich und erschöpfend abgewandelt. Und so war sie zu jener Zeit […] die Repräsentantin eines bestimmten – und die Epoche bestimmenden – Frauentypus […].«194

Bald entwickelte sie sich jedoch zur »Universalschauspielerin« und ihre Wandelbarkeit wurde zum Qualitätskriterium: »Beweglich ist die Verwandlungskunst der Frau Durieux«195 konstatiert Else Lasker-Schüler 1910. Für Heinrich Mann war die »Charakterspielerin«196 Durieux deshalb der Inbegriff der modernen Schauspielerin: »Wir wollen heute (Wilhelm II. versucht es uns vorzumachen) universell sein. Spezialität ist nicht mehr Trumpf. Wenn wir Künstler sind, möchten wir beides, Lear und die Widerspenstige, machen können, und jedes Mal soll kein Zweifel bleiben, daß es von uns ist. Tilla Durieux macht beides, und es bleibt kein Zweifel. Jede gestalt [sic] von

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Knut Boeser und Renata Vatkov#, Berlin 1984, S. 7. Deshalb gilt Reinhardt als erster deutscher Regisseur im heutigen Sinn. Vgl. Herald, Heinz (Hg.): Max Reinhardt. Bildnis eines Theatermannes, Hamburg 1953, S. 13. Vgl. Durieux 1979, S. 111–113. Vgl. Walach 2009a, S. 35. Fetting bezeichnet Jessners mit expressionistischen Stilmitteln arbeitende Regieauffassung als Entwicklungsschritt hin »zum gesellschaftsorientierten Zeittheater«. Das Theater war für Jessner »Mittel, politische Absichten auszudrücken«. Fetting 1987, Bd. 1, S. 13. Piscators an das Proletariat gerichtete Politisches Theater ging nach Fetting einen Schritt weiter als Jessner, da es das Publikum zum aktiven Handeln veranlassen sollte. Vgl. Fetting 1987, Bd. 1, S. 13. Lania, Leo: Tilla Durieux. Skizze zu einem Portrait, in: Saarbrücker Zeitung, 21. Juni 1928, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 92. Lasker-Schüler 1910. Mann, Heinrich: Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin 1947, S. 230.

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ihr hat diese geschulte Anmut, hinter der Wildheit zum Sprung bereit liegt […]. Aber in jeder Abschattung ihres Menschentums entsteht eine andere Frau…«197

Bab stellt als weiteres Merkmal von Durieux’ Darstellungsstil heraus, dass die Schauspielerei als Ergebnis harter Arbeit erkenntlich ist: »Mit einer seltenen Intelligenz, mit einem enormen Fleiß ausgestattet, ging die Durieux, die im zeichnerischen Stil zunächst eine Schülerin der Eysoldt schien, weiter […]. Von Sardous Feodora bis zu Hebbels Rhodope, von der halb blöden Bäuerin der ›Roten Robe‹ bis zu Ibsens überzivilisierter Hedda Gabler ist ihr schlechterdings nichts unmöglich. Freilich das ganz Vollkommene, das unbedingt Überzeugende erreicht sie doch nur dort, wo ihr karikierender Witz den Selbstbetrug posierender Weibchen aufdecken kann. Dem vollen Ernst ihrer Menschen fehlt überall etwas an der Wärme des Herzens.«198

Lania erklärt Durieux’ »Wandlungsfähigkeit« aus ihrer abstrahierenden Rollengestaltung: »Sie wechselt nicht das Rollenfach, das Gebiet ihrer Gestalten ist scheinbar unbegrenzt […] weil sie alle Figuren nicht psychologisch erfasst, sondern auch in ihrer soziologischen Struktur und Abhängigkeit erkennt, auf diese Art aber auch den ›Einzelfall‹ zum allgemein gültigen Typus entwickelt.«199

Diesen stilisierenden Darstellungsstil erreichte Durieux mithilfe von intellektueller Durchdringung der Rolle, so Dworczak: »Die Durieux spielt. Wie spielt sie? Naturalistisch? Dann würde sie die Rolle nur schauen. Die Durieux erschaut die Rolle aber : höchste Durchgeistigung. Eine psychologisch arbeitende Schauspielerin, eine analytisch arbeitende Schauspielerin. Man sieht, wie die Rolle wird, wie die Persönlichkeit sich bildet. Sie formt und gestaltet. Gestaltung ihres Inneren oder der Rolle? – Oder beides?«200

Sie selbst formuliert den Zweck ihrer Schauspielkunst in einem Vortrag von 1914 folgendermaßen: »Meine Kunst dünkt mir eine Gelegenheit, ins Unbekannte zu schweifen, die Klappen der Seele zu öffnen, die Fesseln zu lösen, nicht damit die Tochter ihres Vaters, sondern damit der Mensch, der Abkömmling von Geschlechtern erscheine mit allen Urinstinkten, den weither kommenden Sehnsüchten, den Gelüsten der Vorfahren; damit alle unbekannten Kräfte in mir und um mich sich harmonisch gesellen und sich dem Werke eingliedern. Darin scheint mir Wesen und Ursprung meiner Kunst zu liegen;

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Mann, Heinrich: Tilla Durieux, in: Die Zeit im Bild, Jg. 11, Heft 17, 1913, S. 917. Bab 1928, S. 129. Lania 21. Juni 1928. Dworczak 6. November 1922.

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dazu jedenfalls betreibe ich sie. Vom Zwang des Alltags befreit, dem Zwang der Kunst unterworfen […].«201

Analog dazu beschreibt sie 1935 in einer Zagreber Zeitung ihr Grundverständnis von Theater : »Denn, wie man es immer nimmt, ist die ganze Kunst doch nur ein Spiel, wenn auch im höchsten Sinne des Wortes.«202 Diese Auffassung entspricht der mit der Theaterreform um 1900 aufgekommenen Abkehr von der »Vorstellung, das Kunstwerk sei Ausdruck ›echten‹ Gefühls, Seelenausdruck.«203 Die bewusste Kunstleistung sollte für das Publikum deutlich werden. Dementsprechend heißt es 1922 in einer Kritik »Nicht naturwahr, sondern kunstwahr sei der Schauspieler. Die Durieux ist beides. Und ist doch nur kunstwahr.«204 Durieux legte viel Wert auf ihre schauspielerische Technik205, was auch von den meisten Kritikern erkannt und teils positiv, teils negativ als »Gemacht sein«206 ihrer Figurendarstellungen bewertet wurde. Diese Kritiken sind vor dem Hintergrund der aktuellen theatertheoretischen Diskurse zwischen den beiden Darstellungsrichtungen, »Gefühl« und »Technik«, zu sehen.207 Herwarth Walden (1878– 1941) spricht sich in Der Sturm für die »künstlerische Persönlichkeit« des Schauspielers aus und führt Durieux als positives Beispiel auf: »Ist die Rhodope der Tilla Durieux nicht ebenso glaubhaft, wie ihr Bordellmädchen in dem Drama ›Gott der Rache‹?«208. Wegen ihrem vergeistigten, artistischen Stil galt Durieux für den Großteil der Kritiker als »Spezialistin für eine gewisse moderne künstlerische Richtung«209. Tucholsky dagegen warf der »femme incomprise up to date«, der »verkannten modernen Frau«, wie er Durieux 1914 spöttisch bezeichnet, auf Täuschung ausgelegte Virtuosenhaftigkeit vor.210 Durieux’ Bühnenpräsenz war, mit den Worten eines amerikanischen Kriti201 Durieux, Tilla: Bekenntnisse einer Schauspielerin, in: B.Z. am Mittag, 11. August 1928, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 583.10. 202 Anonym: Leben stärker als Theater. Gespräch mit Tilla Durieux, in: Morgenblatt, Zagreb, 23. Juni 1935, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 583.13. 203 Viering 1986, S. 32. »Die Erneuerung des Kunstcharakters des Theaters entgegen der naturalistischen Verdoppelung der Alltagsrealität auf der Bühne war das gemeinsame Ziel der Reformer.« Brauneck, Manfred (Hg.): Theater im zwanzigsten Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek 1982, S. 63. 204 Dworczak 6. November 1922. 205 »[…] und etwas zu können, ist Voraussetzung für einen Künstler. Ich hatte viel gelernt und beherrschte Stimme und Körper mit größerer Souveränität als mancher anderer Schauspieler.« Durieux 1979, S. 150. 206 Über die Rolle der Judith urteilt Alfred Kerr 1910: »Die Durieux. Reizvoll! […] Aber ein gemachtes Visonärtum. Empfindungen, die nicht gewachsen waren; sondern geleistet wurden.« Kerr, Alfred: Die Welt im Drama, Bd. V: Das Mimenreich, Berlin 1917, S. 166. 207 Vgl. Krahmer 2004. 208 Walden, Herwarth: Simson und Delila, in: Der Sturm, Jg. 1, Heft 26, 1910, S. 206. 209 Anonym: Tilla Durieux als Maria Stuart im Stuttgarter Königlichen Hoftheater, in: Württemberger Zeitung, 1914, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 520, S. 214. 210 Tucholsky, Kurt: Tilla Durieux, in: Die Schaubühne, Jg. 10, 1914, S. 184–188, hier: S. 188.

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kers, von »deutlich sichtbarer, schwer beschreibbarer Kraft«211. Sie war der Meinung, dass das Publikum nur »gepackt« werde, wenn der Schauspieler »das Letzte« hergebe, sich also eine »innere Elektrizität« entwickele, »die wie ein Funke überspringen« könne.212 Anlässlich ihres Auftritts als Judith 1910 bezeichnet Alfred Kerr sie als »Hirschkuh (die freilich Paprika gegessen hat)«213 und in ihrer Rolle als Hanna Elias 1912 vergleicht er sie scherzhaft mit einer »Geflügelhändlerin aus Tarnopol«214. 1922 wird ihre kraftvolle Spielweise anlässlich eines Grazer Gastspiels wie folgt beschrieben: »Ein Fluidum geht von dieser Frau aus, eine Suggestionskraft, der jeder unterliegt. Souverän gebietet sie über Mitspieler wie Zuschauer, souverän beherrscht sie die Skala menschlicher Gefühlsäußerungen, souverän verwendet sie deren Ausdrucksmittel.«215

Ihre große Wirkungskraft auf der Bühne wurde v. a. ihrem von Energie erfüllten Körper zugeschrieben, der zu diesem Zweck mit Raubtiermetaphern besetzt wurde. So heißt es 1911 in einer Kritik zu Die Spielereien einer Kaiserin in Der Sturm: »Die Schauspielerin Tilla Durieux, berückend und feurig, mit kupfergelben Haarflechten, samtnen Raubtieraugen, purpurnen Nasenlöchern, bezwang mich.«216

Laut einem Beitrag in einer Illustrierten von 1922 traf Durieux’ animalische »Rassigkeit« den Nerv der Zeit: »Vielleicht ist Frau Durieux die stärkste Temperamentsschauspielerin der deutschen Bühne. […] Ihre Natur ist explosiv, aber sie verbirgt den Vulkan unter Samt und Seide, unter Lächeln und Kultur. […] Sie ist verwandt mit den schönen Raubkatzen, mit Panther und Tiger, die das Temperament hinter Eleganz und Geschmeidigkeit, hinter Anmut und Spiel verstecken. Sie ist weder Realistin, und noch weniger gehört sie an das Burgtheater – aber sie ist mehr als beides, sie hat Rasse, und heute entscheidet auf der Bühne die Rasse allein.«217 211 Dale, Allan: The Shadow, in: New York American, 1923, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 442.1. 212 Höcker, Karla: »Man steht immer vor neuen Aufgaben«. Gespräch mit der Schauspielerin Tilla Durieux, in: Saarbrücker Zeitung, 23. März 1963, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 584.8. 213 Kerr 1917, S. 165. 214 Kerr 1917, S. 459. 215 Dworczak 6. November 1922. 216 K.H.: Die Spielereien einer Kaiserin, in: Der Sturm, Jg. 2, Heft 80, 1911, S. 637. Laut Jacobsohn besaß Durieux einen »kraftvollen Körper, der etwas von der Schnellkraft des Katzengeschlechts hat«. Er vergleicht sie mit einem Panther und folgert: »[…] diese Wildheit gibt der Durieux den animalischen Duft, der ein Hauptbestandteil ihrer Wirkung ist und immer einen großen Zug hat.« Jacobsohn, Siegfried: Tilla Durieux, in: Frankfurter Nachrichten, 15. August 1917, zit. nach: Preuß 1965, S. 49. 217 Lothar, Rudolf: Schauspieler-Porträte, in: Sport im Bild, Jg. 28, Heft 43, 1922, S. 1719–1723, hier : S. 1723.

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Ihr »ins Extreme«218 gehendes Aussehen wird in unzähligen Kritiken zur Sprache gebracht. Einige bezeichnen sie als »häßlich«, andere loben ihre »Erscheinung von ganz besonderer Art«, für die Hans Land folgende Worte findet: »Ihre Züge sind bedeutend, ohne schön zu sein. Die Ausdrucksfähigkeit des Gesichts schier unbegrenzt. Diese Darstellerin kann königlich schön und hexenhaft häßlich aussehen. Dieser schlanke Leib ist in Bewegung und Pose von grandioser Plastik.«219

Für Erich Kästner gilt die Außergewöhnlichkeit der »Körperspielerin«, wie er Durieux 1928 in einem Artikel bezeichnet, als Trumpf: »Jede Abnormität kann auf der Bühne erfolgreich sein, wenn sie sich charakteristisch zur Rolle fügt und dem Publikum einprägt. Jeder charakteristische Zug ist befähigt, die Bühnenwirkung zu steigern […].«220

In ihrer Autobiographie griff Durieux ihre »Andersartigkeit«, ihr Aussehen und ihr Wesen betreffend, auf und nutzte sie zur Betonung ihres Talents, das sich gegen alle Widerstände durchsetzte.221 Ihr Bericht über die erste Reaktion des Olmützer Theaterdirektors auf ihr Vorsprechen im Jahr 1901 wurde legendär : »Mit dem Ponem (jüdischer Ausdruck für Gesicht) wollen sie zur Bühne? Lernen sie lieber kochen!«222 In Bezug auf das Thema dieser Arbeit ist besonders relevant, dass Durieux für ihren bildnerischen Darstellungsstil bekannt war, der den damaligen Entwicklungen der Bühne entsprach. Die Bedeutungssteigerung des Visuellen durch die Theaterreformen um 1900 brachte einen Inszenierungsstil hervor, der sich für die bildkünstlerische Umsetzung anbot.223 Gerade bei denjenigen Künstlern, die eine tatsächliche Aufführung mit Durieux zum Anlass für ihr Porträt nahmen, ist vorstellbar, dass ihnen Durieux’ bildhafte Bühnenwirkung eine Inspirationsquelle war. Else Lasker-Schüler assoziiert mit Durieux’ Darstellung als Prinzessin Eboli in einer Szene von Don Carlos 1909 das »Gemälde der büßenden 218 Turszinsky, Walter : Durieux als Herodias, in: Berliner Tageblatt, 1905, zit. nach: Preuß, Joachim Werner : Tilla Durieux im Spiegel der Kritik, in: ders. 1965a, S. 85–96, hier : S. 86. 219 Land, Hans: Weltrundschau, in: Reclams Universum, Jg. 29, Heft 7, 1913, S. 40, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 581.3–5. 220 Kästner, Erich: Womit sie wirken. Etwas über berühmte Schauspieler. Von Erich Kästner – Zeichnungen Benedikt Fred Dolbin, in: Das Leben, Jg. 6, Heft 2, 1928, S. 49–56, hier : S. 56. 221 Über die Zeit in der Theaterschule berichtet Durieux: »Mein Talent und mein Gesicht waren nicht das, was man ›gefällig‹ zu nennen pflegte. […] Immerhin muss doch meine Begabung schon damals spürbar gewesen sein […].« Durieux 1979, S. 21–22. 222 Durieux 1969, S. 11. 223 Auch Max Reinhardt, bei dem Durieux ihren schauspielerischen Durchbruch erlebte, vertrat eine »visuell orientierte Schauspielauffassung«, für die eine »körperbetonte, nonverbale Gebärdensprache« mit »pantomimisch-tänzerische[n] Element[n]« charakteristisch war. Grund, Uta: Zwischen den Künsten. Edward Gordon Craig und das Bildertheater um 1900, Berlin 2002, S. 54.

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Magdalene«224. In einer Kritik zu König Ödipus von 1910 heißt es: »Tilla Durieux stellte als Jokaste ein sprechendes Bild von höchster malerischer Kraft.«225 Von einem anderen Kritiker wird ihr Auftritt als Iokaste als »dekorativ«226 beschrieben. Stössinger spricht 1911 von der »zeichnerische[n] Wirkung ihrer Stellungen«227. Auch Kerr betont das »Zeichnerische«228 von Durieux’ Spielweise und bezeichnet sie wegen ihrer stilisierenden Spielweise in Pygmalion 1913 als »Plakatgeschöpf«229. 1910 beschreibt der Kritiker Ihering Durieux’ malerischen Stil: »Das stilisierende Element in der Durieux ist so stark, daß es die Einzelnuance, ohne sie verdrängen zu müssen, in die malerische Linie hineinzwingt. So konnten manche Stellungen ihrer Rhodope an griechische Vasenbilder erinnern. So konnten die Züge ihres Gesichts oft zum Medusenantlitz erstarren.«230

In der Publikation Fünfzig Köpfe der Zeit von 1926 mit Graphiken von Rudolf Grossmann klingt darüber hinaus Durieux’ Image als Exotin in dem zugehörigen Text an: »Ihr Haupt ist das einer assyrischen Prinzessin, wie man sie auf alten Tafeln sieht […].«231 Der Kritiker Sternaux wird bei Hauptmanns Elga an eine Jugendstil-Darstellung erinnert: »Das blasse Gesicht mit dem überroten Mund, den schmalen Katzenaugen, den schwarzen Ringellocken, die es rahmen, hat Beardsley geformt: es ist das Antlitz Salomes, und es ist auch das Lulus…süß, von dunklen Lüsten durchglutet und böse, wenn es in Haß versteint.«232

Dieselbe Rolle weckt bei Rein Assoziationen an Leonardos sog. Mona Lisa: »Hauptmanns Elga: dies leuchtende, lockende, liebliche Instinkttierchen bei der Durieux – nein! Sie ist eine große, kalte Dame, gewaltig und wuchtig […]. Aber jede Spur von Lieblichkeit fehlt ihr und jedwede Unbewußtheit. Dennoch ist erstaunlich, oft

224 Lasker-Schüler 1910. 225 Engel, Fritz: Sophokles, König Ödipus, in: Berliner Tageblatt, 8. November 1910, zit. nach: Fetting 1987, Bd.1, S. 404. 226 Falk, Norbert: Sophokles, König Ödipus, in: B.Z. am Mittag, 8. November 1910, zit. nach: Fetting 1987, Bd. 1, S. 408. 227 Stössinger, Felix: Eysoldt und Durieux, in: Die Schaubühne, Jg. 7, Heft 9, 1911, S. 244–245, hier : S. 244. 228 Kerr 1917, S. 68. 229 Kerr 1917, S. 460. 230 Ihering, Herbert: Tilla Durieux, in: Die Schaubühne, Jg. 6, Heft 26/27, 1910, S. 697–699, hier : S. 699. 231 Grossmann, Rudolf: Fünfzig Köpfe der Zeit mit Graphiken von Rudolf Grossmann, Berlin 1926, S. 102. 232 Sternaux, Ludwig: Elga, in: Berliner Lokalanzeiger, 1922, zit. nach: Preuß 1965a, S. 92.

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genial, was diese Frau macht; und oft lächelt sie, doch mit einer Spur von Verlorenheit an die Szene, ein mehr wie rätselvolles Mona-Lisa-Lächeln.«233

Polgar vergleicht Durieux’ mimische Fähigkeiten mit einer gotischen Skulptur : »Leidenschaft, die sonst ein Antlitz entstellt, adelt das ihre, es hat etwas von dem Kühnen und Bizarren einer unheiligen gotischen Figur, wenn sie mit ihrem wilden Profil gegen die Götter polemisiert, und die eilenden Wolken, die sie anruft, bleiben ein Weilchen stehen, sich in der schönen Stirn zu spiegeln.«234

Durieux’ soeben dargelegte zentrale Position im Theater des ersten Jahrhundertdrittels, ihr Status als Theaterstar und ihre bildhafte Bühnenwirkung machten sie zu einem begehrten Modell. Ein weiterer Grund dafür, dass sie von so vielen Künstlern porträtiert wurde, ist ihre Beziehung mit Paul Cassirer, der deshalb im Folgenden vorgestellt wird.

III.2 Paul Cassirer, Durieux’ »Lehrer und Führer durch Literatur und Kunst« Vom ersten Augenblick ihrer Begegnung im Jahr 1904 im Haus von Julius MeierGraefe war Durieux von Cassirer fasziniert: »Jetzt entwickelte sich ein Gespräch, wie ich es noch nie gehört. Meier-Graefes kluge Reden verblassten und erhoben sich wieder zu gleicher Zeit zu ungekannter Höhe, während P.C. wahre Kaskaden von Behauptungen und Gegenbehauptungen über uns sprühen ließ. Wie eine Fontäne sprudelte das Gespräch in die Höhe witziger Bemerkungen und glitt wieder auf den Grund tiefen Wissens zurück, um sich wieder zu den kühnsten und gewagtesten Folgerungen zu erheben. […] Glänzend, heiter, witzig, jeden Augenblick einen anderen Blickpunkt erschließend, Wahrheit – Dichtung – Lüge, die im nächsten Augenblick Wirklichkeit sein konnte, Scharaden – Märchen –Tausendundeinenacht.«235

Cassirer begann um Durieux zu werben, bis sie sich schließlich für ihn entschied und Spiro nach einjähriger Ehe verließ. Die Heirat mit Cassirer ließ allerdings noch mehrere Jahre auf sich warten, bis zum 24. Juni 1910. Durieux war froh über die Legalisierung ihrer Beziehung236, da Cassirers Familie und z. T. auch 233 Rein, Leo: Tilla Durieux, Kritik in der Berliner Zeitung, 1923, zit. nach: Hellhammer/Müller 1997, S. 14. 234 Polgar, Alfred: Ja und Nein. Darstellungen von Darstellungen, hg. v. Wolfgang Drews, Hamburg 1956, S. 150. 235 Vgl. Durieux 1979, S. 78. 236 »Natürlich war ich glücklich, Pauls Frau zu werden und dadurch so vielen kleinen Unannehmlichkeiten, die ein Zusammenleben ohne Ehe mit sich bringt, nunmehr zu entgehen.« Durieux 1969, S. 97.

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Bekannte die »wilde Ehe« missbilligt hatten237. Nach der Hochzeit bezog das Paar eine Wohnung in der Margarethenstraße nahe dem Kunstsalon Cassirer in der Victoriastraße. Durieux’ Beschreibung der Ausstattung bezeugt die bedeutende Rolle, die Kunst auch im Privatleben der beiden spielte: »Das große Eckzimmer mit der runden Fensterwand hatte Karl Walser mit einer tiefblauen Tapete versehen, auf die er oben Girlanden von Blumen malte, die Musikinstrumente hielten, denn es sollte als Musikzimmer benutzt werden. Alte, hohe, dunkle Mahagonistühle aus Holland, ein großer, runder Tisch, auf dem Barlachs Plastik ›Die singenden Frauen‹ stand, bildeten mit dem Steinway-Flügel die Einrichtung. Das Speisezimmer mit lichtgrünen Wänden wurde mit den herrlichsten Bildern der Impressionisten geschmückt: ›Der Reiter und die Reiterin‹ von Manet, ›Die rote Frau und der Mann mit dem schiefen Hut‹ von C8zanne, das große Bild ›Mole mit Leuchtturm‹ von Manet, ›Zwei Kinder am Klavier‹ von Renoir hoben sich prächtig von dem hellen Grün ab. Mein Zimmer mit der großen Bibliothek, die bis zur halben Höhe die Wände bekleidete, enthielt unter anderem alle Kunstbücher, die P.C. als Nachschlagewerke brauchte, und war über den Bücherregalen mit einer feurigblauen Tapete beklebt.«238

Durch ihre Beziehung mit Paul Cassirer kam Durieux in Kontakt mit der geistigen und künstlerischen Elite Berlins, unter den Bekanntschaften waren zahlreiche ihrer Porträtisten. Sie erinnert sich rückblickend: »Mein zweiter Mann Paul Cassirer aber schloss alle Tore weit auf und führte mich in einen Kreis der bedeutendsten Menschen dieser Epoche und war so mein Lehrer und Führer durch Literatur und Kunst.«239 Cassirer prägte nicht nur ihr Privat-, sondern auch ihr Berufsleben.240 Über die Anordnung von Sprech- und Gesangsunterricht, selbst erteilter literarischer Bildung und die Beeinflussung beruflicher Entscheidungen wirkte Cassirer auf Durieux’ schauspielerische Entwicklung ein.241 Darin fand er scheinbar große Erfüllung242, denn nach der Überlieferung 237 Max Liebermann verweigerte Durieux deshalb den Gruß, wie Durieux überliefert. Vgl. Durieux 1969, S. 63. Durieux beschreibt in ihrer Autobiographie die Ablehnung durch Cassirers Familie, die die Ehe für unstandesgemäß hielt. Vgl. Durieux 1979, S. 133–134; Durieux 1969, S. 98. 238 Durieux 1979, S. 131. 239 Durieux, Tilla: Der Mond ist uns leider zu nahe gerückt, 1960, Handschrift, Kopie im Nachlass Tilla Durieux, Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, zit. nach: Walach 2009a, S. 133. 240 Cassirer wurde als »Manager« Durieux’ gesehen. So schrieb ein Journalist nach Cassirers Tod 1926 gehässig in einer Wiener Boulevardzeitung: »Die Berühmtheit der Durieux hat Cassirersches Cach8. Wie wird die Durieux nun vor unseren Augen stehen, da die Hand des verliebtesten Claqueurs, der stets den Auftakt des Applauses gab, verstummt ist?« Ides: Die Ehe der Durieux, in: Die Stunde, 1926, Österreichische Nationalbibliothek, Inv.Nr. Pf 13896:C(8). Der Artikel wurde 1928 bei der Internationalen Presse-Ausstellung in Köln ausgestellt und auf Durieux’ Beschwerde hin entfernt. Vgl. Walach 2009a, S. 86. 241 Vgl. Durieux 1979, S. 88–90, 92, 118–119, 123. 242 Grete Fischer, die von 1917 bis 1923 Lektorin im Verlag von Paul Cassirer war, berichtet in ihrer Autobiographie: »P.C. war stolz auf sie und erzählte, wie er Rollen mit ihr studierte. Sie

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von Zeitgenossen litt Cassirer darunter, nicht selbst Künstler zu sein.243 Jedoch konnte er über seine Frau mittelbar schöpferisch tätig werden.244 Er fügte sie damit in die Reihe der von ihm geförderten Künstler und Künstlerinnen ein. Einerseits war sie ihm dankbar für die Möglichkeiten, die er ihr eröffnete und sein Interesse an ihrer Schauspielerei, andererseits versuchte sie sich im Laufe der Ehejahre von ihm unabhängig zu machen.245 Paul Cassirer wurde am 21. Februar 1871 in Breslau geboren.246 1886 zog die Familie nach Berlin, wo bereits ein Teil der großen Verwandtschaft lebte. Von 1893 bis 1895 wohnte er dauerhaft und noch bis 1897 immer wieder in München.

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wäre ganz instinktgelenkt und brauchte intellektuelle Führung […].« Fischer, Grete: Dienstboten, Brecht und Andere. Zeitgenossen in Prag, Berlin, London, Olten/Freiburg im Breisgau 1966, S. 180. Karl Scheffler fasst Cassirers Lebenstragik in seinem Nekrolog wie folgt zusammen: »Paul Cassirer hat darunter gelitten, daß er, der Genosse von rein Geistigen, in dem verhältnißmäßig engen und sozial nicht eben bevorzugten Beruf eines Kunsthändlers gebannt geblieben ist. Er hat zwar einen neuen Typ des Kunsthändlers geschaffen und den Beruf damit weiter und bedeutender gemacht, aber er war bei alledem mehr als ein Kunsthändler, der Beruf konnte die Fülle seiner Persönlichkeit nicht aufnehmen. Hinzu kommt, daß er, bei aller Aktivität, nicht unmittelbar gestaltend war, daß er, wie der Theaterdirektor, der Galerieleiter, der Verleger, nur wirken konnte durch andere Talente, durch fremde Kräfte, also nur mittelbar.« Scheffler, Karl: Nachruf auf Paul Cassirer, in: Kunst und Künstler, Jg. 24, Heft 5, 1926, S. 176–177. Ähnlich schreibt Alfred Flechtheim in seinem Nachruf auf Cassirer: »Selbst nicht als Künstler geboren, hatte er das Bedürfnis, künstlerisch tätig zu sein. Indem er die bedeutendsten Künstler seiner Zeit an sich fesselte und ihnen eine Stütze war, stellte er sich an die Spitze des deutschen Kunstlebens.« Flechtheim, Alfred: In Memoriam Paul Cassirer, in: Der Querschnitt, Jg. 6, Heft 2, 1926, S. 94–95. So Harry Graf Kessler in Cassirers Grabrede: »Als vor zwanzig Jahren eine große Künstlerin seine Lebensgefährtin wurde, bekam er das edelste Material in die Hand, an dem er sich schöpferisch betätigen konnte: einen Menschen und zugleich ein ewig sich wandelndes Kunstwerk. Und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß das Gestalten an diesem Material sein tiefstes Lebensglück gewesen ist; und ebensowenig daß diese Lebensfreundin ihm das, was er an ihr tat, in aufopfernder Weise vergolten hat. Aber auch über diesem Verhältnis waltete das tragische Geschick, das Cassirers Beziehungen zu Menschen und Dingen überhaupt beherrschte, das ihn zwang, die Ideale, die er sich schuf, immer wieder zu bezweifeln, das, was er liebte, auch fortwährend zu quälen, das, was er eben vollendet hatte, sofort wieder zu zerstören, – das tragische Geschick des ewigen Revolutionärs.« Kessler, Harry Graf: In memoriam Paul Cassirer, in: ders.: Künstler und Nationen. Aufsätze und Reden 1899–1933, hg. v. Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster, Frankfurt am Main 1988, S. 272–276. »Mein elendes kleines bißchen Ich hatte sich in einen Schlupfwinkel verkrochen, Pauls Wünsche […] hatten es dorthin gescheucht. Seine große geistige Überlegenheit war dominierend geworden. Ich bewunderte ihn mit seinen reichen Einfällen, seinem sarkastischen Humor, seiner Schärfe des Urteils. Aber irgendwo mußte mein Ich doch zu finden sein, sonst wäre meine Suggestion auf der Bühne nicht möglich gewesen.« Durieux 1979, S. 275. Den Nachforschungen von Hoffmeister zufolge wurde Paul Cassirer nicht in Görlitz, sondern in Breslau geboren. Vgl. Hoffmeister, Titia: Der Berliner Kunsthändler Paul Cassirer. Seine Verdienste um die Förderung der Künste und um wichtige Erwerbungen der Museen. Diss., Bd. 1, Halle 1992a, S. 223.

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Er studierte dort nicht Kunstgeschichte, wie oft in der Literatur zu finden ist247, sondern versuchte sich als Schriftsteller. 1894 erschien sein Drama Fritz Rainer, der Maler. Studie nach dem Leben und 1895 sein Roman Josef Geiger (unter dem Pseudonym Paul Cahrs) im Verlag von Albert Langen. Außerdem schrieb er sporadisch für den 1896 von Langen gegründeten Simplicissimus.248 Als Stammgast im Caf8 Luitpold machte er die Bekanntschaft von zahlreichen Literaten, bildenden Künstlern wie Lovis Corinth (1858–1925), Max Slevogt (1868–1932) und Max Liebermann (1847–1935), Kritikern und Kulturschaffenden. 1895 heiratete er Lucie Oberwarth (1874–1950), aus der Ehe gingen die Tochter Aim8e Susanne (1896–1963) und der Sohn Peter (1901–1919) hervor. 1904 erfolgte die Scheidung und im selben Jahr lernte er Tilla Durieux kennen. 1898 gründete er zusammen mit seinem Cousin Bruno Cassirer (1872– 1941) in Berlin die »Bruno & Paul Cassirer, Kunst- und Verlagsanstalt«. Henry van de Velde (1863–1957) übernahm die Innenausstattung der Galerie in der Victoriastraße 35.249 Cassirer reiste weiterhin viel und hielt sich im Jahr der Firmengründung in Paris im Umkreis des Caf8 du Dime auf, wo er Alfred Flechtheim begegnete. 1899 wurden Paul und Bruno Cassirer geschäftsführende Sekretäre der 1898 gegründeten ›Berliner Secession‹250 mit einem »Sitz und berathende[r] Stimme in den Versammlungen der ›Berliner Secession‹ und den Sitzungen des Vorstands«.251 Dazu gehörte auch ihre Teilnahme an der »Auswahl und Hängung der Bilder«252 in den Ausstellungen der Künstlervereinigung.253 Seit 1901 war Paul Cassirer alleiniger Geschäftsführer der ›Berliner Secession‹254, als es wegen persönlicher Differenzen zur geschäftlichen Trennung der beiden Cousins kam. Bruno behielt den Verlag und Paul den Kunstsalon.255 Die Kataloge 247 Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 224. 248 Kennert, Christian: »Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt…« Der Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer, in: Thieme/Probst 2003, S. 10–30, hier : S. 15. 249 Vgl. Brühl, Georg: Die Cassirers. Streiter für den Impressionismus, Leipzig 1991, S. 106. 250 Im heutigen Bewusstsein sind die ersten beiden Vorsitzenden der ›Berliner Secession‹, Max Liebermann und Walter Leistikow, als Initiatoren der Vereinigung fest verankert. Lacher stellt diesen Irrtum jedoch richtig und nennt die wahren Urheber : Max Uth, Adelsteen Norman, Paul Hoeninger, Reinhold Lepsius und Weitere. Vgl. Lacher, Reimar : Kommentar zu Lovis Corinth: Das Leben Walter Leistikows. Ein Stück Berliner Kulturgeschichte, Neuauflage Berlin 2000, S. 139–203, S. 166–167. 251 Protokollbuch der Berliner Secession, 10. und 13. März 1899, zit. nach: Paret, Peter : Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland, Berlin 1981, S. 116. 252 Paret 1981, S. 116. 253 Die seit 1902 im Verlag von Bruno Cassirer erschienene Zeitschrift Kunst und Künstler war das inoffizielle Publikationsorgan der ›Berliner Secession‹. 254 Vgl. Doede, Werner : Die Berliner Secession. Berlin als Zentrum der deutschen Kunst von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977, S. 20. 255 Vgl. Brühl 1991, S. 111.

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zu den Ausstellungen in der Galerie Paul Cassirer sowie die Kataloge der Berliner Secessionsausstellungen wurden jedoch weiterhin im Eigenverlag publiziert.256 Die von Anfang an bestehende enge Verbindung Paul Cassirers mit der ›Berliner Secession‹ rief nicht nur positive Reaktionen hervor.257 Fast alle Künstler, die Durieux bis 1933 porträtierten, waren Mitglieder von mindestens einer secessionistischen Vereinigung.258 Die Gründung der Secessionen markiert den Beginn der Moderne im deutschsprachigen Raum, sie wurden zum »Hort der Avantgarde«259. Der Hauptverdienst der Secessionen war die »Lösung vom Naturvorbild«, die später zur »Voraussetzung für die Weiterentwicklung zu den abstrakten Tendenzen des 20. Jahrhunderts«260 wurde. Da bei den Secessionsausstellungen stets Werke ausländischer Künstler vertreten waren, gingen von ihnen internationale Impulse auf die deutsche Kunstszene aus.261 Die Künstler, die sich in der ›Berliner Secession‹ zusammenschlossen, gehörten keinem einheitlichen Stil an262, stimmten jedoch in der »Distanzierung vom Wilhelminismus«263 überein.264 Best konstatiert, dass das Motiv für die 256 Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 60. 257 »Im Februar 1902 beklagten 18 Secessionsmitglieder in einem offenen Brief die ›Stellung des Geschäftsführers der Secession‹. Sie warfen Cassirer vor, daß er, ohne es zu wollen, auch in der Secession derjenigen Kunstrichtung eine besondere Förderung zu Teil werden läßt, die er in seinem Salon vorzugsweise pflegt.« Hoffmeister 1992a, S. 64. 258 Einen Überblick über die Mitglieder der deutschsprachigen Secessionen gibt das Verzeichnis von: Best, Bettina: Secession und Secessionen. Idee und Organisation einer Kunstbewegung um die Jahrhundertwende. Eine vergleichende Darstellung der Interaktionen, Aktivitäten und Programme der deutschsprachigen Künstlervereinigungen der Secession, München 2000, S. 479–668. Von Durieux’ Porträtistinnen war keine Mitglied der ›Berliner Secession‹. 259 Best, Bettina: Die Secessionsbewegung und ihre Vereinigungen in München, Berlin und Wien, in: Secession 1892–1914 – Die Münchner Secession, hg. v. Michael Buhrs u. a., Ausst.kat., München 2008, S. 260–272, hier : S. 260. »Ausgelöst durch die Gründung der Münchner Secession entspann sich ab 1892 vor allem in den deutschen Städten ein Secessionsmilieu, das von einer Vielzahl secessionistischer Gruppierungen getragen wurde.« Best 2000, S. 72. Es bestanden zahlreiche »Mehrfachmitgliedschaften« in den drei großen deutschsprachigen Secessionen in München, Berlin und Wien. Als ordentliche oder korrespondierende Mitglieder nahmen mehrere Künstler bei Ausstellungen aller drei Secessionen teil. Vgl. Best 2008, S. 264. Zur Geschichte der ›Berliner Secession‹ siehe: Pfefferkorn, Rudolf: Die Berliner Secession. Eine Epoche deutscher Kunstgeschichte, Berlin 1972; Doede 1977; Paret 1981; Best 2000. 260 Best 2000, S. 441. 261 Bei der zweiten Ausstellung der ›Berliner Secession‹ waren bereits 44 ausländische Künstler dabei. Vgl. Kennert 1996, S. 54. 262 Nach Best umfasst der Begriff »Secessionskunst« die Richtungen Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, die sich alle aus dem Naturalismus herleiten. Vgl. Best 2000, S. 408. 263 Schutte, Jürgen/Sprengel, Peter (Hg.): Die Berliner Moderne, 1885–1914, Stuttgart 1987, S. 68. 264 In seiner Rede anlässlich der Einweihung der Siegesallee 1901 kritisierte Kaiser Wilhelm II.

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Gründungen der deutschen Secessionen nicht die Ablehnung der Secessionisten durch das offizielle, akademische Ausstellungswesen war. Vielmehr lag es in dem »Führungsanspruch, den die im Ausstellungsbetrieb der 1880er Jahre zunehmend erstarkenden secessionistische Künstlerschaft erhob«.265 Das Unverständnis der »gemäßigten« Modernen innerhalb der Secessionen für neu aufkommende Strömungen besiegelte ihr Ende.266 Als es 1910 zur ersten Spaltung der ›Berliner Secession‹ kam267, legte Cassirer, wie alle anderen Mitglieder des Vorstands – einschließlich des Vorsitzenden Max Liebermann – sein Amt nieder.268 Nachfolger von Liebermann wurde 1911 Corinth. Als dieser erkrankte, übernahm Cassirer Ende des Jahres 1912 den Vorsitz.269 1913 kam es zu einem erneuten Bruch der ›Berliner Secession‹.270 Der Großteil der Gründungsmitglieder, darunter Cassirer, trat aus der Vereinigung aus und Corinth übernahm die Präsidentschaft der »Rumpfsecession«.271 Die Ausgetretenen gründeten 1914 die bis 1923 bestehende ›Freie Secession Berlin‹ mit Cassirer als Ehrenmitglied.272 Nach der Spaltung hatten die Secessionsgruppen jedoch ihre progressive Wirkungskraft verloren.273 1908 erfolgte die Wiederaufnahme von Paul Cassirers Verlagstätigkeit nach der mit Bruno Cassirer 1901 vereinbarten »Sperre« mit der Gründung des Paul Cassirer Verlags, der bis 1933 bestand.274 Das vielfältige Verlagsprogramm umfasste Lyrik- und Dramen-Publikationen größtenteils junger Autoren, kunst-

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die secessionistische Kunst, da sie nicht die der Kunst zugeteilte Aufgabe erfülle, das Volk zu erheben, sondern statt dessen in den Rinnstein niedersteige. Damit prägte er den Begriff »Rinnsteinkunst«. Zit. nach: Paret 1981, S. 41. Im Kunstbetrieb wurde der wilhelminische Geschmack durch den Akademie-Direktor Anton von Werner und die Großen Berliner Kunstausstellungen im Glaspalast am Lehrter Bahnhof repräsentiert. Best 2000, S. 35. »Ihre an die Tradition der klassischen Moderne des 19. Jahrhunderts gebundene Haltung führte zu inneren Differenzen und zur Entfremdung der Münchner und Berliner Secession gegenüber der expressionistischen Jugend.« Best 2000, S. 372. Nach der Zurückweisung von 27 meist expressionistischen Künstlern von der Jury der Secessionsausstellung kam es zum Austritt und Abspaltung der ›Neuen Secession‹ mit Max Pechstein als Präsident. Vgl. Best 2000, S. 373. Vgl. Paret 1981, S. 108. Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 161. Der Bruch war eine Folge der Auseinandersetzungen um die Teilnahme expressionistischer Künstler bei der Sommerausstellung der ›Berliner Secession‹. Vgl. Paret 1981, S. 330. Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 166. Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 170. »Die politische Entwicklung erstickte jedoch in den nachfolgenden Kriegsjahren jede künstlerische Entfaltung und brachte die großen Konzepte der Secessionen zum Erliegen.« Best 2008, S. 269. Nach Cassirers Tod 1926 wurden Verlag und Galerie von seinen Partnern Grete Ring und Walther Feilchenfeldt weitergeführt, bis sie unter den Nationalsozialisten aufgelöst wurden. Vgl. Feilchenfeldt, Rahel E.: Paul Cassirer – ein Mosaik, in: Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 13– 42, hier : S. 39.

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wissenschaftliche Bände, politische Schriften und bibliophile Ausgaben mit Illustrationen. Zu den veröffentlichten Literaten zählten u. a. Heinrich Mann, Else Lasker-Schüler, Walter Hasenclever, Frank Wedekind, Carl Sternheim, Ernst Toller und Ren8 Schickele. Auch die Durieux-Porträtisten Corinth, Slevogt, Barlach, Kokoschka, Oppenheimer, Großmann, Liebermann275 und Beckmann arbeiteten als Autoren und Illustratoren für Cassirers Verlag.276 Ergänzend zu dem Verlag gründete Cassirer 1909 die Pan-Presse, eine Handpresse für Originalgraphik und graphische Buchillustrationen, in der bis zu ihrem Ende 1922 insgesamt 19 Werke – neben graphischen Einzelblättern auch Kunsthandbücher und illustrierte belletristische Werke des Verlags – gedruckt wurden.277 Seit 1910 wurde im Paul Cassirer Verlag die Zeitschrift Pan, eine Halbmonatszeitschrift für kulturelle Interessen herausgegeben.278 1912 verkaufte Cassirer die Zeitschrift und alleiniger Herausgeber wurde Alfred Kerr bis zur Einstellung der Zeitschrift 1915.279 Bei den Mitarbeitern des Pan ergaben sich Überschneidungen mit den bildenden Künstlern und Schriftstellern, die auch sonst für den Paul Cassirer Verlag tätig waren. Neben Cassirer und Kerr waren weitere Beschäftigte des Pan z. B. Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel, Max Dauthendey, Robert Walser und Robert Musil.280 Während des Ersten Weltkriegs gab Cassirer außerdem die Künstlerflugblätter Kriegszeit (1914–1916) und Der Bildermann (1916) heraus, an denen von Durieux’ Porträtisten Barlach, Großmann, Kokoschka, Liebermann, Oppenheimer, Slevogt und Walser beteiligt waren.281 1917 kam vom Schweizer Exil aus noch die von Ren8 Schickele herausgegebene Monatszeitschrift Die weißen Blätter hinzu. 1914 meldete sich Cassirer als Freiwilliger zum Kriegsdienst. Er bereute jedoch bald seine Entscheidung, wurde zum Kriegsgegner und publizierte daraufhin in seinem Verlag pazifistische Zeitschriften und Literaten.282 1916 kam 275 Da Liebermann das Porträt von Durieux später überarbeitete, wird im Katalog kein Durieux-Porträt von Liebermann aufgeführt. Genauere Informationen dazu gibt es in Kapitel VII.1 dieser Arbeit. 276 Vgl. dazu das Verzeichnis der Publikationen des Paul Cassirer Verlags in: Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 399–405. 277 »August Gaul, Oskar Kokoschka, Walter Leistikow, Hermann Struck, Marc Chagall sind, neben Max Liebermann, Ernst Barlach und vielen anderen Künstlern, vertreten.« Feilchenfeldt, Rahel E./Brandis, Markus (Hg.): Paul Cassirer Verlag. Eine kommentierte Bibliographie, München 2002, S. 16. Zur Pan-Presse siehe auch: Caspers, Eva: Paul Cassirer und die Pan-Presse. Ein Beitrag zur deutschen Buchillustration und Graphik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989. 278 Vgl. Feilchenfeldt/Brandis 2002, S. 139. 279 Vgl. Feilchenfeldt/Brandis 2002, S. 141. 280 Vgl. Kennert 1996, S. 78. 281 Probst, Volker : Künstlerverzeichnis zu »Kriegszeit« und »Der Bildermann«, in: Thieme/ Probst 2003, S. 267–281. 282 Vgl. Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 402–403.

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Cassirer, wegen eines Nervenzusammenbruchs für dienstuntauglich erklärt, von der Front zurück und hielt sich zeitweise in der Psychiatrie auf. Als er 1917 wieder eingezogen werden sollte, siedelte er mit Durieux in die Schweiz über.283 Dort bewegte sich das Ehepaar im Umkreis anderer deutscher Exilanten wie Julius Meier-Graefe, Ren8 Schickele, Franz Werfel, Annette Kolb, Else LaskerSchüler oder Stefan Zweig.284 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ging das Paar nach Berlin zurück, wobei Durieux Cassirer erst nach einem mehrmonatigen Gastspiel und einem Krankenhausaufenthalt in München folgte. 1926 stand als Folge der langjährigen Eheprobleme285 die Scheidung bevor, als Cassirer sich kurz vor der Unterzeichnung der Papiere das Leben nahm.286 Er starb am 7. Januar an den Folgen der Schussverletzung, die er sich zwei Tage vorher zugefügt hatte.287 Die Beerdigung fand am 10. Januar im Beisein der versammelten Berliner Kunst- und Kulturwelt statt. Anschließend erschienen zahlreiche Nachrufe in Kunstzeitschriften und Zeitungen.288 Cassirers Selbstmord war ein Skandal, der bereitwillig von der Presse aufgenommen wurde.289 Cassirers Familie und einige Freunde gaben Durieux die Schuld an seinem Freitod.290 Im Gegensatz zu diesen Schuldzuweisungen an Durieux nennt 283 Bereits davor hatte Cassirer sich in seiner durch Harry Graf Kessler vermittelten Funktion in der Deutschen Gesandtschaft als Frankreich-Vermittler in Zürich aufgehalten. Vgl. Durieux 1979, S. 260. 284 Vgl. Pohl 2002, S. 80. 285 Vgl. Durieux 1979, S. 315. Tilly Wedekind berichtet in ihrer Autobiographie über Cassirers Untreue: »Später gab mir einmal jemand zu bedenken, daß Frank mir doch nie angetan habe, was so viele Männer ihren Frauen antun und wenn sie berühmt sind, in aller Öffentlichkeit: daß er mich nie gedemütigt habe, indem er mir eine andere Frau oder ein junges Mädchen vorzog, […] wie es Tilla Durieux mit ihrem Mann Paul Cassirer erging.« Wedekind, Tilly : Lulu. Die Rolle meines Lebens, München/Bern/Wien 1969, S. 67. 286 »Gleich darauf fiel ein Schuß im Nebenzimmer. Hatte ich nicht schon öfter solche Selbstmordversuche um ganz geringe Dinge erlebt? Ich stürzte ins Nebenzimmer und fand Paul am Boden liegend und mir entgegenrufend: ›Nun bleibst du aber bei mir!!‹.« Durieux 1979, S. 313. 287 Vgl. Durieux 1979, S. 313; Kennert 1996, S. 178. Einen Tag vor der Scheidung machte Cassirer sein Testament zu Gunsten seiner Tochter Susanne. Er muss seinen Selbstmord also geplant haben. Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 220. 288 Vgl. Kessler, Harry Graf: Künstler und Nationen. Aufsätze und Reden 1899–1933, hg. v. Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster, Frankfurt am Main 1988, S. 272–276. 289 »Als ich mit der Zeit zu mir kam, grüßten mich auf der Straße meine Bekannten nicht mehr ; die Zeitungen hatten Kübel von Schmutzwasser über mich gegossen. Ich ging nicht mehr auf die Straße.« Durieux 1979, S. 119, 314. 290 Harry Graf Kessler notierte am Tag von Cassirers Beerdigung in seinem Tagebuch: »Obwohl Ernst Cassirer noch gestern abend um halb zwölf bei mir anrief und durchzusetzen versuchte, daß ich die Tilla Durieux in meiner Rede nicht erwähne (weil in der Familie und bei den Freunden Cassirers eine so starke Animosität gegen sie herrsche), erwähnte ich sie doch selbstverständlich. Sie war tief verschleiert anwesend (auch dies hatten Ernst Cassirer, Feilchenfeldt und andre zu verhindern versucht). Ich drückte ihr nachher die Hand, und sie dankte mir.« Tagebucheintrag vom 10. 1. 1926. Kessler, Harry Graf: Das Tagebuch (1880–

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Hoffmeister eine persönliche und berufliche Krise Cassirers als Selbstmordmotiv. Cassirer war zeitlebens psychisch instabil und hatte bereits früher versucht sich umzubringen.291 Einerseits hatte die Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg negative Auswirkungen auf den Kunsthandel292, andererseits hatte sich der Kunstmarkt stark gewandelt, so dass Cassirer mit den neuen künstlerischen Entwicklungen nicht mehr Schritt halten konnte.293 Cassirers Galerie sei nach Hoffmeister zu einem »Bilderkabinett«294 geworden, in dem es ab den 1920er Jahren kaum noch Ausstellungen gegeben habe. Seit 1916 war Cassirers Auktionsgeschäft mehr in den Fokus gerückt.295 Seine Galerie, die lange Zeit so prägend für den deutschen Kunsthandel gewesen war, verlor an Bedeutung.296 »Cassirers Kreis war auseinandergefallen«297, wie Kennert es in seiner bezügereichen Darstellung von Cassirers Unternehmungen formuliert. Cassirers Aktivitäten als Unternehmer in den Bereichen Kunsthandel und Verlagswesen waren äußerst vielschichtig und weitreichend. Durch seine Förderung und Unterstützung von bildenden Künstlern und Literaten lenkte er das Kunst- und Kulturgeschehen seiner Zeit. Sein gutes Gespür trug dazu bei, dass Berlin um die Jahrhundertwende München den Rang als deutsche Kunsthauptstadt ablief.298 Er wurde zu einem Vorkämpfer gegen die reaktionäre Kunstpolitik des Kaiserreichs und für die Etablierung der modernen Kunst in

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1937), Bd. 8 1923–1926, hg. v. Angela Reinthal, Günter Riederer und Jörg Schuster, Stuttgart 2009, S. 710. Als Durieux 1914 überlegte, sich von Paul Cassirer zu trennen, kam er eines Morgens überraschend von der Front in die Berliner Wohnung und »drohte mich und sich zu erschießen« und ebenfalls 1914 schluckte Cassirer Gift aus Eifersucht über einen Besuch Durieux’ auf einem Fliegerstützpunkt. Vgl. Durieux 1979, S. 223–224. Während eines Psychatrieaufenthalts nach seinem Nervenzusammenbruch 1917 versuchte Cassirer sich wiederholt das Leben zu nehmen. Vgl. Durieux 1979, S. 236. Auch sein Sohn Peter erschoss sich 1919. Bereits 1920 schildert Durieux in ihrem Tages-Notiz-Kalender die Schwierigkeiten von Cassirers Unternehmen. Ihren Notizen nach schlug sie Cassirer vor, ihre Bilder zu versteigern, die ca. 5–6 Millionen bringen sollten. Vgl. Walach 2009a, S. 30. Vgl. Kennert 1996, S. 173. Hoffmeister 1992a, S. 219. Vgl. Brühl 1991, S. 170–176. Hoffmeister resümiert den »Niedergang« der Galerie Cassirer wie folgt: »Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Paul Cassirer in Berlin durch seine Förderung für eine ganze Künstlergeneration wichtig geworden. Nun vertrat er einzelne, wenige, allerdings für die Geschichte der deutschen Kunst dieser Zeit wichtige Künstler. Der bis dahin die Prozesse einer ganzen Kunstepoche beeinflussende und mitbestimmende Kunstsalon verlor damals endgültig seine – ebenso Künstler wie Erwerbungen großer deutscher Museen und Sammlungen – prägende Funktion.« Hoffmeister 1992a, S. 219. Kennert 1996, S. 172. Zusammen mit Alfred Flechtheim war Herwarth Walden einer der wenigen Berliner Kunsthändler von Cassirers Rang. Miriam Leopold arbeitet an einer Dissertation über »Die Galerien von Herwarth Walden und Paul Cassirer in Berlin 1900–1920: ein Vergleich«.

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Deutschland.299 Der Paul Cassirer Verlag wurde zu »eine[m] der großen Kulturverlage seiner Zeit«300. Viele namhafte Sammler und Museen gehörten zu Cassirers Kunden und sein Salon war, mit seinem umfangreichen Programm, ein Treffpunkt für bedeutende Persönlichkeiten der Berliner Gesellschaft. In Cassirers Galerie fanden im Rahmen des seit 1904 bestehenden ›Vereins für Kunst‹ diverse Veranstaltungen wie Lesungen, Musikabende, Vorträge sowie Aufführungen statt, bei denen auch Durieux mitwirkte.301 Echte/Feilchenfeldt bezeichnen Cassirers Galerie als »Brennpunkt […], in dem die wesentliche Kunst seiner Zeit zusammentraf«302. Die Ausstellungen im Salon Cassirer waren einzigartig in Berlin. Sie beeinflussten das Schaffen deutscher Künstler, die bei ihm bisher unbekannte deutsche sowie ausländische Kunst zu sehen bekamen.303 Als Kunsthändler war es Cassirers Verdienst, den französischen Impressionismus304 und andere französische Künstler wie C8zanne (1839–1906), van Gogh (1853– 1890)305 und Renoir (1841–1919) seit der Jahrhundertwende in Deutschland verbreitet zu haben.306 Dazu arbeitete er bereits früh eng mit den Pariser Galerien Bernheim-Jeune und Durand-Ruel zusammen.307 Später förderte er expressionistische Kunst in seiner Galerie und seinem Verlag. Cassirer verhalf einer ganzen Reihe von Künstlern zum Durchbruch. Slevogt und Corinth zogen u. a. auf Cassirers Initiative nach Berlin.308 Liebermann, Slevogt und Corinth hatten bereits in der Bruno & Paul Cassirer, Kunst- und Verlagsanstalt eine zentrale Stellung eingenommen.309 Darüber hinaus entdeckte Cassirer eine 299 In seinem Nachruf auf Cassirer schreibt der Kunstkritiker Paul Westheim: »Er organisierte den Kampf gegen die damalige Reaktion, gegen Glaspalast, Hof- und Akademiekunst.« Westheim, Paul: Nachruf auf Paul Cassirer, in: Das Kunstblatt, Jg. 10, Heft 2, 1926, S. 58–59. 300 Vgl. Brandis, Markus: »Ich bitte um besonders lebhafte Verwendung.« Selbstverständnis und Präsentation des Paul Cassirer Verlags als einer der größten Kulturverlage seiner Zeit, in: Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 281–296. 301 Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 91. 302 Echte, Bernhard/Feilchenfeldt, Walter (Hg.): Kunstsalon Bruno & Paul Cassirer. Die Ausstellungen 1898–1901: »das Beste aus aller Welt zeigen«, Bd. 1, Wädenswil 2011a, S. 8. 303 Vgl. Kennert 1996, S. 59. 304 1899 wurde Monets für den Impressionismus namensgebendes Gemälde Impression, Soleil levant im Kunstsalon Paul Cassirer zusammen mit weiteren Werken Monets sowie Werken von Manet und Segantini gezeigt. Ausstellung 01/05, 1899. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2011a, Bd. 1, S. 148. 305 Vgl. Kennert 1996, S. 56–61. 306 Vgl. Dascher, Ottfried (Hg.): »Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst«. Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler und Verleger, Wädenswil 2011, S. 199. 307 Paul Cassirer war praktisch Durand-Ruels »Berliner Vertretung«. Vgl. Hoffmeister 1992a, S. 36. 308 Vgl. Kennert 1996, S. 105. 309 Liebermann und Slevogt arbeiteten nach der geschäftlichen Trennung von Bruno und Paul Cassirer 1901 weiterhin mit beiden Vettern zusammen, Corinth nur noch mit Paul. Vgl. Achenbach, Sigrid: Die Rolle Max Liebermanns und Max Slevogts in den Verlagen Bruno und Paul Cassirer, in: Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 59–75, hier : S. 60.

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Vielzahl bis dahin weitgehend unbekannter Künstler für den deutschen Kunstmarkt. So stellte er als einer der ersten Edvard Munch (1863–1943) in Deutschland aus. Ebenso hatten Emil Orlik (1870–1932), Oskar Kokoschka und Max Beckmann (1884–1950) ihre ersten größeren Schauen bei Cassirer. Er war bereit finanzielle Wagnisse für seine »Entdeckungen« einzugehen und schloss z. B. mit Ernst Barlach, August Gaul (1869–1921), Oskar Kokoschka und Georg Kolbe (1877–1947) sehr großzügige Verträge ab.310 Mit vielen »seiner« Künstler verband ihn über Jahrzehnte hinweg ein freundschaftliches Verhältnis, auch wenn es immer wieder Auseinandersetzungen gab, die wohl auch auf seinen schwierigen Charakter zurückzuführen sind.311 Cassirer hatte weit über seine Kunsthandlung und seinen Verlag hinaus Einfluss auf das aktuelle Kunstgeschehen in Deutschland. Seine enge Verbindung zur ›Berliner Secession‹ wurde bereits geschildert. Außerdem war er seit 1904 Geschäftsführer des ›Deutschen Künstlerbunds‹, der 1903 als eine Art »Dachverband« der deutschsprachigen Secessionen in Weimar gegründet worden war.312 Weitere Tätigkeiten in dieser Richtung waren die Mitorganisation der Sonderbundausstellung in Köln 1912 und die einjährige Leitung des ›Kölnischen Kunstvereins‹ 1913.

310 Es ist schwer zu beurteilen, inwieweit Cassirer sich als selbstlosen Mäzen oder als »Erzieher« zum guten Kunstgeschmack verstand, bzw. bei der Unterstützung der Künstler seine Geschäftsinteressen verfolgte. 311 Liebermann beschreibt Cassirers Temperament in seiner Grabrede für den Kunsthändler : »Dem so glücklich veranlagten, dem glänzende Erfolge in den Schoß zu fallen schienen, fehlte eines: die innere Harmonie. Er, der die Menschen zu seinem Willen zu zwingen vermochte, vermochte sich nicht selbst zu bezwingen. […] Das faustische Element, das in der Natur jedes höher begabten Menschen obwaltet, hatte sich in Paul Cassirer bis zum Extremen gestaltet.« Kessler 1988. 312 Vgl. Raff, Thomas: »Er hatte Begabungen nach verschiedenen Seiten hin.« Paul Cassirers Münchner Jahre (1893–1897), in: Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 43–57, hier : S. 50.

IV.

Tradition des Schauspielerporträts vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts

Aufgrund seiner Tradition und Kontinuität ist das Schauspielerporträt ein bedeutender Zweig der Gattung Porträt. Die Entstehung des Schauspielerporträts setzt voraus, dass das Bildsubjekt vom Künstler der Darstellung für wert befunden wird.313 Die »Bildniswürdigkeit«314 des Schauspielers entstand mit der Herausbildung des neuzeitlichen Berufsschauspielertums gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Die Schauspieler wurden vom Publikum erstmals als Persönlichkeiten wahrgenommen. Aus dieser Zeit stammen die frühesten Porträts von namentlich bekannten Schauspielern, bei denen es sich um Wanderschauspieler handelt.315 Bei der Beschäftigung mit Schauspielerporträts stößt man in der Sekundärliteratur überall auf die Frage, inwiefern sie als Mittel zur Konservierung der transitorischen darstellenden Kunst dienen können. In der Kunstgeschichte werden Schauspielerporträts zwar nicht als Bildquellen behandelt, sondern als Untersuchungsgegenstand, dennoch ist es wichtig, sich mit dem »dokumentarischen Wert« von Schauspielerporträts zu befassen. Darüber wird vor allem in der Theaterwissenschaft diskutiert.316 Die Forschung ist sich einig darüber, 313 Es sagt jedoch nichts über die gesellschaftliche Stellung der Schauspieler aus. Ganz im Gegenteil, besaßen Schauspieler lange Zeit keinen guten Ruf und erhielten bis ins 18. Jahrhundert nicht einmal ein kirchliches Begräbnis. Vor allem Schauspielerinnen wurde noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein unmoralischer Lebenswandel unterstellt. Vgl. dazu Möhrmann, Malte: Die Herren zahlen die Kostüme. Mädchen vom Theater am Rande der Prostitution, in: Möhrmann 1989a, S. 261–280. 314 Vgl. Kluxen 1989, S. 143. 315 Vgl. Schöne 1998, S. 9. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf Spankes Porträt-Definition: »Zunächst kann unter ›Porträt‹ ganz allgemein ein Bild verstanden werden, das einen bestimmten Menschen so ins Bild bringt, dass er prinzipiell identifizierbar sein soll.« Spanke, Daniel: Porträt – Ikone – Kunst. Methodologische Studien zur Geschichte des Porträts in der Kunstliteratur : zu einer Bildtheorie der Kunst, Diss., München 2004, S. 31. Darin liegt der Unterschied zwischen Theaterbildern und Schauspielerporträts. 316 Vgl. dazu: Balme, Christopher : Interpreting the Pictorial Record: Theatre Iconography and the Referential Dilemma, in: Theatre Research International, Bd. 2, Heft 3, hg. v. Robert Erenstein und Laurence Senelick 1997, S. 190–201; Spötter, Anke: Theaterfotografie der

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Schauspielerporträts nur eingeschränkt als »Dokumente des Theaters«317 zu betrachten: »Theatergeschichte nach Bildern, das ist […] etwa so wie Schauspielerkritik nach den Widmungsgedichten der Verehrer.«318, formuliert Klara. Spötter weist darauf hin, dass Schauspielerporträts »künstlerisch codierte Zeichen«319 seien, zu deren Entschlüsselung »die Relationen des Ikons zum Theater, der Literatur, der Kultur und der geschichtlichen Realität der Zeit […] hergestellt werden«320 müssten. Nach Kelch sind Schauspielerrollenporträts trotz dieser Vorbehalte dazu geeignet, »die Grundlagen dieser Schauspielkunst zu finden«: »Nebensächliche Dinge werden unterdrückt und das Wesentliche, der Schauspieler, in einer Weise betont, die ihn uns greifbar nahe führt.«321 Es stellt sich nicht nur die Frage, ob sich das schauspielerische Selbstverständnis in der Art, wie die Schauspieler für Künstler posieren, widerspiegelt, sondern auch inwieweit diese Selbstinszenierung in das Porträt umgesetzt wird? Das Rollenporträt eines Schauspielers besitzt nach Lemmer seine »eigene künstlerische Wirklichkeit« und beinhaltet auch »rein malerische[…] Reiz[e]«322. Gemäß Holschbach zeigt sich in den gemalten Rollenporträts stärker der jeweilige Stil des ausführenden Malers, als der Schauspielstil des Modells. Bei den illustrierenden grafischen Rollenporträts sieht sie dagegen einen »direkteren Bezug zur Bühnenpraxis« der Zeit.323 Fotografien gehen noch einen Schritt weiter in Richtung »Abbildung« der Theaterrealität, wie das Kapitel V.4.2 dieser Arbeit verdeutlicht. Da ein Porträt von vielen verschiedenen Gestaltungselementen beeinflusst wird, ist das Vorhandensein des individuellen Schauspielstils in den Porträts nicht immer eindeutig nachzuweisen. Diese Überlegungen sollen bei der Betrachtung der Porträts von Tilla Durieux im Hinterkopf behalten werden.

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zwanziger Jahre an Berliner Bühnen. Gestaltung und Gebrauch eines Mediums, Diss., Berlin 2003, S. 51–59; Balme, Christopher : Einführung in die Theaterwissenschaft, 4. Aufl., Berlin 2008, S. 165–174. Möhrmann 1989b, S. 123. Klara 1931, S. 202. Spötter 2003, S. 57. Spötter 2003, S. 57. Kelch 1938, S. 154. Das Theaterbild ist also nicht nur ein »Abbild einer Aufführung«, sondern »es erscheint als Dokument einer bestimmten Epoche und ihrer Art zu sehen und zu gestalten […].« Lemmer 1957, S. 2. Holschbach 2006, S. 178.

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IV.1 Begriffsklärungen IV.1.1 Schauspielerporträt Gemäß der Bezeichnung »Schauspielerporträt« handelt es sich bei der dargestellten Person um einen Schauspieler.324 Innerhalb der Theaterikonographie gehört es der rezeptiven Ebene an.325 Der Großteil der Schauspielerporträts zeigt namentlich bekannte Schauspieler zu ihren Lebzeiten, von zeitgenössischen Künstlern geschaffen. Bildnisse326 individueller Mimen sind zu unterscheiden von allgemeinen »Theaterbildern« wie anonymen Theaterfiguren und Genreszenen aus dem Theatermilieu bzw. Darstellungen anderer Gattungen, wie dem Historienbild mit theatralen Elementen.327 Auf Grund ihrer großen Ausdruckskraft und ihrer beruflichen Erfahrung, sich in Szene zu setzen, boten Schauspieler sich als Künstlermodelle an.328 Die unterschiedlichen Formen des Schauspielerporträts beziehen sich auf das Verhältnis von Privatperson und Bühnenrolle des Schauspielers im Bildnis. Das Zivilporträt/Privatporträt enthält keinen Anhaltspunkt für den Beruf des Porträtierten.329 Die nächste Stufe ist das Porträt mit Attributen oder Elementen, die auf das Theater verweisen, wie beispielsweise eine Maske. Und schließlich gibt es das Rollenporträt, das den Schauspieler als metaphorische Theaterfigur, als imaginierte Bühnenfigur oder als tatsächliche Rollenfigur abbildet. Die gegenseitige Beeinflussung von bildender und darstellender Kunst macht es manchmal schwer, ein Schauspielerrollenporträt von dem mythologischen Porträt eines Nicht-Schauspielers zu 324 Solange in der Arbeit das Wort »Schauspieler« im Singular und Plural benutzt wird, bezieht es sich auf beide Geschlechter. Nur wenn explizit das weibliche Geschlecht gemeint ist, wird das Wort in der weiblichen Form verwendet bzw. ein Unterschied zwischen männlichem »Schauspieler« und weiblicher »Schauspielerin« gemacht. 325 »Theaterikonographie beschäftigt sich im weitesten Sinne mit Bildern, die das Theater und sein Umfeld abbilden. Dazu gehören auch Bilder wie Schauspielerporträts, die nicht unbedingt einer konkreten Aufführung zugeschrieben werden können.« Balme 2008, S. 165. 326 Die Begriffe »Bildnis« und »Porträt« werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet. Spanke betont in seiner Dissertation noch einmal, dass die Unterscheidung der beiden Begriffe nicht sinnvoll ist. Vgl. Spanke 2004, S. 32. 327 Theatrale Elemente in Historienbildern sind ihr bühnenartiger Aufbau mit leichter Untersicht, ähnlich dem Blick aus dem Zuschauerraum auf eine Guckkastenbühne, die Abhebung der Figuren vor dunklem Hintergrund durch starke Beleuchtung, vergleichbar mit der Bühnenbeleuchtung, und die reliefartige Gestaltung des Hintergrunds, wie bei einem Bühnenbild. Die Kleidung der Figuren kann von Theaterkostümen beeinflusst sein, jedoch ist einzuwenden, dass die Theaterkostüme wiederum die reale Mode der Zeit prägten. 328 Viele Künstler ließen Schauspieler für Historienbilder und Genreszenen Modellstehen. 329 Kluxen rechnet die privaten Schauspielerporträts zu den »ständetranszendierenden Bürgerporträts«. Kluxen 1989, S. 142. Im 18. Jahrhundert stellten die meisten bürgerlichen Porträts, die größtenteils als Auftragsarbeiten entstanden, Dichter, Gelehrte und Schauspieler dar. Vgl. Kluxen 1989, S. 47.

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unterscheiden. Deshalb ist die Zuordnung des Schauspielerporträts zu dem Porträttyp »Berufsporträt« in den Fällen ohne eindeutigen Hinweis auf den Beruf des Dargestellten problematisch. Neben Einzelporträts sind bei Szenendarstellungen auch Mehrfigurenporträts, auch als »theatrale Konversationsstücke«330 bezeichnet, möglich. Schauspielerporträts mit einer auf die Öffentlichkeit gerichteten Wirkungsabsicht können dem Typus des Repräsentationsporträts zugeordnet werden.331 Die Funktionen des Schauspielerporträts variieren je nach Interessensgruppen. Dem Schauspieler dienen sie zur Legitimation seines Starstatus und zur Einflussnahme auf seine Außenwirkung. Darüber hinaus helfen sie ihm, dem Publikum allgegenwärtig zu sein und sind unvergängliche Zeugnisse seines Ruhms, indem das Aussehen des Schauspielers – bzw. im Rollenporträt sogar seine Schauspielkunst – der Nachwelt überliefert wird.332 Für den Künstler bedeuten sie Aufmerksamkeit und Prestige. Schauspielerporträts lassen sich gut verkaufen und sind beliebte Ausstellungsexponate. Der Ruhm eines bekannten Schauspielers strahlt auf den Porträtisten zurück. Für den Zuschauer besitzt das Abbild eine Stellvertreter-Funktion333 für den verehrten Schauspieler, vermittelt ein Gefühl von Nähe und kann als Andenken an eine besuchte Aufführung334 dienen.

IV.1.2 Schauspielerrollenporträt Da das Schauspielerrollenporträt den Dargestellten nicht als Privatperson zeigt, kann es dem Typus des Identifikationsporträts zugezählt werden.335 Der 330 Ashton, Geoffrey : The golden age of british theatrical portraiture, in: Ashton/Kalman/ Wilton 1997, S. XXIII–XXIX, hier: S. XXIX. William Hogarths Reihe von Gemälden zu The Beggar’s Opera von John Gay zählen zu den frühesten Darstellungen einer tatsächlichen Theateraufführung: William Hogarth, A Scene from The Beggar’s Opera VI, 1731, Öl auf Leinwand, 57,2 x 76,2 cm, Tate Gallery, London, Inv.Nr. N02437. Vgl. Perry, Gill: Introduction: Painting actresses’ lives, in: Perry/Roach/West 2011, S. 10–31, hier : S. 16. 331 Ähnlich einem Herrscherporträt, dient der komplette Bildapparat zur überzeugenden Repräsentation des Dargestellten. In Bezug auf die Porträtfunktion sieht Kluxen eine Übereinstimmung zwischen dem Geniekult um den Herrscher und dem Starkult um den Schauspieler. Vgl. Kluxen 1989, S. 109. Obwohl der Schauspieler eine Person des öffentlichen Lebens ist, sind nicht alle Porträts in erster Linie repräsentativ. 332 Die Bekanntheit des Schauspielers, die über Reproduktionen seiner Porträts gefördert wird, ist auch Werbung für das Theater, an dem er engagiert ist und für die dort gespielten Stücke. 333 Bei einem Herrscherporträt kann das Bild auf Grund der Trennung von Person und Amt an die Stelle des Herrschers selbst treten. Bei einem Schauspieler-Rollenporträt geschieht dies durch die Ablösung der Privatperson von der Bühnenrolle. 334 Der Begriff »Aufführung« meint ein einmaliges Theaterereignis im Unterschied zu dem Begriff »Inszenierung«, der alle »Ebenen der theatralische[n] Realisierung umfaßt«. Früchtl/Zimmermann 2013, S. 35. 335 Der Grund für die Wahl der Figur liegt nicht in ihrer Vorbildfunktion für den Porträtierten,

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Schauspieler »[…] repräsentiert eine fremde Persönlichkeit, der er seine Züge leiht.«336 Nach Poleross’ Definition handelt es sich bei dem Schauspielerrollenporträt um ein »Verkleidetes Bildnis«, da das Bildnis »durch Hinzufügung von Attributen und ›Maskierungen‹«337 um eine zweite Ebene erweitert wird. Dies führt zu einer »Kombination zweier Realitätssphären«338, des fiktiven Theaters und der Realität der Person des Schauspielers. Durch die Erweiterung des Porträts durch das Hinzufügen eines »porträtfremden Elements«339 entsteht eine Mischform zwischen der Gattung Porträt und anderen Gattungen wie der Allegorie, der Historie oder dem Genre. Im Rollenporträt wird dem Dargestellten zur metaphorischen Überhöhung und Idealisierung ein Attribut hinzu gegeben, das mythologischen, allegorischen, literarischen, biblischen oder historischen Ursprungs sein kann.340 Im Fall des Schauspielerrollenporträts handelt es sich bei dem Porträtierten um einen Schauspieler. Das beigefügte Attribut entstammt somit dem Bereich des Theaters. Dabei bestehen verschiedene Möglichkeiten der Präsentation des Schauspielers: als Personifikation einer metaphorischen Theaterfigur (z. B. als tragische oder komische Muse), als imaginierte Bühnenfigur oder als tatsächliche Rollenfigur. Im letzten Fall gibt der Künstler den Schauspieler in einer seiner Bühnenrollen wieder, deren Aufführung der Künstler oftmals selbst besucht hat.341 Die dem Wesen nach ephemere darstellende Kunst erfährt auf diese Weise im Schauspielerrollenporträt eine dauerhafte Bewahrung.342 Aus diesem Gegensatz ergibt sich nach Kluxen die besondere Spannung in einem Schauspielerrollenporträt.343 Das Rollenporträt hält nach Ahrens die »schauspielerische Verwandlung auf der Bühne durch Mimik, Gestik und Bewegung«344 fest. Schenk definiert das Rollenporträt ähnlich wie Ahrens als »die getreue Abbil-

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sondern ist durch eine tatsächliche Bühnenrolle inspiriert. Der Schauspieler wird jedoch vom Publikum häufig mit der Rolle identifiziert. Schartner, S. 6. Polleroß, Friedrich B.: Das sakrale Identifikationsporträt. Ein höfischer Bildtypus vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Diss., Bd. 1, Worms 1988, S. 11. Polleroß 1988, S. 11. Kluxen 1989, S. 144. Vgl. Tasch, Stephanie Goda: Studien zum weiblichen Rollenporträt in England von Anthonis van Dyck bis Joshua Reynolds, Diss., Weimar 1999, S. 10. Dabei wählt der Künstler häufig eine Glanzrolle des Schauspielers, mit der dieser vom Publikum identifiziert wird. Oft ist der Schauspieler im entscheidenden Höhe- und Wendepunkt des Stücks zu sehen. Zur Identifizierung eines Schauspielerporträts, das sich auf eine reale Rolle des Mimen bezieht, muss dem Betrachter zusätzlich zu seiner Person auch das Stück vertraut sein. Dank der Verbreitung von Schauspielerporträts durch reproduzierende Stiche und später Fotografien ist die Identifizierung der Rolle nicht nur Theaterbesuchern vorbehalten. Vgl. Kluxen 1989, S. 144. Ahrens, Birgit: »Denn die Bühne ist der Spiegel der Zeit«. Emil Orlik (1870–1932) und das Theater, Diss., Kiel 2001, S. 215.

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dung des Schauspielers in seiner schauspielerischen Verwandlung«345. Gemäß Schenk geht es dem Künstler darum, diese »Ambivalenz zwischen tatsächlicher und gespielter Persönlichkeit der Schauspieler«346 aufzuzeigen. In ihrer Dissertation Die Geschichte des Rollenporträts in Deutschland unterteilt Schartner das Schauspielerrollenporträt in drei Kategorien, die auf diese Arbeit angewendet werden. Verständlicherweise gehen die von Schartner formulierten Kategorien in manchen Fällen ineinander über.347 Die erste Darstellungsweise bezeichnet Schartner als »Illustrative Szene«, die an eine bestimmte Aufführung anknüpft und damit der Literaturillustration nahe steht.348 Illustrative Szenen sind in den meisten Fällen graphische Rollenporträts. Als zweite Form nennt Schartner das »Kostümporträt«, eine Art »Standesporträt«349, in dem der Schauspieler sich im Kostüm einer bestimmten Rolle präsentiert. Der Schauspieler bleibt »Privatperson« und der Bezug zur Inszenierung ist auf äußere Merkmale beschränkt.350 Im »Aktionsporträt«, der dritten Kategorie des Rollenporträts nach Schartner, lehnt sich der Künstler eng an die Aufführung an und stellt einen identifizierbaren Moment daraus dar. Dabei geht es dem Künstler darum, Charakteristika der Aufführung bzw. den individuellen Darstellungsstil des Schauspielers »in Aktion« zu verewigen.351 Von den drei Kategorien ist das »Aktionsporträt« die höchste theatrale Stufe, wie Schartner bemerkt: »Das Aktionsporträt entpersönlicht den Schauspieler und läßt seine äußere Erscheinung in der dargestellten Person aufgehen.«352

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Schenk 2005, S. 147. Schenk 2005, S. 147. Vgl. Schartner 1962, S. 45. Vgl. Schartner 1962, S. 24. Im Gegensatz zum »echten« Standesporträt verweist die Kleidung und Ausstattung des porträtierten Schauspielers im Bühnenkostüm nicht auf seinen realen gesellschaftlichen Stand. 350 Vgl. Schartner 1962, S. 42. In die Kategorie »Kostümporträt« können auch Porträts einbezogen werden, die nicht von tatsächlichen Aufführungen inspiriert sind, solange eindeutig erkennbar ist, dass es sich um ein Kostüm handelt. Schauspieler-Rollenporträts im originalen Kostüm mit eindeutigen Theaterrequisiten in einer aufführungsgetreuen bzw. dem Bühnenbild nachempfundenen Kulisse sind sehr selten. 351 Im »Aktionsporträt« muss der Schauspieler nicht zwingend in Bewegung gezeigt werden. Er kann auch in einer für das Stück typischen Pose erscheinen oder der Künstler beschränkt sich auf die individuell besondere Mimik oder Gestik des Schauspielers. 352 Schartner 1962, S. 43.

Anfänge und Entwicklung des Schauspielerporträts in England und Frankreich

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IV.2 Anfänge und Entwicklung des Schauspielerporträts in England und Frankreich Der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an englischen Bühnen aufkommende »Ausdrucksrealismus« führte erstmals zu dem Versuch, in den Schauspielerporträts die »individuelle[…] Ausstrahlung«353 der Schauspieler einzufangen.354 Darin wurden die englischen Schauspielerporträts richtungsweisend für die europäische Entwicklung.355 John Greenhills (1644–1677) Kreidezeichnung Thomas Betterton as Solyman356 von 1663 ist eines der frühesten Zeugnisse dieser Versuche.357 Der theaterbegeisterte Porträtist zeigt den Schauspieler als Halbfigur im Kostüm vor einer Architekturkulisse. Zu einer Hochphase des Schauspielerporträts kam es im 18. Jahrhundert, als zunehmend die »Kunstfertigkeit des Bühnenkünstlers als eigenständige Leistung«358 beurteilt wurde359. Sie spielte sich vor allem in England und Frankreich ab.360 Die Tatsache, dass Porträts von englischen Schauspielern und Schauspielerinnen361 in den bedeutenden öffentlichen Ausstellungen der Royal Academy und der Society of Artists dargeboten wurden, beweist ihren hohen Stellenwert in der englischen Malerei des 18. Jahrhunderts.362 David Garrick (1717–

353 Kluxen 1989, S. 144. 354 Verständlicherweise ist die Auffassung davon, was als »realistisch« gilt, einem historischen Wandel unterworfen und muss immer im Kontext der Entstehungszeit der Porträts gesehen werden. 355 Vgl. Kluxen 1989, S. 142. Kluxens These, die Ursprünge des Schauspielerporträts ausschließlich in England zu sehen, wird durch zahlreiche Beispiele der Frühzeit der Gattung aus verschiedenen europäischen Ländern entkräftet. 356 John Greenhill, Thomas Betterton as Solyman, 1663, Kreidezeichnung, National Trust Collections, Kingston Lacy Estate, Dorset, Inv.Nr. 1257163. 357 Vgl. Lemmer 1962, S. 9. 358 Möhrmann 1989b, S. 134. 359 Laut Kluxen sei die englische Malerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert zum internationalen Vorbild für die Porträtmalerei geworden und »maßgebend für die Entwicklung des deutschen Porträts von einem Standes- zu einem Gesellschaftsporträt« sowie für die »Emanzipation des Porträts gegenüber den anderen Kunstgattungen« verantwortlich gewesen. Kluxen 1989, S. 9, 50. »Die für das deutsche Porträt und das ganze 19. Jahrhundert bedeutendsten Elemente des britischen Bildnisstils sind die Einführung des Sozialstils, die […] neue Naturauffassung und die spezifisch englische ›Natürlichkeit‹, die Verfügbarmachung der Ikonographie und die Historisierung des Porträts.« Kluxen 1989, S. 73. 360 Vgl. Schenk 2005, S. 147. 361 In der Einleitung des Sammelbands Notorious Muse stellt Asleson fest, dass in dem untersuchten Zeitraum von 1776 bis 1812 keine Gruppe von Frauen so häufig in der englischen Kunst dargestellt wurde wie Schauspielerinnen. Vgl. Asleson 2003, S. 2. 362 Vgl. Asleson, Robyn: »She was tragedy personified«: Crafting the Siddons Legend in Art and Life, in: ders. 1999, S. 41–95, hier : S. 46. Asleson schildert die Nutzung von Schauspielerporträts durch die Künstler als Attraktion in ihren Ateliers. Die Künstler profitierten

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1779), der einen natürlicheren Darstellungsstil im englischen Theater einführte, besitzt eine besondere Bedeutung für die Entwicklung des Schauspielerporträts im 18. Jahrhundert.363 Er wurde von so namhaften Künstlern wie Joshua Reynolds (1723–1792), William Hogarth (1697–1764) und Johan Zoffany (1733– 1810) sowie von der Künstlerin Angelika Kauffmann (1741–1807) gemalt.364 In den meisten Rollenporträts erscheint Garrick als historische, mythologische oder allegorische Figur beziehungsweise in Begleitung von metaphorischen Theaterfiguren.365 Vereinzelt gibt es Mehrfigurenporträts als Theaterszenen mit Garrick, z. B. in den »theatrical conversation pieces«, die der Schauspieler 1762 bei Johan Zoffany in Auftrag gab und die öffentlich ausgestellt wurden.366 Genauso wie Zoffanys Garrick-Porträts, belegt Hogarths Darstellung von Garrick in seiner Glanzrolle als Richard III.367 in der Zeltszene im V. Akt von Shakespeares Drama, wie stark sich das Schauspielerrollenporträt im 18. Jahrhundert am Historienbild orientierte.368 Auch im 19. Jahrhundert herrschte dieser formale Einfluss weiterhin vor. Bei den Rollenporträts von Schauspielerinnen des 18. Jahrhunderts wie Sarah Siddons (1755–1831)369, Mary Robinson (1758–1800)370 oder Mary Ann Yates (1728–1787), gemalt von den populärsten Porträtisten der Zeit wie Sir Joshua Reynolds (1723–1792), Thomas Gainsborough (1727–1788) oder George Romney (1734–1802)371, gibt es selten einen Unterschied zu den gleichzeitigen alle-

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hinsichtlich ihrer beruflichen Reputation und finanziell von diesen Porträts. Vgl. Asleson 2003, S. 9. Vgl. dazu auch: Seewald 2007, S. 215; Perry 2011, S. 13. Vgl. Ashton 1997, S. XXIX. Vgl. Gockel 1998; Busch 1984. Vgl. Wind 1990. Vgl. Ashton 1997, S. XXIX. z. B. Johan Zoffany, David Garrick and Mary Bradshaw in David Garrick’s The Farmers Return, um 1762, Öl auf Leinwand, 101,6 x 127 cm, Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection. Abb. in: Postle 2011, S. 190. William Hogarth, David Garrick as Richard III, um 1745, Öl auf Leinwand, 190 x 250 cm, Walker Art Gallery, Liverpool, Inv.Nr. WAG 63. Es ist schwierig zu beurteilen, inwieweit Hogarth hier Garricks Schauspielstil dokumentiert hat. Derartige theatralische Gesten wie Garricks vorgestreckter Arm wurden ebenso in Historienbildern der Zeit verwendet. Auch der Hintergrund und das Kostüm verweisen nicht zwingend auf das Theater. Hogarth und Reynolds waren beide bestrebt, die Porträtmalerei durch ikonographische Aufladung in den Rang der Historienmalerei zu erheben. Das Schauspielerporträt war optimal für diese Zwecke geeignet. Vgl. Busch 1984, S. 96. Zu den Porträts von Sarah Siddons vgl.: Asleson, Robyn (Hg.): A passion for performance. Sarah Siddons and her portraitists, Ausst.kat., Los Angeles 1999; Seewald 2007, S. 99–129; Perry, Gill/Roach, Joseph/West, Shearer (Hg.): The First Actresses. Nell Gwyn to Sarah Siddons, Ausst.kat., London 2011. Vgl. Ingamells, John: Mrs. Robinson and her portraits, London 1978. Romney stellte am häufigsten Emma Hamilton dar. Sie hatte in ihrer Jugend am Drury Lane Theatre in London gespielt, wurde später bekannt als »Erfinderin« der Attitüde. Vgl. dazu: Holmström, Kirsten Gram: Monodrama, Attitudes, Tableaux Vivants. Studies on some trends of theatrical fashion 1770–1815, Diss., Uppsala 1967; Ittershagen, Ulrike: Lady Hamiltons Attitüden, Diss., Mainz 1999.

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gorischen Porträts der Damen der Oberschicht.372 Wenn eine stattgefundene Aufführung Anlass für das Porträt war, ist dies nicht erkennbar und die zugefügten Attribute verweisen selten auf die Funktion der Dargestellten als Schauspielerin.373 Die schauspielerische Leistung tritt – in den Bildnissen wie in den Kritiken – oft hinter das Aussehen der Dargestellten zurück. Auch die (eher seltenen) Zivilporträts von englischen Schauspielerinnen des 18. Jahrhunderts unterscheiden sich nicht von weiblichen Gesellschaftsporträts, was unter anderem dadurch begründet ist, dass sie von denselben Porträtisten gemalt wurden. Möhrmann bemerkt hierzu, dass sich für die Schauspielerinnenporträts im 18. Jahrhundert eine »keinerlei ihren Beruf kennzeichnende Ikonographie«374 entwickelt habe, weil in der Schauspielerin weniger ihr Beruf, sondern »in erster Linie die Frau in ihr gesehen wird, in der das Weibliche in gesteigerter Form erscheint.«375 Ein gutes Beispiel für ein englisches Schauspielerinnenporträt des 18. Jahrhunderts ist das 1785 entstandene Zivilporträt von Sarah Siddons von Thomas Gainsborough, das in Kapitel V.2.3 eingehender betrachtet wird. Ebenso trugen französische Künstler zur Entwicklung des Schauspielerporträts bei. Claude Gillot (1673–1722), Bühnenbildner der Pariser Oper, gilt als »Begründer der Theaterbilder der R8gencemalerei«376. Seinen Szenendarstellungen liegen zwar tatsächliche Aufführungen zu Grunde, aber die Schauspieler besitzen keine porträthaften Züge.377 Obwohl das Theater motivisch im Mittelpunkt seines Schülers Antoine Watteau (1684–1721) steht, handelt es sich bei seinem Bildpersonal, z. B. in seinem Pierrot378, in der Regel nicht um professionelle Mimen.379 Schauspielerporträts im eigentlichen Sinn schufen in der französischen Kunst die Maler Nicolas de LargilliHre (1656–1746), FranÅois de Troy (1645–1730), Nicolas Lancret (1690–1743) und Charles-Antoine Coypel (1694–1752).380 LargilliHre stellt 1714 in seinem Bildnis von Mlle Duclos (1668– 372 Vgl. dazu: Möhrmann 1989b, S. 117–126; Wind 1990, S. 117–126; Tasch 1999; Asleson, Robyn (Hg.): Notorious Muse. The actress in British Art and Culture 1776–1812, New Haven 2003. Diese bildliche Durchlässigkeit in der Gesellschaftsordnung nutzten einige Schauspielerinnen zu ihrem Vorteil. Porträts, die sie wie Damen der Oberschicht darstellen, trugen zu ihrer sozialen Akzeptanz bei. Vgl. Seewald 2007, S. 213. 373 Vgl. Möhrmann 1989b, S. 120. 374 Möhrmann 1989b, S. 122. 375 Möhrmann 1989b, S. 136. 376 Kelch 1938, S. 23. 377 Vgl. Kelch 1938, S. 23–26. 378 Jean-Antoine Watteau, Pierrot (»Gilles«), 1718/19, Öl auf Leinwand, 184,5 x 149 cm, Mus8e du Louvre, Paris, Inv.Nr. MI 1121. 379 Vgl. Kelch 1938, S. 28; Lemmer 1963, S. 8–12. Eine Monographie zu Watteaus Beziehung zum Theater stammt von: Boerlin-Brodbeck, Yvonne: Antoine Watteau und das Theater, Diss., Basel 1973. 380 Vgl. Kelch 1938; Tintelnot 1939, S. 201–217; Aliverti, Maria Ines: La naissance de l’acteur moderne. L’acteur et son portrait au XVIIIe siHcle, Paris 1998.

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1748) als Ariane381 die tragische Heroine der Com8die-FranÅaise nicht in einem bestimmten Moment von Corneilles Tragödie, sondern ihre Apotheose dar.382 Auf ähnliche Weise geht es Coypel in seinem Brustbild von Duclos’ Nachfolgerin, Adrienne Lecouvreur (1692–1730), von 1726 in der Rolle der Corn8lie in La Mort de Pomp8e383 nicht um die Verbildichung ihres Darstellungsstils. Ähnlich zur Situation in der englischen Kunst im 18. Jahrhundert stehen die Rollenporträts französischer Schauspielerinnen dem mythologischen Rollenporträt nahe. Im 19. Jahrhundert schuf Edouard Manet (1832–1883) eine Reihe Rollenporträts französischer Schauspieler, z. B. von Philibert RouviHre (1809–1865) als Hamlet, 1865–1866384, Jean Baptiste Faure (1830–1914) als Hamlet, 1877385 oder Pmilie Ambre (1854–1898) als Carmen, 1880386. Alle drei Schauspieler stellt Manet als Einzelfiguren im Kostüm vor monochromem Hintergrund, im Spiel innehaltend und dem Betrachter zugewandt dar. Im 19. Jahrhundert ermöglichte die erhöhte Mobilität die Entstehung internationaler Bühnenstars.387 Beispiele des späten 19. Jahrhunderts sind die französische Virtuosin Sarah Bernhardt (1844–1923) und ihre italienische Gegenspielerin Eleonora Duse (1858–1924).388 Durch ihre umfangreichen Gastspielreisen erlangten die beiden Schauspielerinnen und ihre Porträts eine bisher unerreichte Bekanntheit, denkt man beispielsweise an die Rollenporträts in

381 Nicolas de LargilliHre, Mlle Duclos dans le rile d’Ariane, 1712, Öl auf Leinwand, 158 x 129 cm, BibliothHque-mus8e de la Com8die-FranÅaise, Paris, Inv.Nr. I 0259. Abb. in: Mus8e Jacquemart-Andr8 (Hg.): Nicolas de Largilliere 1656–1746, Ausst.kat., Paris 2003, S. 163. Durch einen Stich nach dem Gemälde von Louis Desplaces von 1714 wurde LargilliHres Bildnis weit verbreitet. Abb. in: Schöne 1998, S. 36. 382 Vgl. Aliverti 1998, S. 49. 383 Gilles Edm8 Petit, Portrait d’Adrienne Lecouvreur dans le rile de Corn8lie, Kupferstich nach Charles Antoine Coypel, 35 x 26,5 cm, Deutsches Theatermuseum München, Inv.II Nr. 1333.3. Abb in: Schöne 1998, S. 42. 384 Edouard Manet, L’Acteur tragique (RouviHre dans le rile d’Hamlet), 1866, Öl auf Leinwand, 187,2 x 108,1 cm, National Gallery of Art, Washington DC, Inv.Nr. 1959.3.1. Abb. in: Darragon, Pric: Manet, Paris 1991, S. 166. 385 Edouard Manet, Portrait de Faure dans le rile d’Hamlet, 1877, Öl auf Leinwand, 194 x 131,5 cm, Museum Folkwang, Essen, Inv.Nr. G 111. Abb. in: Darragon 1991, S. 271. Das Rollenporträt von Faure war ein Auftragsbildnis, das der Schauspieler nach Fertigstellung jedoch nicht erwerben wollte. Vgl. Museum Folkwang, Edouard Manet, Faure als Hamlet. http://collection-online.museum-folkwang.de, Stand vom 11. 02. 2013. 386 Edouard Manet, Portrait d’Pmilie Ambre dans le rile de Carmen, 1880, Öl auf Leinwand, 92,4 x 73,5 cm, Philadelphia Museum of Art, Inv.Nr. 1964–114–1. Abb. in: Darragon 1991, S. 313. 387 Vgl. Müller, Matthias: Sarah Bernhardt – Eleonora Duse. Die Virtuosinnen der Jahrhundertwende, in: Möhrmann 1989, S. 228–260, hier : S. 259. 388 Einen Überblick über Porträts von Sarah Bernhardt und Eleonora Duse gibt es bei: Balk 1994. Bei Bernhardt kommt hinzu, dass sie sich zusätzlich zur Schauspielerei auch als Bilhauerin betätigte und dabei auch Selbstbildnisse schuf.

Entwicklung des Schauspieler- und Schauspielerrollenporträts in Deutschland

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Plakatform, die Alfons Mucha (1860–1939) im Auftrag von Sarah Bernhardt schuf.389

IV.3 Entwicklung des Schauspieler- und Schauspielerrollenporträts in Deutschland IV.3.1 Das 18. und 19. Jahrhundert Das Schauspielerrollenporträt setzte sich in Deutschland erst im 18. Jahrhundert durch. Vereinzelt traten Rollenporträts von namentlich bekannten Schauspielern bereits vorher auf, wie das radierte Selbstbildnis des Nürnberger Malers und Wanderschauspielers Hans Ammon (1587–1632) als Peter Leberwurst, um 1620 entstanden, beweist.390 Schartner beschreibt die Anfänge des deutschen Schauspielerrollenporträts wie folgt: »Analog der Geschichte des deutschen Berufsschauspielertums weicht die Geschichte des Rollenporträts in Deutschland zeitlich von der Entwicklung in anderen europäischen Ländern ab.«391 Gemäß Schartner erklärt sich dieser Zustand durch die Voraussetzung für ein »individuell charakterisierte[s] Rollenbild[…]«, nämlich dass »der Schauspieler sich so mit seiner Rolle identifizierte, daß er eine neue – erdachte – Persönlichkeit in ihrer individuellen Besonderheit glaubhaft machen konnte«392. Dies setzt einen »naturalistischeren«, d. h. einen realistischen und psychologisch einfühlenden Schauspielstil voraus, der sich in Deutschland erst allmählich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte.393 Wie in England und Frankreich handelte es sich auch im deutschsprachigen Raum bei den Künstlern, die Schauspieler porträtierten, häufig um die gefragtesten Porträtisten ihrer Epoche. Unter den in Deutschland tätigen Künstlern des 18. Jahrhunderts, die Porträts von zeitgenössischen Schauspielern schufen, sind Elias Gottlob Hausmann (1695–1774) und Anton Graff (1736–1813) hervorzuheben.394 Die 389 Alfons Maria Mucha, Sarah Bernhardt als Gismonda, 1894, Farblithographie, 217 x 74 cm, Sprengel Museum Hannover, Inv.Nr. Gr. 1918,122. Abb. in: Balk 1994, S. 83. Zu den Porträts von Sarah Bernhardt vgl.: Thorun 2006. 390 Hans Ammon, Selbstbildnis als Peter Leberwurst, um 1620, Radierung, 28,3 x 22,8 cm, Deutsches Theatermuseum, München. Abb in: Schöne 1998, S. 29. Es handelt sich hier eher um ein Typenporträt, da der Hanswurst eine feste Figur der Stegreifkomödie war. Das gleiche gilt für Jacques Callots Darstellungen von Figuren der Commedia dell’arte, z. B. Les Trois Pantalons, 1618–19. Vgl. dazu: Klara 2005. 391 Schartner 1962, S. 3. 392 Vgl. Schartner 1962, S. 14. 393 Vgl. Schartner 1962, S. 12–14. 394 Der preußische Hofmaler Antoine Pesne (1683–1757) stellte dagegen eher Tänzerinnen wie La Barbarina (1721–1799), 1744 im Auftrag von Friedrich dem Großen, dar : Antoine Pesne,

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gemalten Schauspielerporträts wurden graphisch reproduziert und sind teilweise heute nur noch in dieser Form erhalten, so z. B. das Brustbild von Friederike Caroline Neuber (1697–1760) als Elisabeth in Der Graf von Essex von Elias Gottlob Hausmann, um 1740 entstanden.395 Es ist auf der Darstellung mit dem Namen der Schauspielerin und der Rolle beschriftet, sonst weist es keinerlei theatralen Elemente auf. Anton Graff, der bedeutendste Bildnismaler der Aufklärung, porträtierte zahlreiche Schauspieler, darunter Conrad Ekhof (1720– 1778) als Brustbild in einem Zivilporträt396 und August Wilhelm Iffland (1759– 1814) in der Titelrolle von Rousseaus Pygmalion397. Bei Letzterem handelt es sich um eine Theaterszene, in der am linken Bildrand die Statue der Galatea erscheint. Graff war auch einer der ersten deutschen Künstler von Rang, der eine Schauspielerin darstellte. Sein 1770 entstandenes Brustbild von Christiane Henriette Koch (1731–1804) als Pelopia in Atreus und Thyest398 lässt, wie das oben genannte Porträt von Hausmann, keinen Theaterbezug erkennen. Ebenfalls von Graff stammt das »erste repräsentative deutsche Rollenbildnis, das ein Moment der dramatischen Aktion darstellt«399. Es handelt sich um das Rollenporträt von Esther Charlotte Brandes (1742–1786) in dem, von ihrem Ehemann für sie verfassten, Stück Ariadne auf Naxos von 1775.400 Die Einbindung des Kniestücks in eine Landschaft ist typisch für Schauspielerrollenporträts des 18. Jahrhunderts. Das aufwendige Kostüm und die pathetische Geste verweisen

395 396 397 398

399 400

La Barbarina, 1744, Öl auf Leinwand, 221 x 140 cm, Schloss Charlottenhof, Potsdam, Inv.Nr. GK I 2638. Loedel, Friederike Caroline Neuber als Elisabeth, um 1740, Lithographie nach einem verschollenen Gemälde von Elias Gottlob Hausmann, 32,5 x 25 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Inv.Nr. 37550. Abb. in: Flatz 1995, S. 504. Anton Graff, Conrad Ekhof, nach 1774, Öl auf Leinwand, 62,5 x 50,5 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.Nr. A I 1130. Abb. in: Fehlmann, Marc/Verwiebe, Birgit (Hg.): Anton Graff. Gesichter einer Epoche, Ausst.kat., München 2013, S. 187. Anton Graff, August Wilhelm Iffland in der Rolle des Pygmalion, 1800, Öl auf Leinwand, 240 x 160 cm, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. Abb. in: Fehlmann/Verwiebe 2013, S. 195. Johann Friedrich Bause, Christiane Henriette Koch als Pelopia, 1770, Kupferstich nach einem Gemälde von Anton Graff, 31,6 x 22,5 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Inv.Nr. 40120. Abb. in: Flatz, S. 371. Der Stich besitzt einen, für die Reproduktionen von Schauspielerporträts im 18. Jahrhunderts typischen, ovalen, berankten Rahmen mit einer Maske als Theaterattribut und der Benennung der Schauspielerin auf einer Plakette. Schartner 1962, S. 76. Heinrich Sintzenich, Esther Charlotte Brandes als Ariadne, 1781, Kupferstich nach dem Gemälde von Anton Graff von 1775, 43,6 x 28,7 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Inv.Nr. 34607. Abb. in: Flatz, S. 74. Das Gemälde in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung in Köln (Inv.Nr. 31781) ist eine variierte Kopie des verschollenen Originalporträts von Graff von 1775. Vgl. Kluxen, S. 143. Das Rollenporträt wird ausführlich behandelt bei: Ost, Hans: Melodram und Malerei im 18. Jahrhundert. Anton Graffs Bildnis der Esther Charlotte Brandes als Ariadne auf Naxos, Kassel 2002 und bei: Fehlmann/Verwiebe 2013, S. 188–189.

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auf das Theater.401 Das Porträt, das eine Auftragsarbeit war402, wurde 1777 in der Dresdner Kunstakademie ausgestellt.403 Obwohl Graff in der Vorbereitung seiner Rollenporträts von Iffland und Brandes die Aufführungen besuchte und sich in den Darstellungen an die jeweiligen Textstellen hielt, sind die Posen der beiden stärker von Vorbildern der Kunstgeschichte inspiriert als von ihrer charakteristischen Spielweise.404 Wie bei den englischen und französischen Schauspielerporträts war es auch bei den deutschen Schauspielerporträts üblich, reproduzierende Stiche nach Gemälden anzufertigen. Sie wurden als Einzelblätter oder Serien verkauft oder in den, im 18. Jahrhundert immer mehr aufkommenden, Theaterzeitschriften abgedruckt. Druckgraphische Rollenporträts wurden noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem zu publizistischen und illustrativen Zwecken genutzt, nicht selten handelte es sich um reproduzierende Stiche nach bekannten Gemälden. Erst danach entstanden Originalgraphiken als von einem Vorbild unabhängige Werke, die man als eigenständige künstlerische Schöpfungen bezeichnen kann.405 Daniel Chodowiecki (1726–1802) schuf mehrere druckgraphische Serien, die in Theaterzeitschriften abgedruckt wurden, so beispielsweise 1778 Szenendarstellungen zu Hamlet.406 Es handelt sich größtenteils um Mehrfigurenbildnisse, die jeweils mit dem entsprechenden Akt und Szene, Textzitaten und den Namen der Schauspieler beschriftet sind. Obwohl Chodowieckis 401 Von der Gestaltung her könnte es auch ein mythologisches Rollenporträt sein. Theater und Malerei beeinflussten sich im 18. Jahrhundert sehr stark gegenseitig. Die Zeitgenossen erkannten jedoch wohl die Schauspielerin und der Theaterbezug war damit für sie offensichtlich. 402 Ein Zeitgenosse von Anton Graff, Johann Georg Meusel, überliefert Graffs Vorgehensweise bei der Anfertigung von Brandes’ Rollenporträt: »Herr Graf hat in Rücksicht seines zu fertigenden Gemäldes nicht nur einer Vorstellung der Ariadne auf Naxos beygewohnt, sondern auch auf dem Zimmer die vornehmste Stellung von der Schauspielerin wiederholen lassen, und nach gehöriger Prüfung diejenige für die geschickteste befunden, in welcher Ariadne würklich gemahlet ist.« Johann Georg Meusel: Miscellaneen artistischen Inhalts, 1. Heft, Erfurt 1779, S. 48–49. Zit. nach: Jenko, Sandra: Das Schauspielerporträt im 18. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung des Phänomens David Garrick, München 2004, S. 10–11. 403 Vgl. Kluxen 1989, S. 144. 404 Bei Ifflands Porträt zitiert Graff Hogarths David Garrick as Richard III sowie den Apoll von Belvedere. Bei Brandes orientiert er sich an der antiken Figur der sog. »Ältesten Niobidentochter«. Vgl. Busch, Werner : Anton Graff und seine Orientierung an der europäischen Porträttradition, in: Fehlmann/Verwiebe 2013, S. 169–178, hier : S. 177. 405 Vgl. Schenk 2005, S. 74. 406 Chodowieckis Kupferstiche beziehen sich auf Aufführungen mit dem ersten deutschen Hamlet-Interpreten Johann Brockmann von 1777/1778 in Berlin. 12 Kupferstiche der Serie wurden 1779 durch den Berliner Genealogischen Kalender weit verbreitet. Chodowiecki hatte bereits vorher Theateraufführungen als Vorlage für druckgraphische Serien verwendet. Siehe dazu: Völcker, Bruno: Die Hamlet-Darstellungen Daniel Chodowieckis und ihr Quellenwert für die deutsche Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1916.

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Kupferstiche nach aktuellen Aufführungen in Berlin entstanden und die Modelle namentlich genannt werden, steht die Wiedererkennbarkeit der Schauspieler im Hintergrund. Chodowiecki zeigt in seinen Theaterszenen ein größeres Interesse an dem individuellen Darstellungsstil der Schauspieler, als es in den Graphiken seiner Zeit üblich war. Ähnliches gilt für die Graphik-Serien der Schauspieler August Wilhelm Iffland und Friederike Unzelmann, die 1812 von den Brüdern Henschel veröffentlicht wurden.407 Die Radierungen sind mit den jeweiligen Textstellen der Stücke beschriftet. Die umfangreiche Serie der Iffland-Radierungen kommt einer Dokumentation seiner Schauspielkunst, insbesondere seiner viel gerühmten mimischen Fähigkeiten, gleich. Dagegen sind die Blätter von Friederike Unzelmann (1760–1815) als Lady Macbeth408 laut Holschbach eher ein »Versuch einer Kanonisierung […] eines ›weiblichen‹ Ausdrucksspektrums«409. Wie der Titel der Folge besagt, sind die im Theater erstellten Graphiken von den Brüdern Henschel als Übungsvorbilder für Schauspieler gedacht.410 Andererseits waren Schauspieler gut als Künstlermodelle geeignet, da sie die ganze Palette menschlicher Affekte vorführen konnten. Eine Besonderheit auf dem Gebiet des Schauspielerporträts im deutschsprachigen Raum stellt die Galerie des Wiener Burgtheaters dar, deren Gemälde »zu den ersten gemalten Schauspielerbildnissen Österreichs«411 zählen. 1786 von Kaiser Joseph II. initiiert, werden bis heute die bedeutendsten Schauspieler des Burgtheaters in ihren berühmtesten Rollen porträtiert.412 Die Einmaligkeit der Burgtheatergalerie liegt darin, dass die Porträts für das Theater in Auftrag gegeben und ausschließlich dort dargeboten wurden und werden. Daher kann sie nach Polleroß als Ahnengalerie bezeichnet und als »gemalter Tugendspiegel«413 interpretiert werden. Ein Beispiel ist das Bildnis von Josef Lewinsky 407 Henschel, Moritz und Wilhelm: Ifflands Mimische Darstellungen für Schauspieler und Zeichner. Während der Vorstellung gezeichnet zu Berlin in den Jahren 1809 bis 1811, Berlin 1812. Auf dem Großteil der Blätter ist August Wilhelm Iffland in 19 verschiedenen Rollen dargestellt. Die restlichen Blätter zeigen Friederike Unzelmann u. a. als Lady Macbeth. Abb. in: Flatz 1995, S. 302–328; 696–698. 408 Moritz und Wilhelm Henschel, Friederike Unzelmann als Lady Macbeth, 1811, Radierung, 18,8 x 14,2 cm, Ifflands Mimische Darstellungen für Schauspieler und Zeichner, Heft 6,6, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Inv.Nr. 33195. Abb. in: Flatz, S. 698. 409 Holschbach 2006, S. 125. 410 Den künstlerischen Anspruch der Brüder Henschel formuliert Holschbach wie folgt: »Es ist eine Hommage an die Leistungen eines individuellen Schauspielers, versteht sich als ein systematisches Vorlagenwerk zum mimischen und gestischen Ausdruck und beansprucht, als unmittelbare Aufzeichnung des Wahrgenommenen zu gelten.« Holschbach 2006, S. 73. 411 Hönigmann-Tempelmayr, Alexandra (Hg.): Burg Stars. 200 Jahre Theaterkult, Ausst.kat., Wien 2012, S. 17. 412 Einige Porträtisten der Burgtheatergalerie waren dort auch als Bühnenbildner tätig. Vgl. Hönigmann-Tempelmayr 2012, S. 59. 413 Vgl. Polleroß 1988, S. 13.

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(1835–1907)414 von Friedrich von Thelen-Rüden (1836–1900) von 1860.415 Im traditionellen Formular des bürgerlichen Porträts des 19. Jahrhunderts erscheint Lewinsky vor einem Landschaftshintergrund, begleitet von Säule und Vorhang, die in diesem Fall als Requisiten gedeutet werden können. Ein viel porträtierter Star des Burgtheaters in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Charlotte Wolter (1831–1897).416 Für die Ehrengalerie des Burgtheaters wurde die Tragödin 1875 von Hans Makart (1840–1884) in der für sie geschriebenen Rolle als Messalina in Arria und Messalina gemalt.417 Holschbach belegt am Beispiel von Wolter die enge Beziehung von Schauspielerei und Malerei im 19. Jahrhundert.418 Zeitgleich mit Wolter und ebenfalls im Fach der Heroine trat Clara Ziegler (1844–1909), die zeitweise am Münchner Hoftheater engagiert war und viele Gastspiele gab, auf.419 Da Zieglers monumentaler Darstellungsstil dem Kunstgeschmack der Zeit entsprach, war sie gut geeignet, den Typus der heroischen Frau in den historienbildartigen Rollenporträts von Richard Werner420, z. B. in der Rolle der Penthesilea421, zu verkörpern.422 Ernst Possart (1841–1921), Schauspieler und Intendant des Münchner Hoftheaters, beauftragte gleich mehrere bedeutende Münchner Gesellschaftsmaler mit sei414 Lewinsky wurde u. a. auch von Klimt als Carlos in Goethes Clavigo porträtiert: Gustav Klimt, Josef Lewinsky als Carlos, 1895, Öl auf Leinwand, 64 x 44 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Wien, Inv.Nr. 494. 415 Friedrich Thelen-Rüden, Josef Lewinsky, 1860, Öl auf Leinwand, 155 x 108 cm, Wien Museum, Inv.Nr. 58.064. Abb in: Hönigmann-Tempelmayr 2012, S. 33. 416 Zu den Porträts von Wolter vgl.: Holschbach 2006, S. 179–243; Kreutler 2006. 417 Hans Makart, Charlotte Wolter als Messalina, 1875, Öl auf Leinwand, 142 x 223 cm, Wien Museum, Inv.Nr. 16.803. Abb in: Hönigmann-Tempelmayr 2012, S. 34. Makart arbeitete unter Intendant Franz von Dingelstedt für das Wiener Burgtheater und porträtierte zahlreiche Schauspieler und Schauspielerinnen des Wiener Burgtheaters. Vgl. Kreutler 2006, S. 116. Auch Franz von Lenbach schuf ein Rollenporträt von Wolter : Franz von Lenbach, Rollenporträt Charlotte Wolter, um 1900, Öl auf Leinwand, 101 x 75 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Inv.Nr. 41153. 418 Laut Holschbach ist Wolters Inszenierung in den Fotografien von Heinrich Löwy als Kleopatra, um 1878, beeinflusst von Jean-Andr8 Rixens, Mort de Cl8opatre, 1874. Vgl. Holschbach 2006, S. 227. Ebenso sieht Kreutler bei Wolters Fotografien als Messalina ikonographische Anleihen bei Darstellungen von Odalisken. Vgl. Kreutler 2006, S. 116. 419 Vgl. Balk 1994, S. 53. 420 Richard Werner alias Peter Wenig lernte Clara Ziegler 1878 bei ihrem Gastspiel in St. Petersburg kennen. Vgl. Balk 1994, S. 215. Er fertigte eine Serie von 38 Rollenporträts in Mischtechnik von Ziegler an. Die vermutlichen Auftragsporträts dienten der Schauspielerin als Dekoration ihrer Villa in der Königinstraße. Schartner rechnet diese Bildnisserie von Ziegler dem Typus des »Virtuosenporträts« zu, in dem es darauf ankam, »die auf der Bühne als effektvoll erprobte Pose möglichst getreu im Bild festzuhalten.« Schartner 1962, S. 84. 421 Richard Werner, Clara Ziegler als Penthesilea, um 1880, Mischtechnik, 65,5 x 50 cm, Deutsches Theatermuseum, München. Abb. in: Balk 1994, S. 12. 422 Vgl. Balk 1994, S. 13–59; Holschbach 2006, S. 179–243. Aus der Stiftung von Clara Zieglers privater Sammlung ging das Deutsche Theatermuseum in München hervor.

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nem Porträt.423 Von den genannten Schauspielerinnen des späten 19. Jahrhunderts wie Bernhardt, Duse, Wolter und Ziegler waren auch in Deutschland eine große Anzahl von Fotografien sowie Reproduktionen nach gemalten und graphischen Porträts in Umlauf. Auch die Münchner Malerfürsten Franz von Lenbach (1836–1904) und Friedrich August von Kaulbach (1850–1920) wählten Schauspieler als Modelle oder wurden mit ihren Porträts beauftragt. Lenbach schuf u. a. das Bruststück der Auguste Wilbrandt-Baudius (1843–1937) für die Wiener Burgtheatergalerie424, ein Pastell von Ernst Possart425 sowie von Eleonora Duse ein Rollengemälde426 und mehrere Bleistift-Zivilporträts427. Kaulbach malte um 1900 ein Zivilporträt von Eleonora Duse428 und hielt weitere Schauspielerinnen wie Hanna Ralph (1888–1978)429 oder Geraldine Farrar (1882–1967)430 fest. Alle diese Bildnisse von Lenbach und Kaulbach weisen einen monochromen Hintergrund auf und sind Brust- bzw. Halbfigurenbilder. Die Tatsache, dass es sich bei dem Großteil dieser Schauspielerporträts um Zivilporträts handelt bzw. der Theaterbezug stark reduziert ist, zeigt das überwiegende Interesse der Künstler an der Person ihrer Modelle. Damit stehen sie an der Schwelle zum Schauspielerporträt des 20. Jahrhunderts. Ein weiterer um die Jahrhundertwende in München tätiger Künstler, Albert von Keller (1844–1920), schuf diverse Schauspielerinnenporträts.431 Seinem 1909 entstandenen Rollenporträt Camilla Eibenschütz als Myrrhine in Lysiatra432 liegt eine von ihm im selben Jahr besuchte Inszenierung im Münchner Künstlertheater zugrunde. Die MehrfigurenSzenendarstellung ist ungewöhnlich für die Entstehungszeit, da diese um 1900 fast nur noch in der Fotografie vorkommen. Das Bildnis wurde 1910 bei der Sommerausstellung der ›Berliner Secession‹ gezeigt und in der Kritik wegen der 423 Vgl. Schartner 1962, S. 83–84. 424 Franz von Lenbach, Auguste Wilbrandt-Baudius, um 1874, Öl auf Holz, 63 x 50 cm, Ehrengalerie des Burgtheaters, Wien, Inv.Nr. 137. 425 Franz von Lenbach, Ernst Possart, um 1880, Pastell auf Karton, 68 x 52 cm, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Inv.Nr. 17586. 426 Franz von Lenbach, Eleonora Duse, 1886, Öl auf Leinwand, 76,2 x 69,9 cm, Charles and Emma Frye Collection, Seattle, Inv.Nr. 1952.094. Abb. in: Baumstark 2004, S. 202. 427 Abb. in: Balk 1994, S. 155, 171, 178. 428 Friedrich August von Kaulbach, Eleonora Duse, um 1900, Öl auf Leinwand, 98 x 65 cm, Deutsches Theatermuseum München. Abb. in: Balk 1994, S. 130. 429 Friedrich August von Kaulbach, Hanna Ralph, o. J., Öl auf Leinwand, 79,7 x 65,7 cm, Charles and Emma Frye Collection, Seattle, Inv.Nr. 1952.080. 430 Friedrich August von Kaulbach, Geraldine Farrar, um 1905, Öl auf Karton, 42,6 x 32,5 cm, Charles and Emma Frye Collection, Seattle, Inv.Nr. 1952.077. 431 Vgl. Kirchberger, Nico: »Wer wüsste nicht, wer Albert von Keller in München ist…« Albert von Keller im Münchner Künstlermilieu, in: Albert von Keller. Salons, S8ancen, Secession, hg. v. Zürcher Kunstgesellschaft, Ausst.kat., München 2009, S. 189–200, hier: S. 194. 432 Albert von Keller, Camilla Eibenschütz als Myrrhine in Lysiatra, 1909, Öl auf Leinwand, 72,5 x 49 cm, Privatbesitz. Abb. in: Zürcher Kunstgesellschaft 2009, S. 175.

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gelungenen Momentaufnahme gelobt: »[…] es gibt nicht, wie es bei Schauspielerinnenporträts sonst meist der Fall ist, eine Pose, sondern es ist bewegtes Leben.«433 Der Eindruck von Dynamik ensteht durch Eibenschütz’ ekstatische Gebärde und Kellers skizzenhaften Duktus.

IV.3.2 Die Situation Anfang des 20. Jahrhunderts Aufgrund der allgemeinen Begeisterung für das Theater um 1900 erfuhr das Schauspielerporträt als Porträtaufgabe zu dieser Zeit einen Aufschwung. Speziell die weithin bekannten Stars der Berliner Bühnen weckten das Interesse der dort tätigen Künstler.434 Das Theater war damals ein bedeutender Unterhaltungssektor mit einer breiten Besucherschicht. Auch andere Bühnendarbietungen wie das Variet8 inspirierten das Schaffen von Künstlern.435 Literaten verewigten im Besonderen Bühnenkünstlerinnen in ihren Werken und schriftliche Dokumente von bedeutenden Zeitgenossen aus allen Bereichen bezeugen deren große Publikumsfaszination. Durch die Massenmedien waren die Schauspieler über die Grenzen der Theaterbesucher hinaus bekannt. Der Starkult um die Schauspieler führte zu einer weiten Verbreitung ihrer Porträts. Bei den Fans bestand ein großes Bedürfnis nach Abbildern ihrer Stars. Viele bildende Künstler der Zeit waren passionierte Theaterbesucher und konnten ihre Modelle auf diese Weise im Spiel studieren und bildnerisch festhalten. Die großen Porträtisten der Epoche wurden von den Schauspielern selbst oder ihren Bewunderern mit ihren Bildnissen beauftragt oder schufen Bildnisse auf eigenen Wunsch. Berlin als deutsches Theaterzentrum und Anziehungspunkt für Gastspiele von Bühnenkünstlern aus der ganzen Welt hatte in dieser Hinsicht einiges zu bieten.436 Während sich die Fotografie seit ihrer Erfindung um die Mitte des 19. Jahrhunderts als vorherrschendes Medium für Schauspielerporträts – in Form der Carte de Visite – durchgesetzt hatte437, traten um 1900 wieder vermehrt alle Bildmedien in Erscheinung.438 Obwohl auch deutsche Künstler, die der kaiser433 Wolf, Georg Jacob: Die internationale Ausstellung der Münchner Secession 1910, in: Die Kunst für Alle, Jg. 25, Heft 20, 1910, S. 457–467, hier: S. 461. 434 Das Porträt hatte in der Moderne eine zentrale Stellung innerhalb der bildnerischen Gattungen inne. Die Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene »These vom historischen Ende des Porträts« blieb ein uneingelöstes kunsttheoretisches Postulat. Vgl. Spanke 2004, S. 11– 15. 435 Vgl. dazu: Ochaim, Brygida/Balk, Claudia (Hg.): Vari8t8-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, Ausst.kat., Frankfurt am Main/Basel 1998. 436 »Alles das, was es im Theaterleben an Krisen, Moden, Veränderungen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gab, spielte sich vorwiegend in Berlin ab.« Michael/Daiber 1989, S. 108. 437 Vgl. Schenk 2005, S. 147. 438 Wiltons Einschätzung der Situation trifft nicht zu: »Theatrical portraiture as an indepen-

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lichen Kunstpolitik folgten, Schauspieler porträtierten, waren es vor allem fortschrittliche Künstler, die dieses Motiv wählten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst überhaupt beschäftigten sich so viele namhafte Künstler so intensiv mit dem Theater und seinen Protagonisten. Möhrmanns Feststellung einer zahlenmäßigen Übermacht von Bildnissen von Schauspielerinnen für das 18. Jahrhundert – obwohl tatsächlich mehr Schauspieler auf der Bühne zu sehen waren – gilt auch für das 20. Jahrhundert.439 Der Grund war das voyeuristische Interesse der vorwiegend männlichen Zuschauer und Künstler an den Schauspielerinnen.440 Porträts von Schauspielern und Schauspielerinnen waren beliebte Exponate in den zeitgenössischen Kunstausstellungen, wie denjenigen der deutschsprachigen Secessionen, der Akademien und großstädtischen Galerien.441 Auch als Sammlungsobjekte waren diese Porträts beliebt, sowohl unter den Schauspielern selbst als auch bei anderen privaten Sammlern und Museen. Der Bestand an Schauspielerporträts ist in allen großen deutschsprachigen Museen und Theatersammlungen sehr umfangreich.442 Bildende Künstler beteiligten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Form von Bühnenbildgestaltung und Kostümentwürfen verstärkt auf aktiver Ebene am Theatergeschehen. Diese Zusammenarbeit besitzt eine lange Tradition.443 Sie

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dent genre really ended with the advent of theatrical photography in the 1850s […]«. Wilton, Andrew : The Garrick Club Collection, in: Ashton/Kalman/Wilton 1997, S. XIX– XXI, hier : S. XXI. Vgl. Möhrmann 1989b, S. 134. Im Jahr 1910 waren 4100 Schauspielerinnen und 5200 Schauspieler an deutschen Theatern beschäftigt. Vgl. Michael/Daiber 1989, S. 97. Die Gliederung des Porträts nach den Kategorien des Geschlechts resultiert aus den in der Gesellschaft geltenden Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Vgl. Wind 2009. Vgl. Möhrmann 1989b, S. 134. Thorun stellt für Sarah Bernhardt die »herausragende Betonung der Erotik für das Theatererlebnis« und ihren Niederschlag in den Fotografien fest. Vgl. Thorun 2006, S. 282. Die Tatsache, dass Bildnisse von Schauspielern Teil dieser viel beachteten Ausstellungen waren, ist Ausdruck ihrer Wertschätzung in der Öffentlichkeit und das Interesse an der Person der Mimen. Es festigte außerdem ihren Starstatus und vermehrte ihren Bekanntheitsgrad. Vgl. dazu: Gesellschaft für Theatergeschichte (Hg.): Theatersammlungen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin, Berlin 1985; Bundesverband der Bibliotheken und Museen für Darstellende Künste e.V. München (Hg.): Archive, Bibliotheken, Museen, Sammlungen und Gedenkstätten mit Beständen zum Bereich »Darstellende Künste« in der Bundesrepublik Deutschland, Erlangen 1992. Institutionen mit Schauspielerporträts im Bestand sind in Auswahl: Österreichisches Theatermuseum, Wien; Österreichische Nationalbibliothek; Wien Museum; Deutsches Theatermuseum München; Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität Köln; Archiv der Akademie der Künste, Berlin; Theaterhistorische Sammlung der Freien Universität Berlin; Stadtmuseum Berlin. Bereits im Mittelalter wurden bildende Künstler für religiöse Schauspiele eingesetzt. Vgl. Pochat, Götz: Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien, Graz 1990, S. IX. Bedeutende italienische Renaissance-Künstler wie Leonardo, Bramante,

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steht im Zusammenhang mit der vorherrschenden Bühnenästhetik einer Epoche. Die Theaterreformen um 1900 bewirkten einen Bedeutungszuwachs des Visuellen auf der Bühne.444 Die Inszenierung sollte zu einem Gesamtkunstwerk werden.445 In Berlin hatte Max Reinhardt, der die Bühne als »Fest des Lebens«446 auffasste, ein großes Interesse an dieser fruchtbaren Kooperation und arbeitete mit vielen bedeutenden Künstlern zusammen.447 Felix Holländer, Dramaturg und Regisseur bei Reinhardt, lobte dessen Einbeziehung aller Künste: »Niemals vor Max Reinhardt hatten sich Maler und Musiker diesen Ranges den Gesetzen der Bühne unterworfen.«448 Einige Porträtisten von Durieux wie Orlik, Kokoschka, Liebermann und besonders Corinth und Slevogt arbeiteten bildkünstlerisch für das Theater, z. T. sogar für Stücke, in denen Durieux mitspielte. Vor diesem Hintergrund sind die Porträts von Tilla Durieux entstanden. Auch wenn sie den »Nerv der Zeit« trafen, nehmen sie unter den Schauspielerporträts des beginnenden 20. Jahrhunderts eine Sonderstellung ein, wie sich zeigen wird.

IV.3.3 Neuerungen im Schauspielerporträt zu Beginn des 20. Jahrhunderts Während Schauspielerporträts im 18. Jahrhundert noch zum größten Teil Auftragsarbeiten waren449, überwogen um 1900 die aus eigenem Antrieb der Porträtisten geschaffenen Bildnisse. Die Veränderungen im Schauspielerporträt von seinen Anfängen bis zum beginnenden 20. Jahrhundert entsprechen einerseits den Entwicklungen der Gattung Porträt bzw. der bildenden Kunst insgesamt, andererseits reflektieren sie die Theaterreformen der Zeit. Grundsätzliche Tendenzen sind das verstärkte Vorkommen von Ganzfigurenporträts und Ein-

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Raffael, Serlio und Palladio arbeiteten als Bühnenbildner für das Theater. Vgl. Borcherdt, Hans Heinrich: Theater und bildende Kunst im Wandel der Zeiten, in: Euphorion, Jg. 32, 1931, S. 179–187, hier : S. 182. In der französischen Malerei gibt es vom Barock bis zum Klassizismus eine enge Verbindung zum Theater: »Gerade seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts bestand ein reger Austausch zwischen der Bühne und den Künstlerateliers in Paris. Bildende Künstler wie Boucher oder David betätigten sich als Bühnenmaler, während theatralische Szenen ihnen oft als Vorbilder für ihre Gemälde dienten.« Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Diss., Berlin 1999, S. 47. Vgl. Grund 2002. Vgl. Schöne 1994, S. 30. Die Begründer des »Theaters der Zukunft«, Adolphe Appia, Peter Behrens, Georg Fuchs, Edward Gordon Craig und Jacques Copeau, forderten eine Beteiligung aller Künste am Theater. Vgl. Brauneck 1982, S. 63–65. Schöne 1994, S. 30. Max Reinhardt sah das Theater als Ort einer höheren Wirklichkeit. Die Bühnenmittel standen im Dienst seines Illusionstheaters, das dem Zuschauer jedoch bewusst machte, dass alles nur ein Spiel ist. Vgl. Reinhardt 1989. Holländer, Felix: Lebendiges Theater. Eine Berliner Dramaturgie, Berlin 1932, S. 339. Vgl. Kluxen 1989, S. 47.

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zelporträts.450 Des Weiteren führte das ansteigende Interesse am Privatleben der Schauspieler zu einer erhöhten Zivilporträtproduktion.451 Dementsprechend ließen die attributive Zugabe von Theaterinsignien, z. B. Masken, sowie die Darstellung von Bühnenbildern und Requisiten gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach. Die Landschaftshintergründe aus den Schauspielerporträts des 18. und 19. Jahrhunderts waren ebenso kaum mehr zu finden. Der Bildhintergrund tendierte, wie in der Gattung Porträt um 1900 insgesamt, zu Monochromität. Das starre Bildformular bürgerlicher Porträts des 19. Jahrhunderts, bei denen die Repräsentation Vorrang hatte vor der Individualität des Modells, wurde von einer freieren Gestaltung abgelöst.452 Die Entwicklungen in der bildenden und darstellenden Kunst gingen Hand in Hand. Der deklamatorisch-pathetische Darstellungsstil mit einem festen Vokabular an effektvollen schönen Gesten wurde mit dem Aufkommen des Naturalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Gunsten eines lebenswahren Stils verdrängt. Die Abschaffung der theatralischen Pose auf der Bühne begünstigte das Verschwinden derselben aus dem Schauspielerporträt. Wegen dem Rückgang von mythologischen, allegorischen und biblischen Zugaben in den Porträts von Nicht-Schauspielern, können Schauspielerrollenporträts des 20. Jahrhunderts vom Betrachter, selbst ohne Kenntnis des Dargestellten, leichter identifiziert werden. Das Anliegen der Künstler in den Schauspielerrollenporträts erfuhr im 20. Jahrhundert einen grundlegenden Wandel, der u. a. auf den veränderten Schauspielstil zurückzuführen ist. Im 18. und weitgehend noch im 19. Jahrhundert bestand die Aufführung üblicherweise aus einer Reihe aneinandergehängter Tableaux vivants, in denen die Schauspieler in schönen Posen inne hielten. In Übereinstimmung mit der damaligen Bühnenpraxis lag der Fokus in den Schauspielerrollenporträts darauf, endgültige Bilder der Aufführung zu schaffen.453 Der momentane Eindruck des Künstlers im Zuschauerraum und die Bühnenwirkung des Schauspielers sollten in eine verbindliche Form gebracht werden.454 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlagerte sich das Interesse der 450 Mehrfiguren-Szenendarstellungen kommen um 1900 fast nur noch in der Fotografie vor. Eines der wenigen Beispiele für ein mehrfiguriges Gemälde ist das in Kapitel IV.3.1 erwähnte Rollenporträt Camilla Eibenschütz als Myrrhine in Lysiatra von Albert von Keller. 451 Diese Entwicklung begann bereits im 18. Jahrhundert: »Während das frühe 18. Jahrhundert hauptsächlich an Bildern und Skulpturen von Charakteren berühmter Bühnenstücke interessiert war, […] verlagerte sich das Interesse später auf das Privatleben der Bühnenstars, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auch gelöst von ihrer Rolle porträtiert wurden. So entstanden nach 1750 eine große Anzahl an Portraits, die Schauspieler nicht mehr in ihrer klassischen Bühnenrolle zeigten.« Seewald 2007, S. 214. 452 Vgl. dazu: Muysers 2001. 453 »Ähnlich wie in der Porträtästhetik wird in der tableauartigen Darstellung das Wesentliche gesucht, die Verbindung von Wahrheit und Schönheit, und nicht etwa das Zufällige, das schnell Vorübergehende oder das Extreme.« Holschbach 2006, S. 71. 454 Vgl. Klara 1931, S. 199.

Entwicklung des Schauspieler- und Schauspielerrollenporträts in Deutschland

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Künstler in den Schauspielerrollenporträts dahin, eine Momentaufnahme des auf der Bühne Gesehenen hervorzubringen und den individuellen Darstellungsstil des Schauspielers einzufangen.455 Voraussetzung dafür war die Abkehr der neuen Kunstrichtungen von dem jahrhundertelang gültigen Qualitätskriterium der Gattung Porträt, der »Ähnlichkeit«456, hin zu »künstlerische[n] Mittel[n] der psychischen Aussage«.457 Durch diese »Relativierung des Abbildparadigmas«458 wurde die »Korrespondenz von physiognomischer Erscheinung und Persönlichkeit«459 im Porträt erstmals in Frage gestellt.460 Schartner stellt für das Schauspielerporträt um 1900 fest, dass die »Künstler sich bewußt von der geschauten Wirklichkeit abwandten und Aufführung und Drama als Ausgangspunkt zur künstlerischen Gestaltung eines subjektiven geistigen Erlebnisses nahmen.«461 Das Schauspielerporträt der Jahrhundertwende wurde von diversen zeitgleichen Theatertendenzen beeinflusst. Die vom Schauspieler im Naturalismus und seiner Nachfolge geforderte »psychologisch-realistische Schauspielkunst«462 mit einem »individualisierte[n] Schauspielstil«463, wie sie Max Reinhardt vertrat, spiegelte sich in der psychologischen Durchdringung der Porträtierten, die in der Porträtkunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, wider. Die »geistige Verarbeitung des Erscheinungsbildes«464 des Modells, das heißt die Visualisierung der »psychische[n] Persönlichkeitsstrukturen«465, rückte nun ins Zentrum. Das Innenleben des Dargestellten sollte zur Anschauung gebracht werden. Die um 1900 eingeleitete Theatermoderne hielt am 455 Der tableauartige Darstellungsstil des 18. und 19. Jahrhunderts ist zu unterscheiden von der »bildhaften« Bühenwirkung Durieux’, die mit ein Grund für ihre Beliebtheit als Modell war (siehe Kapitel III.1). Im Gegensatz zu den standardisierten »schönen Posen« auf der Bühne vor dem 20. Jahrhundert beabsichtigte Durieux durch Stilisierung zum Kern des Bühnencharakters vorzudringen und dadurch über ihn hinauszuweisen. 456 Waetzoldts 1908 erschienenen Überlegungen zum »Problem der Ähnlichkeit« liefern zahlreiche »[…] Nachweise, daß das Prinzip der Ähnlichkeit weder für den Bildbetrachter noch für den Bildschöpfer das die Porträtgestaltung beherrschende Prinzip ist […].« Waetzoldt, Wilhelm: Die Kunst des Porträts, Leipzig 1908, S. 122. 457 Vgl. Lohmann-Siems, Isa: Begriff und Interpretation des Porträts in der kunstgeschichtlichen Literatur, Diss., Hamburg 1972, S. 130. 458 Lüthy, Michael: Porträts wovon? Wandel einer Kunstgattung in der Moderne, in: Interjekte 4, hg. v. Mona Körte und Elisabeth Weiss, Berlin 2013, S. 46–54, hier, S. 47. 459 Lüthy 2013, S. 46. 460 Zu den »Konsequenzen des Porträts im 20. Jahrhundert« siehe auch: Spanke 2004, S. 430– 445. 461 Schartner 1962, S. 74. 462 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 1993, S. 343. 463 Grund 2002, S. 54. 464 Muysers 2001, S. 16. 465 Muysers 2001, S. 21.

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»Grundsatz der ›Menschendarstellung‹«466 mit einer »an Pantomime und Tanz geschulte[n] rhythmische[n] Bewegungskunst«467 fest. Im expressionistischen Theater bildete die »Übersetzung des Gefühls durch Rhythmus und Akzent«468 das Prinzip der Schauspielkunst. In der bildenden Kunst drückt sich dies in einer Verinnerlichung der Schauspieldarstellung aus, in der der Schauspieler über sich selbst hinausweist. Der Schauspieler wird zur »Verkörperung eines Menschentypus«469, sein Porträt zum Träger existenzieller Erfahrungen und allgemeinmenschlicher Emotionen. Dadurch hängt die Wirkung des Porträts nicht länger vom theatralen Vorwissen des Betrachters ab. In welchem Maß diese Innovationen des Schauspielerporträts zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Bildnissen von Tilla Durieux vorhanden sind, wird sich bei der Einzelanalyse der Kunstwerke im Hauptteil der vorliegenden Arbeit zeigen.

IV.4 Fotografisches Schauspielerporträt IV.4.1 Geschichte und Entwicklung Die Geschichte der Porträtfotografie begann in den 1850er und 1860er Jahren.470 Von Anfang an gehörten Schauspieler zu den Kunden der Fotoateliers. Ihre Lichtbilder in Form von Rollen- und Zivilporträts markieren den Beginn der Theaterfotografie.471 Die Erscheinungsformen der fotografischen Schauspielerporträts wandelten sich im Lauf des 19. Jahrhunderts. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Fotografien von Schauspielern im Carte de Visite-Format verbreitet und 1866 kam zusätzlich das größere Kabinettformat auf.472 Die preiswerteren Fotopostkarten im Format 14 x 10 cm setzten sich in den 1890er Jahren durch473 und wurden »zum Sammelobjekt der breiten Masse«.474 Der

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Fischer-Lichte 1993, S. 278. Fischer-Lichte 1993, S. 263. Michael/Daiber 1989, S. 103. Schartner 1962, S. 89. Vgl. Holschbach 2004, S. 206. Vgl. Spötter 2003, S. 11. Für die frühen Fotografien von Schauspielern gilt dasselbe wie für Schauspielerporträts, die vor dem 20. Jahrhundert entstanden. Das geringe gesellschaftliche Ansehen des Schauspielerstands führte dazu, dass nur einzelne herausragende Schauspieler als bildwürdig galten. 472 Vgl. Kreutler 2006, S. 107. 473 Vgl. Holschbach 2004, S. 215. 474 Spötter 2003, S. 15. In der Fotopostkarte kulminieren zwei Entwicklungen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die technischen Fortschritte, die die Fotografie revolutionierten und als Massenmedium einführten und die Erfindung und Ausbreitung der Postkarte. »In der

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professionelle Umgang von Schauspielern mit Mimik und Gestik machte sie zu idealen Kameramodellen. Es kam zu einer Wechselwirkung zwischen dem Posieren vor der Fotokamera und den Theaterposen.475 In den ersten Jahrzehnten der Bühnenfotografie gab es eine starke Normierung der »Posen von Theaterkünstlern vor der Kamera«476, da die Schauspielerfotografien einerseits durch den starren Bewegungskodex der Bühne des 19. Jahrhunderts, andererseits durch die damals gängigen Atelierposen in den Fotografien des Bürgertums beeinflusst wurden.477 Dies änderte sich erst mit den Neuerungen in der Bühnenpraxis und in der Fotografieästhetik um 1900. Bis zur Jahrhundertwende wurden Schauspieler ausschließlich im Atelier fotografiert.478 Technische Neuerungen in der Fotografie sowie am Theater in den 1880er und 1890er Jahren ermöglichten die Theaterfotografie vor Ort.479 Dadurch konnten mehrfigurige Szenenaufnahmen entstehen und zur Porträtfotografie kam als Folge die Dokumentarfotografie hinzu.480 Bei den Szenenaufnahmen im Theater handelte es

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Popularität von Schauspielerporträts konvergiert die ›Visitenkartenepidemie‹ mit der ›Theatromanie‹ […].« Holschbach 2004, S. 206. »Konventionen des Rollenspiels […] wanderten aus dem Theater ins Photoatelier […] und zuweilen auch wieder zurück ins Theater.« Zuber, Barbara: Die inszenierte Diva. Zur Ikonographie der weißen Primadonna im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Grotjahn 2011, S. 147–157, hier: S. 150. Balk 1989, S. 21. Das heißt der Handlungsspielraum der Schauspieler vor der Kamera war relativ beschränkt. Solange die Posen vor der Kamera normiert waren und der Schauspieler sich an ein festes Inszenierungsformular hielt, verloren die Aufnahmen im Grunde ihren Bezug zur tatsächlichen Theateraufführung. Die Rollen, die der Schauspieler auf den Rollenfotografien verkörperte, wurden austauschbar. Vgl. Balk 1989, S. 21. Jedoch wurde die Inszenierung im Fotoatelier laut Zuber auch durch die »ikonographische[n] Traditionen aus der Zeit vor der Erfindung der Photographie« geprägt. Zuber weist für die Rollenfotografien von Opernsängerinnen des späten 19. Jahrhunderts nach, dass sie Gemälde vom Anfang des 19. Jahrhunderts imitieren. Außerdem beobachtet sie eine ikonographische Orientierung an den »weiblichen Leitbildern des 19. Jahrhunderts«. Zuber 2011, S. 150, 153. Dewitz konstatiert für die Frühzeit der Porträtfotografie allgemein die Existenz eines »bestimmte[n] Repertoire[s] von Gesten und Haltungen«. Er sieht eine Kontinuität von der Malerei zur Fotografie: »Dieses Repertoire entstammte den traditionellen Bereichen der Porträtproduktion, deren Aufgaben jetzt die Fotografie übernahm.« Es sind also keine »Rückgriffe, sondern Fortsetzung künstlerischer Bildproduktion mit neuen – technischen – Mitteln.« Dewitz, Bodo von: Die Inszenierung der Persönlichkeit in der Geschichte der Fotografie, in: Bilder machen Leute. Die Inszenierung des Menschen in der Fotografie, hg. v. Landesmuseum Koblenz, Ausst.kat., Ostfildern 2008, S. 17–29, hier : S. 20–21. Vgl. Balk 1989, S. 20. Gemeint sind elektrische Bühnenbeleuchtung, kürzere Belichtungszeiten und transportable Kameras. Vgl. Balk 1989, S. 40–41. Porträtfotografie und Dokumentarfotografie verfolgen divergente Absichten. Die Porträtfotografie will ein dauerhaftes Bild des Schauspielers, der aus dem Spiel herausgenommen ist, erzeugen, die Dokumentarfotografie dagegen einen Augenblick der Inszenierung einfangen, um die Wirkung der Aufführung bzw. der einzelnen Bühnenelemente zu vermitteln.

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sich um nachgestellte Standfotografien, auf denen die Schauspieler still halten mussten.481 Da sich die Aufmerksamkeit des Publikums nach wie vor auf die Person des Schauspielers richtete, existierten weiterhin, im Atelier oder im Theater aufgenommene, Einzelporträts der Mimen.482 Seit der Revolution der Druckmedien Ende des 19. Jahrhunderts wurden Fotografien mit dem Autotypie-Verfahren in Zeitschriften abgedruckt.483 Der Einsatz von Fotografien war ein Kaufanreiz für den Leser und diente damit zur Absatzsteigerung. Das Theater gehörte zu den Bereichen, für die das neue Reproduktionsverfahren vergleichsweise früh eingesetzt wurde. Die Theaterzeitschriften, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer zahlreicher wurden, nutzten Fotografien zur Illustration der Berichterstattung, Veranschaulichung von Theatertheorien und Darstellung der Schauspieler. Die Tageszeitungen verwendeten Fotografien im Autotypie-Druck allerdings erst seit den 1920er Jahren.484 Für die Bekanntheit der Schauspieler hatte der massenmediale Einsatz ihrer Fotografien weitreichende Folgen, da sie auch Personen ansprachen, die sich nicht für das Theater interessierten.485 Gegen Ende der 1920er Jahre hatte die Entstehung des modernen Fotojournalismus eine gestiegene Nachfrage nach Momentaufnahmen486 zur Folge. Die Dokumentarfotografie wurde wichtiger als die Porträtfotografie, da die Verwendung der Abbildungen in der Presse Aktualität und Authentizität, statt gestellter Posen, erforderte.487 Schauspieler wurden in der Presse jedoch nicht nur im Zusammenhang mit ihrem Arbeitsfeld, der Bühne, abgebildet. Das Interesse am Privatleben der Schauspieler führte dazu, dass in den illustrierten Gesellschaftsblättern Fotografien der Schauspieler bei ihnen zu Hause oder bei Freizeitbeschäftigungen gezeigt wurden.488 Sie präsentierten die Schauspieler in einer »semi-öffentlichen Sphäre des Privaten«489, d. h. sie täuschten Intimität und Privatheit vor, obwohl sie explizit für die 481 Erst um 1925 wurde es machbar, bewegte Objekte ohne Blitzlicht in Innenräumen zu fotografieren. Vgl. Balk 1989, S. 59. 482 Vgl. Spötter 2003, S. 225. 483 Vgl. Garncarz, Joseph: Die Schauspielerin wird Star. Ingrid Bergmann – eine öffentliche Kunstfigur, in: Möhrmann 1989, S. 368–393, hier: S. 373. 484 Vgl. Balk 1989, S. 57. 485 Vgl. Spötter 2003, S. 190. 486 In der Momentaufnahme wird dem Betrachter vermittelt, dass das Modell sich bereits im nächsten Moment bewegen und damit die Mimik und die Haltung verändern könne. Sie steht also im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, ein Porträt zeige einen ausgeglichenen, in sich ruhenden Menschen. Vgl. Faber, Monika: Das Bildnis – Ende einer Tradition, in: Faber/Frecot 2005a, S. 60–77, hier : S. 63. 487 Vgl. Balk 1989, S. 61–62. 488 Für den Untersuchungszeitraum relevante Berliner Illustrierte sind: Berliner Illustrirte Zeitung, Uhu, Die Dame, Sport im Bild, Moden-Spiegel (wöchentliche Modebeilage des Berliner Tageblatts), Elegante Welt, Die praktische Berlinerin, Frauenwelt, Der Weltspiegel. 489 Auch die bürgerliche Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts spiegelte bereits diese »semi-

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Öffentlichkeit bestimmt waren.490 Darüber hinaus waren Schauspielerinnen beliebte Mode-Modelle. Ihr privater Kleidungsstil und modische Bühnenkostüme wurden in Zeitschriften vorgestellt und Schauspielerinnen dienten als Werbefiguren für bekannte Modehäuser.491 Sie wurden zu modischen Vorbildern für bürgerliche Frauen und damit zu »Vermittlerin[nen] neuer Mode-, Körperund Schönheitsideale«492. Die Verwendung der Aufnahmen von Schauspielerinnen in Zeitschriften belegt laut Spötter »den erreichten Status und bestätigt das um die Schauspielerin aufgebaute Image von selbsterarbeitetem beruflichen Erfolg und erlangter gesellschaftlicher Anerkennung.«493 Deshalb können sie der »Glamourfotografie«494 zugeordnet oder als »Zelebritätenporträts«495 bezeichnet werden. Schauspielerfotografien erfüllen seit ihrem Aufkommen verschiedene Funktionen. Die Funktion der Fotografien als Mittel der Verehrung ist eine Folge des Personenkults um die Schauspieler. Nach Holschbach ist die Etablierung der Fotografie im 19. Jahrhundert »die Voraussetzung für das moderne Starwesen, das die darstellenden Künstler/innen über ein Image in Erscheinung treten lässt.«496 Die Fotografien werden als »eine Art von ›Devotionalien‹« zum »Stellvertreter für den abwesenden Star«497, d. h. es findet eine Inbesitznahme

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öffentliche[…] Sphäre des Privaten«. Honnef, Klaus: Vom Bürger zum Außenseiter, in: Honnef/Thorn Prikker 1982, S. 10–13, hier : S. 12. Es sind keine Schnappschüsse. Der Inszenierungsgrad ist nicht geringer als in den Rollenfotografien. Nicht die »empirische Person«, wie Grotjhan es formuliert, wird gezeigt. Vgl. Grotjahn 2011, S. 91. Hoffmann bemerkt dazu, dass sich auf den Ebenen von Fotograf, Modell und Rezipient divergente, parallele Realitäten herausbilden. Vgl. Hoffmann, Ingrid: Das Schauspielerporträt. Das Selbst- und das Fremdbild des Schauspielers im Kontext der Medien, Dipl., Berlin 2006, S. 16. »Aufnahmen, die Schauspielerinnen nicht in Bühnenkostümen, sondern in Privatgarderobe aus erstrangigen Berliner Modellhäusern zeigen, wird ab 1915 zum Hauptthema in der Gesellschaftspresse.« Aschke, Katja: Die geliehene Identität. Film und Mode in Berlin 1900– 1990. Betrachtung einer medialen Symbiose, in: Gundlach/Richter 1993, S. 233–276, hier : S. 246. Spötter 2003, S. 177. Spötter 2003, S. 176. Spötter 2003, S. 225. Brunner versteht unter »Glamourfotografie« »all jene Bildnisse […], die das Ziel verfolgen, eine glanzvolle Ausstrahlung und Verführungskraft der porträtierten Persönlichkeit zu inszenieren.« Über die Funktion des Glamourporträts als Typus des Standesporträts führt er weiter aus: »Das Glamourporträt will dem Betrachter vor Augen führen, dass der/die Dargestellte eine gesellschaftliche Sonderstellung für sich beansprucht und einen privilegierten Lebensstil verkörpert, um den ihn/sie die Allgemeinheit beneidet.« Brunner, Michael: Vorwort, in: ders. 2007, S. 7–8, hier: S. 7. Holschbach 2004, S. 206. Holschbach 2006, S. 13. Hickethier 1997, S. 39. Was Zuber in Bezug auf Fotografien von Opernsängerinnen schreibt, kann auf Starfotografien allgemein übertragen werden: Die Fotografie »ließ weit mehr, als es die Malerei mit ihren Rollenporträts […] je vermochte, die Grenzen zwischen Leib und Abbild verschwimmen.« Zuber 2011, S. 150.

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des bewunderten Idols über die Fotografien statt498. Nach Faber dienen die Aufnahmen von Berühmtheiten als Projektionsfläche für Wünsche und Vorstellungen der Betrachtenden: »Lichtbilder von Schauspielern und Schauspielerinnen waren und sind die prototypischen Objekte solcher Identifikation, weil sie über die Vorstellung von zugleich unmittelbarer Nähe und unüberwindlicher Distanz Deutungsmöglichkeiten provozieren, die durch keine Erfahrung getrübt werden […].«499

Ähnlich beurteilt Honnef »Starfotografie« als Ausdruck der »fotografische[n] Verdinglichung des Menschen«, die den Menschen zum »Objekt der kollektiven Bewunderung« und zu einem »Identifikationsangebot« macht.500 In diesem Sinn erfüllen Schauspielerinnenfotografien gerade für die männlichen Zuschauer einen erotischen Zweck.501 Speziell die um 1900 auf allen Bühnen verbreiteten ›Femmes fatales‹-Rollen dienten als Vorwand für sinnliche Darstellungen, die sonst als anstößig galten.502 Die Rollenfotopostkarten sowie die Programmhefte mit Einzelporträts und Szenendarstellungen dienen den Zuschauern obendrein als Erinnerung an eine besuchte Aufführung.503 Der im Vergleich zu anderen Bildmedien niedrige Herstellungspreis der Fotografien eröffnete um 1900 bis dato unbekannte Möglichkeiten der kommerziellen Nutzung. Sie wurden zum wichtigsten Reklame-Instrument für Schauspieler und Theaterhäuser. Gerade bei Gastspielreisen war die Vermarktung mittels der mitgeführten oder vor Ort aufgenommenen Fotografien für die Schauspieler wichtig.504 Sie dienten ihnen als Vehikel der Selbstinszenierung, d. h. als Steuerungsmittel der Außenwirkung, des Images. Holschbach belegt am Beispiel von Charlotte Wolter, dass die fotografischen Rollenporträts den Schauspielern des Weiteren als Studienobjekte 498 Hickethier 1997, S. 39. Die Fotografie des Stars ist ein Fetisch, durch deren Besitz der Fan »Verfügungsgewalt über das dargestellte Objekt«, also den Schauspieler, erhält. Müller 1989, S. 259. Eine »fetischisierende Gebrauchsweise« stellt Holschbach v. a. für Fotografien von weiblichen Bühnenkünstlerinnen fest. Vgl. Holschbach 2004, S. 206. 499 Faber 2005a, S. 19. Holschbach weist auf die Parallelität von dem der Fotografie inhärenten Spiel von Nähe und Distanz zur Einstellung des Bürgertums gegenüber dem Schauspielerstand hin, die auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand. Einerseits wurden berühmte Schauspieler stark verehrt, andererseits umgab sie eine gewisse Amoralität. Vgl. Holschbach 2004, S. 206. 500 Honnef 1982, S. 13. 501 Vgl. Kreutler 2006, S. 116. 502 In den gleichzeitigen bürgerlichen Frauenbildnissen waren erotische Darstellungen undenkbar. Moralische Anständigkeit wurde als oberste weibliche Tugend angesehen. 503 »Die Photographien seiner Stars trägt das Publikum nach Haus, um dort im Abbild des Idols noch einmal jenes Erlebnis wiederzubeleben, an dem es teilgenommen hat.« Müller 1989, S. 258. 504 Balk 1989, S. 23. Aus demselben Grund erschienen die Ankündigungen von Gastauftritten besonders oft in Verbindung mit Fotografien oder Pressezeichnungen des auftretenden Schauspielgastes.

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für den eigenen künstlerischen Ausdruck dienten.505 Dementsprechend konnten die Schauspieler sie als Nachweise ihrer schauspielerischen Fähigkeiten für eine Stellenbewerbung nutzen.506 Der Gebrauch von Schauspielerfotografien innerhalb der Theaterhäuser umfasst verschiedene Bereiche.507 In den Programmheften, die zur Erläuterung der Regiearbeit aber auch mit einer werbenden Intention entstanden, wurden seit den 1890er Jahren Abbildungen von Schauspielern und Theaterszenen nicht nur zur Textillustration, sondern auch in Form eines Bildberichts verwendet.508 Erst in den 1930 Jahren begannen Theater Lichtbilder von Schauspielern zu Werbezwecken zu nutzen.509 Davor beschränkte sich die Werbung der Theater auf Zeitungsinserate oder ausgehängte Spielpläne.510 Die Theater waren nicht so stark wie z. B. die Variet8-Bühnen auf plakative Werbung angewiesen, da sie hauptsächlich Stammkundschaft hatten.511 Nicht zuletzt waren die Fotografien von Schauspielern auch den Erzeugern, also den Fotografen, von Nutzen. Einerseits waren sie eine lohnende Einnahmequelle, andererseits eine gute Werbung für das Fotoatelier.512 Die Präsentation der Schauspielerfotografien in den Schaukästen der Fotoateliers diente wiederum als Reklame für die Schauspieler und die Produktionen in denen sie mitspielten.

IV.4.2 Stilistische Veränderungen um 1900 Analog zum Schauspielerporträt insgesamt setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Darstellungsweise im fotografischen Schauspielerporträt durch, die von den Innovationen des Theaters sowie des Mediums Fotografie bestimmt war. In den Zivilfotografien machten sich die Veränderungen früher bemerkbar als in den Rollenfotografien. Es dauerte noch mehrere Jahrzehnte im 20. Jahrhundert, bis letztere Neuerungen aus der Porträtfotografie einbezo505 Vgl. Holschbach 2004. 506 Vgl. Hickethier 1997, S. 40. 507 »Er betrifft all die Fotografien, die im theatereigenen Archiv gesammelt werden sowie die Aufnahmen, die in Form von Aushängen, in den Bewerbungsmappen von Schauspielern oder zur Illustration von Programmheften Verwendung finden. Hinzu kommen die Lichtbilder, die zur Regiehilfe genutzt werden.« Spötter 2003, S. 151. 508 Vgl. Spötter 2003, S. 200, 213. 509 Vgl. Spötter 2003, S. 198. 510 Vgl. Balk 1989, S. 53–54. 511 Vgl. Rademacher, Hellmut: Theaterplakate – ein internationaler historischer Überblick, Leipzig 1990, S. 142. Laut Balk wurden in den Münchner Theatern Rollenporträts und gestellte Szenenfotografien seit den 1920 Jahren zum Aushang im Inneren der Theater, z. B. im Foyer, verwendet. Vgl. Balk 1989, S. 53–54. 512 Berühmte Schauspieler wurden teilweise von den Ateliers für das Modellstehen bezahlt. Vgl. Holschbach 2004, S. 206.

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gen.513 Gerade bei den Fotopostkarten, die zur Vermarktung der Schauspieler dienten, war die Wiedererkennbarkeit der Modelle ein wichtiges Kriterium. Der Anspruch auf Repräsentativität und Allgemeingültigkeit führte dazu, dass bei den Fotopostkarten von verschiedenen Schauspielern übereinstimmende Inszenierungsmittel eingesetzt wurden. An der Wende zum 20. Jahrhundert ließ die Verwendung von Versatzstücken des Bühnenbilds auf den Schauspielerfotografien nach und der Hintergrund wurde schlichter. Auch Bühnenrequisiten wurden nun auf den Rollenfotografien sparsamer eingesetzt als im 19. Jahrhundert. Das Bühnenkostüm trugen die Schauspieler auf den Rollenfotografien weiterhin und es erfuhr wegen dem Fehlen anderer Theaterelemente eine Aufwertung.514 Ebenso »wich das starke Posieren einem natürlicheren Verhalten vor der Kamera.«515 Dies entsprach den Entwicklungen in der Porträtfotografie allgemein, da Schauspielerfotografien weiterhin von bürgerlichen Fotografien geprägt waren.516 Des Weiteren waren diese Neuerungen eine Folge der Veränderungen des Schauspielstils. Während es gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch üblich war, während des Spiels in einer eingefrorenen Pose zu verharren, kam dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf der Bühne wie im Fotoatelier, aus der Mode. Bei den Aufnahmen von Charlotte Wolter und Clara Ziegler beispielsweise sieht man noch diesen »statuarischen Stil«517. Der variationsarme Gesichtsausdruck auf ihren Aufnahmen entsprach dem aktuellen Schauspielstil mit einer Betonung der Gestik.518 Der Bedeutungszuwachs des Mimenspiels durch die Theaterreformen um 1900 resultierte in einem Anstieg von fotografischen Nahaufnahmen519 mit Konzentration auf einen ausdrucksstarken Gesichtsausdruck. Die individuelle Charakterisierung des Modells nahm an der Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert in der Porträtfotografie insgesamt an Bedeutung zu, so Faber :

513 Vgl. Faber, Monika: Der individuelle und der typische Ausdruck, in: Faber/Frecot 2005b, S. 46–48, hier: S. 46. 514 Vgl. Frecot, Janos: Vor dem geschichtlichen Horizont. Bemerkungen zur Photographiegeschichte in Deutschland und Österreich, in: Faber/Frecot 2005, S. 8–14, hier : S. 10. 515 Balk 1989, S. 43. 516 Vgl. Frecot 2005, S. 10. In der frühen bürgerlichen Fotografie stand die Repräsentation im Zentrum. In der Tradition des Standesporträts vermittelten die im Atelier genutzten Requisiten den sozialen Status der Fotografierten. Im Lauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ das Bedürfnis nach Selbstdarstellung nach und machte die Requisiten in den Fotografien überflüssig. Es entwickelte sich eine neue Sicht des Modells als Mensch, der nicht mehr ausschließlich in seiner Funktion und Bedeutung gesehen wurde. 517 Holschbach 2006, S. 206. 518 Vgl. Holschbach 2006, S. 206. 519 In der Porträtfotografie der 1920er Jahre sieht Faber eine Beeinflussung durch den Stummfilm. Für Nah- und Großaufnahmen ist eine ausdrucksstarke, suggestive Mimik notwendig, wie bei der Pantomime. Vgl. Faber 2005a, S. 20.

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»›Naturwahrheit und Ungezwungenheit‹ galten als entscheidende Kriterien für die Qualität von Bildnissen ab 1900, um sie von den älteren Produkten mit ihren wie Kulissen gemalten Dekorationen, den einstudierten Posen und entstellenden Retuschen zu unterscheiden.«520

Der Eindruck von Spontaneität wurde in den Aufnahmen dadurch vermittelt, dass die im nächsten Moment mögliche Bewegung der Person in der Körperhaltung impliziert war. In den 1920er Jahren wurde immer stärker Wert darauf gelegt, Persönlichkeit und Charakter des Modells zum Ausdruck zu bringen: »Daher werden die repräsentativen Posen der Jahrhundertwende jetzt noch stärker individualisiert, die Haltung der Hände, die Stellung des Kopfes mehr unterstrichen, etwa durch gezielte Beleuchtung bewusste Asymmetrie der Flächenaufteilung im Bild oder durch differenzierte Schärfe der Darstellung.«521

In Kapitel V.4.2 über die Fotografien von Tilla Durieux wird sich herausstellen, dass sie einerseits den mehrere Jahrzehnte alten Konventionen der Schauspielerfotografie verpflichtet waren, sie sich andererseits die Neuerungen der Gattung des beginnenden 20. Jahrhunderts bereitwillig zu Nutze machten.

520 Faber, Monika: Fin de siHcle, in: Faber/Frecot 2005, S. 22–43, hier : S. 25. 521 Faber, Monika: Grosses Finale und Aufbruch ins Ungewisse. Zwei Epochen im Spiegel der Portraitphotographie, in: Faber/Frecot 2005, S. 15–21, hier: S. 19.

V.

»ich möchte so gern gesehen werden, wie ich wirklich bin.« – Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

V.1

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

Die Gruppe der Rollenporträts nimmt eine besondere Stellung unter Durieux’ Porträts ein. Viele Porträtisten interessierten sich für Durieux’ Schauspielerei und/oder nahmen aktuelle Aufführungen zum Anlass für ihre Werke. Einige von ihnen, wie Max Slevogt oder Emil Orlik, hielten sie mit Vorliebe in ihren Rollen fest und bezeugen auf diese Weise ihre Begeisterung für das zeitgenössische Theater und seine Akteure. Neben der schier endlosen Anzahl an Fotopostkarten gibt es über 50 Porträts in verschiedenen Techniken und Stilrichtungen, die Durieux in einer Bühnenrolle zeigen. Die meisten Rollenporträts von Durieux sind graphisch, aber auch das traditionelle Porträtmedium, die Malerei, ist vertreten. Anhand von vier Gemälden wird im Folgenden das Spezifische der Rollenporträts von Durieux dargelegt. Zusätzlich zu einer ausführlichen Bildanalyse sind die Entstehungsbedingungen der Werke, die Resonanz, die sie erfuhren, die jeweiligen Absichten der Porträtisten, die Einordnung in das Gesamtwerk der Künstler sowie der Bezug der Porträts zur tatsächlichen Rolle522 von Interesse. Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit nach der bildnerischen Inszenierung von Durieux mittels und in ihren Porträts steht auch in den Rollenporträts im Zentrum. Auffälligerweise liegt allen vier hier besprochenen Rollenporträts der Frauentypus der ›Femme fatale‹ zu Grunde, der daher zuerst vorgestellt wird.

V.1.1 Begriffsklärung ›Femme fatale‹ Dem Namen nach ist die ›Femme fatale‹ eine »verhängnisvolle Frau«. Verhängnisvoll ist sie für den Mann, der ihren Verführungen erliegt. Tatsächlich 522 Die Problematik des Nachweises des individuellen Darstellungsstils im Schauspielerrollenporträt wird in Kapitel IV.1.1 der vorliegenden Arbeit erörtert.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

jedoch ist die Verführung in der Regel für die ›Femme fatale‹ selbst verhängnisvoller als für ihr Opfer, da sie meistens am Ende stirbt, während der Mann noch einmal davonkommt. Die ›Femme fatale‹ zeichnet sich durch ein gefühlsbis triebgeleitetes Handeln aus und verfügt über »traditionell männliche Charakterzüge: Gefühlskälte, einen kalkulierbaren Verstand, ein dominantes, aggressives Verhalten«523. Das »männliche« Wesen der ›Femme fatale‹ steht im Gegensatz zu ihrer überfeminisierten Erscheinung, die häufig zu einer »aggressive[n] Erotik«524 gesteigert ist. Die Synthese von Sinnlichkeit und Grausamkeit macht den besonderen Reiz der ›Femme fatale‹ aus. Das Risiko, das der Mann eingeht, wenn er sich mit ihr einlässt, macht sie umso attraktiver. Fatale Frauenfiguren wie Salome, Kleopatra, Lulu oder Delila waren an der Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert in der bildenden Kunst ebenso populär wie in der Literatur und auf der Bühne. Dabei ist eine gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Bereiche zu beobachten. Einige dieser Frauen sind aus der Bibel und der Mythologie bekannt und waren seit langer Zeit beliebte künstlerische Motive, erfuhren jedoch um 1900 eine zeitgemäße Umdeutung. Oft wurden verschiedene biblische und mythologische ›Femmes fatales‹ miteinander vermischt, so dass ihre Wurzeln nicht mehr genau bestimmt werden können. Dies trägt zur Unergründlichkeit der ›Femme fatale‹ bei.525 Im Unterschied zu den vorhergehenden Jahrhunderten, geht es den Künstlern um 1900 nicht um die künstlerische Umsetzung der Erzählungen, vielmehr werden die ›Femmes fatales‹ zum »Umschlagplatz psychologischer Vorstellungen«526. Nach Kessemeier bildet »jede Epoche […] ikonographisch festgelegte Frauenbilder und Weiblichkeitsentwürfe aus, die als besonders zeitspezifisch wahrgenommen werden.«527 Die ›Femme fatale‹ ist ein Indikator soziokultureller Prozesse, wie sie weiter ausführt: »Diese idealtypischen Bilder dienen als Vorbilder individueller Selbstdarstellung, als visuelle Identifikations- und Verhaltensmodelle, sie sind darüber hinaus Ausdruck des bestehenden Geschlechterverhältnisses und des Verständnisses von Weiblichkeit einer Gesellschaft.«528 523 Pohle, Bettina: Kunstwerk Frau. Inszenierungen von Weiblichkeit in der Moderne, Frankfurt am Main 1998, S. 79. 524 Vgl. Wäcker, Erika: Die Darstellung der tanzenden Salome in der bildenden Kunst zwischen 1870 und 1920, Diss., Berlin 1993, S. 204. 525 Vgl. Walz, Sandra: Der Salome-Mythos in der europäischen Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Mag., Erlangen-Nürnberg 2002, S. 42. 526 Hatz, Mechthilde: Frauengestalten des Alten Testaments in der bildenden Kunst von 1850 bis 1918. Eva, Dalila, Judith, Salome, Diss., Heidelberg 1972, S. 182. 527 Kessemeier, Gesa: Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der ›Neuen Frau‹ in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929, Diss., Dortmund 2000, S. 37. 528 Kessemeier 2000, S. 37.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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Im Laufe des 19. Jahrhunderts begannen Frauen, angetrieben durch ein neues Selbstverständnis, gegen die überlieferte Geschlechterordnung zu rebellieren. Die Forderung nach Unabhängigkeit und Gleichberechtigung wurde als gesellschaftliche Bedrohung empfunden.529 Der »Kampf der Geschlechter« äußerte sich um 1900 in einer regen Geschlechterdebatte.530 Die durch die weiblichen Emanzipationsbestrebungen verursachte männliche Verunsicherung führte zur »Dämonisierung«531 der Frau, die einen deutlichen Ausdruck in der Weiblichkeitsimagination der ›Femme fatale‹ fand. Die ›Femme fatale‹ wurde zur Projektionsfläche für Ängste und Wünsche.532 Als Wunschbild, ausgestattet mit sadistisch-perversen Zügen, transportierte sie männliche Sexualphantasien.533 Ihre Lasterhaftigkeit sowie ihre sexuelle Selbstbestimmtheit und Freizügigkeit standen im Gegensatz zur bürgerlichen Prüderie der Zeit.534 Die künstlerischen Darstellungen von ›Femmes fatales‹ galten auf Grund der Doppelmoral der Kaiserzeit als gleichermaßen skandalös wie beliebt.535 Die ›Femme fatale‹ war im beginnenden 20. Jahrhundert soweit typisiert, dass jede erotische Frauendarstellung eine Assoziation mit der ›Femme fatale‹ hervorbrachte. Dies ging so weit, dass das Motiv zu einem Vorwand für erotische Frauendarstellungen wurde.536 Durieux’ Image als ›Femme fatale‹ ist auf die Häufung der Rollen in diesem Fach am Anfang ihrer Laufbahn zurückzuführen.537 Das Bild hatte sich den Zeitgenossen eingeprägt, wie ein Tagebucheintrag von Thea Sternheim nach der Veröffentlichung von Durieux’ Autobiographie 1958 zeigt: »Zweifellos gehört die Schreiberin zu denjenigen weiblichen Wesen, die mir zum erstenmal den Begriff der Femme fatale vermittelt haben, im Berliner Jargon kürzer als 529 Vgl. Hatz 1972, S. 190. 530 Vgl. Walz 2002, S. 134. Vgl. dazu auch: Eschenburg, Barbara: Der Kampf der Geschlechter. Der neue Mythos in Literatur, Philosophie und Kunst, in: Eschenburg/Friedel 1995, S. 9–42; Hatz 1972, S. 187; Walz 2002, S. 34–35. 531 Vgl. Pohle 1998, S. 78. »Diese Dämonisierung basiert auf einer Grundangst des Mannes vor sozial-ökonomischem Versagen, die sich als Angst vor der Entmaskulinisierung des traditionell starken und aktiven Mannes durch die traditionell schwache und passive Frau entlädt.« Walz 2002, S. 33. 532 Vgl. Pohle 1998, S. 77. 533 Vgl. Walz 2002, S. 23. 534 Vgl. Hilmes, Carola: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur, Stuttgart 1990, S. 96. 535 Vgl. Sünderhauf, Esther Sofia: Franz von Stucks Antikenrezeption im Kontext der Zeit, in: Brandlhuber/Buhrs 2008, S. 156–175, hier : S. 166. 536 Vgl. dazu: Merkel, Kerstin: Salome. Ikonographie im Wandel, Frankfurt am Main u. a. 1990, S. 180. 537 Hans Land attestiert Durieux ein »dämonisches Temperament« sowie einen »starken Willen zur Macht«. Dank ihrem »messerscharfen Intellekt« setzte sie, laut Land, ihre weiblichen Waffen kalkuliert ein: »ihre heiße Sinnlichkeit verfügt und herrscht über das ganze Register weiblicher Koketterie und sinnbetörender erotischer Künste.« Land 1913.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

Vamp bezeichnet. Dass die mir zugänglichen Exemplare dieser Gattung, nämlich Tilla Durieux und Ida Maria Sachs, alias Brünauer, beide aus Oesterreich kamen, beide im Freundeskreis unter der Bezeichnung >Puma< figurierten mag auf Zufall beruhen. Jedenfalls waren beide über den Durchschnitt an musischen Dingen interessiert, gebildet, von weniger Vorurteilen gehemmt als die Durchschnittsfrau.«538

Durieux wurde also nicht nur wegen ihrer Bühnenrollen, sondern auch privat als geheimnisvolle539 bis gefährliche Frau gesehen.540 Ihr wurden diverse private Skandale nachgesagt, die immer wieder Stoff für Klatschgeschichten hergaben und im Selbstmord Paul Cassirers gipfelten.541 Die Vorstellung von der Schauspielerin mit dem lockeren Lebenswandel bezieht sich allerdings nicht nur auf Durieux’ tatsächliches Verhalten, sondern speist sich aus Vorurteilen, die dem Berufsstand der Schauspielerin allgemein entgegengebracht wurden.542 In Durieux’ Selbstinszenierung spielte das ›Femme fatale‹-Image keine Rolle. Es entsprach nicht ihrem Selbstbild. Zwar hatte sie ihren Durchbruch diesem Rollenfach zu verdanken, suchte jedoch bald Abstand davon und wollte lieber als intellektuelle »Universalschauspielerin« gelten. Ungeachtet dessen griffen nicht wenige Porträtisten dieses Vorstellungsbild der Schauspielerin auf.

538 Tagebucheintrag vom 14. 3. 1958. Sternheim, Thea: Tagebücher 1903–1971, Bd. 4 1951– 1971, hg. v. Thomas Ehrsam und Regula Wyss, Göttingen 2002, S. 295–296. 539 »Denn das ist die Durieux für uns Berliner : eine Sphinx, die uns beunruhigt und lockt, anzieht und abstößt, belustigt und ergreift, und die für uns auch dann nicht erledigt wäre, wenn wir jemals dahin kämen, ihre Rätsel zu lösen.« Jacobsohn, Siegfried: Tilla Durieux, in: Frankfurter Nachrichten, 15. August 1917, zit. nach: Preuß 1965, S. 49. 540 In manchen Kritiken wird keine Grenze zwischen Rolle und Person gezogen: »Wir haben diesen Typ, den die Durieux am reinsten darstellt, vielleicht aus dem Slavischen übernommen. Diese teuflischen Friseur-Circen können keinen Verehrer verrückt machen, der es nicht schon ist, und es ist immer wieder unglaublich, wie auch nur ein Mann glauben kann, sie hielten was sie versprachen. […] Sie müssten ihre Augen sehen, […]. Glasgrün und undurchdringlich, und ihre vibrierenden Nasenflügel! Das Weib macht mich toll!«. Tucholsky 1914, S. 185–186. 541 Die Autorin Julie Elias urteilt hart über Durieux: »Kommt der Dämon über sie, so kann sie mit Menschenschicksalen spielen wie die Katze mit einer Maus. […] Dabei fragt sie wenig nach dem Urteil der Welt.« Elias, Julie: Taschenbuch für Damen. Mit Zeichnungen und Aquarellen von Emil Orlik, Berlin 1924, S. 21. Vielleicht bezieht sich Elias dabei auf den Selbstmord ihrer Freundin Alice Trübner und Durieux’ »Rolle« dabei. Alice Trübner erschoss sich 1916 im Berliner Hotel Esplanade im Beisein von Durieux. In ihrer Autobiographie schildert Durieux die lesbischen Neigungen von Alice Trübner, die sich anscheinend zu Durieux hingezogen fühlte. Die unerwiderten Gefühle waren eventuell ein Auslöser für ihren Selbstmord. Ihr Mann, der Künstler Wilhelm Trübner, beschuldigte Durieux sogar des Mordes an seiner Frau. Vgl. Durieux 1979, S. 243–246. 542 Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Schauspielerinnen ein Lebenswandel nachgesagt, der den Moralvorstellungen des Bürgertums zuwiderlief. Zur gesellschaftlichen Ausgrenzung des Berufsstands der Schauspielerin im Lauf der Jahrhunderte siehe: Möhrmann 1989.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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V.1.2 Eugen Spiro, Tilla Durieux als Salome, 1905 Eugen Spiros Porträts von Durieux entstanden auf Grund der Ehe des Künstlers mit der Schauspielerin. Durieux lernte den in Breslau geborenen Spiro während ihres Engagements dort kennen543 und die beiden heirateten 1903 und zogen nach Berlin. Bereits nach kurzer Zeit wurde die Ehe geschieden, da Durieux 1904 Paul Cassirer kennenlernte und die beiden ein Paar wurden.544 Laut Eugen Spiros Sohn Peter habe Durieux nach der Trennung keines ihrer Porträts von Spiro behalten. Spiro, der von 1895 bis 1897 Schüler von Franz von Stuck (1863–1928) an der Münchner Akademie der Künste war545, hatte zum Zeitpunkt der Bekanntschaft mit Durieux bereits begonnen, sich einen Namen als Künstler zu machen und war bei den großen deutschen Kunstausstellungen vertreten.546 Von 1900 bis 1933 war er Mitglied der ›Münchner Secession‹ und seit 1906 Mitglied der ›Berliner Secession‹, in der er von 1915 bis 1933 im Vorstand saß und 1925 Präsident wurde.547 Bereits 1901 war Spiro erstmals in der Berliner Secessionsausstellung dabei.548 Ende April 1904 wurden im Kunstsalon Cassirer Werke von Spiro gezeigt.549 1905 malte Spiro Durieux in der Rolle der Salome (Abb. 1). Liebrecht datiert das Bild in ihrer Spiro-Monographie auf 1903.550 Unter der Signatur unten rechts ist jedoch eindeutig »05« zu lesen. In Abercrons Werkverzeichnis von Spiros Gemälden trägt das Porträt den Titel Im Perlenschmuck und ist auf 1905 datiert.551

543 Laut Peter Spiro, Sohn von Eugen Spiro, schminkte Spiro Durieux im Theater. Vgl. Spiro, Peter : Nur uns gibt es nicht wieder. Erinnerungen an meinen Vater Eugen Spiro, meine Vettern Balthus und Pierre Klossowski, die Zwanziger Jahre und das Exil, Hürth bei Köln 2010, S. 20. 544 Durieux lernte Cassirer bei einer Abendgesellschaft im Haus von Julius Meier-Graefe kennen. Durieux’ Autobiographie nach drängte Spiro selbst sie, sich um Cassirer zu bemühen, da er hoffte, durch seine Frau Kontakte zu Cassirer und damit zur Berliner Kunstszene zu knüpfen: »Spiro […] flüsterte mir zu, daß es der Kunsthändler Paul Cassirer sei, der außerordentlich wichtig für seine Zukunft wäre […]. Dabei bat er mich, möglichst liebenswürdig zu diesem Herrn zu sein.« Durieux 1979, S. 74. 545 Vgl. Scheyer, Ernst: Eugen Spiro. Clara Sachs. Beiträge zur neueren schlesischen Kunstgeschichte, München 1977, S. 14. 546 Abercron, Wilco von: Eugen Spiro. Spiegel seines Jahrhunderts. Werkverzeichnis der Gemälde, Alsbach 1990, S. 11. 547 Nach der Spaltung der ›Berliner Secession‹ 1913 verblieb Spiro in der »Rumpfsecession« mit Lovis Corinth als Präsident. 548 Vgl. Liebrecht, Vera: Eugen Spiro. Leben und Werk, Diss., Aachen 1987, S. 26. 549 Hoffmeister 1992a, S. 80. 550 Vgl. Liebrecht 1987, S. 31. 551 Abercron 1990, WV Nr. A-05–8, S. 145.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

V.1.2.1 Bildbeschreibung und Analyse Das Bildnis in ovaler Form zeigt Durieux im Profil nach rechts. Es handelt sich um einen Büstenausschnitt vor blauem Hintergrund. Mit ruhiger Miene blickt sie zur Seite aus dem Bild heraus, während sich die Schultern parallel zum Bildgrund befinden. Der Bildausschnitt lässt ihre nackten Schultern erkennen. Die helle Haut hebt sich deutlich gegen den blauen Hintergrund ab. Die Figur ist gleichmäßig frontal beleuchtet, so dass sich kaum Schatten ergeben. Das dunkelbraune Haar ist zu einer Kurzhaarfrisur hochgesteckt. Durieux trägt eine aufwendige Kopfbedeckung aus Gold und Perlen, an der Stirn hängen zwei große Perlen herunter. Um den Hals hat sie eine große Perlenkette mit einem roten Stein und einem weiteren Anhänger in Höhe des Brustbeins, der vom unteren Bildrand angeschnitten wird. Die Malweise ist glatt, keine Pinselspuren sind zu sehen. Das Gesicht ist stilisiert wiedergegeben. Die Gesichtszüge zeigen keine Emotionen. Durieux spielte die Rolle der Salome mit großem Erfolg seit 1903 in Berlin, wo Spiro sie mehrfach gesehen hat. Die Identifizierung des Bildnisses als Rollenporträt von Durieux als Salome erfolgt anhand der Nennung in einer Ausstellungsbesprechung im Entstehungsjahr des Gemäldes.552 Auch Durieux selbst bezeugte die Existenz eines Porträts von ihr als Salome von Spiro.553 Ein Vergleich des Bildnisses mit den Fotopostkarten von Durieux in der Rolle der Salome belegt die enge Anlehnung des Künstlers an das originale Bühnenkostüm. Den Kopfschmuck und die Halskette übernimmt Spiro leicht variiert. Der kleine Bildausschnitt lässt keine situative Einbindung der Figur zu. Das wichtigste Attribut der Salome, der Kopf Johannes des Täufers, fehlt. Ebenso wenig weist die Darstellung eindeutige Hinweise auf eine Theateraufführung auf.

V.1.2.2 Dramatische Vorlage und Inszenierung bei Max Reinhardt Spiros Porträt Tilla Durieux als Salome (Abb. 1) ist nicht von der biblischen Geschichte inspiriert, sondern von dem Drama Salome von Oscar Wilde, das im ›Fin de siHcle‹ zu einem vermeintlichen »Symbol des kulturellen Niedergangs«554 avancierte. Wildes Einakter erschien 1893 in Französisch, 1896 wurde er in Paris mit Sarah Bernhardt als Produzentin und Darstellerin der Titelrolle uraufge552 Rosenhagen, Hans: Von Ausstellungen und Sammlungen – Berlin, in: Die Kunst für Alle, Jg. 20, Heft 16, 1905, S. 383–387, hier : S. 385–386. 553 Zemke, Andreas: Tilla Durieux erzählt ihr Leben. Aus der Sendereihe Erzähltes Leben, Deutsche Welle 1968. http://www.dw.de/tilla-durieux-erzählt-ihr-leben-mai-1968/a-608 3731, Stand vom 17. 07. 2013. 554 Walz 2002, S. 28.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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führt.555 1894 folgte die englische Ausgabe mit Illustrationen von Aubrey Beardsley, eine Aufführung wurde jedoch untersagt und die englische Erstaufführung erfolgte erst 1931. Im Jahr 1900 wurde das Drama nach der englischen Version von Hedwig Lachmann ins Deutsche übersetzt. 1901 war die Deutsche Erstaufführung in Berlin am Kleinen Theater Max Reinhardts. Auf Grund der Zensur wurde das Stück als geschlossene Veranstaltung vor geladenen Gästen gespielt. Am 29. September 1903 fand dann unter der Regie Max Reinhardts im Neuen Theater in Berlin die erste öffentliche Aufführung mit großem Erfolg statt.556 Bei der Premiere spielte Durieux Herodias, danach alternierend die Rollen der Herodias und der Salome und ab 1904 nur noch Salome.557 Die Rolle der Salome bedeutete Durieux’ Durchbruch im Ensemble von Max Reinhardt. Sie blieb in den folgenden Jahren ein fester Bestandteil von Durieux’ Repertoire und besitzt daher als Symbol für ihren beruflichen Erfolg eine besondere Bedeutung.558 In ihrer Autobiographie schildert Durieux den »schicksalhaften« Beginn ihrer Karriere: »Nun war 1903 zum ›Kleinen Haus‹ noch das ›Theater am Schiffbauerdamm‹ hinzugekommen, und dort wurde nun endlich die freigegebene ›Salome‹ von Wilde gespielt. Gertrud Eysoldt hatte als Salome einen unbeschreiblichen Erfolg. Die Karten waren bereits für eine Woche ausverkauft, als sie sich am dritten Abend krank meldete. Ihre Krankheit jedoch wurde mein Glück. Ich stand im ›Kleinen Theater‹ auf der Probe zu einem neuen Stück, als plötzlich der Regisseur Oberländer an mich herantrat: ›Können Sie heute Abend die Salome spielen?‹. Meine Knie versagten mir wieder einmal, und ich setzte mich auf einen Haufen Vorhänge, die gerade neben mir lagen und brüllte begeistert ›Ja‹. […] Von da ab spielte ich abwechselnd mit der Eysoldt und bei der fünfzigsten Vorstellung auch vor der Presse, und von diesem Tag an war ich in Berlin bekannt.«559

V.1.2.3 Resonanz Im Entstehungsjahr von Spiros Tilla Durieux als Salome 1905 präsentierte der Berliner Kunstsalon Schulte das Bildnis. Hans Rosenhagen missbilligt es in seiner Besprechung der Ausstellung in Die Kunst für Alle wegen dem seiner Meinung nach unausgereiften Stil des jungen Künstlers:

555 Oscar Wilde widmete seine Salome Sarah Bernhardt und arbeitete mit ihr zusammen an der Londoner Uraufführung 1892 (bis sie von der Zensur verboten wurde), weil sie für ihn die ideale Verkörperung der ›Femme fatale‹ war. Vgl. Walz 2002, S. 70. 556 Vgl. Walz 2002, S. 69. 557 Vgl. Loeper 2004a, S. 154–155. 558 Schauspieler werden in Rollenporträts häufig in ihren »Paraderollen« dargestellt. 559 Durieux 1979, S. 61, 63.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

»Eugen Spiro hat gewiß den herzlichen Willen, ein tüchtiger moderner Maler zu sein, aber er schwankt unentschlossen zwischen Stuck und Manet hin und her, ist, um jenen zu erreichen, zu temperamentlos und besitzt, um diesem nachzugehen, nicht genug Feinfühligkeit des Auges. […] Selbst sein Salome-Kopf, zu dem ihm seine schöne Gattin Tilla Durieux, die rassige Darstellerin der Wildeschen Gestalt, ihre Züge lieh, hat etwas Mattes.«560

Sieben Jahre später diente es als Titelblatt der Zeitschrift Jugend.561 Zur Zeit des Erscheinens der Jugend-Ausgabe waren der Künstler und die Schauspielerin bereits seit mehreren Jahren geschieden und Durieux hatte 1910 Paul Cassirer geheiratet. Seit 1898 schuf Spiro Titelblätter für die 1896 von Georg Hirth in München gegründete Jugend.562 Von Abercron listet in seiner Spiro-Monographie 28 Darstellungen Spiros auf, die zwischen 1898 und 1921 in der Jugend abgebildet waren, 18 davon waren Titelblätter.563 Die Verwendung von Spiros Werken als Titelblätter für die renommierte Kunstzeitschrift sicherte dem Künstler die Aufmerksamkeit einer großen Öffentlichkeit. Oft erschienen die Titelblätter und Darstellungen der Jugend als Nachdrucke in Form von Kunstblättern oder preiswerten Postkarten in Georg Hirths eigenem Verlag.564 Sie konnten entweder direkt vom Verlag oder im Buch- und Papierhandel erworben werden.565 Durch diese Art des Vertriebs waren sehr große Auflagen und damit eine weite Verbreitung der Jugend-Darstellungen möglich. Obwohl die Zeitschrift Jugend Namensgeberin des Jugendstils war, ist in ihren Bildbeiträgen ein Stilpluralismus vorhanden.566 In Spiros Tilla Durieux als Salome (Abb. 1) kann man Merkmale des Jugendstils erkennen. Der Kontrast zwischen der hellen Haut der Figur und dem Hintergrund wirkt plakativ und erinnert an Spiros Lehrer an der Münchner Akademie, Franz von Stuck. Die Stilisierung des Gesichts entspricht ebenfalls der Jugendstil-Ästhetik.

560 Rosenhagen 1905, Heft 16, S. 385–386. 561 Abb. in: Jugend, 1912, Jg. 17, Heft 34, S. 981. Eine redaktionelle Notiz auf dieser Seite weist den Titel »Tilla Durieux als ›Salome‹« aus. Information von Herrn Hans Zimmermann von der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, der die Online-Projekte »Jugend« und »Simplicissimus« betreut. E-Mail vom 17. 7. 2013. 562 Vgl. Wirth, Irmgard: Eugen Spiro. Ein Querschnitt durch das malerische und graphische Werk, Ausst.kat., Berlin 1969, S. 13. 563 Vgl. Abercron 1990, S. 67. 564 Zusätzlich veröffentlichte Georg Hirth seit 1896 die Reihe Dreitausend Kunstblätter der Münchner Jugend sowie die Kataloge der farbigen Kunstblätter aus der Münchener Jugend, mit ausgewählten Blättern der Zeitschrift. 565 Vgl. Liebrecht 1987, S. 85. 566 Georg Hirth ließ den Künstlern, die Beiträge für die Jugend schufen, freie Hand.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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V.1.2.4 Salome-Darstellungen Salome-Darstellungen erfreuten sich zur Entstehungszeit von Spiros Bildnis großer Beliebtheit.567 Zahlreiche Tänzerinnen und Schauspielerinnen wie Maud Allan (1873–1956), Gertrud Eysoldt, Lili Marberg (1876–1962) und eben auch Tilla Durieux wurden in der Rolle der Salome dargestellt.568 Auch Damen aus dem Bürgertum ließen sich in »Verkleidungsporträts« als Salome porträtieren. Mehrere Durieux-Porträtisten, darunter Slevogt, Corinth und Stuck, schufen Salome-Darstellungen. Max Slevogt malte 1907 ebenfalls ein Porträt von Durieux, das als Porträt in der Rolle als Salome gedeutet werden kann (Abb. 2). Der einzige Hinweis in Slevogts Bildnis auf die Rolle der Salome ist die Bernsteinkette, die Durieux bei ihm als Kopfschmuck trägt und die entfernt an den Schmuck des Bühnenkostüms auf den Fotopostkarten erinnert. Dieses Durieux-Bildnis von Slevogt entstand zwei Jahre nach Spiros Werk. Auch er wählte einen Büstenausschnitt für seine Darstellung. Es ist davon auszugehen, dass Slevogt Spiros Tilla Durieux als Salome kannte. Aber auch der passionierte Theatergänger Slevogt sah Durieux sicherlich selbst in dieser Rolle auf der Bühne. Das Salome-Motiv war Slevogt nicht fremd, denn bereits 1895 malte er eine tanzende Salome.569 Das Hauptmotiv war hier der Tanz, verbildlicht durch »rhythmische(…) und aufgewühlte […] Linien des sich drehenden Frauenkörpers«570. Daffner formuliert die Bildaussage treffend: »eine atembenehmende Glut brennender Sinnlichkeit dringt uns daraus entgegen.«571 In Slevogts Porträtkopf Tilla Durieux, ob es nun als Salome gedeutet wird oder nicht, steht nicht die Sinnlichkeit im Vordergrund. Stattdessen ist es eine physiognomische Kopfstudie, die das Interesse Slevogts an der Person Tilla Durieux erkennen lässt. Lovis Corinth schuf unter verschiedenen Salome-Darstellungen572 1903 das Porträt der Schauspielerin Gertrud Eysoldt in dieser Rolle.573 Wie bei Spiros

567 Siehe dazu den Katalog mit Salome-Darstellungen von 1850 bis 1918 bei: Hatz 1972. Ein gute Übersicht über das Bildmotiv »Salome« in der Kunst der Jahrhundertwende bietet auch: Wäcker 1993. 568 Daffner, Hugo: Salome. Ihre Gestalt in Geschichte und Kunst. Dichtung, Bildende Kunst, Musik, München 1912, S. 342/345. 569 Max Slevogt, Tanz der Salome, 1895, Öl auf Holz, 69 x 100 cm, Maße und Verbleib unbekannt. Abb. in: Wäcker 1993, o.S. 570 Hatz 1972, S. 120. 571 Daffner 1912, S. 347. 572 Lovis Corinth, Salome I., 1899, Öl auf Leinwand, 76 x 89 cm, Busch-Reisinger-Museum, Harvard University, Cambridge, Inv.Nr. BR 53.60. Lovis Corinth, Salome II., 1900, Öl auf Leinwand, 127 x 147 cm, Museum der Bildenden Künste Leipzig, Inv.Nr. 1531. Abb. in: Lorenz/Salm-Salm/Schmidt 2008, S. 101. 573 Lovis Corinth, Gertrud Eysoldt als Salome, 1903, Öl auf Leinwand, 108 x 84,5 cm, Kunst-

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

Salome-Porträt von Durieux trägt auch Gertrud Eysoldt einen Kopfschmuck mit einer in die Stirn hängenden Perle und eine Perlenkette. Allerdings erlaubt der größere Bildausschnitt des Kniestücks eine um das abgeschlagene Haupt des Täufers erweiterte Darstellung. Corinth änderte Eysoldts Haarfarbe in Rot, wie es bei ›Femmes fatales‹-Darstellungen der Zeit verbreitet war. Der bühnenartige Aufbau des Bildes und die Lichtführung verweisen auf eine Theaterszene. Corinths Salome hat zwar etwas Brutales574, in der Art, wie sie das Haupt berührt, ihr Blick verrät aber gleichzeitig eine gewisse Verunsicherung. Möglicherweise stellt Spiro in Tilla Durieux als Salome denselben Moment wie Corinth, kurz nach dem Höhepunkt von Wildes Drama, dar, nur ohne den Kopf des Täufers abzubilden. Ebenso gibt es in Franz von Stucks Werk einige Salome-Figuren.575 In der Münchner Fassung der Salome576 stellt Stuck sie als Dreiviertelfigur, tanzend mit einem schwarzen Diener, der den Kopf des Täufers auf einem Tablett hält, dar. Ihr Oberkörper ist unbekleidet und sie tanzt gerade den Schleiertanz. Die erotische Präsentation der Figur steht eindeutig im Vordergrund. Gerade die tanzende Salome war um 1900 ein weit verbreitetes Bildmotiv, weil sich darin verschiedene bildkünstlerische Präferenzen der Zeit, Erotik, Exotik577 und Tanz, verbinden ließen.578 In der Aufführung von Wildes Einakter Salome bot die erotische Tanzszene eine reizvolle Aufgabe für die Titelrolle. Wilde befasste sich bei der Vorarbeit zu seinem Drama mit Salome-Darstellungen, so beispielsweise von Gustave Moreau, der wiederum von aktuellen literarischen Schöpfungen wie Mallarm8s H8rodiade angeregt wurde.579 Moreaus Salome-Darstellungen hatten eine große Wirkung auf nachfolgende bildkünstlerische Formulierungen des Motivs, da sich in ihnen die ›Fin de siHcle‹-Deutung der biblischen Figur verdichtet. Moreaus Atmosphäre, Szenerie und Ausstattung sind von der damals verbreiteten Exotismus-Mode beeinflusst und auch Wilde siedelte seine Salome im byzantinischen Raum an.580 Moreaus Salome ist, wie bei Wilde, ein androgyner Frauentypus, was Walz als generelles Kennzeichen der Figur beschreibt: »Der Zwitterstatus vieler Salomegestalten […] erweist sich als grundsätzliches

574 575 576 577 578 579 580

sammlungen, Klassik Stiftung Weimar, Inv.Nr. G 2414. Abb. in: Lorenz/Salm-Salm/Schmidt 2008, S. 219. Vgl. Daffner 1912, S. 346. Vgl. Wäcker 1993, Abb. 117–120. Franz von Stuck, Salome, 1906, Öl auf Leinwand, 115,5 x 62,5 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Inv.Nr. G 14260. Abb. in: Brandlhuber/Buhrs 2008, S. 105. Der orientalische Schauplatz des Stücks legt eine Deutung als orientalischen Tanz nahe. Vgl. dazu: Wäcker 1993. Vgl. Walz 2002, S. 69. z. B. Gustave Moreau, L’Apparition, 1876, Aquarell, 106 x 72,2 cm, Cabinet des Dessins, Louvre, Paris. Abb. in: Wäcker 1993, Nr. 47. Vgl. Walz 2002, S. 105, 110.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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Merkmal ihrer Chimärenhaftigkeit.«581 Durieux eignete sich mit ihrer androgynen Gestalt gut für die Rolle der Salome. Bezüglich der künstlerischen Interpretation des Stoffs eignet sich als Vergleichsbeispiel aus der älteren Kunstgeschichte Tizians Salome mit dem Haupt des Täufers582. Wie Merkel bemerkt, stellt Tizian – nach Aristoteles’ Unterteilung der griechischen Tragödie – den Moment nach dem Höhepunkt dar, »in dem die Katharsis einsetzt, die Reinigung der Seele mit Hilfe von Mitleid und Furcht«583. Deshalb zeigt Tizian Salome als Einzelfigur mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. Auch Spiro wählte einen distanzierten, in sich gekehrten Gesichtsausdruck in Tilla Durieux als Salome. Da es sich bei Spiro um ein Schauspielerrollenporträt handelt, geht die Auswahl des Handlungsmoments für die Darstellung auf das tatsächliche Bühnengeschehen zurück. Salomes Monolog am Ende von Wildes Stück lässt ihre Zweifel am eigenen Handeln aufscheinen, die zu Durieux’ abwesender Miene in Spiros Gemälde passen: »Oh! warum hast du mich nicht angesehen, Jochanaan! […] Wohl, du hast deinen Gott gesehen, Jochanaan, aber mich, mich hast du nie gesehen! Hättest du mich gesehen, so hättest du mich geliebt! Ich sah dich, und ich liebte dich! […] Ich dürste nach deiner Schönheit! ich hungre nach deinem Leib; nicht Wein noch Apfel können mein Verlangen stillen. Was soll ich jetzt tun, Jochanaan? Nicht die Fluten noch die großen Wasser können dies brünstige Begehren löschen. […] Ich war rein und züchtig, und du hast Feuer in meine Adern gegossen … Ah! Ah! Warum sahst du mich nicht an? Hättest du mich angesehen, du hättest mich geliebt. Ich weiß es wohl, du hättest mich geliebt, und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes…«584

In der älteren Kunstgeschichte vom 5. bis zum 18. Jahrhundert kommen SalomeDarstellungen, die sie als isolierte Einzelfigur vollkommen ohne Attribute zeigen, nicht vor.585 Es gibt zwar halbfigurige Einzeldarstellungen, die, wie Spiro und Slevogt, einen kleinen Bildausschnitt zeigen, aber Salome erscheint auf ihnen immer mit dem Haupt des Täufers.586 Die Porträts von Tilla Durieux in der Rolle der Salome von Spiro und (unter Vorbehalt) von Slevogt lassen sich folglich nicht auf ikonographische Vorbilder zurückführen, sondern sind alleine aus ihrem Entstehungshintergrund zu erklären. Das Zusammenspiel von Theater

581 Walz 2002, S. 43. 582 Tizian, Salome mit dem Haupt des Täufers, um 1550, Öl auf Leinwand, 87 x 80 cm, Museo del Prado, Madrid, Inv.Nr. P00428. Abb. in: Cagli, Corrado (Hg.): L’opera completa di Tiziano, Mailand 1969, Tafel XLVIII. 583 Merkel 1990, S. 140. 584 Wilde, Oscar : Salome. Tragödie in einem Akt. Mit Illustrationen von Aubrey Beardsley. In deutscher Übersetzung von Hedwig Lachmann, Stuttgart 1990, S. 53. 585 Vgl. dazu: Merkel 1990. 586 Vgl. Merkel 1990, S. 302.

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und Malerei, von Schauspielerin und Rolle sind die konstatierenden Elemente der Salome-Porträts von Durieux.

V.1.2.5 Einordnung in Spiros Gesamtwerk In ihrer Autobiographie schreibt Durieux anlässlich einer Frankreichreise mit Spiro 1903: »Spiro arbeitete fleißig, und ich half ihm, indem ich in der Landschaft Modell stand.«587 Von Spiro stammen die ersten bekannten Porträts von Tilla Durieux und die Schauspielerin machte mit ihm ihre ersten Erfahrungen im Modellstehen, das für sie später zu einer zeitintensiven Beschäftigung wurde. Insgesamt sind sieben gesicherte Porträts von Durieux von Spiro bekannt, die im Zeitraum von 1902 bis 1907 entstanden und somit zeitlich in das Frühwerk des Malers fallen, das sich zwischen Jugendstil und Impressionismus bewegt.588 Die meisten Porträts von Durieux schuf Spiro nach der Trennung der beiden. Einige Durieux-Bildnisse von Spiro wurden bei zeitgenössischen Ausstellungen gezeigt und in den Besprechungen der Kunstzeitschriften erwähnt. Tilla Durieux als Salome (Abb. 1) ist das einzige Rollenporträt von Durieux von Spiro. Er interessierte sich in seiner Kunst stärker für sie als privaten Menschen. Er malte seine Frau und nicht die Schauspielerin. Seine Familie war immer ein wichtiges Bildmotiv für Spiro. Seine Zivilporträts von Durieux, z. B. Tilla Durieux mit Hund589 von 1905, das in Kapitel VI.1 behandelt wird, können der Gruppe der »Persönlichen Porträts« von Durieux zugeordnet werden, bei denen die Inszenierung der Schauspielerin im Hintergrund steht und stattdessen die persönliche Beziehung von Maler und Modell überwiegt. Weitere gemalte Porträts dieser Art von Spiro sind Brustbild Tilla Durieux590 und Tilla Durieux am Frühstückstisch591, beide 1905 entstanden. Das Brustbild Tilla Durieux ist eine Nahaufnahme im Profil nach rechts. Durieux hat die Augen geschlossen und den Mund geöffnet, die Schultern scheinen nackt zu sein. Es zeugt von der sinnlichen Wirkung Durieux’ auf den Maler und (ehemaligen) Gatten. Tilla Durieux am Frühstückstisch zeigt eine Situation aus dem gemeinsamen Alltag. Sie sitzt mit einem Gegenstand in der linken Hand an einem Tisch mit einer Obstschale und blickt den Maler bzw. Betrachter direkt an. Das früheste bekannte Durieux-Porträt von Spiro ist das 1902 geschaffene Pastell Tilla 587 Durieux 1979, S. 57. 588 Vgl. Liebrecht 1987, S. 31. 589 Eugen Spiro, Tilla Durieux mit Hund, um 1905, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt. Abercron WV Nr. A-05-9. Abb. in: Jugend, 1912, Jg. 17, Heft 18, S. 504. 590 Eugen Spiro, Brustbild Tilla Durieux, 1905, Öl auf Leinwand, 47 x 33 cm, Privatbesitz. Abercron WV Nr. A-05-1. 591 Eugen Spiro, Tilla Durieux am Frühstückstisch, 1905, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt. Abercron WV Nr. A-05-6.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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Durieux592, ein Kopfbild in Dreiviertelansicht nach rechts. Das Gesicht ist aus Licht- und Schattenpartien mit diversen Glanzlichtern herausmodelliert. In Verbindung mit dem gedankenverlorenen Blick verleiht dies Durieux eine gewisse Sanftheit. Die Kreidelithographie Tilla Durieux am Flügel593 von 1907, der eine Kohlezeichnung594 zugrunde liegt, stellt ein weiteres Mal eine häusliche Situation dar. In die Noten vertieft sitzt Durieux am Klavier, dem Instrument, das ihr seit ihrer Kindheit vertraut war. Bei der Durchsicht von Abercrons Werkverzeichnis fällt die Dominanz der Gattung Porträt innerhalb von Spiros Oeuvres auf, gerade weibliche Porträts bilden einen Schwerpunkt. Im Laufe der Zeit entwickelte er sich zum Gesellschaftsmaler und porträtierte auch verschiedene Schauspielerinnen wie Elsa Sarto oder Leopoldine Konstantin, jedoch gibt es kaum Rollenporträts darunter und wenn dann eher im graphischen Bereich.595 Weder allegorische noch historische Porträts kommen bei Spiro häufig vor.596 Auch wenn Spiro 1905 für das Kleine Theater in Berlin arbeitete597, besitzt das Theater motivisch keinen großen Stellenwert in seinem Schaffen. Dafür ist ein intensiver Bezug zur Musik in Spiros Werk feststellbar. Er malte eine ganze Reihe von Musiker-Porträts. Spiro schuf ein Porträt von Durieux’ Vater, Dr. phil. Richard Max Victor Godeffroy.598 Da er bereits 1895 an Krebs starb und Durieux Spiro erst 1902 in Breslau kennenlernte, muss Spiro das Porträt nach einer Fotografie gemalt haben. Das Bildnis ihres Vaters nahm Durieux bei ihrer Emigration 1933 mit und es verblieb bei ihrer Rückkehr in Zagreb. 1982 wurde es der Durieux-Erbin Erika Danhoff übergeben.599 Der auf der Rückseite des Gemäldes als Eigentümer genannte Hermann Oscar Godeffroy (1875–1953) war ein Verwandter von Durieux’ Vater aus Hamburg.

592 Eugen Spiro, Tilla Durieux, 1902, Pastell, 50,5 x 41,4 cm, Privatbesitz. Abercron WV Nr. B02-2. 593 Eugen Spiro, Tilla Durieux am Flügel, 1907, Kreidelithographie, 39,5 x 55 cm, u. a. AdK, Berlin, Kunstsammlung, Inv.Nr. DR 6064. Abercron WV Nr. C-07-1. 594 Abercron WV Nr. D-07-2. 595 1926 schuf Spiro einige zeichnerische Rollenporträts für die Ausstellung »Berliner Bühnenbilder« der Neuen Kunsthandlung Berlin. Vgl. Liebrecht 1987, S. 77; Abercron 1990, S. 265–266. 596 Vgl. Liebrecht 1987, S. 130. 597 Mitteilung in der Rubrik Personal- und Atelier-Nachrichten, in: Die Kunst für Alle, Jg. 21, Heft 3, 1905, S. 69. 598 Eugen Spiro, Dr. Richard Godeffroy, Öl auf Leinwand, 29 x 21 cm, ovales Format, beschriftet auf der Rückseite: »Eigentum des Herrn Oskar Godeffroy Hamburg«, Datierung und Verbleib unbekannt. 599 Der Verbleib von Durieux’ Kunstsammlung wird in Kapitel VII.2 behandelt.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

V.1.2.6 Interpretation Unter den um 1900 weit verbreiteten ›Femme fatale‹-Figuren war Salome besonders populär, es herrschte eine regelrechte »Salomanie«600. Die Künstler bezogen sich nicht mehr auf die biblische Salome, sondern die Zeit brachte ihre eigenen, vielschichtigen Neuinterpretationen hervor. In den Evangelienberichten handelt die (namenlose) Tochter auf Wunsch ihrer Mutter Herodias (Matth. 14, 1–12; Mark. 6, 14–29.). Erst in der Salome-Literatur aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde Salome zu einer echten ›Femme fatale‹, indem sie den Kopf des Täufers aus eigenem Antrieb fordert.601 Anders als in der Bibel hat Salomes Handeln bei Oscar Wilde tödliche Folgen für sie. In der Schlussszene erteilt Herodes den Befehl: »Man töte dieses Weib!«, der daraufhin ausgeführt wird: »Die Soldaten stürzen vor und zermalmen Salome […] unter ihren Schilden.«602 Der Preis für Salomes aktives, »unweibliches« Begehren ist der Tod.603 Der blaue Hintergrund in Spiros Tilla Durieux als Salome (Abb. 1) verweist als kalte Farbe auf die Kaltherzigkeit der Salome. Im Jugendstil, dem Spiros Frühwerk verpflichtet ist, wird Blau als Stimmungsausdruck für Melancholie, Isolation und Distanziertheit eingesetzt. Der Schmuck, den Durieux auf Spiros Rollenporträt trägt, besitzt einen Bezug zu Wildes Drama, in dem Edelsteine immer wieder vorkommen. Edelsteine sind beliebte Attribute fataler Frauengestalten und die Überladenheit des Schmucks passt gut zur Verschwendungssucht der ›D8cadence‹.604 Spiro zeigt keinen eindeutig bestimmbaren Moment des Stücks, da die Figur aus dem Bühnengeschehen herausgelöst ist. Angesichts des ruhigen Gesichtsausdrucks von Durieux könnte er sich auf Salomes oben zitierten Abschlussmonolog beziehen, in dem sie über ihre Schuld am Tod Johannes des Täufers nachdenkt. Die Darstellungstendenz, die Hatz für das Salomethema um 1900 konstatiert, ist auch in Spiros Porträt vorhanden: »Mit 600 Walz 2002, S. 69. Vgl. dazu auch: Becker, Marie Luise: Salome-Darstellerinnen auf der modernen Bühne, in: Bühne und Welt, Jg. 9, Heft 11, 1907, S. 439–447. Auch unter den Tänzerinnen der Jahrhundertwende, z. B. Lo"e Fuller, Ida Rubinstein, Maud Allan, Tamara Karsavina und Valeska Gert, gab es eine »Salomanie«. Vgl. Brandstetter, Gabriele: TanzLektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main 1995, S. 232. 601 Pohle 1998, S. 77. Vgl. auch Taeger, Annemarie: Die Kunst, Medusa zu töten. Zum Bild der Frau in der Literatur der Jahrhundertwende, Bielefeld 1987, S. 36; Walz 2002, S. 70; Yun, Heekyeong: Tanz in der deutschen Kunst der Moderne. Wandlungen des bewegten Körperbilds zwischen 1890 und 1950, Diss., 2. Aufl., Taunusstein 2008, S. 50. 602 Wilde 1990, S. 54. 603 Vgl. Taeger 1987, S. 37. »Die männliche Macht, symbolisiert durch die phallischen Schwerter, siegt über die weibliche.« Walz 2002, S. 41. 604 Vgl. Winterhoff, Lissy : Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, ihre Lüste ein Ozean. Die jüdische Prinzessin Salome als Femme fatale auf der Bühne der Jahrhundertwende, Würzburg 1998, S. 76.

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fortschreitender Entwicklung des Salomethemas wurde die Ausschmückung des Ambiente zugunsten der Durchleuchtung ihrer Seelenverfassung aufgegeben.«605 Die von Hatz festgestellte Verschiebung vom »Szenenbild zum Seelenbild«606 trifft ebenso auf Spiros Durieux-Porträt zu, da er die Stimmung der Dargestellten einfängt. Nach Schartners Einteilung des Schauspieler-Rollenporträts handelt es sich bei Spiros Werk um ein »Kostümporträt«607. Durch die Wahl des kleinen Bildausschnitts fällt das für Salome-Darstelllungen typische Attribut des abgeschlagenen Haupts weg. Hals- und Kopfschmuck des Modells sind – in Übereinstimmung mit dem echten Bühnenkostüm – der einzige Theaterverweis. Ohne das Wissen über den Entstehungszusammenhang ist die Rolle nicht identifizierbar. Das Hauptanliegen von Spiro war es, ein Porträt seiner Frau zu schaffen. Die durch die Profilansicht erzeugte Abwendung vom Betrachter bringt die Introversion der Figur, aber auch die Intimität zwischen Maler und Modell zum Ausdruck. Das Porträt dient darüber hinaus als persönliches Erinnerungsbild an ein wichtiges, gemeinsam erlebtes Ereignis in Durieux’ Karriere. Die erotische Präsentation war um 1900 der Hauptreiz der Salome-Rolle auf der Bühne und äußerte sich in einem freizügigen Bühnenkostüm.608 Auch Durieux’ von Fotografien bekanntes Kostüm zeigt viel Haut. In einem Beitrag von 1907 in der Zeitschrift Bühne und Welt mit dem Titel Salome-Darstellerinnen auf der modernen Bühne betont die Autorin die Vorreiterrolle Durieux’ für die »Entkleidung« der Salome-Figur auf der Bühne. Durieux’ Kostüm ist im Vergleich mit den Kostümen der anderen Salome-Darstellerinnen auf den illustrierenden Fotografien des Beitrags jedoch relativ »anständig«.609 Spiro orientierte sich hinsichtlich der nackten Schultern an dem echten Bühnenkostüm, vom Körper der Schauspielerin ist jedoch nichts zu sehen. Spiro geht es folglich nicht um die erotische Präsentation seines Modells, die hauptsächlich über 605 606 607 608

Hatz 1972, S. 145. Hatz 1972, S. 146. Vgl. Schartner 1962, S. 43. Am Beispiel von Sarah Bernhardt deutet Thorun die Zurschaustellung des weiblichen Körpers auf der Bühne als Festschreibung der Geschlechterrollen: »Insbesondere die Zurschaustellung des Körpers, die die Frau als Objekt des Begehrens inszenierte, stellte eine immerwährende Re-Inszenierung konventioneller Geschlechterhierarchien dar.« Thorun 2006, S. 285. 609 »Während Frau Eysoldt und Fräulein Hedwig Wangel mit Glück orientalische Stoffe, indische Seiden zur Geltung brachten und es dem Publikum, das in der Salome-Aufführung einen kleinen Ausflug ins Unsittliche machte, schon sehr aufregend und erstaunlich schien, daß die Damen mit nackten Füßen auf die Bühne kamen, ging Fräulein Durieux in der Darstellung einer nackten oder doch als Illusion nackten Salome voraus, und in diesem Sinne haben sich auch die Operndarstellerinnen ihre Kostüme gewählt.« Becker 1907, S. 140.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

körperliche Inszenierung stattfindet. Damit entspricht er den Anschauungen Durieux’, die gegen die Sexualisierung der Schauspielerin eintrat.610 Die Wahl der Rolle der Salome für das Rollenporträt erklärt sich ausschließlich aus der echten Bühnenrolle Durieux’. Sie ist vom Künstler wohl nicht als Identifikationsfigur für die Privatperson Durieux gedacht.611 Ein weiteres um 1900 verbreitetes Phänomen in der Kunst, das oft in Verbindung mit der ›Femme fatale‹ auftritt, ist der Exotismus. Die exotische ›Femme fatale‹ ist besonders reizvoll, da sie durch ihr »Fremdsein« noch geheimnisvoller und gefährlicher erscheint. Wildes Salome ist im Orient angesiedelt. Die exotische Atmosphäre von Wildes Drama wurde in der Inszenierung durch das Bühnenbild und die Kostüme von Lovis Corinth und Max Kruse umgesetzt.612 Durieux’ Bühnenkostüm erinnert an ein orientalisches Bauchtanzkostüm. Spiro hat jedoch nicht die Absicht, den exotischen Charakter der Rolle in Tilla Durieux als Salome hervorzuheben, sondern sein künstlerisches Interesse liegt auf der Person. Bereits mit einem der frühesten Rollenporträts erfolgte eine bildnerische Inszenierung von Durieux in Richtung der ›Femme fatale‹, die für spätere Rollenporträts grundlegend bleiben sollte, wie mit den anschließenden Beispielen verdeutlicht wird.

V.1.3 Lovis Corinth, Tilla Durieux als spanische Tänzerin, 1908 Lovis Corinth war von 1892–1893 volles und von 1907–1912 korrespondierendes Mitglied der ›Münchner Secession‹. 1901 trat er der ›Berliner Secession‹ bei, in der er seit 1902 im Vorstand saß und deren Präsident er 1911 für ein Jahr war. Nach der Spaltung der ›Berliner Secession‹ 1913 übernahm er den Vorsitz der alten ›Berliner Secession‹. Er blieb bis zu seinem Tod 1925 Präsident der Vereinigung.613 Corinths Bekanntschaft mit Paul Cassirer in dessen Münchner Zeit zog eine fruchtbare Zusammenarbeit nach sich. 1901 siedelte Corinth auch auf Cassirers Veranlassung nach Berlin über und schloss einen Exklusivvertrag mit der Galerie Cassirer ab.614 Seit seiner ersten Ausstellung bei Cassirer 1899 war er dort bis 1923 noch weitere 30 Mal vertreten, 1908 hatte er eine große Einzel610 Vgl. Durieux, Tilla: Die Schauspielerin – Wandlungen und Perspektiven, in: Neue Leipziger Zeitung, 2. August 1928, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 583.9. 611 Die Tatsache, dass Spiro Tilla Durieux als Salome – wie fast alle Bildnisse von Durieux – nach der Trennung malte, eröffnet ein weites Feld an psychologischen Interpretationen, die jedoch nicht über Spekulationen hinausgehen können. 612 Vgl. Walz 2002, S. 71. 613 Siehe die Mitgliederverzeichnisse der Secessionen in: Best 2000, S. 481–668. 614 Vgl. Achenbach 2006, S. 59.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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ausstellung.615 Cassirer edierte literarische Werke und Buchillustrationen Corinths, z. B. sein Handbuch Das Erlernen der Malerei, das 1908 als erster Titel im Paul Cassirer Verlag erschien.616 Corinth und Cassirer arbeiteten nicht nur geschäftlich lange Zeit zusammen. Briefe bezeugen außerdem auch einen intensiven privaten Kontakt zwischen Lovis Corinth und dem Paar Durieux-Cassirer.617 Im Jahr 1908 malte Corinth sein Rollenporträt Tilla Durieux als spanische Tänzerin (Abb. 3).

V.1.3.1 Bildbeschreibung und Analyse Auf dem Ganzfigurenbildnis in Frontalansicht ist Durieux mitten im Tanz begriffen zu sehen. Ihr Körper bildet ein S und beschreibt eine leichte Diagonale von rechts unten nach links oben. Sie macht einen weiten Ausfallschritt, das rechte Knie drückt sich unter dem Stoff des Kleids hindurch. Der rechte Arm ist abgewinkelt über den Kopf erhoben und der linke seitlich ausgestreckt. In beiden Händen hält die Schauspielerin Kastagnetten mit Bändern und Glöckchen an den Enden. Sie trägt ein bodenlanges Kleid mit kurzen Ärmeln, einem runden Ausschnitt und übereinander gesetzten Volants am Saum. Das weiße Kleid ist mit bunten Blumen bestickt, die Ärmel und die Brustpartie sind grün. Es liegt gerade so eng am Körper an, dass es das Tanzen noch zulässt und der Stoff fließend am Körper hinunterfällt. Dazu passend trägt Durieux ein Schultertuch aus demselben Stoff mit langen Fransen am Rand. Unter dem Saum ragen schwarze, spitze Schuhe hervor. Die braunen Haare sind hochgesteckt, der Kopf ist leicht schräg gehalten und die Lippen sind leicht geöffnet. Der Blick ist auf den Betrachter gerichtet. Den Bildhintergrund bildet eine Folie in Grau- und Brauntönen. Das Gesicht weist eine akademische Malweise auf, wogegen das Kleid freier ausgeführt ist. Das Nebeneinander unterschiedlicher Malweisen in einem Bild ist eine häufig anzutreffende Arbeitsweise Corinths.618 Bei dem Kleid ist durch den skizzenhaften, vom Gegenstand unabhängigen Duktus eine beginnende Auflösung einzelner Stellen in Farbflecken zu beobachten, so dass die Fransen des Schultertuchs und das Muster des Kleides verschwimmen. Die kurzen, geschwungenen Pinselstriche veranschaulichen die Dynamik des Tanzes. Obwohl das Gemälde als Momentaufnahme eine innehaltende Pose der Tänzerin bedingt, gelingt es dem Künstler auf diese Weise den Eindruck von 615 616 617 618

Hoffmeister 1992b, S. 86. Vgl. Feilchenfeldt/Brandis 2002, S. 15. Siehe: Corinth, Thomas (Hg.): Lovis Corinth. Eine Dokumentation, Tübingen 1979. Vgl. Schröder, Klaus Albrecht: Nähe und Ferne. Faktur und Ausdruck im Schaffen Lovis Corinths, in: Lovis Corinth, hg. v. Klaus A. Schröder und Evelyn Benesch, Ausst.kat., München 1992, S. 26–31.

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Bewegung zu vermitteln. In seinem Lehrbuch Das Erlernen der Malerei619 schreibt Corinth über die Darstellung von Bewegung: »Das menschliche Auge sieht in einer darstellbaren Bewegung nur die Summe vieler kleiner Bewegungen. Es ist die Sache des Künstlers, den richtigen Punkt dieser vielen Bewegungsmomente zu fixieren.«620 Diese Sätze lassen an das Medium der Fotografie denken, das eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Tanzdarstellungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß, wie Wäcker schreibt: »Phasenaufnahmen von Bewegungsabläufen führten die Tanzdarstellung von der konstruierten Pose hin zur bildlichen Simulation eines Bewegungsmoments.«621 Corinth erkennt der Fotografie in seinem Lehrbuch die Funktion als Hilfsmittel der Malerei zu, warnt aber auch vor der allzu leichtfertigen Nutzung: »Durch die photographischen Momentapparate werden oberflächlich Beobachtenden viele Enttäuschungen bereitet, weil sie glauben, derartige Erzeugnisse blindlings ausnützen zu dürfen. Dem ist aber nicht so: diese Produkte sind nur ein Moment der Bewegung, und wir – nach meiner Schilderung – bedürfen der Summe mehrerer Bewegungsmomente. Es wird heute durch diese Hilfsmittel ebenso falsch gearbeitet, durch Nachbildungen dieser Photographien, wie früher, wo die galoppierenden Renner gleich Schaukelpferden alle viere von sich streckten. Aber die Momentphotographien haben das Gute gehabt, in das Studium der Bewegungsphasen Klarheit gebracht zu haben.«622

Über Corinths Überlegungen zur Darstellung von Bewegung hinaus sind in Tilla Durieux als spanische Tänzerin auch zahlreiche Richtlinien für das Anfertigen eines Porträts aus seinem Lehrbuch vorhanden. Die realistische Malweise des Gesichts entspricht dem von Corinth darin formulierten Hauptkriterium für ein Porträt: die Ähnlichkeit, die die Basis für andere Eigenschaften wie »Unmittelbarkeit des Ausdrucks, das Lebendige der Auffassung«623 darstelle. Corinth führt dazu aus: »Die einzelnen Züge des Abkonterfeiten sind vollständig ehrlich wiederzugeben. Eher sind die Formen je nach der Charakteristik zu übertreiben, als dem Publikum zuliebe zu verkleinern und zu versüßen.«624 Die Feststellung

619 Das Erlernen der Malerei erschien 1908 im Entstehungsjahr des Porträts im Paul Cassirer Verlag. Corinths Forderungen in seinem Traktat müssen kritisch betrachtet werden. Sie dürfen nicht als streng einzuhaltende Vorgaben für seine Malerei verstanden werden. Er weicht durchaus auch von ihnen ab. Trotzdem gibt es Aufschluss über seine grundsätzlichen künstlerischen Prinzipien. 620 Corinth, Lovis: Das Erlernen der Malerei. Ein Handbuch von Lovis Corinth, 2. Aufl., Berlin 1909, S. 165. 621 Wäcker 1993, S. 38. Vgl. auch Farese-Sperken, Christine: Der Tanz als Motiv in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, Diss., Hagen 1969, S. 4. 622 Corinth 1909, S. 165. 623 Corinth 1909, S. 135. 624 Corinth 1909, S. 136.

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Corinths, dass bei weiblichen Porträts das Interesse in der »Farbenwirkung«625 läge, ist hier genauso erfüllt wie seine Ausführungen über die Verwendung eines »einfachen Ton[s]«626 für den Porträthintergrund. Ebenso übernimmt Corinth die in der Darstellung spürbare »unmittelbare Beziehung von Maler und Modell zueinander« sowie die »momentane Wiedergabe des Porträtierten in augenscheinlich zufälliger Pose«627, die er bei seinen Vorbildern Vel#zquez, Hals und Rembrandt bewunderte, für sein Porträt. V.1.3.2 Werkentstehung Das Porträt war ein Auftragswerk für Paul Cassirer. In einem Brief vom Juli 1908 bestätigt Cassirer Corinth die Überweisung des Honorars für das Bild.628 Bereits vier Jahre vor dem Auftragsbildnis äußerte Corinth gegenüber seiner Frau den Wunsch, Tilla Durieux zu porträtieren: »Ich möchte im Theater heute so gern Einzelnes zeichnen, die Durieux sieht sehr gut aus – aber da muss ich erst mit meinem Gegenteil reden, ob der sich auf das ruhige sitzen einlassen will […].«629 Als Grund nennt Corinth seine Faszination für die Schauspielerin, die er auf der Bühne sah. Nach eigener Aussage des Künstlers sei die Besonderheit des Modells eine Voraussetzung für ein gutes Porträt, wie er es in Das Erlernen der Malerei ausdrückt: »Wie schon oben gesagt, werden nur solche Porträts von künstlerischem Werte sein, welche dem Maler ›liegen‹. Das werden namentlich solche sein, die durch Interessantheit des Kopfes und der Hände sowie durch eigenartige Charakteristik der Figur, schon selbst von vornherein vor anderen Gestalten auffallen.«630

Corinth porträtierte nicht nur zahlreiche Schauspieler und Persönlichkeiten der Bühne, privat und in ihren Rollen, sondern schuf auch Bühnenbilder und Kostüme. Bereits 1903 schuf er zusammen mit Max Kruse die Ausstattung für Reinhardts Salome und war auch in den folgenden Jahren an verschiedenen Inszenierungen beteiligt, in denen Durieux spielte. Daher begegnete er ihr an ihrem Arbeitsplatz regelmäßig und war mit ihrer Schauspielerei vertraut. Durch diesen Kontakt war eine, laut Corinths Lehrbuch, wichtige Voraussetzung für ein gutes Porträt erfüllt: »Die Möglichkeit, alle Charaktereigenschaften und somit die Ähnlichkeit der Person, die gemalt werden soll, zu gewinnen, wird wahrscheinlicher, je bekannter man mit ihr 625 626 627 628 629 630

Corinth 1909, S. 137. Corinth 1909, S. 137. Corinth 1909, S. 138. Vgl. Corinth 1979, S. 121. Corinth 1979, S. 86. Corinth 1909, S. 136–137.

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ist. Deshalb wird ein längerer Verkehr, bevor man an das Malen geht, notwendig sein. Nur so wird die Arbeit zu einem Porträt; im andern Falle, wo das Modell dem Maler unbekannt ist, höchstens zu einer gutgemalten Studie. Deshalb sind die Bildnisse, welche als künstlerisch erachtet werden können, meistens solche, die intime Bekannte von dem Maler selbst vorstellen.«631

V.1.3.3 Die Seguidilla: Symbiose von Tanz und Spanienmode in der Kunst der Jahrhundertwende Die Bildbeschriftung »Tilla Durieux la belle Espagnole dansante la Seguedilla« links oben ermöglicht nicht nur eine Identifizierung der Dargestellten, sondern erläutert auch die Rolle und um welchen spanischen Tanz es sich handelt. Körper- und Armhaltung, Kleid und Kastagnetten wählte Corinth einem spanischen Tanz entsprechend. Jedoch ist die Dargestellte keine spanische Tänzerin, geschweige denn eine Spanierin. Die Schauspielerin Tilla Durieux spielt hier, passend zu ihrem Beruf, eine vom Künstler ausgedachte Rolle. Dabei orientierte Corinth sich an der echten Seguidilla, ein dem Bolero verwandter Tanz, bei dem sich die Tänzerin mit Kastagnetten selbst begleitet.632 So hält auch Durieux in Corinths Porträt Kastagnetten in den Händen. Schneiders Beschreibung des Bolero, »ein plötzliches Anhalten der Bewegung, verbunden mit einer Pose, bei der ein Arm über den Kopf empor gestreckt wird«633, ist in Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin umgesetzt. Als typisches Element der Seguidilla nennt Grut die über dem Kopf kreisenden Bewegungen der Arme mit den Kastagnetten in den Händen634, wie sie auch Durieux ansatzweise ausführt. Corinth kombinierte vermutlich diverse Elemente, die ihm als typisch für den spanischen Tanz erschienen. Der mit Corinth bekannte Schriftsteller Julius Meier-Graefe veröffentlichte 1910 ein vielbeachtetes Buch über seine 1908 unternommene Spanische Reise, bei der er Paul Cassirer traf635, in dem es eine Passage über Tänze spanischer Sinti und Roma in Granada gibt.636 In Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin treffen zwei, um 1900 weit 631 Corinth 1909, S. 135. 632 Vgl. Schneider, Otto: Bolero, in: Tanzlexikon, hg. v. ders., Mainz 1985, S. 66. Die Seguidilla entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in Andalusien und Kastilien aus einer Musik- und Dichtungsform zu einem volkstümlichen, lebhaften Tanz weiter. 633 Schneider 1985. 634 Vgl. Grut, Marina (Hg.): The Bolero School. An illustrated history of the Bolero, the Seguidillas and the Escuela Bolera: syllabus and dances, London 2002, S. 27. 635 Alfred Lichtwark berichtet brieflich über Cassirers Spanienreise: »In Berlin traf ich den Kunsthändler Cassirer, der gerade aus Spanien zurück war. […] Auf der Straße trifft er in Madrid Meier-Graefe, der ein Buch über Spanien schreibt.« Brief vom 22. 5. 1908. Lichtwark, Alfred: Briefe an die Kommission für die Verwaltung der Kunsthalle, hg. v. Gustav Pauli, Bd. 2, Hamburg 1924, S. 232. 636 Meier-Graefe, Julius: Spanische Reise, Berlin 1910, S. 164–166.

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verbreitete, Themenkomplexe der bildenden Kunst aufeinander : Tanz und Exotismus mit der Sonderform Spanienmode. Exotische Tänzerinnen eroberten in dieser Zeit die europäischen Bühnen.637 Bei diversen Durieux-Porträtisten sind Tänzerinnen und exotische Tänzerinnen ein häufig anzutreffendes Bildmotiv. Im Folgenden werden die drei Phänomene Tanz, Exotismus und Spanienmode nacheinander erläutert. Mit der Reform des Bühnentanzes an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Tanz zum »Ausdruck einer freieren Lebens- und Körperauffassung«638. Es entwickelten sich der ›Freie Tanz‹639 mit den bekanntesten Vertreterinnen Isadora Duncan (1878–1927), Ruth St. Denis (1879–1968)640 und Lo"e Fuller (1862–1928) und der ›Ausdruckstanz‹641, begründet von Mary Wigman (1886– 1973) und weitergeführt von Gret Palucca (1902–1993).642 Neben dem modernen Kunsttanz trugen auch die vielfältigen Formen des Variet8-Tanzes zur Tanzreform bei.643 Der Tanz wurde zum Mittelpunkt des Kulturbetriebs und erhielt eine besondere Stellung in der bildenden Kunst und der Literatur der Jahrhundertwende.644 Die Tänzerpersönlichkeiten dieser Jahre wurden zu beliebten Bildmotiven.645 Da Frauen um 1900 die »großen Erneuerer des Tanzes waren«646, 637 Brandstetter weist auf die Verbindung von Tanz und Exotismus um 1900 hin: »Erotik und Tanz werden beinahe zu Synonymen. Dabei spielt die Welle des Exotismus, der im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in der bildenden Kunst, im Musiktheater und in der Literatur zum wichtigen Faktor kultureller Selbstdeutung in der Auseinandersetzung mit Fremdbildern wird, eine verstärkende Rolle.« Brandstetter 1995, S. 207. 638 Yun 2008, S. 23. 639 Brandstetter charakterisiert den ›Freien Tanz‹ als »Stil einer »›natürlich‹ einfachen, aus der Körpermitte mobilisierten Bewegungsweise«, wobei die »Schönheit« der Bewegung grundlegend bleibt. Vgl. Brandstetter 1995, S. 33. 640 Bei ihrem Berliner Gastspiel regte Ruth St. Denis Hugo von Hofmannsthal zu seinem Essay Die unvergleichliche Tänzerin an. Vgl. Krischke, Roland: »Die berauschendste Verkettung von Gebärden« – Faszination des Tanzes um 1900, in: Frankhäuser/Krischke/Paas 2007, S. 23–39, hier: S. 29–30. 641 Als Merkmal des ›Ausdruckstanzes‹ nennt Brandstetter seine »Ästhetik des Häßlichen«. Der Tanz sollte zum ersten Mal in der Tanzgeschichte nicht mehr Schönheit und Anmut (wie noch im ›Freien Tanz‹) hervorbringen, sondern Dynamik und Expression von Wahrheit. Vgl. Brandstetter 1995, S. 34. 642 Vgl. Senti-Schmidlin, Verena: Rhythmus und Tanz in der Malerei. Zur Bewegungsästhetik im Werk von Ferdinand Hodler und Ludwig von Hofmann, Diss., Hildesheim/New York 2007, S. 11. 643 Siehe dazu: Ochaim/Balk 1998. 644 Vgl. Yun 2008, S. 23. Der Tanz wurde zum Symbol für das moderne (Großstadt-)Leben, da er »den Bedürfnissen der Jahrhundertwende entgegen[kam] und […] zu deren Verkünder im Sinne einer ganzen Lebensanschauung [wurde]. Als Gegenentwurf zum Technologieund Fortschrittsdenken eines materialistisch orientierten Zeitalters galt der Tanz als unmittelbarster Ausdruck für die Suche nach dem ursprünglichen, natürlichen Sein.« Wäcker 1993, S. 16. 645 Vgl. Krischke 2007, S. 25. 646 Wäcker 1993, S. 18.

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wurden Tänzerinnen in größerer Zahl porträtiert als männliche Tänzer.647 Der moderne Tanz in seinen vielfältigen Ausformungen erfüllte diverse symbolische Funktionen für die Künstler. Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin kann in die von Yun für Tanzdarstellungen der Moderne aufgestellte Kategorie des »Kult des Animalischen«648 eingereiht werden, in der der Tanz als triebgesteuerte, ekstatische Bewegung gilt. Speziell exotisch inspirierte Tänze wurden als Vorwand für die »erotische[…] Körperinszenierung der Frauen«649 auf der Bühne genutzt und in Bilder umgesetzt. Darüber hinaus nahm der Tanz bei den Theaterreformern des beginnenden 20. Jahrhunderts eine besondere Stellung ein. In seiner Abhandlung Die Schaubühne der Zukunft650 erläutert Fuchs 1904 die grundlegende Bedeutung des Tanzes für das Theater wie folgt: »Die Ausdruckmittel des Tanzes sind auch die natürlichen Mittel des Schauspielers […]«651. Demnach sei das Drama ohne Worte und ohne Ton möglich »rein als rhythmische Bewegung des menschlichen Körpers im Raum«652. Ähnlich bestimmt Durieux in einem Vortrag 1914 den Körper als wichtigstes Ausdrucksmittel des Schauspielers: »Schauspieler und Schauspielerinnen müssen alles durch ihren eigenen Körper, aus sich selbst heraus, ausdrücken können, ihr Körper ist das, was Leinwand und Farbe dem Maler sind.«653 Die Spanienmode ist eine Spielart des Exotismus, der eine Haltung gegenüber dem Fremden bezeichnet, die von Idealisierung und Faszination bestimmt ist.654 Die Herausstellung der Andersartigkeit unbekannter Kulturen dient zur Abgrenzung zur eigenen Lebenswelt. Charakteristisch für den Exotismus ist die oberflächliche Rezeption fremder Kulturen, die von den eigenen Maßstäben und Werten ausgehend beurteilt werden. Deshalb stehen »Ethnozentrismus und Xenophobie«655 auf der negativen Seite des Exotismus.656 Das Fremde dient gleichzeitig als Projektionsfläche für Wünsche und Ängste. Es gibt keine räumliche Beschränkung für Exotismus. Der Begriff kann alle vom eigenen Standpunkt als fremd empfundenen Kulturen beinhalten. Auch zeitlich ist er nicht genau festgelegt: »Obwohl der Exotismusbegriff erst im 19. Jahrhundert Vgl. Wäcker 1993, S. 17. Yun 2008, S. 30. Yun 2008, S. 30. Fuchs, Georg: Die Schaubühne der Zukunft, Berlin/Leipzig 1904. Brauneck 1982, S. 54. Brauneck 1982, S. 53. Durieux 2. August 1928. Vgl. Urraca, Augurtxane: Frankreich und Spanien. Untersuchungen zur »Spanienmode« in der Französischen Malerei des 19. Jahrhunderts, Diss., Münster 1992, S. 94. 655 Beyme, Klaus von: Die Faszination des Exotischen. Exotismus, Rassismus und Sexismus in der Kunst, München 2008, S. 8. 656 Vgl. Erdheim, Mario: Zur Ethnopsychoanalyse von Exotismus und Xenophobie, in: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Aufsätze 1980–1987, hg. v. ders., Frankfurt am Main 1988, S. 258–265.

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entstanden ist, bezeichnet er ein sehr altes Phänomen, das in den letzten beiden Jahrhunderten mit der Kritik an der Zivilisation bzw. Industrialisierung seinen Höhepunkt erreicht.«657 Im 19. Jahrhundert wurde als eskapistischer Gegenentwurf zur industrialisierten Gesellschaft in exotischen Ländern nach einer ursprünglichen, »unverfälschten Welt«658 gesucht. Das Interesse am Exotischen wurde durch Kolonialisierung, archäologische Ausgrabungen, Weltausstellungen, Völkerschauen und Reisetagebücher gefördert659 und schlug sich auch in der europäischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts nieder660. Außerdem hatte der Exotismus großen Einfluss auf die Tanzkultur der Jahrhundertwende und ihre bildnerische Manifestation.661 Die Beliebtheit exotischer Tänze offenbart sich im Erfolg der pseudo-orientalischen Darbietungen von Mata Hari (1867–1917) und Ruth St. Denis, der internationalen Gastspiele der Ballets Russes662 oder der Tänze der Japanerin Sada Yakko (1871–1946).663 Farese-Sperken sieht in den »Gastspielen fremdländischer, exotischer Tanztruppen« einen der Ursprünge der »modernen Tanzdarstellung«: »Allen Tanzgruppen gemeinsam war eine den Mitteleuropäern bislang unbekannte, dynamisch-ursprüngliche Bewegungskraft- und fähigkeit. Sie forderten eine neue Bewegungsdarstellung heraus. Die Maler sahen sich mit dem Problem konfrontiert, den Bewegungsablauf in der zweidimensionalen Bildfläche darzustellen.«664

Durieux sammelte exotische Kunst, z. B. afrikanische und ozeanische Masken665, und hatte auch selbst den Ruf einer Exotin. Kulturelle und gesellschaftliche Phänomene waren die Grundlage für die Herausbildung von Durieux’ Images und die daran anknüpfenden Formen der Fremd- und Selbstinszenierung. Ihr Image als Exotin wurde durch den zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten Exotismus gefördert. Bei allen Images von Durieux gab es eine Wechselwirkung mit ihren Bühnenrollen. So wurde auch ihr Exotinnen-Image von ihren im 657 N’ guessan, B8chi8 Paul: Primitivismus und Afrikanismus. Kunst und Kultur Afrikas in der deutschen Avantgarde, Frankfurt am Main 2002, S. 27. 658 Krischke 2007, S. 28. 659 Vgl. Ochaim, Brygida: Vari8t8-Tänzerinnen um 1900, in: Ochaim/Balk 1998, S. 69–112, hier : S. 69. 660 Exotische Motive finden sich beispielsweise bei Gustave Flaubert, Th8ophile Gautier oder Oscar Wilde. Vgl. Krischke 2007, S. 29. 661 Brandstetter erklärt die Begeisterung für den exotischen Tanz um 1900 wie folgt: »Die Begegnung mit dem Fremden, gerade auch mit dem Körper-und Bewegungsbild einer anderen Kultur, lieferte einer europamüden, durch D8cadence und Kolonialismus geprägten Geisteswelt neue ästhetische Reize und Fermente.« Brandstetter 1995, S. 208. 662 Durieux schildert ihre große Begeisterung für die Ballets Russes, deren Aufführungen sie 1907 zum ersten Mal und danach noch sehr häufig in Berlin besuchte. Vgl. Durieux 1979, S. 114–117. 663 Vgl. Ochaim 1998, S. 93–99. 664 Farese-Sperken 1969, S. 3–4. 665 Vgl. Sˇterk 2006.

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orientalischen Raum angesiedelten (›Femme fatale‹-)Rollen wie Salome, Judith, Semiramis oder Potiphars Frau gespeist. Durieux’ als exotisch geltendes Aussehen war über Jahrzehnte hinweg ein fester Bestandteil ihrer Kritiken. In einigen Kritiken war Durieux’ Exotik mit der Feststellung ihrer »Häßlichkeit« gepaart.666 Andere nannten ihr ungewöhnliches Aussehen als Grund für ihren Erfolg.667 Paul Mahn bezeichnet ihre Erscheinung in einem Zeitungsartikel von 1903 als »exotisch-rassig«668. Alfred Klaar verbindet das Exotische 1907 mit Rätselhaftigkeit und tierischen Attributen: »[…] mit ihrem Sphinxgesicht und den Schlangenlinien ihrer Bewegung hatte sie immerhin etwas von exotischem Reiz.«669 Julius Bab beurteilt 1908 das ungewöhnliche Aussehen und Wesen von Durieux als Stärke und vergleicht sie mit Gertrud Eysoldt: »Und vollends sind Reinhardts andre Vorkämpferinnen nicht von berliner Blut: die große fast körperlose Intellektualität der Eysoldt so wenig, wie das ganz exotische Temperament der Tilla Durieux, die mit ihrer wirklich unheimlichen Sinnlichkeit, ihrer scharfäugigen Charakterisierungsgabe und ihrem ganz ungewöhnlichen Stilgefühl wohl die absonderlichste und an aparten Möglichkeiten reichste Kraft ist, die die berliner Bühne heut besitzt.«670

Durieux selbst trug in ihrer Autobiographie zur Festigung ihres ExotinnenImages bei: »Das vielfältige biologische Erbe, das sich in mir ausprägte, ließ mich der Menge fremd und fern erscheinen.«671 An anderer Stelle schreibt sie: »Die Rassenverschiedenheit meiner Eltern, der eine Slawe, der andere Romane, hatte in mir einen sonderbaren Ausdruck gefunden, fremd und seltsam starrte mir ein wildes Geschöpf entgegen […].«672 Ein Sonderzweig des Exotismus war die Spanienmode, die sich im 19. Jahrhundert von Frankreich ausgehend in ganz Europa ausbreitete.673 Spanische 666 1911 urteilte ein Kritiker bei einem Prager Gastspiel: »Die Künstlerin entbehrt jedes äußeren, sinnlichen Reizes – das Gesicht zeigt exotische Linien […].« Anonym: Kabale und Liebe, in: Deutsches Pragerblatt, 1911, zit. nach: Preuß 1965a, S. 85. 667 Handl nennt »die besonders rassige Prägung ihres Gesichtes« als Grund für die »eminenten Vorzüge ihrer Erscheinung«. Handl, Willi: Die Künstler des Deutschen Theaters, in: Das Deutsche Theater in Berlin, hg. v. Paul Legband, München 1909, S. 25–50, hier : S. 49. 668 Mahn, Paul: Salome, in: Tägliche Rundschau, 1903, zit. nach: Preuß 1965a, S. 85. 669 Klaar, Alfred: Gyges und sein Ring, in: Vossische Zeitung, 1907, zit. nach: Preuß 1965a, S. 86. 670 Bab, Julius/Handl, Willi (Hg.): Deutsche Schauspieler. Porträts aus Berlin und Wien, Berlin 1908, S. 18. 671 Durieux 1979, S. 150–151. 672 Durieux 1979, S. 17. 673 Wilkens benutzt den Begriff »Hispanismus« und ordnet ihn zeitlich ein: »Hispanismus war keine Erfindung der Franzosen des Zweiten Kaiserreichs, die im Zusammenhang mit der Hochzeit Napoleon III. [1853 mit der Spanierin Eug8nie d.V.] entstanden wäre; es gab ihn schon ein gutes halbes Jahrhundert.« Wilkens, Manja: »…er vergass sich zuweilen soweit, mich ›die Spanierin‹, ›die Fremde‹ zu nennen!«. Das Bild der spanischen Frau im Frank-

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Maler und Literaten, allen voran Vel#zquez, Goya, Calderjn und Cervantes, wurden als Vorbilder entdeckt.674 Genauso kamen spanische Musik und Tänze in Umlauf.675 Die Faszination des Flamencos, die Urraca folgendermaßen zusammenfasst, kann genauso für andere spanische Tänze angenommen werden: »Seine exotische Andersartigkeit im Vergleich zu mitteleuropäischen Tanzbräuchen, seine Wildheit und Ekstase zogen die Aufmerksamkeit der Maler auf sich.«676 Etwas später als die Franzosen, bereisten deutsche Maler Spanien und schufen unter diesen Eindrücken hauptsächlich Landschafts- und Architekturdarstellungen.677 Die Beliebtheit spanischer Kunst und Kultur im 19. Jahrhundert begründete sich dadurch, dass sie in ihrer Andersartigkeit als exotisch empfunden wurden.678 Die Iberische Halbinsel und vor allem Andalusien waren für die übrigen Europäer das »Tor des Orients«679, da sie auf dem Reiseweg zum afrikanischen Kontinent und somit zum Exotischen lagen. Die kulturellen Überreste der maurischen Besatzung vermittelten zusätzlich das Gefühl, sich bereits im Orient680 zu befinden. Die exotischen Vorstellungen wurden auf die Menschen, die dort lebten, übertragen. Spanische Frauen galten als leidenschaftlich, temperamentvoll, sinnlich und feurig, aber auch als geheimnisvoll und gefährlich.681 Dadurch ergaben sich Überschneidungen zwischen dem Spanierinnen-Bild und den Wesensmerkmalen der ›Femme fatale‹. Das Klischee der dominanten Spanierin offenbart sich in Darstellungen oft in einer selbstbewussten Pose und einem direkten Blickkontakt. Äußerliche Attribute der Spanierin sind Volantröcke, Kastagnetten, Fächer, Haarkamm oder Blumen-

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reich des Zweiten Kaiserreiches: Eine klischeegeschichtliche Untersuchung, Diss., Frankfurt 1994, S. 17. Vgl. Hellwig, Karin: Ludwig I. zwischen Hispanismus und Spanienmode, in: Lola Montez oder eine Revolution in München, hg. v. Thomas Weidner, Ausst.kat., Eurasburg 1998, S. 36–51, hier: S. 42. Vgl. Urraca 1992, S. 149. Seit den 1850er Jahren verbreiteten einzelne Tänzerinnen, mehr oder weniger authentisch, spanische Tänze durch Gastauftritte zuerst in Paris und danach in weiteren europäischen Großstädten. Beispiele sind Lola de Valence, AdHle Guerrero, Petra Camara oder Lola Montez. Vgl. Wilkens 1994, S. 52. Urraca 1992, S. 154. Vgl. Hellwig 1998, S. 41. Vgl. auch: Thiemann, Birgit: Carmen, Stierkampf und Flamenco – Spanienklischees des 19. Jahrhunderts?, in: Hellwig 2007, S. 89–104, hier: S. 97. Vgl. Urraca 1992, S. 187. Urraca 1992, S. 95. Die Spanienmode kann daher als Erscheinungsform des Orientalismus bezeichnet werden. Vgl. Thiemann 2007, S. 89. Vgl. Urraca 1992, S. 149. Thieman bezeichnet das Stereotyp der Spanierin als »nationale Weiblichkeitsimagination« im Zuge der Bildung nationaler Vorurteile. Vgl. Thiemann, Birgit: Carmen in der Malerei von Sargent und Zuloaga. Funktionalisierte WeiblichkeitsImaginationen und Spanien-Mythos, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Jg. 24, Heft 3, 1996a, S. 37–48, hier : S. 37.

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schmuck im Haar.682 Bestandteil des Spanierinnen-Stereotyps ist der Tanz, da er zur Veranschaulichung ihrer Leidenschaftlichkeit und Sinnlichkeit dient.683 Auch Carmen, Inbegriff der spanischen ›Femme fatale‹, tanzt für Don Jos8 die Seguidilla mit Kastagnetten.684 Eine neue Welle der Spanienbegeisterung verbreitete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Auf den Variet8-Bühnen traten La Belle Ot8ro (1868–1965), Rosario Guerrero (um 1876–?) und La Argentina (1890–1936) mit ihren von Flamenco, Seguidilla und Bolero inspirierten Tänzen auf und wurden zu populären Bildmotiven. Künstler und Intellektuelle unternahmen Reisen nach Spanien, um die Kultur und Kunst des Landes vor Ort kennenzulernen. So reiste auch Paul Cassirer 1908 nach Spanien685 und brachte Durieux das Kleid und das Schultertuch mit, das sie auf Corinths Porträt trägt.686

V.1.3.4 Darstellungen spanischer Tänzerinnen Erst 16 Jahre nach dem Entstehen von Tilla Durieux als spanische Tänzerin wählte Corinth wieder ein spanisches Motiv. In Carmencita687 stellt er seine Frau Charlotte in ihrem Kostüm als Carmen dar, das sie 1924 bei einem Fest der ›Berliner Secession‹ trug.688 Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt, eine in Porträts von Spanierinnen häufig zu beobachtende Pose689, und schaut den Betrachter direkt an. Genauso wie bei Tilla Durieux als spanische Tänzerin (Abb. 3) wird das Kleidungsstück zum Kostüm, so dass die Dargestellte durch die Verkleidung außer ihr selbst noch jemand anderes ist. Unterschiede sind, 682 Vgl. Thiemann 2007, S. 89. Wie hartnäckig sich diese Klischees halten beweist die Tatsache, dass diese Attribute noch heute im kollektiven Bildgedächtnis fest verankert sind. 683 Vgl. Balk, Claudia: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, in: Ochaim/Balk 1998, S. 7–58, hier : S. 33. 684 George Bizets 1875 uraufgeführte Oper Carmen basiert auf der gleichnamigen Novelle von Prosper M8rim8e von 1845 und kam in ganz Europa zur Aufführung. Vgl. Urraca 1992, S. 149. Die Figur der Carmen hatte großen Einfluss auf die Herausbildung des Spanierinnen-Stereotyps. Carmen ist eine Sinti und Roma, weshalb die Konstruktion auch eine rassistische Konnotation besitzt. Vgl. Hellwig 1998, S. 44. 685 Nach Cassirers Spanienreise gab es eine Goya-Einzelausstellung in seiner Galerie, Ausstellung 1908, 10/10. 686 Vgl. Uhr, Horst: Lovis Corinth, Berkeley 1990, S. 170. 687 Lovis Corinth, Carmencita, 1924, Öl auf Leinwand, 130 x 90 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Inv.Nr. 2064. Abb. in: Schuster 1996, S. 309. 688 Vgl. Bussmann, Georg: Lovis Corinth. Carmencita, Malerei an der Kante, Frankfurt am Main 1985, S. 48. Es ist überliefert, dass sie während des Modellstehens für Carmencita Bizets Oper »Carmen trällerte«. Vgl. Berend-Corinth, Charlotte: Mein Leben mit Lovis Corinth, Hamburg 1948, S. 41. 689 Siehe dazu das Kapitel »Spanische Körpersprache« in: Körner, Hans/Wilkens, Manja: Johanna Ey als Spanierin, 2. Aufl., Düsseldorf 2000, S. 61–73.

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dass die Gesichtszüge von Charlotte durch die abstrahierende Malweise nicht zu erkennen sind und sie nicht tanzend erscheint. Interessanterweise sah Corinth vier Jahre vor der Entstehung von Tilla Durieux als spanische Tänzerin bei Alexej von Jawlensky dessen motivisch verwandtes Porträt Helene im spanischen Kostüm.690 In dem Kostümporträt erscheint Jawlenskys Dienstmädchen und Geliebte Helene Nesnakomoff vor graubraunem Hintergrund als ganze Figur in Dreiviertelansicht mit in die Hüften gestemmten Armen und Blick zum Betrachter. Sie trägt eine grüne Bluse, einen roten Rock, ein rotes Schultertuch und eine rote Blüte im hochgesteckten Haar. Corinths Besuch 1904 in Jawlenskys Münchner Atelier ist sowohl durch einen Tagebucheintrag von Marianne von Werefkin691 als auch durch Jawlenskys Lebenserinnerungen überliefert: »Ich hatte gerade eine lebensgroße Figur von Helene fertig gemalt, stehend, in grüner Taille und dunkelrotem Rock. Jemand schellte. Nach einer Minute klopfte es an meinem Atelier, ich öffnete die Tür und herein kam ein großer Mann […], der mit starker Stimme sagte: ›Mein Name ist Lovis Corinth.‹ Er betrachtete meine Bilder und sagte, daß ich eines zur Berliner Sezession schicken sollte, wo es auch ausgestellt wurde.«692

Wie Zieglgänsberger darlegt, ist Jawlenskys zeitliche Einordnung der Geschehnisse irreführend, da das Porträt nicht seiner Malweise im Jahr 1904 entspricht.693 Dementsprechend bestätigen die jüngsten maltechnischen Untersuchungen eine frühere Datierung auf 1901/02. Jedoch ist hier die Tatsache, dass Corinth das Porträt bei Jawlensky sah wichtiger als die genaue Datierung. Es ist schwierig zu beurteilen, inwieweit Corinth von dem spanischen Kostümporträt seines jungen Kollegen beeinflusst wurde, er könnte es jedoch vier Jahre später beim Malen seines Porträts von Durieux im Kopf gehabt haben. Beide Frauen tragen eine spanische Tracht – gut erkennbar an dem Schultertuch – und schlüpfen dadurch in die Rolle eine Spanierin. Corinth hat das Motiv »Spanierin« noch um das Motiv »Tanz« erweitert. Auch in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts kommt das Motiv der spanischen Tänzerin vor. Gustave Courbet (1819–1877) stellt in La Signora

690 Alexej von Jawlensky, Helene im spanischen Kostüm, um 1901/02, Öl auf Leinwand, 190,5 x 96,5 cm, Museum Wiesbaden, Stiftung Frank Brabant, ohne Inv.Nr. Abb. in: Zieglgänsberger, Roman (Hg.): Horizont Jawlensky. Alexej von Jawlensky im Spiegel seiner künstlerischen Begegnungen 1900–1914, Ausst.kat., München 2014, S. 77. 691 Vgl. dazu: Fäthke, Bernd: Jawlensky und seine Weggefährten in neuem Licht, München 2004, S. 62. 692 Jawlensky, Alexej: Lebenserinnerungen, 1937, in: Weiler, Clemens: Alexej Jawlensky : Köpfe – Gesichte – Mediationen, Hanau 1970, S. 95–120, hier : S. 109. Zit. nach: Fäthke 2004, S. 62. 693 Vgl. Zieglgänsberger, Roman: Den Horizont abstecken. Alexej von Jawlensky zwischen 1896 und 1914, in: ders. 2014, S. 16–58, hier : S. 57.

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Adela Guerrero, danseuse espagnole694, genauso wie Edouard Manet in Lola de Valence695, eine bekannte Bühnendarstellerin seiner Zeit dar, deren Aufführung er besucht hatte.696 Darin liegt eine Gemeinsamkeit zu Tilla Durieux als spanische Tänzerin. Corinth konnte Durieux auf den Berliner Bühnen gelegentlich auch in Tanzszenen erleben. Im Gegensatz zu dem freieren spanischen »Volkstanz«, an den sich Corinth in seinem Bildnis anlehnt, handelt es sich bei Guerrero und de Valence um Ballett, das mit Spitzenschuhen getanzt wird. Vergleichbar mit Corinths Porträt ist die stolze Körperhaltung der Tänzerinnen in »echt« spanischer Tracht. Die Kleider mit den Rüschen sowie die Boleros, die Guerrero und de Valence tragen, haben Ähnlichkeiten zu Durieux’ Kleidung. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts suchten französische Maler ihre Vorbilder in der älteren spanischen Kunst, beispielsweise bei Vel#zquez.697 So kam auch Manet in Paris mit der spanischen Malerei in Berührung, bevor er 1865 eine Spanienreise unternahm.698 Das Spanieninteresse, das um die Jahrhundertwende in Deutschland weit verbreitet war, stellt sich demzufolge als weiterer Berührungspunkt zwischen Corinth und den beiden Franzosen heraus. Der größte Unterschied von Courbet und Manet zu Tilla Durieux als spanische Tänzerin besteht im Grad der vermittelten Bewegung. Bei der Gegenüberstellung mit Corinths Porträt, das den Bewegungsfluss des Tanzens durch die dynamische Figur einfängt, fällt die erstarrte Pose der Tänzerinnen bei den Franzosen ins Auge. Dies ist zum einen durch das strenge Reglement im Ballett motiviert, zum anderen belegt es die Bedeutungssteigerung der Veranschaulichung von Bewegung in der Kunst um 1900. Spanische Tänzerinnen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein beliebtes bildnerisches Motiv und ihre Darstellungen waren in den zeitgenössischen Ausstellungen präsent. Von Durieux’ Porträtisten stellten besonders Stuck und Slevogt Tänzerinnen dar. Stuck beschäftigte sich in seinem Werk intensiv sowohl mit dem Tanz als auch mit spanischen Themen. In einem Halbfigurenporträt der Cancan-Tänzerin Saharet (1879–1942) kombinierte er 1902 beide Motive.699 694 Gustave Courbet, La Signora Adela Guerrero, danseuse espagnole, 1851, Öl auf Leinwand, 158 x 158 cm, Mus8es royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Inv.Nr. 6416. 695 Edouard Manet, Lola de Valence, 1862–63, Öl auf Leinwand, 123 x 92 cm, Mus8e d’Orsay, Paris, Inv.Nr. RF 1991. Abb. in: Darragon 1991, S. 111. 696 Courbet sah Adela Guerrero 1851 bei einem Gastauftritt in Brüssel und porträtierte sie anschließend zu Ehren des belgischen Königs Leopold I. Vgl. Lacambre, GeneviHve/Tinterow, Gary (Hg.): Manet – Vel#zquez. La maniHre espagnole au XIXe siHcle, Ausst.kat., Paris 2002, S. 367. Manets Porträt wurde durch einen Auftritt des Ballet Espagnol im Entstehungsjahr des Gemäldes in Paris angeregt, bei dem er Skizzen machte. Vgl. WilsonBareau, Juliet: Mant et l’Espagne, in: Lacambre/Tinterow 2002, S. 170–215, hier : S. 192. 697 Vgl. Urraca 1992, S. 187. 698 Vgl. Urraca 1992, S. 107. 699 Franz von Stuck, Saharet, 1902, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt. Abb. in:

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Stuck sah Saharet wohl, wie im Fall seiner Durieux-Porträts, bei ihrem Gastspiel in München auf der Bühne. Anschließend fertigte er Fotografien von ihr in seinem Atelier an und sie stand ihm dort Modell. Wie in Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin hat Stucks Saharet ihren rechten Arm über dem Kopf erhoben. Statt der Kastagnette hält sie einen Fächer in der Hand. Die spanische Kostümierung mit einem eng anliegenden Kleid und einem umgelegten Schultertuch ähnelt Durieux’ Kleidung. Im Unterschied zur Vitalität von Durieux hält Saharet in ihrer Bewegung inne. Bereits durch den gewählten Bildausschnitt der Halbfigur, der die Beine nur ansatzweise sehen lässt, ist die Veranschaulichung der dem Tanz eigenen Dynamik bei Stuck von vornherein ausgeschlossen. Dieselbe statische Pose wählte er für das Porträt seiner Frau Mary als Danzarina.700 Slevogt interessierte sich in noch größerem Maße als Stuck für den Tanz. So sah er in Berlin etliche Aufführungen dort auftretender ausländischer Tänzerinnen. Besuche im Berliner Kabarett Zum siebenten Himmel, in dem die Philippinerin Marietta di Rigardo (1880–1966) mit spanischen Tänzen auftrat, veranlassten Slevogt zu diversen Porträts. Zum Vergleich mit Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin eignet sich die vorbereitende Skizze Marietta di Rigardo (1. Skizze)701 besser als das ausgeführte Bildnis702, da sie dynamischer ist. Mit erhobenen Armen nimmt Rigardo eine klassische Flamenco-Pose ein, die von ihrem Schultertuch unterstrichen wird. Die Kastagnetten in den Händen verschwimmen durch den schnellen Duktus. Körper und Kopf erscheinen wegen der spiralförmigen Körperdrehung im Dreiviertelprofil. Vollkommen in ihren Tanz vertieft, blickt sie zu Boden. Slevogts Porträt von La Argentina703 (1890– 1936) entstand 1926 bei ihrer Deutschlandtournee. Typisch für den Flamenco hält sie einen Arm über dem Kopf und hat den anderen in die Hüfte gestemmt. In den Händen hält sie Kastagnetten. Sie erscheint in Rückenansicht in einer Drehbewegung begriffen und blickt über die Schulter hinweg den Betrachter an. In Tilla Durieux als spanische Tänzerin (Abb. 3) und den beiden TänzerinnenPorträts von Slevogt tragen die Dargestellten jeweils spanische Originaltracht.

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Die Kunst für Alle, 19. Jg., Heft 1, 1903, S. 31. Es gibt eine fast identische Fassung von 1906, Voss WV Nr. 294/538. Stuck porträtierte Saharet zwischen 1899 und 1907 mehrmals. Franz von Stuck, Danzarina, 1902, Öl auf Holz und Leinwand, 74 x 65 cm, Privatbesitz, Voss WV Nr. 240/480. Max Slevogt, Marietta di Rigardo (1. Skizze), 1904, Öl auf Pappe, 38,5 x 26 cm, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Saarlandmuseum Saarbrücken, Inv.Nr. KW 96. Abb. in: Frankhäuser/Krischke/Paas 2007, S. 67. Max Slevogt, Marietta di Rigardo, 1904, Öl auf Leinwand, 229 x 180 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister, Inv.Nr. 2549. Abb. in: Schenk 2005, S. 152. Dazu gibt es sieben vorbereitende Skizzen aus demselben Jahr. Max Slevogt, La Argentina, 1926, Öl auf Leinwand, 160,8 x 105,5 cm, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Saarlandmuseum Saarbrücken, Inv.Nr. 37 G. Abb in: Frankhäuser/ Krischke/Paas 2007, S. 95.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

La Argentina und Marietta di Rigardo tragen beide ein Volantkleid wie bei ihren Auftritten, wohingegen Tilla Durieux ein privates Kleidungsstück, das in Spanien erworben wurde, trägt. La Argentina und Rigardo einerseits werden von Slevogt in ihrer Profession als Flamenco-Tänzerinnen präsentiert, Durieux andererseits wird als Corinths Modell zu einer spanischen Tänzerin, so wie sie auf der Bühne fremde Identitäten annahm. Corinth und Slevogt gemeinsam ist die Visualisierung der Bewegtheit des Tanzes. Slevogts Bemühen, die charakteristischen Elemente des Flamencos, wie Armhaltung, dynamische Drehungen und das rasante Tempo der Musik sowie das Temperament der Tänzerin, einzufangen, bringt ihn Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin vom künstlerischen Anliegen her von den bisherigen Vergleichsbildern am nächsten. Beiden gelingt es, einen flüchtigen Moment festzuhalten. Den »echt« spanischen Blick auf spanische Tänzerinnen zur Entstehungszeit von Corinths Durieux-Porträt gibt Ignacio Zuloaga y Zabaleta (1870–1945), einer der in Deutschland bekanntesten spanischen Künstler des beginnenden 20. Jahrhunderts. 1905 wurden Werke von ihm bei Paul Cassirer ausgestellt.704 Er war korrespondierendes Mitglied der ›Münchner Secession‹ von 1906 bis 1912 sowie korrespondierendes Mitglied der ›Berliner Secession‹ von 1901 bis zu ihrem Ende 1913 und war seit 1901 auf verschiedenen Secessionsausstellungen vertreten.705 Seit 1900 fand Zuloaga mit seinen Werken immer wieder Erwähnung in deutschen Kunstzeitschriften. Spanische Tänzerinnen sind ein häufiges Motiv von Zuloaga.706 In La Bailarina, Carmen la Gitana707 von 1902 präsentiert er die spanische Tänzerin mit direktem Blick zum Betrachter708 und der selbstbewussten Pose der in die Hüften gestemmten Arme, in den Händen hält sie Kastagnetten. Die gemalte Landschaftskulisse im Hintergrund und die scheinwerferartige Beleuchtung weisen die Darstellung als einen Bühnentanz aus.709 Ob Zuloaga hier eine bestimmte spanische Tänzerin oder die Figur Carmen darstellt, ist unklar. 1904 war das Gemälde bei der Internationalen 704 Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2011b, Bd. 2, S. 741. 705 Vgl. Best 2000, S. 667. 706 Vgl. Uria, Juan Ignacio/Milhou, Mayi/Gallego, Juli#n (Hg.): Ignacio Zuloaga 1870–1945, Ausst.kat., Bilbao 1991, S. 77. Vgl. auch: Thiemann, Birgit: Ignacio Zuloaga – Ein Maler als Vermittler im interkulturellen Austausch, in: Noehles-Doerk 1996b, S. 229–244, hier : S. 240–241. 707 Ignacio Zuloaga, La Bailarina, Carmen la Gitana, 1902, Öl auf Leinwand, 181 x 100 cm, Buenos Aires, Museo de Bellas Artes. Abb. in: Thiemann 1996a, S. 42. 708 Die Blickkontakt-Aufnahme der Porträtierten wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als sexuelle Aufforderung der Frau gedeutet. 709 Thiemanns Vermutung, Zuloaga wolle mit diesem Verweis auf die Bühne die Konstruiertheit des Stereotyps der Spanierin, deren imaginierte Leidenschaftlichkeit sich am besten im Tanz ausdrückt, aufzeigen, halte ich für zu interpretativ. Zuloaga trägt durch seine Darstellungen eher selbst zur Perpetuierung des Stereotyps und zur Festigung dieser Weiblichkeitsimagination bei.

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Kunstausstellung in Düsseldorf ausgestellt. In der Ausstellungsbesprechung in Die Kunst für Alle wurde es lobend erwähnt.710 Das Gemälde inspirierte Rainer Maria Rilke 1906 zu seinem Gedicht Die spanische Tänzerin.711 Zuloaga verwendet den Landschaftshintergrund auch in dem Gemälde Bailarinas Andaluzas von 1903.712 Die eine als Rückenfigur dargestellte Tänzerin, mit Volantrock und Schultertuch bekleidet, begleitet die zweite klatschend. Letztere blickt den Betrachter direkt an und verharrt in einer Pose. Kastagnetten in beiden Händen haltend, rafft sie mit der Linken ihren Rock, so dass der vorgestellte Fuß hervorschaut, der rechte Arm ist zum Kopf erhoben. Zu ihren Füßen liegt ein Blumenstrauß, der die Bühnensituation verdeutlicht. Auch das goldene Kleid mit dem glitzernden Unterrock ist als Bühnenkostüm erkennbar. Die Kleidung in Zuloagas Tänzerinnendarstellungen ähnelt Durieux’ Bekleidung in Corinths Bildnis. Rilkes begeisterte Schilderung von Zuloagas Spanierinnendarstellungen erinnern an Corinths Durieux-Porträt: »Die Harmonie der Farben, die Weichheit der Stoffe, der Reichtum der geblümten Kleider mit geheimnisvollen Schleiern, seidene Schals, die mit jeder Faser die Schultern umschmeicheln, das Glänzen der Spitzen […] sowie das Spiel der Fransen, die wie junge Schlangen aus Seide ausgreifen und sich winden.«713

Im Vergleich mit Corinth gibt Zuloaga den Tanz statisch wieder. Ein direkter Einfluss von Zuloaga auf Corinth ist nicht nachweisbar. Da Corinth diverse Gelegenheiten hatte, Werke von Zuloaga in deutschen Ausstellungen zu sehen, ist eine Orientierung Corinths an Zuloagas (zumindest als »authentisch« erscheinender714) spanischer Kleidung und dem Aussehen seiner spanischen Tänzerinnen jedoch vorstellbar.

710 Board, H.: Die Internationale Kunstausstellung zu Düsseldorf, in: Die Kunst für Alle, Jg. 19, Heft 23, 1904, S. 533–535, hier : S. 534. 711 Vgl. Thiemann 1996a, S. 43. 712 Ignacio Zuloaga, Bailarinas Andaluzas, 1903, Öl auf Leinwand, 196 x 206 cm, Privatbesitz. Abb. in: Jugend, 1905, Jg.10, Heft 9, S. 156. Bailarinas Andaluzas wurde ebenfalls 1904 bei der Internationalen Kunstausstellung in Düsseldorf ausgestellt. Vgl. Ferrari, Enrique Lafuente (Hg.): La vida y el arte de Ignacio Zuloaga, 3. Aufl., Barcelona 1990, S. 498. 713 Brief von Rilke an Zuloaga, 9. 4. 1903, zit. nach: Ferreiro Alemparte, Jaime (Hg.): EspaÇa en Rilke, Madrid 1966, S. 360. 714 Nur weil Zuloaga Spanier war, heißt das nicht, dass er auf Spanienstereotype verzichtete. Seine Kunst war vor allem für ein nicht-spanisches Publikum gedacht. Er vermischte seine Beobachtungen mit eigenen Erfindungen. Zuloaga schuf auch »hispanisierte« Bildnisse von Nicht-Spanierinnen, z. B. das Auftragsporträt der Marchesa Luisa Casati, auf dem sie mit Fächer und dämonischem Blick erscheint (Ferrari 1990, WV Nr. 38).

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V.1.3.5 Einordnung in Corinths Gesamtwerk Die Gattung Porträt nimmt in Corinths Schaffen eine zentrale Stellung ein. Tilla Durieux als spanische Tänzerin kann seinen »mondänen Bildnissen«715 zugeordnet werden, die konzentriert seit seiner Übersiedlung von München nach Berlin 1901 auftauchten. Er wurde zu einem gefragten Porträtmaler und schuf insgesamt an die 100 Porträts.716 Bei seiner Einzelausstellung bei Cassirer 1908 ernteten Corinths Porträts wegen ihrer treffenden Charakterisierung großes Lob.717 Gemäß Schartners Kategorisierung des Rollenporträts entspricht Corinths Tilla Durieux als spanische Tänzerin im erweiterten Sinn einem »Kostümporträt«718, bei dem der Schauspieler sich als Privatperson im Kostüm einer bestimmten Rolle präsentiert und der Bezug auf äußere Merkmale beschränkt bleibt. In diesem Sinn formuliert Corinth in Das Erlernen der Malerei: »Eine kompliziertere Art ist die Modelle in malerische Kostüme (Volkstrachten) zu stecken oder Akteure und Aktricen in ihre Theaterrollen zu kleiden und halb als Porträt, halb als Kostümbild darzustellen.«719 Hinter dem Porträt steht zwar kein echtes Bühnenereignis, aber in vielen Inszenierungen, in denen Durieux auftrat, waren Tanzszenen enthalten.720 Corinth arbeitete auch auf aktiver Ebene für das Theater.721 Bereits vor seiner Zusammenarbeit mit Max Reinhardt von 1902 bis 1907722 ging er regelmäßig ins Theater. Aus zahlreichen Briefstellen geht sein Interesse für das aktuelle Bühnengeschehen hervor.723 Er stellte über seine gesamte Schaffenszeit hinweg wiederholt Schauspieler dar.724 Das erste Bildnis einer Bühnenkünstlerin ist das Zivilporträt der Schauspielerin Centa Br8 (1870– 1958) von 1899.725 Die bekanntesten Schauspieler-Rollenporträts Corinths sind, 715 Salm-Salm, Marie-Am8lie zu: Porträt, in: Lorenz/Salm-Salm/Schmidt 2008, S. 194–195, hier : S. 195. 716 Siehe dazu: Imiela, Hans-Jürgen: Die Porträts Lovis Corinths, Diss., 2 Bde., Mainz 1955. 717 Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2013a, Bd. 3, S. 654, 656. 718 Schartner 1962, S. 42. 719 Corinth 1909, S. 143. 720 Für ihren Bühnentanz »Der Tanz der sieben Schleier« als Salome wurde Durieux von der Presse gelobt. Bereits in ihrer Kindheit war der Tanz wichtig für sie. Während ihre Mutter Klavier spielte, ging sie in ihr Zimmer und gab ihren Körper der Musik ekstatisch hin, wobei sie die Tänze als »tiefsten, ernstesten Ausdruck [ihrer] stärksten Gefühle« empfand. Durieux 1979, S. 13. 721 Vgl. dazu: Marschall, Brigitte/Schindler, Otto G.: Corinth und das Theater. Eine vergessene Beziehung, in: Weltkunst, Jg. 63, Heft 2, 1993, S. 85–87. 722 Vgl. Uhr 1990, S. 165. 723 Siehe dazu: Corinth 1979. 724 Auch seine Frau Charlotte Berend-Corinth porträtierte Bühnenpersönlichkeiten wie Max Pallenberg, Fritzi Massary, Valeska Gert, Anita Berber und Lucie Höflich. 725 Lovis Corinth, Porträt Centa Br8, 1899, Öl auf Leinwand, 67 x 55 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. in: Gallwitz 1967, Nr. 15.

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neben Tilla Durieux als spanische Tänzerin (Abb. 3), das bereits erwähnte Gertrud Eysoldt als Salome und Rudolf Rittner als Florian Geyer (I. Fassung)726, die nach den Aufführungen in Berlin entstanden. Zu Rittners Rollenporträt wurde Corinth wohl von Slevogts Der Weiße d’Andrade727 inspiriert.728 Gertrud Eysoldt als Salome war im Entstehungsjahr in der Ausstellung der ›Berliner Secession‹ und anschließend in zahlreichen weiteren Ausstelllungen vertreten.729 1914 malte Corinth Eysoldt noch einmal als Halbakt.730 Von der Stummfilmschauspielerin Henny Porten schuf Corinth 1920 mehrere Rollenporträts als Anna Boleyn.731 Die Gemäldeversion732 war 1920 bei der Ausstellung der ›Berliner Secession‹ vertreten.733 Außerdem porträtierte Corinth die Schauspielerinnen Tini Senders (1874–1941)734 und Anneliese Halbe (1894–1986)735 in Zivilporträts. 1910 erschien das von Corinth illustrierte Buch Judith in Cassirers Pan-Presse, zu der Zeit, als Durieux die Rolle der Judith im Deutschen Theater spielte.736

726 Lovis Corinth, Rudolf Rittner als Florian Geyer (I. Fassung), 1906, Öl auf Leinwand, 180,5 x 170,5 cm, Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Inv.Nr. G 267. Abb. in: Lorenz/Salm-Salm/ Schmidt 2008, S. 221. Es existiert eine formal fast identische zweite Fassung: Lovis Corinth, Rudolf Rittner als Florian Geyer (II. Fassung), 1912, Öl auf Leinwand, 180 x 170 cm, Verbleib unbekannt, BC 521. Außerdem gibt es eine Bleistiftstudie sowie eine vorbereitende Ölskizze. Später verwendete Corinth das Motiv als Druckgraphik. Vgl. Zieglgänsberger, Roman: Katalogbeitrag zu Lovis Corinth, Rudolf Rittner als Florian Geyer, in: Lorenz/SalmSalm/Schmidt 2008, S. 220. 727 Max Slevogt, Das Champagnerlied (Der Weiße d’Andrade), 1902, Öl auf Leinwand, 215 x 160 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Inv.Nr. 1123. Abb. in: Niehoff 2009, S. 84. 728 Vgl. Zieglgänsberger 2008. 729 Vgl. Berend-Corinth, Charlotte (Hg.): Die Gemälde von Lovis Corinth. Werkkatalog, München 1992, S. 92. 730 Lovis Corinth, Weiblicher Halbakt im Sessel (Die Schauspielerin Gertrud Eysoldt), 1914, Öl auf Leinwand, 80 x 60 cm, Privatbesitz, BC 1000. 731 Corinth schuf Lithographien für eine Publikation über den Stummfilm Anna Boleyn. Eulenberg, Herbert: Anna Boleyn. Henny Porten gewidmet, mit sign. lithograph. Titelblatt und 22 Originallithographien von Lovis Corinth, Berlin 1920. 732 Lovis Corinth, Porträt Henny Porten als Anna Boleyn, 1920, Öl auf Leinwand, 149 x 99 cm, Verbleib unbekannt, BC 789. 733 Vgl. Berend-Corinth 1992, S. 171. 734 Lovis Corinth, Porträt Tiny Senders, 1904, Öl auf Leinwand, 155 x 70 cm, Verbleib unbekannt, BC 288. Eine andere fast identische Version stammt aus demselben Jahr. 735 Lovis Corinth, Porträt Anneliese Halbe, 1917, Öl auf Leinwand, 155 x 70 cm, Verbleib unbekannt, BC 700. 736 Vgl. Wesenberg, Angelika: »Prachtvolle Erzählungen findet man im Alten Testament.« Judith, Simson und Delila um 1900, in: Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 151–164, hier : S. 158.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

V.1.3.6 Interpretation Corinths Darstellung von Durieux als tanzende Spanierin ist nicht allein der Beliebtheit des Tanzes und der Spanienmode in der Kunst dieser Zeit geschuldet, sondern verweist auf die oben erläuterten Images der Schauspielerin als Exotin und ›Femme fatale‹. Dafür spricht, dass sowohl die Beschäftigung mit dem Tanz als auch mit dem Thema Spanien eine Ausnahme innerhalb von Corinths Gesamtwerk ist. Anders als Slevogt oder Stuck, stellt Corinth sonst kaum Tänzerinnen als Einzelfiguren dar, Tanzmotive existieren bei ihm wenn dann in Form von Bachanalen. Corinths Rollenwahl für sein Auftragsporträt von Durieux ist folglich von seinem Vorstellungsbild der Schauspielerin bestimmt. Wie oben erläutert war die spanische Tänzerin an der Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert eine spezielle Ausformung der ›Femme fatale‹.737 Corinths Wahl des Bildtitels Tilla Durieux la belle Espagnole dansante la Seguedilla ist ein Hinweis auf die Identifikation der Schauspielerin mit der Rolle einer sinnlichen Frau spanischer Herkunft, deren Verführungskraft sich in ihrem Tanz offenbart. Corinth geht es allerdings weniger um eine erotische Inszenierung Durieux’, als um die Veranschaulichung ihres vitalen Wesens. Dazu trägt auch der Gesichtsausdruck bei, denn wie Corinth äußerte: »Das Gesicht wird durch seelische Erregungen in vollständig neue Formen gewandelt.«738 Das Gemälde ist ein bildliches Zeugnis der großen Bühnenpräsenz der Schauspielerin, die auch den Maler fesselte. Durch die Frontalansicht des Gesichts und den direkten Blick kommuniziert die Porträtierte mit dem Betrachter. Es bietet Corinth überdies die Gelegenheit, sich in der Praxis mit der, in seinem Lehrbuch Das Erlernen der Malerei, das im Entstehungsjahr des Porträts im Paul Cassirer Verlag erschien, beschriebenen, Aufgabe der Verbildlichung eines bewegten Motivs zu befassen. Zu diesem Zweck wählte er als Ausschnitt ein Ganzfigurenbildnis, das bei Durieux-Porträts insgesamt sehr selten vorkommt. Im Vergleich mit anderen Darstellungen spanischer Tänzerinnen tritt die dynamische Qualität von Tilla Durieux als spanische Tänzerin deutlich in Erscheinung.

V.1.4 Franz von Stuck, Tilla Durieux als Circe, 1912 Obwohl Franz von Stuck in München tätig war, besaß er enge Beziehungen nach Berlin. Er war nicht nur Mitglied der ›Münchner Secession‹ (von 1892 bis 1913), 737 Durieux hatte zwar kein Spanierinnen-Image, jedoch ist das Exotismus-Phänomen vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es nicht auf eine Nationalität festgelegt ist, nach dem Motto fremd ist gleich fremd. 738 Corinth 1909, S. 160–161.

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sondern von 1901 bis 1913 auch korrespondierendes Mitglied der ›Berliner Secession‹ und seit 1914 ordentliches Mitglied der ›Freien Secession Berlin‹.739 Auch mit Paul Cassirer verkehrte Stuck geschäftlich. 1899/1900 waren Werke von ihm im Kunstsalon von Paul Cassirer ausgestellt740 und 1910 entwarf er das Titelblatt für die erste Ausgabe von Cassirers Zeitschrift Pan741. Die DurieuxPorträtisten Eugen Spiro, Hans Purrmann (1880–1966) und Hermann Haller (1880–1950) zählten zu Stucks Schülern an der Akademie der Bildenden Künste in München. Es sind sechs Versionen von Stucks Tilla Durieux als Circe bekannt. Im Folgenden wird die Version in der Alten Nationalgalerie, Berlin vorgestellt (Abb. 4).

V.1.4.1 Bildbeschreibung und Analyse Vor dunklem Hintergrund ist Durieux als Halbfigur im Profil nach links zu erkennen. Mit der rechten Hand des abgewinkelten Arms hält sie eine goldene Schale mit einem Löwenrelief vor sich. Ihr linker Arm hängt eng am Körper anliegend nach unten. An den Fingern sind mehrere goldene Ringe zu erkennen und an dem einen sichtbaren Ohr trägt sie einen goldenen Ohrring mit Perlen. Das rotbraune Haar ist hochgesteckt, vereinzelte Locken haben sich aus der Frisur gelöst. Durieux trägt ein blaues, gold gemustertes Kleid, das auf der linken Schulter von einer Brosche zusammengehalten wird. Das Kleid aus dünnem Stoff ist an den Rändern abgesetzt, unter der Brust gegürtet, die rechte Schulter ist frei und eine Stoffbahn des Gewands ist über die rechte Armbeuge gelegt. Ihr Blick ist auf einen Punkt außerhalb des Bildraums gerichtet. Ihr Mund mit rötlich glänzenden Lippen ist leicht geöffnet. Die Figur hebt sich kontrastreich von dem dunklen Hintergrund ab, der zur Folie wird. In Verbindung mit dem Verzicht auf Tiefenräumlichkeit, der klaren Abgrenzung der Farbflächen und den starken Farb- und Helldunkelkontrasten wird eine plakative Wirkung erzeugt. Die Zusammensetzung der Figur aus einer Horizontalen und einer Vertikalen trägt zu einem tektonischen Bildaufbau bei. Farbauftrag und Pinselführung sind glatt und flüssig durch gleichmäßige, parallele Strichlagen. Die Farbpalette ist reduziert, wobei kühle Farben vorherrschen. Dadurch tritt das Rot der Haare umso stärker hervor. Ebenso leuchtet die Haut, die so hell ist, dass sie fast leblos erscheint, aus dem Bild heraus. Stellenweise greift der dunkle Hintergrund auf die helle Haut über und erzeugt so Plastizität. Die Beschriftung auf der Leinwand unten links benennt sowohl die Dargestellte als »Tilla Durieux« als auch die Rolle, in der sie gezeigt wird: »Circe«. 739 Vgl. Best 2000. 740 Vgl. Hoffmeister 1992b, S. 120. 741 Vgl. Gross-Roath, Claudia: Das Frauenbild bei Franz von Stuck, Diss., Weimar 1999, S. 86.

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Durieux gab 1912 ein Gastspiel in dem von Georg Fuchs bearbeiteten Stück Circe am Münchner Künstlertheater.742 Stuck wählte den Moment für seine Darstellung, in dem Circe Odysseus den magischen Trank anbietet. In Fuchs’ Libretto zur Circe entspricht dies dem 4. Auftritt im 1. Aufzug: »(Circe und ihre Begleiterinnen, verführerisch geschmückt, treten auf. Astrea trägt auf goldener Platte einen edelsteingezierten Pokal. Ulysses und Antistes ziehen sich vor den verlockenden Frauen immer weiter zurück, ohne sich jedoch von ihrem Anblick loslösen zu können.). In langsamem Vorwärtsschreiten begrüßt Circe Ulysses (Sie nimmt den Pokal von Astrea und nähert sich damit dem Ulysses.). Sie schmeichelt ihm und fordert ihn auf: ›Laß mit einem Trunk doch laben! […] Trink’ und bring’s dem Gotte der Liebe!‹.«743

Mit der Auswahl des Höhepunkts des Stücks, in dem Odysseus vermeintlich sein Schicksal besiegelt, erfüllt Stuck die von Lessing in Laokoon geäußerte Forderung nach dem »fruchtbaren Augenblick«744. Stuck hält sich an Fuchs’ Szenenbeschreibung, allerdings gibt er den genannten Pokal als goldene Löwenschale wieder. Die Schale ist das einzige vorhandene Attribut im Bild. Stuck zeigt Tilla Durieux als Circe isoliert ohne szenische oder räumliche Einbindung.745 In Lauerstellung mit gebeugtem Rücken und nach vorne drängendem Arm wartet Circe die Reaktion ihres im Bild nicht sichtbaren Gegenübers ab.746 Mit ihrem intensiven Blick versucht die Zauberin Odysseus zu »becircen«. Stuck vergrößerte Durieux’ Auge im Gemälde demgemäß. In einer Kritik zu Durieux’ Auftritt als Circe wird ihr Blick in dieser Szene hervorgehoben:

742 Circe von Pedro Calderjn de la Barca (deutsche Bearbeitung von Georg Fuchs), München: Künstlertheater, Premiere: 22. Mai 1912, Regie: Alfred Halm, Ausstattung: Otto HierlDeronco, Musik: Eduar Künneke, Rolle Tilla Durieux: Circe. 743 Fuchs, Georg: Circe. Phantastisches Spiel in drei Aufzügen nach Calderjn von Georg Fuchs, München 1912, S. 10–11. Die kursiv gedruckten Sätze sind Fuchs’ Szenenbeschreibungen. Er verwendet die griechische Form Ulysses für Odysseus. 744 Die Auswahl des »fruchtbaren Augenblicks« nach Lessing dient dazu, »das Vorhergehende und Nachfolgende eines Stücks begreiflich machen zu können.« Fehlmann/Verwiebe 2013, S. 188. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1766. 745 Diese Vorgehensweise kennt man auch sonst von Stuck. Er ist kein Geschichtenerzähler, sondern seine Figuren aus Historie, Mythologie und Bibel sind meist Einzelfiguren. Stuck »wählt die Situation, Haltung, den Ausdruck, der in sich die ganze Geschichte beinhaltet oder der Kulminationspunkt ist.« Gross-Roath 1999, S. 197. 746 Die Art, wie Circe den Arm mit der Schale vorstreckt, erinnert laut Mendgen formal an die Darstellung der Eva in Stucks Gemälde Versuchung, in dem sie Adam aus ihrer von einer Schlange umwundenen Hand den Apfel anbietet, aus demselben Entstehungsjahr. In beiden Darstellungen fungiert die Frau als Verführerin und wird dadurch dem Mann zum Verhängnis. Vgl. Mendgen, Eva A.: Franz von Stuck 1863–1928. »Ein Fürst im Reiche der Kunst«, Köln 1994, S. 63.

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»Die Circe spielte Frau Durieux – wie nicht anders zu erwarten war : exquisit (an manchen Stellen, zum Beispiel wo sie beim Cour d’amour mit Blicken Ulysses in ihren Bann zog: grandios) […].«747

Der plane Hintergrund des Gemäldes weckt Assoziationen an einen Bühnenraum, womit das Geschehen in den Bereich des Theaters versetzt wird. Es sind Gemeinsamkeiten zwischen der Theorie der Reliefbühne von Georg Fuchs, dem Begründer des Münchner Künstlertheaters, und Stucks Porträt vorhanden. Grund erläutert Fuchs’ Vorstellung des Bühnenbilds748 : »In Fuchs’ Theorie ist das Tableau, die ›figürliche Komposition‹, wie er es nennt, nicht räumlich und damit perspektivisch angelegt, sondern flächig, d. h., die Darsteller bewegen sich nach der ›Gesetzmäßigkeit des Reliefs‹ in der Fläche vor einem Hintergrundprospekt, das gleichfalls nur Fläche darstellt.«749

Der monochrome, flächige Hintergrund von Stucks Tilla Durieux als Circe (Abb. 4) passt zu Fuchs’ Auffassung der Reliefbühne. Es ist schwer zu beurteilen, ob Stuck sich bei seiner Komposition von dem tatsächlichen Bühnenbild der Aufführung beeinflussen ließ. Es ist nicht nachgewiesen, dass er einer Vorstellung beiwohnte. Da er im Vorstand des Künstlertheaters saß750 und es damals ein wichtiges Theaterereignis war, ist sein Besuch anzunehmen. Auch wenn Flächigkeit grundsätzlich ein wichtiges Stilmittel von Stuck ist, kam das Bühnenbild zusätzlich seinem Kunstverständnis entgegen. Das Gemälde besitzt einen Originalrahmen, nämlich einen hölzernen Plattenrahmen, der am Licht und an der äußeren Kante geschnitzte Ornamente, einen Perlstab gefolgt von einem Eierstab, aufweist. In der Mitte und in den Ecken jeder Rahmenkante befinden sich aus Holz geschnitzte Ornamente in Form von Pinienzapfen. Bei der Fassung des Rahmens wurde eine Kreidegrundierung verwendet. Die Ornamente wurden mit einem roten Poliment und einer Glanzvergoldung behandelt. Auch die unterliegende Platte des Rahmens wurde vergoldet und lavierend weiß gestrichen, so dass sowohl der Goldgrund als auch die Pinselstriche sichtbar sind.751 Die von Stuck selbst angefertigten Rahmen entwickelten sich zu seinem Markenzeichen.752 Sie sind Bestandteil der Gesamtwirkung seiner Werke und verstärken laut Gross-Roath ihren »dekora747 Anonym: Circe im Münchner Künstlertheater, in: Münchener Kunst und Theater, August 1912, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 520, S. 131. 748 Fuchs 1904, S. 97–98. 749 Grund 2002, S. 43. 750 Vgl. Grund 2002, S. 44. 751 Informationen von der Alten Nationalgalerie, Berlin. E-Mail von Frau Nadine Rottau vom 27. 7. 2009. 752 Vgl. Voss, Heinrich: Franz von Stuck 1863–1928. Werkkatalog der Gemälde mit einer Einführung in seinen Symbolismus, München 1973, S. 45.

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tiven Effekt«753. Auch in Tilla Durieux als Circe (Abb. 4) gehen Rahmen und Gemälde eine Einheit ein. Das Gold des Rahmens wird farblich im Schmuck der Figur und in der Löwenschale aufgenommen. Der Rahmen betont die architektonisch geschlossene und zum Bildrand hin verfestigte Bildkomposition.

V.1.4.2 Werkentstehung Stucks Rollenporträts von Durieux entstanden aus eigenem Antrieb des Künstlers. Anlass dafür war Durieux’ Gastspiel als Circe in dem gleichnamigen Stück 1912 am Münchner Künstlertheater. Durieux stand Stuck im originalen Bühnenkostüm in seinem Atelier Modell. Über die Modellsitzungen berichtet die Schriftstellerin Erika von Watzdorf-Bachoff in ihrer Autobiographie: »Stuck malte Tilla Durieux als Circe, und sie beklagte sich bitter über seine Schweigsamkeit, die ihr das Sitzen so mühsam, langweilig, ja einschläfernd machte. Mary Stuck, besorgt um das Bild, bat Jeanne und mich, tunlichst oft Tilla Durieux während der Sitzungen zu unterhalten, aber es war umgekehrt, sie unterhielt uns und zwar hinreißend, meist über das Thema ›hinter den Reinhardt-Kulissen‹.«754

Zuerst wurden in Stucks hauseigenem Fotoatelier Fotografien von Durieux im originalen Bühnenkostüm als Vorlage für die Bildnisse aufgenommen.755 Vier Aufnahmen haben sich erhalten, eine davon ist ein vergrößerter Bildausschnitt einer Aufnahme.756 Die Fotografien reduzierten den Zeitaufwand für Durieux. Sie saß dem Künstler zwar auch persönlich Modell, aber es wurden nicht so viele Sitzungen benötigt, da Stuck die Fotografien als Gedächtnisstütze hatte.757 Die Praxis der Fotovorlage war zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Malern all753 Gross-Roath 1999, S. 82. 754 Watzdorf-Bachoff, Erika von: Im Wandel und in der Verwandlung der Zeit. Ein Leben von 1878 bis 1963, Stuttgart 1997, S. 191. 755 Im Keller der Villa Stuck gab es ein fotografisches Labor zum Entwickeln und Vergrößern der Aufnahmen. Stuck nutzte die Fotografie seit ca. 1889 als Hilfsmittel bei der Ausführung seiner Gemälde und fotografierte von Anfang an auch selbst. Seit seiner Heirat oblag diese Aufgabe wohl v. a. seiner Frau Mary, die Stucks Anweisungen befolgte. Vgl. Birnie-Danzker, Jo-Anne: Franz von Stuck und die Photographie, in: Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 9–15, hier : S. 9. Stuck selbst maß seinen Fotografien keinen eigenen künstlerischen Wert zu, der ihnen aber dennoch nicht abgesprochen werden kann. Vgl. Schmoll, Josef A.: Photographische Studien zur Malerei Franz von Stucks, in: Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 16–26, hier: S. 19, 24. 756 Abb. in: Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 72, 73, 152. 757 »Dieser Aspekt war gerade für besonders gefragte Modeporträtisten von Bedeutung, wie es z. B. die beiden Münchener ›Malerfürsten‹ Franz von Lenbach und Franz von Stuck waren. Sie hatten nicht nur zahlreiche Aufträge zu bewältigen, sondern ihre oft hochgestellten Kunden hatten auch wenig Zeit für stundenlanges Modellsitzen im Maleratelier.« Krueger, Ingeborg: Die Photographie als Hilfsmittel oder Ersatz der Bildnismalerei, in: Honnef/ Thorn Prikker, Köln 1982, S. 14–25, hier : S. 15.

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gemein verbreitet.758 Auch andere Porträtisten von Durieux wie Max Slevogt oder Emil Orlik arbeiteten mit fotografischen Studien. Stuck entwickelte eine Technik zur Übertragung der vorbereitenden Porträtfotografien auf die Bildträger. Zeugnis davon geben Bleistiftspuren und Einritzungen auf den Fotografien sowie rückseitige Abdrücke von Reißzwecken und Kleber.759 Er pauste die Fotovorlagen (z. T. in Vergrößerung) mit Bleistift oder Kohlepapier auf die Bildträger durch. Dabei vereinfachte er die Vorlage, beschränkte sich »auf scharfe Umrisse in wenigen Linien« und zog »schon beim Pausen die Quintessenz aus der Photovorlage für seine stilisierende Formauffassung«760. Stuck nutzte die Fotografien folglich nicht dazu, größtmögliche Porträtähnlichkeit zu erzielen.761 Stattdessen stilisierte er die fotografischen Vorlagen bei der Übertragung auf den Bildträger stark, so Birnie-Danzker : »In seinen Gemälden, insbesondere den Porträts, lässt Stuck viele spezifische Eigenheiten und Unvollkommenheiten der dargestellten Personen beiseite, beraubt sie damit aber auch ihrer individuellen Merkmale und reduziert sie auf einen Typus.«762

Stuck hatte bei seinen vorbereitenden Fotografien eine genaue Vorstellung seiner Bildkomposition im Kopf, wie die fotografische Vorlage für die in Berlin befindliche Gemälde-Version von Tilla Durieux als Circe exemplarisch aufzeigt.763 Das Modell folgte seinen Anweisungen wie ein Schauspieler dem Regisseur. Bei dem Durieux-Porträt kommt hinzu, dass Stuck die professionelle Schauspielerin in einer tatsächlichen Bühnenrolle darstellte. Das Fotoatelier wurde für sie zur Bühne, indem sie eine Sequenz aus dem Stück Circe zur Darstellung brachte. Der Fotograf diente zugleich als Publikum und Schauspielpartner. Die Ausschnitthaftigkeit der Vorführung im Atelier rückte diese in die Nähe der Kunstform Tableau vivant.764 Der Akt des sich in Szene-Setzens der Schauspielerin vor der Kamera erhält eine »performative Dimension«765. Wie das 758 Vgl. Schmoll 1996, S. 16–17. 759 Vgl. Jooss, Birgit: Katalog Figurenstudien, in: Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 140–185, hier : S. 151–152. 760 Schmoll 1996, S. 19. 761 Dasselbe trifft auf die anderen Durieux-Porträtisten, die mit fotografischen Vorlagen arbeiteten, zu. 762 Birnie-Danzker 1996, S. 13. 763 Franz oder Mary von Stuck, Studie zu Tilla Durieux als Circe, 1912, Fotografie, 14,4 x 11,7 cm, Nachlass Franz von Stuck, 47 A. Abb. in: Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 72. 764 Laut Schmoll setzte Stuck seine »schauspielerische Vorstellungskraft« bei allen figürlichen Themen ein: »Er spielte sich die Rollen seiner Bildgestalten erst in der Phantasie, dann in natura, d. h. als quasi ›lebende Bilder‹ vor« und hielt dies mit der Kamera fest.« Schmoll 1996, S. 23. 765 Holschbach 2006, S. 257. Holschbach versteht das Posieren der Schauspielerin vor der Fotokamera in Anlehnung an Fischer-Lichtes Begriff des Performativen als »darstellerische Realisierung, bei der die referentielle Funktion […] zugunsten der performativen Funktion, in diesem Fall der Inszenierung der Schauspielerin, in den Hintergrund tritt.« Holschbach

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Kapitel V.4.2 herausstellt, war Durieux – vergleichbar mit einem Fotomodell – daran gewöhnt, experimentierende Posen für die Kamera zu finden. Stuck verband Durieux’ dargebrachtes Spiel mit seinen eigenen künstlerischen Gestaltungsprinzipien. Neben dem Berliner Porträt existieren fünf weitere bekannte Versionen von Stucks Tilla Durieux als Circe in unterschiedlichen Techniken aus demselben Entstehungsjahr 1912. Zwei der sechs bekannten Versionen sind nur als Reproduktionen erhalten und im Werkverzeichnis von Voss nicht aufgeführt. Kleidung, Frisur und Schmuck – soweit sichtbar – stimmen in allen Versionen mit der Berliner Version (Abb. 4) überein. Stuck spielte das immer gleichbleibende Motiv in verschiedenen Variationen durch, indem er Bildausschnitt, Perspektive sowie Kopf- und Körperhaltung veränderte. Die erhaltenen Fotovorlagen von Stuck entsprechen seinen ausgeführten Porträtvariationen. Nur ein weiteres Porträt zeigt Durieux mit der Schale in der Hand, eines ist ein Brustbild und die restlichen drei sind reine Kopfbilder. Das Brustbild in Mischtechnik766 besitzt große Ähnlichkeit zur Berliner Version (Abb. 4). Durch den kleineren Bildausschnitt ist die Figur vor dem leuchtend blauen Hintergrund näher an den Betrachter herangerückt. Das beige Kleid ist nur als Skizze ausgeführt. Der vorgestreckte Unterarm ist vom unteren Bildrand so abgeschnitten, dass die Schale nicht zu sehen ist. Das Lauernde der Circe ist durch den leicht gesenkten Kopf verstärkt. Der zum Teil vergoldete originale Bildrahmen aus Holz weist goldene Zierleisten auf und im unteren, goldenen Rahmenfeld steht »Franz von Stuck Circe«. Der Bildträger selbst ist nur signiert, sonst nicht beschriftet. Den größten Bildausschnitt der sechs bekannten Versionen zeigt das Hüftbild767, das nur als Schwarz-Weiß-Abbildung überliefert ist. Die Darstellung wirkt skizzenhaft, da der Körper nicht so detailliert ausgeführt ist wie der Kopf in Dreiviertelansicht und die Hand mit der Schale. Der Bildträger ist unten links mit »Tilla Durieux als « beschriftet. Die Kopfhaltung des Hüftbilds verwendete Stuck, leicht variiert, für zwei in Pastell ausgeführte Kopfbilder. Das eine ist als Original768, das andere nur als im Verlag Hanfstaengl reproduzierter Kupferdruck769 erhalten. Beide sind oben mit »Tilla Durieux als »Circe«« be-

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2004, S. 212. Zum Begriff des Performativen bei Fischer Lichte siehe: Fischer-Lichte 2004, S. 31–42. Franz von Stuck, Tilla Durieux als Circe, 1912, Mischtechnik auf Pappe, 53,5 x 46,5 cm, Privatbesitz. Abb. in: Brandlhuber/Buhrs 2008, S. 91. Franz von Stuck, Tilla Durieux als Circe, 1912, Öl auf Pappe, 77 x 70 cm, mit Originalrahmen, Verbleib unbekannt. Abb. in: Voss, S. 193. Franz von Stuck, Tilla Durieux als Circe, 1912, Farbige Pastellkreidezeichnung über Bleistift auf bräunlichem Malkarton, 30 x 42 cm, mit Originalrahmen, Privatbesitz. Abb. in: Katalog Neumeister, Auktion 42, Klassische Moderne und Zeitgenössische Kunst, 15. 11. 2007, lot 721. Franz von Stuck, Tilla Durieux als Circe II, um 1912, Kupferdruck auf Bütten, 30 x 22 cm,

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schriftet. Das Kinn ist leicht nach oben gestreckt. Der Blick geht unter gesenkten Augenlidern hindurch zur Seite. Die Lippen sind leicht geöffnet. Sie unterscheiden sich in kleinen Details, am Ohrring und in der Signatur rechts neben dem Kopf. Auf dem Kupferdruck hat Durieux keine roten, sondern braune Haare. Bei dem dritten Kopfbild (Abb. 5), das nur als Postkarte des Verlags Wohlgemuth & Lissner bekannt ist, ist die Haltung verändert. Der Kopf ist nicht so stark angehoben, Augen und Mund sind weiter geöffnet. Die Darstellung ist in der Mitte rechts neben dem Kopf mit »Tilla Durieux als »Circe«« beschriftet und signiert. Die Abwandlungen in Stucks verschiedenen Versionen von Tilla Durieux als Circe beschränken sich auf äußere Kleinigkeiten. Es ging ihm nicht darum, eine andere Facette der Rolle oder des Schauspiels von Durieux herauszuarbeiten. Dieser Ansatz stimmt mit Stucks stilisierender Vorgehensweise bei der Anfertigung eines Porträts überein, die im Zusammenhang mit seinen Fotovorlagen erläutert wurde. Die Gemälde-Version von Tilla Durieux als Circe, die sich seit 1968 als Dauerleihgabe in der Berliner Nationalgalerie befindet, ist eines von circa 40 Werken von Franz von Stuck, die für Adolf Hitlers in Linz geplantes Museum vorgesehen waren.770 Es wurde 1943 im Auktionshaus H.W. Lange in Berlin von der Münchner Kunsthändlerin Maria Almas-Dietrich im Auftrag des Deutschen Reiches angekauft. Der Verkäufer ist nicht bekannt.771

V.1.4.3 Dramatische Vorlage und Inszenierung am Münchner Künstlertheater In der antiken Dichtung kommt Circe zum ersten Mal im 10. Gesang von Homers Odyssee vor (Od. 10.133–574).772 Sie ist eine Zauberin und lebt in einem von wilden Tieren bewachten Palast auf einer Insel. Odysseus gelangt mit seinen Gefährten auf ihre Insel und sie verwandelt einen Teil seiner Gefährten, nachdem sie ihnen einen Trank verabreicht hat, durch Berührung mit ihrem Zauberstab in Schweine. Mit Hilfe des Gotts Hermes bezwingt Odysseus Circe, sie verwandelt die Männer zurück und er bleibt ein Jahr lang bei ihr und segelt danach weiter. Für die Inszenierung der Circe am Münchner Künstlertheater, das Max ReinKunstverlag Franz Hanfstaengl, München, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Inv.Nr.: Pf 13.896:C(4a). 770 Deutsches Historisches Museum, Datenbank »Sammlung des Sonderauftrags Linz«: http:// www.dhm.de/datenbank/linzdb/, Stand vom 20. 01. 2014. Stucks Tilla Durieux als Circe hat die Objektnummer Linz-Nr.: 2819. 771 Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen: http://www.badv.bund.de/ DE/OffeneVermoegensfragen/Provenienzrecherche/Provenienzen/Daten/11000_11999/11 370.html, Stand vom 14. 07. 2014. 772 Zu den literarischen Quellen des Circe-Mythos siehe: Dräger, Paul: Kirke, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik, Manfred Landfester und Brigitte Egger, Bd. 6, Stuttgart 1999, Sp. 487–489.

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hardt seit 1909 gepachtet hatte, im Jahr 1912 bearbeitete Georg Fuchs ein Stück von Pedro Calderjn de la Barca (1600–1681).773 Calderjn war einer der bedeutendsten Dramatiker des ›Siglo de Oro‹ und wurde im Zuge der Spanienmode im 19. Jahrhundert wiederentdeckt und auch in Deutschland bekannt.774 Ausgangspunkt für Fuchs’ Bearbeitung war Calderjns Freilichtspektakel El Mayor encanto, amor (Über allem Zauber Liebe), das Calderjn 1635 für den spanischen König verfasste und in dem Odysseus’ Hingabe an die wollüstige Leidenschaft mit Circe stärker betont wird als in den älteren Dichtungen.775 Odysseus gibt sich dieser Leidenschaft so lange hin, bis ihm der Geist des Achill erscheint und ihn zur Pflicht ruft. Das Ende der Geschichte hat Calderjn gegenüber den antiken Vorlagen entscheidend verändert. Odysseus und seine Gefährten segeln heimlich von Circes Insel fort. Nach dem erfolglosen Versuch ihn zurückzuholen, begeht sie Suizid, indem sie sich mitsamt ihrer Insel im Meer versenkt.776 In typisch barocker Manier forderte Calderjns »Schautheater«777 mit aufwendigen illusionistischen Effekten vor allem das Auge des Zuschauers. In Calderjns »ausschließlich aus dem Theatralischen ohne jede literarischen Nebenabsichten […] vollendende[n] Genius«778 sah Fuchs eine Übereinstimmung mit den Forderungen der Theaterreformer um 1900 nach der »Bühnenkunst als Selbstzweck«779, wie er 1912 im Vorwort zur Circe schreibt. Der Maler Otto Hierl-Deronco (1859–1935) war bei der Münchner Inszenierung der Circe für die Bühnenausstattung verantwortlich und laut Durieux »wurde eine große Pracht entfaltet«780. Das durch eine Fotopostkarte781 als original zu identifizierende Bühnenkostüm, das Durieux auf Stucks Porträts und seinen vorbereitenden Fotografien trägt, ist – gemäß dem mythologischen Thema – der griechischen Antike entlehnt. Durieux’ Überlieferung nach war Hierl-Deronco bei seiner ersten Begegnung mit ihr von ihrem Aussehen enttäuscht:

773 Fuchs 1912. 774 Vgl. Hellwig 1998, S. 38. 775 Bereits in der 1630, in Zusammenarbeit mit zwei spanischen Dichtern, entstandenen Komödie Polifemo y Circe kam der Circe-Mythos bei Calderjn vor und ein weiteres Mal 1645 in dem geistlichen Schauspiel Los encantos de la Culpa. Vgl. Paetz, Bernhard: Kirke und Odysseus. Überlieferung und Deutung von Homer bis Calderjn, Berlin 1970, S. 90. 776 Vgl. Gerstinger 1967, S. 71–72. 777 Gerstinger 1967, S. 71. 778 Fuchs 1912, S. VII. 779 Fuchs 1912, S. IX. 780 Durieux 1979, S. 167. 781 Hofatelier Gebr. Hirsch, Tilla Durieux als Circe, 1912, Fotopostkarte, 13,5 x 8,5 cm, u. a. Deutsches Theatermuseum München, Inv.II Nr. 24.944. Abb. in: Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 11.

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»Hierl-Deronco […] stand neben mir und fragte: ›Wo ist Circe, wo ist Frau Durieux?‹ Endlich deutete man auf mich, und wahrhaft entsetzt prallte er vor mir zurück […]. Nachher aber, als ich sein schönes Kostüm trug, hat er sich mit meinem Aussehen versöhnt […].«782

Das Stück feierte große Erfolge in München und wurde zu einem »gesellschaftlichen Ereignis«783. Die Hauptdarstellerin bekam gute Kritiken. In der Wiener Zeitschrift Der Humorist schrieb ein anonymer Rezensent 1912 als Reaktion auf die Aufführung: »Tilla Durieux gab die Circe. Wir kennen sie als glänzende Schauspielerin, aber daß sie so Vertieftes zu geben vemöchte, so ganz auf robuste Theaterwirkung verzichten könne, hätten wir nicht geglaubt.«784 In einer anderen Kritik hieß es: »[…] das seltsam Seelenlose, das sie trotz aller Leidenschaftlichkeit immer wieder hervorkehrte, bewies die richtige Auffassung der ›Circe‹.«785 Auch Erich Mühsam hebt in seinem Tagebuch die gute Leistung Durieux’ in der sonst, seiner Beurteilung nach, mittelmäßigen Inszenierung hervor : »Von der Aufführung war ich nicht sehr entzückt. Die Regie nicht gekonnter Reinhardt. Die Kostüme aus allen Zeiten der Weltgeschichte zusammengestopft. Das Stück selbst tötlich langweilig (Calderons ›Circe‹), und erfreulich nur die Durieux als starke Circe und Pallenberg als melancholischer Clown Clarin. Stägemann als Ulysses ein lyrischer Tenor, alles andre mäßiger Durchschnitt. Und darüber sollte ich in den ›Kain‹ einen Reklame-Artikel schreiben! – Im Foyer traf ich Paul Cassirer mit Franz Blei.«786

V.1.4.4 Resonanz Verschiedene Fassungen von Stucks Tilla Durieux als Circe wurden zu ihrer Entstehungszeit u. a. in der Großen Berliner Kunstausstellung (1913) und den Ausstellungen der ›Freien Secession Berlin‹ (1914) und der ›Münchner Secession‹ (1914) gezeigt und in renommierten Kunstzeitschriften besprochen. Dies beweist ihre große Präsenz zu ihrer Entstehungszeit und die Beachtung, die sie auch in der Kunstwelt erfuhren. Da nicht immer eindeutig ist, welche Version ausgestellt und rezensiert wurde, werden in diesem Unterpunkt alle vorgefundenen zeitgenössischen Erwähnungen berücksichtigt. Die Version in Mischtechnik auf Pappe war 1913 bei der Großen Berliner Kunstausstellung, dem Ausstellungsorgan der Akademie der Künste am Lehrter Bahnhof, zusammen 782 783 784 785

Durieux 1979, S. 167. Möhrmann 1997, S. 138–139. Anonym: Circe, in: Der Humorist, 1912, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 520, S. 137. Anonym: Circe im Münchner Künstlertheater, in: Münchener Kunst und Theater, August 1912, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 520, S. 131. 786 Tagebucheintrag vom 26. 5. 1912. http://www.muehsam-tagebuch.de, Stand vom 10. 01. 2013.

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mit einer weiteren Version vertreten.787 In der Maiausgabe der Kunstchronik 1913 lobt der Rezensent die »unpathetische« Malweise der Durieux-Bildnisse: »Als ›Clou‹ der Ausstellung ist eine riesige Kollektion von Franz Stuck zurechtgestutzt. Sie umfaßt […] eine große Reihe der bekannten Hauptwerke, […] diese Erzeugnisse einer mächtigen, aber immer unerträglicher auf äußeren Effekt eingestellten Begabung. Am besten hält sich Stuck immer noch in seinen leichteren Phantastereien und kleineren Stücken, wie […] den neuen Studien nach Tilla Durieux als Circe. Hier ist er bei bescheideneren Ansprüchen malerisch reicher und ohne das forcierte Pathos, das sonst so empfindlich stört.«788

1914 wurde eine Version bei der ersten Ausstellung der ›Freien Secession Berlin‹ gezeigt (Nr. 232). Dazu erschien eine weniger positive Besprechung in Deutsche Kunst und Dekoration von Georgi: »Stucks ›Tilla Durieux als Circe‹ sagt wenig und bedeutet keineswegs einen künstlerischen Fortschritt.«789 1914 waren zwei Pastell-Versionen in der Winterausstellung der ›Münchner Secession‹ zu sehen.790 Daraufhin wurden sie in Die Kunst für Alle, mit einer Abbildung791, besprochen: »Franz von Stuck hat zwei Pastelle eingesandt, beide ›Tilla Durieux‹, die bekannte Berliner Schauspielerin, in ihrer Rolle als ›Circe‹ widergebend (Abb. S. 207). Von höchst unmittelbarem Effekt ist vor allem das Brustbild eine Geschmacksleistung erster Ordnung seines Autors, das mit wenigen, aber charakteristischen Formelementen alles erschöpft, auf was hier Gewicht zu legen ist; auf das von der persönlichen Welt Ausgehende sowohl, wie auf das, was der Maske zugehört.«792

Die vom Kritiker gelobte Ausgewogenheit des Werks bezieht sich auf das gattungsbedingte Spannungsverhältnis von Person und Rolle im Rollenporträt. Offensichtlich galt dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Qualitätskriterium für ein Schauspielerporträt. Auch in der Rubrik Ausstellungen der Kunstchronik fand die Münchner Ausstellung ihren Widerhall. Der Verfasser sah in der Aus787 Katalog zur Grossen Berliner Kunstausstellung 1913, Nr. 1430 und Nr. 1432, S. 94. http:// digiview.gbv.de/viewer/image/71859374X-1913/95/. Stand vom 10. 09. 2014. 788 M.O.: Die Berliner Jubiläums-Kunstausstellung, in: Kunstchronik, Jg. 24, Heft 35, 1913, S. 505–508, hier : S. 508. 789 Georgi, Walter : Freie Secession Berlin 1914, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Jg. 34, 1914, S. 156–170, hier: S. 164. 790 Katalog der Winterausstellung der Münchner Secession 1913/14, Nr. 872 und Nr. 873, S. 76– 77. http://digital.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_att_2=simple_viewer& pid=4157824, Stand vom 16. 03. 2012. Bei dem einen Werk handelt es sich um die Version in Mischtechnik auf Pappe. Bildunterschrift: Technik: »Pastell und Guasch«. Besitzer : »Herr Dr. James Simon in Berlin.« Bei dem anderen Werk handelt es sich um die Version, die nur als Druck von Hanfstaengl bekannt ist. Bildunterschrift: Technik »Pastell«. Besitzer : »Herr Alfred Hamburger in Neukirch bei Breslau«. Beide Werke standen nicht zum Verkauf. 791 Es handelt sich um die Version, die nur als Druck von Hanfstaengl bekannt ist. 792 Rohe, Maximilian K.: Die Winterausstellung der Münchner Secession, in: Die Kunst für Alle, Jg. 29, Heft 9, 1914, S. 205–216, hier: S. 210.

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stellung einen Beweis für den »Verfall der Sezession« und bemängelt insbesondere Stucks starke Stilisierung der Schauspielerin: »Es lohnt sich fast nicht, ins Einzelne zu gehen. […] Und es ist beschämend, zu sehen, wie Stuck mit akademischem Griffel aus der Dämonie des Kopfes der Durieux eine Beaut8 nach seinem Geschmack macht. […] Wären nicht einige junge Münchner und – einige ältere Franzosen, so wäre der Besuch dieser Ausstellung tödlich. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß diese Ausstellung einen Verfall der Sezession bedeutet.«793

In dieser Kritik kommt deutlich Durieux’ Image als »häßliche« Erscheinung zum Ausdruck. Das festgelegte Bild, das der Kritiker von der Schauspielerin hatte, verhinderte seinen unverstellten Blick auf das Kunstwerk. Auch die Meinung von Durieux’ Zeitgenossin Erika Watzdorf-Bachoff über Stucks Porträt ist von Durieux’ Image geprägt. Sie erklärt Stucks überzeugende Darstellung der Schauspielerin als Circe durch die Identität von Person und Rolle: »Das Bild, dessen Entstehen uns stark fesselte, wurde fabelhaft, nicht zum wenigsten, weil die Gestalt der Circe dem ganzen gefährlichen Wesen der großen Künstlerin phantastisch entsprach.«794 Offenbar war Durieux für Watzdorf-Bachoff auch privat eine ›Femme fatale‹. Insgesamt wird deutlich, dass die Urteile über Stucks Tilla Durieux als Circe von den grundsätzlichen Meinungen der Verfasser über sein Kunstschaffen geprägt sind. Eine Besonderheit bei Stuck ist der von ihm angeregte Vertrieb seiner Werke durch Reproduktionen. Stuck ließ im Kunstverlag Franz Hanfstaengl in München Kupferdrucke nach seinen Gemälden anfertigen.795 Von Tilla Durieux als Circe wurden dort um 1912 vier Variationen unter den Verlagsnummern 12640, 12714, 12715 und 12716 reproduziert.796 Es existieren keine Informationen zur Auflagenhöhe.797 Es gibt nur von einem der Hanfstaengl-Drucke eine Abbildung. Sie ist beschriftet mit »Tilla Durieux als »Circe« II«. Der Verbleib des Originalpastells, das 1914 in der Winterausstellung der ›Münchner Secession‹ präsentiert und in Die Kunst für Alle abgebildet wurde798, ist nicht bekannt. Außerdem wurde um 1912 eine weitere Version als Postkarte im Kunstverlag Wohlgemuth 793 W.H.: Münchner Wintersezession, in: Kunstchronik, Jg. 25, Heft 20, 1914, S. 304–305, hier: S. 304. 794 Watzdorf-Bachoff 1997, S. 191. 795 »Zwischen 1888, dem Beginn seiner ersten Kontaktaufnahme mit dem Münchner Verlagshaus, und 1928 ließ Franz Stuck ca. 300 Werke bei Hanfstaengl reproduzieren.« Vgl. Heß, Helmut: Stuck und Hanfstaengl – Künstler und Verleger, in: Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 116–126, hier : S. 116. Es wurden fast von keinem anderen Künstler so viele Werke im Hanfstaengl-Verlag verlegt. Stucks »Plakatstil« bot sich für die Reproduktion an. Vgl. Heß 1996, S. 123. 796 Vgl. Birnie-Danzker u. a. 1996, S. 131. 797 Vgl. Heß 1996. Der Nachfolger des Verlags Hanfstaengl, der Blanc-Kunstverlag in München, stellt noch heute Reproduktionen nach Werken von Stuck her. 798 Rohe 1914, S. 207.

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& Lissner, Berlin hergestellt (Abb. 5). Der Verbleib des Originals, wohl ebenfalls ein Pastell, ist unbekannt. Die Nachfrage nach Stucks Durieux-Porträts war offensichtlich groß.799 Das Vermarktungsgenie Stuck verstand es, die Werbewirksamkeit des großen Namens Tilla Durieux für sich zu nutzen.800 In der Ausstellung »Künstlerfürsten. Liebermann. Lenbach. Stuck« von 2009 wurde deutlich, welche große Bedeutung die »Porträts bedeutender Zeitgenossen« für Stucks Status als Künstlerfürst besaßen.801 Stucks Versionen von Tilla Durieux als Circe waren die zu ihrer Entstehungszeit am weitesten verbreiteten Porträts von Durieux. Bis heute zählen sie zu ihren bekanntesten Porträts.802

V.1.4.5 Circe-Darstellungen Zwei englische Künstler des 18. Jahrhunderts, die sich in ihrem Werk, genauso wie Stuck, mit dem Theater intensiv beschäftigten und Circe-Rollenporträts schufen, sind Sir Joshua Reynolds und George Romney. Reynolds’ Porträt der englischen Kurtisane Mary Nesbitt (1735–1825) in Mrs. Nesbitt as Circe803 von 1781 verortet die Zauberin in einer Landschaft am Boden sitzend mit einem Kelch mit dem Zaubertrank im Vordergrund und dem Zauberstab in der Hand. Hinter ihr kauern ein Leopard und eine weiße Hauskatze und in dem Baum über ihr sitzt ein Affe. Auch bei dem fast zeitgleichen Porträt von Emma Hamilton (1761–1816), Lady Hamilton as Circe804, von George Romney wird der Hintergrund durch eine Landschaft, eine Höhle an einer Küste, gebildet. In weiter Entfernung fährt ein Schiff.805 Die stehende Hamilton hat den linken Arm ab799 Zur Käuferschicht der Hanfstaengl-Reproduktionen merkt Heß an: »Bedeutende Abnehmer der Reproduktionen waren neben den Privatkunden auch öffentliche Institutionen […], aber auch die Kunstvereine […].« Heß 1996, S. 126. 800 Die Vermarktung seiner Werke durch die Reproduktionen des Hanfstaengl-Verlags war äußerst lukrativ für Stuck. Im Durchschnitt bekam er für die Vervielfältigungsrechte eines Bildes ab 300 Mark. Vgl. Heß 1996. 801 Vgl. Grütters, Monika: Kunst, Fürstentum und Porträtmaschinen, in: Künstlerfürsten. Liebermann. Lenbach. Stuck, hg. v. Stiftung Brandenburger Tor, Ausst.kat., Berlin 2009, S. 7–8, hier : S. 8. 802 Stucks Berliner Gemäldeversion von Tilla Durieux als Circe ist in zwei populärwissenschaftlichen Erscheinungen von 2009 enthalten: Trissenaar, Elisabeth: Die Zauberfrau, in: Frauen schön und stark. Frauen von heute über die Schönen der Kunst, hg. v. Petra Müller, München 2009, S. 64–65; Nagel, Joachim: femme fatale. Faszinierende Frauen, Stuttgart 2009, S. 31. 803 Joshua Reynolds, Mrs. Nesbitt as Circe, 1781, Öl auf Leinwand, 125,1 x 100,3 cm, Smith College Museum of Art, Northampton, Inv.Nr. SC 1958:4. Abb. in: Tasch 1999, S. 365. 804 George Romney, Lady Hamilton as Circe, 1782, Öl auf Leinwand, 235 x 145 cm, Privatbesitz. Abb. in: Gold 2009, S. 99. 805 Romney stellte Emma Hamilton seit Anfang der 1780er Jahre in fast 100 Porträts und Skizzen dar. Vgl. Ittershagen 1999, S. 114–190. Zu den Porträts von Emma Hamilton siehe auch das Werkverzeichnis bei: Gold 2009, S. 79–109.

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wehrend erhoben und hält in der rechten gesenkten Hand einen Zauberstab. Aus der Höhle schauen zwei Wolfsköpfe heraus. Ittershagen vermutet, dass Romney sich »in der Wahl der mythologischen Bildrolle an Reynolds’ ›Circe‹«806 orientierte. Eine Gemeinsamkeit zwischen Reynolds’, Romneys und Stucks Porträts ist der bannende Blick der Figuren, ein Hinweis auf Circes Zauberkräfte. Während ihr Blick bei den Engländern jeweils direkt auf den Betrachter gerichtet ist, erscheint Stucks Figur im Profil (Abb. 4). Reynolds’ und Romneys Circe tritt jeweils in Blickkontakt mit dem Betrachter, wogegen die Figur bei Stuck mit ihrem sich außerhalb des Bildes befindenden Gegenüber nonverbal kommuniziert. Reynolds’ und Romneys Modelle waren wie Tilla Durieux zur Entstehungszeit der Porträts berühmte Persönlichkeiten, jedoch keine Schauspielerinnen. Es sind keine Schauspieler-Rollenporträts, sondern mythologische Rollenporträts, in denen, so Ittershagen, »dem Stimmungswert mehr Gewicht beigemessen [wird], als der mythologischen Aktion.«807 Über ein Jahrhundert später entstand Circe offering the cup to Ulysses808 von John William Waterhouse (1849–1917). Motivisch ist es sehr gut mit Stucks Tilla Durieux als Circe vergleichbar, da derselbe Moment, Circes Anbieten des Zaubertranks, dargestellt ist. Aber im Gegensatz zu Stucks Figur, ist Waterhouses Ganzkörperfigur in ein Hintergrundgeschehen eingebunden. Sie sitzt auf einem Thron und hält einen Kelch hoch. In der anderen, ebenfalls erhobenen, Hand hält sie ihren Zauberstab. Im Hintergrund erscheint Odysseus in einem Spiegel. Circe trägt ein durchsichtiges, antikisierendes Gewand aus dünnem Stoff, das ihren Körper durchscheinen lässt. Ihr langes offenes Haar fällt über den Rücken. Ihre roten Lippen sind leicht geöffnet und sie blickt den Betrachter unter leicht gesenkten Augenlidern direkt an. Begleitet wird sie von zwei ihrer Opfer, die sie bereits in Wildschweine verwandelt hat. Die erotische Inszenierung der Circe ist bei Waterhouse gegenüber Stucks Darstellung durch die freizügige Kleidung gesteigert. Noch deutlicher wird die Betonung der sexuellen Ausstrahlung bei Circe der Amerikanerin Alice Pike Barney (1857–1931).809 Das um 1895 entstandene Pastell stellt die Zauberin mit entblößter Brust in der Umarmung eines Wildschweins dar. Zusammen mit der obszönen Mimik verweist dies auf die angeblich dem weiblichen Geschlecht eigenen animalischen Triebe. In den angeführten Gegenüberstellungen von Stucks Tilla Durieux als Circe (Abb. 4) mit Reynolds’, Romneys und Waterhouses Circe-Darstellungen haben sich einige Unterschiede herausgestellt. Als erstes fällt die Reduktion von At806 Ittershagen 1999, S. 169. 807 Ittershagen 1999, S. 170. 808 John William Waterhouse, Circe offering the cup to Ulysses, 1891, Öl auf Leinwand, 146,5 x 91 cm, Gallery Oldham, Charles Lees Collection, Lancashire. Abb. in: Noakes 2004, S. 99. 809 Alice Pike Barney, Circe, um 1895, Pastell auf Leinwand, 76,4 x 63,1 cm, Smithsonian American Art Museum. Abb. in: Dijkstra, S. 323.

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tributen bei Stuck im Gegensatz zu anderen Circe-Darstellungen auf. Dort finden sich immer Schweine oder wilde Tiere im Bild, die die Figur, meist mit Zauberstab, als Circe ausweisen. Des Weiteren wurde unter den Vergleichswerken nur von Waterhouse dieser Moment des Mythos, in dem Circe den Zaubertrank darbietet, gewählt. Allerdings ist die Figur bei Waterhouse genrehaft in ein Geschehen eingebunden, wogegen Stucks Tilla Durieux als Circe als Einzelfigur agiert. Der von Stuck gewählte Bildausschnitt in großer Nahsicht hat die Konzentration auf die Figur zur Folge. Stuck ist der einzige dieser Künstler hinter dessen Circe-Porträt eine Theateraufführung steht.810 Stucks Porträt ist also in verschiedener Hinsicht eine singuläre Erscheinung. Er orientierte sich nicht an den älteren Kunstwerken, die den Mythos behandeln, sondern nahm ein aktuelles Theaterstück und seine Begegnung mit der Schauspielerin als Ausgangspunkt für sein Porträt.

V.1.4.6 Einordnung in Stucks Gesamtwerk Seit Anfang der 1890er Jahre wurde das Porträt zur bedeutendsten Aufgabe von Franz von Stuck und er avancierte in der Nachfolge Franz von Lenbachs zum beliebtesten Porträtisten der Münchner Oberschicht.811 Er porträtierte zahlreiche Persönlichkeiten aus dem Bereich der Bühne und bekannte Bühnendarstellerinnen in einer bestimmten Rolle veranlassten ihn mehrfach zu künstlerischen Schöpfungen. Bei Stucks Porträt der Sängerin Olive Fremstad (1871–1951) als Carmen812 handelt es sich, wie bei Tilla Durieux als Circe, um eine tatsächliche Rolle. »Die Oper ›Carmen‹ von Bizet mit Fremstad in der Titelrolle wurde im selben Jahr in München gegeben, in dem Stuck das Bildnis fertigte.«813 Ebenso wurden seine Salome-Darstellungen von Lili Marbergs Auftritten als Salome in München zur Entstehungszeit der Werke inspiriert. Die Schauspielerin stand ihm 1906 in seinem Atelier Modell.814 Er schuf keine Porträts von ihr, sondern Marbergs Salome-Darbietung schien ihm wohl geeignet als Vorbild für seine Gemälde mit 810 Romney lernte Emma Hamilton nicht als Darstellerin von Attitüden kennen. Sie trat mit ihren Attitüden erst auf, als sie London verlassen hatte und Romney nicht mehr Modell saß. Ihre Attitüden waren u. a. durch ihre Modellsitzungen in den verschiedenen Rollen bei Romney beeinflusst. Vgl. Ittershagen 1999, S. 114–190. 811 Vgl. Gross-Roath 1999, S. 17. Knapp die Hälfte aller Gemälde von Stuck sind Bildnisse, wobei ca. zwei Drittel Frauenbildnisse sind. 812 Franz von Stuck, (Olive Fremstad als) Carmen, 1902, Technik, Maße und Verbleib unbekannt. Abb. in: Die Kunst für Alle, 19. Jg., Heft 2, 1903, S. 52. 813 Gross-Roath 1999, S. 103. 814 Vgl. Gross-Roath 1999, S. 58; Ochaim, Brygida/Heilmann-Thon, Regina (Hg.): Franz von Stuck und der Tanz, Ausst.kat., Tettenweis 2000, S. 37.

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diesem Motiv. Genauso verfuhr er bei seinen Variationen der Tänzerinnen815, zu denen ihn Lo"e Fuller, die seit 1892 mit ihren Schleiertänzen durch Europa tourte, anregte.816 Stucks Faszination für das Schauspieler-Rollenporträt machte keinen Halt vor »normalen« Modellen und äußerte sich sowohl in ihrer Kostümierung817 als auch in der starken Mimik und Gestik der Modelle, die, nach Liptay, Stucks »Reiz am Affektausdruck«818 belegen. Die Frau als Bildthema ist eine Konstante in Stucks Schaffen. Er beschäftigte sich mit den verschiedenen Aspekten des weiblichen Wesens819 und thematisierte »das Verhältnis der Geschlechter zueinander, das aus dem Verhalten oder der Haltung der Frau resultiert.«820 Er stellte vor allem starke Frauen dar.821 Viele Frauenfiguren entsprechen dem Typus der ›Femme fatale‹ und folgen damit Stucks Vorliebe für erotische Frauendarstellungen.822 Seine erotischen Motive erregten Aufsehen823, da sie im Affront zur doppelmoralischen Prüderie der Zeit standen.824 Gross-Roath stellte bei ihrer thematische Auswertung von Stucks Frauendarstellungen eine Neigung zu mythologischen Themen fest: »Die Gemälde, deren Inhalt sich auf die eine oder andere Art auf die griechisch-römische Mythologie bezieht, stellen eindeutig die größte Gruppe nach den Portraits dar.«825 Außerdem erinnern viele der mythologischen, biblischen und historischen ›Femmes fatales‹ von Stuck durch die Wahl der isolierten Einzelfigur eher an Bildnisse als an Historienbilder, so Gross-Roath weiter.826 Demzufolge stellen Stucks Bildnisse von Durieux als Circe eine Kombination seiner beiden häufigsten Bildthemen, dem Porträt und der mythologischen Figur – allerdings im Gewand des Schauspielerrollenporträts – dar. 815 z. B.: Franz von Stuck, Tänzerinnen, 1896, Öl auf Holz, 52,5 x 87 cm, ehemals Sammlung Georg Schäfer. Voss WV Nr. 143/116. 1897 diente eine Version des Motivs als Titelblatt der Jugend, Jg. 2, Heft 38, S. 631. 816 Vgl. Ochaim/Heilmann-Thon 2000, S. 19–24. 817 Vor allem seine Tochter Mary porträtierte er häufig in Rollen, z. B. als Stierkämpferin. 818 Liptay, Fabienne: Stuck und die Kinematografie. Mehr als nur Zeitgenossen, in: Brandlhuber/Buhrs 2008, S. 214–236, hier : S. 220. 819 Vgl. Gross-Roath 1999, S. 196. 820 Gross-Roath 1999, S. 33. 821 Vgl. Gross-Roath 1999, S. 197. 822 »Er differenziert die einzelnen Femmes fatales in ihrer Darstellung. Wenngleich die tödliche Frau einen Teil seines Werkes einnimmt und er manche Wesenszüge auf einige Frauenbildnisse überträgt, so muß ganz klar gesagt werden, daß er die Darstellung der Frau nicht auf den fatalen Aspekt reduziert. Verführung hingegen ist ein zentrales Moment.« GrossRoath 1999, S. 204. 823 Mendgen bescheinigt Stuck ein »Image […] als Verführer und Provokateur«. Mendgen, Eva (Hg.): Franz von Stuck. Die Kunst der Verführung. Das Markenzeichen Franz von Stuck – eine künstlerische Erfolgsstrategie, Ausst.kat., Tettenweis 2002, S. 31. 824 Vgl. Sünderhauf 2008, S. 166. 825 Gross-Roath 1999, S. 36. 826 Vgl. Gross-Roath 1999, S. 198.

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V.1.4.7 Interpretation Stucks Tilla Durieux als Circe (Abb. 4) ist nach Schartners Rollenporträt-Definition ein »Aktionsporträt«827, das sich auf einen für die Handlung entscheidenden Moment des Stücks bezieht. Zwei Realitätsebenen verschmelzen, indem die äußere Erscheinung des Schauspielers in der dargestellten Person aufgeht.828 Vergleichbar schildert Durieux ihre Herangehensweise bei der Rollengestaltung829 : »Was ist eine Rolle? […]: es ist ein ferner Klang, eine geheimnisvolle Macht, die unwiderstehlich lockt. Die Rolle ist das Skelett eines Menschen, und nun gehe hin, nimm dein Fleisch und füttere das Skelett, nimm dein Blut und gieße es hinein in diesen unersättlichen Vampir, ströme all deine Kräfte aus und zu ihm hin, dann wirst du wissen, was eine ›Rolle‹ bedeutet.«830

Die Figur der Circe entspricht dem in Stucks Werk omnipräsenten Frauentypus der ›Femme fatale‹. Im Fall von Odysseus ist das Verhängnisvolle der ›Femme fatale‹ zurückgedrängt, da er sich absichtlich von Circe verführen lässt.831 Sein Handeln hat keine Konsequenzen für ihn. Circe dagegen wird sich selbst zum Verhängnis und bezahlt bei Calderjn am Ende mit dem Tod. Die Gefühllosigkeit der ›Femme fatale‹ spiegelt sich bei Stuck in der kühlen Farbigkeit des Gemäldes, ihre Bedrohlichkeit in dem dunklen Hintergrund, der auf die Figur übergreift. Durieux’ Physiognomie ist stilisiert wiedergegeben. Dies geht bis zur Veränderung der Haarfarbe. Die Typisierung belegt, dass die Dargestellte für Stuck eine über ihre Person hinausweisende Bedeutung besitzt.832 Für Stuck ist die Circe verkörpernde Schauspielerin der Inbegriff einer ›Femme fatale‹.833 Die Persön-

827 Schartner 1962, S. 43. 828 Vgl. Schartner 1962, S. 43. 829 Grundsätzlich vertritt Durieux die moderne schauspielerische Richtung, die keine Identität von Schauspieler und Rolle anstrebt. Vgl. M., C. [Müller, Gustav?]: Unterhaltung mit Tilla Durieux, in: Wiener Journal, 13. Mai 1928, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 90. 830 Durieux, Tilla: Rolle und Literatur – Eine Verteidigung ohne Anklage, in: Casseler Tageblatt, 5. Juni 1928, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 93. 831 Vgl. Yarnall, Judith: Transformations of Circe. The history of an enchantress, Urbana 1994, S. 14. 832 Nach Brandlhuber haben die »allgemein menschlichen, archetypischen und symbolischen Aussagen« einen zentralen Stellenwert in Stucks Kunst. Brandlhuber 2008, S. 86. 833 Diese Einfügung des Modells in den eigenen ästhetischen Kanon ist noch ausgeprägter bei Anselm Feuerbach und seinem römischen Modell Anna Risi, genannt Nanna, vorhanden. Risi entsprach dem Ideal der Deutschrömer von zeitloser Schönheit. In seinen Porträts von Risi, die häufig Rollenporträts sind, stilisiert Feuerbach sie zu einer Ikone. Vgl. dazu: Forster, Peter (Hg.): Nanna. Entrückt, überhöht, unerreichbar. Anselm Feuerbachs Elixier einer Leidenschaft, Ausst.kat., Petersberg 2013. Zu Risis Porträts siehe auch: Vogelberg 2005, S. 9–132. Entsprechend wurde Vittoria Caldoni zu einer Identifikationsfigur u. a. für

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lichkeit des Modells vernachlässigt er. Da Circes männlicher Gegenspieler Odysseus im Bild fehlt, tritt der Betrachter an seine Stelle.834 Dadurch wird die von der Zauberin ausgehende Bedrohung in die Realität des (männlichen) Betrachters überführt und die dramatische Figur erhält überzeitliche Bedeutung.835 Stucks Augenmerk in Tilla Durieux als Circe liegt auf der erotischen Wirkung. Sinnlichkeit erreicht er durch die nackte Haut, die geöffneten roten Lippen und den intensiven Blick.836 Die Reduzierung auf sexuelle Attraktivität stand im Gegensatz zu Durieux’ künstlerischen Absichten. Sie wollte gerade nicht auf ihre äußeren Reize beschränkt, sondern für ihre schauspielerische Leistung gewürdigt werden. Durieux’ negative Äußerung über ihrer Bildnisse von Stuck lässt sich vermutlich durch ihre Ablehnung ihres ›Femme fatale‹-Image begründen.837 In der kunsthistorischen Forschung wurden Tilla Durieux als Circe und Stucks andere ›Femme fatale‹-Darstellungen unterschiedlich gedeutet. Bei Ostini ist die Geschlechterdiskussion der Jahrhundertwende spürbar, da er 1909 schreibt, bei Stuck erscheine »das Weib als der stärkere und bedeutendere Vertreter der menschlichen Rasse, das Weib als elementare Macht.«838 Ostini zählt Tilla Durieux als Circe zu Stucks »Vollblutweiber[n]«839, die er als »[…] animalische Schönheiten, Weiber von exotischem Reiz, vom Zauber zügelloser Wildheit […]«840 beschreibt. Voss interpretiert Stucks Themenwelt in seinem Werkverzeichnis 1973 als Sublimation, das heißt als Projektion unterdrückter Triebe im Sinne der Psychoanalyse Freuds.841 Diese Interpretation ist nicht haltbar. Der Grund für die weite Verbreitung des Frauentypus der ›Femme fatale‹ in der Kunst und Literatur der Jahrhundertwende liegt nicht in persönlichen Konflikten und Problemen der Künstler mit dem weiblichen Geschlecht, sondern ist dem »soziale[n] Umbruch« in dieser Zeit geschuldet.842 Laut Vogelberg ist Stucks formale Gestaltung der Durieux-Porträts durch die Kongruenz seines künstlerischen Selbstverständnisses und ihrer stilisierten

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die Nazarener. Vgl. dazu: Koeltz, Ulrike: Vittoria Caldoni. Modell und Identifikationsfigur des 19. Jahrhunderts, Diss., Frankfurt am Main 2010. Gross-Roath stellt fest, dass Stuck in einigen Gemälden »dem Betrachter die Funktion einer ursprünglich in der Geschichte vorkommenden Person« zuweist, d. h. er »[denkt] den Betrachter vor dem Bild mit […]«. Gross-Roath 1999, S. 204. Vgl. Brandlhuber 2008, S. 86. Vgl. Wäcker 1993, S. 161. »Und Franz von Stuck hat mich während des Engagements mehrfach als Circe gemalt, und die Bilder und Skizzen dazu sind allgemein bekannt geworden. Nach meinem Geschmack waren sie nicht.« Durieux 1979, S. 167. Ostini, Fritz von: Franz von Stuck. Gesamtwerk, München 1909, S. 10. Ostini 1909, S. 10. Ostini 1909, S. 11. Vgl. Voss 1973, S. 13. Vgl. Gross-Roath 1999, S. 190. Vgl. dazu auch: Brandlhuber/Buhrs 2008, S. 86.

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Spielweise begründet.843 Diese These ist jedoch kaum belegbar. Zwar war Stilisierung ein Merkmal von Durieux’ Darstellungsstil, aber auch Stucks Malstil folgte diesem Prinzip. Es ist schwer zu beurteilen, ob Stuck Durieux auch so gemalt hätte, wenn sie anders gespielt hätte. Zumindest ähneln Stucks Versionen von Tilla Durieux als Circe stark seinen anderen biblischen, mythologischen und historischen ›Femme fatale‹-Darstellungen. Auch Durieux’ Selbstinszenierung in Stucks fotografischen Vorstudien fiel vermutlich gering aus, da Stuck im Fotoatelier als Regisseur der Aufnahmen mit Blick auf die geplanten Porträts fungierte. Es ist jedoch vorstellbar, dass Stuck Durieux als Modell wählte, weil ihre Spielweise seinen künstlerischen Vorstellungen entgegenkam. Stucks Darstellung stimmt mit Kerrs Beschreibung von Durieux’ Erscheinung als Gräfin Werdenfels in Der Marquis von Keith überein: »Tilla Durieux (knallrot lodernde Perücke, zinnoberroter Mund im kalk geschminkten Kolombinengesicht) hat die Geistigkeit für eine Werdenfels, auch die Kühle, durch die eine stets wache Erotik flackert.«844 Möglicherweise hatte Stuck einen ähnlichen Eindruck von Durieux als Circe in München auf der Bühne.

V.1.5 Max Slevogt, Tilla Durieux als Weib des Potiphar, 1921 Max Slevogt besaß eine ganz besondere Bedeutung für die Aktivitäten von Paul Cassirer als Kunsthändler und Verleger. Auch privat hatte Slevogt viel Kontakt mit dem Ehepaar Cassirer-Durieux.845 Cassirer und Slevogt kannten sich bereits aus München. 1901 zog Slevogt nach Berlin und wurde von Paul Cassirer unter Vertrag genommen.846 Zwischen 1899 und 1924 war er insgesamt 38 Mal in der Galerie von Paul Cassirer ausgestellt.847 Er arbeitete als Buchillustrator für den Paul Cassirer Verlag und die Pan-Presse848 und lieferte Beiträge für die Zeitschrift Pan. Außerdem war er Mitherausgeber der pazifistischen Zeitschrift Der Bildermann und für die Kriegszeit tätig, die im Paul Cassirer Verlag herausgegeben 843 »Franz von Stuck gelingt eine Verdichtung des Themas ›dämonische Verlockung‹. Die Figur wird zu einem Symbol, worin sowohl die eigentliche Kunstleistung der Schauspielerin Tilla Durieux als nicht zuletzt auch die des Malers zu sehen ist. Denn um zu jenem äußerlichen Eindruck zu gelangen, ist zuvorderst Stilisierung im Sinne von willentlicher Vereinfachung und damit Entindividualisierung seitens der Schauspielerin nötig.« Vogelberg 2005, S. 329. 844 Kerr, Alfred: Der Marquis von Keith, in: Berliner Tageblatt, 25. März 1920, zit. nach: Rühle, Günther : Theater für die Republik 1917–1933. Im Spiegel der Kritik, Frankfurt am Main 1967, S. 214. 845 In ihrer Autobiographie berichtet Durieux von einem Besuch Slevogts in Noordwijk 1908/ 09. Vgl. Durieux 1979, S. 152–153. 846 Vgl. Achenbach 2006, S. 59. 847 Hoffmeister 1992b, S. 118. 848 Hoffmeister 1992a, S. 122.

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wurden849. Auch das Signet des Paul Cassirer Verlags, ein Panther auf einem Baumstumpf, entwarf Slevogt.850 Seit seinem Umzug nach Berlin war Slevogt, wie Cassirer, Mitglied der ›Berliner Secession‹ und saß seit 1902 im Vorstand. Von 1893–1912 war Slevogt außerdem Mitglied der ›Münchner Secession‹. Bei der Spaltung der ›Berliner Secession‹ 1913 wurde Slevogt Mitglied der ›Freien Secession Berlin‹.851 Slevogt schuf zahlreiche Porträts von Durieux, darunter auch ein Rollenporträt als Potiphars Frau in der Josephslegende (Abb. 6).

V.1.5.1 Bildbeschreibung und Analyse Durieux wird als Ganzkörperfigur im Profil nach rechts in weit ausgreifender Schrittstellung gezeigt. Die Beine sind leicht gebeugt, das Gewicht lastet auf dem vorgestellten rechten Bein, während der linke Fuß den Boden nur mit den Zehenspitzen berührt. Der Oberkörper ist nach vorne gelehnt, so dass der Rücken gekrümmt wird. Durch die Drehung des linken Arms nach hinten über die linke Schulter wird der Profilansicht des Gesichts in der Darstellung des Körpers leicht entgegengewirkt. Der linke Arm ist nach hinten gestreckt und die Hand unnatürlich nach oben gebogen. In der Hand des rechten abgewinkelten Arms hält Durieux einen Gegenstand vor dem Oberkörper. Sie trägt eine lilafarbene Kopfbedeckung, ist barfuß und mit einem bodenlangen, ärmellosen, weißblauen Gewand bekleidet. Der Bildraum ist in Boden und Wand geteilt, sonst aber nicht näher definiert. Die Malweise ist durch breite, kurze Pinselstriche in gegensätzlichen Bewegungsrichtungen bestimmt. Die Palette ist auf wenige Farbtöne beschränkt. Der Hintergrund wird durch aneinander gesetzte Pinselstriche in dunklen Farben, vor allem durch Brauntöne, gebildet und lässt die Leinwand an einigen Stellen durchscheinen. Durch den kurzen, schnellen Duktus scheint das Kleid in changierenden Weißtönen im Licht der Lampe zu schillern.852 Die helle Figur hebt sich vom dunklen Hintergrund ab und wirft einen hellen Schatten hinter sich auf den Boden. Stellenweise ist die Figur von einer dunklen Kontur eingefasst. Durieux’ Gesicht ist ähnlich abstrahiert wie die gesamte Figur wiedergegeben und wirkt durch die dunkle Augenhöhle maskenhaft. Das schmale Hochformat der Leinwand und die Diagonale von links unten nach rechts oben, die der Körper bildet, verstärken die Vorwärtsbewegung der Figur. Unterstützt wird dies von der übereinstimmenden Richtung der Pinselstriche. Der zurückgeworfene Kopf und der nach hinten gestreckte Arm sind der vorwärtsstrebenden Bewegungsrichtung des Körpers entgegen gesetzt. 849 850 851 852

Probst 2003. Vgl. Feilchenfeldt/Brandis 2002, S. 15. Mitgliederverzeichnisse der Secessionen gibt es im Anhang bei: Best 2000, S. 481–668. Vgl. Schenk 2005, S. 155.

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Die bildbestimmende Diagonale trägt in Kombination mit dem gestischen Duktus zu einem dynamischen Gesamteindruck der Komposition bei. Slevogts Porträt ist von Durieux’ 1921 gespielter Rolle als Potiphars Frau in dem Ballett Josephslegende inspiriert.853 Der von Slevogt für das Rollenporträt ausgewählte Moment in der Szene IX, in der sich Potiphars Frau nachts an Josephs Lager schleicht, um ihn zu verführen, stellt den Wendepunkt des Balletts dar. Es ist ein besonders ausdrucksstarker Moment der Handlung, da die weibliche Hauptfigur den inneren Kampf um ihr Verlangen nach dem keuschen Joseph und schließlich den Sieg ihrer Triebe über die Vernunft veranschaulichen muss. Im Libretto lautet die Szenenbeschreibung wie folgt: »Da tut sich die Tür rechts im Portal auf und Potiphars Frau, in einem weissen, fliessenden Gewande, die Perlenstränge noch im Haar, schleicht herein. In der Hand hält sie eine antike Lampe.«854

Der Gegenstand in der rechten Hand der Figur ist folglich eine Öllampe. Die im Libretto vorgeschriebene schleichende Bewegung setzt Slevogt durch die gebeugten Beine und den vorgeneigten Oberkörper um. Die dort genannten Perlenstränge im Haar sind durch eine Haube auf ihrem Kopf, die Durieux auch auf der Fotopostkarte als Potiphars Frau855 trägt und die später noch genauer besprochen wird, ersetzt. Die Lampe ist das einzige Attribut in Slevogts Gemälde. Sie ist kein eindeutiger Hinweis auf Potiphars Frau, war aber für die Zeitgenossen durch die weit verbreiteten Rollenfotografien wohl gut zu identifizieren.

V.1.5.2 Werkentstehung Das Datum in der rechten oberen Bildecke »21. II 21« (Abb. 6) verweist auf Paul Cassirers 50. Geburtstag am 21. Februar 1921. Die Widmung »z. Erinnerung Max Slevogt« auf der Leinwand legt nahe, dass das Bildnis ein Geburtstagsgeschenk Slevogts an seinen Freund und Kunsthändler war.856 Auch an diesem Tag trat Durieux in der Josephslegende auf.857 Das Rollenporträt wurde folglich un853 Josephslegende von Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler und Richard Strauss, Berlin: Preußische Staatsoper, Premiere: 4. Februar 1921 (Deutsche Erstaufführung), Ausstattung: Erwin Pirchan, Choreographie: Heinrich Kröller, Musikalische Leitung: Richard Strauss, Rolle: Potiphars Frau (Gast). 854 Hofmannsthal, Hugo von/Kessler, Harry Graf: Josephslegende, in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Ballette, Pantomimen, Filmszenarien, Bd. 27, hg. v. Gisela Bärbel Schmid, Frankfurt am Main 2006, S. 63–85, hier: S. 79. 855 Becker & Maaß, Tilla Durieux als Potiphars Weib in der Josephslegende, 1921, Fotografie, Österreichisches Theatermuseum, Wien, Inv.Nr. FS_PA76285. Abb. in: Frankhäuser/ Krischke/Paas 2007, S. 32. 856 Nach Cassirers Tod verblieb es bis 1955 in Durieux’ Besitz. Näheres dazu siehe Kapitel VII.2. 857 Vgl. Durieux 1979, S. 303.

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mittelbar von der deutschen Erstaufführung des Balletts 1921 in der Berliner Staatsoper mit Tilla Durieux in der weiblichen Hauptrolle angeregt. Slevogt zeichnete Durieux während der Proben vor Ort im Theater.858 Basierend auf diesen Zeichnungen entstand nicht nur das Gemälde (Abb. 6), sondern auch die Lithographien-Mappe Theaterskizzen. Tilla Durieux als Weib des Potiphar, die 1931 auf der Grundlage der Skizzen von 1921 gedruckt wurde.859 Es ist nicht bekannt, wo die kleine Auflage der Mappe von 10 Exemplaren gedruckt wurde, da es keinen Prägestempel gibt. Laut Preuß befand sich ein Exemplar der Mappe in Durieux’ Besitz.860 Die 14 Blätter der Lithographien-Mappe zeigen Durieux als Einzelfigur in variierten Momenten der Handlung des Balletts. Slevogt hält Durieux’ ausdrucksstarke Mimik, Gestik und Körperhaltung in unterschiedlichsten Posen fest. Die Graphiken sind Zeugnisse für die intensive Auseinandersetzung von Slevogt mit Durieux’ Schauspielerei. Meistens sind mehrere Figuren oder auch nur Köpfe auf einem Blatt zusammengestellt. Die Zeichnungen sind weitgehend auf die Linie reduziert und soweit abstrahiert, dass keine individuellen Gesichtszüge erkennbar sind. In mindestens zwei Skizzen stellt Slevogt die nächtliche Einzelszene aus dem Gemälde dar. Die Pose auf Blatt 1 der Mappe, das auch als Deckblatt dient, entspricht genau der Pose auf dem Gemälde (Abb. 6). Auf beiden Darstellungen hält die Figur eine Lampe in der rechten Hand. Ebenso zeigt das Blatt 8 die Figur in dieser Haltung. Im Grafischen Nachlass von Slevogt im Landesmuseum Mainz befindet sich eine einzelne Bleistiftzeichnung von 1921, die motivisch mit Blatt 1 der Mappe übereinstimmt (Abb. 7). Daher handelt es sich bei dieser Zeichnung vermutlich um eine der Vorzeichnungen für die 10 Jahre später ausgeführte Lithographien-Mappe. Außerdem bot das Auktionshaus Reiss & Sohn 2008 Handzeichnungen von Slevogt an unter dem Titel Theaterskizzen. Tilla Durieux als Weib Potiphar861, bestehend aus einer »Folge von Kreidezeichnungen auf unterschiedlichen Papieren. […] Zusammen in ein Album mit 12 Bll. chamoisfarbenem Papier geklebt«.862 Teilweise sind die Blätter mit braunem Farbstift römisch nummeriert. Die einzige Aufnahme, die nach Auskunft vom Auktionshaus Reiss & Sohn dort gemacht wurde, entspricht motivisch der linken Hälfte 858 Vgl. Imiela 1968, S. 246. 859 Max Slevogt, Theaterskizzen. Tilla Durieux als Weib des Potiphar, 1921/1931, 14 Lithographien auf Bütten und eine Lithographie als Deckblatt, 29,5 x 39 cm, handsigniert, Auflage 10 Exemplare,u. a. GDKE Rheinland-Pfalz, Landesmuseum Mainz, Inv.Nr. GS 1984/ 150. Abb. in: Söhn 2002, S. 342–343; Deckblatt Abb. in: Frankhäuser/Krischke/Paas 2007, S. 90. 860 Vgl. Preuß 1965, S. 120. 861 Max Slevogt, Theaterskizzen. Tilla Durieux als Weib des Potiphar, 1921, 24 Kreidezeichnungen in einem Album mit 12 Blättern, 16,5 x 9,5/27 x 29 cm, Privatbesitz. 862 Auskunft von Frau Katharina Arlt vom Auktionshaus Reiss& Sohn. E-Mail vom 21. 10. 2013. Für den Hinweis bedanke ich mich bei Carola Schenk.

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von Blatt 6 der Mappe. Da die Anzahl von 12 Blättern und 24 Zeichnungen annähernd mit derjenigen der Lithographien-Mappe übereinstimmt, handelt es sich wohl ebenfalls um Vorzeichnungen für die 1931 gedruckte LithographienMappe. Auf der oben bereits genannten Fotopostkarte von Durieux in der Rolle als Potiphars Frau nimmt sie dieselbe Pose wie in Slevogts gemaltem Rollenporträt (Abb. 6) ein. Kleidung, Kopfbedeckung und das Requisit der Lampe stimmen auf Fotopostkarte und Gemälde überein. Die Körperhaltung ist grundsätzlich ähnlich, mit dem nach vorne gebeugten Oberkörper und den gebeugten Beinen, unterscheidet sich aber in diversen Details. Am deutlichsten wird das in dem im Gemälde nach hinten gestreckten Arm erkennbar, der auf der Fotografie vom Körper verdeckt ist. Außerdem ist der Körper im Gemälde aus der reinen Profilansicht der Fotografie herausgedreht. Auf dem Gemälde ist das rechte Bein vorne, auf der Fotografie das linke. Der Kopf ist auf dem Gemälde zurückgeworfen, auf der Fotografie ist er gerade. Im Vergleich mit der Fotopostkarte wird die schauspielerische Energie von Durieux in dieser Szene in Slevogts Gemälde deutlicher spürbar. Es ist um einiges ausdrucksstärker und fängt den flüchtigen Moment der Aufführung daher besser ein als die Fotografie. Die Fotopostkarte war zur kommerziellen Massenverbreitung gedacht und daher vermutlich auch Slevogt bekannt. Es ist jedoch überliefert, dass Slevogt vor Ort im Theater zeichnete und diese Szene somit mit eigenen Augen auf der Bühne sah. Wie bereits gesagt wurde, handelt es sich hier um den Höhepunkt des Stücks, der die Psychologie der weiblichen Hauptfigur auslotet und eine schauspielerische Herausforderung für Durieux darstellte. Folglich suchte Slevogt vermutlich unabhängig von der Fotopostkarte denselben Moment für sein Rollenporträt aus, ohne sie als direktes Vorbild zu verwenden.

V.1.5.3 Dramatische Vorlage und Inszenierung an der Preußischen Staatsoper In der Bibel wird die Begegnung zwischen Joseph und Potiphars Frau in Gen 39, 7–23 geschildert, Schauplatz ist Ägypten.863 Die Frau des Potiphar, die keinen Namen trägt, versucht den keuschen Knaben zu verführen, der sie jedoch zurückweist. Daraufhin beschuldigt sie ihn, sie bedrängt zu haben und lässt ihn ins Gefängnis werfen. In der alttestamentarischen Geschichte ist die von Slevogt für sein Rollenporträt von Durieux ausgewählte nächtliche Szene, in der Potiphars Frau zum Lager des Joseph schleicht, nicht enthalten. 863 Auch im Judentum und im Islam existiert die Episode, in der islamischen Überlieferung heißt Potiphars Frau Zulaikha. Vgl. Beyer, Vera/Weis, Friederike/Schulze Altcappenberg, Hein-Thomas (Hg.): Joseph und Zulaihka. Beziehungsgeschichten zwischen Indien, Persien und Europa, Ausst.kat., Neu-Isenburg 2014, S. 10.

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Die als Ballett oder Tanzpantomime ausgewiesene Josephslegende entstand in Zusammenarbeit von Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), Harry Graf Kessler und Richard Strauss (1864–1949).864 Kessler nahm auf verschiedene Arten Einfluss auf das Kunst- und Kulturgeschehen seiner Zeit. Er unterstützte zahlreiche Künstler finanziell, wurde 1903 erster Vizepräsident des im selben Jahr in Weimar gegründeten ›Deutschen Künstlerbunds‹865 und war ein wichtiger finanzieller Förderer der ›Berliner Secession‹ und somit auch gut mit Paul Cassirer bekannt.866 Kessler sah 1909 die Ballets Russes in Paris und war überwältigt. Er berichtete Hofmannsthal brieflich von ihrem Auftritt und unterbreitete ihm seine Idee, unter Einbeziehung von Richard Strauss, ein Ballett für die Truppe zu machen.867 Der Direktor der Ballets Russes, Sergej Diaghilew (1872–1929), stimmte zu und erteilte Kessler 1911 den Auftrag für ein Ballett.868 1912 trafen Kessler und Hofmannsthal mit Diaghilew und Waslaw Nijinsky (1889–1950), dem Star des Ensembles, in Paris zusammen.869 Diaghilew forderte ein biblisches Thema für bereits vorhandene Dekorationen und Kostüme. Kessler hielt diese Vorgaben von Diaghilew 1912 in seinem Tagebuch fest: »Dekoration und Kostüme seien im Stil des Paolo Veronese, die Dekoration eine grosse Palladiosche Säulenhalle mit einer erhöhten Loggia hinten, wie auf Veroneses Hochzeit zu Cana, die Kostüme zum Teil venezianisch, zum Teil orientalisch.«870

Hofmannsthal und Kessler beschlossen das Libretto gemeinsam zu schreiben.871 Auf Diaghilews Vorgabe basierend wurde die Geschichte von Joseph und Po864 Zur Entstehungsgeschichte der Josephslegende siehe Schuster 2005, S. 55–71. 865 Der ›Deutsche Künstlerbund‹ war ein Zusammenschluss deutscher Künstler, die in Opposition zur wilhelminischen Kunstpolitik standen und sich durch diese Gründung ein eigenständiges Ausstellungsorgan schaffen wollten. Viele Mitglieder waren gleichzeitig Mitglieder der ›Berliner Secession‹ sowie der ›Münchner Secession‹. Die Gründung des ›Deutschen Künstlerbunds‹ kam nach Best einer Institutionalisierung der Secessionen gleich. Vgl. Best 2000, S. 343–353. 866 Vgl. Best 2000, S. 123. Kessler kannte auch Durieux und besuchte Aufführungen mit ihr. Tagebucheintrag vom 6. 5. 1920. Kessler, Harry Graf: Das Tagebuch (1880–1937), Bd. 7 1919–1923, hg. v. Angela Reinthal, Stuttgart 2007, S. 306. 867 Kessler an Hofmannsthal, 28. 5. 1909 und 5. 6. 1909. Burger, Hilde (Hg.): Hugo von Hofmannsthal – Harry Graf Kessler, Briefwechsel 1898–1929, Frankfurt am Main 1968, S. 233– 240, 245. 868 Kessler an Hofmannsthal, 25. 6. 1911: »Diaghilew hat mich inzwischen beauftragt, dich um ein Ballett mit Musik von Strauss für Nijinsky (Hauptrolle) zu bitten.« Burger 1968, S. 331. 869 Vgl. Schuster 2005, S. 61. 870 Tagebucheintrag vom 3. 6. 1912. Kessler, Harry Graf: Das Tagebuch (1880–1937), Bd. 4 1906–1914, hg. v. Jörg Schuster, Stuttgart 2005, S. 841. Einmal mehr offenbart sich hier die enge Verbindung von Theater und bildender Kunst. Das Bühnenbild der Josephslegende orientierte sich an den Künstlern Veronese und Palladio. Kessler und Hofmannsthal besuchten nach dem Treffen den Louvre und schauten sich Veroneses Hochzeit zu Kana an. 871 Vgl. Burger 1968, S. 333.

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tiphars Frau als Thema gewählt.872 Der Part des Joseph wurde Nijinsky auf den Leib geschrieben.873 Die Frage nach der Autorschaft des Librettos ist schwer zu beantworten. Laut Schuster habe Kessler die Planung der Josephslegende bald alleine übernommen und zwischen Strauss, Diaghilew und Nijinsky koordiniert. Hofmannsthal dagegen habe sich von dem Projekt zurückgezogen.874 Durch Hofmannsthals Vermittlung komponierte Richard Strauss von 1912 bis 1913 die Musik für die Josephslegende875 und dirigierte bei der Pariser Uraufführung 1914. Außer im selben Jahr in London kam das Ballett danach wegen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs für längere Zeit nicht mehr zur Aufführung.876 Erst 1921 hatte die Josephslegende ihre deutsche Premiere in der Preußischen Staatsoper in Berlin mit Tilla Durieux in der weiblichen Hauptrolle als Potiphars Frau und Heinrich Kröller (1880–1930) als Joseph.877 In der Josephslegende bilden Musik, Tanz und Pantomime eine Einheit.878 Die Frau des Potiphar ist die einzige Rolle, die nicht getanzt, sondern pantomimisch dargestellt wird.879 Die biblische Vorlage erfuhr entscheidende Veränderungen bei der Bearbeitung für das Ballett. Zu Beginn der Handlung werden Potiphar und seine gelangweilte Frau in ihrem Palast mit diversen Darbietungen unterhalten. Joseph ist einer der Auftretenden und weckt mit seinen Tänzen die Begierde von Potiphars Frau. Nach 872 Kessler und Hofmannsthal beanspruchten später beide die Idee für das Thema für sich. Vgl. Schuster 2005, S. 63. 873 Nach einem Zerwürfnis zwischen Diaghilew und Nijinsky wurde Nijinsky jedoch in der Pariser Uraufführung durch L8onide Massine (1896–1979) ersetzt. 874 Vgl. Schuster 2005, S. 64. Schnitzler schreibt zur Frage der Autorschaft: »Hofmannsthal hat zwar stets den weitaus größten Arbeitsanteil Kessler zugesprochen, aber die Idee zur Verwendung des Joseph-Stoffes später für sich selbst reklamiert. Die nun vorliegende Kritische Ausgabe macht deutlich, daß wohl auch die Stoff-Idee nicht von Hofmannsthal stammt und er ohnehin nicht sehr viel zu diesem Ballett beigetragen hat.« Schnitzler, Günter : Hofmannsthal, Kessler, Strauss: Die Josephslegende. Intermedialität und divergierende ästhetische Konzepte, in: Der Tanz in den Künsten 1770–1914, hg. v. Achim Aurnhammer und Günter Schnitzler, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien 2009, S. 307–344, hier: S. 310. 875 Vgl. Schuster 2005, S. 61. 876 Vgl. Easton, Laird McLeod: Der rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit, Stuttgart 2005, S. 265. 877 Vgl. Schmid, Gisela Bärbel: Die Entstehung der Josephslegende, in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Ballette, Pantomimen, Filmszenarien, Bd. 27, hg. v. ders., Frankfurt am Main 2006, S. 392–404, hier : S. 404. Gleichzeitig spielte Durieux in Oscar Wildes Ein idealer Gatte am Lessing-Theater. Diese Doppelbesetzung war ein Werbefaktor, den Durieux bestätigt: »Den Berlinern machte diese Doppelbesetzung mächtigen Spaß, und es wurde ein Sport, mir zu folgen und sich nach der ›Josephslegende‹ auch den ›Idealen Gatten‹ anzusehen.« Durieux 1979, S. 303. 878 Vgl. Schuster 2005, S. 69. 879 Hofmannsthal trat in seinen theoretischen Schriften für die Bevorzugung der Sprache des Körpers gegenüber der Sprache der Worte ein. Vgl. Senti-Schmidlin 2007, S. 143. In seinen Publikationen über Ruth St. Denis, Nijinsky und Sada Yakko hob er das Pantomimische ihrer Schöpfungen hervor und schuf Tanzpantomimen für die Tänzerin Grete Wiesenthal. Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Die Berührung der Sphären, Berlin 1931, S. 162.

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langem inneren Kampf gibt sie ihren Trieben nach und geht nachts zum Lager des schlafenden Joseph, um ihn zu verführen. Als er sie zurückweist, lässt sie ihn einsperren. Anders als in der Bibel stirbt Potiphars Frau in dem Ballett am Ende. Sie stranguliert sich mit ihren Perlen, da sie Joseph weder besitzen noch zerstören kann. Joseph wird von einem Engel aus dem Gefängnis befreit und steigt in den Himmel auf. Die Figur der Frau des Potiphar wird in der Josephslegende im Vergleich zur biblischen Geschichte durch psychologische Vertiefung zu einer echten ›Femme fatale‹.880 Ähnlich wie bei Wildes Salome, führt das Scheitern ihres Annäherungsversuchs zu einem Gefühlswandel von Liebe zu Hass, der die Ursache für das weitere Handeln wird.881 Wie bei der Figur der Circe, ist auch Potiphars Frau letztendlich für sich selbst am verhängnisvollsten, da sie mit dem Tod bezahlt. Durieux sah nach eigener Aussage in dieser Rolle eine neuartige Aufgabe und gleichzeitig »einen Höhepunkt [ihres] künstlerischen Schaffens« und »eine der interessantesten Aufgaben, die [ihr] je geboten wurden.«882 Kessler schildert die Premiere der Josephslegende in seinem Tagebuch als großen Erfolg und gesellschaftliches Ereignis, zu dem jeder, der in Berlin Rang und Namen hatte, erschien883 : »Premiere des Joseph unter Straussens Leitung. Ungeheuer, fast unerhörter Erfolg. Der Saal ein wahres ›Tout Berlin‹; der Reichskanzler (Fehrenbach), Simons, Seeckt, viele Minister, alle gesellschaftlichen, künstlerischen, literarischen Spitzen, Albert Einstein etc. etc. Der Applaus am Schluss wollte nicht enden. Wir mussten immer wieder heraus. Die Durieux über Alles Lob erhaben.«884

Durieux’ Interpretation der Frau des Potiphar wurde in den Rezensionen durchwegs positiv beurteilt. Mehrere Kritiker griffen auf Tiervergleiche zurück, so z. B. in der Täglichen Rundschau: »Und Tilla Durieux schuf das Gegenbild in dämonischer Grausamkeit. Ihren Körper, Katze und Schlange zu gleich, beherrschte sie meisterlich. Ihre Mimik ist unendlich reich, von betörender Kalt-

880 Vgl. Easton 2005, S. 258. Aufgrund der geografischen Verortung der Geschichte im Orient ist Potiphars Frau, genauso wie Salome, eine exotische ›Femme fatale‹. 881 Vgl. Schmid, Gisela Bärbel: Psychologische Umdeutung biblischer Archetypen im Geist des Fin de siHcle. Zur Entstehung der Josephslegende, in: Hofmannsthal-Blätter, hg. v. Leonhard M. Fiedler, Heft 35/36, 1987, Frankfurt am Main 1989, S. 105–113, hier : S. 108. 882 Durieux, Tilla: »Vor jeder neuen Rolle stehe ich mit den Gefühlen der Schülerin…«, in: unbekannte Quelle, Bremen Dezember 1921, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 583.3. 883 Im Gegensatz dazu schreibt Schuster, dass die Presse bei der Uraufführung der Josephslegende auf Grund der inhaltlichen und ausstatterischen Überladung des Stücks »fast einstimmig ablehnend« reagiert habe. Schuster 2005, S. 67. 884 Tagebucheintrag vom 4. 2. 1921. Kessler 2007, Bd. 7, S. 349.

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herzigkeit im Ausdruck.«885 Alle Kritiker attestierten ihr eine pantomimische Begabung. In der Deutschen Warte stand: »Tilla Durieux, mit lüstern zitterndem Munde, lauerndem Blick, sinnlich vibrierenden Händen, bot…eine Meisterleistung. Das Spiel ihrer bewegten, die Haltung ihrer regungslosen stets ausdrucksvollen Hände zu betrachten, heißt bewundern.«886

Und in der B.Z. am Mittag hieß es: »…mit dem leicht aufgeworfenen Näschen, das Begierde und Energie verrät. Mit dem schlanken biegsamen Leib, der Josephs Glieder umschmeichelt, umkriecht. […] Eine erstaunliche Leistung in Reichtum der Mimik, Plastik der Bewegung […].«887

Ähnlich war im Berliner Börsen-Courier zu lesen: »Frau Durieux kam von Strindberg und Wilde für einige Zeit zu diesem ›Joseph‹. Knabenhafte Geschmeidigkeit, formbewußte Sinnlichkeit, scharfe, körperliche Bestimmtheit sprechen aus ihrer Potipharfrau, in einem gut gestellten realistischen Kontrast zum Tanz und Stil von Kröller selbst.«888

1954 wurde anlässlich von Durieux’ Rückkehr nach Deutschland in einem Zeitungsartikel ihre Schauspielerei anhand ihrer Rolle als Potiphars Frau ins Gedächtnis gerufen: »Und daher wird eine ihrer Gestalten vor allen anderen unvergesslich bleiben, weil sie die Inkarnation dessen darstellte, was die Durieux sonst tropfenweise durch das Wort verabreichte, was sie hier aber gleichsam zusammengeballt durch die Bewegung und Pantomime geben konnte. […] Mit hungrigen Augen berauschte sie sich an dem tanzenden Joseph, mit gierig-zitternden Händen griff sie nach seinem Gewand, um […] im Gesichtsausdruck von knisternder Lüsternheit zu flammendem Zorn zu wechseln, sobald sie sich verschmäht sah.«889

Johannes Guthmann schloss sich ebenfalls rückblickend diesem Lob für die hervorragende Leistung von Durieux in der Rolle als Potiphars Frau an: »Es war nicht aufs Geratewohl, daß ich ihr in späteren Jahrzehnten auf ihre Frage, worin sie mir am besten gefallen habe, das Weib des Potiphar in der ›Josephslegende‹ nannte. Sie nahm die Eloge mit Genugtuung auf. Die Aufgabe, die Richard Strauss hier stellte, war der der Salome verwandt. Es war eine virtuose Leistung. Als Tänzerin überragte sie 885 Anonym: Josephslegende, in: Tägliche Rundschau, 1921, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 19. 886 Lb.: Josephslegende, in: Deutsche Warte, 1921, zit. nach: Preuß 1965a, S. 91. 887 Urban, Erich: Josephslegende, in: B.Z. am Mittag, Berlin 1921, zit. nach: Preuß 1965a, S. 91. 888 Bie, Oscar : Josephslegende, in: Berliner Börsen-Courier, Februar 1921, AdK, Berlin, TillaDurieux-Archiv, Nr. 521, S. 19. 889 Schulz-Rehden, Gerhard: Die Kunst der halben Töne – Ein Bild der Schauspielerin Tilla Durieux, in: Norddeutsche Zeitung, Hannover, 20. April 1954, AdK, Berlin, Tilla-DurieuxArchiv, Nr. 582.2.

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alle Kolleginnen vom Theater, als Schauspielerin alle Tänzerinnen von Beruf durch ihre hohe künstlerische Intelligenz und ihre dramatische Fähigkeit sich darzustellen.«890

V.1.5.4 Potiphars Frau-Darstellungen Die frühesten erhaltenen Darstellungen der Begegnung von Joseph und Potiphars Frau finden sich im byzantinischen Kulturkreis im sakralen Bereich und gelten als Vorbilder für die abendländische Kunst der frühchristlichen Epoche.891 Seit dem 16. Jahrhundert erfreute sich die Verführungsszene (als Einzelszene oder Teil eines Zyklus) auch im profanen Bereich großer Beliebtheit.892 Die gängigen Darstellungstypen sind im Ablauf der Erzählung zeitlich nach dem von Slevogt veranschaulichten Moment einzuordnen. Am häufigsten wird die Verführungsszene dargestellt, in der Potiphars Frau vom Bett aus nach Josephs Mantel greift. Der andere Typus zeigt den Moment nach der Verführung, die Anklage Josephs durch Potiphar und seine Frau.893 Neben Slevogt stellte noch ein weiterer Durieux-Porträtist, Emil Orlik, Durieux als Ganzkörperfigur in der Rolle als Potiphars Frau dar (Abb. 8). Es handelt sich um das Blatt 6 von Orliks Graphik-Mappe Spielen und Träumen, bestehend aus fünf Radierungen und einer Lithographie, die 1922 im Verlag der Galerie Flechtheim zusammen mit einem Text von Durieux erschien. Bei einem Vergleich mit Slevogts Gemälde (Abb. 6) fällt die Übereinstimmung des ausgewählten Moments der beiden Künstler ins Auge. Auch bei Orlik erscheint die Figur im Profil nach rechts, hält eine Lampe in der rechten Hand und streckt den linken Arm nach hinten. Überdies entspricht die Bekleidung mit einem halbärmeligen Kleid und einer Haube auf dem Kopf derjenigen in Slevogts Porträt. Der schwarze Bildgrund bei Orlik, von dem sich die weiße Umrisslinie der Figur abhebt, verweist auf die nächtliche Stunde und symbolisiert die dunkle Begierde 890 Guthmann, Johannes: Goldene Frucht. Begegnungen mit Menschen, Gärten und Häusern, Tübingen 1955, S. 212. 891 Vgl. Kuhn-Wengemayr, Annemarie: Die Darstellung der Geschichte und Gestalt des egyptischen Joseph in der bildenden Kunst, Diss., München 1952, S. 1. 892 Vgl. Kuhn-Wengemayr 1952, S. 111–112. Ullrich zeichnet die Kulturgeschichte der Begegnung von Potiphars Frau und Joseph von der Antike bis zur Gegenwart nach und hat einen Katalog mit bildnerischen Darstellungen erstellt. Ullrich, Elke: Das Laszive der Keuschheit in der europäischen Kunst. Die Frau des Potiphar und Joseph von Ägypten, Diss., Kassel 2009. 893 Vgl. Kuhn-Wengemayr 1952, S. 94. Rembrandt verwendet die beiden gängigen Darstellungstypen. Rembrandt, Josephs Verführung, 1634, Radierung, 9,1 x 11,6 cm, u. a. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.Nr. 59–16. Rembrandt, Joseph und die Frau des Potiphar, 1655, Öl auf Leinwand, 114 x 90,7 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv.Nr. 828H. Abb. in: Beyer u. a. 2014, S. 19, 34. Rembrandt orientiert sich laut Beyer an indischen und persischen Darstellungen des Themas, »um den Figuren ein ›orientalisches‹ Aussehen zu verleihen«. Beyer u. a. 2014, S. 11.

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von Potiphars Frau. Ihr zögerndes Innehalten wird von beiden Künstlern durch die gegensätzliche Bewegungsrichtung des Körpers verbildlicht. Der große Unterschied zu Slevogts Rollenporträt liegt im Gesicht der Figur, da Orlik Durieux’ Physiognomie individuell gestaltet. Orlik wählte das Motiv noch für eine andere Graphik, auf der nur der Kopf mit der Haube im Profil zu sehen ist.894 Die Kopfzeichnung diente als Menükarte zum 50. Geburtstag von Paul Cassirer, an dem Durieux in der Josephslegende spielte.895 Ein Druck der einfarbigen Lithographie auf Bütten befand sich im Besitz von Durieux. Es gibt keinen Nachweis für eine gegenseitige Beeinflussung von Orlik und Slevogt, die sich über Paul Cassirer und die ›Berliner Secession‹ kannten. Vermutlich wählten die Künstler unabhängig voneinander denselben Moment der von ihnen besuchten Aufführung der Josephslegende, den Wendepunkt des Balletts, für ihr Rollenporträt aus. Offensichtlich überzeugte die Schauspielerin beide Künstler in dieser Szene besonders. 1930 griff Orlik sein Rollenporträt von Durieux als Potiphars Frau noch einmal für eine Menükarte für ein Festmahl des Vereins »Berliner Presse« zu Ehren Max Reinhardts auf.896 Orlik stellt einen großen Schauspielerreigen um das Deutsche Theater dar und zitiert in mehreren Fällen eigene Schauspielerrollenporträts. Tilla Durieux erscheint unten links, neben dem Wort »Max«, im Profil nach rechts als Potiphars Frau mit Haube und Lampe. Von Orlik gibt es eine weitere Graphik, die als Rollenporträt von Durieux als Potiphars Frau gedeutet werden kann, sich aber auf einen anderen Handlungsmoment bezieht.897 Haltung und Kostümierung auf dieser Kreidezeichnung stimmen mit den entsprechenden Rollenfotografien von Durieux überein, die in Kapitel V.4.2.5 vorgestellt werden.898 Auch hier legt Orlik den Akzent auf die Wiedergabe der Körpersprache der Schauspielerin. Lovis Corinth beschäftigte sich 1914 in Joseph und Potiphars Weib II899 ebenfalls mit der Thematik. Die Frau des Potiphar liegt nackt auf einem Bett, hat den Mantel des vor ihr stehenden Joseph gepackt und zieht ihn zwischen ihren 894 Emil Orlik, Tilla Durieux als Potiphar, um 1921, Farblithographie, 12 x 12 cm, u. a. Jüdisches Museum Prag, Inv.Nr. 79.439. Abb. in: Parˇ&k, Arno (Hg.): Emil Orlik. Portraits of friends and contemporaries, Ausst.kat., Prag 2004, S. 55. 895 Vgl. Ahrens 2001, S. 275. 896 Emil Orlik, Menükarte, Festmahl des Vereins »Berliner Presse« zu Ehren Max Reinhardts, 1930, Zinkographie, 20,9 x 14,7 cm, u. a. Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Regensburg, Inv.Nr. 15959. 897 Emil Orlik, Tilla Durieux (als Potiphars Frau?), o. J., Schwarze Kreide, 26 x 22,1 cm, Stadtmuseum Berlin, Inv.Nr. GHZ 66/30,12. Bei Ahrens ist die Zeichnung als Porträt von Jarmila Novotna als Helena bezeichnet. Vgl. Ahrens 2011, S. 234. 898 Becker & Maaß, Tilla Durieux als Potiphars Frau, 1921, Fotografie, Österreichisches Theatermuseum Wien, Inv.Nr. FS_PA160249. 899 Lovis Corinth, Joseph und Potiphars Weib (II. Fassung), 1914, Öl auf Leinwand, 77 x 62 cm, Kunstmuseen Krefeld, Inv.Nr. GV 1952/350. Abb. in: Lorenz/Salm-Salm/Schmidt, S. 142.

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Beinen zu sich heran. Sie lächelt ihn begierig mit offenem Mund an, während er sich mit entsetztem Gesichtsausdruck und abwehrender Geste gegen diesen Übergriff zur Wehr setzt. Der Gegensatz zwischen der hellen Haut der Frau und der dunklen Kleidung des Mannes verdeutlicht das antithetische Verhalten der beiden während der versuchten Verführung. Da Potiphars Frau es bereits fast geschafft hat, Joseph mit ihren Beinen zu umklammern und auf Grund des siegessicheren Gesichtsausdrucks, entsteht der Eindruck von der Übermacht der Frau in dieser Situation. Als Betrachter rechnet man damit, dass es ihr im nächsten Moment gelingen wird, ihn zu sich aufs Bett zu ziehen. Josephs Weigerung ist in seiner zurückweichenden Bewegung angedeutet, verstärkt durch die Beschneidung der Figur durch den Bildrand. Abgesehen von dem vordergründig gemeinsamen Thema bei Slevogt und Corinth, sind in ihren Gemälden hauptsächlich Unterschiede auszumachen. Bei Slevogt handelt es sich um das Porträt der Schauspielerin Tilla Durieux in einer tatsächlichen Rolle, bei Corinth um ein biblisches Historienbild. Slevogts Darstellung ist auf die Einzelfigur der Frau des Potiphar konzentriert, Corinth zeigt zwei interagierende Personen. Slevogt stellt den innehaltenden Moment des inneren Ringens dar, Corinth den Augenblick der biblischen Geschichte, der den höchsten Grad an Aktion enthält. Slevogt lässt die Vielschichtigkeit der Psychologie der Figur aufscheinen, wogegen Corinth die Frau des Potiphar als völlig triebgesteuerte und bedrohliche ›Femme fatale‹ charakterisiert. In zeitlicher Nähe zu Slevogts gemaltem Durieux-Porträt steht das monumentale Porträt von Anton Kolig von der Wiener Hofopernsängerin Marie Gutheil-Schoder (1874–1935) in derselben Rolle.900 Koligs Gutheil-Schoder als Frau Potiphar bezieht sich auf die Erstaufführung des Balletts 1922 an der Wiener Staatsoper. In einem stoffreichen Kleid sitzt die Sängerin auf einem Thron. Es handelt sich folglich um die Einführungsszene des Balletts.901 Die grelle Farbigkeit und die auflösende Malweise überlagern die inhaltliche Bildaussage. Die Körperhaltung und Mimik von Gutheil-Schoder wirken steif und eignen sich daher kaum, einen Eindruck der tatsächlichen Bühnenwirkung zu vermitteln. Im Vergleich mit den besprochenen Vergleichsbildern der Frau des Potiphar zeigt Slevogt einen Handlungsmoment, der sonst kaum verbildlicht wurde. Eine Ausnahme bildet Orliks fast zeitgleiche Aquatintaradierung, die formal mit Slevogts Gemälde und den entsprechenden Blättern seiner Theaterskizzen fast 900 Anton Kolig, Marie Gutheil-Schoder als Potiphars Weib, 1923, Öl auf Leinwand, 230 x 149 cm, Österreichisches Theatermuseum, Wien, Inv.Nr. BT_O_226. Abb. in: Rychlik, Otmar: Anton Kolig 1886–1950. Das malerische Werk, Wien 2001, S. 113. 901 Derselbe Moment ist (vermutlich) in Orliks Kreidezeichnung im Berliner Stadtmuseum (Inv.Nr. GHZ 66/30,12) und in der entsprechenden Rollenfotografie von Durieux aus Kapitel V.4.2.5 dargestellt.

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identisch ist. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Slevogt und Orlik beide Durieux’ Auftritt in der Josephslegende 1921 zum Anlass für ihr Rollenporträt nahmen. Slevogt geht es, genauso wie Orlik, ausschließlich darum, Tilla Durieux isoliert in ihrer Rolle als Potiphars Frau im Porträt festzuhalten. Daher verzichtet er auf eine szenische Einbindung der Figur in das Bühnengeschehen. Slevogt greift bei seiner Bildschöpfung folglich nicht auf eine kunstgeschichtliche Tradition zurück, sondern hält sich in seinem Porträt an das im Theater Gesehene und konzentriert sich auf die weibliche Hauptfigur.

V.1.5.5 Einordnung in Slevogts Gesamtwerk In den Schauspieler-Rollenporträts von Max Slevogt vereinen sich die zwei Bereiche, die den Kern seines Oeuvres bilden, das Porträt und das Theater. Seit seinem Umzug nach Berlin 1901 wurde das Porträt für ihn zu einer Hauptaufgabe.902 Schnell avancierte er zu einem gefragten Porträtisten der Berliner Gesellschaft und schuf bereits im Jahr seiner Übersiedelung nach Berlin ein Porträt von Paul Cassirers Tochter Susanne903, das 1902 im Salon Cassirer ausgestellt wurde.904 Das Theater sowie die Welt der Bühne insgesamt besitzen große Bedeutung im Schaffen von Max Slevogt. An seinem Wirkungsort Berlin herrschten ideale Voraussetzungen für eine Symbiose von Bühne und bildender Kunst. Nicht nur auf der rezeptiven, sondern auch auf der aktiven Ebene beschäftigte ihn das Theater.905 Er arbeitete bei verschiedenen Inszenierungen als Bühnenbildner, u. a. für Max Reinhardt. 1907 schuf er zusammen mit Ernst Stern die Ausstattung für das Stück Gyges und sein Ring, in dem Tilla Durieux die Rolle der Rhodope spielte.906 Slevogt war ein passionierter Theaterbesucher und sah zahlreiche Auftritte von Durieux. Oft skizzierte er während den von ihm besuchten Aufführungen.907 Die zeichnerischen Aufzeichnungen des Gesehenen dienten ihm als Grundlage für Porträts der Protagonisten. Kein anderer Durieux-Porträtist schuf so viele gemalte Schauspielerrollenporträts wie Max Slevogt. Imiela sieht 902 Vgl. Schenk 2005, S. 147. 903 Max Slevogt, Porträt Suzanne Aim8e Cassirer, 1901, Öl auf Leinwand, 98 x 150 cm, Privatbesitz. 904 Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2011b, Bd. 2, S. 122. 905 Eine ausführliche Behandlung von Slevogts aktiver Theaterarbeit bietet: Schenk, Carola: Die Bühnenbildentwürfe im Werk von Max Slevogt, Diss., München 2015, Elektronische Ressource. 906 Vgl. Loeper 2004a, S. 157. 907 Das Skizzieren während Theatervorstellungen stand in Deutschland zu Slevogts Zeit bereits in einer längeren Tradition. Auf diese Weise entstand z. B. die Skizze für Adolph Menzels, Th8atre du Gymnase, 1856, Öl auf Leinwand, 46 x 62 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.Nr. A I 901. Vgl. Schenk 2005, S. 150.

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bei Slevogts Schauspieler-Rollenporträts die Wahl des Motivs in dem »Ursprungserlebnis der Persönlichkeit aufgrund der Interpretation einer Bühnengestalt«908. Das bedeutet, Slevogts Rollenporträts zeigen gewöhnlich den Schauspieler in einer »echten« Rolle, die der Künstler meist selbst auf der Bühne gesehen hat. Die Reihe von Slevogts Schauspieler-Rollenporträts beginnt 1901 mit seinen Porträts der Japanerin Sada Yakko.909 Slevogt sah Sada Yakko im selben Jahr bei einer Gastspielreise in Berlin und fertigte dabei Skizzen an, die als Vorlage für die noch im gleichen Jahr entstandenen Gemälde dienten. Es war Slevogts erster Versuch, eine Schauspielerin während ihres Spiels zu porträtieren.910 Slevogts Sada Yakko ist eines der zahlreichen Schauspielerporträts von Slevogt, die Paul Cassirer in seinem Kunstsalon ausstellte.911 Der Kritiker Oscar Bie bemängelt an dem Yakko-Porträt die fehlende Sichtbarmachung des spezifischen Darstellungsstils, was beweist, dass dieser Aspekt um 1900 als Qualitätskriterium für ein Rollenporträt angesehen wurde: »Slevogt hat die Sada Yacco gemalt mit seiner ganzen Farbenfreude, nur hätte er besser gethan, den Namen der Japanerin zu unterdrücken. Denn ihre Bewegungsart kommt auf dem Bilde nicht heraus, und ich erinnere mich viel raffinierterer Kleiderfarben, als ich sie hier sehe.«912

In Slevogts Oeuvre existiert eine enge Verbindung zwischen seinem bildkünstlerischen Schaffen und seinem musikalischen Talent. Mit dem portugiesischen Opernsänger Francisco d’Andrade, den er häufig, v. a. in der Rolle als Don Giovanni, darstellte, war Slevogt befreundet. Durch Slevogts Vermittlung gab der Sänger Tilla Durieux Gesangsunterricht.913 Während der Berliner Aufführung des Don Giovanni, für die Slevogt das Bühnenbild schuf, entstand die Bühnenskizze Die Champagnerarie (Francisco d’Andrade an der Rampe)914. Auf dieser Grundlage schuf Slevogt die drei Rollenporträts Das Champagnerlied (Der Weiße d’Andrade), 1902, Der Schwarze d’Andrade915, 1903 und Der Rote 908 Imiela 1968, S. 85. 909 z. B. Max Slevogt, Sada Yakko, 1901, Öl auf Leinwand, 129 x 83,4 cm, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Saarlandmuseum Saarbrücken, Inv.Nr. 4G. Abb. in: Fehlemann/Hartje, S. 148. 910 Vgl. Schenk 2005, S. 148. 911 Echte/Feilchenfeldt 2011b, Bd. 2, S. 222. 912 Bie, Oscar : Hier und dort, in: Berliner Börsen-Courier, 21. Dezember 1902, zit. nach Echte/ Feilchenfeldt 2011b, Bd. 2, S. 222. 913 Vgl. Durieux 1979, S. 118. 914 Max Slevogt, Die Champagnerarie (Francisco d’Andrade an der Rampe), 1902, Öl auf Leinwand, 105 x 131,5 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv.Nr. KM Slg. Wrede I,91. Es war 1904 ausgestellt in der Galerie Cassirer 1904/06–04. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2011b, Bd. 2, S. 436. Abb. in: Fehlemann/Hartje 2005, S. 156. 915 Max Slevogt, Der Schwarze d’Andrade, 1903, Öl auf Leinwand, 150 x 109 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.Nr. 5149. Abb. in: Fehlemann/Hartje 2005, S. 161.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

d’Andrade916, 1912, sowie weitere Bildnisse des Sängers.917 Der Weiße d’Andrade war 1902 bei der Ausstellung der ›Berliner Secession‹ vertreten und verhalf Slevogt zum künstlerischen Durchbruch in Berlin.918 Für Der Schwarze d’Andrade, der an Manets Porträt von Faure als Hamlet erinnert919, verwendete Slevogt zusätzlich zu den Vorzeichnungen eine selbst aufgenommene Fotografie als Vorlage.920 1904 waren der Weiße und der Schwarze d’Andrade bei Paul Cassirer ausgestellt921 und wurden in Kunst und Künstler gegenübergestellt: »Es scheint uns, daß man den schwarzen Andrade auch noch über den weißen Andrade stellen muß […]. Der weiße Andrade zeigt die Scene auf dem Theater. Beim schwarzen denken wir eigentlich gar nicht mehr ans Theater. […] so wird das Bild zum Historienbild oder zur Vorführung eines Vorgangs aus der Legende.«922

Der Kritiker thematisiert die für das Rollenporträt typische Mittelstellung zwischen Porträt und Historie. Er bevorzugt den Schwarzen d’Andrade der, seiner Meinung nach, den Theaterbezug »überwinde« und somit zum Historienbild werde. Abgesehen von diesen Schauspieler-Rollenporträts schuf Slevogt Zivilporträts der Schauspieler Emil Thomas923 (1836–1904) und Else Berna924, die ebenfalls in der Galerie Cassirer zu sehen waren. Neben Theateraufführungen inspirierten Slevogt Gastspiele exotischer Tänzerinnen in Berlin zu Porträts.925 Außer den bereits genannten Flamenco-Tänzerinnen Marietta di Rigardo und La Argentina hielt Slevogt die russische Primaballerina Anna Pawlowa, vermutlich in der Rolle als BajadHre, fest.926 Durieux kannte und bewunderte Pawlowa und

916 Max Slevogt, Der Rote d’Andrade, 1912, Öl auf Leinwand, 210 x 170 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.Nr. A II 36. Abb. in: Imiela 1968, S. 305. 917 Es existieren diverse Studien aus verschiedenen Jahren zu d’Andrade. Vgl. Hartje, Nicole: Der Sänger Francisco d’Andrade, in: Fehlemann/Hartje 2005, S. 156–161. Vgl. dazu auch: Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz 2014, S. 170–185. 918 Vgl. Schenk 2005, S. 150. 919 Vgl. Imiela 1968, S. 76. 920 Vgl. Imiela 1968, S. 76. Abb. in: Güse/Imiela/Roland 1992, S. 508. 921 Galerie Cassirer 1904/06–04. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2011b, Bd. 2, S. 422, 435. 922 Heilbut, Emil: Einige neuere und ältere Arbeiten von Max Slevogt, in: Kunst und Künstler, Jg. 2, 1904, S. 212–222, hier: S. 220. 923 Max Slevogt, Porträt des Schauspielers Emil Thomas, 1903, Öl auf Leinwand, 65,4 x 54,3 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. Ausgestellt in der Galerie Cassirer 1904/06– 04. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2011b, Bd. 2, S. 435. 924 Max Slevogt, Porträt Else Berna, 1908, Öl auf Leinwand, 140 x 90 cm, Städtische Kunstsammlungen Chemnitz, Inv.Nr. 157. Ausgestellt in der Galerie Cassirer 1908/10–06. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2013a, Bd. 3, S. 690. 925 Im Hinblick auf die Verortung der Josephslegende im Orient ist bei der Körperhaltung in Slevogts Tilla Durieux als Weib des Potiphar eine Anregung durch exotische Tänzerinnen wie Ruth St. Denis oder Maud Allan denkbar. Vgl. Paas 2007, S. 88. 926 Max Slevogt, Bildnis der Tänzerin Anna Pawlowa, 1909, Öl auf Leinwand, 173 x 128 cm,

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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war 1909 bei ihren Modellsitzungen bei Max Slevogt dabei.927 Slevogts PawlowaBildnis wurde 1910 in der Galerie Cassirer gezeigt.928 Slevogt schuf zwischen 1907 und 1921 zahlreiche Porträts von Durieux. Neben drei bekannten Gemälden gibt es Druckgraphiken und Handzeichnungen. Die meisten Durieux-Bildnisse von Slevogt sind Rollenporträts. Sein Porträtkopf Tilla Durieux (Abb. 2) wurde bereits im Zusammenhang mit Spiros Tilla Durieux als Salome (Abb. 1) besprochen. Im selben Jahr entstand sein Bildnis Tilla Durieux als Kleopatra (Abb. 9), zu dem es eine Federzeichnung gibt.929 Das Kleopatra-Porträt wird in Kapitel VI.1 genauer vorgestellt. Durieux spielte die Rolle der Kleopatra erst sechs Jahre nach dem Entstehen von Slevogts Rollenporträt. Ausnahmsweise handelt es sich hier also um eine imaginierte Rolle, die jedoch in das Rollenfach der ›Femme fatale‹ fällt. Ein anderes DurieuxPorträt von Slevogt, eine Aquarellskizze, wurde dagegen unter dem unmittelbaren Eindruck einer Aufführung von Turm des Schweigens930 geschaffen.931 Das Stück Turm des Schweigens wurde 1912 in Berlin uraufgeführt mit Durieux in der Rolle der mythologischen ›Femme fatale‹ Semiramis. Ähnlich wie bei den Theaterskizzen. Tilla Durieux als Weib des Potiphar ist die Figur in dem Aquarell auf wenige Linien reduziert und das Gesicht ist nicht erkennbar. Durch die Darstellung eines Mitspielers und dem markanten Bühnenbildbestandteil der Treppe gelingt Slevogt, trotz der starken Vereinfachung, eine Bühnen-Assoziation. Alle Rollenporträts von Slevogt von Durieux bezeugen seine große Faszination für ihre Schauspielkunst. Des Weiteren stellt Slevogt Durieux in karikierenden Graphiken dar. Eine zeigt sie in einer Situation, die als Gegenstück zu ihren Rollenporträts bezeichnet werden kann, nämlich als Zuschauerin im Theater. Die Lithographie Tilla Durieux und Paul Cassirer in der Opernloge wurde 1921 in dem von Slevogt illustrierten Werk der Pan-Presse Ovid, Das Lehrbuch der Liebe gedruckt.932 Auf einer Zeichnung auf einem Dankesbrief an Durieux und Cassirer für einen Besuch bei ihnen 1908 in Noordwijk ist Slevogt

927 928 929 930 931 932

Staatliche Kunstsammlungen, Galerie Neue Meister, Dresden, Inv.Nr. 2548. Abb. in: Schenk 2005, S. 153. »Ich habe die Pawlowa, sooft sie nach Berlin kam, bei mir gesehen. Als Slevogt sie malte, habe ich sie über die Langeweile der Sitzungen hinweggeplaudert.« Durieux 1979, S. 117. Galerie Cassirer 12/07, 1910. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2013b, Bd. 4, S. 400. Max Slevogt, Kompositionsstudie zu Tilla Durieux als Kleopatra (?), 1907, Rohrfeder, 9,5 x 15,0 cm, Verbleib unbekannt. Vgl. Imiela 1968, S. 375. Der Turm des Schweigens von Gustav Collijn, Berlin, Neues Schauspielhaus am Nollendorfplatz, Premiere und Uraufführung 1912, Regie: Franz Zavrel, Rolle: Königin Semiramis (Gast). Max Slevogt, Tilla Durieux in Turm des Schweigens, um 1912, Aquarell auf der Rückseite eines Telegrammformulars, 9,3 x 12,8 cm/ 21 x 24 cm, Verbleib unbekannt. Max Slevogt, Tilla Durieux und Paul Cassirer in der Opernloge, 1921, Lithographie, Blatt 2 der Mappe »Ovid, Das Lehrbuch der Liebe«, XVIII. Werk der Pan-Presse, Paul Cassirer Verlag, Berlin 1921.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

selbst zusammen mit den beiden beim Indianerspielen zu sehen. Die Zeichnung wurde 1920 als Lithographie in dem im Paul Cassirer Verlag erschienenen Band über Max Slevogt und seine Gelegenheitsarbeiten abgebildet.933 Zwei weitere Graphiken von Slevogt werden in dem Kapitel V.4.1 über die Karikaturen von Durieux besprochen.

V.1.5.6 Interpretation Slevogts Tilla Durieux als Weib des Potiphar (Abb. 6) kann gemäß Schartners Unterteilung des Rollenporträts als »illustrative[…] Szene«934 bezeichnet werden, da es ihrer Definition nach an eine bestimmte Aufführung anknüpft und durch die enge Anlehnung an das gedruckte Wort einer »Illustration« nahe kommt. Slevogts Darstellung geht jedoch über die bildnerische Dokumentation der Szene hinaus. An dem von ihm ausgewählten Moment der Handlung interessiert ihn in erster Linie die Psychologie der weiblichen Hauptfigur. Zur Veranschaulichung der inneren Zerrissenheit der Frau des Potiphar, die nach anfänglichem Zögern ihrem Verlangen nachgibt und Joseph zu verführen versucht, orientiert er sich an Durieux’ Darstellungsstil. Durieux war die einzige, die in dem Ballett Josephslegende pantomimisch agierte. Die schleichende Bewegung, der abgespreizte Arm und der zurückgeworfene Kopf in dem Gemälde lassen Durieux’ pantomimische Spielweise in der Aufführung erahnen, die in den oben genannten Kritiken betont wurde. Der Betrachter erhält einen unmittelbaren Eindruck von ihrer Bühnenwirkung, wozu auch der Bildausschnitt des Ganzfigurenbildnisses beiträgt. Die Kunstform der Pantomime besaß für die Theaterreformer zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Bedeutung, da Bewegung zum bedeutendsten Element des Schauspiels wurde.935 Max Reinhardt, bei dem Durieux acht Jahre lang engagiert war, versuchte das Theater um Elemente der Pantomime und des Ausdruckstanzes zu erweitern. Durch die Übernahme von Bewegungsformen des Alltags in den Ausdruckstanz änderte sich nach Müller die Tanzhaltung. Gebeugte Haltungen sowie duckende, kriechende und schleichende Bewegungen, wie sie in Tilla Durieux als Weib des Potiphar zu beobachten sind, wurden in den Ausdruckstanz integriert.936 Tilla Durieux als 933 Max Slevogt, Drei Gestalten mit langen Pfeifen, erschienen in: Guthmann, Johannes: Scherz und Laune. Max Slevogt und seine Gelegenheitsarbeiten, Paul Cassirer Verlag, Berlin 1920, S. 141. 934 Schartner 1962, S. 23. 935 Vgl. Brauneck 1982, S. 64. Laut Fischer-Lichte trat um 1900 »[…] anstelle der psychologisch-realistischen, auf ›Menschendarstellung‹ gerichteten Schauspielkunst eine an Pantomime und Tanz geschulte rhythmische Bewegungskunst.« Fischer-Lichte 1993, S. 263. 936 Vgl. Müller, Hedwig: Die Begründung des Ausdruckstanzes durch Mary Wigman, Diss., Köln 1986, S. 210.

Rollenporträts: Durieux als ›Femme fatale‹

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Weib des Potiphar ist daher eines der wenigen Rollenporträts von Durieux, in denen tatsächliche Aufführungselemente vorhanden sind.

V.1.6 Zusammenfassung Bei allen vier besprochenen Rollenporträts von Durieux handelt es sich um ›Femme fatale‹-Rollen. Die Analyse der Werke hat ergeben, dass das künstlerische Anliegen der Porträtisten heterogen war und jeder zu einer individuellen Umsetzung der jeweiligen ›Femme fatale‹-Rolle von Durieux fand. Ein bedeutendes Kennzeichen der ›Femme fatale‹ ist ihre gesteigerte Weiblichkeit. Bei den besprochenen Rollenporträts liegt das Augenmerk jedoch größtenteils nicht auf dem Aspekt der Sinnlichkeit. Eine Ausnahme ist Stuck, der die erotische Inszenierung Durieux’ in der Rolle der Circe (Abb. 4) fokussiert. Dazu verwendet er Darstellungsweisen, die er auch für andere sinnliche Frauenbildnisse einsetzt. Nackte Haut, ein intensiver Blick sowie ein stark geschminktes Gesicht heben die weiblichen Reize des Modells hervor. Außerdem hat Durieux bei ihm rote Haare, ein Merkmal, das z. B. auch bei verführerischen Frauendarstellungen der Präraffaeliten anzutreffen ist. Bei Spiro ist eine erotische Inszenierung von Durieux als Salome (Abb. 1) auf Grund des kleinen Bildausschnitts, der den Körper ausspart, nur ansatzweise vorhanden. Die unbedeckten Schultern der Dargestellten weisen auf eine eher freizügige Bekleidung hin. Der Rest, der der Phantasie überlassen bleibt, ist allerdings nicht für den Betrachter gedacht, sondern für den Maler Spiro selbst, der als Ehemann in einer intimen Beziehung zu dem Modell stand. Corinths Porträt von Durieux als Spanische Tänzerin (Abb. 3) weist erotische Elemente durch den Blickkontakt zum Betrachter und die leicht geöffneten Lippen auf. Das Motiv Tanz an sich drückt zwar Sinnlichkeit aus, aber bei Corinth steht die Verdeutlichung der unmittelbaren Freude an der Bewegung im Vordergrund. Corinth kennzeichnet Durieux als lebendige, temperamentvolle Persönlichkeit. Ihm gelingt eine »Synthese zwischen formaler Bewältigung und psychologischer Durchdringung«937, wie sie auch typisch für seine Familienporträts ist. Slevogt geht es von allen vier in Kapitel V.1 betrachteten Porträtisten am wenigsten um eine erotische Präsentation von Durieux in der Rolle als Potiphars Frau (Abb. 6). Er abstrahiert die Figur soweit, dass sie nur noch schemenhaft zu erkennen ist. Slevogt übersetzt Durieux’ Spiel in Malerei. Die Bewegungen und Gestik der Schauspielerin, ihre Bühnenwirkung und ihre Verwandlung in die 937 Deecke, Thomas: Die Zeichnungen von Lovis Corinth. Studien zur Stilentwicklung, Diss., Berlin 1973, S. 135.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

Bühnenfigur sind ihm wichtiger als die für eine ›Femme fatale‹ charakteristische verführerische Wirkung. Der Großteil ihrer Rollenporträts zeigt Durieux in ›Femme fatale‹-Rollen. Sie wurde zusätzlich u. a. als Kleopatra, Judith, Delila und Semiramis bildnerisch verewigt. Die meisten Rollenporträts wurden von einer tatsächlichen Aufführung angeregt, die die Künstler selbst besucht hatten. Vor allem in ihrer Anfangszeit verkörperte Durieux zahlreiche ›Femmes fatales‹ auf der Bühne. Da sich die vier besprochenen Rollenporträts über einen Zeitraum von über 15 Jahren erstrecken, wurde Durieux offensichtlich lange mit dem Rollenfach der ›Femme fatale‹ identifiziert.938 Die Künstler trafen diese Rollenwahl wohl nicht, weil sie Durieux privat für eine ›Femme fatale‹ hielten, sondern weil es bekannte Rollen von ihr waren. Dementsprechend fanden Durieux’ Rollenporträts als ›Femme fatale‹ auch in der Öffentlichkeit einige Beachtung. Dazu kommt die Beliebtheit des Frauentypus in der Kunst und Literatur der Zeit. Das Bild der verführerischen Frau lief Durieux’ Selbstbild zuwider, da sie nicht als Lustobjekt betrachtet werden wollte. In einem Vortrag, den sie 1914 im Rahmen der »Frauenwoche« in Leipzig hielt und der 1928 in der Neuen Leipziger Zeitung abgedruckt wurde, wehrt sie sich gegen die Sexualisierung des Berufs der Schauspielerin: »Und doch geht unser aller Wünschen und Streben – unser : will sagen aller Schauspielerinnen, die die Kunst wirklich lieben – dahin, das erotische Empfinden der männlichen Zuschauer bei Beurteilung unserer Leistung ausgeschaltet zu wissen. Allerdings nicht durch Vertreibung der Frauen von der Bühne, vielmehr dadurch, daß man über unsere Kunst unsere Person vergisst, daß unsere Leistung so stark wirkt und die Empfindung der Zuschauer so rein bleibt, daß das erotische Moment gegenüber der die Darstellung tragenden Frau ausschaltet und alle Rührung, Bewunderung, Sehnsucht, Verliebtheit der Gestalt der Dichtung vorbehalten bleibt. Die von uns ausgelöste Wirkung sollte so objektiv sein, daß die mehr oder minder starken Reize der Weiblichkeit zurücktreten und vergessen werden, wie bei einem Bildwerk die Möglichkeit des körperlichen Besitzes für den Mann verschwindet.«939

Diesem Wunsch kamen die Porträtisten bis zu einem gewissen Grad nach, weil das Sinnliche bei der Mehrheit der hier vorgestellten Porträts nicht im Vordergrund steht. Durieux’ negative Äußerung über ihre Bildnisse von Stuck lässt sich möglicherweise dadurch begründen, dass ihr das Image einer verhängnisvollen Frau nicht gefiel. Die Bevorzugung des ›Femme fatale‹-Images in den Porträts von Durieux beschränkt sich auf ihre Rollenporträts. Die meisten Rollenporträts entstanden aus eigenem Antrieb der Künstler. Von den vier hier 938 Dies wird in der Berichterstattung über Durieux nach ihrer Re-Immigration in den 1950er Jahren erkennbar, in der Durieux’ ›Femme fatale‹-Rollen heraufbeschworen werden. 939 Durieux 2. August 1928.

Auftragsporträts: Durieux als »Dame der Gesellschaft«?

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behandelten Rollenporträts war nur Corinths Bildnis eine Auftragsarbeit. Insgesamt ist Durieux’ Image als ›Femme fatale‹ für die Auftragsporträts nicht von Bedeutung, wie sich im nächsten Kapitel herausstellen wird.

V.2

Auftragsporträts: Durieux als »Dame der Gesellschaft«?

Von fünf Bildnissen Durieux’ gilt es als gesichert, dass sie in ihrem Auftrag bzw. im Auftrag ihres Ehemanns Paul Cassirer entstanden. Es handelt sich um die Bildnisse von Corinth, Kokoschka, Barlach, Renoir und Purrmann. Möglicherweise entstanden weitere Bildnisse als Auftragsarbeiten, für die es bisher keine Belege gibt. Auffälligerweise waren alle fünf Auftragsporträtisten eng mit dem Kunstsalon und -verlag von Paul Cassirer verbunden. Besonders bei den Auftragsporträts stellt sich die Frage nach den Absichten von Modell und Porträtisten. Es ist vorstellbar, dass Durieux sie zur Selbstinszenierung nutzte, um der Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln. Ob dies zutraf und sich die Auftragsporträtisten in diesem Fall den Wünschen der Auftraggeberin fügten, wird im folgenden Kapitel dargelegt.

V.2.1 Oskar Kokoschka, Bildnis Tilla Durieux, 1910 Cassirer bot Kokoschka als einer der ersten Galeristen eine Ausstellungsmöglichkeit in seiner Galerie. 1910 waren, auf Initiative von Herwarth Walden, zum ersten Mal in Deutschland Werke von Kokoschka bei Paul Cassirer zu sehen. Danach wurde Kokoschka noch einige weitere Male im Salon Cassirer ausgestellt.940 1912 nahm Cassirer Kokoschka unter Vertrag.941 Auf Grund seiner literarisch-bildnerischen Doppelbegabung arbeitete Kokoschka 1916 auch für Cassirers Zeitschrift Bildermann und 1917 und 1918 wurden Dramen von ihm mit eigenen Illustrationen in Cassirers Verlag gedruckt.942 Einen Schnittpunkt zwischen beiden Bereichen bilden seine Bühnenbilder und Kostümentwürfe, unter anderem für Die Zauberflöte.943 Im Zuge der Förderung des 1910 in Deutschland noch kaum bekannten Künstlers Kokoschka beauftragte Cassirer ihn mit dem Porträt von Tilla Durieux (Abb. 10).944 Eigentlich wollte Cassirer ein 940 941 942 943

Vgl. Hoffmeister 1992b, S. 101. Vgl. Kennert 1996, S. 119. Vgl. Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 403. Siehe dazu: Mazurkiewicz-Wonn, Michaela: Die Theaterzeichnungen Oskar Kokoschkas, Diss., Hildesheim u. a. 1994. 944 Kokoschkas Durieux-Porträt ist bei dem digitalen Projekt »Alfred Flechtheim.com« vertreten: http://alfredflechtheim.com/werke/bildnis-tilla-durieux/, Stand vom 21. 03. 2015.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

Doppelporträt von sich und seiner zukünftigen Frau bei Kokoschka bestellen, was der Künstler jedoch ablehnte.945 Drei Tage nach der Eröffnung der Kokoschka-Ausstellung bei Cassirer fand am 24. Juni 1910 die Hochzeit von Cassirer und Durieux statt.946 Somit könnte das ursprünglich verlangte Doppelporträt als eine Art Hochzeitsbild gedacht gewesen sein. Kokoschka schreibt in seiner Autobiographie Mein Leben, dass er das Durieux-Porträt nicht fertigstellte: »Ich glaube, ich habe das Bild nicht vollendet und es samt dem Farbenkasten bei ihr liegen lassen.«947 Weiter berichtet Kokoschka darin über Paul Cassirers Auftrag für das Porträt sowie die Bildentstehung: »Er gab mir den Auftrag, Tilla Durieux zu malen, damals Schauspielerin am Preußischen Staatstheater, mit der er verlobt war. Er hat mich in ihre Wohnung geführt; die erste Begegnung fand am Morgen in ihrem Ankleidezimmer statt, und ich mußte ihr helfen, das Mieder, das man damals trug, im Rücken zuzuschnüren; auch er, als Freier übermütig, beteiligte sich daran, den Strohhut auf dem Kopf, eine Nelke im Knopfloch. Das erinnerte mich zu sehr an Manets berühmtes Bild ›Nana‹. So konnte ich sie nicht malen, denn das hatte Manet bereits gut gemacht. Ich malte sie anders. Ihre Verführungskunst war groß […].«948

Nach Kokoschkas Überlieferung inszenierte Durieux sich bei der Modellsitzung als verführerische Frau bzw. wurde von Cassirer auf diese Weise für den Künstler in Szene gesetzt, so dass er an Manets Gemälde Nana949 dachte. Die Nennung dieses Werks, das eine Bordellszene950 wiedergibt, ist nicht zufällig, da es 1910 in der Galerie Cassirer gezeigt wurde und Kokoschka es bestimmt dort sah.951 Kokoschka ließ sich jedoch von dieser suggestiven, erotischen Inszenierung der ersten Begegnung nicht beeinflussen, sondern stellte Durieux auf andere Art dar.952 Laut Spielmann blieb das Bildnis unbezahlt, »weil es nicht gefiel«953. 1922 945 946 947 948 949 950 951

952 953

Vgl. Natter 2002, S. 146. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2013b, Bd. 4, S. 229. Kokoschka, Oskar : Mein Leben, München 1971, S. 116. Kokoschka 1971, S. 115–116. Edouard Manet, Nana, 1877, Öl auf Leinwand, 154 x 115 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.Nr. HK-2376. Abb. in: Darragon 1991, S. 273. Tatsächlich stand Manet eine Schauspielerin zu diesem Gemälde Modell. Galerie Cassirer 1910/12–08. Cassirer hatte 1910 zusammen mit den französischen Galeristen Bernheim-Jeune und Durand-Ruel einen großen Bestand an Werken aus der ManetSammlung des französischen Sammlers Auguste Pellerin angekauft. Vgl. Feilchenfeldt 2006, S. 13. Der Wahrheitsgehalt von Kokoschkas Schilderung kann nicht beurteilt werden. Auf jeden Fall belegt sie, dass Kokoschkas Wahrnehmung von Durieux’ ›Femme fatale‹-Image geprägt war. Spielmann, Heinz: Oskar Kokoschka. Leben und Werk, Köln 2003, S. 102. In einem Brief von 1934 rät Albert Ehrenstein Kokoschka auf Grund seiner finanziellen Schwierigkeiten, Tilla Durieux um die Bezahlung ihres Auftragsbildnisses von 1910 zu bitten. Kokoschka, Oskar : Briefe II, 1919–1934, hg. v. Olda Kokoschka und Heinz Spielmann, Düsseldorf 1984, S. 253–254.

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war es im Kunstsalon Cassirer ausgestellt. Den Nachweis dazu liefert die Zeitschrift Der Querschnitt. Unter der Überschrift »Aus Ausstellungen bei Paul Cassirer« ist das »Bildnis der Tilla Durieux (Öl.)« von Kokoschka abgebildet.954 Das Porträt wurde außerdem zweimal in der Galerie Alfred Flechtheim ausgestellt, 1919 und 1929.955 Seit 1918 befand sich Kokoschkas Durieux-Porträt im Besitz von Alfred Flechtheim.956 1931 lieh Flechtheim das Porträt der Kunsthalle Mannheim mit der Auflage, das Bild im Katalog als »Privatsammlung Alfred Flechtheim« zu vermerken.957 Als Folge des von den Nationalsozialisten verantworteten Ruins seiner Kunsthandlung musste Flechtheim 1933 auch Werke aus seiner Privatsammlung verkaufen.958 Alex Völmel, der ehemalige Geschäftsführer der Galerie Flechtheim, der 1933 die Räumlichkeiten der Düsseldorfer Galerie und den Großteil von Flechtheims Beständen übernahm, forderte u. a. Kokoschkas Durieux-Bildnis aus Berlin an, um den drohenden Konkurs abzuwenden.959 1934 verkaufte Völmel das Porträt an den Sammler Joseph Haubrich, über den es 1976 in das Museum Ludwig, Köln (Inv.Nr. ML 76/2753) gelangte.960 2013 wurde das Porträt an Flechtheims Erben restituiert.961 Bei Kokoschkas Auftragsporträt von Durieux (Abb. 10) handelt es sich um ein Brustbild. Durch eine minimale Drehung des Modells zur Seite erscheint das Gesicht in leichter Dreiviertelansicht nach links. Der Blick der unter stark geschwungenen Brauen liegenden Augen ist auf den Betrachter gerichtet. Die aus verschiedenen, ineinander fließenden Brauntönen gebildeten Haare sind hochgesteckt und das Oberteil mit Rundhalsausschnitt wird auf Brusthöhe vom unteren Bildrand beschnitten. Die Figur ist von einer braunen Kontur eingefasst, die sich von der insgesamt hellen Palette des Gemäldes abhebt. Der Bildhintergrund auf der rechten Seite und die Haare sind farblich dunkler gehalten als der Rest. Bildhintergrund und Kleidung sind mit bewegtem Duktus aus einzelnen Farbflecken in lila, blau, braun und zartrosa zusammengesetzt. Bei dem Gesicht und dem Hals herrschen hautfarbene Farbtöne vor. Mund und Nase sind 954 Abb. in: Der Querschnitt, Jg. 2, Jahresband, 1922, S. 178. 955 Auf dem Wege zur Kunst unserer Zeit. Vorkriegsbilder und Bildwerke, 27. Juli 1919 bis 16. Aug. 1919, Galerie Alfred Flechtheim, Düsseldorf, Nr. 76. Lebende deutsche Kunst aus rheinischem Privatbesitz, Juni 1929, Galerie Alfred Flechtheim, Düsseldorf. Dascher 2011, Materialien 1, S. 60, 179. 956 Vgl. Friedrich, Julia (Hg.): Meisterwerke der Moderne. Die Sammlung Haubrich im Museum Ludwig, Ausst.kat., Köln 2012, S. 224. 957 Vgl. Dascher 2011, S. 316. 958 Vgl. Jentsch, Ralph: Alfred Flechtheim, George Grosz. Zwei deutsche Schicksale, Bonn 2008, S. 15, 32. 959 Vgl. Dascher 2011, S. 315. 960 Vgl. Friedrich 2012, S. 224. 961 Deutsche Bundesregierung: Pressemitteilung vom 9. April 2013: http://www.lostart.de/ Content/06_Kommission/13-04-09BerKommzuFlechtheim-Köln.pdf ?__blob=pu blicationFile, Stand vom 11. 11. 2014.

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weich herausmodelliert, Augen und Brauen dagegen durch dunkle Linien betont. Stellenweise hat Kokoschka den Farbauftrag ausgespart, so dass die darunterliegende Leinwand sichtbar ist. Im Gesicht trägt das Muster des durchscheinenden Malgrunds zu seiner Gestaltung bei. Auf Grund der hellen Farbigkeit scheint das Gesicht von innen heraus zu leuchten. Die auflösende, durchscheinende Malweise und die beginnende autonome Verwendung der Farbe verleihen Durieux eine immaterielle Aura. Das Körperliche tritt zurück, sie wirkt entrückt und wird dadurch für den Betrachter schwer fassbar. Mit diesen Mitteln lässt der Künstler die Vielschichtigkeit von Durieux’ Persönlichkeit aufscheinen.962 In der Besprechung der ersten Kokoschka-Ausstellung bei Cassirer 1910 in Die Kunst für Alle charakterisiert Curt Glaser Kokoschkas Porträtstil treffend: »Im übrigen aber sind diese Bilder durchaus Porträts, und man bewundert nur die Dargestellten, die sich freiwillig solcher Zerfaserung ihres Ichs aussetzen.« Glaser bezeichnet »Kokoschkas Art der Menschendarstellung« als »eindringliche, unmittelbar auf das seelische Problem abzielende Porträtkunst«, in der die äußere Form »lediglich Symbol für ein Inneres«963 sei. Auch in der Besprechung dieser Ausstellung im Cicerone wird die den Porträts von Kokoschka zugrundeliegende psychologische Beobachtungsgabe hervorgehoben: »Und doch: während man sich durch das Farbengerinn und -geriesel, die verschwimmenden Formen arbeitet, blickt der oder jener Kopf mit immer größerer Intensität, mit wachsendem Ausdruck zu einem hinüber, man fühlt sich im Bann einer Persönlichkeit, in der der Maler tiefe, komplizierte Vorgänge erkannt und dem aufmerksamen Betrachter mitzuteilen hat.«964

Glaser beschreibt Kokoschkas Porträtkunst in seiner Ausstellungsbesprechung von 1910 als spirituelles Erfassen der »Tiergesichter der Menschen«965. Dementsprechend sieht Spielmann eine Verbindung zwischen dem Porträt und einer Katzendarstellung Kokoschkas, ebenfalls von 1910.966 Er schreibt über dieses Bildpaar : »[Kokoschka] ordnet seinen Modellen versteckt oder offen Tierphysiognomien zu […] am augenfälligsten tritt die Verwandtschaft zwischen menschlicher und tierischer Physiognomie in einem Paar von Gemälden vor Augen, die nach Stil und Farbigkeit zu Recht immer in größte zeitliche Nähe gerückt werden, das Bildnis von Tilla Durieux und das Bild einer Katze.«967 962 Das Porträt ist in der Moderne nicht länger ein »Medium der individuellen wie zugleich gesellschaftlichen Konsolidierung des Subjekts«, wie Lüthy es formuliert. Lüthy 2013, S. 50. 963 Glaser, Curt: Aus den Berliner Kunstsalons, in: Die Kunst für Alle, Jg. 25, Heft 23, 1910, S. 551–552, hier : S. 552. 964 Sievers, Johannes: Ausstellungen, in: Cicerone, Jg. 2, Heft 13, 1910, S. 468. 965 Glaser 1910, S. 552. 966 Oskar Kokoschka, Katze, 1910, Öl auf Leinwand, 46 x 69 cm, Privatbesitz. 967 Spielmann 2003, S. 103.

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Laut Spielmann hat Kokoschka die Sehachsen von Durieux’ Augen unterschiedlich ausgerichtet. Die daraus resultierende »schillernde Richtungslosigkeit« ihrer Augen wirkt daher so, als ob Durieux ein Opfer vor sich fixiert: »Die Ruhe der Schauspielerin und der Katze ist diejenige eines animalischen Wesens auf dem Sprung, steckt voller spielerischer Grausamkeit und selbstbewußtherber Schönheit.«968 Spielmanns Interpretation der Darstellung ist von Durieux’ Kritiken beeinflusst, in denen immer wieder Tiervergleiche angestellt wurden, so wurden z. B. ihre »Katzenaugen«969 erwähnt. Die Kombination von Frau und Tier in den Kritiken unterstellt der Schauspielerin eine animalische, d. h. triebhafte Sinnlichkeit.970 Laut Pohle ist die Gegenüberstellung von Frau und Tier eine bewährte Form der Inszenierung von Weiblichkeit in der Moderne971: »Auch das Bild der Frau als Katze ist naheliegend: Neben dem Instinkt des Raubtieres besitzt die Katze […] eine geheimnisvolle, unzähmbare Natur.«972 Nach Pohle steht der »›Animalisierungsprozeß‹ von Weiblichkeitsbildern«973 in Bezug zum Typus der ›Femme fatale‹: »Von der domestizierten Hauskatze, der Ehefrau, entwickelt sich das animalisierte Weiblichkeitsbild in den Bereich des Raubtierhaften. Als Tigerin, Löwin, Leopardin und schließlich Vampir wird die als buchstäblich fatal empfundene Sinnlichkeit von Frauen bildlich gebannt.«974

Kokoschka äußerte sich nicht dazu, ob er das Auftragsporträt von Durieux in Anlehnung an das Bild einer Katze konzipierte. Sein Kommentar »Ich malte sie anders. Ihre Verführungskunst war groß […]«975 bestätigt aber die Faszination, die von Durieux auf ihn ausging. 10 Jahre nach dem Auftragsporträt schuf Kokoschka zwei großformatige Lithographien von Durieux, 1920 und 1921. Die Lithographie von 1920 wurde auf Japanpapier in einer Auflage von 150 num-

968 Spielmann 2003, S. 104. 969 Sternaux, Ludwig: Totentanz, in: Berliner Lokalanzeiger, 1921, zit. nach: Preuß 1965a, S. 91. 970 Thorun postuliert die »Raubtier-Weib-Metaphorik« als alten Topos in den Kritiken von Schauspielerinnen. Vgl. Thorun 2006, S. 280. Die Gegenüberstellung von Mensch und Tier hat eine lange Tradition in der Physiognomik. Giovanni Battista della Porta stellt physiognomische Mensch-Tier-Vergleiche in De humana physiognomia von 1586 an. Seiner Meinung nach ließe die äußerliche Ähnlichkeit auf eine charakterliche Verwandtschaft schließen. 971 Die Verbindung von Frau und Katze ist ein erotisch konnotiertes Motiv in der Malerei. In Manets Gemälde Olympia von 1861 sitzt eine schwarze Katze auf dem Bett des Frauenakts. In Corinths Gemälde Der Harem von 1904 sitzt eine Katze am Boden vor den vier nackten Haremsdamen. 972 Pohle 1998, S. 50. 973 Pohle 1998, S. 46. 974 Pohle 1998, S. 74. 975 Kokoschka 1971, S. 116.

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merierten und signierten Exemplaren in Cassirers Pan-Presse gedruckt.976 Von der Lithographie von 1921 gibt es wohl keine Auflage, sondern nur einige Probedrucke.977 Vermutlich liegen den Lithographien Zeichnungen zu Grunde, die Kokoschka bei einem Besuch bei Cassirer und Durieux 1920 machte.978

V.2.2 Ernst Barlach, Bildnis Tilla Durieux I–IV, 1912/1930 Ernst Barlach war seit 1907 mit Werken bei den Ausstellungen der ›Berliner Secession‹ vertreten, wurde 1908 Mitglied der Künstlervereinigung und saß seit 1911 im Vorstand. 1914 wurde er Vorstandsmitglied der ›Freien Secession Berlin‹.979 Barlach kannte Durieux gut und die beiden verband über lange Jahre hinweg eine Freundschaft. Er hielt sich in ihrem Haus auf und besuchte Proben und Auftritte von ihr. Über Briefkontakt holten sie sich gegenseitig Rat in privaten Angelegenheiten und standen sich in schwierigen Lebenslagen bei.980 Durieux war eine passionierte Barlach-Sammlerin der ersten Stunde981 und besaß u. a. mehrere ihrer Barlach-Bildnisse.982 Durieux sah eine Art geistiger Verwandtschaft mit Barlach: »Mein Äußeres kam seiner Geschmacksrichtung sehr entgegen. Oft saß er ruhig da und beobachtete mich, wenn ich im Zimmer auf und ab ging und eine Rolle lernte.«983 Und in ihrer Autobiographie berichtet sie über ihre Rolle einer Bäuerin in Die rote Robe von 1921, zu der sie Barlachs 976 Oskar Kokoschka, Tilla Durieux, 1920, Kreidelithographie auf Japanpapier, 62,7 x 46,9 cm, u. a. Stadtmuseum Berlin, Inv.Nr. GDR 72/15. Abb. in: Wingler/Welz 1975, Bd. 1, S. 129. 977 Oskar Kokoschka, Tilla Durieux, 1921, Kreidelithographie auf Bütten, Probedruck, 63 x 49 cm/76 x 50,5 cm, u. a. Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.Nr. A 1930–100, WW 147. Abb. in: Wingler/Welz 1975, Bd. 1, S. 134. 978 Vgl. Durieux 1979, S. 297. 979 Siehe die Mitgliederverzeichnisse in: Best 2000, S. 481–668. 980 Nach Cassirers Selbstmord sprach Barlach Durieux in einem Brief seine Anteilnahme aus und seine Unterstützung zu. Er versicherte ihr, dass sie sich keine Vorwürfe zu machen und sich nicht zu rechtfertigen bräuchte. Er beteuerte, dass niemand das Recht habe, über ihre Beziehung zu urteilen und versicherte ihr, dass auch andere hinter ihr stünden. Barlach an Durieux, 7. 3. 1926. Droß, Friedrich (Hg.): Ernst Barlach. Leben und Werk in seinen Briefen, Bd. 2, 1925–1938, München 1952b, S. 57–58. 981 Caspers, Eva: Kunst in »guten Häusern« – Ernst Barlachs Sammler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Thieme/Probst 2003, S. 95–130, hier : S. 122. 982 »Barlach schenkte mir auch einige erste Entwürfe in Gips, die ich heute noch besitze«. Durieux 1979, S. 298. Nach Schult befanden sich Gipsmodelle aller vier Bildnisse im Besitz von Durieux. Vgl. Schult, Friedrich (Hg.): Ernst Barlach. Das plastische Werk, Werkverzeichnis, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 1997, S. 90–91. 983 Durieux 1979, S. 298. Ein bildnerisches Zeugnis davon gibt die Zeichnung: Ernst Barlach, Tilla Durieux probend, 1924, Kohle, 26,7 x 34,7 cm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Inv.Nr. XVIII, 55. Abb. in: Schilling, Jürgen (Hg.): Ernst Barlach. Plastik, Zeichnung, Druckgraphik 1906–1937, Ausst.kat., Unna 1988, S. 285.

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Holzskulptur die Sorgende Frau984, die sich in ihrem Besitz befand, beim Rollenstudium inspirierte: »Ich hatte bis dahin nur klassische Rollen und moderne Frauen gespielt und war ratlos dieser Frau gegenüber. Da fiel mein Blick auf die ›Sorgende Frau‹. Ich starrte sie vielleicht eine Stunde an und – hatte es! Es wurde eine meiner besten Rollen.«985

Es ging bestimmt auf Durieux zurück, dass Barlach 1930 von ihrem dritten Ehemann Ludwig Katzenellenbogen den Auftrag für die Skulpturengruppe Fries der Lauschenden erhielt, die wegen dem Finanzskandal um Katzenellenbogen jedoch nicht angekauft werden konnte.986 Auch mit Paul Cassirer war Barlach eng verbunden. Seit 1911 besaß Cassirer alle Rechte an Barlachs Werken.987 Zwischen 1910 und 1933 stellte Barlach zehnmal in der Galerie Cassirer aus.988 Wie Kokoschka besaß auch Barlach eine literarisch-bildnerische Doppelbegabung und im Verlag Cassirer wurden 13 literarische Werke von ihm verlegt und z. T. in der Pan-Presse gedruckt.989 Auch bildkünstlerische Werke von Barlach erschienen in der Pan-Presse. Barlach lieferte außerdem literarische Beiträge für die Zeitschrift Pan und arbeitete für die Künstlerflugblätter Kriegszeit und Der Bildermann, die im Paul Cassirer Verlag herausgegeben wurden. 1912 erteilte Cassirer Barlach den Auftrag für die Porträts von Durieux.990 Zu diesem Zweck hielt der Künstler sich vom 24. Juli bis Mitte August 1912 in dem Ferienhaus des Paares in Noordwijk auf und Durieux saß ihm in 30 Sitzungen Modell. Sie schreibt dazu in ihrer Autobiographie: »Nach diesem Sommer war es Barlach ein willkommener Auftrag, meinen Kopf zu modellieren.«991 Es gibt insgesamt vier verschiedene Versionen von Barlachs Durieux-Bildnis, die auf den Modellen von 1912 beruhen und in Gips, Porzellan und Bronze ausgeführt wurden (Abb. 11, Abb. 12).992 Die Versionen unterscheiden sich in Material und Ausschnitt. Dem Ausschnitt nach sind Tilla Durieux I und Tilla Durieux IV Büsten und Tilla Durieux II und Tilla Durieux III Kopfbilder. Durieux erscheint in der Vorderansicht der Plastiken frontal mit einem Haarknoten 984 Ernst Barlach, Sorgende Frau, 1910, 65,8 x 38,6 x 48,4 cm, Holz, Ernst Barlach Haus, Hamburg. Laur, Elisabeth (Hg.): Ernst Barlach. Das plastische Werk. Werkverzeichnis, Bd. II, Güstrow 2006, WV Nr. 151. 985 Durieux 1979, S. 298. 986 Barlach an Karl Barlach, 3.11.30. Droß 1952a, Bd. 1, S. 163. 987 Vgl. Kennert 1996, S. 115. 988 Vgl. Hoffmeister 1992b, S. 80. 989 Vgl. Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 399–405. 990 »Ich werde ca. Mitte Juli mit Cassirer nach Noordwijk, wo ich seine Frau porträtieren soll, fahren.« Barlach an Reinhard Piper, 1. 6. 1912. Droß 1952b, Bd. 2, S. 401. 991 Vgl. Durieux, Tilla: Begegnungen mit Ernst Barlach, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 130. 992 Vgl. Schult 1997, Bd.1, S. 90–91; Laur 2006, Bd. II, S. 125–127.

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im Nacken und ruhigen Gesichtszügen. Barlach vereinfachte die Physiognomie des Modells und vernachlässigte die Herausarbeitung einzelner Merkmale zugunsten einer geschlossenen Wirkung. Die glatte Oberfläche der Plastiken und die gleichmäßige Licht-Schatten-Verteilung verstärken den Eindruck von tiefer innerer Ruhe des Modells. Auch in den vorbereitenden Bleistiftstudien ist die summarische Behandlung der Gesichtszüge bereits vorhanden.993 Es haben sich diverse Äußerungen von Barlach über seine Durieux-Porträts erhalten. Vor dem Bildnisauftrag hatte Barlach keinen guten Eindruck von Durieux, was ein Brief an Arthur Moeller van den Bruck belegt: »Was Tilla Durieux betrifft, so hat mir Cassirer, dessen richtige Frau sie jetzt ist, soviel erzählt, daß ich meine Art, sie zu sehen, vorläufig ganz zurückziehe. Aber ich bin wohl ein so wahrhaft barbarischer Kerl, daß ich trotzdem nicht weiß, was ich aus ihr, für mich, machen soll.«994

Während der Ausführung des Bildnisauftrags lernte Barlach die Schauspielerin dann besser kennen und revidierte sein früheres Urteil schriftlich gegenüber van den Bruck: »An der See im Cassirerschen Hause hatte ich viele schöne Tage, manchmal freilich ging es bunt her. Von dem Porträt will ich nichts sagen, als daß ich aus dem Gedächtnis hier ein neues gemacht habe, das mir gefällt. Ob es den Leuten auch gefällt – ich möchte wetten, ja. Ihre Frau hatte recht mir den Kopf zu nennen. Es steckt viel Menschlicheres in der Frau als man denkt.«995

Zu Reinhard Piper sagte Barlach bei einem Besuch in Güstrow über seine Durieux-Porträts: »Sie ist bei mir eine Frau geworden. In Wirklichkeit ist sie aber eine Dame.«996 Barlachs Durieux-Bildnisse waren in zahlreichen zeitgenössischen Ausstellungen zu sehen. Das Bildnis Tilla Durieux IV in Porzellan997 wurde 1913 bei der XXVI. Berliner Secessionsausstellung gezeigt.998 Der Verfasser der Ausstellungsbesprechung in der Kunstchronik lobt die hohe Qualität der Büste: 993 Ernst Barlach, Fünf Bildnisstudien nach Tilla Durieux, in Taschenbuch Güstrow 1912, Bleistift auf Papier, 16,5 x 10,2 cm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Inv.Nr. TZ 98. Ernst Barlach, Zwölf Zeichnungen zur Portraitbüste von Tilla Durieux, 1912, Bleistift auf blau kariertem Papier, jeweils ca. 16 x 9,5 cm, Blätter aus einem Taschenbuch von 1912, Kunstmuseum Bern, Inv.Nr. A7427–A7438. Schult, Friedrich (Hg.): Ernst Barlach. Werkkatalog der Zeichnungen, Werkverzeichnis, Bd. 3, Hamburg 1971, S. 115. 994 Barlach an van den Bruck, 26. 1. 1911. Droß 1952b, Bd. 2, S. 57. 995 Barlach an van den Bruck, 27. 8. 1912. Droß 1952b, Bd. 2, S. 68. 996 Zit. nach: Droß 1952b, Bd. 2, S. 806. 997 Ernst Barlach, Bildnis Tilla Durieux IV, 1912, Porzellan, weiße Glasur, 45 x 39 x 26 cm, u. a. Österreichische Galerie Belvedere, Wien, Inv.Nr. 2070. Abb. in: Laur 2006, Bd. II, S. 127. 998 Katalog der XXVI. Ausstellung der Berliner Secession Berlin 1913, Nr. 134, S. 30. https:// archive.org/details/katalogderausste26berl, Stand vom 21. 03. 2012.

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»Nicht groß, aber besonders fein gelungen ist diesmal die plastische Abteilung der Sezession. In ihr dominiert Ernst Barlach, der mit einer glänzenden Kollektion auftritt. […] Daß Barlach auch anderes Material zu behandeln versteht, zeigt seine meisterliche Porzellanbüste Tilla Durieux’, deren slawischen Rassekopf er mit ausgezeichneter Kunst für die glasierte Masse behandelt hat.«999

Das besondere Material des Porzellans wurde ebenso in der Besprechung in Deutsche Kunst und Dekoration hervorgehoben: »Barlachs Porzellanbüste der Frau Durieux interessiert wegen der besonderen Technik.«1000 1913 und 1914 war Barlachs Bildnis Tilla Durieux IV in Porzellan bei je einer Ausstellung in der Galerie Flechtheim in Düsseldorf dabei.1001 Die Porzellanbüste war außerdem 1921 zusammen mit weiteren Werken Barlachs bei der Herbstausstellung der Berliner Akademie vertreten.1002 1930 und 1932 präsentierte die Galerie Flechtheim in Berlin Bronzegüsse von Bildnis Tilla Durieux I, II, III1003 , die Flechtheim 1930 nach Barlachs Gipsmodellen von 1912 ausführen ließ.1004 Nach Barlachs Überlieferung hatte Cassirer ihm gegenüber bereits einige Jahre früher die Idee zur Reproduktion der Durieux-Skulpturen von Barlach in Bronze geäußert: »Paul Cassirer schlug vor, als er bei einem seiner Besuche in Güstrow die Gipse, von denen fast alle jetzt dort sind, sah, sie in Bronze gießen zu lassen, fügte hinzu […], daß er sich von der Publikation guten Erfolg verspräche. Die Sache unterblieb einstweilen […]. Auch eines der Porträts seiner Frau wünschte er in Bronze zu sehen.«1005

Offensichtlich schätzte Barlach die Porträts von Durieux, da er 1933 fünf davon bei der Liquidation von Flechtheims galerieeigenem Bestand an Kunstwerken kaufte, wie er im selben Jahr in einem Brief an Kestenberg schreibt.1006 999 M.O.: Die Sommerausstellung der Berliner Sezession, in: Kunstchronik, Jg. 24, Heft 32, 1913, S. 457–464, hier : S. 463. 1000 Vollert, Konrad: Die XXVI. Ausstellung der Berliner Sezession, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Jg. 32, 1913, S. 238–245, hier : S. 245. 1001 Eröffnung der Galerie Alfred Flechtheim in Düsseldorf, Beiträge zur Kunst des XIX. Jahrhunderts und unserer Zeit, 1913, o.Nr. Edvard Munch und Ernst Barlach, Galerie Alfred Flechtheim, Düsseldorf, 28. März bis 17. April 1914, Nr. 8. Dascher 2011, Materialien 1, S. 10, 22. 1002 Friedländer, Max. Die Herbstausstellung der Berliner Akademie, in: Kunst und Künstler, Jg. 19, Heft 4, 1921, S. 124–139, Abb. S. 141. Barlachs Bildnis Tilla Durieux wird im Text zwar nicht erwähnt, durch die Abbildung in dem Zusammenhang kann aber davon ausgegangen werden, dass es dabei war. 1003 Bronzen von Ernst Barlach, Galerie Alfred Flechtheim, Berlin, 13. November 1930, Nr. 3, 4. 111 Portraits zeitgenössischer Künstler, Galerie Alfred Flechtheim, Berlin, Mai/Juni 1932, Nr. 8–10. Dascher 2011, Materialien 1, S. 217, 238. 1004 Vgl. Schult 1997, S. 90–91. 1005 Barlach an Flechtheim, 14. 10. 1930. Droß 1952a, Bd. 1, S. 232. 1006 Barlach an Kestenberg, 13. 11. 1933: »Dabei will ich noch erwähnen, daß ich aus der Flechtheimschen Liquidation fünf Tilla-Büsten in Bronze mit einigen andern Bronzen gerettet habe. Fünf Stück, die kein Mensch haben will oder gar bezahlen – Courtoisie von F. gegenüber Tilla auf meine Kosten.« Droß 1952a, Bd. 1, S. 414.

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Durch seine literarisch-bildnerische Doppelbegabung besaß Barlach einen besonderen Zugang zur Bühne. Durieux sollte 1920 die Rolle des Fräulein Isenbarn in Barlachs Drama Der Arme Vetter im Lessingtheater übernehmen. Sie spielte die Rolle dann jedoch nicht und auch in sonst keinem Drama von Barlach.1007 Charakteristisch für sein plastisches Werk dringt Barlach in seinen Durieux-Porträts durch Abstraktion und Stilisierung zum Wesentlichen vor. Dieses dem Expressionismus verpflichtete Kunstverständnis weist Parallelen zu Durieux’ stilisierendem, vergeistigtem Darstellungsstil auf.1008 Es ist vorstellbar, dass Barlach in seinen Porträts von Durieux beabsichtigte, ihre Verinnerlichung bei der Hervorbringung eines Rollencharakters zu veranschaulichen. Gleichzeitig weisen Barlachs Versionen von Bildnis Tilla Durieux über individuelle Porträts hinaus, da sie das »Seelische[] überhaupt offenbar[en]«1009.

V.2.3 Auguste Renoir, Tilla Durieux, 1914 Auguste Renoir (1841–1919) und Paul Cassirer verband eine langjährige Bekanntschaft und Zusammenarbeit. 1901 stellte Cassirer zum ersten Mal in Deutschland Werke von Renoir in seinem Salon aus und regelmäßig in der Folgezeit.1010 Cassirer kaufte bis 1912 insgesamt 16 Renoirs1011 und verhalf Renoir zu Bekanntheit in Deutschland. 1912 zeigte Cassirer in seinem Salon eine Einzelausstellung von Renoir, die vorher in der Galerie Thannhauser in München1012 zu sehen war und 1914 gab er Renoir den Auftrag, ein Porträt seiner Frau anzufertigen (Abb. 13). V.2.3.1 Bildbeschreibung und Analyse Durieux sitzt in Renoirs Kniestück mit dem gesamten Körper nach rechts gedreht auf einem Sessel, die Arme sind auf den Armlehnen des Sessels abgestützt. Die rechte Hand hängt von der Armlehne herunter und die Finger berühren leicht das rechte Bein. Die Finger der linken Hand sind auf dem linken Oberschenkel einzeln aufgestellt. Der Kopf folgt der Drehung des Körpers nach 1007 Vgl. Droß 1952b, Bd. 2, S. 565, 809. 1008 Vogelberg bezeichnet Barlachs und Durieux’ Beziehung als »geistige Verbundenheit zwischen Künstler und Modell«. Vogelberg 2005, S. 284. 1009 Waetzoldt 1908, S. 129. 1010 Vgl. Brühl 1991. 1011 Vgl. Nonne, Monique: Renoir and his early twentieth-century patrons, in: Renoir in the 20th century, hg. v. Roger Benjamin und Claudia Einecke, Ausst.kat., Ostfildern 2010, S. 96–109, hier : S. 100. 1012 Cassirer arbeitete seit 1908 mit der Galerie von Heinrich Thannhauser in München zusammen.

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rechts, so dass das Gesicht im Dreiviertelprofil nach links erscheint. Der Blick geht unter gesenkten Lidern zur Seite aus dem Bild heraus, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren. Die Mundwinkel sind zu einem leichten Lächeln verzogen. Der Gesichtsausdruck wirkt durch die reduzierte Mimik ruhig, fast maskenhaft. Durieux trägt ein ärmelloses weißes Kleid mit locker fallendem Ausschnitt und eine gold-orange Bluse aus transparentem Stoff darüber. In den hochgesteckten, braunen Haaren trägt sie eine rosafarbene Rose. Der Ringfinger der linken Hand ist beringt, sonst hat sie keinen Schmuck. Sie sitzt vor einer orange gestrichenen Zimmerecke. Im Hintergrund erscheint am rechten Bildrand ein blauer Vorhang und links liegt ein Pelz. Die vorherrschenden Orangetöne bringen eine insgesamt warme Farbgebung hervor. Hintergrund und Figur sind nicht klar voneinander abgetrennt. Farbakzente bilden der blaue Vorhang im Hintergrund rechts und ein grünes Band, das von der Taille herabhängt, stellenweise aber von dem weißen Kleid verdeckt ist. Zur Modellierung der Figur verwendet Renoir feine Farbabstufungen. Kleidung und Hintergrund sind malerisch ausgeführt. Die helle, glatte Haut lässt Durieux zerbrechlich erscheinen, was durch die Blüte in ihrem Haar und den dünnen Stoff des Gewands noch verstärkt wird. Im Gegensatz dazu wirkt der Körper auf Grund der Dreiecks-Komposition der Figur ziemlich massiv. Die durch leichte Unteransicht erhöhte Figur thront richtiggehend auf dem Sessel. In Verbindung mit dem ziellosen Blick wirkt sie deshalb unnahbar. Zur Monumentalisierung der Figur trägt Renoirs Orientierung an Porträts der älteren Kunst bei. Die Arm- und Handhaltungen und die Art, wie der Ring am linken Ringfinger präsentiert wird, ruft die Porträtmalerei des Cinquecento, z. B. Bronzino, ins Gedächtnis. Pach wird durch die »Schwere« von Durieux’ Porträt an Rubens und Tizian erinnert.1013 V.2.3.2 Werkentstehung Für den Porträtauftrag reisten Durieux und Cassirer im Juli des Jahres 1914 nach Paris. Durieux stand Renoir insgesamt 19 Tage lang jeweils vier Stunden pro Tag in seinem Pariser Atelier Modell: »Ich saß ruhig wie ein Steinbild, das hatte ich bei den verschiedenen anderen Malern schon gelernt, die mein Porträt machten.«1014 Der Entstehungsprozess wurde fotografisch dokumentiert.1015 Mitte Juli 1013 »Renoir liebte die Pracht, aber er übertrieb sie nie. Auch dieses Bild ist von einer königlichen Anmut, wobei die Komposition im Grunde einfach ist. Das Gesicht der Sitzenden beherrscht das Bild. […] Man denkt an die barocke Üppigkeit eines Rubens, den Renoir studiert hatte, und an die Venezianer, vor allem an Tizian. An ihn erinnert die einfache Haltung der Sitzenden, die in ihrer Opulenz den ganzen Bildraum ausfüllt.« Pach, Walter : Auguste Renoir. Leben und Werk, 3. Aufl., Köln 1991, S. 160. 1014 Durieux 1979, S. 208.

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mussten Durieux und Cassirer Paris auf Grund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs verlassen. Das kurz zuvor fertiggestellte Gemälde war noch nicht trocken und daher überließ Cassirer es in der Obhut des Kunsthändlers Paul Durand-Ruel, mit dem er spätestens seit 1903 regelmäßig zusammenarbeitete. Durand-Ruel verstarb 1922 und seitdem galt das Durieux-Porträt als verschollen.1016 Zuvor hatte es Schwierigkeiten bei dem Versuch der Ausfuhr des Gemäldes gegeben, wie Durieux 1920 in einem Zeitungsartikel berichtet.1017 1924 wurde das Bildnis laut einem Artikel von Julius Elias1018 in der Zeitschrift Die Dame »aus Amerika wortlos Frau Durieux ins Haus gesandt«1019. 1925 wurde es in der Galerie Cassirer bei der Ausstellung im September/Oktober mit der Nr. 55, zusammen mit weiteren Arbeiten Renoirs, der Öffentlichkeit präsentiert.1020 Nach den Informationen zur Provenienz des Bildes vom Metropolitan Museum of Art in New York, nahm Durieux das Bildnis bei ihrer Emigration 1933 in die Schweiz und danach nach Zagreb mit. Von Zagreb aus verkaufte sie es 1933 an Walter Feilchenfeldt, der seit 1923 Partner von Cassirer war und die Galerie seit Paul Cassirers Tod 1926 bis 1933 weiterführte. Feilchenfeldt verkaufte das Gemälde 1935 an den Pariser Galeristen Ptienne Bignou weiter. Dieser verkaufte es 1935 an Stephen C. Clark, der es 1960 dem Metropolitan Museum of Art vermachte.1021 Es gibt mehrere Veröffentlichungen von Durieux über ihr Porträt von Renoir. In ihrer Autobiographie widmet sie Renoir und der Entstehung des Porträts ein eigenes Kapitel1022, in dem es heißt: »Wir hatten uns vorgenommen, am 1. Juli nach Paris zu reisen, dort sollte einer meiner Wünsche in Erfüllung gehen. Auguste Renoir hatte eingewilligt, ein Porträt von mir zu machen. Es war ein Traum, den ich seit Jahren mit mir herumtrug.«1023

1015 Abb. in: Durieux 1979, S. 289 und Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 74. 1016 Nach Durand-Ruels Tod 1922 drohten seine Erben mit einem Prozess gegen Paul Cassirer wegen der, während des Kriegs getätigten und ihrer Ansicht nach ungültigen, Verkäufe aus der Sammlung Pellerin. Vgl. Kennert 1996, S. 173. Es kam nicht so weit, aber es ist vorstellbar, dass die Erben unter diesen Umständen kein großes Interesse daran hatten, Paul Cassirer mit der Übergabe des Gemäldes von Renoir entgegenzukommen. 1017 Durieux, Tilla: Bei Auguste Renoir in: Morgenzeitung, Wien, 27. Januar 1920, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 520, S. 289. 1018 Der Kritiker Julius Elias war mit Paul Cassirer verwandt. 1019 Elias, Julius: Das Werk des Fünfundsiebzigjährigen. Auguste Renoirs Bildnis der Schauspielerin Tilla Durieux, in: Die Dame, Heft 6, 1924, S. 14–17, hier: S. 17. 1020 Galerie Cassirer, Ausstellung September/Oktober 1925, Nr. 55. Auskunft von Frau Petra Cordioli, Mitarbeiterin des Projekts »Kunstsalon Cassirer«, E-Mail vom 20. 10. 2011. 1021 Metropolitan Museum of Art, New York: Webseite. Auguste Renoir, Tilla Durieux: http:// www.metmuseum.org/Collections/search-the-collections/437432, Stand vom 20. 01. 2014. 1022 Vgl. Durieux 1969, S. 156–162; Durieux 1979, S. 205–211. 1023 Durieux 1969, S. 156.

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Durieux’ Aussage nach ist das Auftragsporträt auf ihren eigenen Wunsch entstanden, der durch die Geschäftskontakte ihres Mannes zu dem Maler realisiert werden konnte. Ein Text von Durieux über das Modellstehen bei Renoir erschien bereits ein Jahr nach dessen Tod 1920 in der Wiener Morgenzeitung: »Es war im Sommer 1914, als ich Renoir in Paris zu einem Porträt saß. […] Er fing an, mich in ganz kleinem Format zu skizzieren; von Sitzung zu Sitzung wurde aber die Leinwand größer […]. Er liebte das Heitere in der Kunst und verlangte vom Kunstwerk unter allen Umständen die Auslösung einer bejahenden Lebensfreude. […] Als mein Bild, das mich übrigens im Pygmalion-Kostüm der damaligen Aufführung zeigt, beendet war, bedauerte ich sehr, daß nun die täglich anregenden Plauderstunden ein Ende haben sollten; […]. Das Bild sollte, wenn es getrocknet war, mir nachgeschickt werden. Es war wohl noch naß, als der Weltkrieg ausbrach […], und mein Bild mag nun vielleicht – es war bisher nicht möglich es auszuführen, obwohl es doch mein Eigentum ist – auf der ›vente Renoir‹ versteigert werden, und vielleicht hängt sich irgendein französischer Chauvinist die deutsche Schauspielerin an die Wand.«1024

Mit der von Durieux geschilderten Plauderei während dem Modellstehen, die typisch für Renoir war, verfolgte der Künstler nach Sagner das Ziel der Entspannung seiner Modelle, die sich in seinen Frauenporträts oft in einem fernen, gedankenverlorenen Blick manifestiert: »Renoir liebte es, sich mit seinen Modellen zu unterhalten, und mehr noch, wenn sie ihm möglichst banale Dinge erzählten, denn so trat mit der Flüchtigkeit des Geistes eine gewisse Selbstvergessenheit ein, auf die es ihm ankam. Das Modell sollte geistig und körperlich entspannt sein und keinesfalls in einer Pose verharren.«1025

In einem Zeitungsartikel von 1927 beschreibt Durieux das Ergebnis ihrer Porträtsitzungen durch einen Vergleich mit der Rolle als Mrs. Cheveley in Oscar Wildes Ein idealer Gatte, die sie 1921 spielte1026 : »Nur bei Auguste Renoir hatte ich Verstecke, denn angeregt durch sein geistreiches Geplauder, angestrengt durch die französische Sprache, derer ich mich bedienen musste, behielt ich den konventionellen Ausdruck einer gesellschaftlich angeregten, plaudernden Frau. Und nun sehe ich mich – eine Mrs. Cheveley – von der Wand herunterlächeln.«1027

1024 Durieux 2004b. 1025 Sagner, Karin: Einleitung, in: Renoir und seine Frauen. Ideale auf der Leinwand – gestandene Frauen im Leben, hg. v. ders., München 2012, S. 14–19, hier: S. 17. 1026 Ein idealer Gatte von Oscar Wilde, Berlin: Lessing-Theater, Premiere: 28. Januar 1921, Regie: Hubert Heinrich, Rolle: Mrs. Cheveley. 1027 Durieux, Tilla: Der heimliche Kampf, in: Hannoverscher Anzeiger, 6. März 1927, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 60.

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Die Erinnerungen von Julius Meier-Graefe an die Entstehung von Renoirs Bildnis, die mit seinem Parisaufenthalt zusammenfiel, erschienen 1914 in einer Zeitung: »Ich sage Renoir Adieu. Er bleibt noch vierzehn Tage, weil er Tilla Durieux erwartet, die er malen soll. Er fragt mich nach ihr. Er hat sie nie gesehen. […] Ich erzähle ihm dies und jenes von dem Modell. Richtig, nickt er, sie ist Schauspielerin. ›C ¸ a me prendra au moins dix jours‹. Da sitzt der größte Künstler unserer Zeit. Er wird auf einem Stuhl durch die Räume gefahren und kann kaum noch die Zigarette halten. Er kennt nicht die Frau, die er malen soll. Sie kann irgendwie aussehen. […] Das Honorar, und wenn es fürstlich wäre, kann ihn nicht reizen. Aber er ist Maler. Man will von ihm das Bild, und er wird es malen. Da ist der Auftrag, hier ist der Handwerker.«1028

Einige Zeit später bemerkte Meier-Graefe im letzten Kapitel seiner RenoirMonographie zu Renoirs Durieux-Bildnis: »Das letztemal sah ich ihn in Paris in seinem Atelier. Auf der Staffelei stand das große Porträt der Tilla Durieux. Die kühle Besinnung dieser Frau lag ihm nicht, und er begnügte sich, sie zu schmücken.«1029 V.2.3.3 Das Bühnenkostüm von Paul Poiret Renoirs Durieux-Bildnis kann als verstecktes »Kostümporträt«1030 bezeichnet werden, da sie ein Kostüm von der Rolle der Eliza aus Shaws Pygmalion1031 trägt. Das Kostüm wurde von dem Modedesigner Paul Poiret entworfen, so Durieux in ihrer Autobiographie: »Vorher war ich nach Paris gefahren und hatte mir dort für die Szenen, in denen Eliza schon zur eleganten Frau umgewandelt sein muß, zwei schöne Kleider gekauft. Das Abendkleid stammte von Poiret, der damals gerade auf der Höhe stand.«1032

In dem Kapitel über Renoir in ihrer Autobiographie beschreibt sie das Kleid detailliert: »P.C. jedoch besprach sich inzwischen mit Renoir über das Kleid, in dem ich gemalt werden sollte […]. Ich hatte mir in einem Karton das Kleid von Poiret mitgenommen, das ich im vorletzten Akt von ›Pygmalion‹ trug. Es bestand aus einem engen Rock aus weißem Chiffon, der aber nur als Vorderbahn erschien, denn hinten und an den Seiten war er von einem herrlichen dunkelgrünen Brokat mit eingewebten steifen französi1028 Meier-Graefe, Julius: Kunstbummel, in: Frankfurter Zeitung, 22. Juli 1914, in: ders.: Tagebuch 1903–1917 und weitere Dokumente, hg. v. Catherine Krahmer, Göttingen 2009, S. 378–379. 1029 Meier-Graefe, Julius: Renoir, Leipzig 1929, S. 424. 1030 Schartner 1962, S. 43. 1031 Pygmalion von George Bernard Shaw, Berlin: Lessingtheater, Premiere: 1. November 1913 (DEA), Regie: Victor Barnowsky, Rolle: Eliza. 1032 Durieux 1979, S. 194.

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schen Lilien in Dunkellila bedeckt. Oben ließ ein durchsichtiger goldbestickter Schleierstoff nur wenig vom Halse frei, weite offene Ärmel aus demselben durchsichtigen Gewebe verhüllten die Arme. Das Ganze sah eher einem orientalischen Kostüm als einem Abendkleid ähnlich.«1033

Poiret revolutionierte von Paris aus die Modewelt und wurde zum »Herrscher über den Geschmack der feinen Damen«1034. Seine, dem Art d8co nahestehenden, Kreationen zeichneten sich u. a. durch den Verzicht auf ein Korsett aus.1035 Seit 1910 entwarf Poiret Bühnenkostüme und »kleidete […] immer wieder berühmte Schauspielerinnen ein«1036. Im Paul Cassirer Verlag wurde von 1913 bis 1914 die französische Modezeitschrift La Gazette du Bon Ton vertrieben, die auch über Poiret berichtete.1037 Vogelberg sieht Durieux’ Rollenkostüm als eigentliche Inspirationsquelle für Renoirs Porträt.1038 Ihrer Meinung nach betone Renoir durch den überproportional großen Körper das Kostüm und stilisiere Durieux auf diese Weise zu einem »luxuriösen und reizvollen Objekt«1039. Auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auf der Bühne Wert auf eine aufwendige Toilette von Schauspielerinnen gelegt.1040 Bildende Künstler1041 und gefragte Modedesigner1042 schufen Bühnenkostüme, die in den Kritiken ausführlich diskutiert wurden. Kostbare Kleidung diente in Schauspielerinnenfotografien des späten 19. Jahrhunderts als Mittel der Inszenierung, wie Holschbach dargelegt hat.1043 Auch von Durieux gibt es Rollenfotopostkarten, in denen das Bühnenkostüm im Vordergrund steht.

1033 Durieux 1979, S. 207. 1034 White, Palmer : Paul Poiret 1879–1944. Ein Leben für Mode und Kunst in Paris, Herford 1989, S. 142. 1035 Vgl. White 1989, S. 70. 1036 White 1989, S. 119. 1037 Vgl. Feilchenfeldt/Brandis 2002, S. 17. 1038 Vgl. Vogelberg 2005, S. 304. 1039 Vogelberg 2005, S. 303. 1040 Schauspieler waren in Deutschland bis 1919 vertraglich dazu verpflichtet, ihre Kostüme selbst zu stellen. Durieux schreibt in ihrer Autobiographie, dass sie am Anfang ihrer Karriere ihre ganze Gage für Bühnenkostüme aufbrauchte. Vgl. Durieux 1979, S. 73. Emil Orlik entwarf 1911 Durieux’ Kostüme für Die Spielereien einer Kaiserin, die unter seiner Leitung bei der Berliner Kostümfirma Ferch und Flotow angefertigt wurden. Vgl. Durieux 1979, S. 150. 1041 Ernst Stern, Max Slevogt, Emil Orlik und Ludwig Kainer arbeiteten für die großen Berliner Kostümfirmen Baruch, Ferch und Flotow und Theaterkunst. Vgl. Aschke 1993, S. 241. 1042 Die ausstattenden Berliner Modeateliers (z. B. Salon Clara Schultz) wurden auf den Theaterzetteln erwähnt. Vgl. Aschke 1993, S. 241. 1043 Auch Charlotte Wolter ließ sich »für ihre Auftritte in zeitgenössischen Stücken Kleider in renommierten Modehäusern anfertigen […].« Holschbach 2006, S. 249.

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V.2.3.4 Einordnung in Renoirs Gesamtwerk Das Porträt und besonders das Frauenporträt nehmen großen Raum in Renoirs Malerei ein. Häufig wählte er dafür den Bildausschnitt eines Kniestücks. Seine zahlreichen Auftragsporträts von Damen der Gesellschaft entsprechen dem Typus des traditionellen Gesellschaftsporträts, »die gesellschaftliche Rolle und sozialen Status veranschaulichend«1044. Das in sich Ruhende der Modelle, das durch die Körperhaltung und den Gesichtsausdruck vermittelt wird, verleiht ihnen distanzierte Eleganz. In Renoirs späten Frauenporträts ist eine zunehmende Idealisierung zu beobachten: »Statt Porträtgenauigkeit zu liefern, zeigen Renoirs Frauenfiguren ab 1900 einen vom Künstler selbst bevorzugten Typus weiblicher Schönheit.«1045 Nimmt man beispielsweise Renoirs um 1906 entstandenes Porträt von Misia Sert1046 zum Vergleich, ist ihre Erscheinung – angefangen bei den Körperproportionen über den Gesichtsausdruck bis hin zur Rose im Haar – mit seinem einige Jahre später entstandenen Durieux-Porträt identisch. Beide folgen Renoirs »Idealbild der weiblichen Erscheinung«, das der Kunsthistoriker Julius Elias so beschreibt: »[…] rosig, starke, aufströmende, ausfüllende Wangenrundung; genüßlich; knospenhaft, instinktvoll.«1047 Über Renoirs Durieux-Bildnis äußerte er sich folgendermaßen: »Tilla Durieux gesellt sich, in menschlicher Wesenheit malerisch umschrieben, der strahlenden Galerie der Frauen anschließend zu, die für Renoir den Typus Weib […] bedeutete.«1048

Die Physiognomie der Modelle wurde laut Sagner »Renoirs Idee sinnbildlicher körperlicher Schönheit untergeordnet«1049. Bei Durieux entsprechen Gesicht und Körper nicht dem Naturvorbild. Obwohl Durieux eine schlanke Figur hatte, malte Renoir sie nach seiner Vorliebe für kräftige Frauen, die man gut in seinen weiblichen Akten sehen kann. Renoir hatte ein konservatives Frauenbild, in dem die Frau ihre Erfüllung als Ehefrau und Mutter erfuhr.1050 Die berufliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit vieler seiner Modelle, die als Schauspielerinnen, Künstlerinnen und Mannequins tätig waren, macht er in den Porträts nicht sichtbar. Der abwesende Blick, der in vielen Frauenporträts von Renoir vorhanden ist, entspricht seinem traditionellen Bild einer passiven, sanftmüti1044 Sagner, Karin (Hg.): Renoir und seine Frauen. Ideale auf der Leinwand – gestandene Frauen im Leben, München 2012, S. 99. 1045 Sagner 2012, S. 87. 1046 Pierre Auguste Renoir, Misia Sert, um 1906, Öl auf Leinwand, 92,5 x 73,5 cm, The Barnes Foundation, Philadelphia, Inv.Nr. BF565. 1047 Zit. nach: Sagner 2012, S. 85. 1048 Elias, Julius: Das Werk des Fünfundsiebzigjährigen, S. 17. 1049 Sagner 2012, S. 122. 1050 Vgl. Sagner 2012, S. 85.

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gen Frau. Charaktereigenschaften wie geistige Wachheit, Esprit, Schöpferkraft oder Willensstärke der Modelle unterschlägt er. In Renoirs Durieux-Bildnis tritt die in den Kritiken beschriebene intelligente »Verstandsschauspielerin« nicht in Erscheinung. Es ist, wie alle Frauenbildnisse aus Renoirs Spätwerk, von Idealisierung geprägt, die in Entindividualisierung mündet. Die Persönlichkeit des Modells wird von seinem Frauenideal überlagert. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit Tilla Durieux – weder mit der Person noch mit der Schauspielerin – findet bei Renoir nicht statt. Bekanntermaßen besuchte Renoir gerne das Theater.1051 In den 1870er Jahren wählte er, wie viele andere Künstler in dieser Zeit, mit Vorliebe Mädchen aus dem Umkreis des Pariser Künstlerviertels Montmartre als Modelle, darunter auch Schauspielerinnen.1052 Die Mehrheit davon sind jedoch keine »celebrity portraits«1053, also Porträts berühmter Schauspielerstars wie bei Durieux, sondern zeigen anonyme Schauspielerinnen. Renoirs Porträts bestimmter Schauspielerinnen sind alle Zivilporträts und enthalten keine Hinweise auf die Berufe der Dargestellten. Sie treten auf seinen Gemälden nicht als Schauspielerinnen, sondern als phasenweise bevorzugte Modelle auf. Es gibt kein einziges Rollenporträt einer Schauspielerin von Renoir. Renoirs Bildnis Tilla Durieux ist eines der wenigen Auftragswerke unter Renoirs Schauspielerinnenbildnissen. Auch Jeanne Samary (1857–1890), eine Komödiantin der Com8die FranÅaise, trat von sich aus an Renoir mit dem Wunsch nach einem Bildnis heran.1054 Zwischen 1877 bis 1880 malte Renoir mehrere Bildnisse von Samary und auch für Genreszenen stand sie ihm mehrfach Modell.1055

V.2.3.5 Interpretation Renoirs Bildnis von Durieux folgt dem traditionellen Bildformular eines repräsentativen Standesporträts. Verschiedene Bildelemente wie Untersicht, Dreieckskomposition der Figur, Gestik, Blick und Kleidung kennzeichnen die Dargestellte als großbürgerliche »Dame der Gesellschaft«. Mit der Auswahl von Renoir für das Auftragsporträt bewegte Durieux sich in den besten Kreisen, da er viele Damen der Oberschicht porträtierte. Ein weiteres Indiz für den gesellschaftlichen Status ist der Pelz im Hintergrund des Gemäldes, der für Luxus steht. Er ist ein Statussymbol und vermittelt die Eleganz der Trägerin, da Pelze zu 1051 1052 1053 1054 1055

Sagner 2012, S. 58. Sagner 2012, S. 41. Vogelberg 2005, S. 298. Sie wollte damit ihre Karriere fördern. Vgl. Sagner 2012, S. 58. Pierre Auguste Renoir, Portrait de Mlle Jeanne Samary, 1878, Öl auf Leinwand, 174 x 101,5 cm, State Hermitage Museum, St. Petersburg. Abb. in: Sagner 2012, S. 61.

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dieser Zeit in Mode waren.1056 Auch die englische Schauspielerin Sarah Siddons trägt auf einem Zivilporträt von Thomas Gainsborough, das in der Royal Academy ausgestellt wurde1057, einen Pelz.1058 Diese Art der Darstellung ist charakteristisch für Schauspielerinnen-Porträts des 18. Jahrhunderts, so Möhrmann: »Die Schauspielerin wird nicht als Schauspielerin, also nicht in ihrer Funktion als Künstlerin dargestellt. Sie erscheint als eine Dame der Gesellschaft […].«1059 Im 18. Jahrhundert wurden der soziale Status und die gesellschaftliche Anerkennung von Schauspielern von ihrem moralischen Lebenswandel bestimmt. Daher war Siddons um ein Image als »noble lady« bemüht, zu dem u. a. ihre Bildnisse beitrugen.1060 Die Gegenwart von Pelzen auf Frauenporträts kann aber auch anders ausgelegt werden. Nach Pohle demonstriert ein Pelzmantel die Gleichsetzung von Frau und Tier nach außen hin.1061 Die Kombination von Frau und Tier wird in diesen Fällen dazu genutzt, um auf die animalische, instinktive, triebhafte Sinnlichkeit der Frau anzuspielen. Renoir hat diese Gleichsetzung in seinem Porträt von Durieux allerdings nicht angestrebt, da sie seinem Frauenbild zuwiderlief. Vogelberg schreibt in ihrer Dissertation der Tatsache, dass Durieux in Renoirs Bildnis ihr Bühnenkostüm als Eliza trägt, eine symbolische Funktion zu. In Shaws Pygmalion gewinnt Professor Higgins seine Wette, der Blumenverkäuferin Eliza Doolittle ein einer Herzogin würdiges Benehmen beizubringen. Vogelbergs Interpretation zufolge versinnbildlicht Renoirs Bildnis die Beziehung von Durieux und Cassirer. Ihrer Meinung nach bedeute Renoirs Bildnis von Durieux für Cassirer die Bestätigung seiner eigenen Existenz.1062 Durch die Bestellung von Auftragsbildnissen setze er seiner »Schöpfung« Durieux, auf die er nachweislich über Sprechunterricht und literarische Bildung einwirkte, ein Andenken. Tatsächlich litt Cassirer, nach der Überlieferung von Zeitgenossen, darunter, nicht selbst Künstler zu sein und konnte sich über seine Frau zumindest mittelbar schöpferisch betätigen.1063 Trotz der leichten biographischen Berührungspunkte mit Shaws Dramenfiguren erscheint Vogelbergs Interpretation zu weit hergeholt, da Renoir seinen Geschäftspartner und dessen Ehe wohl kaum auf diese Weise kommentiert hätte. Ebenso hält Vogelbergs These einer 1056 Vgl. Pohle 1998, S. 49. 1057 Vgl. Seewald 2007, S. 213. 1058 Thomas Gainsborough, Mrs. Siddons, um 1785, Öl auf Leinwand, 126 x 99,5 cm, National Gallery, London, Inv.Nr. NG683. Abb. in: Rosenthal, Michael/Myrone, Martin (Hg.): Gainsborough, Ausst.kat., London 2002, S. 267. 1059 Möhrmann 1989b, S. 120. 1060 Vgl. Seewald 2007, S. 98. 1061 Vgl. Pohle 1998, S. 49. 1062 Vgl. Vogelberg 2005, S. 342. 1063 Siehe dazu Kapitel III.2.

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Kongruenz von Renoirs Gestaltung und Durieux’ Schauspielstil nicht stand.1064 Renoirs Typisierung von Durieux ist ein künstlerisches Mittel, das er personenunabhängig in allen Frauenporträts seines Spätwerks einsetzte.

V.2.4 Hans Purrmann, Bildnis Tilla Durieux, 1916 Hans Purrmann (1880–1966) studierte nach einem Besuch der Kunstgewerbeschule Karlsruhe bei Franz von Stuck an der Münchner Kunstakademie. Im Winter 1904/1905 ging er erstmals nach Berlin. 1905 wurde er Mitglied der ›Berliner Secession‹ und 1914 der ›Freien Secession Berlin‹. Unter dem Einfluss von Matisse und C8zanne, deren Kunst Purrmann bei seinem mehrjährigen Parisaufenthalt kennenlernte1065, wurde die formale Gestaltung zum obersten Prinzip seiner Kunst.1066 1916 siedelte Purrmann erneut nach Berlin über und bewegte sich dort im Umkreis des Romanischen Caf8s.1067 In diesem Jahr schuf er ein Porträt von Durieux (Abb. 14), zu dem sich eine Vorzeichnung in Kohle1068 erhalten hat. Da das Gemälde verschollen ist, ist es nur als Schwarz-Weiß-Abbildung bekannt. Purrmanns Gemälde von Durieux war ein Auftragswerk für Paul Cassirer. Anfang des Jahres 1915 berichtete er seinem Bruder brieflich von dem Auftrag, die Schauspielerin zu malen.1069 Im Juli des folgenden Jahres schrieb er seiner Frau Mathilde vom Fortgang der Sitzungen.1070 Purrmann stand seit 1905 mit Cassirer in geschäftlichem Kontakt1071 und war auch mit Durieux bekannt1072. Zwischen 1911 und 1933 stellte Purrmann insgesamt neun Mal im Salon Cassirer aus.1073 1918 fand dort seine erste große 1064 Vgl. Vogelberg 2005, S. 338. 1065 Vgl. Lenz, Christian: Die Kunst Hans Purrmanns – Einführung in das malerische Werk, in: Lenz/Billeter 2004, S. 20–69, hier: S. 68. 1066 Vgl. Weber, Wilhelm: Zu den Bildnissen von Hans Purrmann, in: Hans Purrmann zum 85. Geburtstag. Bildnisse aus sechs Jahrzehnten, hg. v. Pfalzgalerie Kaiserslautern, Ausst.kat., Kaiserslautern 1965, S. 13–31, hier : S. 15. 1067 Vgl. Billeter, Felix: Biographie, in: Hans Purrmann – Im Kräftespiel der Farben. Gemälde, Aquarelle, Ausst.kat., hg. v. Christian Lenz, München 2006, S. 289–296, hier : S. 291. 1068 Hans Purrmann, Bildnis Tilla Durieux, 1916, Kohlezeichnung, 31 x 23,5 cm, Pfalzgalerie Kaiserslautern, Inv.Nr. 64/29. Abb. in: Billeter/Dornacher 2014, S. 103. 1069 Vgl. Lenz, Christian/Billeter, Felix (Hg.): Hans Purrmann. Die Gemälde I, Werkverzeichnis, München 2004, S. 198. 1070 Unveröffentlichter Brief im Hans Purrmann Archiv, München. Zit. nach: Lenz/Billeter 2004, S. 198. 1071 Vgl. Billeter, Felix/Dornacher, Pia (Hg.): Hans Purrmann. Handzeichnungen 1895–1966. Catalogue Raisonn8, Ostfildern 2014, S. 30. 1072 In ihrem Tagesnotizkalender notierte Durieux einen Besuch von Purrmann, 28. 9. 1920. Walach 2009a, S. 47. 1073 Vgl. Hoffmeister 1992b, S. 112.

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Einzelausstellung statt1074, die sich im ersten umfangreichen Artikel über den Künstler in Kunst und Künstler niederschlug. Der Autor Curt Glaser nennt darin das Bildnis von Tilla Durieux, jedoch ohne näher darauf einzugehen.1075 Auf Purrmanns Halbfigurenbildnis sitzt Durieux mit im Schoß gefalteten Händen auf einem Sessel oder Couch. Sie wird schräg von links ansichtig, das Gesicht erscheint im Dreiviertelprofil. Der Blick ist auf den Betrachter gerichtet. Durieux trägt ein gestreiftes Kleid mit großem Kragen, das im Dekollet8 mit kleinen Knöpfen und einer Brosche verziert ist. Ihr Haar ist hochgesteckt. Auf einem Tisch neben der Sitzgelegenheit steht ein ovaler Käfig mit einem Papagei. Die Einrichtung lässt auf ein Wohnzimmer schließen. Die Gesichtszüge sind sorgfältiger ausgeführt als das Kleid und die Hände. Die Lichtquelle liegt rechts, was die Schatten auf der linken Gesichtshälfte und den Schlagschatten, den der Körper auf die Lehne der Sitzgelegenheit wirft, erklärt. Die obere Hälfte der Figur hebt sich vom Hintergrund ab. Die untere Hälfte verschwimmt vor allem links mit dem Sitz. Der Raum hinter der Figur löst sich in einzelne Pinselstriche auf, wodurch eine Tiefenwirkung der Darstellung verhindert wird.1076 Abgesehen von den Schattierungen im Gesicht wird auf Plastizität der Figur verzichtet. Da das Gemälde verschollen ist, ist die ursprüngliche Farbgebung nicht bekannt. Es kann aber eine ähnlich intensive Farbigkeit mit starken Farbkontrasten wie in seinen anderen Frauenporträts der Zeit, z. B. in seinem Bildnis Mary Braune1077, ebenfalls 1916 entstanden, angenommen werden. Im Vergleich mit dem ausgeführten Gemälde weist die vorbereitende Kohlezeichnung eine deutlich freiere Gestaltung auf und wirkt daher spontaner und ungezwungener. Bildnisse zählten nicht zu Purrmanns »Lieblingssujets«.1078 Es gibt z. B. mehr gemalte Akte als Frauenporträts von ihm. Besonders Auftragsporträts stand er nach eigener Aussage kritisch gegenüber : »Diese meine Ausstellung würde ich gerne nur >Gelegenheitsmalerei< genannt haben, denn immer wieder reizte mich die Menschendarstellung, und Porträtaufträge habe ich nie gesucht, aber auch alle, die an mich gingen, meist rundweg abgelehnt. Nicht etwa, daß ich nicht lieber einen interessanten Mann der Öffentlichkeit und eine Frau der Gesellschaft gemalt hätte als ein Modell, aber hier bin ich sicher, daß es mir nicht mit der Uhr in der Hand sitzt, und außerdem keine Wünsche hat auf Ähnlichkeit und 1074 Vgl. Billeter, Felix: Das Leben Hans Purrmanns, in: Lenz/Billeter 2008, S. 37–62, hier : S. 44. 1075 Glaser, Curt: Hans Purrmann, in: Kunst und Künstler, Jg. 16, Heft 12, 1918, S. 453–464, hier: S. 462. 1076 Vgl. Lenz 2004, S. 68. 1077 Hans Purrmann, Bildnis Mary Braune, 1916, Öl auf Leinwand, 82 x 65 cm, Privatbesitz. Abb. in: Lenz 2004, Bd. 1, S. 199. 1078 Vgl. Billeter/Dornacher 2014, S. 33.

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Geschmeicheltsein. Um es frei herauszusagen, ein Maler wird nicht gerne zum Kitschmaler, und er hat Angst, keine Gelegenheit zu haben, Fortschritte machen zu können, und Tatsache ist, daß selbst die allergrößten Maler mit dem, was sie im Auftrag als Portrait geleistet haben, das am wenigsten Glückliche in ihrem Werk vollbrachten.«1079

Dennoch führte Purrmann in seiner Berliner Zeit diverse Porträtaufträge aus.1080 Die Überzahl von Purrmanns Damenbildnissen zeigt Verwandte des Künstlers oder Gattinnen seiner Sammler und Freunde und ähnelt sich bezüglich Bildausschnitt, Hintergrund und Malweise. Außer Durieux porträtierte er keine Bühnenpersönlichkeit. Auch sonst ist keine motivische Präferenz für das Theater in Purrmanns Schaffen feststellbar. Er ließ sich nicht von der unter den Berliner bildenden Künstlern zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten Theaterbegeisterung anstecken. Purrmann porträtierte Durieux nicht als Schauspielerin, sondern als Frau seines Kunsthändlers Paul Cassirer. Es gibt in dem Zivilporträt keinen Hinweis auf ihren Beruf. Entsprechend den traditionellen Geschlechterrollen ordnet Purrmann Durieux dem häuslichen Bereich zu. Das hochgeschlossene, gestreifte Kleid entspricht diesem konservativen Frauenbild, das auch Paul Cassirer vertrat.1081 Durch die zurückhaltende Körpersprache und dem – trotz Frontalität – abwesenden Blick macht Durieux einen passiven Eindruck, der nichts von ihrer Kreativität vermittelt.1082 Passend dazu hat sie die Hände untätig verschränkt. Zwei weitere Durieux-Porträtisten, Konrad von Kardorff1083 im Jahr 1912 und 1933 Walter Helbig1084, zeigen sie sitzend und erzielen eine ähnliche Wirkung. Lenz’ Charakterisierung von Purrmanns Bildnissen trifft auf das Porträt von Durieux zu: »Diese sind in ihrer Individualität unzweifelhaft charakterisiert, aber in ruhiger Haltung und Miene. Spontane, momentane Regungen sind ebenso vermieden wie der eindringliche Bezug zum Betrachter. Die Menschen wirken nicht derart distanziert, reglos, unserem Mitempfinden entzogen wie die Menschen C8zannes, aber sie zeigen doch ein recht verhaltenes Leben, ganz anders als die ekstatisch sich gebärdenden Menschen des Expressionismus. Purrmanns Menschen sind in ihrem unmittelbaren Dasein dargestellt, zwingen uns aber nicht in Auseinandersetzung mit ihren Gedanken 1079 Purrmann, Hans: Über das Porträt-Malen, in: Pfalzgalerie Kaiserslautern 1965, S. 8–11, hier: S. 8. 1080 Vgl. Lenz 2004, Bd.1, S. 37. 1081 Vgl. Durieux 1979, S. 137. 1082 Der Darstellungsmodus geht auf einen gängigen Porträttyp zurück. Ein sanftes Wesen galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine der obersten weiblichen Tugenden. 1083 Konrad von Kardorff, Bildnis Tilla Durieux, um 1912, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt. Abb. in: Die Kunst für Alle, 28. Jg., Heft 21, 1913, S. 498. 1084 Walter Helbig, Bildnis Tilla Durieux, 1933, Öl auf Leinwand, 106 x 84 cm, Von der Heydt Museum, Wuppertal, Inv.Nr. G0995.

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und Empfindungen, gar mit ihrem Schicksal. Der Maler psychologisiert nicht, weiß aber sehr wohl in der Physiognomie wie auch in der Haltung das je Besondere zu treffen.«1085

Der kontemplative Augenausdruck war gleichzeitig ein schauspielerisches Mittel von Durieux, wie ein ihr gewidmetes Gedicht von Lasker-Schüler deutlich macht: »Oft aber schweben die seltsam seltenen – Grauen Vögel unter feinen Brauenbogen weit fort, – Als ob sie nie wiederkehren.«1086 Der Papagei im Käfig im Hintergrund von Purrmanns Porträt betont den privaten Bereich1087, in dem es verortet ist, und gibt darüber hinaus Anlass zu weiteren, vielschichtigen Interpretationen. Ein erster, aber zweifelhafter Interpretationsansatz ergibt sich aus dem Vergleich vom Sprachtalent des Papageis mit der Fähigkeit des Schauspielers, einen auswendig gelernten Text auf der Bühne wiederzugeben. Wahrscheinlicher ist die Deutung des Tieres als eigenständiges Symbol. Der Papagei besitzt eine sehr vielschichtige und komplexe Symbolik.1088 Das kostbare Tier stand u. a. lange Zeit für Luxus.1089 In großbürgerlichen Haushalten war der Papagei um 1900 ein häufig anzutreffendes Haustier.1090 Seine tropische Herkunft brachte Exotik ins eigene Heim. Auch Durieux besaß mehrere Papageien, wie Fotografien zeigen. Das Kapitel V.4.2.6 dieser Arbeit veranschaulicht die Häufigkeit von Fotografien, die Durieux zusammen mit ihren Haustieren abbilden. Das Sujet »Frau mit Papagei« besitzt eine lange Tradition in der Kunstgeschichte1091 und der Vogel blieb auch im 20. Jahrhundert ein beliebtes Accessoire in Frauenporträts.1092 Viele Zeitgenossinnen von Durieux wie Frieda Riess, die Marchesa Luisa Casati1093 (1881–1957) oder die Filmschauspielerin Evi Eva (1899–1985) ließen sich zusammen mit einem Papagei darstellen.1094

1085 Lenz 2004, Bd. 1, S. 38. 1086 Lasker-Schüler, Else: Tilla Durieux, in: Der Querschnitt, Jg. 2, Jahresband, 1922, S. 179. 1087 Der Käfig mit Papagei aus Purrmanns Gemälde ist auf einer Fotografie von Sasha Stone, die bei Durieux zu Hause aufgenommen wurde, zu sehen. Sasha Stone, Die Katze Tilla Durieux’ im Vogelkäfig, 1927. Abb. in: Hammers, Birgit: ›Sasha Stone sieht noch mehr‹. Ein Fotograf zwischen Kunst und Kommerz, Diss., Petersberg 2014, S. 178. 1088 Vgl. Büttner, Frank/Gottdang, Andrea: Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten, München 2006, S. 132. 1089 Als Luxusgut erscheint der Papagei auf Vanitas-Stilleben als Memento mori. 1090 Vgl. Beckers/Moortgat 2008, S. 22. 1091 Es findet sich z. B. bei Netscher, Tiepolo, Delacroix, Courbet, Manet, Renoir oder Macke. 1092 Vgl. Beckers/Moortgat 2008, S. 22. 1093 Zu Casatis Porträts vgl.: Ryersson, Scott D./Yaccarino, Michael Orlando (Hg.): The Marchesa Casati. Portraits of a muse, New York 2009. 1094 Vgl. Beckers/Moortgat 2008.

Auftragsporträts: Durieux als »Dame der Gesellschaft«?

183

V.2.5 Zusammenfassung Die Vergabe von Aufträgen für Porträts von Familienmitgliedern war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in gehobenen Gesellschaftskreisen und vor allem unter Personen aus Kunst und Kultur weit verbreitet.1095 Es handelt sich in gewisser Weise um die moderne Weiterführung der Tradition des bürgerlichen Porträts mit gewandelten Bildnisansprüchen und gelockerten Porträtkonventionen.1096 Statt dem »standesbewußte[n] Anliegen«1097 ging es den Auftraggebern jetzt um die »ästhetische[…] Wiederspiegelung«1098 ihrer Person.1099 Damenbildnisse wurden nach Dorgerloh häufig weiterhin im Stil der »modischen Typisierung«1100 ausgeführt. Für Durieux’ Auftragsporträts wurden allerdings keine Künstler ausgewählt, denen es in ihren Damenporträts darum ging, die Frauen »›schön‹ oder zumindest ›interessant‹ darzustellen«1101, wie es laut Dorgerloh um 1900 üblich war. Stattdessen wurden Künstler aus Cassirers Umkreis beauftragt. Von Cassirer selbst gibt es nur sehr wenige Porträts1102 und es gibt kein gemaltes Doppelporträt des Paares. An der, im Hinblick auf die große Gesamtzahl der Porträts, geringen Anzahl von Auftragsporträts Durieux’ sieht man, dass zumindest keine systematische Strategie mit ihnen verfolgt wurde. Sarah Bernhardt etwa vergab vergleichsweise deutlich mehr Porträtaufträge an Künstler und nutzte sie zur Selbstdarstellung.1103 Wie Vogelberg verdeutlicht, instrumenatlisierte Bernhardt die Künstler geradezu für ihre Auftragsporträts.1104 Bei

1095 Die Situation der Berliner Porträtmalerei um 1900 wird gut dargestellt bei: Dorgerloh, Annette: Das Künstlerehepaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900, Diss., Berlin 2003. Siehe dazu auch: Muysers, Carola: Franz von Lenbach und die gründerzeitliche Porträtmalerei, in: Lenbach. Sonnenbilder und Porträts, hg. v. Reinhold Baumstark, Ausst.kat., München/Köln 2004, S. 93–120. Es gibt bisher keine Untersuchungen zu Porträtaufträgen von Cassirers Kollegen Alfred Flechtheim oder Herwarth Walden und ihren Ehefrauen. 1096 Vgl. dazu: Muysers 2001. Das Kunstinteresse war von großer Bedeutung für das Selbstverständnis des Bürgers zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Muysers 2001, S. 15. 1097 Muysers 2001, S. 127. 1098 Vgl. Muysers 2001, S. 16. 1099 »So entwickelte sich das bürgerliche Portrait zu einem Medium, das den ästhetischen Selbstentwurf und ebenso sehr die für jene Gesellschaftsgruppen typische Selbstreflexion und -kritik zu integrieren wußte.« Muysers 2001, S. 257. 1100 Laut Dorgerloh ist diese »modische[] Typisierung« in weiblichen Auftragsporträts gegen Ende des 19. Jahrhunderts »höchst aufschlussreich für den Porträtgebrauch«, da »selbst entschiedene Verfechter der impressionistischen Kunst für die Bildnisse ihrer Gattinnen konventionelle Gesellschaftsmaler heranzogen.« Dorgerloh 2003, S. 179. 1101 Dorgerloh 2003, S. 184. 1102 Vgl. Feilchenfeldt 2006, S. 14–17. Laut Feilchenfeldt habe Cassirer es abgelehnt, porträtiert zu werden. Vgl. Feilchenfeldt 2006, S. 15. 1103 Vgl. dazu: Thorun 2006. 1104 Vgl. Vogelberg 2005.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

Durieux dagegen war die beabsichtigte Inszenierung nicht allein ausschlaggebend für die Auswahl der Künstler. Alle drei hier besprochenen Auftragsporträts von Durieux sind Zivilporträts. Im Gegensatz zu den Rollenporträts, die Gegenstand des vorhergehenden Kapitels waren, wird die Schauspielerin keinem einheitlichen Weiblichkeitsbild untergeordnet. Trotz des gemeinsamen Entstehungsgrunds variiert die Art und Weise, in der die Auftragsporträtisten die Schauspielerin in ihren Bildnissen zur Geltung brachten. Kokoschkas auf das Gesicht konzentrierte Darstellung (Abb. 10) zielt nicht auf den für das Auftragsporträt jahrhundertelang zentralen Aspekt der Repräsentation ab. Vielmehr wird sein Porträt zu einem Mittel der bildkünstlerischen Suche nach dem Individuum.1105 Sein Bericht über die erste Modellsitzung beweist, dass er einen eigenen Willen bei der Erstellung seines Bildnisses hatte. Da sich Kokoschkas Bildnis in Durieux’ Besitz befand und 1922 im Salon Cassirer ausgestellt war, muss sie immerhin zufrieden mit dem Ergebnis gewesen sein. Bei Renoir und Purrmann ist jeweils ein hoher Grad an Repräsentation vorhanden. Daraus ergeben sich übereinstimmende Inszenierungsabsichten. Beide kreieren in ihren Auftragsporträts das Bild einer »Dame der Gesellschaft«. Bereits im 18. Jahrhundert versuchten die englischen Schauspieler Sarah Siddons und David Garrick ihre soziale Stellung und den Ruf des Schauspielerstands mit Hilfe ihrer Porträts zu verbessern und in die »noble society« aufgenommen zu werden.1106 Das würdevolle Sitzmotiv und der entrückte Gesichtsausdruck bei Renoir (Abb. 13) verleihen der Dargestellten eine exklusive Eleganz, sie wirkt gesetzt und distanziert. Der Pelzmantel im Hintergrund und ihr vornehmes, von dem Designer Poiret entworfenes, Kleid bestätigen ihre Zugehörigkeit zur oberen Gesellschaftsschicht.1107 Renoirs Bildnis hatte in Durieux’ Wohnung einen exponierten Platz im Salon1108, dem »Grenzort zwischen privater und öffentlicher Sphäre«1109. Durch die Präsentation des privaten Bildnisses bei der RenoirAusstellung 1925 im Kunstsalon Cassirer wurde es zeitweise öffentlich. In ihrer 1105 Vgl. Lüthy 2013, S. 50. 1106 Vgl. Seewald 2007, S. 214; Gockel 1998, S. 228–229. Laut Aliverti habe Garrick mit der Steuerung der Bildnisproduktion als Bestandteil seiner »Image-Strategie« nicht nur Werbeziele verfolgt, sondern darüber hinaus »die Konstruktion […] des Schauspielers in seiner kreativen Autonomie als Künstler.« Aliverti, Maria Ines: Stars, Körper und Bilder, in: Küster/Aliverti 2003, S. 38–41, hier : S. 41. 1107 Das Tragen aktueller französischer Mode war nach Muyser um 1900 typisch für »Darstellungen gutsituierter Gesellschaftsdamen«. Muysers 2001, S. 132. Siehe dazu auch: Dorgerloh 2003, S. 181–183. 1108 Sasha Stone, Tilla Durieux’ Wohnung in der Kaiserin-Augusta-Straße, 1928, Fotografie, Kleinbildformat, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 251.0. 1109 Muysers 2001, S. 16.

Auftragsporträts: Durieux als »Dame der Gesellschaft«?

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Autobiographie bezeichnet Durieux ihr Renoir-Porträt als das »schönste[…] Porträt«1110 von ihr. In dieser Bewertung drückt sich nicht ihr Kunstgeschmack, sondern ihr Selbstbild, das sie über ihre Bildnisse vermittelt haben wollte, aus. Mit der Auswahl von Renoir für ihr Porträt fand sie einen Künstler, dessen Porträtstil mit ihren Inszenierungsabsichten übereinstimmte. Sie konnte sich sicher sein, dass er sie so malte, wie sie gesehen werden wollte. Zugunsten der gelungenen Inszenierung als »Dame der Gesellschaft« nahm Durieux in Kauf, dass Renoirs konservatives Frauenbild ihr kluges, schöpferisches Wesen überlagerte. Purrmann schuf im wahrsten Sinne des Wortes ein Zivilporträt von Durieux (Abb. 14). Er malte sie in der privaten Umgebung ihrer Wohnung. Mehr noch als die räumliche Situation, ist das Haustier, der von zahlreichen Fotografien bekannte Papagei1111, ein Hinweis auf die private Atmosphäre. Trotz dieses »inoffiziellen« Charakters gibt sich das Modell alles andere als zwanglos. Die aufrechte Sitzhaltung, die im Schoß gefalteten Hände und die sorgfältige Komposition der Bildgegenstände entsprechen dem Formular eines konventionellen Standesporträts. In diesem Sinn ist der Papagei im Bild ein Symbol des exklusiven Lebensstils der Oberschicht, zu dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Haltung exotischer Tiere gehörte. Das Image der »Dame der Gesellschaft« entspricht Durieux’ schriftlicher Selbstinszenierung.1112 In ihrer Autobiographie beklagt sie sich über die Ablehnung ihres Berufs durch Cassirers Familie.1113 Die zahlreichen Skandale, die sich »sich an den Namen der Durieux«1114 hefteten und ihr einen Lebensstil jenseits der bürgerlichen Moral unterstellten, waren ihr lästig.1115 In einem Artikel von 1926 rechtfertigt sie die Entscheidung der von ihr verkörperten Dramenfigur Franziska für die Ehe am Ende von Wedekinds Bühnenstück. Es wirkt, als ob sie von sich selbst redet: 1110 Ihering, Herbert/Ludwig, Rolf: »Weißt du noch…«. Interview mit Tilla Durieux 1967 in Berlin, Schallplatte, Litera 860118. AdK, Berlin, AVM 30.0013. 1111 Siehe dazu das Kapitel V.4.2.6 dieser Arbeit. 1112 Bei einem Vortrag von 1914 äußert sie sich leicht ironisch über die erreichte gesellschaftliche Akzeptanz des Schauspielerstands: »Ehemals mußte die Schauspielerin auf der Bühne ihren Familiennamen ablegen, ja noch meine Generation mußte sich mit der Erlaubnis begnügen, den Namen der Großmutter oder der Ahne anzunehmen; […]. Nun aber haben wir es herrlich weit gebracht, wir sind aufgenommen in den Kreis der Bürgerlichkeit.« Durieux 2. August 1928. 1113 Vgl. Durieux 1979, S. 133–134. 1114 Luft, Friedrich: Tilla Durieux, Berlin 1970. 1115 In ihrer Autobiographie beschreibt Durieux einen derartigen Zeitungsklatsch 1913 über eine angebliche Affäre von ihr mit Baron Lazy von Hatvany. Vgl. Durieux 1979, S. 194–195. »Sollte sich denn an meine Fersen ein Skandal nach dem anderen heften?« fragt sie in ihrer Autobiographie anlässlich des Selbstmords von Alice Trübner in ihrem Beisein 1916. Durieux 1979, S. 241.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

»Die Möglichkeit, daß dieser Sprung gelingt, kann nur der ermessen, dessen Schritte Jahre lang über Seile – Dächer – Glasscherben glitt und dessen Balancieren der Spießer mit Grauen – und Neid bestaunte. Aber viele der in Abenteuern müde gehetzten Seelen suchen die Ruhe der Bürgerlichkeit als rettenden Hafen und aus tiefer Überzeugung, daß der Gleichklang des Tages schließlich die einzig dauernde Lebensform bleibt.«1116

Offenbar war die großbürgerliche Inszenierung durch Durieux selbst und durch ihre Porträts im Typus der »Dame der Gesellschaft« erfolgreich, wie ihr Fremdbild beweist. In einer Sammlung von Kritiken von Leo Rein, die 1923 in der Berliner Zeitung erschien, heißt es: »Sie ist die Überlegenheitsspielerin. Die Heldin des Salons, beliebtes, geliebtes Vorbild von Berlin W. Die große Dame.«1117 Über ihre Rolle als Dame mit den Perlen in der Uraufführung von Georg Kaisers Hölle Weg Erde 1920 schreibt Willi Handl: »Tilla Durieux, die Dame, hat gerade für den Stil, der hier verlangt wird, in Haltung, Ton und Sprache die glänzendsten Gaben.«1118 Der Publizist Willy Haas ruft 1962 den Salon der »einfach-elegante[n], souveräne[n] Dame« Durieux in Erinnerung: »Diese ›böse Frau‹ in ihren großen Tagen war die große Bühnenrolle der großen Tilla Durieux. Auch im Leben? Ich kannte sie hier nur als die überaus einfach-elegante, souveräne Dame eines der wenigen wirklich interessanten Salons im alten Berliner Westen, wo man merk- und denkwürdige Menschen antreffen konnte. […] Ich werde sie vielleicht vergessen als Herodias in Hebbels Drama oder als Salome in Wildes Bühnenstück, aber kaum als die unbeschreiblich selbstverständliche Weltdame in ihrem Salon.«1119

Das Haus des Paares Durieux-Cassirer (und nach Cassirers Tod ebenso Durieux’ eigenes Heim) war ein beliebter Treffpunkt für jeden, der in der Berliner Gesellschaft Rang und Namen hatte. Als Dame des Hauses zeichnete Durieux für die Organisation dieser Salons verantwortlich und erhielt gesellschaftliche Anerkennung dafür.1120 Unter den Auftragsporträts stellt Corinths Tilla Durieux als spanische Tän1116 Durieux, Tilla: Franziskas Flucht ins Bürgerliche, in: Zwischenakt, Jg. 6, Heft 14, November 1926, S. 1–2. 1117 Rein, Leo: Tilla Durieux, Kritik in der Berliner Zeitung, 1923, zit. nach: Hellhammer/ Müller 1997, S. 16. 1118 Handl, Willi: Hölle Weg Erde, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21. Januar 1920, zit. nach: Rühle 1967, S. 189. 1119 Haas, Willy : B.F. Dolbin: Gesicht einer Epoche, Gütersloh 1962, S. 34. 1120 So heißt es 1926 in einem Zeitungsartikel über Durieux’ Qualitäten als »SaloniHre«: »Die Feste, die Frau Durieux und ihr verstorbener Gatte Paul Cassirer in ihrem, mit erlesenem Geschmack eingerichtetem, Heim in der Viktoriastraße veranstalteten, waren nicht nur durch Originalität berühmt, sondern die große Künstlerin, die zugleich eine mustergültige Hausfrau ist, setzte ihren ganzen Ehrgeiz daran, daß vom Vorgericht bis zu heißen Würstchen in vorgerückter Stunde alles bis ins feinste Detail mustergültig klappte.« Huhn, Vera von: Berliner Künstlersilhouette, in: Neues Wiener Journal, März 1926, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 38.

Porträts der 1920er Jahre: Durieux als ›Neue Frau‹

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zerin (Abb. 3) eine Ausnahme dar. Es handelt sich um ein Kostümporträt, das dem Typus der ›Femme fatale‹ nahe steht und Durieux’ Image als Exotin aufgreift. Der Grund für die von den anderen Auftragsporträtisten abweichende Gestaltung könnte darin liegen, dass Corinth bereits vor dem Auftrag den Wunsch hatte, Durieux zu malen. Er ließ sich bei seiner Darstellung allein von der Faszination, die von Durieux auf ihn ausging, inspirieren, ohne die Intention, das Selbstbild der Schauspielerin im Porträt durchscheinen zu lassen. Er malte Durieux so, wie er sie sah, temperamentvoll und kreativ. Auch Barlachs Plastiken von Durieux (Abb. 11, Abb. 12) inszenieren sie nicht als »Dame der Gesellschaft«. Vielmehr sind sie sehr stark von einem persönlichen Zugang des Porträtisten zu seinem Modell geprägt. Die Freundschaft und das verwandte künstlerische Selbstverständnis der beiden brachten Porträts der Schauspielerin hervor, die eine von Entstehungszeit und -ort autonome Wirkungskraft besitzen. Eine, in welche Richtung auch immer gehende, Inszenierung Durieux’ rückt bei Barlach vollkommen in den Hintergrund.

V.3

Porträts der 1920er Jahre: Durieux als ›Neue Frau‹

Bemerkenswerterweise stammt ein Großteil der Porträts von Durieux, die dem Typus ›Neue Frau‹ folgen, von Künstlerinnen. Sie gehören zu den wenigen Porträts von Durieux, die von Frauen geschaffen wurden.1121 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Frauen der Zugang zu den Kunstakademien und die Teilnahme am Kunstbetrieb weitgehend versperrt.1122 Ersatzweise gab es kostspielige private Damenakademien1123 sowie diverse Künstlerinnenvereinigungen, die eigene Ausstellungen organisierten1124. Die ›Berliner Secession‹ nahm als erste große Künstlervereinigung Frauen auf und präsentierte Werke von Künstlerinnen in den Secessionsausstellungen.1125 Dennoch fällt Wolff-Thom1121 Es gibt insgesamt neun Künstlerinnen, die zwischen 1914 und 1967 Bildnisse von Durieux schufen: Thekla Harth-Altmann (1914), Frieda Riess (1921), Katerina Wilczynski (1923), Tina Haim-Wentscher (1920er Jahre), Charley Toorop (1927), Martel Schwichtenberg (1930), Lotte Jacobi (1927), Mary Duras (1937) und Helga Tiemann (1967). 1122 Vgl. Behling, Katja/Manigold, Anke: Die Malweiber. Unerschrockene Künstlerinnen um 1900, Berlin 2013, S. 10. 1123 Vgl. Wolff-Thomsen, Ulrike: Käthe Kollwitz und ihre 106 Kolleginnen in der Berliner Secession (1898/99–1913), in: Käthe Kollwitz und ihre Kolleginnen in der Berliner Secession (1898–1913), hg. v. Ulrike Wolff-Thomsen und Jörg Paczkowski, Ausst.kat., Heide 2012, S. 10–33, hier : S. 15. 1124 1905 wurde die ›Verbindung bildender Künstlerinnen Berlin-München‹ von Julie Wolfthorn, Käthe Kollwitz und zehn weiteren Künstlerinnen gegründet. Vgl. Wolff-Thomsen 2012, S. 27. 1125 Vgl. Wolff-Thomsen 2012, S. 13. »Der Frauenanteil lag konstant bei rund 6 %.« WolffThomsen 2012, S. 14. Weibliche Mitglieder der ›Berliner Secession‹ waren Charlotte Be-

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

sens Fazit der Stellung von Frauen in der ›Berliner Secession‹ ernüchternd aus: »Keine Frau erlangte eine nur annähernd gleichberechtigte Stellung – weder in der Organisation noch im Kunstfeuilleton noch auf dem Kunstmarkt.«1126 Nach dem Ersten Weltkrieg verbesserte sich die Position von Künstlerinnen. Seit 1919 gab es eine Klasse für Frauen an der Berliner Hochschule der Bildenden Künste.1127 Der Bereich der relativ jungen Gattung Fotografie öffnete sich etwas bereitwilliger für Frauen als die anderen Kunstgattungen.1128 In der Ausstellung des ›Vereins der Künstlerinnen zu Berlin‹1129 mit dem Titel Die Frau von heute im Jahr 1929 wurden ausschließlich Bildnisse von Künstlerinnen1130 gezeigt, um den weiblichen Blick auf Frauen aus allen Kreisen, Berufen und Altersstufen zu präsentieren, wie es im Ausstellungskatalog heißt.1131 Der Unterschied zwischen dem männlichen und dem weiblichen Blick auf das weibliche Modell liegt gemäß den Ausstellungsorganisatorinnen hierin: »Die schmeichelnde Erotik des männlichen Malers ist durch die weibliche Anpassungsfähigkeit der Frau ersetzt, die ihre eigene Geschlechtsgenossin kühler, sachlicher, aber darum nicht minder interessant sieht.«1132

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rend-Corinth, Käthe Kollwitz, Julie Wolfthorn, Dora Hitz, Sabine Lepsius, Clara Siewert, Ernestine Schultze-Naumburg, Maria Slavona und Hedwig Weiss. Hitz, Wolfthorn, Lepsius und Schultze-Naumburg waren Gründungsmitglieder. Dagegen war der Anteil der Ausstellerinnen, darunter Mitglieder und Gäste, mit insgesamt 107 Künstlerinnen bis zum Jahr 1913 relativ hoch. Auch Tina Haim-Wentscher, die eine Skulptur von Durieux schuf, war bei Secessionsausstellungen vertreten. Wolff-Thomsen 2012, S. 30. Vgl. Behling/Manigold 2013, S. 15. Vgl. Kaufhold, Enno: Das fotografische Porträt als Spiegel des Gesellschaftlichen, in: Vorsteher/Quermann 2005, S. 10–31, hier : S. 18. Der ›Verein der Künstlerinnen zu Berlin‹ wurde 1867 gegründet und »stellt die älteste Institution im deutschsprachigen Raum dar, die sich um die Rechte und Chancen der Künstlerinnen kümmert.«: Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 e.V. http://www. vdbk1867.de/, Stand vom 10. 10. 2014. Bei der Ausstellung vertreten waren u. a. Bildnisse von Martel Schwichtenberg, Tina HaimWentscher, Milly Steger, Käthe Kollwitz, Julie Wolfthorn und Katharina von Kardorff. Es wurden auch verschiedene Bildnisse von Schauspielerinnen dargeboten, darunter eine Plastik von Milly Steger von Lucie Höflich. Vgl. Verein der Künstlerinnen zu Berlin (Hg.): Die Frau von heute, Ausst.kat., Berlin 1929. Herzog, Elsa: Einleitung, in: Die Frau von heute, hg. v. Verein der Künstlerinnen zu Berlin, Ausst.kat., Berlin 1929, o.S. Herzog 1929. Die Beschreibung verweist auf den Stil der Neuen Sachlichkeit, in dem einige Künstlerinnen der Ausstellung arbeiteten. Er wird von manchen Forschern als Idealstil für Frauenbildnisse im Typus der ›Neuen Frau‹ bezeichnet. Vgl. Kessemeier 2000, S. 49. Vgl. auch: Quermann, Andreas: Porträts der zwanziger Jahre, in: Vorsteher/Quermann 2005, S. 76–97, hier : S. 76. Ein passendes Beispiel hierfür ist: Otto Dix, Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden, 1926, Mischtechnik auf Holz, 120 x 88 cm, Mus8e National d’Art Moderne, Paris, Inv.Nr. AM 3899 P.

Porträts der 1920er Jahre: Durieux als ›Neue Frau‹

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Die Richtigkeit dieser Behauptung sei dahingestellt, aber allein die Tatsache, dass Überlegungen über eine spezifisch weibliche Porträtmalerei angestellt wurden, ist bezeichnend für die veränderte Situation der Künstlerin in den 1920er Jahren. Im Folgenden soll nicht untersucht werden, wie sich die weibliche Perspektive auf Tilla Durieux von der männlichen unterscheidet1133, sondern das Kapitel dient zur Herausstellung der Beteiligung von Künstlerinnen an der bildnerischen Verewigung von Durieux’ wandelbaren Gesichtern. Männliche Porträtisten hielten Durieux ausschließlich in Fotografien und Karikaturen als ›Neue Frau‹ fest. In Durieux’ Fremd- und Selbstbild tauchen auch bereits vorher Eigenschaften, die der ›Neuen Frau‹ zugeschrieben werden, auf. Jedoch erlangte dieses Image erst eine herausragende Bedeutung für ihre bildnerische Inszenierung, als sich die ›Neue Frau‹ in den 1920er Jahren als Weiblichkeitstypus in der Gesellschaft durchsetzte.

V.3.1 Begriffsklärung ›Neue Frau‹ Der Begriff ›Neue Frau‹ bildete sich im 19. Jahrhundert im Zuge der Frauenbewegung heraus und etablierte sich im deutschsprachigen Raum nach dem Ersten Weltkrieg.1134 Die gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit eröffneten neue Möglichkeiten für weibliche Lebensentwürfe, so Geitner : »Wahlrecht und Zugang zum Universitätsstudium, allgemein verbesserte Bildungsmöglichkeiten und zunehmende Berufstätigkeit verändern das gesellschaftliche Prestige der Frauen in der Weimarer Republik.«1135

1133 Paas konstatiert für Künstlerinnen der Moderne ein spezifisch weibliches Frauenbild: »Bereits Modersohn-Becker und Kahlo setzten dem männlichen, sexistisch gemeinten Blick auf die Frau von außen den der ›gehäuteten‹ Frau, den von innen entgegen, der auf männliche Schönheitsnormen und die sich darin äußernde Verfügbarkeit der Frau keine Rücksicht mehr nimmt.« Paas, Sigrun: Und sie sah, daß es gut war : Evas Aufbruch ins dritte Jahrtausend, in: Eva und die Zukunft. Das Bild der Frau seit der Französischen Revolution, hg. v. Werner Hofmann, München 1986, S. 33–39, hier : S. 33. Dementsprechend merkt Dorgerloh an, dass um 1900 tätige Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, Dora Hitz oder Sabine Lepsius ihre weiblichen Modelle im Gegensatz zu männlichen Künstlern nicht im Typus der ›Femme fatale‹ darstellten. Vgl. Dorgerloh 2003, S. 180. 1134 Vgl. Meyer-Büser, Susanne: Das schönste deutsche Frauenporträt. Tendenzen der Bildnismalerei in der Weimarer Republik, Berlin 1994, S. 206. Der Begriff ›Neue Frau‹ ist der Oberbegriff für verschiedene Unterarten, die sich aus dem länderspezifischen Gebrauch ableiten, z. B. ›GarÅonne‹, ›Flapper‹ oder ›Girl‹. 1135 Geitner/Findeisen 1988, S. 256.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

Die ›Neue Frau‹ wurde zum Inbild der modernen Frau. Die Printmedien trugen maßgeblich zur Verbreitung dieses neuen Frauentyps bei, der auf wenige äußerliche Merkmale reduziert wurde: »Die Neuen Frauen in den Medien waren schlank und sportlich mit Bubikopf, trugen leichte, schlichte und kurze Kostüme beziehungsweise Röcke, die die Beine betonten, gaben sich selbstbewusst und aufgeschlossen.«1136

Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Künstlerinnen wurden zu Vorbildern für die Optik der ›Neuen Frau‹.1137 Seit Mitte der 1920er Jahre wurde ihr Stil von »normalen« Frauen adaptiert und avancierte so zum »Massenphänomen«.1138 Die ›Neue Frau‹ entwickelte sich im Lauf der 1920er Jahre zu einem »festgelegte[n] ikonographische[n] System«1139, losgelöst von den ursprünglich mit dem Typus verbundenen emanzipatorischen Inhalten, wie Kessemeier konstatiert: »Lediglich äußerlich paßten sich die meisten Frauen dem neuen Weiblichkeitsideal an. Hier zumindest versuchten sie durch Kleidung und Körperpflege, Gymnastik und Sport, ein verändertes Bild von Weiblichkeit zu etablieren.«1140

Abgesehen von diesen äußerlichen Veränderungen wurde die mediale Inszenierung von Frauen größtenteils weiterhin von den traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit bestimmt.1141 Ebenso wie die ›Femme fatale‹, war auch die ›Neue Frau‹ eine Weiblichkeitsimagination, da sie nicht dem realen Alltag von Frauen entsprach. Nur wenigen Frauen war es möglich, ihr Leben unabhängig und selbstbestimmt zu gestalten. Die herkömmlichen Geschlechterrollen und patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen blieben bestehen.1142 Der Status der Ehe, das Geschlechterverhältnis sowie weibliche Berufstätigkeit wurden immer noch nach konservativen Werten beurteilt und verhinderten eine weibliche Emanzipation.1143 Die Emanzipationsutopie ›Neue Frau‹ wurde laut Haunhorst zum »Medienmythos«: 1136 Haunhorst, Kerstin: Das Bild der Neuen Frau im Frühwerk Irmgard Keuns. Entwürfe von Weiblichkeit am Ende der Weimarer Republik, Hamburg 2008, S. 9. Zum Aussehen der ›Neuen Frau‹ vgl. auch: Meyer-Büser 1994, S. 206; Geitner/Findeisen 1988, S. 255. 1137 Vgl. Kaufhold 2005, S. 18. 1138 Vgl. Kessemeier 2000, S. 28. »Dem phänotypischen Bild der ›Neuen Frau‹ entsprachen zu Beginn der Zwanziger Jahre jedoch nur wenige Frauen. Vor allem Künstlerinnen, Frauen aus Künstlerkreisen, Schauspielerinnen und Tänzerinnen […], trugen, wie Abbildungen zeigen, schon früh ihre Haare kurz und kleideten sich nach sachlich-funktionalen Gesichtspunkten. Erst ab 1924 setzte sich der Typus der ›Neuen Frau‹ dann allgemein – auch als eine internationale Erscheinung – durch.« Kessemeier 2000, S. 37. 1139 Kessemeier 2000, S. 28. 1140 Kessemeier 2000, S. 186. 1141 Vgl. Kessemeier 2000, S. 82. 1142 Vgl. Kessemeier 2000, S. 186. Vgl. auch: Haunhorst 2008, S. 133. 1143 Vgl. Haunhorst 2008, S. 11.

Porträts der 1920er Jahre: Durieux als ›Neue Frau‹

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»Der Typ der Neuen Frau spiegelt aber die Wunschvorstellungen der meisten Frauen nach moderner Lebensführung, nach Unabhängigkeit und gesellschaftlichem Aufstieg, körperlicher Attraktivität sowie selbstbewusstem, lässigem Auftreten, besonders Männern gegenüber. Daher konnte dieser Weiblichkeitstypus so erfolgreich vermarktet werden und zu einem regelrechten Medienmythos avancieren.«1144

Wie bei der ›Femme fatale‹, diente das Theater auch bei der ›Neuen Frau‹ als »Resonanzkörper [des] kulturellen Zeitgeists«1145. Schriftsteller wie Ibsen, Shaw, Strindberg und Wedekind schufen ›Neue Frau‹-Figuren für die Bühne. Durieux spielte in vielen dieser Stücke die weibliche Hauptrolle und wurde dadurch zu einem Rollenmodell für nachfolgende Frauengenerationen, wie Thea Sternheim schildert: »Unter Wedekinds Führung schufen sie [Tilla Durieux und Ida Maria Sachs] eine Synthese, die die auf sie folgende Generation stark beeinflusste, die dann wiederum Exemplare ergab wie Baby Friedländer Fuld und im folgenden Aufguss Erika Mann, Ruth Landshoff, Pamela Wedekind et tutti quanti.«1146

Durieux galt als »eine der repräsentativsten Gestalterinnen der neuen, geistigen, ›männlichen‹ Frau«, wie Leo Lania sie 1928 bezeichnete.1147 Ein Bestandteil von Durieux’ Image als ›Neue Frau‹ ist die Zuschreibung von angeblich »männlichen« Eigenschaften wie Rationalität und Gefühllosigkeit. Sie hatte den Ruf einer kühlen Verstandsschauspielerin.1148 Der Kritiker Alfred Kerr brachte es 1917 auf den Punkt: »Die Durieux ist gemacht tätig zu sein; leidend zu sein ist sie nicht gemacht.«1149 Während die einen ihre Unfähigkeit auf der Bühne zu weinen kritisierten, lobten andere wie z. B. Heinrich Mann dies als Modernität. Die Missbilligung von Durieux’ intellektuellem und daher als »unweiblich«1150 empfundenem Darstellungsstil offenbart die Angst (der durchwegs männlichen Kritiker) vor einer Neuverhandlung der Geschlechterrollen. Der Schauspielstil und die künstlerischen Ambitionen Durieux’ wurden zum Austragungsort für 1144 1145 1146 1147 1148

Haunhorst 2008, S. 134. Vgl. Pohle 1998, S. 15. Sternheim 2002, S. 295–296. Lania 21. Juni 1928. Die Diskussion um Durieux’ Verstand beruht auf der geschlechtlichen Differenzierung der Schauspielkunst, die, dem bürgerlichen Konzept folgend, seit Ende des 18. Jahrhunderts in die Schauspieltheorie einging. Vgl. dazu: Holschbach 2006, S. 108–109. 1149 Kerr 1917, S. 459. 1150 »Oft steht man ihr, Tilla Durieux kritisch gegenüber und ihrer reifen Kunst. Sie ist eine Intellektualspielerin. Sie ist eine geniale Frau, hunderten ihrer Kolleginnen überlegen – auch berühmten. Was ihr fehlt, ist das Spielen des Instinkts und die weiche, sanfte Linie. Alles an ihr ist hart, dunkel und groß. Hart auch die Stimme, die männerdumpf orgelt. Wehe, wenn sie sich zur Lieblichkeit zwingt…es wird eine Karikatur daraus.« Rein, Leo: Tilla Durieux, Kritik in der Berliner Zeitung, 1923, zit. nach: Hellhammer/Müller 1997, S. 14.

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die Geschlechterdebatte.1151 Auch privat wurde sie als gefühlskalte Person gesehen.1152 Eine weitere Komponente des Bildes der ›Neuen Frau‹ ist Modernität. Durieux galt als moderne Frau, als »Gegenwartsseele«1153 und als moderne Schauspielerin. Heinrich Mann bezeichnete sie 1913 als »eines der vorgeschrittensten Menschenwesen, die heute über die europäischen Bühnen gehen«1154. Hauptmerkmale der ›Neuen Frau‹ wie Modernität – bei Durieux sowohl die Schauspielkunst als auch den Lebensstil betreffend –, Unabhängigkeit und Selbstständigkeit sind Konstanten von Durieux’ Selbstbild. Wie das Kapitel V.4.2.4 der Arbeit herausstellt, präsentierte Durieux sich auch in ihren Fotografien im Typus der ›Neuen Frau‹. In ihren Vorträgen vertrat sie emanzipierte Vorstellungen und setzte sich für die Gleichberechtigung der Frau und Schauspielerin ein.1155 In ihrer Autobiographie kommt sie auf das Problem der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf zu sprechen.1156 Harry Graf Kessler gibt in seinem Tagebuch ein 1929 stattgefundenes Gespräch mit Durieux wieder, in dem die Schauspielerin den Widerspruch zwischen traditioneller Weiblichkeit

1151 So schreibt Land 1913: »Die moderne Nervenflexibilität, das ganze Neuzeitbewußtsein der Gegenwartsfrau mit ihren suchenden Sehnsüchten, ihren heroischen und keckfordernden Ansprüchen […] zetert aus dieser streitfrohen Seele der Durieux.« Land 1913. Bei den von Land genannten »Ansprüchen« bezieht er sich auf die Situation am Lessing-Theater nach dem Tod Otto Brahms 1912. Das Theater geriet in finanzielle Schwierigkeiten und einige Schauspieler, darunter auch Durieux, schlossen sich zusammen, um Geldgeber aufzutreiben. Es wurde ein Beirat gewählt, für den Durieux sich selbst vorschlug. Die Reaktion darauf schilderte sie in ihrer Autobiographie: »Sofort nach meinem Vorschlag erhob sich unter den Männern lauter Widerspruch, man behauptete, Frauen seien ungeeignet, irgendwelche Stellen zu bekleiden. Auf meinen Einwurf, daß gerade in unserem Beruf wie nirgendwo sonst die Leistungen von Mann und Frau gleichzustellen seien, wurde der Protest noch schärfer.« Durieux 1979, S. 184. 1152 Kessler notierte anlässlich von Cassirers Beerdigung über Durieux in seinem Tagebuch: »Und dann ist sie überhaupt eine kühle, harte Frau.« Tagebucheintrag vom 13. 1. 1926. Kessler 2009, Bd. 8, S. 710. Da Images immer einen Bezug zu kulturellen Phänomenen der Zeit besitzen, könnte dieses Image auch daher rühren, dass das ideale Frauenbild immer noch die Frau als Mutter war, Durieux aber keine Kinder hatte, sondern »nur« ihre Karriere verfolgte. 1153 Dworczak 6. November 1922. 1154 Mann 1913. 1155 In dem Vortrag Die Frau in der deutschen Bühnenkunst, den Durieux 1914 auf der Messe für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig hielt und der 1928 in Auszügen in der Zeitung erschien, gab Durieux ihrer Hoffnung Ausdruck, dass, »nach Beseitigung der gesellschaftlichen Schranken« bald auch Frauen der Zugang zur Bühnenleitung offen stehen werde. Durieux 2. August 1928. 1156 Es war für Durieux eine Doppelbelastung, sich alleine um den Haushalt zu kümmern und ihrem Beruf nachzugehen. Cassirer unterstütze sie anscheinend nicht dabei: »Paul sah auf Ordnung in der Wohnung und rügte jedes Versehen, so hatte ich in meinen wenigen freien Stunden tüchtig zu tun; schließlich mussten ja in diesen Stunden auch die Rollen gelernt werden.« Durieux 1979, S. 137.

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und Emanzipation problematisiert, der ihrer Meinung nach im Fehlen adäquater Bühnenrollen für Frauen erkennbar werde: »Bei Flechtheim gegessen mit Tilla Durieux, George Grosz, P.W. usw. Langes Gespräch mit Tilla, die klagte, daß die modernen Dramatiker keine Frauenfiguren mehr schüfen. Und doch sei die moderne Frau trotz Bubikopf, Gymnastik und Berufsleben hinter der glatten, männlichen Fassade ebenso weiblich und romantisch wie die der Vorkriegszeit, nur sei ihre Romantik und Problematik versteckter, weiter nach innen verlegt, sodaß der Mann sie nicht mehr entdecke.«1157

V.3.2 Charley Toorop, Tilla Durieux, 1927 Die niederländische Künstlerin Charley Toorop erhielt ihre künstlerische Ausbildung von ihrem Vater, dem Maler Jan Toorop (1858–1928) und war in den Niederlanden und in Paris tätig.1158 Das Porträt und speziell das Selbstporträt nimmt eine zentrale Stellung im Werk von Toorop ein, das in Deutschland bisher noch kaum bekannt ist.1159 Die Theater-Verbundenheit ihres Schaffens beschränkt sich auf das Porträt von Durieux und eines von Alexander Moissi1160 sowie einen Bühnenbildentwurf von 19341161. Toorop malte Tilla Durieux 1927 (Abb. 15), als die Schauspielerin sich bei einem Gastspiel in Amsterdam aufhielt.1162 Die Gastspieltournee in den Niederlanden fand unter der Leitung von Alfred Fischer statt mit den Stücken Frau Warrens Gewerbe, Franziska, Fräulein Julie und Die Stärkere, in denen Durieux jeweils die weibliche Hauptrolle spielte.1163 Vom 31. 5. 1927 bis zum 3. 6. 1927 gastierte die Truppe in Amsterdam. Dort malte Toorop Durieux. In Durieux’ Tages-Notiz-Kalender gibt es einen Eintrag am 2. 6. 1927 dazu: »Vormittag gemalt von Charley Toorop. Gehe dann in deren Ausstellung. Nachmittag bei ihr Tee.«1164 Im Entstehungsjahr des Bildnisses 1927 wurde es bei einer Einzelausstellung von Charley Toorop im Stedelijk Museum in Amsterdam als Nr. 45 präsentiert.1165 1157 Tagebucheintrag vom 27. 4. 1929. Kessler, Harry Graf: Das Tagebuch (1880–1937), Bd. 9 1926–1937, hg. v. Sabine Gruber und Ulrich Ott, Stuttgart 2010, S. 244. 1158 Vgl. Central Museum Utrecht (Hg.): Charley Toorop 1891–1955, Ausst.kat., Utrecht 1982, S. 9. 1159 Vgl. Audinet, G8rard/Bosma, Marja (Hg.): Charley Toorop, Ausst.kat., Paris 2010, S. 119. 1160 Vgl. Brederoo, Nico J. (Hg.): Charley Toorop. leven en werken, Amsterdam 1982, S. 236. 1161 Vgl. Brederoo 1982, S. 351. 1162 Die Tournee begann kurz nach dem Selbstmord von Paul Cassirer und fiel somit in eine sehr schwierige Phase ihres Lebens. 1163 Vgl. Loeper 2004a, S. 165. 1164 Walach 2009a, S. 62. 1165 Vgl. Brederoo 1982, S. 234.

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Toorop wählte die für ihre Figurendarstellungen typische Frontalansicht für das Brustbild von Durieux. Die Schauspielerin hat das kurze, dunkle Haar seitlich gescheitelt und trägt einen roten Blazer mit einer hellen Blume am Dekollet8. Der Kopf erscheint minimal nach rechts gedreht und obwohl sie nach vorne aus dem Bild herausschaut, geht der Blick der grünen Augen am Betrachter vorbei. Der Hintergrund des Gemäldes fügt sich aus kurzen Pinselstrichen zusammen, die um die Figur herum dunkelbraun gehalten sind und zum rechten Bildrand hin in helle Farbtöne übergehen, die sich als Farbreflexe auf dem dunkeln Haar wiederholen. Die Blume löst sich in Farbtupfer auf. Das tiefrote Oberteil und das Inkarnat heben sich kontrastreich vom dunklen Hintergrund ab. Der gestische Duktus und die starken Farbkontraste verweisen auf Toorops expressionistisch beeinflusstes Frühwerk. Besonders auffällig an der Darstellung sind die grünen Augen, die aus dem Gesicht herausleuchten. Dieser »forschende[…] Blick«1166 ist auch kennzeichnend für die zahlreichen Selbstporträts von Toorop. Die Darstellungsweise kann als »bohrender«1167 Realismus bezeichnet werden. An den bemerkenswerten Augen, den markanten Brauen und dem breiten Mund wird deutlich, dass es der Malerin darum ging, das Charakteristische ihres Gegenübers einzufangen. Die nüchterne, detailgenaue Wiedergabe der Realität ist ein wichtiges Stilmittel der Neuen Sachlichkeit. Trotz Toorops Hinwendung zu einer wirklichkeitsnahen Malweise seit Mitte der 1920er Jahre1168, blieben Ausdruck und Symbolik zentral für ihr Werk1169. Die beinahe kubistisch wirkende Zergliederung des Gesichts lässt es kantig erscheinen. Die aufeinandergepressten Lippen und der unstete Blick wirken kühl und verschlossen. Die grün funkelnden Augen erinnern an Durieux’ Porträt von Oskar Kokoschka (Abb. 10), in dem die »schillernde Richtungslosigkeit« ihrer Augen laut Spielmann so wirkt, als ob Durieux ein Opfer vor sich fixiert.1170 Auch in Max Oppenheimers Durieux-Porträt1171 findet sich, laut einem Ausstellungsbericht in der FAZ, dieser »zwischen Lethargie und lauernder Energie flirrende[…] Ausdruck«1172. Diese Aussagen lassen das in den Kritiken viel beschworene Bild von dem »Raubtier« Durieux aufleben. Daneben stehen wertfreie Berichte von Zeitgenossen über die Faszination, die von Durieux’ ausdrucksstarken, lebhaf1166 Osterwold, Tilman: Charley Toorop, in: Charley Toorop 1891–1955, hg. v. Central Museum Utrecht, Ausst.kat., Utrecht 1982, S. 92–95, hier : S. 93. 1167 Osterwold 1982, S. 93. 1168 Vgl. Central Museum Utrecht 1982, S. 29. 1169 Central Museum Utrecht 1982, S. 76. 1170 Vgl. Spielmann 2003, S. 104. 1171 Max Oppenheimer (MOPP), Bildnis Tilla Durieux, 1912, Öl auf Leinwand, 95,5 x 78,9 cm, Leopold Museum, Wien, Inv.Nr. 443. Abb. in: Puttkamer 1999, S. 235. 1172 Bartetzko, Dieter: Ein letztes Gefecht des Humanismus: Berlin erinnert sich des Kunsthändlers Paul Cassirer, in: FAZ, 20. April 2006.

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ten Augen ausging. Else Lasker-Schüler beschreibt Durieux’ Blick 1922 in einem der Schauspielerin gewidmeten Gedicht wie folgt: »Senken sich ihre witternden Vogelaugen, – Dann schwankt die Bühne vor Todesbeben: – Alkestis.«1173 Toorop bezeugt in ihrem Durieux-Bildnis die Fähigkeit der Schauspielerin, ihr Gegenüber – auf der Bühne oder im Atelier – zu fesseln. Der direkte Blick des Modells zum Betrachter kann genauso als Provokation verstanden werden. Meyer-Büser deutet den offensiven Blickkontakt in Frauenbildnissen der Weimarer Republik als Befreiung aus der Objektrolle: »Die Frau kehrt das übliche Verhältnis von Bildfigur und Betrachter um. Sie wendet ihre Rolle der observierten Kunstfigur gegen den Betrachter, der sich in der Position des ertappten Voyeurs wiederfindet.«1174

Weiter führt Meyer-Büser zur Rolle des Sehens im Frauenbildnis aus: »Das Vorrecht des Sehens bzw. das Recht, einen anderen Körper mit Blicken zu erfassen, ist geschlechtsgebunden und fällt traditionellerweise dem Mann zu. Die Frau ist das Objekt seiner Schaulust, er mustert ihr Gesicht, ihren Körper, während sie zur Seite oder auf den Boden schaut und nur kurz aufblickt. Frauen aus gesellschaftlichen Randbereichen wie Schauspielerinnen und Prostituierte wagten es zuerst, sich der Macht der Blicke zu entziehen, indem sie dieses Mittel selbst zu nutzen lernten.«1175

Dementsprechend wurden Toorops Werke, die 1927 bei der Einzelausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam gezeigt wurden und unter denen sich auch das Porträt von Tilla Durieux befand, in den Rezensionen wegen ihrer »Grobheit« als »unweiblich« und »männlich« kritisiert.1176 In diesen Kritiken sind die grundsätzlichen Vorurteile gegenüber dem Kunstschaffen von Frauen enthalten.

V.3.3 Martel Schwichtenberg, Tilla Durieux, 1930 Martel Schwichtenberg war nach ihrer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf von 1917 bis zu ihrem Tod 1954 als Graphikerin für die Firma Bahlsen tätig.1177 Seit ihrer Übersiedlung nach Berlin 1919 malte Schwichtenberg eine ganze Reihe Porträts von bekannten Berliner Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur, die großen Anklang bei den Zeitgenossen fanden.1178 Viele davon Lasker-Schüler 1922. Meyer-Büser 1994, S. 68. Meyer-Büser 1994, S. 70. Vgl. Bosma, Marja: Surtout pas de principes!, in: Audinet/Bosma 2010, S. 12–77, hier : S. 42. 1177 Vgl. Engel, Frauke: Eine Wiederbegegnung: Die Malerin Martel Schwichtenberg (1896– 1945) zwischen Kunst und Werbegraphik, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, Jg. 35, 1996, S. 183–208, hier : S. 192. 1178 Vgl. Engel 1996, S. 185. 1173 1174 1175 1176

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sind heute verschollen. 1930 schuf sie zwei Gemälde von Durieux, die die Galerie Flechtheim in Berlin im selben Jahr in einer Gruppenausstellung von vier Künstlerinnen zeigte.1179 Dort war außerdem ein Porträt von Durieux’ drittem Ehemann Ludwig Katzenellenbogen von Schwichtenberg dabei. Beide DurieuxPorträts von Schwichtenberg von 1930 gelten heute als verschollen und sind nur noch von alten Abbildungen bekannt. Kurz nach der Präsentation von Schwichtenbergs Durieux-Bildnissen bei Flechtheim 1930 erschien eine Schwichtenberg-Monographie im Verlag Alfred Flechtheim, in der ein DurieuxPorträt mit schwarz/weiß-Abbildung unter »Privatsammlung Alfred Flechtheim, Berlin« aufgeführt ist (Abb. 16).1180 Dabei handelt es sich wohl um die erste Version. Die zweite Version, die unten rechts mit »Martel« signiert ist, ist fast identisch mit der ersten Version.1181 Ein Porträt von Schwichtenberg befand sich in Durieux’ Besitz.1182 In Schwichtenbergs erster Version von Tilla Durieux (Abb. 16) erscheint die Porträtierte im Brustbild in Dreiviertelansicht nach rechts. Das Kinn ist nach vorne geschoben, der Blick ist leicht schielend nach schräg unten gerichtet. Mund, Augenbrauen und Augen sind durch Schminke akzentuiert. Ebenso fällt das dunkle Haar, das als dunkle Fläche zusammengefasst ist, ins Auge. Der pastose Farbauftrag des Haars hebt diese Bildstelle zusätzlich hervor. Die dunklen Partien stehen auf der schwarz/weiß-Aufnahme in starkem Kontrast zu dem hellen Hintergrund, Gesichtsfarbe und Kleidung.1183 Durieux trägt eine Kette aus großen Kugeln um den Hals. Der V-Ausschnitt des Oberteils wird vom unteren Bildrand beschnitten. Die für Schwichtenbergs Bildnisse der späten 1920er Jahre charakteristische Spachteltechnik, die im vorliegenden Bildnis an 1179 Ren8e Sintenis, Marie Laurencin, Martel Schwichtenberg, Alexandra Exter, Galerie Alfred Flechtheim, Dezember 1930, Nr. 36, 55. Dascher 2011, Materialien 1, S. 220. Flechtheim stellte seit 1919 immer wieder Künstlerinnen in seiner Galerie aus. 1931 hatte Schwichtenberg eine Einzelausstellung in der Galerie Flechtheim. Vgl. Engel 1996, S. 199. 1180 Martel Schwichtenberg in der Galerie Alfred Flechtheim. Mit Abbildungen von Ölgemälden aus den Jahren 1923 bis 1930, Berlin um 1931, o.S. 1181 Martel Schwichtenberg, Tilla Durieux II, um 1930, Öl auf Leinwand, sign. u.r.: »Martel«, Maße und Verbleib unbekannt. Das Bildnis befand sich ehemals im Besitz von Margot Hamann, Hamburg. Die beiden, in Ausschnitt und Ansicht identischen, Versionen unterscheiden sich im Gesichtsausdruck. In der ersten Version wirkt das Geischt durch die nach oben gezogenen Mundwinkel heiterer als in der zweiten, ernsteren Version. 1182 In ihrem Tages-Notiz-Kalender deutete Durieux am 17. 5. 1932 das Herunterfallen ihres Porträts von Martel Schwichtenberg von der Wand als schlechtes Omen: »Nach Hause. Angekommen fällt mein Bild von Schwichte von der Wand, bedeutet Tod. Vielleicht ist nun die Zeit da.« Walach 2009a, S. 104. 1183 Auf die Farbigkeit der ersten Version kann durch die (leider gering auflösende) Farbabbildung der zweiten Version (Verbleib unbekannt) im Nachlass Martel Schwichtenberg in der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf geschlossen werden. Hintergrund und Kette sind in Orangetönen gehalten, das Oberteil in gelb und hellblau. Die Haare sind braun, die Augen hellblau und der Mund rot geschminkt.

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den gewellten dunklen Haaren, der Brustpartie und dem Hintergrund zu sehen ist, führt zu einem reliefartigen Bildaufbau, der, trotz fehlender Binnenmodellierung der Flächen, Plastizität erzeugt. Die Ursache für die reduzierte, »plakative[…] Bildauffassung«1184 sieht Engel in Schwichtenbergs Tätigkeit bei der Firma Bahlsen. Die Frauenbildnisse der späten 1920er Jahre ähneln Schwichtenbergs zeitgleichen werbegraphischen Entwürfen, die vor allem »Frauenköpfe, die auf eine Gesichtslinie und die typisch weiblichen Attribute der Zwanziger Jahre wie Kußmund, gezupfte Augenbrauen usw. beschränkt wurden«1185, darstellen. Schwichtenbergs Vereinfachung der Darstellung in ihrem DurieuxPorträt sowie die Übertreibung einzelner Gesichtszüge stehen der Karikatur nahe. Das nach vorne geschobene Kinn, die spitz zulaufenden, schräg liegenden Augen, der breite, geschminkte Mund und die schmalen, markanten Augenbrauen sind Elemente, die so auch in Durieux’ Zeitungskarikaturen der 1920er Jahre vorkommen.1186 Derartige karikaturistische Tendenzen gibt es zuweilen auch in der neusachlichen Porträtmalerei. In Durieux’ Beitrag Martel für Flechtheims Zeitschrift Omnibus1187 von 1931 äußert sich die Schauspielerin anerkennend über Schwichtenbergs ins Karikaturistische gehenden Porträtstil: »Auf ihre Bilder setzt sie die Farben schlicht und ordentlich, einen Ton neben den anderen und es entsteht eine Melodie, die man zuerst hinnimmt, wie ein altbekanntes Kinderlied. […] Eines Tages aber wußte ich, daß diese Melodie mich erregte und daß es kein Kinderlied war, das ich da sang. Denn aus diesen scheinbar glatten, harmlosen Bildnissen spricht eine scharfe Erfassung des Wesentlichen, die – einen Schritt weiter – zur Karikatur würde. Es ist wie ein Wissen um die kleinen Lächerlichkeiten geliebter Menschen, Lächerlichkeiten, die man kennt und nicht an ihrem Wesen missen möchte.«1188

Durieux gefielen ihre Porträts von Schwichtenberg, wie ihr Aufsatz verrät. Entsprechend der Auffassung der eingangs zitierten Ausstellung Die Frau von heute1189 im Jahr 1929 schildert Durieux in ihrem Schwichtenberg-Beitrag im Omnibus die Vorteile einer weiblichen Porträtistin beim Malen eines Frauenbildnisses gegenüber einem Porträtisten. Sie lägen ihrer Meinung nach darin, dass eine Künstlerin mehr Verständnis für die Wünsche des weiblichen Modells habe, im Porträt vorteilhaft zu erscheinen:

1184 1185 1186 1187

Vgl. Engel 1996, S. 198. Engel 1996, S. 206. Vgl. Kapitel V.4.1.5 der vorliegenden Arbeit. 1931 und 1932 gab Flechtheim das Periodikum Omnibus heraus, das an sein Periodikum Der Querschnitt anknüpfen sollte, jedoch nur in zwei Ausgaben erschien. Bei beiden war Martel Schwichtenberg bei der Zusammenstellung beteiligt. Vgl. Dascher 2011, S. 277. 1188 Durieux, Tilla: Martel, in: Omnibus, Sonderheft: Almanach auf das Jahr 1931, S. 186–189. 1189 Herzog 1929.

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»Nur eine Frau kann diese Liebe zum Kleinen am Großen verstehen und nur eine Frau kann Bilder solcher Art malen und ist damit dann auch besonders befähigt ein Frauenantlitz zu erfassen mit seiner Zwiespältigkeit von Schein und Wahrheit. Das Geheimnis, das die Maler unserer Großmütter wußten, ist in dem heißen Ringen der Malerei nach Wahrheit verloren gegangen. Das Geheimnis ist nicht so schwer zu erraten, doch wird es von den Frauen sorgfältig gehütet aus Furcht in den Ruf zu kommen unmodern und kleinlich zu sein oder nichts von Kunst und Künstlern zu verstehen. Es ist so alt wie die Welt, international und nicht an Jugend oder Alter gebunden – hier habt ihr es –: ›In jeder Frau lebt der Wunsch im Bilde reizvoller zu erscheinen, als die Wirklichkeit es erlaubt‹. Die Malweise der strengen Wahrheitsfanatiker bekommt uns Frauen nur in ganz seltenen Fällen, wir zittern um unser bisschen ›Schein‹ und wollen über uns gar nicht so genau Bescheid wissen. Martel weiß um dieses Geheimnis – sie ist selbst Frau, sie mischt zu ihren Farben noch ein wenig Nachsicht und Einsicht, macht sich darüber im Bilde lustig und deckt es wieder zu. So entsteht ein Frauenportrait – sprechend ähnlich, witzig und doch voll von dem Charme, über den das Modell verfügt, wenn es ausgeschlafen ist, wenn es ein gutes Kleid anhat und sich des abends bei günstigem Licht angeregt unterhält. Malt Martel aber Männer, dann läßt sie ihrer Laune freien Lauf, setzt jedoch dazu eine ernste Miene auf, hinter der der Schalk lauert.«1190

V.3.4 Fotografinnen: Frieda Riess, Tilla Durieux, 1921 und Lotte Jacobi, Tilla Durieux, 1927 In den 1920er Jahren wurde Durieux auf ähnliche Weise wie in den Gemälden von Toorop (Abb. 15) und Schwichtenberg (Abb. 16) von den beiden Berliner Fotografinnen Frieda Riess und Lotte Jacobi fotografiert. Beide Fotografinnen nutzten die neuen technischen Möglichkeiten der Fotografie der 1920er Jahre und entwickelten das klassische Atelierporträt im Stil des Neuen Sehens experimentell weiter.1191 Neuartig ist in diesen Aufnahmen der kleine Bildausschnitt, der das Modell beschneidet und in starker Nahsicht zeigt. Die Porträtfotografie entfernte sich in den 1920er Jahren von der Vorstellung, mit einer einzigen Aufnahme die Festschreibung einer Person vorzunehmen, d. h. ihr »wahres Gesicht« zu finden. Dagegen sollte in den Fotografien zum Ausdruck kommen, dass sie einen vorübergehenden Zustand darstellen. Die 1890 im damaligen Posen geborene Frieda Riess war um 1908/09 Schülerin des Bildhauers Hugo Lederer (1871–1940), der 1926 eine Bronze-Statuette Tilla Durieux als Franziska1192 schuf. Riess eröffnete 1917 ihr eigenes Fotoatelier 1190 Durieux 1931, S. 188. 1191 Stilistische Mittel des Neuen Sehens sind u. a. »starke Licht-Schatten-Kontraste, die Froschperspektive, ein enger Bildausschnitt oder ansteigende Bildschärfe.« Hammers 2014, S. 49. 1192 Hugo Lederer, Tilla Durieux als Wedekinds Franziska, 1926, Bronze, 37 x 8,2 x 9,4 cm,

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in Berlin und bereits 1921 war sie eine der gefragtesten Gesellschaftsfotografinnen der Weimarer Republik.1193 Es habe nach Dascher in den 1920er Jahren »in der Berliner Gesellschaft […] als chic [gegolten], sich von ihr aufnehmen zu lassen.«1194 Sie fotografierte fast alle bedeutenden Persönlichkeiten aus den verschiedensten Bereichen, darunter auch Schauspielerinnen und ihre Aufnahmen erschienen u. a. in den Zeitschriften Die Dame, Der Querschnitt und in der deutschen Vogue. Mehrmals fotografierte Riess Durieux. Im November 1925 war in der Galerie Flechtheim eine Fotografie von Durieux bei einer RiessEinzelausstellung, zusammen mit 176 Fotografien von anderen bekannten Persönlichkeiten, dabei.1195 Bereits 1921 zeigte die Ausstellung der Berliner Photographen im Kunstgewerbe-Museum1196 eine Aufnahme von Riess von Durieux (Abb. 17).1197 Daraufhin erschien sie in der Ausstellungsbesprechung der Berliner Illustrirten Zeitung.1198 Bei dieser Aufnahme blickt der Betrachter in Nahsicht und leichter Untersicht en face auf das Brustbild der Schauspielerin. Ihr rechter Arm ist abgewinkelt nach oben erhoben und stützt den leicht nach links geneigten Kopf. Der Arm wird vom linken Bildrand beschnitten, der zweite Arm ist nicht sichtbar. Zur Oberflächenmodellierung setzt Riess bei der Kleidung auf haptische Werte. Die plastischen Falten des schweren Stoffes stehen im Kontrast zur glatten Haut. Durch ihre künstlerische Ausbildung bei Hugo Lederer erhielt Riess ein Gespür für Raum und Oberflächenbeschaffenheit. Für eine Porträtfotografie wählte Riess hier eine außergewöhnliche Pose. Durch die geschlossenen Augen und die entspannten Gesichtszüge wirkt das Modell träumerisch, vollkommen in sich gekehrt und von der Außenwelt abgeschlossen.1199 Die Raumlosigkeit der Aufnahme verstärkt die entrückte Wirkung. Die Diagonale des schräg abgewinkelten Arms und des schiefgelegten Kopfs erzeugt Dynamik und kontrastiert mit der Selbstvergessenheit der Dargestellten. Bewegung und

1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199

Georg Kolbe-Museum, Berlin, Inv.Nr. LB P 207. Abb. in: Katalog Hauswedell & Nolte, Auktion 366, Moderne Kunst, 15. 6. 2002, lot 1439. Vgl. Beckers, Marion/Moortgat, Elisabeth (Hg.): Atelier Lotte Jacobi, Berlin, New York, Ausst.kat., Berlin 1997, S. 69. »Wer im Berlin der zwanziger Jahre […] in der schillernden >Society< einen Namen besaß […], sah sich von der Riess porträtiert, und nicht wenige von ihnen waren als Kunstsammler auch Kunden der Galerie [Flechtheim].« Dascher 2008, S. 193. Rieß, Ausstellung in der Galerie Flechtheim, November 1925, Nr. 42. Dascher 2011, Materialien 1, S. 117. Bei der Ausstellung wurden Damenbildnisse und Tänzerinnen von Riess präsentiert, darunter Lichtbilder von Tilla Durieux, Lil Dagover und Trude Hesterberg. Vgl. Dascher 2008, S. 67. Die Aufnahme ist Teil einer Serie. Eine Aufnahme von Riess von Durieux mit derselben Kleidung befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek, Inv.Nr. Pf 13.896:C(5). Berliner Illustrirte Zeitung, Jg. 30, Nr. 42, 1921, S. 644. Abb. in: Dascher 2008, S. 67. Die Isolation der Figur kann man als Verletzlichkeit der Person deuten.

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Veränderung sind in dem Innehalten auf der Fotografie impliziert, denn im nächsten Moment öffnet die Porträtierte vielleicht bereits die Augen oder dreht den Kopf.1200 Trotz aller Ruhe, die das Modell ausstrahlt, wirkt es lebendig. Dies macht die »Modernität«1201 von Riess’ Fotografien aus, die z. T. Stilmittel des Neuen Sehens aufgreifen. Gleichzeitig wendet Riess bildgestalterische Elemente der an der Malerei orientierten Kunstfotografie an, wie den Unschärfe-Effekt und die diffuse Lichtführung, die weiche Übergänge mit vielen Grauabstufungen erzeugt und Helldunkelkontraste vermeidet.1202 Riess’ Aufnahme von Durieux lässt an einen Schnappschuss denken. Der Betrachter bekommt den Eindruck, Durieux in einem intimen, flüchtigen Moment zu sehen, in dem sie sich unbeobachtet fühlt und sich »ohne Maske« gibt. In diesem Punkt ähnelt es den Durieux-Fotografien von Lotte Jacobi, die im Anschluss vorgestellt werden. Nicht ein repräsentatives Porträt, das Allgemeingültigkeit besitzt, soll entstehen, sondern ein kleiner Ausschnitt aus der Person und ihrem Leben fixiert werden. So kann die Fotografin momentane Emotionen der Fotografierten einfangen. Ohne formelhafte Posen, d. h. einer Orientierung am strengen Porträt-Kanon, kommt diese Aufnahme dem Wesen von Durieux näher als die sich ständig wiederholenden, austauschbaren Motive der kommerziellen Fotopostkarten. Lotte Jacobi, die 1896 im heutigen Polen zur Welt kam, arbeitete seit 1927 im Fotoatelier ihres Vaters in Berlin als selbstständige Pressefotografin.1203 Jacobis Fotografien, vor allem die Porträts von bekannten Persönlichkeiten, wurden in der Weimarer Republik in vielen Magazinen verwendet.1204 Sie besaß »den Ruf einer Spezialistin für Theater-und Tanzphotographie«1205 und fotografierte in ihrer Berliner Zeit viele bekannte Persönlichkeiten aus Theater, Tanz und Kunst.1206 Sie arbeitete mit mehreren Theaterregisseuren zusammen, z. B. mit Erwin Piscator.1207 Vermutlich kannten Jacobi und Durieux sich durch ihre Zusammenarbeit mit Piscator.1208

1200 Nach Dascher ist der »durch die Drehung von Körper, Kopf und Blick« erzielte »Eindruck von Bewegung« ein Charakteristikum von Riess’ Porträtfotografie, der auf ihrer Bildhauerausbildung bei Hugo Lederer zurückzuführen ist. Vgl. Dascher 2008, S. 69. 1201 Vgl. Beckers/Moortgat 2008, S. 26. 1202 Vgl. Beckers/Moortgat 2008, S. 25. 1203 Vgl. Spötter 2003, S. 131. 1204 Vgl. Wise, Kelly (Hg.): Lotte Jacobi, Danbury, New Hampshire 1978, S. 15. 1205 Hunter, Christina: Biographien, in: Portrait im Aufbruch. Photographie in Deutschland und Österreich 1900–1938, hg. v. Monika Faber und Janos Frecot, Ausst.kat., OstfildernRuit 2005, S. 154–171, hier : S. 163. 1206 Vgl. Wise 1978, S. 9. Siehe dazu auch: Jacobi, Lotte: Theater & Dance Photographs, Woodstock 1982. 1207 Vgl. Spötter 2003, S. 131. 1208 Tilla Durieux unterstützte seit 1927 Erwin Piscators Politisches Theater finanziell und trat

Porträts der 1920er Jahre: Durieux als ›Neue Frau‹

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1927 fotografierte Lotte Jacobi eine Schwarz-Weiß-Porträtserie von Durieux in einem karierten Kleid bei ihr zu Hause. Im Tilla-Durieux-Archiv gibt es vier Aufnahmen aus dieser Serie von 1927.1209 Eine dieser Fotografien zeigt die Schauspielerin mit ihrem Papagei »Jacoline«, wie auf der Rückseite (wohl eigenhändige Beschriftung von Durieux) zu lesen ist.1210 Eine weitere Aufnahme aus dieser Serie, die Durieux ebenfalls zusammen mit ihrem Papagei zeigt, wurde im Dezember 1927 in der Berliner Illustrirten mit dem Titel »Tilla Durieux in ihrem Heim« abgedruckt (Abb. 18).1211 Diese letzte Aufnahme soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Der Blick des Betrachters fällt von einer leicht erhöhten Position auf das Brustbild. Körper und Kopf der Schauspielerin erscheinen im Profil nach links, die Augen sind geschlossen. Auf der rechten, auf Kopfhöhe erhobenen Hand, sitzt ein Papagei. Wie bei der eben besprochenen Aufnahme von Riess ist auch hier ein Moment des Innehaltens bewahrt. Die Gesichtszüge sind, passend zu den träumerisch geschlossenen Augen, entspannt. Dies wird gesteigert durch die von Jacobi angewendeten UnschärfeEffekte. Die Konturen verschwimmen, so dass das Foto in der Tiefe immer undeutlicher wird. In Jacobis Aufnahmen wird ihr Vorgehen sichtbar, ihr Gegenüber zu beobachten, statt zu lenken.1212 Sie war eine gute Beobachterin und wartete den Moment ab, der ihr für das Modell passend erschien.1213 Dies ist ein Grund für die Ungezwungenheit ihrer Lichtbilder. Bei Jacobis Aufnahme von Durieux hat man als Betrachter das Gefühl, den Menschen Durieux und nicht die große Schauspielerin zu sehen. Zu diesem gelösten Eindruck trägt der Papagei, der zu ihrer Privatsphäre gehört, bei. Innerhalb der Fotografien von Durieux ist das Motiv »Durieux mit Haustieren« eine Konstante, wie sich in Kapitel V.4.2.6 herausstellt. Die Schauspielerin war sehr tierlieb und hielt sich viele Haustiere. Es gibt einige Fotografien von Durieux mit Papageien, Wellensittichen, Katzen, Hunden und Krokodilen, die in ihrer Wohnung aufgenommen wurden.1214 Papageien waren in der Bildnisfoto-

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1927 und 1928 bei der Piscator-Bühne im Theater am Nollendorfplatz auf. Vgl. Preuß 2004, S. 8. AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 250. Die vier Fotografien, s/w, 15,7 x 20, 7 cm, sind auf der Rückseite beschriftet mit einem Stempel: »Atelier Jacobi, Charlottenburg«. Zwei weitere Aufnahmen aus der Serie sind zu sehen auf der Webseite der Granger Collection: http://www.granger.com/results.asp?image=0203767, Stand vom 01. 05. 2014. Lotte Jacobi, Tilla Durieux, 1927, Fotografie, 15,7 x 20, 7 cm, AdK, Berlin, Tilla-DurieuxArchiv, Nr. 250. Berliner Illustrirte, Jg. 36, Dezember 1927, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 75. Abb. in: Wise 1978, S. 136; Beckers/Moortgat 2008, S. 25. Vgl. Wise 1978, S. 11. Vgl. Wise 1978, S. 8. Abbildung in einer Illustrierten mit dem Untertitel »Tilla Durieux mit ihren Haustieren«, Berlin um 1915, Deutsches Theatermuseum, München, Inv.II Nr. 17498. Foto von Durieux mit Hund und Papagei auf dem Balkon ihrer Wohnung, um 1910. Abb. in: Feilchenfeldt/

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

grafie der 1920er Jahre beliebte Accessoires.1215 Es gibt z. B. ein Selbstbildnis mit Papagei von Frieda Riess von 1922.1216 Das Motiv des Papageis in der Malerei wurde bei der Analyse von Hans Purrmanns Bildnis von Durieux (Abb. 14) in Kapitel V.2.4, auf dem im Hintergrund ein Papagei in einem Käfig sitzt, bereits erörtert.

V.3.5 Zusammenfassung Alle vier in Kapitel V.3 behandelten Künstlerinnen inszenieren Durieux als starke, unabhängige Frau. Die auffälligsten optischen Anzeichen für den Typus der ›Neuen Frau‹ in diesen Durieux-Porträts sind ihre Kurzhaarfrisur und eine selbstbewusste Körpersprache. Viel bedeutender aber ist die innere Stärke der Schauspielerin, die die Künstlerinnen in ihren Bildnissen transportieren. Sie zeigen Tilla Durieux als Gleichgesinnte. Die kantigen Gesichtsformen, der geschlossene Mund und der stechende Blick in Toorops Gemälde (Abb. 15) vermitteln einen Eindruck von kühler Unnahbarkeit und Distanziertheit. Durieux wurde in den Kritiken immer wieder als »Verstandsschauspielerin« beschrieben und ihr wurde Gefühlskälte auf der Bühne vorgeworfen. Rationalität als männlich konnotierte Eigenschaft wurde von der ›Neuen Frau‹ für sich beansprucht. Bewusst oder unbewusst greift Toorop in ihrem Porträt von Durieux diesen Aspekt der Kritiken auf und präsentiert Durieux als willensstarke, fast schon harte Persönlichkeit. Gleichzeitig gelingt es ihr, dem Betrachter eine Ahnung von der großen Wirkungskraft der Schauspielerin zu vermitteln. Es ist nicht bekannt, ob Toorop eine Vorstellung mit Durieux in Amsterdam besuchte. Die Rollen, in denen Durieux dort auftrat, in Shaws Frau Warrens Gewerbe, in Wedekinds Franziska und in Strindbergs Stücken Die Stärkere und Fräulein Julie1217 entsprachen aber auf jeden Fall dem Typus der ›Neuen Frau‹. In ihrem Porträt von Schwichtenberg (Abb. 16) wird Durieux mittels Wasserwelle, schwarz umrandeten Katzenaugen und dunkel geschminktem Mund zur »typisch moderne[n], selbstbewußte[n] Frau«1218 stilisiert. Schwichtenberg verpasst der Schauspielerin in ihrem Bildnis jedoch nicht einfach eine Schablone des Typus ›Neue Frau‹, sondern überträgt die Zuschreibung auf die inhaltliche

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Raff 2006, S. 22. Sasha Stone, Porträtserie bei Tilla Durieux zu Hause z. T. mit Haustieren, 1928, 20,5x28 cm, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 251. Vgl. Beckers/Moortgat 2008. Beispiel: Suse Byk, Die Schauspielerin Evi Eva mit ihrem grauen Jako, Fotografie, in: Scherls Magazin, 1928. Abb. in: Beckers/Moortgat 2008, S. 23. Vgl. Loeper 2004a, S. 165. Engel 1996, S. 207.

Porträts der 1920er Jahre: Durieux als ›Neue Frau‹

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Ebene. Schwichtenberg und Durieux verband ihr beruflicher Erfolg, die daraus resultierende Unabhängigkeit und das Engagement für die Selbstbestimmung der Frau und Künstlerin. Durieux trat mit Vorträgen und Artikeln für die Gleichberechtigung der Schauspielerin ein. Schwichtenberg setzte sich für die Stärkung der weiblichen Position in der bildenden Kunst ihrer Zeit ein, z. B. durch die Mitgliedschaft in der 1918 gegründeten ›Novembergruppe‹ und ihre Tätigkeit im Vorstand des ›Vereins Berliner Künstlerinnen‹.1219 Laut Engel fanden Künstlerinnen wie Martel Schwichtenberg, Else Lasker-Schüler, Milly Steger und Marie Laurencin eigene Strategien, um sich in der männerdominierten Kunstszene zu behaupten: »Martel Schwichtenberg war eine typische Vertreterin dieser Generation von Frauen, die häufig in ihrem Erfolg hinter den männlichen Kollegen, meist auch dem ihrer eigenen Männer zurückstehen mußten. Schwichtenberg war selbstständig, unabhängig und ungemein kreativ – im Leben wie in ihrer Arbeit.«1220

Die Fotografien von Riess (Abb. 17) und Jacobi (Abb. 18) folgen keinem festgelegten Formular für Bildnisfotografie, sondern zeigen das Modell aus ihrer persönlichen Sicht. Der charakteristische Stil der Fotografinnen spielt eine große Rolle. Die Aufnahmen dienen nicht zur Überhöhung des Stars Durieux. Vielmehr hat man als Betrachter das Gefühl, einen Eindruck von der Privatperson Tilla Durieux zu erhalten. Dazu tragen die Vermeidung jeder Andeutung von Stand und Beruf durch die große Nahsicht und die fehlende Einbindung in die Umgebung bei. Wiedererkennung und Starinszenierung rücken in den Hintergrund. Anders als in den kommerziellen Fotopostkarten mit einem bestimmten Repertoire an Gesten und Mienen kann die Schauspielerin auf ganz neue, vom Betrachter unerwartete Weise dargestellt werden. Durieux war eine berufstätige, finanziell unabhängige Frau, wie sie die Fotografinnen Riess und Jacobi in großer Anzahl fotografierten. Riess und Jacobi gehörten zu den Fotografinnen, die in der Zeit der Weimarer Republik auf Grund ihrer beruflichen Selbstständigkeit den Typus der ›Neuen Frau‹ verkörperten und gleichzeitig das Bild der ›Neuen Frau‹ durch ihre Fotografien von Zeitgenossinnen dieses Typus mitprägten.1221 Der Typus ›Neue Frau‹ besaß allgemein große Bedeutung für die Porträtfotografie der Zwanziger Jahre, wie Kessemeier konstatiert.1222 Kaufhold stellt übereinstimmend fest, dass sich »in vielen Frauenbildnissen dieser Jahre« »das Emanzipatorische unmittelbar ablesen«1223 lasse. Wie im Kapitel über die massenmedialen Porträts erörtert wird, inszenierten die Zeitschriften der 1219 1220 1221 1222 1223

Vgl. Engel 1996, S. 199. Engel 1996, S. 183. Vgl. Quermann 2005, S. 76. Vgl. Kessemeier 2000, S. 49. Kaufhold 2005, S. 18.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

1920er Jahre Durieux mittels Fotografien und Karikaturen als ›Neue Frau‹. Auch Riess’ und Jacobis Aufnahmen sind von diesem Bild der Schauspielerin geprägt. Sie übernehmen jedoch nicht einfach einen von den Massenmedien geprägten Typus, sondern zeigen auf jeweils ganz individuelle Weise eine selbstbewusste Frau, die ausgeglichen, aber gleichzeitig auch kraftvoll ist.

V.4

Massenmediale Porträts: Durieux als Medienfigur

Durieux’ Status als Theaterstar schlug sich in Porträts nieder, die sich an ein Massenpublikum richteten. Karikaturen und Fotografien bebilderten die Zeitungen und Zeitschriften der Zeit, Fotografien wurden zusätzlich als Postkarten vertrieben und Porzellan-Figuren »in Serie« hergestellt. Unter allen Porträts waren sie am weitesten verbreitet und boten sich dadurch für eine wirkungsvolle Inszenierung der Schauspielerin an. Die große Präsenz der Porträts, die einen großen Markt bedienten, zusammen mit ihrer kommerziellen Vermarktung führte dazu, dass Durieux zu einem Leitbild ihrer Zeit wurde. Sie verkörperte bestimmte Schauspielerinnen-Typen und Weiblichkeitsimaginationen sowie andere zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Gesellschaft verbreitete Vorstellungen. Einerseits finden sie sich in Durieux’ Porträts wieder, andererseits trugen die Porträts dazu bei, diese zu tradieren. Die in diesem Kapitel vorgestellten Porträts werden keineswegs qualitativ geringer eingestuft als die anderen Porträts. Die Einordnung »massenmedial« ist nicht wertend, sondern bezieht sich ausschließlich auf die besonderen Erscheinungsformen der vorliegenden Porträts, von denen die Zeitgenossen in ihrem Alltag »permanent und überall« umgeben waren. Damit erübrigt sich die Frage nach dem künstlerischen Wert der massenmedialen Porträts sowie die Diskussion über »high art« und »low art«.1224

1224 Unter »low art« verstehen Varnedoe und Kopnik »Formen und Stilarten, die mit dem Aufkommen urbaner Kultur in den Industrienationen verknüpft sind und die eine bewußte […] Kreativität einschließen, sei sie subkulturell oder kommerziell ausgerichtet.« Varnedoe, Kirk/Gopnik, Adam (Hg.): High & Low. Moderne Kunst und Trivialkultur, Ausst.kat., München 1990, S. 10. Die Diskussion ist angelehnt an Benjamins Postulat vom »Verfall der Aura«, wonach die Massenkunst durch die technische Reproduktion ihre Originalität und Einmaligkeit verliere und folglich der Kunstwert des Kunstwerks zugunsten seines Ausstellungswerts zurückgedrängt werde. Vgl. Benjamin, Walter : Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 431–469, Bd. I.2, hier: S. 440, S. 444.

Massenmediale Porträts: Durieux als Medienfigur

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V.4.1 Karikaturen Als Sonderform der Pressezeichnung erschienen Rollen- und Zivilkarikaturen von Durieux in Zeitschriften und Zeitungen. Einige Karikaturen sind mit einer Bildunterschrift bzw. Beschriftung versehen, andere stehen in Zusammenhang mit einem längeren Text. Die Karikaturen von Durieux erreichten nach ihren Fotografien das größte Publikum. Da Karikaturen »manifest gewordener Ausdruck kollektiver emotionaler Haltungen und Mentalitäten«1225 sind, können an ihnen gut die Formen der Fremdinszenierung untersucht werden. Dabei ist entscheidend, inwieweit die kursierenden Images der Schauspielerin auf die Karikaturisten einwirkten. Trotz ihres großen Einflusses auf die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit1226, eigneten sich die Karikaturen für Durieux nur bedingt zur Selbstinszenierung, da die Karikaturisten sich vergleichsweise wenig instrumentalisieren ließen, wie Döring deutlich macht: »Offizielle Porträts sind in der Regel Auftragskunst und idealisieren ihr Modell. Der Karikaturist, der nur selten im Auftrag des Dargestellten arbeitet, steht dem Porträtierten eher kritisch gegenüber. Bei Porträtkarikaturen ist der Auftraggeber nur im Ausnahmefall mit dem Modell identisch. Porträtkarikaturen vermitteln ein negatives oder zumindest erheiterndes, aber auf keinen Fall würdevolles Bild des Dargestellten. Der >bildliche Angriff< der Porträtkarikatur richtet sich gegen die individuelle, einzelne Person und setzt an deren äußerer Erscheinung an.«1227

Relevante Fragen sind in diesem Zusammenhang, ob die Inszenierungsformen in den Karikaturen im Vergleich zu den anderen Porträts verstärkt sind und ob sich Durieux’ Karikaturisten an ihren Porträts der »Hochkunst« orientieren bzw. ob die Karikaturen Einfluss nehmen auf andere Bildnisse von Durieux? Außerdem ist von Interesse, wie stark sich diejenigen Karikaturen, die begleitend zu Theaterrezensionen erschienen, an das jeweilige Aussehen Durieux’ in der Rolle anlehnen. V.4.1.1 Begriffsklärung Porträtkarikatur Der Begriff »Karikatur« leitet sich von dem italienische Wort »caricare« (übertreiben) ab.1228 Demzufolge sind Porträtkarikaturen »Bildnisse, in denen cha1225 Heinisch, Severin: Die Karikatur. Über das Irrationale im Zeitalter der Vernunft, Wien/ Köln/Graz 1988, S. 21. 1226 Vgl. Baridon, Laurent/Gu8dron, Martial (Hg.): L’art et l’histoire de la caricature, Paris 2006, S. 288. 1227 Döring, Jürgen: Porträtkarikaturen, in: Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten, hg. v. Gerhard Langemeyer u. a., Ausst.kat., München 1985, S. 91–96, hier: S. 92. 1228 Vgl. Unverfehrt, Gerd: Karikatur – Zur Geschichte eines Begriffs, in: Langemeyer u. a.

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Bildnerische Inszenierung in Durieux’ Porträts

rakteristische Merkmale des Porträtierten durch zeichnerische Übertreibung betont werden.«1229 Das »Zerrbild«1230 einer Person entsteht durch die formalen Mittel Übertreibung, Vereinfachung, Stilisierung und Verformung. Die auf wenige Striche reduzierten Darstellungen besitzen durch die Konzentration auf das Wesentliche eine plakative Wirkung und schnelle Lesbarkeit. Ausgangsbasis der Porträtkarikatur ist das Fremd- und Selbstbild der Person.1231 In der Porträtkarikatur wird ein einzelner Charakterzug aus dem Gesamtbild isoliert und in überspitzter Weise dargestellt. Den Stoff für Karikaturen liefern äußerliche Makel, charakterliche Macken, Interessen der Person, Anekdoten über sie oder ihr (fehlerhaftes) Verhalten. Karikaturen können eine Kritik an der Person beinhalten und sind auf eine komische Wirkung hin angelegt, wobei sie überwiegend eher der Belustigung als der Beleidigung dienen.1232 Oft mokiert sich die Karikatur über die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, also Selbstbild und Fremdbild der Person1233, wobei der Wahrheitsgehalt der Karikaturen variabel ist.1234 Gombrich weist auf die Bedeutung der »Unterscheidung zwischen Ähnlichkeit und Äquivalenz«1235 für die Porträtkarikatur hin. Trotz der »reductio ad absurdum«1236 bleibt eine Entsprechung von Karikatur und Modell erhalten. Nach Gombrich trifft eine Karikatur die Physiognomie eines Menschen oft

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1985, S. 345–354, hier : S. 345. Die Erfindung der Karikatur vollzog sich Ende des 16. Jahrhunderts. Als Erfinder der Karikatur gelten in der Forschung allgemein Agostino und Annibale Caracci. Vgl. Gombrich, Ernst H.: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart 1978, S. 375; Janke, Karl: Gesichter in der Menge. Streifzüge durch die Geschichte der Karikatur I, in: Karikatur und Zeichenkunst, hg. v. Gisela Vetter-Liebenow, Ausst.kat., München 2012, S. 15–29, hier : S. 15–16; Lammel, Gisold: Deutsche Karikaturen. Vom Mittelalter bis heute, Stuttgart/Weimar 1995, S. 34. Unverfehrt 1985, S. 354. Vgl. Unverfehrt 1985, S. 352. Kriegel erklärt die Bezugnahme der Karikatur auf das Image so: »Wäre das ›öffentliche Image‹ der dargestellten Person(en) nicht schon in den Köpfen der Rezipienten etabliert, würden sie die vom Zeichner benutzte Symbolik, die Parodie, die in der Karikatur enthaltenen Metaphern sowie die lächerliche Herabsetzung und das ›Komischmachen‹ [der Personen] […] nicht verstehen können.« Kriegel, Anja M.: Selbstbild und Image zeitgenössischer Politiker in den Karikaturen von Thomas Nast, in: Köstler/Seidl 1998, S. 235– 252, hier: S. 235. Vgl. Langemeyer, Gerhard: Einleitung, in: ders. u. a. 1985, S. 7–12, hier : S. 8. Nach Lammel gibt es zwei Hauptrichtungen der Karikatur : Humor und Satire, wobei Humor auf Unterhaltung und Belustigung abzielt, wogegen Satire die karikierte Person kritisch betrachtet und den Betrachter so zum Nachdenken anregt. Vgl. Lammel 1995, S. 2. »Karikaturen umfassen bildkünstlerische Darstellungen, die auf die Aufdeckung von Widersprüchen (…) in den Verhaltensweisen einzelner Personen […] zielen.« Lammel 1995, S. 2. »Karikaturen stellen humorvolle oder satirische Kritiken, fiktionale Produkte dar, zu deren Eigenarten die starke Subjektivität und Emotionalität sowie die zumeist nur lockeren Bindungen an Realität und Wahrheit gehören.« Lammel 1995, S. 2. Gombrich 1978, S. 376. Gombrich 1978, S. 376.

Massenmediale Porträts: Durieux als Medienfigur

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besser, erzeugt also beim Betrachter eher den Eindruck von Ähnlichkeit, als eine mimetische Darstellung, da durch die Reduktion eine größere Klarheit der Gesichtszüge entsteht. Der Karikaturist muss das genaue Maß an Kennzeichen treffen, die nötig sind, um die karikierte Person zu erkennen, so Gombrich weiter.1237 Angehörige des Schauspielerstands sind häufige Sujets in Karikaturen, da sie als Personen des öffentlichen Lebens einem großen Publikum bekannt sind.1238 Die Karikaturisten folgen damit der Nachfrage nach Darstellungen der Schauspieler. Die »Zelebritätenkarikatur« hatte ihren Höhepunkt an der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert, Baridon und Gu8dron zu Folge.1239 Tageszeitungen und Zeitschriften druckten Karikaturen von Schauspielern zusammen mit Berichten über Aufführungen und Artikel über sie ab.1240 Jedoch waren Schauspieler-Karikaturen bereits lange vorher üblich. McPherson bezeichnet das späte 18. Jahrhundert als goldenes Zeitalter der Karikatur, aber auch des Schauspielers.1241 Er nennt zahlreiche Beispiele der englischen Schauspieler David Garrick, John Philip Kemble und Sarah Siddons.1242 Siddons wurde von den bekannten englischen Karikaturisten Thomas Rowlandson (1756–1827) und James Gillray (1757–1817) karikiert.1243 Auch von den französischen Schauspielerinnen Sarah Bernhardt und Yvette Guilbert wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Karikaturen in Zeitungen gedruckt.1244 Eine Sammlung von Durieux’ Kritiken aus Tageszeitungen legten ihre Mutter und sie selbst in drei Alben an. Von diesen Alben, die sich im Tilla-DurieuxArchiv der Akademie der Künste in Berlin befinden, enthält nur das zeitlich späteste Pressezeichnungen.1245 In der Theaterwissenschaftlichen Sammlung 1237 Vgl. Gombrich 1978, S. 378. 1238 Laut Lammel sind in deutschen Karikaturen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts häufig Künstler und vor allem Schauspieler dargestellt, wobei einige eher allgemein dem Berufsstand, als dem Individuum gelten. Vgl. Lammel 1995, S. 36. 1239 Vgl. Baridon/Gu8dron 2006, S. 287. 1240 Tageszeitungen und Zeitschriften beschäftigten um 1900 eigene Pressezeichner, die sich durch ihre charakteristische Zeichenweise einen Namen machen konnten. 1241 Vgl. McPherson, Heather : Painting Politics and the Stage in the Age of Caricature, in: Asleson 2003, S. 171–193, hier: S. 172. 1242 Vgl. McPherson 2003, S. 172. Bei den von McPherson besprochenen Schauspieler-Karikaturen sind die Schauspieler meistens als ganze Figur und oft mit anderen Figuren interagierend dargestellt. Persönliche Charakterzüge oder Besonderheiten ihrer Schauspielerei werden übertrieben dargestellt und somit lächerlich gemacht. 1243 In Siddons Karikaturen wurde sie mit ihrer Vorgängerin im Fach der Tragödin, Mary Ann Yates, verglichen, die Karikaturisten machten sich über ihren Schauspielstil lustig und sie wurde als habgierig dargestellt. Vgl. Gold 2009, S. 75–77. 1244 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Sarah Bernhardt – Die Unermüdliche, in: Bronfen/Straumann 2002, S. 91–101, hier: S. 97; Baridon/Gu8dron 2006, S. 212. 1245 AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 522: umfasst die frühen Jahre von Durieux’ Theaterleben von 1899 bis 1902. AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 520: wurde über

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der Universität zu Köln gibt es ca. 15 Zeitungsausschnitte mit Pressezeichnungen von Durieux.1246 Das Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund besitzt im Nachlass von Benedikt Fred Dolbin mehrere Pressezeichnungen von Durieux.1247 Des Weiteren befinden sich Pressezeichnungen von Durieux in der Österreichischen Nationalbibliothek1248 und dem Österreichischen Theatermuseum in Wien. V.4.1.2 Die Kunstzeitschriften Simplicissimus und Jugend 1928 veröffentlichte der Simplicissimus zwei Karikaturen von Durieux von Karl Arnold (1883–1953). Arnold studierte bei Franz von Stuck an der Münchner Akademie und seit 1907 schuf er Arbeiten für die Zeitschriften Simplicissimus, Jugend und Lustige Blätter.1249 In Arnolds Karikatur mit der Überschrift »Die Piscatorbühne«1250 gehen drei Personen mit erhobenen Armen vor einem Gefährt, auf dem eine Person mit Pistole sitzt. Der Text unter der Darstellung lautet: »Der neue Gott aus der Maschine (und ob sein Priester auch Piscator heisst) peitscht mit dem Donnerwort: «Verdiene!« den revolutionären Geist. Der Pallenberg muss grimmig schwe-j-ken Und Wegener rasputinterln gehn. Die Zarin Durieux tritt uns auch entgegen… Hands up! Man muss das nur verstehn.«

Der Fahrer ist dem Text nach Erwin Piscator. Seine Armbinde mit Hammer und Sichel verweist auf seine kommunistische Gesinnung. Die drei Personen vor dem Gefährt werden durch den Text als die Schauspieler Max Pallenberg (1877– 1934), Paul Wegener (1874–1948) und Tilla Durieux identifiziert. Es handelt sich um Rollenporträts der Schauspieler, da sie in Kostümen und mit abnehmbaren Masken dargestellt sind. Der Text bezieht sich auf die Rollen von Pallenberg in Die Abenteuer des braven Soldaten Schweik und die von Wegener und Durieux in

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den Zeitraum von 1903 bis 1920 geführt. AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521: Das zeitlich späteste Album der drei Alben wurde 1920, im Todesjahr von Durieux’ Mutter, begonnen und die darin eingeklebten Kritiken erstrecken sich bis 1928. Es ist das einzige der drei Alben, in das viele Pressezeichnungen miteingeklebt wurden. Bestand der Kritikensammlung, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Schloss Wahn. Institut für Zeitungsforschung Dortmund: Nachlass Benedikt Fred Dolbin – Findbuch. http://www.dortmund.de/media/p/institut_fuer_zeitungsforschung/zi_downloads/nach laesse_1/Findbuch_Dolbin.pdf, Stand vom 20. 05. 2014. Siehe dazu: Österreichische Nationalbibliothek: Digitaler Zettelkatalog. http://www.bild archiv.at/Profiszettel.aspx?wort=Tilla Durieux, Stand vom 25. 02. 2014. Vgl. Lammel 1995, S. 228. Karl Arnold, Die Piscatorbühne, Karikatur, erschienen in: Simplicissimus 1928, Jg. 32, Heft 43, S. 589.

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Alexej Tolstois Rasputin1251, das 1927 an der Piscator-Bühne uraufgeführt wurde. Die Darstellung ist auf wenige Striche reduziert und farbig akzentuiert. Der Text spielt auf den intensiven Einsatz technischer Mittel durch Piscator an, der sich auch in seinem Gefährt offenbart. Der Schauspieler wird zu einem Bestandteil der Bühnenmaschinerie, die von Piscator bedient wird.1252 Die Aufforderung »Verdiene!« ist eine Anspielung auf die finanziellen Schwierigkeiten der Piscator-Bühne, die auch Durieux durch ihre Unterstützung nicht abwenden konnte und die bald darauf das Ende der Piscator-Bühne bedeutete. Da Piscator bekannte Schauspieler als Zugpferde für seine Stücke engagierte, sind die Schauspieler in der Karikatur vor Piscators Gefährt gespannt. Arnold macht sich hier also nicht über Durieux, sondern über Piscator lustig. In ihrer Autobiographie verweist Durieux auf den karikaturistischen Niederschlag ihres Auftretens als Zarin in Rasputin: »Der Tumult in der Presse über die Aufführung war ungeheuer. Die heftigsten Angriffe hagelten auf das Unternehmen herab. Der Kaiser ließ aus Doorn seinen Einspruch geltend machen gegen mein Erscheinen in ›Rasputin‹. Ich hatte mich nun wieder einmal in die Nesseln gesetzt. Daß hier etwas ganz Neues auf der Bühne gezeigt wurde, verschwand, und nur die ›kommunistische Propaganda‹ blieb. In Karikaturen und saftigen Angriffen tobte man sich gegen mich aus […].«1253

Eine dieser genannten Karikaturen erschien 1927 mit dem Bildtitel Tilla Durieux als Zarin in Rasputin in der Berliner Morgenpost.1254 Das Kopfbild von Oscar Berger (1901–1997), der für verschiedene Berliner Zeitungen als Pressezeichner arbeitete, ist vereinfacht und typisiert. Individuelle Merkmale der Schauspielerin werden nicht wiedergegeben. Die zweite Karikatur von Durieux von Arnold, die 1928 im Simplicissimus erschien, trägt den Titel Tilla Durieux’ Buch.1255 Im Hochformat ist eine Figur vor dunklem Hintergrund zu sehen, die in der rechten Hand ein Buch hoch hält. In einer Umhängetasche befinden sich weitere Bücher. Am rechten Bildrand ist ein Türrahmen mit Stufen skizziert, der darauf hinweist, dass sich die Figur auf der Straße befindet. Der sparsame Einsatz von gelber Farbe belebt die Binnenzeichnung der Figur, die sonst nur durch die Kontur definiert wird. Das Gesicht ist mit wenigen Strichen angedeutet. Die übertrieben schmalen, schrägliegenden Augen, die auch in der zuvor besprochenen Karikatur von Arnold vor1251 Rasputin von Alexej Tolstoi, Berlin: Theater am Nollendorfplatz, Premiere: 12. November 1927 (UA), Regie: Erwin Piscator, Bühnenbild: Traugott Müller, Rolle: Zarin. 1252 In Die Abenteuer des braven Soldaten Schweik musste Pallenberg über ein Laufband gehen. Vgl. Lammel 1995, S. 232. 1253 Durieux 1969, S. 248. 1254 Abb. in: Preuß 1965, S. 48. 1255 Karl Arnold, Tilla Durieux’ Buch, 1928, Karikatur, erschienen in: Simplicissimus, Jg. 33, Heft 30, S. 380.

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handen sind, sind typisch für die Kunstform der Karikatur und weisen auf Durieux’ Image als Exotin hin. Arnold reduziert Durieux’ Gesichtszüge auf diese knappe Formel, so dass die Schauspielerin ohne den Bildtitel kaum zu erkennen wäre. Die Bildunterschrift lautet: »Eine Tür fällt ins Schloß – aber wer 6 Mark 50 zahlt, darf durchs Schlüsselloch in mein Schlafzimmer sehn!«. Arnold macht sich mit dieser Karikatur über Durieux’ schriftstellerische Ambitionen lustig. 1928 erschien Durieux’ Roman Eine Tür fällt ins Schloß und stieg in die Bestsellerliste auf.1256 Der Roman fand große Beachtung in der Öffentlichkeit, da die Protagonisten als Durieux und Cassirer identifiziert wurden, wie die Bildunterschrift der Karikatur anklingen lässt.1257 Zahlreiche Berliner Tageszeitungen und Zeitschriften rezensierten den Roman, der als gezielte Selbstdarstellung der Schauspielerin empfunden wurde, worauf sich das Anpreisen des literarischen Werks auf der Straße in Arnolds Karikatur bezieht.1258 Die Reaktion auf das Erscheinen ihres Romans beschrieb Durieux später : »Auch hier ging ein wahrer Hagel von Schmähungen über mich nieder.«1259 In der Jugend erschien 1911 eine Karikatur zur sog. »Jagow-Affäre«, die im Anschluss ausführlich behandelt wird sowie 1927 eine Karikatur von Hans Rewald (1886–1943).1260 Die Karikatur von Rewald ist ein Profilkopf nach links. Die Figur reckt das Kinn hoch und trägt die Nase oben. Die starke Betonung von Augenbrauen und Mund entspricht dem Aussehen Durieux’ in den Fotopostkarten der 1920er Jahren. Die schmalen, schrägliegenden Augen sind ein stetiges Merkmal in den Karikaturen Durieux’. Auf derselben Seite der Zeitschrift gibt es noch eine Karikatur von Rewald von Paul Wegener. Die beiden Karikaturen sind nicht situationsbedingt, da es keinen Text dazu gibt. Die Kombination der beiden Köpfe bezieht sich wohl darauf, dass Durieux und Wegener in vielen Kritiken als ähnliche Typen beschrieben wurden. Die Ähnlichkeit von Durieux und Wegener beschränkt sich in Rewalds Zeichnungen auf die schrägliegenden Augen.

1256 In der von Willy Haas herausgegebenen Literarischen Welt war Durieux’ Roman 1928 nach einem Monat auf Platz drei der Bestseller-Liste. Vgl. Vogt-Praclik 1987, S. 91–92. 1257 Zu dem autobiographischen Anteil ihres Romans äußert sich Durieux in ihrer Autobiographie: »Nun kann ich nicht leugnen, daß ich, was die Empfindungen der Hauptfigur, einer Schauspielerin betraf, viel aus meinen Erfahrungen schöpfte, aber alle anderen Begebnisse sind freie Phantasie.« Durieux 1969, S. 248–249. 1258 »Warum schauspielert sie auch wieder in diesem Buch? D. h. bei einer Gelegenheit, wo man gerade nicht schauspielern sollte.« Wedderkop, Hermann von: »Tilla Durieux: Eine Tür fällt ins Schloß«, in: Der Querschnitt, Jg. 8, Heft 12, 1928, S. 870–872, hier : S. 872. 1259 Durieux 1969, S. 248–249. In ihrem Tages-Notiz-Kalender vermerkt sie am 18. 8. 1929: »Wenn ich einen Berater gehabt hätte, hätte ich das Buch nicht geschrieben. Aber allein und halb irrsinnig vor Schmerz, nein, das kann man mir nicht zur Last legen wie man es tut.« Walach 2009a, S. 97. 1260 Hans Rewald, Tilla Durieux, Karikatur, erschienen in: Jugend, Jg. 32, Heft 44, 1927, S. 916.

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V.4.1.3 Die »Jagow-Affäre« Pressezeichnung und Karikatur reagieren auf das aktuelle Zeitgeschehen. Das Ereignis in Durieux’ Karriere, das den stärksten Widerhall in der Presse erfuhr, war 1911 die sogenannte »Jagow-Affäre«, ein herausragendes Beispiel für die Medienpräsenz von Tilla Durieux. Als »Jagow-Affäre« wird ein Vorfall aus Durieux’ Privatleben bezeichnet, der an die Öffentlichkeit gelangte und weitreichende Folgen hatte. Es begann damit, dass Max Reinhardt Durieux 1911 bei der Generalprobe zu Carl Sternheims (1878–1942) Lustspiel Die Hose1261 dazu einsetzte, um den Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow (1865–1941) von den zensurgefährdeten Stellen abzulenken, wie Durieux schildert: »Ich kannte das Stück und seine gefährlichen Klippen ziemlich genau, und sooft es an der Zeit war, flüsterte ich meinem Nachbarn eine Bemerkung zu und sah ihn mit Vergnügen von der Bühne abgelenkt. Nach Ende der Probe äußerte Jagow, daß er keinen Grund habe, das Stück zu verbieten.«1262

Noch am selben Tag bat Jagow Durieux per Brief um eine Verabredung, da er anscheinend nichts von ihrer Ehe mit Paul Cassirer wusste. Dieser Brief ist in Durieux’ Autobiographie abgedruckt: »Verehrte gnädige Frau! Da ich die Theaterzensur auszuüben habe, hätte ich gern auch persönliche Fühlung mit Schauspielerkreisen. Es wäre mir eine Freude, unser heutiges Gespräch fortzusetzen. Würde Ihnen mein Besuch genehm sein? […] In hochachtungsvoller Ergebenheit…Bitte eigenhändig adressieren. Jagow.«1263

Dass Cassirer nach dem Lesen des Briefs »rot vor Zorn« wurde, wie Durieux überliefert, ist nicht nur seiner Eifersucht zuzuschreiben, sondern hatte auch geschäftliche Gründe. Kurz zuvor hatte Jagow nämlich einen Prozess gegen den Pan und damit seinen Mitherausgeber Paul Cassirer wegen der Verbreitung von Pornographie geführt.1264 Den Anstoß für die Entwicklung der »Jagow-Affäre« von einer Privatangelegenheit zu einem öffentlichkeitswirksamen Skandal gab Alfred Kerr, indem er den Brief von Jagow an Durieux – trotz ihrer Einwände – im Pan abdruckte.1265 Cassirer selbst schrieb im Pan zwei Erklärungen zu dem Vorfall.1266 Kerrs Veröffentlichung der Begebenheit im Pan wurde zum Anlass für einen Streit unter diversen Berliner Redakteuren, der sich schnell vom eigentlichen Gegenstand löste und sich zu einer reinen Literatenfehde zwischen dem 1261 Carl Sternheims Lustspiel Die Hose wurde 1911 im Paul Cassirer Verlag verlegt. Vgl. Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 402. 1262 Durieux 1969, S. 117. 1263 Durieux 1969, S. 118. 1264 Vgl. Paret 1981, S. 321–323. 1265 Vgl. Kerr, Alfred: Vorletzter Brief an Jagow, in: Pan, Jg. 1, Heft 9, 1911, S. 287–290. 1266 Cassirer, Paul: Erklärung, in: Pan, Jg. 1, Heft 9, 1911, S. 320 und Pan, Jg. 1, Heft 10,1911, S. 354.

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Pan, Karl Kraus’ Fackel, der Aktion, der Schaubühne und Waldens Sturm verselbstständigte.1267 Die durch den Skandal ausgelöste Versetzung des konservativen Polizeipräsidenten Jagow nach Breslau wurde von vielen Berliner Kunstund Kulturschaffenden begrüßt.1268 Die »Jagow-Affäre« sorgte auch unter Intellektuellen für Gesprächsstoff1269 und lieferte den Stoff für das 1912 uraufgeführte Stück Das Tänzchen von Hermann Bahr. Die große Medienpräsenz des Skandals schlug sich in zahlreichen Karikaturen von Durieux nieder. Bereits in einer früheren Ausgabe des Pans, vor Kerrs Veröffentlichung des Briefs, erschien 1911 Max Slevogts Zeichnung Des Dichters Psyche, die auf die Begebenheit anspielt.1270 Drei Frauen räkeln sich auf den Blättern einer überdimensionierten Pflanze. Ein Mischwesen aus Mann und Schmetterling fliegt zu der Pflanze und nähert sich der Frau auf dem obersten Blatt. Rechts unten steht eine Menschengruppe mit Pickelhauben, die eine große Pickelhaube an einem langen Stiel wie einen Kescher über den Schmetterlingsmann hält. Zwischen der Menge und der Pflanze steht eine kleine Gestalt. Die Bildunterschrift »Ick bin preus’scher Beamter – Sie Schweinhund, verdammter!« bezieht sich auf den Polizeipräsidenten von Jagow, die Pickelhaube ist ein weiterer Hinweis auf ihn. Dem Kontext nach ist die Frau auf der Pflanze, der er sich als Schmetterling nähert, Tilla Durieux. Die kleine Figur am Fuß der Pflanze ist als Paul Cassirer zu identifizieren. 1920 erschien eine etwas abgewandelte Lithographie von Slevogt mit dem Titel Tilla Durieux, Herr von Jagow und Paul Cassirer in einer Publikation des Paul Cassirer Verlags.1271 Die Menge trägt nun keine Pickelhauben mehr, sondern Zylinder und steht somit für die Öffentlichkeit an sich. Der Stiel des Keschers wird hier von einem Pan mit Boxbeinen und Hörnern gehalten. Der Schmetterling soll nicht mehr mit einer Pickelhaube eingefangen werden. Statt dessen kleben z. T. lesbar beschriftete Blätter auf dem Kescher, zu lesen sind: »Pan«, »Frankfurt Zeit«, »Mü«, »Köln«. Dies verdeutlicht das große Echo des Skandals in der Presse. Die Figur mit der Pistole ist Cassirer. Slevogt macht sich hier nicht, 1267 Vgl. Lasker-Schüler, Else: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe 1893–1913, hg. v. Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, Frankfurt am Main 2003, S. 546. Siehe dazu auch: Haueis, Eduard: Karl Kraus und der Expressionismus, Diss., ErlangenNürnberg 1968, S. 29–40. 1268 Vgl. Fetting, Hugo (Hg.): Von der Freien Bühne zum Politischen Theater. Drama und Theater im Spiegel der Kritik, Bd. 2, Leipzig 1987, S. 422. 1269 Erich Mühsam schreibt 1911 in sein Tagebuch: »Abends Torggelstube: Steinrück, v. Jacobi und Frau, Muhr, Dr. Goldschmidt und Feuchtwanger. Die Diskussion über Jagow und Kerr reißt immer noch nicht ab. Ich kämpfte allein gegen Jagow. Alle andren fanden ihn völlig im Recht. Cassirer als Mensch, Kunsthändler und Ehemann.« Tagebucheintrag vom 7. 6. 1911. http://www.muehsam-tagebuch.de, Stand vom 10. 01. 2013. 1270 Max Slevogt, Des Dichters Psyche, 1911, Zeichnung, erschienen in: Pan, Jg.1, Heft 7, S. 224. 1271 Max Slevogt, Tilla Durieux, Herr von Jagow und Paul Cassirer, 1920, Lithographie, erschienen in: Guthmann 1920, S. 125.

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wie in seiner früheren Karikatur, über die Begebenheit selbst lustig, sondern über die Reaktionen, die sie in den Medien hervorrief. Bereits erwähnt wurde eine Karikatur aus der Jugend von 1911 mit dem Titel Oertels Verdacht oder Die Falle für Jagow.1272 Die Karikatur besteht aus zwei Zeichnungen. Auf der ersten Zeichnung liegt eine Frau in einem Käfig und winkt mit dem Zeigefinger ein Tier mit menschlichem Kopf, auf dem eine Pickelhaube sitzt, zu sich heran. Links schaut ein lachender Pan hinter dem Käfig hervor. Auf der zweiten Zeichnung trägt der Pan das eingefangene Geschöpf mit Pickelhaube auf dem Rücken davon. Der Text unter den zwei Zeichnungen lautet: »Oertel vertritt in der ›Deutschen Tageszeitung‹ die Ansicht, daß dem Polizeipräsidenten vom ›Pan‹ mit Hilfe der Frau Tilla Durieux eine Falle gestellt wurde, in die der Arme vertrauensselig hineingegangen sein. Der dicke Oertel hat den Vorgang sofort in hübsche Verslein gebracht: Es legte der ›Pan‹ – o wie hundsgemein! – Die Tilla als Lockspeck dem Mauserich. Gleich kroch er ›eigenhändig‹ hinein: Nun sitzt er gefangen! – Wie grauserich!«1273

Die Karikatur lässt anklingen, dass manche Personen, darunter der Chefredakteur der konservativen Deutschen Tageszeitung Georg Oertel (1856–1916) vermuteten, es handle sich bei der Affäre um eine Racheaktion Cassirers an dem Polizeipräsidenten Jagow für die Anklage gegen den Pan mit Hilfe von Durieux als Lockvogel. Auch in den Lustigen Blättern fand die »Jagow-Affäre« Widerhall. 1911 erschien dort eine Karikatur von Bloch mit dem Titel »Die Schauspielerin«.1274 An einem Tisch sitzen eine Frau und links und rechts von ihr jeweils ein Mann mit Anzug und Zylinder. Die Frau hat die Arme unter dem Kinn verschränkt und trägt einen ausladenden Hut. Die Männer blicken beide auf die Frau. Der Text unter der Darstellung lautet: »Ich könnt’, weiss Gott, auch mal einen tüchtigen Posten Reklame für mich brauchen! Warum setzt sich der Polizeipräsident bei den Proben nicht mal neben mich?«. Die Karikatur spielt auf die Werbewirksamkeit des »Jagow-Skandals« für Durieux an.1275 Da der Skandal in aller Munde 1272 Unbekannter Künstler, Oertels Verdacht oder Die Falle für Jagow, Karikatur, erschienen in: Jugend, Jg. 16, Heft 13, 1911, S. 332. 1273 Jugend, 1911, Jg. 16, Heft 13, 1911, S. 332. 1274 Bloch, Die Schauspielerin, Karikatur, erschienen in: Lustige Blätter, Heft 5, 1911. Abb. in: Paret 1981, S. 322. 1275 In ihrer Autobiographie schreibt sie dazu: »Ich war von diesem lauten Geschrei sehr unangenehm berührt, denn meine Kollegen dachten natürlich, ich hätte diese Sache als Reklame für mich provoziert. […] Ich war durch diese Affäre tatsächlich in den Mittelpunkt der Neugier gerückt, und man strömte ins Theater, um mich zu sehn, und von den Arbeitern bekam ich Dankesbriefe.« Durieux 1969, S. 122.

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war, musste Bloch nicht einmal Namen nennen. Die Darstellung thematisiert im übertragenen Sinn die Situation von Durieux, die zwischen ihrem Mann Cassirer und ihrem Verehrer von Jagow sitzt. Die Karikaturen, die als Reaktion auf die »Jagow-Affäre« entstanden, sind von Durieux’ Image als ›Femme fatale‹ beeinflusst. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Privatleben wird sie den Männern zum Verhängnis, so lautet die karikaturistische Botschaft. Die Begebenheit ist demnach ein Beweis für ihre Verführungskünste, denen sogar der Polizeipräsident erlag. Harry Graf Kesslers Mitleidsbekundung für Jagow in seinem Tagebuch »ahnungslos […] warf er sich in die Arme einer Delila«1276, bringt dieses Fremdbild von Durieux durch den Vergleich mit der biblischen ›Femme fatale‹ pointiert zum Ausdruck. V.4.1.4 Zeitschriften Außer dem Simplicissimus und der Jugend brachten auch weitere Zeitschriften Darstellungen von Durieux. Die früheste bekannte Pressezeichnung von Durieux erschien 1901 in der Wiener Zeitschrift Der Humorist. Über dem Artikel mit der Überschrift Tilla Durieux. Mitglied des königlich städtischen Theaters in Olmütz wurde ein Rollenporträt von Durieux von dem tschechischen Künstler Jan Vil&mek gedruckt.1277 Die detailreiche Zeichnung gibt die junge Schauspielerin stark idealisiert wieder. Dem in dem Artikel genannten Rollenfach der »jugendlichen Salondame und sentimentalen Liebhaberin« entsprechend, erscheint sie im Empirekleid, mit offenem, lockigen Haar und jugendlichen, sanften Gesichtszügen. 1913 erschien in der Zeit im Bild eine Zeichnung des Bühnenbildners Emil Preetorius (1883–1973) zu einem Artikel von Heinrich Mann über Durieux.1278 In dem Artikel bezeichnet Mann Durieux als »vollkommene[…] Vertreterin« der modernen Schauspielerin, wobei er die Modernität vor allem an ihrer großen Wandelbarkeit auf der Bühne festmacht. Preetorius zeigt Durieux in einem Büstenausschnitt im Profil nach links. Die Gesichtszüge sind geprägt von dem vorgestreckten Kinn, der nach oben gebogenen Nasenspitze, den vollen Lippen, den schmalgeschnittenen Augen und den dünnen, gebogenen Brauen. Der riesige Hut, der ihr Gesicht verschattet, trägt zur kühlen Distanziertheit der Dargestellten bei und erinnert an die Fotografie von Perscheid (Abb. 21). In der Leipziger Zeitschrift Das Leben erschien 1928 eine Zeichnung von Durieux von Benedikt Fred Dolbin (1883–1971) zusammen mit einem Text von 1276 Tagebucheintrag vom 6. 3. 1911. Kessler 2005, Bd. 4, S. 633–634. 1277 Jan Vil&mek, Tilla Durieux, um 1901, Bleistiftzeichnung, erschienen in: Der Humorist, Bd. 21, Heft 35, 1901, S. 5. 1278 Emil Preetorius, Tilla Durieux, 1913, Zeichnung, erschienen in: Die Zeit im Bild, Jg. 11, Heft 17, 1913, S. 917.

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Erich Kästner.1279 Kästner schreibt in dem Beitrag über fünf Schauspieler und die Schauspielerin Tilla Durieux, die er als »Körperspieler« mit karikaturistischen Zügen bezeichnet.1280 Begleitend zu dem Text wurde von allen ein Bildnis von Dolbin, der seit 1926 für verschiedene Berliner Zeitungen tätig war und eine große Anzahl von Pressezeichnungen von Durieux schuf1281, abgebildet. Dolbins Zeichnung von Durieux war bereits 1927 mit dem Titel Die »Antiromantikerin«: Tilla Durieux, in der Berliner Montagspost anlässlich der Aufführung von Shaws Haus Herzenstod1282 erschienen.1283 Durieux ist als Halbfigur im Profil nach links dargestellt. Sie hat ein vorgestrecktes Kinn und eine leicht nach oben gebogene Nase. Was Kästner über Durieux’ Aussehen sagt, trifft gut ihre Außenwirkung auf ihre Zeitgenossen und spiegelt sich in zahlreichen Pressezeichnungen von ihr wieder : »Daß sich unter den Schauspielerinnen Fälle der genannten Art seltener finden als unter den männlichen Kollegen, ist nicht verwunderlich. Die Frau spielt ja auf der Bühne vorwiegend die Rolle des erotischen Pols. Und für diese Aufgabe braucht man außer Talenten, nichts als Schönheit. Schönheit aber ist nicht charakteristisch. Deshalb gibt es nur wenige Frauen auf der Bühne, die bewußt vom Idealtyp abweichen und Besonderheiten pflegen. Die Schwankungen zwischen schön, anmutig drollig und sentimental reichen normalerweise dazu aus, die Rollen des Repertoires zu erfassen. Allenfalls hat es die moderne Heroine nötig, sich durch Charakteristika auszuzeichnen. Das geeignetste und berühmteste Beispiel hierfür ist Tilla Durieux, das weibliche Pendant zu Wegeners Physiognomie. Ihre slawischen Züge sind ein ideales Kampffeld für Sinnlichkeit und Herrscherlust; und es wäre undenkbar, daß von einem glatten normalschönen Frauengesicht die gleiche mächtige Wirkung ausginge wie von dem ungewöhnlichen, leidenschaftlichen und herrischen Gesicht dieser Schauspielerin.«1284

Die charakteristischen Besonderheiten, die Kästner schildert, sind in Dolbins Zeichnung von Durieux nicht vorhanden, so gibt es beispielsweise kaum Ver1279 Benedikt Fred Dolbin, Tilla Durieux, um 1927, Zeichnung, erschienen in: Das Leben, Jg. 6, Heft 2, 1928/29, S. 53. 1280 »Das Publikum liebt den Schauspieler, dessen Aeußeres und dessen Ausdruck sich einprägt. Und die Schauspieler, die den meisten Erfolg haben, sind damit Persönlichkeiten, die beim bloßen Anblick auffallen und charakteristisch wirken. […] An die Stelle des Ideals trat die Karikatur.« Kästner 1928, S. 51. 1281 Im Dolbinnachlaß im Institut für Zeitungsforschung in Dortmund befinden sich Karikaturen aus Zeitungen von Durieux in den Stücken Haus Herzenstod, Maria Stuart, Franziska und Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer, ohne Inv.Nr. Zwei BleistiftZeichnungen von Dolbin von Durieux gibt es im Deutschen Theatermuseum, München, Inv.II Nr. 32108 und Inv.II Nr. 32107. 1282 Haus Herzenstod von George Bernard Shaw, Berlin: Renaissance-Theater, Premiere: 8. Januar 1927, Regie: Theodor Tagger, Rolle: Hesione (Gast). 1283 Benedikt Fred Dolbin, Die »Antiromantikerin«: Tilla Durieux (in Haus Herzenstod), 1927, erschienen in: Berliner Montagspost, Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund, ohne Inv.Nr. 1284 Kästner 1928, S. 55–56.

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zerrungen. Das vorgestreckte Kinn kann im Sinne von Kästners Text als »herrisch« bezeichnet werden. Die »slawische[n] Züge«, von denen Kästner spricht, beziehen sich auf einen Aspekt von Durieux’ Image als Exotin.1285 Ihr Aussehen bezeichneten Kritiker wiederholt als »slawisch«. Für den Kritiker Bab besaß sie – genauso wie Paul Wegener – einen »stark slawische[n] Einschlag« mit einer »vorgebauten Stirn, den schmalen Augen, den fast mongolischen Backenknochen«1286, wie er es 1954 in seinem Grundriß einer Geschichte der modernen Schauspielkunst formuliert. Bereits 1928 verglich Bab Durieux und Wegeners »exotischen« Typ: »Sie hatten den gleichen sarmatischen Typus: die vorstehenden Backenknochen, die stark gewölbte Stirn, den heftig geschlitzten, dicklippigen Mund; sie hatten auch beide in ihrem Blut etwas von östlich wilder Leidenschaft, eine zuspringende Sinnlichkeit, die über die Art des charakteristisch deutschen Schauspielers hinausging. Gerade damit trafen sie wohl etwas vom Wesen der Zeit, die, der wesentlichen Verfeinerung übersatt, sich nach barbarischen Typen umzusehen begann .«1287

An dem exotischen Image der Schauspielerin orientierten sich viele Karikaturisten. Auch in einer Karikatur von Walter Trier, die 1920 in der Rubrik KünstlerKarikaturen von Walter Trier in der Zeitschrift Sport im Bild abgebildet war, ist dieses »fremdländische« Aussehen von Durieux erkennbar (Abb. 20). Mit dem schwarzen krausen Haar und der Nasen- und Lippenform ähnelt Durieux bei Trier einer Afrikanerin. Dementsprechend schrieb Alfred Kerr 1913 über Durieux’ Rolle der Eliza Doolittle: »Warum nahm sie diese Maske? Das Antlitz einer ausgebleichten Negerin?«1288 und Walter Turszinsky nannte sie 1905 eine »fast schon das Kreolische treffende Rasseerscheinung«1289 V.4.1.5 Zeitungen Viele bekannte Berliner Pressezeichner wie Benedikt Fred Dolbin, Oscar Berger und Erich Goltz, die für verschiedene Printmedien arbeiteten, schufen Zeichnungen von Durieux. Bei einigen Zeichnungen ist der Publikationskontext nicht mehr rekonstruierbar und der Verbleib der Originalvorlagen ist unbekannt. Von Erich Goltz (alias Eric A. Peters) erschienen mehrere Rollenkarikaturen von Durieux in Berliner Tageszeitungen. 1927 stellte Goltz sie als Hesione in 1285 Vgl. Ruff 2007, S. 105–108. 1286 Bab, Julius: Kränze dem Mimen. Dreißig Porträts großer Menschendarsteller im Grundriß einer Geschichte der modernen Schauspielkunst, Berlin/Darmstadt 1954, S. 350. 1287 Bab 1928, S. 129. 1288 Kerr, Alfred: Pygmalion, in: Der Tag, 1913, zit. nach: Preuß 1965a, S. 89. 1289 Turszinsky, Walter : Berliner Theater, Berlin 1906, S. 42.

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Haus Herzenstod dar.1290 Weitere Zeitungskarikaturen von Durieux von 1927 in dieser Rolle sind von anderen Pressezeichnern bekannt. Die ›Antiromantikerin‹: Tilla Durieux von Dolbin wurde bereits im vorhergehenden Kapitel besprochen. Eine weitere stammt von Oscar Berger und wurde in der B. Z. am Mittag1291, eine andere von Kapralik in Der Tag1292, zusammen mit einer Kritik, gedruckt. Goltz, Kapralik und Elert wählten einen Kopfausschnitt, Dolbin eine Halbfigur. Bei allen ist das Bildnis, typisch für die Karikatur, auf wenige Linien reduziert. Frisur und Schmuck stimmen bei allen überein und entsprechen der Maske von Durieux in dieser Rolle. Goltz, Kapralik und Elert geben die Haare als schwarze Fläche wieder und überzeichnen, abgesehen von einem jeweils eigenen Zeichenstil, alle drei dieselben Merkmale von Durieux’ Gesicht. Nase und Mund sind sehr breit, die Augen schrägliegend, Augenbrauen und Lippen betont. Dolbin fällt etwas aus der Reihe, da er das Haar differenzierter darstellt und die Gesichtszüge nicht so stark übertreibt. Auch Harald Isenstein gibt in seinem Rollenporträt von Durieux als Hesione1293, das keine karikaturistischen Züge aufweist, die Kurzhaarfrisur mit den spitz ins Gesicht ragenden seitlichen Haarsträhnen und die schmalen geschminkten Augenbrauen wieder. An diesen Beispielen ist gut zu sehen, wie die Karikaturisten das charakteristische Erscheinungsbild der Rolle in reduzierter und überspitzter Form umsetzten. Im Österreichischen Theatermuseum befinden sich zwei Tuschezeichnungen von Goltz, die wohl als Vorzeichnungen für Zeitungskarikaturen von Durieux dienten. Die beiden Rollenporträts zeigen sie vermutlich einmal1294 als Elisabeth in Maria Stuart1295 und das andere Mal1296 als Frau Alving in Ibsens Gespenster1297. Goltz’ Karikaturen von Durieux weisen alle einen gemeinsamen zeich1290 Erich Goltz, Tilla Durieux als Hesione in Haus Herzenstod, Karikatur, erschienen in: Neue Berliner Zeitung, 1927, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 62. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 4. 1291 Berger, Tilla Durieux als Hesione› Karikatur, erschienen in: B. Z. am Mittag, 7. Januar 1927, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 62. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 4. 1292 Kapralik, Tilla Durieux als Hesione, Karikatur, erschienen in: Der Tag, 1927, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 521, S. 59. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 4. 1293 Harald Isenstein, Tilla Durieux als Hesione, um 1930, Schwarze Kreide, aquarelliert, 21,9 x 16,9 cm, Stadtmuseum Berlin, Inv.Nr. GHZ 80/39,11. 1294 Erich Goltz, Tilla Durieux, o. J., Tusche auf Transparentpapier, 13,7 cm x 8,2 cm. Österreichisches Theatermuseum, Wien, Inv.Nr.HZ_HK56864. 1295 Maria Stuart von Friedrich Schiller, Berlin: Lessingtheater, Premiere: 14. April 1932, Rolle: Elisabeth. 1296 Erich Goltz, Tilla Durieux, o. J., Tusche auf Transparentpapier, 11,5 cm x 10,4 cm, Österreichisches Theatermuseum, Wien, Inv.Nr.HZ_HK56865. 1297 Gespenster von Henrik Ibsen, Wien: Komödie, Schauspieler-Ensemble, November 1937, Regie: Paul Muni, Rolle: Frau Alving.

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nerischen Stil auf. Besonders die Tuschezeichnungen treffen die Schauspielerin gut. Goltz greift nicht auf ein festes Schema zurück, sondern variiert die übertriebenen Details und den Gesichtsausdruck situationsbedingt. Auf einer Radierung von Goltz von Durieux von 19251298, die auf die realistische Wiedergabe ihrer Gesichtszüge bedacht ist, sind Nase, Mund und Kinn der Schauspielerin, genauso wie auf seinen Karikaturen von ihr, betont. Allerdings sind die Augen nicht schräggestellt und die Augenbrauen nicht so stark geschwungen wie in seinen Durieux-Karikaturen. Es ist nicht ergiebig, nach dem physiognomischen Wahrheitsgehalt der Radierung im Vergleich zu den Karikaturen zu fragen. Vermutlich orientierte Goltz sich bei der Überzeichnung von Durieux’ Gesicht einerseits an dem Naturvorbild, andererseits griff er Elemente wie die Schrägstellung der Augen auf, die bereits für die karikaturistische Darstellung Durieux’ etabliert waren. Von Dolbin erschienen 1924 zwei Durieux-Karikaturen in der Wiener Zeitung Der Tag mit der Überschrift Wedekinds Franziska auf Thairoffs entfesseltem Theater (Abb. 19). Gemäß Iherings Kritik zu Durieux’ Auftritt als Franziska1299, in der er sie als »eine Karikaturistin, eine Groteskschauspielerin ersten Ranges«1300 bezeichnet, war die Rolle der Franziska für bildkünstlerische Karikaturen prädestiniert. Im Vergleich mit den Rollenfotografien von Durieux als Franziska, die im folgenden Kapitel ausführlich besprochen werden, sieht man bei Dolbins Karikaturen eine Übereinstimmung der Bühnenkostüme sowie der Körpersprache mit den Händen in den Hosentaschen und dem vorgestreckten Kinn. Dolbins Franziska-Karikaturen von Durieux zeichnen sich durch die Reduktion der Darstellung aus. Eine Übertreibung der Gesichtsmerkmale – wie es bei vielen anderen Durieux-Karikaturen der Fall ist – ist nicht vorhanden. Mit wenigen Strichen charakterisiert Dolbin das Wesentliche von Durieux’ Rollengestaltung und zielt auf dieselbe »männliche« Inszenierung ab wie die entsprechenden Rollenfotografien. Eine Durieux-Karikatur als Franziska von Erich Godal, die 1925 in Sport im Bild herauskam1301, strebt eine andere Bildaussage an als Dolbin. Während Dolbin Durieux nach ihrer Verwandlung in »Franz« abbildet (Abb. 19), hält Godal sie am Anfang des Dramas fest, als sie noch ganz Frau ist. Ihr Kleid, das 1298 Erich Goltz, Tilla Durieux, 1925, Radierung, 27,2 x 18,6 cm, Wien Museum, Inv.Nr. 141.294. 1299 Franziska von Frank Wedekind, Berlin: Theater in der Königgrätzer Straße (EnsembleGastspiel Deutsches Volkstheater, Wien), Premiere: 3. April 1925, Regie und Bühnenbild: Karl Heinz Matin, Rolle: Franziska. 1300 Ihering, Herbert: Franziska, in: Berliner Börsen-Courier, 1925, zit. nach: Preuß 1965a, S. 93. 1301 Erich Godal, Tilla Durieux als Franziska, 1925, Karikatur, erschienen in: Sport im Bild, Jg. 31, Heft 10, 1925, S. 640.

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alles durchblicken lässt, der in die Hüfte gestützte Arm, der erhobene Kopf und das breite Lächeln erwecken den Eindruck einer selbstzufriedenen Frau, die ihre Reize kennt und einzusetzen weiß. Die stark stilisierte Zeichnung ist mehr auf die erotische Wirkung der Bühnenfigur in diesem Moment des Stücks, als auf eine karikierende Charakterisierung der Schauspielerin aus.1302 Die Statuette von Hugo Lederer von 1926 zeigt sie in exakt derselben Pose und demselben Kostüm wie Godal. Ein seltenes Beispiel für das Aufgreifen von Eigenheiten der karikierten Person bei Durieux ist eine Zeichnung von Walter Trier, die 1911 in dem Buch Der Theaterteufel im Verlag der Lustigen Blätter erschien.1303 Auf der Zeichnung erscheint das Gesicht in Frontalansicht. Durieux ist mit kurzen Haaren und den typischen Merkmalen aus ihren Karikaturen – schrägstehende Augen, geschwungene Augenbrauen und volle Lippen – dargestellt. Es kommt eine inhaltliche karikaturistische Ebene hinzu, denn unter der Zeichnung steht: »Die Bretter, die die Welt bedeuten, genügen ihrem Ehrgeiz nicht mehr : Drum’ fliegt sie gern von Zeit zu Zeiten im Aeroplan darüber her.«1304 Der Text spielt auf Durieux’ Begeisterung für das Fliegen an. Ebenso verhält es sich bei einer weiteren Zeichnung von Trier, die ebenfalls 1911 in den Lustigen Blättern abgedruckt wurde.1305 Trier zeigt Durieux mit Fliegerhaube und -brille bekleidet am Steuer eines Flugzeugs. Im Hintergrund ist ein Theaterbau zu sehen, über den ein Doppeldecker hinwegfliegt. Bei dem Gebäude handelt es sich um das Lessing-Theater, an das Durieux 1911 wechselte. Auch hier ergänzt Trier die Karikatur mit einem Spruch: »Für fliegende Schauspieler ist ein besonderer Eingang vom Dach aus anzulegen.«, der erneut auf Durieux’ luftiges Hobby verweist. Wie sich in Kapitel V.4.2.4 zeigt, dienten die Fotografien von Durieux mit Flugzeug zu ihrer bildnerischen Inszenierung als moderne, technikinteressierte Frau. Außerdem unternahm Durieux bekanntermaßen gerne Ballonfahrten.1306 Ihr Wa-

1302 Paul Wiegler beschreibt Durieux’ Rollenwechsel in der »Komödie der geschlechtlichen Perversion« wie folgt: »Sie sieht anfangs, als das Mädchen Franziska, wie eine Nielsen des Sprechtheaters aus, dann, als Franz, wie ein kleiner Paul Wegener.« P.W.: Franziska, in: B.Z. am Mittag, zit. nach: Preuß 1965a, S. 93. 1303 Walter Trier, Tilla Durieux, 1911, Zeichnung, erschienen in: Brie, Alfred: Der Theaterteufel, Berlin 1911, S. 34–35, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Inv.Nr. Pf 13.896:B(2). 1304 Brie, Alfred: Der Theaterteufel, Berlin 1911, S. 34–35. 1305 Walter Trier, Tilla Durieux, 1911, Zeichnung, erschienen in: Lustige Blätter, Jg. 26, Heft 10, S. 5. 1306 Durieux beschreibt ihre Ballonfahrten in ihrer Autobiographie: Durieux 1979, S. 168–175. Um 1910 erschien in einer unbekannten Zeitung ein Text von ihr, in dem sie ihre »aeronautischen Erfahrungen« schildert: Durieux, Tilla: Die Frau im Ballon, in: Unbekannte Quelle, um 1910, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 583.12.

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gemut sich in die Lüfte zu begeben wurde bewundert, aber auch als extravagante Marotte angesehen.1307 Gerade bei Gastspielen diente die Berichterstattung über die Ensemblemitglieder als Werbung für die Aufführungen. Von Durieux sind Pressezeichnungen aus ausländischen Tageszeitungen erhalten. Durieux’ Skandinavien-Tournee im September 1933 schlug sich in vier Karikaturen im Osloer Aftenposten nieder.1308 Es handelt sich um Rollenporträts in Niccodemis Der Schatten1309. Die Kostüme und der zur Rolle der Berta gehörende Gehstock sind von Rollenfotografien von Durieux in Der Schatten bekannt.1310 Im Aftenposten wird sie in verschiedenen Momenten des Stücks mit der entsprechenden Mimik und Gestik dargestellt. Sie erscheint zufrieden lächelnd, verzweifelt und traurig. Der Karikaturist erfasst mit wenigen Linien das Charakteristische ihrer Rollengestaltung. Trotz der gattungstypischen Reduktion und Übertreibung – der Mund ist fast so breit wie das Gesicht – geben die Zeichnungen Durieux in ihrem Spiel treffend wieder. Bereits zehn Jahre zuvor war ein Rollenporträt von Durieux als Berta von Katerina Wilczynski (1894–1978) in der Zeitschrift Die Elegante Welt erschienen, das nicht der Karikatur zuzuordnen ist. Auf der Kreidezeichnung mit der Bildunterschrift Tilla Durieux in der Virtuosenrolle einer Märtyrerin aus Liebe stützt Durieux sich genauso wie bei zwei der Zeichnungen im Aftenposten auf einen Stock.1311 Der Vergleich verdeutlicht, wie der Karikaturist der norwegischen Zeitung die Mittel der Porträtkarikatur einsetzte, wogegen Wilczynski mehr auf Ähnlichkeit ihrer Darstellung bedacht war.

V.4.2 Fotografische Inszenierung Die Mehrheit der fotografischen Aufnahmen von Durieux, die Zivil- und Rollenporträts umfassen, entstand als Einzelporträt im Atelier und wurde in Form 1307 Else Lasker Schüler erwähnt in einem Text über Durieux, der 1910 in Das Theater erschien, Durieux’ luftiges Hobby : »Sie ist ohne Furcht und Zaudern. […] so folge ich in Gedanken den Schilderungen der Luftschifferin in die Lüfte.« Lasker-Schüler 1910. 1308 Unbekannter Künstler, Tilla Durieux in Der Schatten, 1933, Karikatur, erschienen in: Aftenposten, Oslo, September 1933, Abb. in: Preuß 1965, S. 56. 1309 Der Schatten von Dario Niccodemi, Tournee mit Schauspieler-Ensemble, Leitung: Alfred Fischer (Dänermark, Schweden, Norwegen), September bis Anfang Oktober 1933, Rolle: Berta. 1310 Zwei Fotografien von Freiherr Wolff von Gudenberg erschienen 1932 in der B.Z. am Mittag: http://www.granger.com/results.asp?image=0213696, Stand vom 21. 5. 2014. 1311 Katerina Wilczynski, Tilla Durieux in Der Schatten, 1923, Kreidezeichnung, 22,9 x 17,5 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Inv.Nr. 14134516. Abb. in: Wagner, Gretel: Katerina Wilczynski, Berlin 1975, Nr. 51.

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von Fotopostkarten produziert.1312 Daneben gibt es Rollenfotografien, darunter überwiegend Szenenfotografien, die im Theater, sowie Zivilfotografien, die bei Durieux zu Hause aufgenommen wurden. Angesichts der Verwendung von Durieux’ Fotografien in verschiedenen Printmedien, kann man von einer multimedialen Inszenierung der Schauspielerin sprechen. Alle großen Berliner Tageszeitungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten Theaterkritik im FeuilletonRessort.1313 Darstellungen der Schauspieler, zuerst in Form von Pressezeichnungen und seit den 1920er Jahren auch als Fotografien, begleiteten diese Berichte.1314 Die Theaterkritiken von Durieux wurden zusammen mit Einzelporträts und Szenenfotografien abgedruckt.1315 Einen besonderen Werbefaktor besaßen die abgedruckten Porträts, in Form von Graphiken oder Fotografien, bei Gastspielreisen. So erschienen Fotografien von Durieux auch in außerberlinischen und internationalen Tageszeitungen. Illustrierte Zeitschriften nutzten die Fotografie viel früher als Tageszeitungen sehr intensiv. Obwohl der Wiedererkennungswert bei Aufnahmen von Prominenten vorhanden sein musste, war für die Illustrierten aus Konkurrenzgründen ebenfalls die Einzigartigkeit der Fotografien relevant. Daher gab es hier mehr Raum für Experimente als bei den kommerziellen Fotopostkarten. Viele bekannte Gesellschaftsfotografen arbeiteten mit Magazinen zusammen. Reproduktionen von Fotografien von Durieux gab es u. a. in den Illustrierten Sport im Bild, Der Weltspiegel, Querschnitt, Uhu, Revue des Monats und Moden-Spiegel.1316 Bei den Fotografien, die in Zeitschriften abgebildet wurden, handelt es sich um Szenenfotografien, Einzel-Rollenporträts sowie Zivilporträts. Durieux wird z. B. bei Freizeitbeschäftigungen wie Autofahren oder Fliegen, als Mode1312 Insgesamt gilt für Schauspielerfotopostkarten, dass der »Anteil an gestellten Szenenfotos und Doppel-Rollenporträts mit szenisch-gespieltem Charakter […] im Vergleich zur Menge der Einzelporträts auf Postkarten sehr gering« ist. Balk 1989, S. 42. Szenenfotografien werden im vorliegenden Kapitel nicht herangezogen, da sie nicht wie die Einzelporträts im Dienst der Inszenierung des Schauspielers stehen. Vielmehr geben sie einen Eindruck der Theateraufführung, je nach Bildausschnitt von Bühnenbild, Kulissen, Anordnung der Schauspieler, etc., wieder. 1313 Max Epstein nennt 1911 sechs zeitgenössische Zeitungen mit ernstzunehmenden Theaterkritiken: Berliner Tageblatt, B.Z. am Mittag, Berliner Lokal-Anzeiger, Berliner BörsenCourier, Vossische Zeitung und Tägliche Rundschau. Vgl. Epstein, Max: Das Theater als Geschäft, Berlin 1911, S. 148. 1314 Gerade die große Menge an Zeitungen in der Hauptstadt machte es notwendig, sich durch den Abdruck von Fotografien von anderen Zeitungen abzuheben. 1315 Siehe dazu die drei Alben mit eingeklebten Zeitungsausschnitten aus dem Zeitraum von 1899–1928, die Durieux’ Mutter begann und die sie selbst weiterführte. AdK, Berlin, TillaDurieux-Archiv, Nr. 520, 521, 522. 1316 In Sport im Bild wurden zwischen 1919 und 1926 zahlreiche Fotografien von Durieux abgedruckt: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=sib, Stand vom 20. 02. 2014. In Querschnitt› Uhu und Revue des Monats gibt es Fotografien von Durieux: http:// www.illustrierte-presse.de/, Stand vom 20. 02. 2014.

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vorbild oder »privat« bei ihr zu Hause zusammen mit ihren Haustieren sowie inmitten ihrer Kunstsammlung präsentiert.1317 Es gab zahlreiche Theaterzeitschriften zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin, die, genauso wie andere Zeitschriften, Fotografien verwendeten. So wurde Durieux mehrfach in der 1903 gegründeten und zeitweise von Herwarth Walden herausgegebenen Zeitschrift Das Theater abgebildet.1318 Die Durchsicht der zeitgenössischen Theaterzeitschriften1319 nach Fotografien von Durieux gestaltete sich ausgesprochen schwierig, da es sie noch kaum in digitalisierter Form gibt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit war es nicht möglich, alle Ausgaben der Theaterzeitschriften über diesen langen Zeitraum durchzusehen. Auch von anderen Schauspielerinnen der Zeit gibt es keine Untersuchungen in diesem Bereich. Daher muss dies eine Aufgabe für zukünftige Forschungsarbeiten bleiben. Fotografien von Durieux sind in verschiedenen Sammlungen vertreten. Die größte Sammlung befindet sich im Tilla-Durieux-Archiv der Akademie der Künste in Berlin.1320 Der dortige Bestand »1.1 Theaterrollen« beinhaltet Rollenfotografien und Szenenfotografien in verschiedenen Formaten zu Durieux’ Rollen von 1903 bis 1969. Im Bestand »5.1 Fotografien« finden sich nicht nur Rollenfotopostkarten, sondern auch eine große Menge an Zivilfotografien, die sich über den Zeitraum ihres ganzen Lebens erstrecken. Dort sind auch Familienfotografien, Fotografien ihrer Wohnsitze, Fotografien aus der Zagreber Zeit und andere persönliche Aufnahmen aus ihrem Nachlass vorhanden. Das Deutsche Theatermuseum in München besitzt eine Sammlung von über 100 Fotopostkarten von Durieux aus dem Zeitraum von 1903 bis ca. 1915, darunter hauptsächlich Rollenfotografien, aber auch Zivilfotografien. In der Fotoabteilung der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln gibt es einen umfangreichen Bestand von knapp 250 Rollenfotografien von Durieux. Darunter sind Szenenaufnahmen, ca. 60 Fotopostkarten, Fotografien in anderen Formaten sowie eine große Anzahl von Zeitungsausschnitten.1321 Das Stadtmuseum Berlin hat in seiner Theatersammlung Rollenfotografien von Durieux als Alcestis, Iokaste, Cleopatra, Hedda Gabler und Salome. Aus der Zeit ihrer 1317 Verständlicherweise wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht alle Fotografien von Durieux, die in zeitgenössischen Zeitschriften abgebildet waren, erfasst, sondern nur diejenigen, die über Archive oder Digitalisate zugänglich waren. 1318 Beispielsweise in: Das Theater, Jg. 1909/1910, 1. Halbjahresband, S. 85, 155, 233, 234. 1319 Theaterzeitschriften, die in dem für die Arbeit relevanten Zeitraum im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kontinuierlich in Berlin erschienen, sind: Das Theater, Die Schaubühne (seit 1918 Die Weltbühne), Bühne und Welt und Die Eleganz. In der Schaubühne gibt es jedoch keine Abbildungen. 1320 Es gibt online ein Findbuch des Tilla-Durieux-Archivs auf der Webseite der AdK, Berlin, das alle Verzeichnungseinheiten auflistet: http://www.adk.findbuch.net/, Stand vom 25. 02. 2014. 1321 Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Fotoabteilung.

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zweiten Theaterkarriere nach ihrer Rückkehr nach Deutschland gibt es dort Szenenfotografien aus den 1950er und 1960er Jahren.1322 Das Theatermuseum Düsseldorf besitzt zwei Zivilaufnahmen von Durieux.1323 Da Durieux gebürtige Österreicherin war, gibt es auch in der Österreichischen Nationalbibliothek1324 und dem Österreichischen Theatermuseum in Wien1325 Fotografien von ihr. Die Rollenfotografien von Durieux sind für die vorliegende Arbeit einerseits um ihrer selbst willen interessant, andererseits dienen sie als vergleichendes Bildmaterial zur Untersuchung von Durieux’ Rollenporträts in anderen Bildmedien. Die Diskussion um den dokumentarischen Wert von Schauspielerporträts wurde bereits in Kapitel IV dieser Arbeit angesprochen.1326 Die Fotografie eignet sich für den Schauspieler nach Holschbach besser zur Selbstinszenierung als andere bildnerische Medien, da der Fotograf nur das festhalten kann, was er sieht.1327 Das Kapitel über die Fotografien von Durieux ist nicht dazu gedacht, ihren Quellenwert zu beurteilen, sondern zum Aufzeigen der verschiedenen Erscheinungs- und Inszenierungsformen. Es muss im Einzelfall entschieden werden, ob die weit verbreiteten Fotografien von Durieux ihren Porträtisten als Orientierung dienten. Da die Fotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachweislich eine wichtige Funktion als Hilfsmittel im malerischen Werkprozess besaß, ist es immerhin denkbar.1328 Wie das Kapitel V.1 der vorliegenden Arbeit herausstellt, kann zumindest in Einzelfällen eine Interpendenz von Fotografie und gemaltem bzw. graphischem Porträt vermutet werden. Mit Blick auf die Fragestellung der Arbeit nach den Inszenierungsformen in Durieux’ bildnerischen Porträts, steht dieser Aspekt verständlicherweise auch in diesem Kapitel im Zentrum des Interesses. Der Selbstinszenierungsgrad in den Fotografien ist hoch, da die Schauspielerin das Fotoatelier als eine Art Bühne nutzte, sodass das Posieren vor der Kamera den Status einer Performance er-

1322 Auskunft von Frau Bärbel Reißmann vom Stadtmuseum Berlin. E-Mail vom 19. 3. 2014. Einige Fotografien sind Teil der Online-Sammlung auf der Webseite der Stiftung Stadtmuseum Berlin: https://sammlung-online.stadtmuseum.de/, Stand vom 10. 4. 2014. 1323 Auskunft von Frau Sigrid Arnold vom Theatermuseum Düsseldorf. E-Mail vom 6. 11. 2013. 1324 Österreichische Nationalbibliothek: Digitaler Zettelkatalog: http://www.bildarchiv.at/ Profiszettel.aspx?wort=Tilla Durieux, Stand vom 25. 02. 2014. 1325 http://bilddatenbank.khm.at/viewArtefact?id=377364, Stand vom 25. 2. 2014. 1326 Spötter warnt vor der rein dokumentarisch-objektiven Bewertung der Theaterfotografie. »Der Lichtbildner wird zum Interpreten der Theateraufführung und schafft ein Medium, das nicht mehr im direkten Bezug zur Bühne steht. Der Bildbetrachter wird so zum Interpreten eines interpretierenden Zeichens.« Spötter 2003, S. 147. 1327 Vgl. Holschbach 2006, S. 178. 1328 Nach Krueger gab es »kaum einen bedeutenden Maler in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts […], der sich nicht irgendwann […] der Photographie als Hilfsmittel bedient hat.« Krueger 1982, S. 15.

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hielt.1329 Dennoch konnte sie nicht allein über die Entstehung und Auswahl ihrer Fotografien für die Publikation entscheiden. Zur Untersuchung von Durieux’ Fotografien werden sie im Folgenden entsprechend ihren Inszenierungsabsichten gruppenweise vorgestellt. V.4.2.1 Theaterstar Voraussetzung für eine Popularität des Schauspielers, die über das Theaterpublikum hinausreicht, ist die Loslösung des Ruhms von den tatsächlichen schauspielerischen Fähigkeiten, ein typisches Phänomen des Starwesens.1330 Auch Personen, die nicht ins Theater gingen, wollten Abbilder von Durieux erwerben, allein wegen ihres Starstatus. Die Fotopostkarten, die den Theaterstar Tilla Durieux zeigen, bilden unter Durieux’ Fotografien zahlenmäßig die größte Gruppe. Von den hier vorgestellten Aufnahmen stehen sie am stärksten im »Dienst des Theaters«. Spezialisierte Theaterfotografen und Fotoateliers, die Aufnahmen von Durieux machten, waren u. a. Becker & Maaß, Berlin, Zander & Labisch, Berlin1331, Sasha Stone, Berlin, Theodor Fanta, Berlin, Lotte Jacobi, Berlin, Hofatelier der Gebrüder Hirsch, München1332, Hanns Holdt, München, Franz Löwy, Wien und Atelier Willinger, Wien. Die meisten Aufnahmen für Fotopostkarten von Durieux entstanden im Atelier von Becker & Maaß, Berlin und wurden von dem Verlag Hermann Leiser, Berlin produziert.1333 In nahezu allen Rollen ihrer Karriere im Zeitraum von 1903 bis 1933 wurde Durieux bei Becker & Maaß fotografiert. Ebenso gibt es zahlreiche Zivilfotografien von Becker & Maaß von Durieux aus dieser Zeit. In Bezug auf den Vertrieb der Fotopostkarten ist bisher nicht bekannt, ob sie auch an den Theatern selbst verkauft wurden.1334 Über die Vermarktung, z. B. Werbung in Theaterzeitschriften, gibt es keine Informationen. Laut Frecot wurden die Schauspielerfotografien mit großer Nachfrage als Postkarten auf1329 Vgl. Holschbach 2004, S. 212. 1330 Laut Grotjahn erfolgt die Imagebildung eines Stars in den Printmedien dann, »wenn nicht mehr die künstlerische Leistung im Mittelpunkt […] steht, sondern das Interesse am [Privatleben] der Person […].« Grotjahn 2011, S. 91. 1331 Das Berliner Fotoatelier Zander& Labisch war auf Theaterfotografien für die Publikation in Zeitschriften und Zeitungen spezialisiert. Vgl. Balk 1989, S. 57. Zander& Labisch schufen den Großteil der Theaterfotografien für Max Reinhardt. Vgl. Spötter 2003, S. 103. 1332 Der Verlag Hanfstaengl war für den Vertrieb der Reproduktionen von den Aufnahmen der Gebrüder Hirsch zuständig. 1333 Nach Hickethier besaß die Firma Hermann Leiser in Berlin geradezu ein Monopol auf den Vertrieb von Fotopostkarten. Vgl. Hickethier 1997, S. 42. 1334 Hickethier vermutet, dass die Fotopostkarten der Schauspieler »im Umfeld der Aufführungen verkauft« wurden, da sich Karten erhalten haben, die von den Käufern mit dem Datum der Aufführung beschriftet wurden. Hickethier 1997, S. 41.

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gelegt. Seine Erläuterung der Vermarktungsstrategie erklärt, warum sich Berlin als Markt für Schauspielerpostkarten anbot: »Die Vermarktung funktionierte besonders gut, wenn die Photographen da ansässig waren, wo auch die Ausstellungen stattfanden, die Zeitschriften erschienen und gebildetes Publikum das alles rezipierte.«1335 Beweis für die große Auflage von Durieux’ Fotopostkarten ist ihre Ubiquität in allen größeren Theatersammlungen im deutschsprachigen Raum. Die Nachfrage war offensichtlich sehr groß. Die Preise der Fotopostkarten waren so niedrig, dass sie für eine breite Käuferschicht erschwinglich waren. Bei Durieux’ Fotopostkarten überwiegen die Rollenporträts, die auf der Vorderseite mit Namen, Rolle und Stück beschriftet sind. Zivilfotografien sind mit dem Namen beschriftet. Nur in wenigen Fällen gebrauchten die Käufer die Fotopostkarten in ihrem ursprünglichen Sinn als Kommunikationsmedium. Das beweist ihre wichtigste Nutzung als Sammelobjekt. Ganz selten sind Fotopostkarten auf der Vorderseite mit einem Autogramm von Durieux versehen. Es haben sich auch von Durieux selbst geschriebene Fotopostkarten erhalten, die sie an Bekannte verschenkte. Der Hintergrund auf Durieux’ Fotopostkarten ist fast durchgängig neutral, ohne räumliche Einbindung der Figur. Der Ausschnitt der Rollenfotopostkarten lässt oft das Kostüm als Verweis auf die Rolle erkennen und z. T. kommen Requisiten, wie Thron, Krone, Zepter, Öllampe, etc., vor. Bei den Aufnahmen, die keinen Bezug zu einer Rolle erkennen lassen, gibt es häufiger Nahaufnahmen. Neben der Überzahl an Einzelporträts existieren Doppelporträts von Durieux zusammen mit der jeweiligen männlichen Hauptrolle. Die Aufnahmen für die Fotopostkarten entstanden größtenteils im Fotoatelier. Die Aufnahmen vor Ort sind fast durchgängig Szenenaufnahmen, in denen Durieux alleine oder mit ihren Mitspielern auf der Bühne zu sehen ist. Sie wurden nur selten als Fotopostkarten produziert, sondern dienten als Abbildungen in der Presse, in den Programmheften oder in zeitgenössischen Theaterpublikationen. Auch die Verwendung von Fotografien Durieux’ in zeitgenössischen Gesellschaftsblättern beweist ihren Starstatus. 1920 wurden in Sport im Bild in der Rubrik Der Filmstar drei Rollenfotografien von Durieux abgedruckt.1336 In ihren schriftlichen Selbstzeugnissen gab sich der »Stern Tilla Durieux«1337 angesichts seines Starruhms bescheiden: »Zum Vergnügen ist Berlin nicht da, und nur, wenn mir dort ab und zu ein junges, törichtes Mädchen mit dem gewissen Blick der Theaternärrin nachsieht, könnte ich das

1335 Frecot 2005, S. 9. 1336 Skagen, Hann: Der Filmstar, in: Sport im Bild, Jg. 26, Heft 46, 1920, S. 1294–1295, hier : S. 1294. 1337 Pohl, Gerhart: Stürmischer Salut (1926), in: Preuß 1965, S. 51–54, hier : S. 51.

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schöne Gefühl haben, eine sozusagen nicht ganz unberühmte Schauspielerin zu sein. Ich habe es aber trotzdem nicht, ich habe keine Zeit dazu.«1338

V.4.2.2 »Dame der Gesellschaft« Fast alle bedeutenden Gesellschaftsfotografen des beginnenden 20. Jahrhunderts mit einem exklusiven Kundenstamm fotografierten Durieux. Diese Aufnahmen untermauern ihren Status als »Dame der Gesellschaft«, den sie dank ihrer Berühmtheit durch ihre Schauspielerei sowie durch ihre Ehe mit dem erfolgreichen Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer, der aus einer vermögenden, einflussreichen Familie stammte, besaß. Die Aufnahmen weisen sie als Mitglied der gesellschaftlichen Oberschicht aus. Jacob Hilsdorf (1872–1916) arbeitete zeitweise im Atelier von Nicola Perscheid (1864–1930)1339 und fotografierte viele berühmte Persönlichkeiten, oft in ihrer eigenen Umgebung. 1904 wurde er durch seine Teilnahme an der Berliner Fotoausstellung bekannt1340 und 1905 fotografierte er Durieux1341. In Profilansicht auf einem Sessel sitzend, stützt sie sich mit dem Ellbogen des linken Arms an der Rückenlehne ab. Die linke Hand ist an die Hüfte gelegt. Sie trägt ein reich besticktes weißes Kleid mit hoch geschlossenem Rüschenkragen, das Haar ist zu einem Dutt hochgesteckt. Der leicht nach unten gerichtete, abwesende Blick passt zu der gesamten Mimik, die Ausgeglichenheit vermittelt.1342 Der ruhige Gesichtsausdruck und die aufrechte Körperhaltung verleihen der Dargestellten eine würdevolle Ausstrahlung. Die Beschneidung der Beine durch den unteren Bildrand trägt zusätzlich zu der statischen Wirkung bei. Hilsdorfs Aufnahme von Durieux steht einerseits in der Tradition der repräsentativen bürgerlichen Bildnisfotografie, wie man beispielsweise an dem Requisit der Sitzgelegenheit sehen kann.1343 Andererseits lassen der in sich gekehrte Ausdruck, der weiche Lichteinfall von links1344 und die feinen Übergänge zwischen Licht und Schatten 1338 Durieux Dezember 1921. 1339 Vgl. Landesmuseum Koblenz (Hg.): Bilder machen Leute. Die Inszenierung des Menschen in der Fotografie, Ausst.kat., Ostfildern 2008, S. 214. 1340 Vgl. Hunter 2005, S. 162. 1341 Jacob Hilsdorf, Tilla Durieux, 1905, Fotografie. Abb. in: Toth, Franz (Hg.): Jacob Hilsdorf 1872–1916. Photograph im Jugendstil. Eine historische Wiederentdeckung, Ausst.kat., Bingen 1986, S. 23. 1342 Diese Wirkung war nach Toth eine Spezialität Hilsdorfs: »Jacob Hilsdorf hatte die besondere Begabung, […] den Augenblick zu erfassen, in dem sein Modell Ausdruck und Haltung fand, die ihm als Person voll entsprachen. So verbindet sich die lebendige Gegenwart eines Menschen mit der Ruhe einer gültig formulierten Bildaussage.« Toth 1986, S. 13. 1343 Vgl. Toth 1986, S. 7. 1344 Scheffers schreibt 1906 über die Beleuchtung in Hilsdorfs Bildnissen: »Um die anheimelnde Wirkung der Zimmerbeleuchtung zu erreichen, liebt er es, seine Modelle in ihrem

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die Figur zart und zerbrechlich erscheinen und bringen eine psychologische Nuance in die Darstellung. Die auf Repräsentation abzielende Inszenierung in Hilsdorfs Fotografie erinnert an die gemalten Porträts von Renoir (Abb. 13) und Purrmann (Abb. 14). Durch die Kombination von Intimität und Distanz geht Hilsdorf über die reine Repräsentation hinaus und gelangt zu einer individuellen Gestaltung der Fotografie von Tilla Durieux. In seinem Nachruf wird Hilsdorf als »Psychologe« bezeichnet, dem es gelang, »möglichst viel von der Persönlichkeit seines Modells auf das Bild zu bringen«, das »Wesen« des Dargestellten einzufangen und »Bilder von ›sprechender‹ Ähnlichkeit und stärkstem geistigen Ausdruck«1345 zu schaffen. Nicola Perscheid siedelte 1905 nach Berlin über und machte dort hauptsächlich Aufnahmen von bekannten Persönlichkeiten aus Kultur, Kunst, Literatur und Politik.1346 Eines dieser prominenten Modelle war Durieux, die er um 1910 in seinem Atelier fotografierte (Abb. 21). Die Zivilaufnahme wurde als Fotopostkarte im Verlag Hermann Leiser vertrieben. Durieux sitzt seitlich auf einem Stuhl und dreht sich aus der Profilansicht zur Bildfläche hin, so dass das Gesicht dem Betrachter in Dreiviertelansicht zugewandt ist. Der linke Unterarm ruht auf dem Oberschenkel, der vom unteren Bildrand beschnitten wird, so dass die Fingerspitzen die rechte Seitenlehne des Stuhls berühren. Die Garderobe ist passend für eine Dame der gehobenen Gesellschaft gewählt. Durieux hat ein weißes Unterkleid mit hoch geschlossenem Rüschenkragen und darüber ein schwarzes Kleid mit Ärmeln aus Spitze an. Dazu trägt sie weiße Handschuhe und einen breiten schwarzen Hut, unter dem eine Hochsteckfrisur hervorschaut. Stellenweise verschmilzt die Figur mit dem dunklen Hintergrund, vor dem sich der weiße Stuhl, Teile der Kleidung und das beleuchtete Gesicht abheben. Zur Betonung des Gesichts trägt außerdem die Unschärfe im Hintergrund bei. Durieux’ Blick ist auf den Betrachter gerichtet, der Mund zeigt den Anflug eines Lächelns. Trotz des Blickkontakts wirkt sie distanziert, scheint in Gedanken vertieft zu sein. Der auf der Stuhllehne abgelegte Arm, der eine optische Barriere bildet, verstärkt den Eindruck von Zurückhaltung. Die weich zeichnenden Effekte lassen die Gesichtszüge ruhig und sanft erscheinen und entsprechen damit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschenden weiblichen Tugendidealen. Perscheids Fotografie von Durieux ist konventionell, ohne Unterschied zu

eigenen Heim aufzunehmen, überdies hat er auch sein neues Atelier mit Seitenlicht versehen lassen, also eigens zur Erzielung derselben Beleuchtungseffekte.« Scheffers, Otto: Künstlerische Photographien von Jacob Hilsdorf, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Jg. 17, Heft 2, 1906, S. 342–352, hier : S. 342. 1345 Vgl. Simon, Heinrich: Nachruf auf Jacob Hilsdorf, Frankfurter Zeitung, 17. Januar 1916, S. 1–2, zit. nach: Toth 1986, S. 20. 1346 Vgl. Landesmuseum Koblenz 2008, S. 218.

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einer zeitgleichen Bildnisfotografie einer Dame aus dem Großbürgertum und ohne Hinweis auf ihren Beruf. Rudolf Dührkoop (1848–1918) betrieb zusammen mit seiner Tochter Minya (1873–1929) Fotoateliers in Berlin und Hamburg.1347 Nachdem Rudolf Dührkoop 1912 eine Rollenfotografie von Durieux in Hedda Gabler1348 aufgenommen hatte, erschien 1916 eine Zivilfotografie1349 der Dührkoops in Deutsche Kunst und Dekoration.1350 Die Halbfigur bildet ein Dreieck, das links und rechts angeschnitten ist, und erscheint in Nahsicht in leichter Froschperspektive vor undefiniertem Bildraum. Der rechte Arm ist in die Seite gestützt, die linke Hand befindet sich auf Brusthöhe. Der Kopf ist nach rechts gedreht, das Gesicht ist in Dreiviertelansicht zu sehen, der Blick geht zur Seite. Da die Lichtquelle rechts liegt, ist das Gesicht leicht verschattet und die Gesichtszüge wirken weich. Durieux trägt einen Hut mit einer Schleife und einen stoffreichen Mantel mit diversen Raffungen und Verzierungen. Die Falten des Mantels treten durch die feine Lichtabstufung plastisch hervor. In Durieux’ Fotografie ist es Dührkoop mit den Worten des oben genannten Artikels in Deutsche Kunst und Dekoration gelungen, den »Geist und das Gefühl« des Modells »ahnen zu lassen« mit der Folge, dass der Betrachter unmittelbar fühlt, »daß hier die Persönlichkeit belauscht ist«.1351 Dührkoop trat für eine Reform der Porträtfotografie im Sinne des Piktorialismus ein. Er war der Überzeugung, Fotografie sei genauso subjektiv wie die anderen bildenden Künste und eben kein Abbild der Natur. Statt künstlicher Pose und Idealisierung forderte er Lebendigkeit, Individualität, Persönlichkeit und Wahrheit in den Porträtaufnahmen.1352 »Ich aber behaupte, man kann jeden Menschen bildmäßig photographieren, und zwingt man ihm nicht allerlei Posen auf und drechselt von allen Seiten an ihm herum, so entstehen Porträts, welche gerade in ihrer Einfachheit einen durchaus bildmäßigen Eindruck machen. […] Die charakteristischen Haltungen eines Menschen sind diejenigen, welche er ganz unbewußt einnimmt, diese sind ganz seinem Wesen und seiner Persönlichkeit entsprechend, und deshalb sollte man suchen, solche unbewußte Haltungen zu fixieren.«1353 1347 Vgl. Hunter 2005. 1348 Rudolf Dührkoop, Tilla Durieux als Hedda Gabler, 1912, Fotopostkarte, 13,8 x 8,6 cm, Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.Nr. SM 2011–2815,5. 1349 Rudolf und Minya Dührkoop, Tilla Durieux, um 1916, Fotografie, Maße und Verbleib unbekannt. 1350 Warstat, Willi: Ähnlichkeit im photographischen Bildnis. Zu den Photographien von Rudolf und Minya Dührkoop, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Jg. 39, Heft 3, 1916, S. 171–189, hier: S. 182. 1351 Warstat 1916, S. 179. 1352 Vgl. Dewitz 2008, S. 26. 1353 Dührkoop, Rudolf: Das Kamerabildnis und seine kulturelle Bedeutung, seinen Förderern und Freunden, Hamburg/Berlin 1907, S. 6, 15.

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Dührkoops Auffassung zeichnet ihn als Vertreter der Kunstfotografie aus, deren Porträts bevorzugt »in den privaten Räumen der Porträtierten oder in der freien Natur« entstanden, mit dem Ziel, »die individuellen Züge einer Person sowie das Natürliche«1354 zu betonen. Typische Gestaltungsmittel der Kunstfotografie wie Unschärfe-Effekte, Verzicht auf Details und gestreutes Licht wurden aus der Malerei übernommen.1355 Durieux’ Fotografien von Alexander Bilder, dessen Atelier in den 1920er Jahren zu einem der führenden Berliner Ateliers zählte, werden in den folgenden Kapiteln V.4.2.4 und V.4.2.6 bearbeitet. Die Fotografien von Durieux von den Fotografinnen Frieda Riess und Lotte Jacobi wurden bereits in Kapitel V.3.4 dieser Arbeit betrachtet. V.4.2.3 Modeikone Nicht nur auf Zivil- und Rollenfotopostkarten trat Durieux in eleganten Kleidern als Modemodell auf, sondern ihr Bekleidungsstil – privat und auf der Bühne – wurde auch in Gesellschaftszeitschriften vorgestellt. Die Rubriken Die Mode auf der Bühne sowie Mode und Film in der Illustrierten Sport im Bild, in der Durieux zwischen 1919 und 1926 häufig abgebildet war, beweisen die »Vorbildfunktion bekannter Film- und Bühnenstars in Modefragen«1356. Die Modejournalistin der 1920er Jahre, Elsa Herzog, verfasste diverse Artikel über Durieux. Kessemeier schreibt über den Moden-Spiegel, die Modebeilage des Berliner Tageblatts: »Nicht selten führten bekannte Schauspielerinnen wie Ossi Oswalda, Tilla Durieux, Lil Dagover, Mady Christians bzw. Damen aus der Gesellschaft die neuesten Modelle vor.«1357 U. a. diente Durieux in Sport im Bild als Werbefigur für die damals bekannte Designerin Johanna Marbach. 1921 war sie in einem spanischen Kleid von Marbach im Rahmen des Artikels Schöne Frauen vom Film- und Presseball von Elsa Herzog abgebildet.1358 Herzog betont in dem Artikel die Wichtigkeit für Schauspielerinnen, sich bei gesellschaftlichen Ereignissen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ebenfalls 1921 stellte Herzog in der Rubrik Die Mode auf der Bühne vier verschiedene Bühnenkostüme von Durieux als Mrs. Cheveley in Oscar Wildes Ein idealer Gatte, die von Johanna Marbach entworfen wurden, vor.1359 Den mehrfachen Kostümwechsel in dieser Rolle in-

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Kaufhold 2005, S. 15. Vgl. Hammers 2014, S. 50. Kessemeier 2000, S. 288. Kessemeier 2000, S. 285. Herzog, Elsa: Schöne Frauen vom Film- und Presseball, in: Sport im Bild, Jg. 27, Heft 6, 1921, S. 192. 1359 Von zwei Kostümen sind variierte Aufnahmen bekannt: Becker & Maaß, Tilla Durieux als

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terpretiert Herzog als Ausdruck von Durieux’ großer schauspielerischer Wandlungsfähigkeit: »Und nun hat man den ›Idealen Gatten‹ erneut auf die Bühne gebracht, wahrscheinlich, um Tilla Durieux von neuem Gelegenheit zu geben, in einer Bravourrolle zu glänzen. Diese merkwürdige Frau ist auch eine Toilettenkünstlerin. Ihre Vielseitigkeit, in der ihr auf der deutschen Bühne wohl kaum eine zweite Künstlerin gleichkommt, ist erstaunlich. […] Sie versteht es wie wenige, durch den Anzug zu charakterisieren. Man merkt ihrem Äußeren sofort an, wo sie hinaus will. […] Alle Toiletten sind dazu aufs feinste abgestimmt.«1360

Ebenso schenkten die Kritiker der Kleidung von Schauspielerinnen bei ihren Beurteilungen der Stücke große Aufmerksamkeit.1361 Passend zu dem bebilderten Artikel von Herzog in Sport im Bild beschreibt Alfred Kerr in seiner Kritik zu Wildes Stück 1921 ausführlich Durieux’ verschiedene Bühnenkostüme als Mrs. Cheveley, nämlich ein »gold-silbrige[s] Schleiergewand«, eine Schwalbenschleppe »unter schwarzem Perlenmantel« sowie ein »grünes Schneiderkleid mit modefarbenem Pelz« und passendem Hut.1362 1922 preist Ola Alsen in einem Artikel im Moden-Spiegel Spitze als LuxusModeprodukt und bemüht Durieux als Mode-Vorbild.1363 Eine Abbildung im Artikel zeigt sie in der Rolle der Fedora mit der Bildunterschrift: »Tilla Durieux trägt als ›Fedora‹ über einem Gewand aus lila Seidenchiffon ein Spitzenkleid mit Iltisrand.« Von derselben Autorin erschien unter der Überschrift Eleganz ein Beitrag über Durieux im Weltspiegel, begleitet von einer Bilderstrecke mit acht »Spezialaufnahmen« von Becker & Maaß von Durieux in luxurösen Kleidern mit Pelz, Seide, Brokat und Stickereien.1364 Durieux gibt in dem Artikel ihre Definition einer eleganten Frau: »Eine elegante Frau – dazu gehört Geschmack, Arbeit […], Studium und Geld.« Für Durieux war eine elegante Frau eher ein Gemütszustand. Sie stellte sich darunter eine nicht-arbeitende Müßiggängerin vor, die sich ausschließlich um ihre Toilette und deren Inszenierung kümmerte.

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Mrs. Cheveley, 1921, Fotografie, 22,5 x 16,2 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Ident.Nr. 14131077 und Ident.Nr. 14132414. Herzog, Elsa: Die Mode auf der Bühne, in: Sport im Bild, Jg. 27, Heft 7, 1921, S. 231. So kritisiert Kerr 1917 Durieux’ Bühnenkostüm: »Sie trat in Einaktern von Heinrich Mann auf. Ein Reiz für Blick und Ohr, die Durieux. Für den Blick dann weniger : wenn die Hüfte durch das Kleid nach oben verlegt wird. (sie muß im Rücken die kurze Taille meiden.)« Kerr 1917, S. 458. Hering, Gerhard F. (Hg.): Alfred Kerr : Die Welt im Drama, Köln/Berlin 1954, S. 478. Alsen, Ola: Spitzen, in: Moden-Spiegel, Heft 28, 1922, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 581.12. Über die Autorin des Artikels Ola Alsen schreibt Durieux 1932 in ihrem Tagebuch, sie habe versucht die Publikation einer Biographie über sie von Alsen zu verhindern. Diese habe sie daraufhin erpresst. Der Grund für die versuchte Erpressung ist unbekannt. Vgl. Walach 2009a, S. 106. Alsen, Ola: Tilla Durieux über Eleganz, in: Der Weltspiegel, Nr. 103, S. 9–10, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 583.11.

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Durieux hielt sich ihrer Aussage nach nicht für eine elegante Frau, sondern für eine »Handwerkerin«. Das entspricht dem Typus der ›Neuen Frau‹, der die Berufstätigkeit der Frau voraussetzt. Auf den Aufnahmen der Bilderstrecke spielte Durieux also nur die Rolle eines modebewussten Theaterstars, weil dies von ihr erwartet wurde. »Im Leben aber bevorzugte ich die Einfachheit […]«1365, schreibt sie in ihrer Autobiographie. Dementsprechend betont Durieux 1922 in einem Beitrag Das Lieblingskleid in Sport im Bild, in dem fünf Schauspielerinnen abgebildet und interviewt wurden, ihren einfachen Kleidungsstil. Es herrscht Konsens unter den für den Artikel befragten Schauspielerinnen, dass die Kleidung hauptsächlich bequem sein soll. Der Journalist folgert aus diesen Äußerungen, »[…] daß die Künstlerinnen viel weniger eitel seien, als man glaube […].« Tilla Durieux schildert ihr Lieblingskleid wie folgt: »Es ist mein Lieblingskleid, weil es einfach ist, weil ich es mir selbst gemacht habe, weil man es in einer Sekunde über den Kopf ziehen kann, ohne darauf achten zu müssen, was vorne oder hinten ist, weil mich viele schon darum beneidet haben, weil mich viele um den Schnitt gebeten haben, weil ich sehr stolz darauf bin, daß ich diesen Schnitt selbst erfunden habe, weil – – – weiter weiß ich nichts mehr.«1366

V.4.2.4 ›Neue Frau‹ Der Typus ›Neue Frau‹, der begrifflich in Kapitel V.3.1 dieser Arbeit erläutert wird, besitzt für Durieux’ Fotografien der 1920er Jahre eine herausragende Funktion, da sie in ihnen bevorzugt diesem Weiblichkeitsbild folgend inszeniert wurde. Die Bildmedien der 1920er Jahre spielten eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung und Verbreitung des Typus ›Neue Frau‹. Einerseits spiegelte er sich in den Aufnahmen, die in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt wurden, wider, andererseits prägten sie ihn mit und machten ihn auf diese Weise zu einem Massenphänomen. Frauen des öffentlichen Lebens wie Schauspielerinnen, Künstlerinnen und Tänzerinnen wurden durch ihre massenmedialen Fotografien zu optischen Vorreiterinnen dieses Frauentypus.1367 Nach Spötter verkörpert die Abbildung der Schauspielerin den Typus der ›Neuen Frau‹ in idealer Weise: »Das Porträt der Schauspielerin signalisiert beruflichen und ge1365 Durieux 1979, S. 301. 1366 Herzog, Elsa: Das Lieblingskleid, in: Sport im Bild, Jg. 28, Heft 43, 1922, S. 1726. 1367 »Durch die massenhafte Verbreitung, die Vervielfältigung mit Hilfe des vermehrt eingesetzten Bildjournalismus, wurden die Abbilder berühmter Frauen zu Vorbildern, wurden diese selbst zu Identifikationsfiguren.« Kessemeier 2000, S. 38. »Erst ab 1924 setzte sich der Typus der ›Neuen Frau‹ dann allgemein – auch als eine internationale Erscheinung – durch.« Kessemeier 2000, S. 37.

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sellschaftlichen Erfolg und präsentiert zugleich die Moderichtung der Zeit.«1368 In den Printmedien wurde der Typus der ›Neuen Frau‹ vornehmlich durch das Aussehen der Modelle signalisiert. Durieux’ äußeres Erscheinungsbild auf den Fotografien der 1920er Jahre entspricht dem Typus ›Neue Frau‹. Sie trägt einen Bubikopf und oft einen Topfhut, die Kleidung ist schlicht, mit geraden Schnitten und wenig Verzierungen. Abgesehen von diesen optischen Entsprechungen äußert sich Durieux’ Zugehörigkeit zum Typus ›Neue Frau‹ durch Aufnahmen, die sie bei ihren »abenteuerlichen« Hobbys wie Autofahren oder Fliegen zeigen. Durieux sah sich gerne als sportliche, wagemutige Frau, da sie in diversen Artikeln und in ihrer Autobiographie derartige Unternehmungen schildert.1369 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg erschienen Fotografien von Durieux, die sie als technikinteressierte Frau präsentieren. So z. B. bei einem Probeflug in einer Flugmaschine von der Firma E. Rumpler im Jahr 1911.1370 Durieux sitzt in dem Flugzeug, das sich am Boden befindet und unterhält sich mit den drei daneben stehenden Experten, darunter der Erbauer Edmund Rumpler. Die Fotografie vermittelt, dass ihr Technikinteresse von den Männern ernst genommen wird. In den 1920er Jahren vermehrten sich die Aufnahmen, die sie auf diese Weise darstellen. 1926 erschien der Artikel Tilla Durieux auf einer Autofahrt zusammen mit einer ganzseitigen Fotografie von Emil Bieber in Sport im Bild (Abb. 22). Auf der Fotografie steigt Durieux aus einem Auto, wobei ihr ein kleiner Junge mit einem Roller die Hand reicht. Sie ist also nicht beim aktiven Fahren gezeigt. Durieux ist modisch gekleidet, mit einem dunklen Kostüm, einem etwas überknielangen, leicht ausgestellten Rock und weißer Bluse mit einer kurzen Krawatte. Sie trägt einen modischen, enganliegenden Topfhut mit seitlicher Schleife auf den kurzen Haaren und ihre Lippen sind geschminkt. Lederhandschuhe, helle Strümpfe und Halbschuhe in Krokodillederoptik mit einem kleinen Absatz ergänzen das Outfit. Durieux’ Erscheinung bei Bieber stimmt mit dem Bild der ›Neuen Frau‹ überein, denn – anders, als man von dem Frauentypus vielleicht erwarten würde – trägt die ›Neue Frau‹ in der Regel keine Hosen, sondern weiterhin weiblich konnotierte Kleidung. So stellt Kessemeier für die Mode der 1920er Jahre keinen Bruch, sondern eine »Verschiebung der Geschlechtergrenze« fest.1371 Die »geschlechtsspezifische Binarität« in der Kleidung blieb demnach bestehen und »die an die Kleidformen gemachten geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Analogiebildungen [blieben] traditionellen Vorstellungen verhaftet.«1372 1368 Vgl. Spötter 2003, S. 175. 1369 Vgl. Ruff 2007, S. 127–128. 1370 Becker & Maaß, Tilla Durieux in einem Flugzeug, um 1911, Fotografie, AdK, Berlin, TillaDurieux-Archiv, Nr. 249. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 20. 1371 Vgl. Kessemeier 2000, S. 272. 1372 Kessemeier 2000, S. 271.

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Auch inhaltlich wird Durieux in dem Artikel von 1926 als ›Neue Frau‹ charakterisiert. Die Autorin Herberg bezeichnet sie als »vielseitige Sportlerin«, die »segelte, jagte, […] Freiballon und Luftschiff [fuhr]«, mit einer »starken Mentalität und einem fiebernden Betätigungsdrang«1373. Sportlichkeit, Motorisierung, Selbstständigkeit und Jugendlichkeit sind nach Kessemeier wesentliche Merkmale der ›Neuen Frau‹.1374 Gemäß dem Zeitschriftenartikel absolvierte Durieux zusätzlich zu ihrem Führerschein ein »psychotechnisches Examen« »als eine der Besten«. Dadurch wird ihr Technikinteresse, eine männlich konnotierte Eigenschaft, hervorgehoben. Andererseits wird das Bild der gleichgestellten »Selbstfahrerin« inhaltlich konterkariert, indem Herberg abschließend ihr Gespräch mit Durieux über das ideale »Frauenauto« mit Platz für eine Handtasche und eingebautem Lippenstift schildert und postuliert: »Das Auto muß einer Dame Folie und edle Linie verleihen.« Diese Aussage deckt sich mit Kessemeiers Fazit bei ihrer Untersuchung des medial vermittelten Bildes der »Dame am Steuer«1375, wonach Autos in den Zeitschriften der 1920er Jahre als modische Accessoires für Frauen dargestellt wurden.1376 Durch die Betonung des geschlechterabhängigen Unterschieds wird, laut Kessemeier, das Bild der autofahrenden Frau »auf eine rein äußerlichkeitsbezogene Ebene transformiert und damit ihres emanzipativen Charakters beraubt.«1377 In einer Aufnahme von Alexander Binder (1888–1929), die Mitte der 1920er Jahre aufgenommen wurde, sitzt Durieux in ihrem offenen Benz-Kraftwagen, die linke Hand am Steuer, die rechte am Außenschaltknüppel. Sie trägt einen Hut und schaut in die Kamera. Auf dem Rücksitz sitzt einer ihrer Hunde.1378 Noch deutlicher als in den genannten Zivilaufnahmen, wurde Durieux im Bereich der Rollenfotografie als ›Neue Frau‹ inszeniert. Besonders gut eignete sich dazu die Titelrolle in Wedekinds Franziska, da sich die weibliche Hauptfigur im 2. Akt als Mann (Franz) ausgibt. Die Thematik des Stücks passte gut in die Mitte der 1920er Jahre, als die Debatte um die ›Neue Frau‹ auf dem Höhepunkt 1373 Herberg, Mara: Tilla Durieux auf einer Autofahrt, in: Sport im Bild, Jg. 32, Heft 22, 1926, S. 962. 1374 Vgl. Kessemeier 2000, S. 44. 1375 Die »Dame am Steuer« ist laut Kessemeier ein Leitbild der ›Neuen Frau‹ in den Medien der 1920er Jahre, da Autofahren typische Eigenschaften der ›Neuen Frau‹ wie Sportlichkeit und Mobilität beinhaltet. »Das Bild der ›Selbstfahrerin‹ wurde so zu einem Synonym zeitgemäßer Weiblichkeit, zu einer Projektionsfläche von Ideen der Fortschrittlichkeit, aber auch der Sachlichkeit.« Kessemeier 2000, S. 71. »Vor allem bekannte Damen der Gesellschaft ebenso wie Schauspielerinnen und Künstlerinnen begannen, selbstständig Auto zu fahren und konnten damit Sportlichkeit und Beweglichkeit demonstrieren.« Kessemeier 2000, S. 73. 1376 Vgl. Kessemeier 2000, S. 73. 1377 Kessemeier 2000, S. 75. 1378 Alexander Binder, Tilla Durieux am Steuer, 1920er Jahre, Fotografie, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Inv.Nr. Pf 13.896: D (4).

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war.1379 Max Osborn resümiert Durieux’ Auftritt als Franziska: »Diese Frau hat wirklich den Teufel im Leib. […] wie sie in Männerkleidung…die Perversität mit entzückender Liebenswürdigkeit erledigt, wie ihr heller Verstand sprüht […] das macht ihr sobald niemand nach.«1380 Drei Fotografien, die Die Wandlungen der Tilla Durieux als Wedekind’s Franziska belegen, erschienen 1925 in Der Querschnitt.1381 Das Brustbild rechts (nach der Verwandlung in Franz) zeigt Durieux in dunklem Jackett, weißem Hemd und Fliege. Sie hat die Arme vor der Brust gekreuzt und blickt den Betrachter mit hochgezogenen Augenbrauen herausfordernd an. Auf einer anderen Ganzkörperaufnahme als Franziska1382 sitzt Durieux mit überschlagenen Beinen und in die Hüften gestützten Armen seitlich auf einem Stuhl. Zu dem Jackett mit weißem Hemd, Weste und schwarzer Fliege trägt sie eine schwarz-weiß-karierte Hose und hohe schwarze Lackstiefel. Das Gesicht mit dem erhobenen Kinn erscheint im Profil nach links. Auch Alexander Binder fotografierte Durieux 1925 als Franz.1383 Auf dem Kniestück von Binder trägt Durieux einen weiten Tweed-Anzug und eine Krawatte. Den rechten Arm hat sie in die Seite gestützt, den Daumen der rechten Hand lässig in die Hosentasche geschoben. Der Oberkörper ist leicht zurückgelehnt. Sie schaut mit musterndem Blick und einem spöttischen Lächeln nach schräg links unten. In den Rollenfotografien aus dem 2. Akt, in denen Franziska als Franz auftritt, soll Durieux »männlich« wirken.1384 Die Körpersprache ist betont locker und selbstbewusst. Sie trägt eine Kurzhaarfrisur und männlich konnotierte Kleidung mit Anzug, Krawatte und Fliege. Dadurch, dass gleichzeitig Lippen und Augenbrauen geschminkt sind, wird die Doppelgeschlechtlichkeit der Rolle hervorgehoben. Die Aneignung »männlichen« Verhaltens wird noch gesteigert in einer Rollenfotografie zu Fritz Langs Stummfilm Frau im Mond von 1929, auf der Durieux Zigarre rauchend zu sehen ist.1385 Der Vorwurf der »Vermännlichung« 1379 Eloesser begründet die geeignete Rollenbesetzung mit Durieux’ »geistige[r] Schauspielkunst«. Eloesser, Arthur : Franziska, in: Die Glocke, Jg. 11, Heft 7, 1925, S. 217. 1380 Osborn, Max: Franziska, in: Berliner Morgenpost, 1925, zit. nach: Preuß 1965a, S. 93. 1381 Die Wandlungen der Tilla Durieux als Wedekind’s Franziska, Abb. in: Der Querschnitt, Bd. 5, Heft 4, 1925, o.S. Eine weitere Aufnahme von Durieux als Franziska zeigt sie rauchend mit einem schwarzen Anzug und einer weißen Fliege, Abb. in: Preuß 1965, S. 79. 1382 Unbekannter Fotograf, Tilla Durieux als Franziska, um 1925, Fotografie, Abb. in: Durieux 1979, S. 257. 1383 Alexander Binder, Tilla Durieux als Franz Eberhardt, 1925, Fotografie, 10,5 x 16,5 cm, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 181. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, S. 72. 1384 Vergleichbar stellt Thorun für die Hosenrollen-Darstellungen von Sarah Bernhardt fest, dass sie »das normierte männliche Bewegungs- und Verhaltensrepertoire in stilisierter Form« wiedergeben. Thorun 2006, S. 285. 1385 Unbekannter Fotograf, Tilla Durieux in Frau im Mond, 1929, Fotografie, Abb. in: Luft 1970, o.S. Durieux spielte eine der fünf Geschäftsleute, die im Film als »Gehirne und Scheckbücher« bezeichnet werden.

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war Bestandteil der Debatte um die ›Neue Frau‹.1386 In Durieux’ Kritiken wurde dementsprechend häufig die Kälte und Rationalität ihrer Figurendarstellungen bemängelt.1387

V.4.2.5 »Erotikmodell« Ein maßgeblicher Faktor bei den Fotografien von Schauspielerinnen war ihre erotische Funktion für das vorwiegend männliche Publikum.1388 In den Fotografien von Durieux ist in einigen Fällen eine Inszenierung als begehrtes Objekt vorhanden. ›Femme fatale‹-Rollen boten sich für eine sinnliche Inszenierung an. Eine der ersten ›Femme fatale‹-Rollen von Durieux war die der Salome, zu der es zahlreiche Fotopostkarten gibt. Eine davon ist ein Brustbild von 1904.1389 Der Bildausschnitt gibt den Blick auf das Gesicht, das Dekollet8 und die unbekleideten Schultern frei. Der Kopf ist nach links gedreht, die Augen folgen dieser Bewegung. Die vergrößerte Nahsicht auf Gesicht und Ausschnitt, die gesenkten Lider und die weich zeichnenden Lichteffekte auf der Haut verleihen der Dargestellten eine erotische Aura. Die Abwendung vom Betrachter impliziert gleichzeitig eine gewisse Kälte, die das Verhängnisvolle der Frau bereits erahnen lässt und sie umso reizvoller macht. In der Inszenierung der Salome war die erotische Präsentation der Hauptreiz der Rolle, angefangen beim Bühnenkostüm. Auf einer Ganzkörper-Rollenfotografie von Durieux als Salome ist zu sehen, dass ihr Kostüm den Körper größtenteils unverhüllt ließ.1390 Durch den dünnen Stoff des Kostüms am Bauch entsteht der Eindruck von Nacktheit. In einem Beitrag von 1907 in der Zeitschrift Bühne und Welt mit dem Titel SalomeDarstellerinnen auf der modernen Bühne betont die Autorin Becker die Vorreiterrolle Durieux’ für die »Entkleidung« der Salome-Figur auf der Bühne: 1386 Frauen, die mit ihrem Lebensentwurf Ideen weiblicher Emanzipation verwirklichten, wurden von der Gesellschaft als »unweiblich« angesehen, ihre geschlechterspezifische Zugehörigkeit wurde in Frage gestellt und der Vorwurf der »Vermännlichung« kam auf. Vgl. Kessemeier 2000, S. 270. 1387 Siehe dazu Kapitel V.3.1. 1388 »Die Faszination, die von den weiblichen Stars auf ein männlich dominiertes Publikum ausgeht, wird wesentlich von [der erotisch fundierten Beziehung zum Zuschauer d.V.] bestimmt […].« Über die Starverehrung werden nach Hickethier »sexuelle Leitbilder, erotische Stimulantien« transportiert. Eine erotische Komponente ist immer Teil der Staraura: »Das ›Geheimnisvolle‹ der ›Aura‹ des Schauspielerstars, von der Walter Benjamin spricht, hat darin eine wesentliche Ursache.« Hickethier 1997, S. 38–39. 1389 Becker & Maaß, Tilla Durieux als Salome, 1904, Fotografie. Abb. in: Sˇterk 2006, S. 12. 1390 Becker & Maaß, Tilla Durieux als Salome, 1904, Fotopostkarte Verlag Hermann Leiser, Berlin, 13,5 x 8,5 cm, Deutsches Theatermuseum München, Inv.II Nr. i9856. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 19. Die Pose mit den vor der Brust gekreuzten Armen wirkt wie ein Schutz vor den Blicken des Betrachters, den Durieux aus halb geschlossenen Augen heraus anschaut.

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»Während Frau Eysoldt und Fräulein Hedwig Wangel mit Glück orientalische Stoffe, indische Seiden zur Geltung brachten und es dem Publikum, das in der Salome-Aufführung einen kleinen Ausflug ins Unsittliche machte, schon sehr aufregend und erstaunlich schien, daß die Damen mit nackten Füßen auf die Bühne kamen, ging Fräulein Durieux in der Darstellung einer nackten oder doch als Illusion nackten Salome voraus, und in diesem Sinne haben sich auch die Operndarstellerinnen ihre Kostüme gewählt.«1391

Im Vergleich mit den Abbildungen anderer Salome-Darstellerinnen in dem Beitrag ist Durieux’ Bühnenkostüm – im Gegensatz zu Beckers Aussage – gemäßigt freizügig und die bildnerische Inszenierung in Durieux’ Rollenfotografien als Salome ist weniger auf Erotik ausgelegt als z. B. bei Hedwig Lange (1870–1961) oder Lotte Sarrow (1877–?).1392 1912 fotografierte das Hofatelier Gebrüder Hirsch in München Durieux in der Rolle als Circe.1393 Sie liegt auf einem Diwan, auf dessen Lehne sie sich mit dem linken Arm abstützt. Der rechte Arm ist hinter dem Körper auf der Rückenlehne abgelegt. Der Kopf ist nach links gedreht und der Blick geht seitlich aus dem Bild heraus. Sie trägt ein weißes Kleid mit dünnen Trägern und eine Stola aus gemustertem, dunklem Stoff darüber. Um die Stirn windet sich ein Lorbeerkranz. Durch eine schwache Beleuchtung der Szene erscheint die Figur im Halbdunkeln. Die Lichtverhältnisse zusammen mit der Liegeposition und das freizügige Dekollet8 besitzen eine laszive Wirkung. Durieux schaut zur Seite, als erwarte sie jemanden aus dieser Richtung. Der Betrachter wird somit zum Voyeur einer intimen Situation. Auf einer der Rollenfotografien als Potiphars Frau in dem Ballett Josephslegende von 1921 sitzt Durieux von ihrem, wie ein Fächer ausgebreiteten, prachtvollen Kleid umgeben auf einem Thron.1394 Sie lehnt sich dem Betrachter entgegen und schaut ihn, mit halb geschlossenen Augen, herablassend und gelangweilt von ihrem Thron herunter an. Der Mund und die Augen sind durch Schminke stark betont. Die nackten Arme sind, weit ausgebreitet, links und rechts auf den Armlehnen aufgelegt. Die Beine und Füße stehen parallel nebeneinander. Das Abzeichnen der Beine unter dem Kleid lässt den darunterliegenden Körper erahnen. Das Kostüm, einschließlich des üppigen Kopfschmucks und zwei großen Halsketten, ist eine Anspielung auf den dekadenten Luxus an Potiphars Palast. Die Federn verweisen auf die orientalische Ansied1391 Becker 1907, S. 440. 1392 Vgl. Becker 1907. 1393 Hofatelier Gebr. Hirsch, Tilla Durieux als Circe, 1912, Fotografie, 17,2 x 22,5 cm, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 158. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 50–51. 1394 Becker & Maaß, Tilla Durieux als Potiphars Frau, 1921, Fotografie, 24,4 x 18,4 cm Österreichisches Theatermuseum Wien, Inv.Nr. FS_PA160249.

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lung der Balletthandlung. Die Gestik von Potiphars Frau vermittelt, dass sie angesehen und bewundert werden möchte. Die aufreizende Haltung könnte Josef gelten, dessen Tanz allein sie aus ihrer Langeweile herauszuholen vermag. Die Fotografie erinnert an Kostümbilder der Theaterstars des späten 19. Jahrhunderts, z. B. von Charlotte Wolter, die dazu verwendet wurden, das aufwendige Kostüm kunstvoll in Szene zu setzen.1395 Die Figur ist in ihnen – ebenso wie in Durieux’ Rollenfotografie als Potiphars Frau – als Gesamtkunstwerk zum optischen Genuss des Betrachters inszeniert. Von einer undatierten Aufnahme des österreichischen Fotografen Franz Löwy ist nicht bekannt, ob es ein Rollenporträt ist.1396 Durieux trägt einen großen Feder-Kopfschmuck und ist in ein Tuch mit Spitzen gewickelt, das sie vorne auf Brusthöhe mit der rechten Hand zusammenhält. Der Stoff ist von der, dem Betrachter zugewandten, rechten Schulter gerutscht und gibt den Blick auf die nackte Haut frei. Durieux sitzt seitlich zur Bildfläche, der Kopf folgt der Drehung, der Mund ist geöffnet und der Blick geht nach rechts aus dem Bild. Durch die Andeutung des Unbekleidetseins unter dem Tuch wird die Phantasie des Betrachters entfacht. Es scheint fast, als wolle Durieux das Tuch im nächsten Moment wegziehen. Das Lichtspiel auf der nackten Haut, die geöffneten Lippen und die Sitzgelegenheit, die an ein Bett denken lässt, tragen zusätzlich zu einer erotischen Stimmung bei. Der Feder-Kopfschmuck bringt noch etwas Exotik in die Szenerie. Die Fotografie von Löwy ist die erotischste von den mir bekannten Fotografien und ist wohl zeitlich eher am Anfang von Durieux’ Laufbahn einzuordnen. Bei Durieux’ Rollenfotografien gibt es normalerweise für jede Rolle mehrere Aufnahmen, die sich durch die Pose, das Setting, das Kostüm, etc. unterscheiden. Bei den hier besprochenen sinnlichen Rollenfotografien von Durieux fällt auf, dass andere Fotografien von ihr in derselben Rolle keine erotische Inszenierung aufweisen. Entsprechend dem Bühnenstück konnten so verschiedene Facetten der Figur in den Fotografien vermittelt und auf diese Weise verschiedene Adressaten angesprochen werden. V.4.2.6 Privatperson Die Fotografien, die die private Seite von Tilla Durieux präsentieren zeichnen sich dadurch aus, dass die Fotografen die Schauspielerin bei ihr Zuhause oder zumindest in einer heimisch wirkenden Atmosphäre ablichteten. Die Überzahl 1395 Wie Holschbach erläutert, orientieren sich diese Fotografien von Wolter an den Darstellungen von Attitüden, z. B. von Lady Hamilton, bzw. von Tableaux vivants sowie an älteren Modeillustrationen. Vgl. Holschbach 2004, S. 210. 1396 Franz Löwy, Tilla Durieux, o. J., Fotografie, Österreichisches Theatermuseum, Wien, Inv.Nr. FS_PM35044alt.

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dieser »privaten« Aufnahmen, die von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmt waren, zeigt sie zusammen mit ihren Haustieren, so etliche Aufnahmen der Serie von Lotte Jacobi, die 1927 in Durieux’ Wohnung entstand und zu der auch die in Kapitel V.3.4 besprochene Fotografie (Abb. 18) gehört. Eine Fotografie von Becker & Maaß, die um 1912 in ihrer Wohnung in der Margaretenstraße aufgenommen wurde, erschien um 1915 in einer unbekannten Zeitschrift.1397 Durieux sitzt in einem geblümten Kleid mit großem, weißem Rüschenkragen und Rüschenärmeln mit einem Hund und einem Papagei auf einem Sofa mit zahlreichen Kissen. Ein zweiter Hund sitzt auf einem Tisch vor dem Sofa. Durieux hat den Kopf nach links gedreht und schaut den Papagei auf ihrer Hand an. Die Aufnahme gehört zu einer Serie, denn es gibt eine Fotografie von Durieux mit demselben Kleid und derselben Frisur, die sie auf ihrem Balkon stehend zeigt.1398 Auf der zweiten Aufnahme steht sie seitlich zum Betrachter, das Gesicht erscheint im Profil nach links und sie schaut in die Ferne. In ihren Armen hält sie einen kleinen Hund und im Vordergrund steht ein Vogelkäfig auf dem ein Papagei sitzt. Eine weitere Aufnahme von Becker & Maaß mit der Beschriftung »Tilla Durieux in ihrem Heim«1399 zeigt die Schauspielerin mit einem Papagei auf der Hand vor einem Flügel stehend, auf dem sich eines ihrer Porträts von Ernst Barlach, die in Kapitel V.2.2 dieser Arbeit vorgestellt werden, befindet. Eine andere Barlach-Plastik ist auf einer Aufnahme von Becker & Maaß von 1921 vorhanden.1400 Auf ihr steht Durieux elegant gekleidet1401 da und betrachtet eingehend einen Gegenstand in ihren Händen. An der Wand hinter ihr hängen zwei Gemälde und links neben ihr befindet sich Barlachs Holzskulptur Der Spaziergänger von 1912.1402 Durieux war offensichtlich stolz auf ihre Kunstwerke sowie ihre Porträts und umgab sich in ihrem privaten Umfeld mit ihnen, wie Fotografien ihrer Domizile im Laufe der Jahre beweisen.1403 1927 besuchte Sasha Stone (1895–1940), der seine Fotografien in verschie1397 Becker & Maaß, Tilla Durieux mit Haustieren, um 1912, Fotografie, 10,7 x 15,8 cm, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 263. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, S. 20. 1398 Abb. in: Feilchenfeldt/Raff 2006, S. 22. 1399 Becker & Maaß, Tilla Durieux in ihrem Heim, o. J., Fotografie, Deutsches Theatermuseum, München, Inv.II Nr. 45566. 1400 Becker & Maaß, Tilla Durieux in ihrem Heim, 1921, Fotografie, 22,8 x 16,6 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Ident.Nr. 14132416. 1401 »Wadenlanges dunkles Kleid mit angekräuseltem Rockteil. Der runde Halsausschnitt ist mit Hermelin eingefaßt, der untere Teil der weiten Trompetenärmel ist aus Hermelinpelz gearbeitet. Dazu trägt das Model hochhackige schwarze Lackschuhe.« http://www.smbdigital.de/eMuseumPlus, Stand vom 24. 6. 2014. 1402 Ernst Barlach, Der Spaziergänger, 1912, Holz, 77 cm x 37 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Inv.Nr. P 236. Laur 2006, Bd. II, WV Nr. 190. 1403 Vgl. dazu die Abbildungen in: Sˇterk 2006, S. 22, 23, 30. Im TDA gibt es ein Fotoalbum »Wohnungen von Tilla Durieux«, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 132.

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denen Berliner Illustrierten publizierte, Durieux in ihrer Berliner Wohnung in der Kaiserin-Augusta-Straße und dort entstanden ca. 20 Aufnahmen.1404 Einige Fotografien aus dieser Serie zeigen sie zusammen mit ihren Haustieren, den Siamkatzen Prinzessin Locki und Prinz Siwar, ihren Babykrokodilen sowie ihrem Papagei Jacoline. Auf einer Aufnahme sitzt Durieux auf einem Sessel und hält ihre beiden Siamkatzen links und rechts von sich in den Armen.1405 Frau und Tiere stehen eindeutig im Fokus, der Hintergrund ist dunkel und damit undeutlich. Auf Grund der Frontalität des Gesichts und des eindringlichen Blicks von Durieux drängt sich ein Vergleich zwischen der Besitzerin und den Haustieren auf.1406 Stone nutzt hier das private Umfeld zur Charakterisierung der Porträtierten. Die Fotografie wurde 1928 abgedruckt in Die Dame.1407 Eine Aufnahme von Stone von Durieux mit Locki im Arm im Sessel sitzend erschien um 1927 in der Zeitschrift Die Wochenschau.1408 Stones Fotografien von Durieux’ Siamkatzen und ihren Babykrokodilen wurden 1927 in Der Querschnitt begleitend zu einem Beitrag von Durieux mit dem Titel Meine Haustiere abgebildet.1409 Wohl derselbe Beitrag erschien ebenfalls 1927 unter dem Titel Mein Zoo in Die Dame und war mit Stones Aufnahmen von Durieux zusammen mit ihren Tieren bebildert.1410 Stone kannte Durieux von seiner Arbeit als Theaterfotograf in den Jahren 1927 und 1928 für Erwin Piscator, an dessen Bühne Durieux in derselben Zeit auftrat.1411 Wie Stone fertigte auch der bekannte Berliner Gesellschaftsfotograf Alexander Binder mehrere Aufnahmen von Durieux an. Im Tilla-Durieux-Archiv gibt es acht Fotografien von Durieux aus den 1920er Jahren von Binder, davon vier Atelieraufnahmen mit Haustieren, um 1924, und drei Porträt-Aufnahmen, die zwischen 1925 und 1927 entstanden sind.1412 Bei Binders Fotografien von Du1404 AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 251. u. a.: Sasha Stone, Durieux lesend in ihrem Wohnzimmer, 1927. Abb. in: Sˇterk 2006, S. 30. 1405 Sasha Stone, Tilla Durieux mit ihren zwei Katzen, 1927, Fotografie, 23 x 17,2 cm, AdK, Berlin, Tilla-Durieux-Archiv, Nr. 251. Abb. in: Hammers 2014, S. 150. 1406 Es gibt eine ähnliche Fotopostkarte mit zwei Katzen: Becker & Maaß, Tilla Durieux, 1922, Fotopostkarte. Abb. in: Luft 1970, o.S. 1407 Die Dame, Heft 9, 1928. 1408 Die Wochenschau, Heft 46, um 1927, S. 9. Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Inv.Nr. Pf 13.896: E (2). 1409 Durieux, Tilla: Meine Haustiere, in: Der Querschnitt, Jg. 7, Heft 7, 1927, S. 527. 1410 Durieux, Tilla: Mein Zoo, in: Die Dame, Heft 9, 1927, S. 4–6. 1411 Vgl. Spötter 2003, S. 136. Zu Stones Arbeit für Piscator vgl. auch: Hammers 2014, S. 158– 165. 1927 fotografierte Sasha Stone Tilla Durieux als Zarin in Tolstois Rasputin, das 1927 an der Piscator-Bühne uraufgeführt wurde. Bayerische Staatsbibliothek, München, Inv.Nr. Portr.B. Durieux, Tilla (1). 1928 entstand Stones Aufnahme von Durieux als Frau Barsin in Lanias Konjunktur, das 1928 an der Piscator-Bühne uraufgeführt wurde. Abb. in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste 2004, S. 81. 1412 Alexander Binder, Tilla Durieux, Acht Fotografien, 1924–1927, AdK, Berlin, Tilla-DurieuxArchiv, Nr. 248.

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rieux mit Haustieren ist von »Pseudo-Privatheit« zu sprechen, da er die Schauspielerin nicht – wie Stone – bei ihr zu Hause, sondern in seinem Fotoatelier posieren ließ. Der Aufnahmeort des Ateliers verdeutlicht die Konstruiertheit der fotografischen Inszenierung von »Intimität«. Noch deutlicher tritt die Inszeniertheit in den Fotografien von Sarah Bernhardt bei ihr Zuhause im Kreise ihrer Tiere zutage.1413 Bernhardts Fotografien mit ihren Raubkatzen waren Teil ihrer Selbstdarstellung als lebendes Gesamtkunstwerk und verfolgen damit eine Bildaussage, die im Gegensatz zur Intention von Durieux’ »privaten« Aufnahmen steht. Obwohl Durieux sich keine Raubkatzen hielt, sind ihre Haustiere ebenfalls nicht ganz gewöhnlich, sondern es handelt sich um exotische Tiere wie Krokodile, Papageien und Siamkatzen. Ein exzentrisches Fluidum ist also auch in ihren fotografischen Inszenierungen zusammen mit ihren Haustieren vorhanden. Die Aufnahmen von Schauspielern in ihren Privaträumen befriedigen das Interesse des Publikums an ihrem Privatleben und vermitteln ein Gefühl von Nähe. Bezeichnenderweise sollen sie auf den Betrachter nicht »inszeniert« wirken, sondern »scheinbar authentische Einblicke in das Privatleben«1414 geben.1415 Auf den »privaten« fotografischen Bildnissen von Durieux in ihrer häuslichen Umgebung tragen Kunstwerke und Einrichtungsgegenstände aus ihrem Besitz sowie ihre Haustiere vorrangig zur Charakterisierung der Dargestellten bei. Die Aufnahmen präsentieren den Menschen Tilla Durieux scheinbar ganz unverstellt. Diesbezüglich sind sie mit den Gemälden in privatem Ambiente von Spiro, Kardorff, Renoir (Abb. 13) und Purrmann (Abb. 14) vergleichbar. Jedoch wirkt das Modell auf kaum einer dieser Fotografien gelöst, geschweige denn ist von einem Schnappschuss zu sprechen. Vielmehr sind die Aufnahmen sorgfältig arrangiert und die Privatheit ist damit inszeniert. So gibt es auch keine veröffentlichten Zivilaufnahmen von Durieux zusammen mit ihrem Mann, ihrer angeheirateten Familie oder Freunden. Bei aller Intimität, die die Fotografien im privaten Umfeld vermitteln, bleibt doch stets eine Distanz bewahrt.

V.4.3 Porzellanfiguren 1914 produzierte der Porzellan-Hersteller Rosenthal nach dem Entwurf von Thekla Harth-Altmann (1887–1968) eine Porzellanfigur von Tilla Durieux (Abb. 23). Thekla Harth-Altmann schuf zwischen 1913 und 1923, nach dem 1413 Vgl. Balk 1994, S. 95–102. 1414 Vgl. Thorun 2006, S. 292. 1415 Davon abweichend inszenierten Sarah Bernhardt und Charlotte Wolter sich auch in ihren Zivilaufnahmen Zuhause theatralisch. Vgl. Kreutler 2006, S. 118; Thorun 2006, S. 298.

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Rosenthal-Bestandskatalog, insgesamt 13 Figuren für Rosenthal. Darunter sind mehrere Entwürfe für Porzellan-Figuren von Schauspielern und anderen Bühnenkünstlern, z. B. Johanna Terwin, Alexander Moissi als Jedermann, Enrico Caruso als Bajazzo. Die Beliebtheit von Schauspielerporträts zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte also auch die Produktion der Porzellan-Manufakturen. Laut Niecol porträtierte Harth-Altmann »für ihre Arbeit an den Schauspielerfiguren« »die Künstler an ihrem Wirkungsort«.1416 Die Figur steht im Kontrapost auf einem niedrigen, runden Sockel. Die Arme sind links und rechts in die Hüften gestützt. Der Kopf ist leicht gehoben, so dass der Blick nach oben gerichtet ist. Augen und Lippen sind bemalt. Durieux trägt eine schwarze Pluderhose und eine grüne Tunika mit einer hellrosa Schärpe. Auf dem Kopf hat sie eine enganliegende, gemusterte Haube, von der seitlich und an der Stirn goldene Zierelemente herabhängen. Sie trägt goldenen Schmuck in Form einer massiven Halskette und zweier Armreifen. Zwischen ihren nackten Füßen liegt eine rosa Rose auf dem Sockel. Das orientalisierende Kostüm weist auf ein Rollenporträt hin. Es ist nicht bekannt, ob es sich um eine »echte« Rolle von Durieux handelt. Da keine Attribute vorhanden sind, ist die Rolle schwer zu identifizieren. Durieux spielte bis zum Entstehungszeitpunkt der Porzellanfigur 1914 verschiedene im orientalischen Raum angesiedelte Rollen. Niecol vermutet in dem Rosenthal-Bestandskatalog eine Darstellung als Salome oder Judith.1417 Im Vergleich mit Rollenfotografien gibt es keine eindeutige Übereinstimmung. Möglicherweise veränderte die Künstlerin Harth-Altmann das Bühnenkostüm einer tatsächlichen Rolle oder ihr schwebte eine imaginierte Orientalinnen-Rolle vor. Viele der Rollenfiguren von Durieux, deren Geschichten im orientalischen Raum spielen, sind ›Femmes fatales‹. Die Überzahl von Durieux’ Rollenporträts bezieht sich auf ›Femme fatales‹-Rollen, wie das Kapitel V.1 dieser Arbeit herausstellt. Für die Produktion der Rosenthal-Porzellanfigur in einer erhöhten Auflage eignete sich daher eine Darstellung in dem Rollenfach, mit dem Durieux identifiziert wurde, besonders gut. Die Produktion von Harth-Altmanns Durieux-Figur als Massenartikel beweist die Popularität von Durieux und ihren Bildnissen.1418 Es existiert eine weitere Porzellan-Skulptur von Durieux, die 1912 in der 1416 Niecol, Emmy (Hg.): Rosenthal Kunst- und Zierporzellan 1897–1945, Bd. 2, Wolnzach 2001, S. 130. 1417 Vgl. Niecol 2001, S. 133. 1418 Die genaue Auflagenhöhe ist nicht überliefert. Gemäß der Auskunft von Frau Petra Werner vom Rosenthal-Museum in Selb ist von den meisten Rosenthal-Figuren dort keine Auflagenhöhe bekannt. Die Häufigkeit der nachgewiesenen Exemplare einer Figur lassen ungefähr auf die Auflagenhöhe schließen. Harth-Altmanns Tilla Durieux ist in Auktionen, im Kunsthandel oder bei Sammlern kaum verteten. Daher wurde die Porzellanfigur nach Auskunft von Frau Werner wohl nicht in großen Mengen (mehrere Tausend) produziert. E-Mail vom 17. 7. 2012.

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Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) in Berlin angefertigt wurde. Die Auflagenhöhe ist nicht bekannt. Der Eintrag im Modellbuch der KPM lautet: »Ernst Barlach, Portraitbüste >Tilla Durieux< nach eingesandtem Modell, Dezember 1912«.1419 Auf Grund des übereinstimmenden Entstehungsdatums handelt es sich bei der KPM-Porzellanbüste vermutlich um eine der vier Versionen Barlachs von Bildnis Tilla Durieux von 1912, die als Auftragsarbeiten entstanden. Nur eine Version von Barlachs Durieux-Skulpturen, das Bildnis Tilla Durieux IV, wurde in Porzellan ausgeführt und kommt daher in Frage.1420 Laut Krohm initiierte Paul Cassirer die Produktion von Barlachs Durieux-Büste in Porzellan bei der KPM.1421 Das Exemplar im Belvedere wurde 1920 direkt von der Galerie Paul Cassirer erworben.1422 Else Lasker-Schüler nennt das Bildwerk in einem Durieux gewidmeten Gedicht von 1922: »Barlach formte ihren Kopf – In bläulich Porzellan […].«1423 Bei dem Versuch Harth-Altmanns und Barlachs Porzellanfiguren von Durieux in die Kunstgeschichte einzuordnen, sind die Porzellanfigurinen der englischen Schauspielerstars des 18. Jahrhunderts, David Garrick und Sarah Siddons, zu nennen. Wie Seewald in seiner Dissertation Theatrical Sculpture herausstellt, kamen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts »kleine Porzellanskulpturen« von Schauspielern auf den englischen Markt.1424 Sie wurden als kommerzielle Massenware hergestellt und als »Fanobjekte« vertrieben.1425 Die Anknüpfung an diese traditionsreiche Form des Schauspielerporträts verweist auf die kunstgeschichtliche Dimension von Durieux’ Porzellanfiguren. Die Vielfalt der bildnerischen Techniken von Durieux’ Porträts wird hier durch das besondere Material des Porzellans noch erweitert. Insbesondere Porzellansammler wurden durch diese Porträts angesprochen. Eine weitere Statuette, die in den Bereich Kunsthandwerk fällt, wurde in einem Auktionshaus als Rollenporträt von Tilla Durieux ausgewiesen. Sie wurde 1419 KPM, Modell-Nr. 10186. Vgl. Treskow, Irene von: Die Jugendstil-Porzellane der KPM. Bestandskatalog der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin 1896–1914, München 1971, S. 327. 1420 Eine Abbildung ist im Archiv der KPM nicht vorhanden: »Leider haben wir im Manufakturarchiv der KPM weder eine Porzellanausformung der Büste, noch ein Foto davon. Dafür ist im Modellbuch der handschriftliche Vermerk »Modell ist nicht aufzufinden nach Feststellung im September 1930«. Auskunft von Frau Claudia Tetzlaff von der Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH. E-Mail vom 2. 8. 2012. 1421 Vgl. Krohm, Hartmut: Porzellanplastik der Klassischen Moderne, in: Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin 1763–2013. Porzellankunst aus privaten Sammlungen, hg. v. ders., Ausst.kat., Petersberg 2013, S. 218–227, hier: S. 221. 1422 Webseite des Belvedere, Wien, Stichwort »Durieux«: http://digital.belvedere.at, Stand vom 12. 5. 2014. 1423 Lasker-Schüler 1922. 1424 Vgl. Seewald 2007, S. 213. 1425 Vgl. Seewald 2007, S. 91.

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2014 unter dem Titel Schauspielerin Tilla Durieux als Salom8 im Auktionshaus Schloss Ahlden angeboten.1426 Bei der Statuette aus Elfenbein und Bronze handelt es sich um einen Halbakt in Kostüm. Sie ist identisch mit einer Statuette im Deutschen Elfenbeinmuseum Erbach1427, die dort jedoch unter dem anderen Titel Frauenhalbakt (Salome) geführt wird.1428 Die Identifizierung der Dargestellten als Durieux beruht wohl auf einem Missverständnis.

V.4.4 Zusammenfassung Wie erwartet wurden Durieux’ massenmediale Porträts intensiv zur Verbreitung der Vorstellungsbilder der Schauspielerin genutzt. Innerhalb der verschiedenen Bildmedien – der Malerei, Graphik, Plastik, Karikatur und Fotografie – lassen sich übereinstimmende Inszenierungsformen nachweisen. Es ist eine starke Wechselwirkung zwischen den massenmedialen Porträts und den Werken der so genannten »Hochkunst« zu beobachten. Der Grad an Fremdinszenierung ist in den Karikaturen, Fotografien und Porzellanfiguren höher als der Grad an Selbstinszenierung. Karikaturen von Durieux, die begleitend zu Theaterkritiken in der Presse erschienen, sind selten eindeutige Rollenporträts. Nur wenige greifen charakteristische Züge der Bühnenfigur bzw. der Rollengestaltung auf. Das Karikaturistische bleibt generell auf rein zeichnerische Mittel wie Vereinfachung und Übertreibung beschränkt. In dieser Form ist es z. T. auch in Werken der »Hochkunst« zu finden, z. B. bei Schwichtenberg. Die karikaturistischen Anteile variieren. Die Karikaturen sind häufig Profilansichten, da diese sich durch die Betonung der Linie besonders dazu eignen, Charakteristika des Kopfes einzufangen. In manchen Karikaturen ist Durieux erkennbar, in anderen ist sie nur durch den publizistischen Zusammenhang zu identifizieren. Die Karikaturen waren zur Selbstinszenierung nur bedingt geeignet, da Porträtkarikaturen in der Regel »ein negatives oder zumindest erheiterndes, aber auf keinen Fall würdevolles Bild des Dargestellten«1429 vermitteln. Bei der Inszenierung durch die 1426 Auktionskatalog Schloß Ahlden, Nr. 159, Lot 453, S. 142. http://schloss-ahlden.de/ebook/ 159/159-1eBook/flash.html, Stand vom 16. 7. 2014. 1427 Auskunft von Herrn Ulrich Godenschweger, der mit der Verwaltung des Deutschen Elfenbeinmuseums betraut ist. E-Mail vom 16. 7. 2014. 1428 Grundmann, Frauenhalbakt (Salome), um 1910, Bronze und Elfenbein, teils koloriert, Marmorsockel, H: 23,5 / 31,5 cm, sign. »Grundmann«, Gießervermerk: »Wiener Kunstwerkstätten Gebr. Brandel Berlin«, Deutsches Elfenbeinmuseum Erbach, Inv.Nr. 334. Die Statuette ist in einem Ausstellungskatalog des Elfenbeinmuseums (o.Abb.) aufgeführt: Glüber, Wolfgang/Dinger, Brigitte (Hg.): Von Jugendstil bis Art Deco. Schönheit in Elfenbein, Ausst.kat., Erbach 1998, Kat.Nr. 19, S. 95. 1429 Döring 1985, S. 92.

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Karikaturisten ist festzustellen, dass sie sich sehr stark an den kursierenden Images von Durieux orientierten. Es kann zwischen »inhaltlicher« und »formaler« Karikatur unterschieden werden. »Inhaltliche« Karikaturen machen sich über Gewohnheiten oder Handlungen von Durieux lustig und sind weitaus seltener als »formale« Karikaturen. »Formale« Karikaturen stellen Durieux in »bewußter Verzeichnung«1430 dar, ohne dass der Karikaturist damit eine inhaltliche Aussage, wie z. B. eine Kritik an Durieux’ Schauspielstil oder ihrer Person, treffen wollte. Auffallend häufig übertreiben die Karikaturisten übereinstimmende Merkmale von Durieux’ Gesicht. Nase und Mund sind breit, die Lippen voll und die Augen schmal und schrägliegend. Dies hängt mit ihrem Image als Exotin zusammen, das auch Corinths Kostümporträt aufgreift. Durieux wurde in den Kritiken über einen langen Zeitraum hinweg als »exotisch«, »rassig«, »slawisch«, »mongolisch« oder »kreolisch« beschrieben.1431 In einer Reihe von Zivilkarikaturen der 1920er Jahre und den Rollenkarikaturen in Wedekinds Franziska beziehen sich die Karikaturisten auf Durieux’ Image als ›Neue Frau‹, indem sie selbstbewusst und distanziert dargestellt wird. Die Karikaturen, die als Reaktion auf die »Jagow-Affäre« im Jahr 1911 entstanden, sind von Durieux’ Image als ›Femme fatale‹ geprägt. Sie wird von den Karikaturisten nicht sinnlich dargestellt, sondern die Zuschreibung, die über die zugehörigen Texte abläuft, bezieht sich auf die inhaltliche Ebene. Die Fotografien von Durieux wurden erwartungsgemäß besonders stark dazu genutzt, ihre Person in Szene zu setzen. Durieux’ Selbstinszenierung tritt in ihren Fotografien deutlicher zutage als beispielsweise in den Gemälden, da die Fotografen nur das festhalten konnten, was ihnen vom Modell geboten wurde. Dennoch lenkte Durieux die fotografische Gestaltung nicht alleine. Der Blick des Fotografen ist bei einer bekannten Persönlichkeit mitbestimmt von dem kollektiven Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihr macht. Verständlicherweise kann das Image aus verschiedenen, z. T. auch gegensätzlichen, Eindrücken bestehen und sich mit der Zeit wandeln. Die Aufnahmen, die den Theaterstar Durieux zeigen und daher hauptsächlich Rollenfotopostkarten sind, sind stark normiert. Auch wenn sich im Vergleich mit den Aufnahmen von Schauspielerinnen des späten 19. Jahrhunderts wie Wolters oder Ziegler stilistische Neuerungen nachweisen lassen, hielten Fotopostkarten auf Grund ihres vorrangig kommerziellen Interesses noch lange an den überlieferten Vorbildern fest.1432 Holschbach hat bei ihrer Untersuchung der fotografischen Bildnisse von Charlotte Wolter festgestellt, dass diese seit den 1430 Die Definition von Karikaturen als »Porträts mit bewußten Verzeichnungen« stammt von Varnedoe und Gopnik. Varnedoe/Gopnik 1990, S. 78. 1431 Vgl. dazu Kapitel V.1.3. 1432 Vgl. Faber 2005b, S. 46.

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1870er Jahren zu einem Inszenierungsstil fand, den sie für alle Rollenfotografien anwendete.1433 Damit wurden die Rollen austauschbar. In Durieux’ Rollenfotopostkarten ist dagegen eine mehr situative Inszenierung vor der Kamera vorhanden. Sie hielt nicht so stark an erprobten Posen fest und variierte diese je nach Rolle. Da Durieux im Laufe der Zeit eine immer größere Bandbreite an Rollen spielte, boten die Rollenfotografien dementsprechend vielfältige Aufgaben. Die Zivilaufnahmen von Durieux von den bekannten Bildnisfotografen ihrer Zeit, die ihren Status als »Dame der Gesellschaft« belegen, enthalten keinen Hinweis auf ihren Beruf. Diese Aufnahmen, die häufig zur Bebilderung von Zeitungen und Zeitschriften eingesetzt wurden, fallen individueller aus als die offiziellen Fotopostkarten. Da in ihnen der Aspekt der Repräsentation im Zentrum steht, handelt es sich jedoch auch in diesen Fällen nicht um »ungestellte« Momentaufnahmen. Ein weiterer Aspekt, der in Durieux’ Fotografien sichtbar wird, ist ihre Funktion als Modeikone. Die Schauspielerin trat in Zeitschriftenartikeln als modisches Vorbild auf und wurde dadurch zu einer Identifikationsfigur für Frauen. Die Zeitschriften, in denen Durieux als modisches Vorbild abgebildet wurde, waren an eine weibliche Leserschaft adressiert und richteten sich somit an Durieux’ weibliche Fans. Das Modebewusstsein war Teil von Durieux’ Starimage und sie förderte es selbst durch (bebilderte) Berichte über ihre Kleidung und durch Modetipps in Gesellschaftsblättern. Neben Fotopostkarten von Durieux in zivil, die sie modisch gekleidet präsentieren, gibt es auch Rollenfotopostkarten von Rollencharakteren mit aufwendigen Kostümen, z. B. Circe oder Potiphars Frau, die den Akzent auf die Bühnenbekleidung legen. In den 1920er Jahren setzte sich Durieux’ fotografische Inszenierung als ›Neue Frau‹ durch. Sie entspricht ihrem Selbstbild als emanzipierte Frau, das sich in ihren eigenen Texten offenbart. Die selbstbewusste Körperhaltung, Kurzhaarfrisur und androgyne Figur sind äußerliche Merkmale der ›Neuen Frau‹. Ihre Kleidung ist modisch, bleibt aber feminin. Allein die Rollenfotografien von Durieux als Franziska bzw. Franz1434 erlauben es Durieux, sich »männlich« zu kleiden. Im »echten« Leben dagegen wurde die »Vermännlichung« der Frau kritisiert und Durieux trug auf den Fotografien weiterhin figurbetonte Röcke und Kleider. Die auf den ersten Blick vermutete Revolutionierung des Frauenbildes in den 1920er Jahren erweist sich als Trugbild, wie die Arbeiten von Haunhorst1435 und Kessemeier1436 zeigen. Ihre Erkenntnisse sind 1433 Vgl. Holschbach 2004, S. 207. 1434 Wedekind ironisiert in seinem Drama die weiblichen Emanzipationsbestrebungen, da Franziska nur in der Verkleidung als Mann ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben führen kann. Am Ende des Stücks findet die Frau zu ihrer wahren Rolle als Mutter zurück. 1435 Haunhorst 2008.

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auf Durieux’ Aufnahmen der 1920er Jahre übertragbar. Haunhorst konstatiert zur Darstellung der ›Neuen Frau‹ in Frauenzeitschriften der 1920er Jahre: »Der viel gepriesene Typ der Neuen Frau wurde oft auf wenige äußerliche Attribute wie Bubikopf, schlanke Figur und modische Kleidung […] beschränkt. So griffen die Medien meist nur die Aspekte neuer Weiblichkeit auf, die optische Reize boten und sich daher am besten vermarkten ließen«1437

Kessemeier fasst ihre Untersuchung über das medial vermittelte Bild der ›Neuen Frau‹ in den Zwanziger Jahren mit ähnlichem Ergebnis zusammen: »Deuteten sich zwar in der bildlichen Selbstinszenierung von Frauen Ansätze zu einer Neuinterpretation von Weiblichkeit an, wurden diese durch die auf inhaltlicher Ebene an Frauen gemachten Zuschreibungen […] deutlich konterkariert. […] Emanzipative Inhalte des Konzeptes einer ›Neuen Frau‹ wurden somit entschärft und, wenn überhaupt, eher auf einer populären Ebene wie z. B. der des Sports oder der Mobilität realisiert.«1438

Verständlicherweise ist die in der vorliegenden Arbeit ständig präsente ›Femme fatale‹ auch für die fotografische Inszenierung relevant. Die meisten besprochenen erotischen Darstellungen von Durieux beziehen sich auf ›Femme fatale‹Rollen und wurden als Vorwand für diese Art von Aufnahmen genutzt.1439 Die erotische Inszenierung wird anhand der folgenden Merkmale greifbar : Verführerischer Blickkontakt mit dem Betrachter, unbekleidete Arme und Dekollet8, liegende Pose oder eine andere laszive Haltung. Bei den Aufnahmen anderer Schauspielerinnen der Zeit mit einem vergleichbaren Rollenrepertoire, z. B. bei Gertrud Eysoldt, ist Ähnliches zu beobachten.1440 Durieux wurde demnach nicht sinnlich fotografiert, weil sie als besonders freizügig galt, sondern weil auf diese Weise die erotischen Bedürfnisse des vorwiegend männlichen Publikums befriedigt wurden. Insgesamt kann man feststellen, dass es nur sehr wenige Fotografien von Durieux gibt, in denen die sinnliche Inszenierung im Vordergrund steht. Dies stimmt mit ihrem Selbstverständis als Schauspielerin überein, die nicht nach ihren sexuellen Reizen beurteilt werden wollte. Die Aufnahmen von Durieux in ihrem privaten Umfeld dienten dazu, bei ihren Fans ein Gefühl von Vertrautheit aufzubauen. Obwohl die Intimität in 1436 1437 1438 1439

Kessemeier 2000. Haunhorst 2008, S. 45. Kessemeier 2000, S. 271. Vergleichbar bemerkt Holschbach zu den Fotografien von Charlotte Wolter als Messalina: »Über Rollen wie die der Messalina ließen sich auch Posen legitimieren, die sonst nur in erotischen Inszenierungen üblich waren […].« Wolters tugendhaftes Image als Privatperson trug dazu bei, dass ihre erotischen Posen allmählich auch für bürgerliche Frauenbildnisse übernommen wurden. Holschbach 2004, S. 208. 1440 Vgl. Niemann, Carsten (Hg.): »Das Herz meiner Künstlerschaft ist Mut«. Die Max-Reinhardt-Schauspielerin Gertrud Eysoldt, Hannover 1995.

Massenmediale Porträts: Durieux als Medienfigur

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diesen Aufnahmen »vorgetäuscht« ist, erfüllten sie die Neugier des Publikums auf das Privatleben des Stars. Die Fotografien, die Durieux in ihrer Wohnung zeigen, vermitteln einen Eindruck von ihrem guten Geschmack, Kunstverstand und exklusiven Lebensstil. Sie präsentiert sich als gebildete Frau der gehobenen Gesellschaft, die sich als Sammlerin moderner Kunst betätig. Damit zielen die »privaten« Aufnahmen von Durieux auf dieselbe Inszenierung ab wie ihre gemalten Porträts von Renoir und Purrmann. Die Fotografien von Durieux als Privatmensch besitzen wohl den höchsten Grad an nachweisbarer Selbstinszenierung, da sie dem Selbstbild entsprechen, das Durieux in schriftlichen Äußerungen von sich vermittelte. Es ist nicht bekannt, inwieweit Durieux Einfluss auf die Gestaltung ihrer Porzellanfigur bei Rosenthal hatte bzw. wer den Vorschlag für die Rollenwahl machte. Die Rosenthal-Figur von 1914 greift ein erfolgreiches Rollenfach von Durieux auf und bezieht die in der aktuellen Kunst beliebten Themen Exotismus und ›Femme fatale‹ ein. Beide waren Bestandteile ihres Images. Für die Produktion eines Rollenbildnisses in größerer Auflage fuhr die Rosenthal-Manufaktur mit dieser Wahl vom kommerziellen Standpunkt aus gut. In diesem Fall dürfte Durieux die Wahl nicht gestört haben, da sich ihre Karriere auf der ›Femme fatale‹-Rolle Salome begründete. Von einer erotischen Inszenierung kann in diesem kleinen Format der Porzellanfigur ohnehin keine Rede sein. Barlachs Porzellanfigur von 1912 fällt aus der Reihe, da sie vom Künstler ursprünglich nicht auf Serienproduktion hin angelegt war. Vermutlich regte Paul Cassirer den Vertrieb von Barlachs Auftragsporträt bei der KPM an.

VI.

Zeitgenössische Präsenz der Porträts in der Öffentlichkeit

Nach der Betrachtung zahlreicher Porträts, in denen Durieux heterogen inszeniert wird, werden in diesem Kapitel die zeitgenössischen Verbreitungsformen der Porträts zusammengefasst und erläutert. Es soll geklärt werden, welche Porträts wo und wie oft ausgestellt wurden und welche Reaktionen sie hervorriefen. Der Aspekt der öffentlichen Präsenz der Porträts besitzt große Bedeutung für die Frage nach den Inszenierungsformen in Durieux’ Porträts. Ohne ein Publikum, das die Bildnisse rezipiert, ist die bildnerische Inszenierung wirkungslos. Die permanente Reproduktion und Re-Inszenierung von Abbildern führt nach Paul schließlich zu ihrer Übernahme in das kollektive Bildgedächtnis.1441 Für die Untersuchung der zeitgenössischen Inszenierungsabsichten sind ausschließlich die Verbreitungsformen, die in zeitlicher Nähe zur Entstehung der Bildnisse stehen, relevant. In drei Unterpunkten wird im Folgenden ein Überblick über den Umfang und die verschiedenen Formen der Präsenz und Rezeption der Porträts gegeben. Viele Porträts von Durieux wurden in zeitgenössischen Ausstellungen gezeigt, u. a. im Kunstsalon von Paul Cassirer. Auch in seinem Kunstverlag erschienen diverse Durieux-Porträts. Außerdem wurden in renommierten Kunstzeitschriften und anderen illustrierten Zeitschriften Reproduktionen von Durieux-Porträts abgedruckt. Die in Tageszeitungen und Zeitschriften abgebildeten Fotografien und Karikaturen von Durieux wurden bereits in Kapitel V.4 der vorliegenden Arbeit thematisiert. Durieux’ umfassende Bildnispräsenz war mitverantwortlich für ihre Beliebtheit als Künstlermodell.1442

1441 Vgl. Paul, Gerhard: »Mushroom Clouds«. Entstehung, Struktur und Funktion einer Medienikone des 20. Jahrhunderts im interkulturellen Vergleich, in: Visual History. Ein Studienbuch, hg. v. ders., Göttingen 2006, S. 243–264, hier : S. 244. 1442 Seewald stellt ähnlich für die englische Tragödin Sarah Siddons fest, dass sie nach der Präsentation von Reynolds’ Siddons als tragische Muse 1784 in der Ausstellung der Royal Academy immer mehr Künstler porträtieren wollten. Vgl. Seewald 2007, S. 84, 105.

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Zeitgenössische Präsenz der Porträts in der Öffentlichkeit

VI.1 Teilnahme bei Kunstausstellungen Die öffentliche Präsentation von Schauspielerbildnissen besitzt eine lange Tradition. In England beinhalteten bereits im 18. Jahrhundert die Ausstellungen der Society of Artists und der Royal Academy viele Porträts von berühmten Schauspielern und insbesondere von weiblichen Bühnenstars, die dort zusammen mit Porträts der adeligen Oberschicht hingen.1443 Durieux’ Bildnisse wurden in den bedeutendsten deutschen Ausstellungen der Zeit präsentiert und einige von ihnen wurden bei diesen Gelegenheiten zum Verkauf angeboten. Die Partizipation von Durieux-Porträts in zeitgenössischen Ausstellungen bezeugt die Wertschätzung der Porträtisten für ihre Schöpfungen und die Bedeutung der Schauspielerin für den Ausstellungsbetrieb und Kunstmarkt. Einerseits sicherte die Prominenz des Modells den Künstlern die Aufmerksamkeit des Publikums, andererseits bedeuteten die vielbeachteten Ausstellungen eine Nobilitierung der Porträts und folglich der Porträtierten.1444 Abgesehen vom Salon Cassirer, der im folgenden Unterpunkt behandelt wird, wurden Bildnisse von Durieux bei Ausstellungen der ›Berliner Secession‹, der ›Freien Secession Berlin‹ und der ›Münchner Secession‹ gezeigt, da viele Porträtisten Secessionisten waren. Wie Paret konstatiert, waren die Secessionsausstellungen »gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse«1445, die Modernisten und Wilhelministen gleichermaßen besuchten. Aber auch in den offiziellen Akademieausstellungen in Berlin und München waren wiederholt Bildnisse vertreten. Kiaulehn bestätigt die gesellschaftliche Bedeutung der Großen Berliner Kunstausstellungen: »Der Bildnissaal war immer eine gesellschaftliche Sensation. Jeder Bürger sehnte sich danach, hier einmal sein Porträt hängen zu sehen.«1446 Dazu kommen Kunstgalerien in deutschen Großstädten, unter denen die Galerie Alfred Flechtheim mit Standorten in Düsseldorf und Berlin eine Sonderstellung einnimmt. Zwischen 1913 und 1932 stellte Flechtheim insgesamt 14 Porträts von Durieux, zum Teil mehrfach, aus.1447 Durieux kaufte Kunst bei Flechtheim und gehörte zu dem Kreis, der sich regelmäßig in seiner Berliner

1443 Vgl. Perry 2011, S. 16, 60. 1444 Dorgerloh bemerkt in ihrer Dissertation zur Funktion von Porträts im Ausstellungsbetrieb: »Die durch privates Lob und Anerkennung gestützte Bedeutung der Porträts sollte durch ihre öffentlich bestätigte Präsenz gesteigert werden. Das galt auch für die Dargestellten bzw. die Besitzer, die damit zugleich eine positive Medienpräsenz erzielten.« Dorgerloh 2003, S. 152. 1445 Paret 1981, S. 141. 1446 Kiaulehn, Walther : Berlin. Schicksal einer Weltstadt, München 1969, S. 307. 1447 Vgl. dazu die Kataloge der Galerie Alfred Flechtheim als CD-Rom: Dascher 2011, Materialien 1. Die Durieux-Porträts, die bei Flechtheim gezeigt wurden, stammen von Barlach, Kokoschka, Schwichtenberg, Haller und Riess.

Teilnahme bei Kunstausstellungen

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Wohnung traf.1448 Außerdem trat sie im Rahmen seines Querschnitt-Kabaretts auf.1449 Auch mit Paul Cassirer verband Flechtheim eine besondere Beziehung. Cassirer war stiller Teilhaber von Flechtheim und ermöglichte ihm durch sein Kapital die Gründung einer eigenen Kunsthandlung 1913 in Düsseldorf.1450 Mit Cassirers Hilfe gelang es Flechtheim, 1921 eine Dependance seines Kunsthandels in Berlin einzurichten.1451 Flechtheim war nach Dascher ein ausgezeichneter Werbeexperte in eigener Sache und nutzte alle Möglichkeiten, um auf sich aufmerksam zu machen.1452 Dafür war ihm das Ausstellen von Porträts der bekannten Schauspielerin und Ehefrau seines Geschäftspartners und Kollegen Paul Cassirer bestimmt förderlich. Über die Präsentation von Bildnissen Durieux’ im Ausland ist nur wenig bekannt, es ist jedoch durchaus denkbar, da die Schauspielerin sich durch Gastspiele auch international einen Namen gemacht hatte. Aufschluss über die Resonanz der Porträts geben die erhaltenen Ausstellungskritiken in Fachzeitschriften und der Tagespresse. Die Häufigkeit der Besprechungen dokumentiert die Bedeutung der Ausstellungen, in denen DurieuxPorträts zu sehen waren, für den zeitgenössischen Kunstmarkt. Die Erwähnungen in historischen Kunstzeitschriften, beispielsweise in Kunst und Künstler1453, Die Kunst für Alle, Deutsche Kunst und Dekoration, Kunstchronik, etc., fallen allerdings oft nicht sehr detailliert aus. Die Durchsicht der Berliner Tageszeitungen, allen voran des Berliner Börsen-Couriers, der eine ausführliche Berichterstattung über die Kunstausstellungen in der Hauptstadt betrieb, wäre mit Sicherheit ergiebig, konnte im Rahmen der Arbeit jedoch nicht verwirklicht werden.1454 Franz von Stucks wirksame »Vermarktung« von Tilla Durieux als Circe, die auf dem vom Künstler gesteuerten Vertrieb als Postkarte bzw. Kunstdruck sowie auf der regen Ausstellungsteilnahme der Rollenporträts beruhte, wurde in Kapitel V.1.4.4 aufgezeigt. Man kann in diesem Fall regelrecht von einer »Ikonisierung« nach der Definition von Paul sprechen, da Stucks Durieux-Bildnisse bis 1448 Vgl. Dascher 2011, S. 227, 253. 1449 Dies dokumentieren Fotografien von Zander& Labisch in der von Flechtheim initiierten Galeriepublikation Der Querschnitt. 1927 sang Durieux dort das Schund-und-SchmutzKouplet. Abb. in: Der Querschnitt, Jg. 7, Heft 1, 1927, o.S. 1928 trat sie als sterbender Schwan auf. Abb. in: Der Querschnitt, Jg. 8, Heft 1, 1928, o.S. 1450 Vgl. Dascher 2011, S. 75, 111. 1451 Vgl. Dascher 2011, S. 194. 1452 Vgl. Dascher 2011, S. 214. 1453 Die 1902 gegründete Zeitschrift Kunst und Künstler diente als kunstzeitschriftliches Sprachrohr der ›Berliner Secession‹ und wurde vom Verlag Bruno Cassirer herausgegeben. 1454 Nach Echte/Feilchenfeldt gab es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts viele Tageszeitungen in Berlin, in denen die Kulturberichterstattung eine große Rolle spielte. Vgl. Echte/Feilchenfeldt 2011a, Bd. 1, S. 7.

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heute Teil des kollektiven Bildgedächtnisses sind.1455 An diesem Beispiel wird deutlich, dass die über öffentliche Präsenz ablaufende Inszenierung von Durieux’ Porträts keineswegs nur von ihr ausging, sondern die Künstler z. T. selbst auf diesen Prozess Einfluss nahmen. Eines der gemalten Rollenporträts von Max Slevogt wurde zur Entstehungszeit sehr häufig ausgestellt und in Kunstzeitschriften besprochen. Es handelt sich um Tilla Durieux als Kleopatra (Abb. 9). Slevogt nahm mit seinem Rollenporträt ein zukünftiges Theaterereignis vorweg, denn Durieux spielte die Rolle der Kleopatra erst sechs Jahre später1456, wie der Kunsthistoriker und Freund von Slevogt, Karl Voll, 1912 in seiner Slevogt-Monographie schreibt: »Und doch ist wohl das Hauptbild aus dieser für uns in Betracht kommenden letzten Periode das Bildnis einer Dame, das die Schauspielerin Frau Durieux-Cassirer als Kleopatra zeigt. Sie hat diese Rolle nie gespielt und so ist das Bild kein eigentliches Bühnenstück im heutigen Sinn, aber es ist das fortschrittlichste Bild, das Slevogt damals gemalt hat.«1457

Dennoch ist der Theaterbezug in Slevogts Rollenporträt unverkennbar. Durieux liegt in der finalen Sterbeszene des Bühnenstücks im Typus der Odaliske ausgestreckt mit zurückgeworfenem Kopf und nach oben gerichtetem Blick auf einem Diwan.1458 Der eindeutige Hinweis auf Kleopatra, die Schlange, ist – zumindest auf der Schwarz-Weiß-Abbildung – nicht zu sehen.1459 Der Todeskampf der Figur ist nur leicht in den verkrampften Händen und einem Anflug von Schmerz in den Gesichtszügen angedeutet. Die theatralische Pose und der bühnenbildartige Hintergrund verweisen eindeutig auf das Theater. Die liegende Position, das eng anliegende ärmellose Kleid mit dem tiefen Ausschnitt zum Ansetzen der Schlange an die Brust, die gesenkten Lider und die vollen 1455 »Die massenhafte und kontinuierliche Aneignung der Bilder durch die Rezipienten und ihre Nutzung im alltäglichen […] Leben als Gebrauchsgegenstände, […] Anschauungsobjekte in Ausstellungen und Museen […] entscheidet, wie intensiv Ikonen Zugang zum individuellen wie zum kollektiven Bildgedächtnis finden.« Paul 2006, S. 244. 1456 Antonius und Kleopatra von William Shakespeare, München: Künstlertheater, Premiere: 29. Juni 1913, Regie: Franz Zavrel, Rolle: Kleopatra. Interessanterweise spielte Durieux’ Konkurrentin Getrtrud Eysoldt ein Jahr vor der Entstehung von Slevogts Porträt die Rolle der Kleopatra in Shaws Caesar und Cleopatra in Berlin. Vgl. Niemann, Carsten: Ein Leben für das Theater. Die Schauspielerin Gertrud Eysoldt (1870–1955), in: ders. 1995, S. 16–93, hier: S. 79. 1457 Voll, Karl: Max Slevogt, München/Leipzig 1912, S. 30. 1458 Holschbach stellt bei den Fotografien von Charlotte Wolter als Kleopatra von Josef Löwy, um 1878, eine Imitation von Haremsdarstellungen des 19. Jahrhunderts fest. Vgl. Holschbach 2004, S. 207. 1459 Die Geste des linken Arms, der abgewinkelt an die Brust gedrückt wird, lässt vermuten, dass die Schlange an dieser Stelle zugebissen hat. Der Gegenstand vorne im Bild ist möglicherweise ein vom Diwan herunterfallender Korb, in dem die Schlange sich vor dem Biss befand.

Teilnahme bei Kunstausstellungen

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Lippen erzeugen eine sinnliche Wirkung. Wie bei Slevogts Kopfbildnis (als Salome) (Abb. 2) und im Gegensatz zu Tilla Durieux als Weib des Potiphar (Abb. 6) ist in Tilla Durieux als Kleopatra (Abb. 9) eine Wiedererkennbarkeit des Modells vorhanden. In ihrer Autobiographie schreibt Durieux über das Kleopatra-Porträt: »Slevogt interessierte sich sehr für meine Laufbahn. Er hatte mich im Jahr zuvor als sterbende Kleopatra, die Schlange abwehrend, gemalt. Das Bild kam in die Dresdner Galerie.«1460 Die rege Besprechung von Slevogts Tilla Durieux als Kleopatra in den damaligen Ausstellungskritiken eignet sich gut dazu, einen Einblick in die zeitgenössische Resonanz der Porträts von Tilla Durieux zu eröffnen. 1908 zeigte die XV. Ausstellung der ›Berliner Secession‹ Slevogts Gemälde.1461 Wie aus dem Katalog hervorgeht, war Paul Cassirer Mitglied der Ausstellungsleitung und hatte damit Einfluss auf die Auswahl der Werke. In der Ausstellungsbesprechung in Die Kunst für Alle hebt Schmidt das Kleopatra-Rollenporträt lobend hervor : »Am nächsten stehen den Werken Corinths die Arbeiten Slevogts: […] und eine Kleopatra mit den Zügen der Frau Tilla Durieux (Abb. S. 429), malerisch eine Glanzleistung.«1462 Ebenso positiv wird das Werk in der Kunstchronik bewertet: »Slevogt malte die Schauspielerin Frau Durieux als Kleopatra und schuf, nach manchem Irrpfad, einmal wieder ein koloristisches Meisterstück, dessen man sich ohne Nörgelei freuen darf.«1463 In Kunst und Künstler kommt Scheffler auf Slevogts Vorliebe für Theatermotive zu sprechen: »Ein dramatisch auffassendes Temperament, das die Erscheinungen zu Werkzeugen der Absicht macht, führt ihm den Pinsel. Seine Kleopatra hat den grossen Zug einer Phantastik, die dem Wesen Delacroix’ verwandt ist. Nicht zufällig malt Slevogt – wie es der Franzose ebenfalls that – immer wieder die Vorgänge und Personen im Zusammenhang mit der Schaubühne (Totentanz, d’Andrade, Marietta, Frau Durieux). Sein illustrativ bewegliches, scenisch denkendes Pathos ist aber durch den Intellektualismus Liebermanns gegangen; es ist unterwegs der ›Delila‹ begegnet. Leider hängt die sehr pastose Malerei der Kleopatra in der Sezession in zu grellem Oberlicht, so dass die 1460 Durieux 1979, S. 118. Nach Auskunft von Frau Heike Biedermann von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden befand sich das Gemälde nie in der Dresdner Gemäldegalerie. E-mail vom 24. 7. 2009. Mit »Dresdner Galerie« könnte aber auch etwas anderes gemeint sein. Imiela schreibt 1968 zu dem Bildnis, dass es aus der Sammlung Carl Steinbart, Berlin stammt und gibt Eva Beyer, Neubabelsberg-Steinbrücken als Besitzerin an. Vgl. Imiela 1968, S. 375. Über die anschließenden Besitzverhältnisse ist nichts bekannt. 1461 Katalog der XV. Ausstellung der Berliner Secession, Nr. 219, S. 42, mit Abbildung: http:// ia600707.us.archive.org/19/items/katalogderausste15berl/katalogderausste15berl. pdf, Stand vom 21. 3. 2012. 1462 Schmidt, Robert: Die fünfzehnte Ausstellung der Berliner Secession, in: Die Kunst für Alle, Jg. 23, Heft 18, 1908, S. 409–419, hier: S. 412. Fälschlicherweise ist die Abbildung (S. 429) mit Kassandra benannt. 1463 Cohen, Walter: Berliner Sezession 1908, in: Kunstchronik, Jg. 19, Heft 26, 1908, S. 433– 437, hier: S. 435.

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Vorzüge dieses gross gewollten Werkes nicht gut genossen werden können. Dies kalte Licht unterdrückt viele der psychologischen Feinheiten und betont zu stark das Bravouröse der Technik.«1464

Eine karikaturistische Reaktion auf die Präsentation von Slevogts KleopatraPorträt bei der Secessionsausstellung 1908 erschien prompt in dem Berliner Wochenblatt Ulk.1465 Fritz Gehrke (1855–1916) verändert in der Karikatur Slevogts theatralische Pose der Sterbeszene zu dem erfolglosen Versuch Durieux’, ihr zu enges Kleid zuzumachen, was der beigefügte Text verdeutlicht: »Nr. 219: Max Slevogt. Kleopatra vor dem Ausgang: ›es geht nicht mehr zu!‹.« Außerdem war das Porträt 1909 bei der X. Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast vertreten.1466 In Die Kunst für Alle erklärt Wolf es daraufhin zum programmatischen Zentrum der Ausstellung und damit zu einer Manifestation der Moderne: »An dominierender Stelle im Ehrensaal der ›Secession‹ hängt das Werk eines Gastes, Slevogts ›Kleopatra‹ (es ist das Porträt der Schauspielerin Tilla Durieux in dieser Rolle). War es bloß gastliche Courtoisie, die dieses rassig gemalte, fast wie eine Rembrandtische Malerei in weichen Flocken auf der Leinwand sitzende Bild in den Mittelpunkt der ganzen Secession rückte. Slevogt ist heute einer der führenden Meister Berlins, aber seinen Weg machte er von München aus, wo Diez sein Lehrer war und wo ihn die junge Secession in die Kunst einführte. Und so wirkt die Hervorhebung dieses Bildes wie eine Feststellung: Die Münchner Secession ist die Mutter aller fortschrittlichen Kunst in Deutschland.«1467

1911 zeigte die ›Magdeburger Kunstschau‹ Slevogts Tilla Durieux als Kleopatra und es fand wegen seiner theatralischen Wirkung positive Erwähnung in der Kunstchronik: »Im Mittelpunkt des Ganzen steht der Dreiklang: Liebermann, Slevogt, Beckmann (nicht Corinth!) mit repräsentativen Bildern; […] Von Slevogt neben Unwesentlichem (wie ungleich arbeitet er!) die heroische Geste und Farbigkeit der Durieux als Kleopatra.«1468 1464 Scheffler, Karl: Berliner Sezession, in: Kunst und Künstler, Jg. 6, Heft 9, 1908, S. 355–376, hier: S. 369. 1465 Fritz Gehrke, Aus der Sezession, 1908, Karikatur, erschienen in: Ulk, Jg. 37, Nr. 19, 8. 5. 1908. Vgl. Gülker, Bernd A.: Die verzerrte Moderne. Die Karikatur als populäre Kunstkritik in deutschen satirischen Zeitschriften, Diss., Münster 2001, Abb. 204. 1466 Illustrierter Katalog zur X. Internationalen Kunstausstellung im königlichen Glaspalast zu München 1909, Saal 6: Münchner Secession, Nr. 1458, S. 241, Abb. S. 85: http://www. bayerische-landesbibliothek-online.de/glaspalast, Stand vom 5. 8. 2014. 1467 Wolf, Georg Jacob: Die X. Internationale Kunstausstellung im Münchner Glaspalast, in: Die Kunst für Alle, Jg. 24, Heft 22, 1909, S. 513–526, hier: S. 521. 1468 Schmidt, P.F: Magdeburger Kunstschau 1911, in: Kunstchronik, Jg. 23, Heft 2, 1911, S. 25– 27, hier : S. 26.

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Vermutlich erfuhr Tilla Durieux als Kleopatra, neben Slevogts Erfolg in der damaligen Kunstszene, in erster Linie wegen der Berühmtheit des Modells so viel Beachtung. Die Kritiken sind jedoch – wie es sich analog bei den Rezensionen zu Stucks Tilla Durieux als Circe in Kapitel V.1.4 herausgestellt hat – von der grundsätzlichen Meinung der Verfasser über Slevogts Kunst bestimmt. Von Durieux’ erstem Ehemann Eugen Spiro waren mehrere Porträts in Ausstellungen der Entstehungszeit präsent. Zusammen mit Spiros in Kapitel V.1.2 besprochenem Werk Tilla Durieux als Salome (Abb. 1) zeigte die Berliner Galerie Schulte 1905 sein Gemälde Tilla Durieux am Frühstückstisch1469. Dies ist ersichtlich aus der ausführlichen Ausstellungsbesprechung in Die Kunst für Alle von Hans Rosenhagen: »Eugen Spiro hat gewiß den herzlichen Willen, ein tüchtiger moderner Maler zu sein, aber er schwankt unentschlossen zwischen Stuck und Manet hin und her, ist, um jenen zu erreichen, zu temperamentlos und besitzt, um diesem nachzugehen, nicht genug Feinfühligkeit des Auges. Seine >Schwestern